Marc Chagall: Grenzgänge zwischen Literatur und Malerei 9783412211264, 9783412208660


127 55 33MB

German Pages [616] Year 2013

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Marc Chagall: Grenzgänge zwischen Literatur und Malerei
 9783412211264, 9783412208660

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Sabine Koller

Marc Chagall Grenzgänge zwischen Literatur und Malerei

2012 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der VolkswagenStiftung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Marc Chagall, Hochzeit, 1910. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Punkt für Punkt GmbH, Düsseldorf Druck und Bindung: Finidr s.r.o., Český Těšín Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20866-0

Inhalt

1 2

Zur Transliteration und Übersetzung .................................................................. 7 Marc Chagall – zwischen (jiddischer) Literatur und (malerischer) Metapher ............. 9 Medialität und Intermedialität – Methodisch-theoretische Grundlagen .............. 22

I Die Sprache(n) des Künstlers: Zur interkulturellen und intermedialen Identität Marc Chagalls ............................................................. 39 3 Marc Chagalls intermediale Poetik in Eygns (Über mich selbst, 1925) und Ma vie (1931) .............................................................................................. 41 4 Das inszenierte Ich oder: die Geschichte einer Ziege ........................................... 64 5 Die Geburt der Malerei aus dem Geiste des Jiddischen oder: Die Sprache und das Selbst ................................................................................. 88 6 Magier zwischen den Welten – Perets’ Der kuntsn-makher (Der Zauberkünstler, 1904), illustriert von Marc Chagall .................................... 105 II Wenn die Toten Schatten werfen – Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild ................................................................................................ 129 7 Marc Chagalls Bilddoppelgänger: Der Jude in Hellrot (1914/15) und Der Krieg (1914) .......................................................................................... 131 8 Pogrome, Pikturales und Poesie .......................................................................... 149 8.1 Chaim Bialiks In shkhite-shtot (In der Stadt des Schlachtens, 1904/22) und Perets Markishs Di kupe (Der Haufen, 1921/22) – von einem Gott, der zum Zorn aufrief und verlassen wurde .......................................................... 155 8.2 Gezeichnete Gesichter – Marc Chagall illustriert Dovid Hofshteyns Gedichtzyklus Troyer (Trauer, 1922) ................................................................... 165 8.3 Leyb Kvitkos Weg zum L(ich)t in 1919 .............................................................. 188 8.4 Drei Pogromtexte und ihre Titelblätter – Wort- und bildkünstlerische Annäherungen an das Grauen ............................................................................. 201 9 Pogromgewalt in Text und Bild: Isaak Babel’ und Yisokher Ber Ribak ................ 207

Inhalt

1 2

Zur Transliteration und Übersetzung .................................................................. 7 Marc Chagall – zwischen (jiddischer) Literatur und (malerischer) Metapher ............. 9 Medialität und Intermedialität – Methodisch-theoretische Grundlagen .............. 22

I Die Sprache(n) des Künstlers: Zur interkulturellen und intermedialen Identität Marc Chagalls ............................................................. 39 3 Marc Chagalls intermediale Poetik in Eygns (Über mich selbst, 1925) und Ma vie (1931) .............................................................................................. 41 4 Das inszenierte Ich oder: die Geschichte einer Ziege ........................................... 64 5 Die Geburt der Malerei aus dem Geiste des Jiddischen oder: Die Sprache und das Selbst ................................................................................. 88 6 Magier zwischen den Welten – Perets’ Der kuntsn-makher (Der Zauberkünstler, 1904), illustriert von Marc Chagall .................................... 105 II Wenn die Toten Schatten werfen – Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild ................................................................................................ 129 7 Marc Chagalls Bilddoppelgänger: Der Jude in Hellrot (1914/15) und Der Krieg (1914) .......................................................................................... 131 8 Pogrome, Pikturales und Poesie .......................................................................... 149 8.1 Chaim Bialiks In shkhite-shtot (In der Stadt des Schlachtens, 1904/22) und Perets Markishs Di kupe (Der Haufen, 1921/22) – von einem Gott, der zum Zorn aufrief und verlassen wurde .......................................................... 155 8.2 Gezeichnete Gesichter – Marc Chagall illustriert Dovid Hofshteyns Gedichtzyklus Troyer (Trauer, 1922) ................................................................... 165 8.3 Leyb Kvitkos Weg zum L(ich)t in 1919 .............................................................. 188 8.4 Drei Pogromtexte und ihre Titelblätter – Wort- und bildkünstlerische Annäherungen an das Grauen ............................................................................. 201 9 Pogromgewalt in Text und Bild: Isaak Babel’ und Yisokher Ber Ribak ................ 207

6  | Inhaltsverzeichnis 9.1 Yisokher Ber Ribaks Pogrombilder (1919/20) – Schreckensvisionen eines Erschrockenen .................................................................................................... 207 9.2 Ein Pogrom in Prosa – Isaak Babel’s Istorija moej golubjatni (Geschichte meines Taubenschlags, 1925) ............................................................... 222 9.3 Der Barbarei trotzen: Yisokher Ber Ribak und Isaak Babel’ im Vergleich ............. 239 10 In der Schrift getrennt, in der Schrift geeint – Marc Chagall und Isaak Babel’ ......................................................................................................... 245 Farbbildteil ......................................................................................................... 249 III Gedächtnisbilder nach Russland und Gedächtnistexte nach der Schoa .................................................................................................. 281 11 Marc Chagalls „poshlust“ beim Lesen von Gogol’s Mërtvye duši (Die toten Seelen, 1842) ..................................................................................... 283 12 Von der Tora zur Toyre, vom Text zum Bild – Die Bindung Isaaks (Gen 22) bei Yehoyesh, Marc Chagall und Itsik Manger ..................................... 301 13 Zwei Leben für die yidishkayt – Yoysef Opatoshu und Marc Chagall ................... 317 14 „auctoritas“ wider Auschwitz: Marc Chagalls Widmungsgedicht Far di kinstler-kdoyshim (Für die Märtyrerkünstler, 1951) ..................................... 333 15 Epilog: Ein Leben für die Metapher – Marc Chagall und Avrom Sutskever .............. 349 Danksagung ....................................................................................................... 355 Literaturverzeichnis ............................................................................................ 359 Abbildungsverzeichnis ........................................................................................ 393 Personenverzeichnis ............................................................................................ 399

Zur Transliteration und Übersetzung

Die Transliteration aus dem Russischen und Polnischen folgt den üblichen wissenschaftlichen Standards. Die Transliteration jiddischer Autoren, Werke und Zitate folgt durchgängig der YIVO-Umschrift. Gängige Schreibungen bekannter Autoren wie Scholem-Alejchem werden bei der Erstnennung einmalig angeführt. Dialektale Aussprachevarianten etwa Marc Chagalls und frühere oder sowjetische Schreibweisen des Jiddischen sind gemäß dem Standardjiddischen vereinheitlicht transliteriert. Eigennamen werden hier in Großbuchstaben genannt. Hebräische Nennungen folgen einer vereinfachten Transkription. Zur Transliteration und Aussprache des Russischen: ё ë jo ж ž stimmhaftes sch з z stimmhaftes s с s stimmloses s ц c z ч č tsch ш š sch щ šč schtsch э ė ä Zur Aussprache des Polnischen: nasaliertes a ą c z cz tsch nasaliertes e ę ł w wie engl. w ń jotiertes n ó u rz stimmhaftes sch s stimmloses s sz sch stimmhaftes s z ź und ż stimmhaftes sch Zur Transliteration und Aussprache des Jiddischen: dzh dsch (stimmhaft) ‫ דזש‬ ‫ וי‬oy oj ‫ ז‬ z stimmhaftes s ‫ זש‬ zh stimmhaftes sch ‫ י‬ i, j i, j (im Silbenanlaut)

8  |  Zur Transliteration und Übersetzung ‫ יי‬ey ej ‫ ַײ‬ ay aj ch ‫ ח‬und ‫ כ‬kh ‫ צ‬ ts z sh stimmloses sch ‫ ש‬ Die Übersetzungen aus dem Jiddischen, Russischen und Polnischen stammen, soweit nicht anders angegeben, von mir.

1  Marc Chagall – zwischen (jiddischer) Literatur und (malerischer) Metapher

„Die meisten Bilder von Chagall sind Geschichten. Die Erzählung ist in diesen Werken das zentrale Element der Komposition, um die sich die Formen, die Farben und die Volumen verteilen. Diesen erzählerischen Zugang zu einem Thema gewann Chagall aus der russischen Malerei, besonders der der Wanderer (Surikov, Repin ...).“ (Kamenski 1989: 27) Über eine kunsthistorische Genealogie erzählenden Malens, die Marc Chagall (1887–1985) und die Wandermaler in einem Atemzug nennt, mag man streiten oder staunen.1 Zu verschieden sind die russischen Wandermaler und der Weltenbummler Chagall in ihrer thematischen und ästhetischen Ausrichtung. Zustimmen wird man Kamenskis Charakterisierung, dass Chagalls Malerei etwas Literarisches anhaftet. Doch wie sich dies genau bestimmen lässt, darüber herrscht Unklarheit. Den einen ist Chagall ein „Mythenerzähler“ (Schmied 1976: 5). Den anderen ist er ein „Poet“ (Walther/Metzger 1987: 7), der wahlweise „philosophische Lyrik“ (Kamenski 1989: 248) oder „Liebeslyrik“ (Walther/Metzger 1987: 58) malt. (Henry Millers „Dichter mit den Flügeln eines Malers“ mag hier durchaus seinen Anteil haben; zit. nach Baal-Teshuva 2008: 7). Selbst André Breton operiert ganz selbstverständlich mit der rheto­ rischen Figur der Metapher, die dank Chagalls „explosion lyrique“ 1911 vom wort- ins ­bildkünstlerische Medium wechselt (1965: 63): „C’est de cet instant que la métaphore, avec lui seul [Marc Chagall; S. K.], marque son entrée triomphale dans la peinture moderne.“ (S. 64)2 Dies sind nur einige Beispiele für Metaphern aus der Metabeschreibung zu Chagalls Werk, über die man weder streitet noch staunt, aber aufgrund derer man geradezu übersieht, was diese wissenschaftlichen Sprachbilder tatsächlich hervorgebracht hat: Literatur und Malerei stehen in Chagalls – bildnerischem wie literarischem – Schaffen tatsächlich in einer vielfältigen intermedialen Wechselbeziehung. Doch je facettenreicher sich die Interaktionen zwischen Text und Bild gestalten, desto trennschärfer müssen die Begrifflichkeiten sein. Legt man nun eher Kriterien des Narrativen oder des Lyrischen an? Die narrative und die lyrische Gattung unterscheiden sich in ihren Funktionsweisen grundlegend  – und interferieren natürlich auch. Kann nicht eine mit den Mitteln der Malerei erzeugte Chagall’sche „poetische Metapher“ (Metzger/Walther 1987: 77) – eine „visuelle Metapher“ also, wie Ernst Hans Gombrich vorschlägt (1978: 34) – eine Bild-Erzählung in Gang setzen? Wenn sich Chagalls Malerei tatsächlich mit Ricœurs „métaphore vive“ fassen lässt (ein lohnenswertes Unter­fan­ 1 2

Die 1863 entstandene Gruppierung der „peredvižniki“, so die russische Bezeichnung, verfolgt in Reaktion auf den konservativen Akademismus die ästhetischen Ideale des Realismus. Sie wendet sich dezidiert sozialen Themen zu. Zur Metapher bei Chagall s. Tasseva 1985: 192–194. Dem Metaphernbegriff liegt Roman Jakobsons Basisunterscheidung zwischen Metapher und Metonymie sowie Paul Ricœurs grundlegende Untersuchung zur „métaphore vive“ zugrunde (s. Jakobson 1979: 83–121; Ricœur 1975 [dt. 1986], vgl. auch Boehm 1994: 26–29). Der Kunstphilosoph Gottfried Boehm sieht das „Wunder“ der Metapher in ihrer Fähigkeit, Kontraste zu setzen. Diese fügen sich zu etwas „Simultanem“, zu einem „Bild“ (1995: 29).

10  |  Marc Chagall – zwischen (jiddischer) Literatur und (malerischer) Metapher gen), ist man mit dem für die Kunst erfreulichen, für die Wissenschaft beschwerlichen Faktum konfrontiert: Die lebendige Metapher ist endlos. Als die westeuropäische, russische und (ost)jüdische Avantgarde, innerhalb derer Chagall seinen ganz individuellen Weg geht, mit Riesenschritten der a-mimetischen und a-figür­ lichen Abstraktion entgegenstürmt, wird ihm seine ‚Nähe zur Literatur‘ zum Vorwurf gemacht. Während seiner Pariser Zeit 1910–1914 tun dies Metzinger und Delaunay (Chagall zit. nach Kamenski 1989: 363). Kubismus und Orphismus können Chagalls narrativen Stil schlecht akzeptieren. Umgekehrt gelingt es Chagall leicht, Kubismus und Orphismus – wie andere Ismen auch – in sein ‚narratives‘ System zu integrieren und zu transformieren. Während seiner so genannten „russischen Jahre“ 1914–1922, die gar nicht nur russisch sind, kritisieren die beiden jiddisch-jüdischen Künstler und Kunsttheoretiker Boris Aronson und Yisokher Ber Ribak ihr Aushängeschild der ostjüdischen Avantgardemalerei in einem Punkt: Zwar sei in Chagalls Malerei das abstrakte Darstellungspotenzial der (ost)jüdischen Kunst auf ideale Weise zum Ausdruck gebracht, doch hafte das „literarish-anekdotishe“ (Literarisch-Anekdotische; 1919: 122) in Der Spiegel (1915) wie ein Makel an ihr.3 (Der Chagall durchaus gewogene Theater- und Kunstkritiker Anatolij/Abram [jidd: Avrom] Ėfros wiederum wirft ihm „Lyrismus“ vor; Ėfros 1921: 71.) Aronson und Ribak berufen sich auf die – zugegebenermaßen a-literarischen – Phänomene Ornament und Abstraktion als Wesenskern der jüdischen Kunst. Sie lassen dabei eine zweite wichtige Traditionslinie außen vor, die zur Blüte der ostjüdischen Kultur führt: Das Erzählen und das Anekdotische des Chassidismus ist eine wichtige Inspirationsquelle, aus der die moderne ostjüdische Literatur, und hier vor allem die jiddische, schöpfen wird.4 Doch was ist hier mit dem Literarischen gemeint? Läuft der Begriff nicht Gefahr, ebenso wie „Poesie“ und „Erzählen“ im wissenschaftlichen Diskurs über Chagall zur Metapher zu gerinnen, anstatt in seinen verschiedenen Extensionen exemplarisch untersucht zu werden? Meint er vielleicht gar nicht eine enge, realistisch gedachte Vorstellung vom Literarischen als Nach-Erzählen der Wirklichkeit, so unabdingbar der lebensweltliche russisch-ostjüdische Kontext für die Entschlüsselung von Chagalls Bildern auch sein mag? Dagegen wehrt sich Chagall selbst, dagegen verwehrt sich Jakov (jidd.: Yankev) Tugendchol’d, ein zeitgenössischer Kunstkritiker, der in der ersten Chagall gewidmeten Monographie Iskusstvo Marka Šagala (Die Kunst Marc Chagalls; 1918, dt. 1921) schreibt: „Chagall kann literarisch erklärt werden, er selbst ist aber kein Erzähler, kein Illustrator, sondern vor allem ein Maler.“ (1921: 15)5 Dem Illustrieren und Nach-Erzählen der Wirklichkeit, von dem Tugendchol’d hier spricht, stehen andere Formen der Narration in Chagalls Schaffen entgegen. Siebzig Jahre intensiver Chagall-Rezeption sollen vergehen, bis Benjamin Harshav, ursprünglich Literatur­ 3

Ribak und Aronson verfassen mit Di vegn fun der yidisher moleray (Die Wege der jüdischen Malerei) einen Programmtext für die ostjüdische Avantgarde (1919: 99–124; s. hierzu Kap. 8.3 und 9.1). 4 Zum Chassidismus als „Ethik gewordener Kabbala“ (Martin Buber) s. Dubnov 1931, Buber 1963 und 12 1996, Scholem 1980: 156–385, Grözinger 1996: 26–51, 1997 und Lapide 1996: 9–25. 5 Zu Chagalls Ablehnung dieser Zuordnung s. Liebelt 1968: 148, Harshav 2003: 77f. und Hille 2005: 84.

Marc Chagall – zwischen (jiddischer) Literatur und (malerischer) Metapher  | 11 wissenschaftler (und Dichter), Chagalls bildkünstlerisches Erzählen in den Rang einer eigenen ästhetischen Kategorie erhebt: Mittels der ursprünglich poetologischen Kategorie des Fiktionalen liefert er ein Fundament, das die Metaphern des Literarischen in Chagalls Welt stützt (im Falle der bildästhetischen Narration und Autopoiesis in Bild und Text) oder stürzt (im Falle des mimetischen Erzählverständnisses).6 Harshav schafft den überfälligen qualitativen Sprung in die adäquate wissenschaftliche Beschreibung von Chagalls malerischer Erzähltechnik – oder erzählender Malweise. In der Ästhetik und Komposition seiner Bilder versteckt sich das Narrative, aber auch das Metaphorische.7 An diesem Punkt lässt sich die dichotomische Lesart von Chagalls Bildern zwischen Narration und Lyrik auflösen: In Chagalls Malerei findet sich neben der (in der Erzählkunst die Handlung vorantreibenden) „narratio“ eine „descriptio“.8 Was im narrativen Text als epische Deskription ein Aussetzen der Handlung bewirkt und Gegenstände, Menschen oder Landschaften zu ihrem Recht kommen lässt, gestaltet Chagall bildlich. Mit den (häufig verfremdenden) Mitteln der Malerei ‚erzählt‘ er nicht nur eine Geschichte (z. B. von einem Geigenspieler), sondern kleidet sie formalästhetisch in eine (farbliche) Metapher (der Geiger ist grün, Chagalls Privatmetapher für Lebenslust und Künstlertum). Beide Komponenten, die Metapher, die die Narration aussetzt, und das Erzählerisch-Sukzessive, das durch Bildsujet, -organisation und -komposition erreicht wird, sind präsent. Von dieser Spannung zwischen Metapher und erzählerischer Kontinuität leben viele Bilder Chagalls. (Hierin gehen sie auch weit über Werke der Wandermaler hinaus, die auf eine ästhetische Übersetzung ihrer Bildthemen in Metaphern und Symbole verzichten.) In Chagalls literaturaffiner Malerei kommen sprachliche Phänomene als mehr oder weniger offensichtliche Vehikel des Narrativen und/oder als Träger des Metaphorischen zu ihrem Recht. Bild und Schrift, Bild und Sprache, Bild und Literatur – im „Und“ zwischen den jeweiligen Bezugsgrößen verdichtet sich das intermediale Geschehen von Chagalls Kunst.

6

7

8

Harshav 1992: 18 und 2006a: 34–40. Benjamin Harshav (auch Benjamin Hrushovski; geb. 1928) ist Professor emeritus für Literaturtheorie und Poetik an der Hebrew University und J.&H. Blaustein Professor of Hebrew and Comparative Literature sowie Professor of Slavic Languages and Literatures an der Yale University. 2005 wurde er für seine Monographie Marc Chagall and His Times. A documentary narrative (2004) mit dem israelischen Emet-Preis bedacht. Olga Litvak bemängelt in ihrer Besprechung von Harshavs Chagall-Publikationen den diffusen Einsatz narratologischer Begriffe zwischen Metapher und wissenschaftlicher Beschreibung. Auch scheinen ihr durch die Harshav’sche Lesart Chagalls Bilder zu sehr dem Diktat des Textuellen unterworfen (2007: 101–110). Dabei darf allerdings nicht außer Acht gelassen werden, dass das Spannungsverhältnis zwischen simultan und sukzessiv organisierten Bildverfahren sowie zahlreiche intermediale Bildelemente tatsächliche Rückbezüge auf die Literatur beinhalten. Chagall betont immer wieder die Architektonik seines Schaffens, um dem Etikett des Literarischen entgegenzuwirken, vgl. seine Rede an der Universität von Chicago vom 5.3.1946. Sie stellt die Fortsetzung einer französischen Rede anlässlich der Einladung des Kunsthistorikers Lionello Venturi vom August 1943 dar (engl. Übersetzung in Harshav 2003: 66–79; s. auch Chagall im Gespräch mit James Johnson Sweeney, Harshav 2003: 81). Zur epischen Deskription innerhalb eines narrativen Textes s. Link 21979: 308–310.

12  |  Marc Chagall – zwischen (jiddischer) Literatur und (malerischer) Metapher Benjamin Harshav räumt mit Mystifizierungen auf (und schafft neue). Der frühe Chagall ist weder ein religiöser Expressionist noch ein Maler des Chassidismus, der als Wesenselement von Chagalls Kunst häufig überbetont wurde und wird.9 Der Chassidismus spielt für Chagall weniger als religiöse, mystisch-kabbalistisch orientierte Bewegung denn als ein die Alltagskultur prägender Faktor eine Rolle (vgl. Harshav 2003: 5f.). Nicht die ostjüdisch-chassidische Religion formt primär seine künstlerische Identität, sondern die sekundäre und säkulare Reflexion und Transformation des Religiösen in der jiddischen Literatur und jüdischen Kunst. Die jiddische Literatur ist für Chagalls Schaffen mehr als nur ein Medium ostjüdischer Lebenswelten. Als ästhetisches Laboratorium, in dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts Klassiker (Mendele, Sholem-Aleykhem [Scholem-Alejchem], Perets [Perez]), Modernisten (Bergelson, Der Nister) und Avantgardisten (Hofshteyn, Markish, Kvitko) fast zeitgleich nicht weniger als eine kulturelle Revolution vollbringen, ist sie für Chagall – auch in ihrer Aufnahmefähigkeit paralleler Entwicklungen in der russischen, polnischen, ukrainischen usw. und westlichen Literatur – von zentraler Bedeutung. Wie die russische (symbolistische) Literatur formt sie Chagalls Künstleridentität (vgl. Harshav 2004: vii). Sie ist bei der Analyse von Chagalls Werk ebenso in Betracht zu ziehen wie die französische moderne Literatur, mit der  – Ricciotto Canudo, Blaise Cendrars und natürlich Apollinaire vorneweg – Chagall während seiner Pariser Zeit 1910–1914 in Berührung kommt. Sie ist ebenso wichtig wie der Tanach, die jüdische Bibel, die Marc Chagall ein Leben lang begleitet.10 Chagall ist als Leser nicht zu unterschätzen: Mehr als einmal kehren zentrale ästhetische Textverfahren im Bild wieder, ausgestaltet mit den Mitteln der Malerei. Die Detailanalyse bestätigt die Aussage von Chagalls Schwiegersohn und Biographen Franz Meyer: Chagalls Bilderwelten entwachsen dem Wort, die Genese des Bildsymbols ist Ergebnis des Lesens des Textes (21968: 395).11 Chagall, der Künstler-Leser, übersetzt Texte aus verschiedenen Nationalliteraturen in seine transnationale Bildsprache. Die sprachliche und nationale Gebundenheit von „narratio“ und „descriptio“ wird im universalen Bildraum aufgehoben. Das Narrative bleibt bei dieser Art der Übersetzung im Nationalsprachlichen (eines Sholem-Aleykhem) zurück. Das Deskriptive   9 Vgl. die einflussreichen Arbeiten von Karl With (1923), Raissa Maritain (1948), Heinz Demisch (1959) oder Walter Nigg (1961: 385–432); zu Chagall als religiösem Expressionisten s. Richter 9 1993: 46–48. Chagall äußert sich in seiner Autobiographie Ma vie von 1931 eindeutig negativ über Rabbi Shneyerson, einen Anführer der Lubavitsher Chassidim, den er nach seiner Hochzeit mit Bella besucht (1931: 185–187). Zum Chassidismus s. auch Kap. 4. 10 Das Akronym Tanach ist die Bezeichnung für die Tora (dt. Weisung), also die fünf Bücher Mose, die Propheten (Newiim) und die Schriften (Ketuwim), wozu u. a. die Psalmen, die Sprüche, das Hohelied der Liebe und das Buch Hiob gehören. Zu den Unterschieden im Aufbau zwischen dem jüdischen Tanach und dem Alten Testament s. Liss 2005: 2. 11 Vgl. auch Charles Sorlier: „Es war erstaunlich, wie er [Marc Chagall – S. K.] die Literatur kannte. An erster Stelle stand natürlich die russische Literatur. Während wir zusammenarbeiteten, beim Essen, unterhielten wir uns oft über Literatur. Eines Abends sagte er mir: ‚Charles, mein Junge, Sie lieben ja die Poesie, Sie sind auch gewissermaßen ein Poet, aber Puschkin, den werden Sie nie verstehen können! Denn Puschkin muss man im Original lesen ...‘ Er kannte auch die französische und die deutsche ­Literatur sehr gut. Ich habe Philosophie studiert und wir sprachen oft über Novalis und Eichendorff. Er bewunderte Novalis sehr, wie Hölderlin! Er konnte auch deutsch lesen.“ (Chagall 1998: 32f.; ­Hervorh. S.  K.)

Marc Chagall – zwischen (jiddischer) Literatur und (malerischer) Metapher  | 13 schiebt sich in der Malerei in den Vordergrund – und transportiert zugleich ein Stück von Sholem-Aleykhem. Dieser spezifische Akt der Übersetzung ist ein wesentlicher Grund für die Intermedialität in Chagalls Malerei. Dank des aktuellen Forschungsinteresses am kulturell-künstlerischen, aber auch lebensweltlichen Umfeld des gebürtigen Vitebskers ergänzt der ostjüdisch-jiddische Chagall mittlerweile den russischen und französischen, den man international kennt. Seine kulturelle Mehrfachidentität zwischen der russischen, (ost)jüdischen und europäischen Kultur ist deutlich konturiert (vgl. Harshav 2003: 1–25). Der Begrenzung eines künstlerischen Dogmas (oder Ismus) enthoben, verbindet Chagall ad libitum ikonographische Systeme unterschiedlicher zeitlicher und räumlicher Provenienz, Ikonenkunst und Kubismus, italienische Frührenaissance und Fauvismus, jüdische Volkskunst und Orphismus. Intermedialität, Intertextualität (auch zwischen Bildern) und Interkulturalität gehen bei ihm Hand in Hand. Die jiddische Komponente in diesem Kräftefeld ist immer noch unterbeleuchtet, die ästhetische Auswertung von Chagalls intermedialer Liebelei mit ihr nach wie vor ein Desiderat.12 Dabei fördert der Blick auf die Ästhetik seiner Bilder und entsprechender jiddischer Referenztexte neue ästhetisch-kulturelle Zusammenhänge dieser scheinbar durchleuchteten Künstlerpersönlichkeit zu Tage. Mit meiner Studie entdecke ich keineswegs das ‚jiddische Amerika‘ in Chagalls Oeuvre. Das haben andere vor mir getan: Der jiddische Kritiker Leo Kenig, dem die zeitliche Nähe zu Chagall – ebenso wie Boris Aronson, Anatolij Ėfros und Jakov Tugendchol’d – wichtige Erkenntnisse von dessen Kunst ermöglicht, hebt in den 1920er Jahren Ähnlichkeiten zwischen Chagall und Sholem-Aleykhem hervor.13 In den 1960er Jahren schreibt Yitskhok Rontsh memoirenhaft über Chagalls Kontakte zu jiddischen Literaten während seiner Zeit in New York (für eine ästhetische Auswertung ist dies allerdings kaum zu gebrauchen); daran knüpfen Ziva Amishai-Maisels (1978: 76–93), Léon Lénéman (1981) und schließlich Benjamin Harshav an. Chagalls intermediales Grenzgängertum zwischen Bild und jiddischer Sprache wird von Harshav benannt (1992b: 51–87 und 2006a: 128–135). In Marc Chagall and His Times. A documentary narrative (2004) veranschaulicht er anhand einer Fülle von Briefen und Archivmaterialien Chagalls umfangreichen Dialog mit ostjüdischen Literatur- und Kulturschaffenden. Chagall, der Maler, und Chagall, der Mensch, ist nicht nur während seines US-amerikanischen Exils von 1941–1948 mit der jüdisch-jiddischen Kultur verbunden. Ohne so wichtige Gesprächs- und Briefpartner wie Bal-Makhshoves (wörtl. „Mann der Gedanken“; Pseudonym für Yisroel Elyashev) in Russland, Joseph (Yoysef ) Opatoshu in den USA oder Avraham (Avrom) Sutskever (Sutzkever) in Israel wäre er, der er 12 Erste Gehversuche einer intermedialen Klassizifierung von Chagalls Werk, allerdings ohne Bezug zur jiddischen Literatur, finden sich in Tasseva 1985: 206–210. 13 Nicht nur Volkstümlichkeit und Humor sind es, die Sholem-Aleykhem und Chagall verbinden, sondern auch die Literarizität und Affinität zur jiddischen Sprache (1929: 27–31). Auf Ėfros und Tugendchol’ds Monographie von 1918 folgt 1923 eine Studie Boris Aronsons (dt. 1924). Sie verortet Chagalls Schaffen zwischen den ästhetischen und kulturellen Polen des Kubistischen und OstjüdischVolkstümlichen.

14  |  Marc Chagall – zwischen (jiddischer) Literatur und (malerischer) Metapher anfangs etwas larmoyant dem russischen Symbolismus hinterher schreibt, der jiddischen Literatur nie so nahe gekommen. Chagall hat in seinem gesamten künstlerischen Leben mehr als ein Dutzend jiddischer Texte illustriert.14 Dem Jüdischen als dem ‚Anderen‘ der abendländischen und russischen Kultur und dem Jiddischen als ‚spätgeborener‘ Literatursprache ist selbst im Falle des Weltbürgers und Weltkünstlers Chagall im eurozentristischen literarischen wie auch bildkünstlerischen Diskurs wenig Aufmerksamkeit zuteil geworden. Nur wenige Kunsthistoriker und Philologen überbrücken die Fremdheit der hebräischen Schriftzeichen, um die Magie des Jiddischen und der jiddischen Literatur zu entdecken – und sie mit Chagalls bildkünstlerischer Produktion zu verquicken. Chagalls Illustrationen jiddischer Texte bilden einen wesentlichen Bestandteil seines Schaffens, ohne jemals – bis auf wenige löbliche Ausnahmen – einer detaillierten intermedialen Analyse unterzogen worden zu sein.15 Ein Skandalon? Ja, wenn man sich vor Augen führt, dass Chagall mehr als fünf Jahrzehnte dank seiner Illustrationsarbeit mit der jiddischen Literatur, ob Lyrik oder Prosa, verbunden ist. Ja, wenn man bedenkt, dass Chagall ohne seine ostjüdischen Wurzeln nicht vorstellbar ist. (Deshalb erreicht die französische Literatur auch zu keinem Zeitpunkt in seinem Schaffen den Stellenwert der jiddischen.) Ja, wenn man den momentanen Ausstellungsboom verfolgt, dank dessen gerade Chagalls frühes Oeuvre eine Renaissance erlebt. 16 Vom jüdischen Ansiedlungsrayon, wo die Juden des Russischen Reichs seit der Zeit Katharinas der Großen bis in den Ersten Weltkrieg hinein vorrangig Bleiberecht ‚genießen’, zieht Moyshe Segal alias 14 Außer den beiden Erinnerungstexten seiner Frau Bella (1945 und 1947) und seiner eigenen Autobiographie sind dies Werke von Der Nister und Perets, Dovid Hofshteyn, Avrom Lyesin (Pseudonym für Abraham Walt), Izi Kharik, Itsik Fefer, Danil Tsharni, Yoysef Opatoshu und Avrom Sutskever, der nach seiner Übersiedelung nach Palästina 1947 der jiddischen Sprache treu beibt. 15 Vgl. neben den einschlägigen Publikationen Benjamin Harshavs den Beitrag von Seth Wolitz (1995: 95–115, s. Kap. 8.2). Eine systematische Auswertung der Text-Bild-Bezüge erfolgt jedoch nicht. 16 Nach der Internationalisierung der Zentralfigur des jüdisch-christlichen Dialogs knüpft man wieder an die enthusiastische Rezeption des ostjüdischen Künstlers an, als der er im Deutschland der 1920er Jahre wahrgenommen wird (s. hierzu Hille 2005). 2006 fanden drei Ausstellungen statt: In Amberg (Oberpfalz) zeigte man Druckgraphiken aus sieben Jahrzehnten, im Museum Frieder Burda zu Baden-Baden eine übergreifende Werkschau. In Wien waren bis März 2007 Bilder der russischen Jahre von 1908 bis 1922 zu sehen. In Münster widmete man sich vom November 2008 bis März 2009 dem Motiv Marc Chagall: Der Maler am Fenster. Zeitgleich öffnete das Jüdische Museum in New York für die Ausstellung Chagall and the Artists of the Russian Jewish Theater seine Pforten. Das 2008 in San Francisco (Kalifornien) eröffnete Contemporary Jewish Museum zeigte 2009 die Ausstellung Chagall and the Russian Jewish Theater, 1919–1949 zur selben Thematik (www.thecjm.org; 5.3.2012). Von Juni bis Sept. 2009 stellte man in Aalen Originalgrafiken Chagalls aus sieben Jahrzehnten aus. Die Ausstellung Chagall surréaliste – Chagall littéraire, die vom 19.12.2009 bis 28.02.2010 im Saarbrückener Saarlandmuseum lief, wandte sich ebenfalls dezidiert Chagalls Illustrationsarbeit zu. Die ausstellungsarchitektonisch sehr ansprechende Schau Futur antérieur. L’avant-garde et le livre yiddish (1914–1939), die vom 11.2. bis zum 17.5.2009 im Pariser Musée d’art et d’histoire du Judaïsme beherbergt war, stellte die wichtigsten jiddischen Buchzentren wie Kiev oder Warschau und eine Auswahl von Chagalls Illustrationen jiddischer Texte vor (s. Hazan-Brunet 2009: 101–111). Vom 8.10. bis 16.1.2011 war im Buderius Kunst Forum Hamburg die Ausstellung Marc Chagall. Lebenslinien zu sehen. Marc und Bellas verschriftlichte Erinnerungen bildeten hier den Ausgangspunkt.

Marc Chagall – zwischen (jiddischer) Literatur und (malerischer) Metapher  | 15 Marc Chagall in die Welt. Wohin es ihn auch verschlägt, ob nach Moskau, Paris oder New York, in jede dieser Metropolen nimmt er seine Heimat Vitebsk und Lyozno – und Jiddisch, sein mame-loshn (jidd.: Muttersprache), mit.17 Ende des 19. Jahrhunderts geben 98 Prozent von über fünf Millionen Juden im Russischen Imperium Jiddisch als ihre Muttersprache an (Harshav 2004: 93f.).18 Von den westeuro­ päischen Anhängern der Haskala (hebr. für Aufklärung, jidd. haskole), allen voran von­­ Moses Mendelssohn (1729–1786) als Mauscheln abqualifiziert, hat die jiddische Sprache im 19. und 20. Jahrhundert einen beschwerlichen Weg bis zu ihrer Anerkennung vor sich (auch dank der Aufklärungsbewegung im Osten Europas, die ohne das Jiddische ihre Werte nicht vermitteln kann). Im Verlaufe der inneren Erneuerung des Ostjudentums, die von der Haskala angestoßen wurde, wird sie zum Kernelement ostjüdischer Identität. Nachdem Jahrhunderte lang Tora und Talmud und damit das Hebräisch-Aramäische für die jüdische Diaspora identitätsstiftend waren, wächst dies in der von revolutionärem sozialistischem und bundistischem Gedankengut geschwängerten Zeit dem Jiddischen zu.19 Während der Konferenz von Czernowitz, damals Hauptstadt der k. u. k. Provinz Bukowina (heute Černivci), wird es 1908 in den Rang einer nationalen jüdischen Sprache erhoben und tritt damit in Konkurrenz zum Hebräischen.20 Als ‚dritter Weg‘ zwischen völliger Assimilation (= Aufgabe des Jiddischen zugunsten der Sprache des kulturellen Umfeldes) oder Heimkehr ins Gelobte Land (= Favorisierung des Hebräischen) eröffnet sich die Option eines säkularisierten Ostjudentums, das in der „yidishkayt“ (Jüdischkeit, auch zu verstehen als „Jiddischkeit“) seine Identität findet. Statt der Religion und des vom Zionismus propagierten, territorial gebun17 Aus Lyozno (jidd.: „Lyezhne“), einem Schtetl in der Region Mohilev nicht weit von Vitebsk im heutigen Belarus gelegen, stammen Chagalls Vorfahren. Lyozno ist eines der Zentren der emotionalen, ekstatischen Gotteserfahrung des Chassidismus. Dieses jiddischsprachige Lyozno, das er in seiner Kindheit und Jugend oft aufsucht, ist für Chagall eine wichtige Inspirationsquelle (Harshav 2004: 23, 41). Vitebsk, multikulturelle Hauptstadt des gleichnamigen Gouvernements mit einem hohen Anteil an Juden, ist Chagalls Geburtsstadt. Die ersten Jahre verlebt der junge Chagall im jüdischen Vorort Peskovatik in einem Holzhaus am linken Flussufer der Dvina, die durch die Stadt fließt. Im Jahr 1897 zieht die Familie Chagall ans rechte Ufer in ein eingeschossiges Steinhaus um. Diese neue Bleibe, die seit 1997 als Dom-muzej Marka Šagala (ehemaliges Wohnhaus und Museum Marc Chagall) der Öffentlichkeit zugänglich ist, beherbergt unter anderem den Laden der Mutter und kehrt in zahlreichen Bildern wieder (s. www.chagall.vitebsk.by; 5.3.2012). In Vitebsk kommt Chagall mit dem assimilierten Judentum der ökonomisch und kulturell in voller Blüte stehenden Stadt in Berührung (Harshav 2004: 25f., 44). Lyozno ist Chagalls Fenster in die Vergangenheit, Vitebsk sein Tor zur Moderne. 18 Zur Geschichte des Jiddischen s. Weinreich 2008, Harshav 1990, Katz 2004 und Aptroot/Gruschka 2010. 19 Der antizionistische Bund, die älteste, 1897 in Vilnius gegründete jüdische Arbeiterpartei, war die größte politische pro-jiddischistische Bewegung (Estraikh 2004: 103). 20 Es ist dies die erste internationale Konferenz zur Förderung des Jiddischen. Czernowitz ist die Geburtsstunde des Jiddischen als ‚Nationalsprache‘ der Ostjuden, auf gleicher Augenhöhe mit dem Hebräischen. Ob es nun die oder, wie schließlich vereinbart, eine Nationalsprache sein soll, führt auf der Konferenz fast zu einem Eklat und später zu einem Sprachenkrieg, der laut Hillel Halkin bis ca. 1940 dauert (s.  hierzu www.wzo.org.il/en/resources/view.asp?id_1388; 1.10.2010, Fishman 2008 Bd. 1: 385f. und Aptroot/Gruschka 2010: 124–128).

16  |  Marc Chagall – zwischen (jiddischer) Literatur und (malerischer) Metapher denen Staates sollen Jiddisch, ostjüdisch-jiddische Kulturleistungen und „yidishkayt“ (im Sinne einer Weltanschauung) als Grundlage einer modernen, säkularen Nation dienen (Estraikh 2004: 101–116; s. Kap. 13). Die Idee einer ostjüdischen Kulturrenaissance ist geboren.21 Jiddisch ist die Sprache des Exils, die das Ostjude-Sein zum Ausdruck bringt. Jiddisch ist die Muttersprache, die immer den Ort der Diaspora und den Nicht-Ort des Vaterlandes zugleich anzeigt (Vogl 1994: 382). Der Nobelpreisträger Isaac Bashevis Singer sieht den Preis deshalb nicht allein an ihn, sondern an das Jiddische verliehen – und meint damit auch die Verdienste der jiddischen Klassiker für die ostjüdische kulturelle Wiedergeburt.22 Lange vor Singer setzt Chagall der jiddischen Literatur ein Denkmal, das wohl seinesgleichen sucht: Eine Hommage knapp unterhalb eines Hinterteils ziert Chagalls Einführung in das jüdische Theater (1920), die er für das in jiddischer Sprache spielende GosET (Gosudarstvennyj Evrejskij Teatr/Staatliches Jüdisches Theater) anfertigt. In der rechten oberen Bildhälfte sind drei Akrobaten im Kopfstand zu sehen. Zwischen den Beinen des mittleren Artisten steckt ein Zettel. Darauf sind die drei Klassiker der jiddischen Literatur Mendele, Sholem-Aleykhem und Perets vermerkt, ebenso „Bil“ für den Literaturkritiker und Freund Chagalls Bal-Makhshoves und „Nis“ für Der Nister.23 Diese Notiz ist im Kontext der ostjüdischen Kulturrenaissance „als Banner zu verstehen, das sich über dem Zerfall der alten religiösen Welt erhebt“ (Harshav 2006b: 123). Chagall wird zu einem ihrer herausragenden Vertreter. Nicht nur, weil er jiddisch spricht, sondern auch, weil das Jiddische immer wieder in seine Malerei hineinspielt. Die jiddische 21 S. hierzu Apter-Gabriel 21988, Kampf 1990: 15–40, Bechtel 2002, Goodman 1995, Hazan-Brunet 2009 und – faszinierend in der Darstellung – Moss 2009. Den Begriff der „jüdischen Renaissance“ prägt in Deutschland Martin Buber in der ersten Euphorie seines Kulturzionismus, s. den gleichnamigen Beitrag in Ost und West von 1901 (1), S. 7–10. 22 Barbara Kirshenblatt-Gimblett und Jonathan Karp betonen jenseits essentialistischer Zuschreibungen die definitorische Offenheit des „Jüdisch-Seins“: „[...] For this reason, we take Jewishness as contingent and contextual rather than definitive and presumptive.“ (Kirshenblatt-Gimblett/Karp 2008: 1–19, hier S. 3) Zur schwer zu beantwortenden Frage „Was ist Jüdisch?“ gesellt sich die nicht minder komplexe Frage „Was ist jüdische Kunst?“ (s. Sed Rajna 1997: 10–14 und Hülsen-Esch/Aptroot 2008: 11–18). Insbesondere aus kunsthistorischer Warte wird die Frage nach der jüdischen Identität (in der Kunst) gestellt, s. Soussloff 1999, Olin 2002, vgl. auch Kenig 1937: 47–51. Aaron Rosen, der die ästhetische Umformung christlicher religiöser Kunst durch die jüdischen Maler Chagall, Philip Guston und R.B. Kitaj untersucht, sensibilisiert ebenfalls für das Relationale, Nichtessentialistische zur Bestimmung einer jüdischen Künstleridentität: „Jewishness is not necessarily an artist’s most defining feature and it should not eclipse the artist’s identity as an individual making creative decisions in which Jewishness may or may not play an integral role.“ (2009: 7) 23 Der „zeyde“ (Großvater) der jiddischen Literatur Mendele Moykher-Sforim (Mendele der Buchhändler, Pseudonym für Sholem Yankev Abramovitsh; 1836–1917) sowie Sholem-Aleykhem (eigentlich Sholem Yankev Rabinovitsh, 1859–1916) und Yitskhok Leybush Perets (1852–1915) erscheinen als neues Dreigestirn der klassischen jiddischen Literatur erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – später noch als die neuere russische Literatur – am Himmel der europäischen Literatur. Unter dem Pseudonym „Der Nister“ (dt. Der Verborgene) knüpft Pinkhes Kahanovitsh (1884–1950) mit seinem symbolistischen Stil an Perets an. Zugleich integriert er die reiche Tradition der jüdischen Folklore und Mystik in sein Schaffen; zu Der Nister s. Bechtel 1990 und Mantovan 1993.

Marc Chagall – zwischen (jiddischer) Literatur und (malerischer) Metapher  | 17 Sprache, ihr Facettenreichtum, ihre emotionale wie klangliche Farbigkeit dringen tief in sein künstlerisches Bewusstsein ein – und erscheinen, in Zeichnungen, Gemälden, vor allem aber in den Illustrationen, explizit und implizit immer wieder auf der Bildoberfläche.

Chagall intermedial: Für ein besseres Verständnis einer interkulturellen Künstlerpersönlichkeit Die vorliegende Arbeit will keine erschöpfende Analyse der von Chagall bebilderten jiddischen Texte liefern, sondern punktuell und exemplarisch Chagalls bildkünstlerische Antworten darauf vorstellen. Der Quantität der Untersuchungsobjekte ist die Qualität der Analyse vorzuziehen. So kommt es, dass Der Nister und seine beiden Verserzählungen A mayse mit a hon (Märchen mit einem Hahn) und Dos tsigele (Die kleine Ziege), 1917 von Chagall illus­ triert, hinter Peretsens Der kuntsn-makher (Der Zauberkünstler) zurückstehen. Die Illustrationen zu Itsik Fefer, Danil Tsharni, Izi Kharik und, bis auf eine Ausnahme, zu Lyesin aus den 1930er Jahren mögen – vorerst – Chagalls Arbeiten für Yoysef Opatoshu, Avrom Sutskever und der hebräischen Bibel Platz machen, die er auf der Grundlage der jiddischen Vorlage erstellt. In Bella Chagalls Erinnerungen Brenendike likht (Brennende Kerzen, 1945) und Di ershte bagegenish (Erste Begegnung, 1947) sowie in Chagalls Illustrationen hierzu ist eine enorme mnemische Energie eingelagert, was ihre gemeinsame Heimat Vitebsk anbelangt. Und doch sei hier aus Gründen einer Intermedialität, die weit über bloßes Illustrieren hinausgeht, Chagalls Autobiographie der Vorzug gegeben. Chagalls illustratives Werk ist ein wichtiger Baustein der intermedial-interkulturellen Hybridität seines Schaffens. Doch zu vielfältig sind die Text-Bild-Bezüge in seinem Oeuvre, um sich ausschließlich mit seinen Illustrationen zu befassen. Zu subtil ist Chagalls offenes und verdecktes Spiel mit jiddischer Sprache, Schrift und Literatur, um es – einschließlich der intertextuellen und interkulturellen Verweise – nicht in die philologisch-bildwissenschaftliche Analyse einzubeziehen. Nicht selten bringt die Auswertung da eine kulturelle Dimension ans Licht, wo ich sie zunächst nicht vermutet habe. Um die Spezifik von Chagalls Kunst und ihre Verankerung in der (ost)jüdischen Kultur zu vermitteln, bedarf es der Reibung mit teilweise gänzlich unbekannten (und unübersetzten) jiddischen Texten oder Bildern anderer jüdischer oder russischer Künstler. Was Chagall uns zeigt, kann einen Vorläufer in den Bildern seines Lehrers Jehuda Pen (russ. Jurij Pėn) oder seines Gegenspielers Kazimir Malevič haben. Was er uns nicht zeigt, können wir beispielsweise im Werk seines weniger bekannten, für die russisch-jüdische Avantgarde aber nicht minder wichtigen Kollegen Yisokher Ber Ribak finden. Aus diesem Bemühen, den Facettenreichtum von Chagalls ostjüdisch-jiddisch-russischer Intermedialität aufzuzeigen, leitet sich auch die Dreiteilung der Arbeit ab. Jenseits einer biographisch orientierten Chronologie geht es um intermediale Schnittstellen, in die sich – chronologisch – von Chagall illustrierte jiddische Texte einfügen: Der erste Teil (S. 1–128) befasst sich mit der interkulturellen und intermedialen Identität des Künstlers, der als Autor (Kap. 3), Autoportraitist (Kap. 4 und 5) und Illustrator (Kap. 6) mit seinem russisch-ostjü-

18  |  Marc Chagall – zwischen (jiddischer) Literatur und (malerischer) Metapher dischen Erbe und dem Gegenwartskontext zugleich spielt – der homo pictor Chagall ist in erster Linie ein homo ludens. Während dieser für die ostjüdische Kulturblüte bewegtesten Zeit zwischen 1916 und 1922 zeigt uns Chagall viele (intermediale) Gesichter. Im zweiten Teil (S. 129–248) steht die Kehrseite dieser Kulturrenaissance im Mittelpunkt. Sie wird beherrscht von (Bürger-)Krieg, Antisemitismus und Pogromen (Kap. 7; Chagall ist zu dieser Zeit zumeist in Vitebsk mit dem Kunstkrieg gegen Malevič befasst). Erst die Berührung mit Dovid Hofshteyns Pogromlyrik führt ihn Anfang der 1920er Jahre nach seinen großen jüdischen Monumentalportraits von 1914 wieder an die ostjüdische Dimension des universalen Leids heran. Die Pogromdichtung Chaim Nachman Bialiks, Perets Markishs und Leyb Kvitkos ist ein wichtiger Schlüssel zu Hofshteyns und Chagalls Ästhetik (s. Kap. 8). Dies gilt ebenso für Yisokher Ber Ribaks spezifisch jüdische Perspektive auf das Leid dieser Zeit, die in Isaak Babel’s Erzählen ein faszinierendes Gegenstück findet (s. Kap. 9 und 10). Die Artefakte des dritten Teils (S. 281–353) bedeuten trotz der Zäsur im Leben Chagalls – 1922 verlässt er die junge Sowjetunion für immer – keinen Bruch der intermedialen Interaktionen in seinem Werk. Noch stärker als in Russland und zuvor in Paris, zu einer Zeit, in der sich die Wogen der avantgardistischen Erneuerung in der Malerei glätten, tritt die Literatur als Movens für Chagalls Schaffen in den Vordergrund. In seiner Malerei beginnt die Zeit der ermüdenden, bis zum verkitschten Stereotyp reichenden Wiederholung seiner Archetypen. In seinen Illustrationen ist er zumeist frei von solchen Motiven, die zu wuchern beginnen – oder formt sie, Gogol’, Yehoyesh oder Opatoshu lesend, kreativ um (Kap. 11–13). Mit Chagalls Widmungstext für während der Schoa ermordete Künstlerkollegen schließt sich der Kreis einer Unternehmung, die mit seiner Autobiographie beginnt (Kap. 14). Über die Qualität von Chagalls literarischem Alter Ego, seines lyrischen Dichter-Ich, mag man streiten. Fehlen darf es nicht.

Marc Chagall im Kontext von Texten und Bildern Den Schwerpunkt der Untersuchung bilden Autoren, die zur Blütezeit der ostjüdischen ­Kultur von den 1860er Jahren bis in die Zwischenkriegszeit hinein in jiddischer Sprache Prosa und Lyrik schreiben.24 Jiddische Klassiker und Avantgardeautoren müssen vertreten sein, da Chagall, der Avantgardist und Neuerer, ästhetisch mit dem klassischen Erbe und dessen modernen Nachfahren gleichermaßen im Dialog steht. Der Witz an der Sache besteht darin, dass Chagall davon träumt, die jiddischen Klassiker zu illustrieren, sich diesen Wunsch – von Perets einmal abgesehen – jedoch nicht erfüllen kann.25 Der Geist Mendeles und Sholem-Aleykhems weht in Chagalls Bildern. Chagalls Bilder beleben aber nicht deren Ausgaben.

24 Der Bereich der Dramatik (und damit des Theaters) wird hier weitgehend ausgeblendet, da er den Rahmen der intermedialen Text-Bild-Analyse sprengen würde. Auch ist Chagalls Arbeit für das GosET in den letzten Jahren gut erforscht worden (s. hierzu Kap. 3). 25 Vgl. Chagalls Brief an Opatoshu vom 24.1.1934 (YIVO, reg. 436, folder 249; in englischer Übersetzung in Harshav 2004: 434).

Marc Chagall – zwischen (jiddischer) Literatur und (malerischer) Metapher  | 19 Der Fokus auf die jiddische Literatur darf aber die russische und – in geringerem Maße – die polnische Literatur meist jüdischstämmiger Autoren nicht ausschließen. Dies würde der cross-cultural-figure Chagall zutiefst widersprechen. Dies liefe auch dem Kontext des Ostjudentums zuwider, das durch vielfältige Sprach- und Kulturkontakte vieles aus dem slavischen Umfeld übernimmt. So, wie es für jeden der behandelten ostjüdischen Autoren triftige Gründe gab, sich für eine Sprache zu entscheiden, gibt es für mich triftige Gründe, bestimmte Autoren zu favorisieren. Chagalls Intermedialität lässt sich ohne SholemAleykhem nicht bestimmen, noch weniger aber ohne Gogol’. Chagalls Affinität zu Isaak Babel’ als kriegsfasziniertem und -terrorisiertem Autor der Konarmija (Die Reiterarmee, 1923–1925) mag vordergründig gering sein; doch gerade diese Distanz macht sie interessant für eine motivgeleitete ästhetische Engführung – und Platz für Ribak. Im Jiddischen finden sich Anklänge der Sprache, die ich als Literatursprache aussparen muss: das Hebräische.26 Das moderne Hebräisch nimmt seinen Ursprung in den 1780er Jahren in Deutschland und im frühen 19. Jahrhundert in Osteuropa (Miron 2010: 1–3). Die neu entstehende hebräische Literatur ist – wie die jiddische auch – „intimately connected to the social, demographic and political sea-changes within traditional Jewish society, both reflecting and even shaping evolving notions of self, identity and nation“ (Mann 2006: 374). Dennoch geht diese auf slavischem Boden wiedergeborene nichtslavische Literatur nicht in die Arbeit ein. Dies bedeutet literarisch eine Reduktion: Sholem-Aleykhems Kasrilevke lässt sich laut Hillel Halkin, der sich als Übersetzer aus dem Hebräischen und Jiddischen ins Englische verdient gemacht hat, kaum ohne Agnons Szybusz verstehen.27 Die poet(olog) ische und motivische Befruchtung zwischen der Mischsprache Jiddisch und den behandelten Slavinen mag dies wettmachen. Sholem-Aleykhems Yehupets (gemeint ist Kiev) hat auch im Vergleich mit Gogol’s kleinrussischer Welt aus den Mërtvye duši (Die toten Seelen, 1842) seinen Reiz. Die allenfalls zur ersten Orientierung annehmbare Unterteilung des Textkorpus in Nationalliteraturen ist im Medium Bild – und im Falle Chagalls – aufgehoben. Wo hört der russische Chagall auf, wo fängt der (ost)jüdische an? Das Schillern seiner Identität zwischen den Kulturen macht ihn interessant, das Oszillieren seiner Bilder zwischen kulturellen Polen, nicht jedoch essentialistische Zuschreibungen und Vereindeutigungen. Am lebhaftesten ausgeprägt ist dies in Chagalls Bildern der Frühphase, in der das kulturell Eigene durch das ästhetisch Fremde (Kubismus, Orphismus etc.) reflektiert und transformiert wird, bis einschließlich seines Aufenthaltes in Berlin von Mai 1922 bis August 1923. Hier jedoch eine starre zeitliche Grenze ziehen oder gar einen Endpunkt setzen zu wollen, ist bei einem Künstler, der immer wieder zum Bildspeicher der frühen Jahre zurückkehrt, nicht angebracht: Folgt man der Motiventwicklung der Tora oder Chagalls technischer Entwicklung in der Gravur, geht die Analyse über diesen Zeitraum hinaus. 26 Zur Neuerschaffung des Hebräischen im Kontext der ostjüdischen Umwälzungen s. Harshav 1995. 27 www.wzo.org.il/en/resources/view.asp?id_1388; 1.10.2010. Für die Sekundärliteratur bedeutet dies das Auslassen wichtiger literaturwissenschaftlicher Positionen, wie sie beispielsweise Avraham Novershtern erarbeitet hat, vgl. sein Kesem hadimdumim: apokalipsa umeshikhiyut besifrut yidish (Der Zauber des Zwielichts. Apokalypse und Messianismus in der jiddischen Literatur, 2003; s. Krutikov 2011: 114).

20  |  Marc Chagall – zwischen (jiddischer) Literatur und (malerischer) Metapher

Literatur- und Bildwissenschaft im Dialog: Interdisziplinäre Chancen für ­intermediale Dynamik Was sind die Ziele eines derartigen Unterfangens, das durch die Brille der Literatur Bilder liest? Zunächst gilt: Wer liest, sieht mehr. Chagalls Bibliothek kennen wir leider nicht. Doch allein seine Illustrier- und seine Theaterarbeit lassen auf die genuine Verbundenheit von Chagalls Kunst mit der Literatur, auf Chagalls Empfänglichkeit für das geschriebene Wort schließen, für Longus, La Fontaine, Gogol’ – und jiddische Texte eben. Über Erwin Panofskys (eminent wichtige) Indienstnahme der Literatur zur ikonologi­ schen Deutung hinaus steht die produktive Wechselbeziehung der beiden Medien im Mittelpunkt (s.  Kap. 2). Ich will hier nicht allein mittels der Literatur Bilder erklären, Literatur auf diese – unbestritten wichtige – dienende Funktion reduzieren. Ich will einzelne Texte dem Bild als gleichrangige Artefakte an die Seite stellen, ihre spezifischen Semioseprozesse und literarischen Verfahren, das ‚demokratische‘ und dynamische In- und Miteinander von Text und Bild bei Chagall exemplarisch aufzeigen. Ob es sich dabei nun um Opatoshu oder um Gogol’ handelt: Eine adäquate Darstellung der inhaltlichen und ästhetischen Interaktionen zwischen Chagalls Malerei und der Literatur ist anhand der originalsprachlichen Vorlagen zu gewährleisten. Die Zeit des ‚cultural turn‘, in der gerade – so Sigrid Weigel – das „Denken und Arbeiten an Übergängen“ (eines Faches; Weigel 2004: 11) viel heuristisches Potenzial birgt, ist günstig für interdisziplinäre Vorhaben.28 Mein Projekt folgt den intermedialen Interaktionen in Chagalls Kunst. Philologische Kernkompetenzen sind dafür die conditio sine qua non, auch weil sie die Bildbetrachtung und -kontextualisierung erweitern und dynamisieren. Diese Annäherung an Chagall via Philologie (mit kulturwissenschaftlichem Hintergrund) ist als Ergänzung zum kunstwissenschaftlichen Diskurs zu verstehen (und keinesfalls als Usurpation des kunstwissenschaftlichen Untersuchungsobjekts).29 In der Slavistik ist dieser Weg durch Aage Hansen-Löves philologisch begründete Standortbestimmung Kazimir Malevičs beschritten. Dessen suprematistische Konzeptkunst wird hier um ihre „andere Hälfte“ (Hansen-Löve 2004: 280), d. h. um religiöse, philosophische und utopische Aspekte, ergänzt: Eben diese wird in Hansen-Löves Ansatz favorisiert, „da die erste Hälfte, die kunstund avantgardehistorische, nur allzu ausgetretene Denkwege durchquert und das KunstDenken Malevičs von seinem Welt-Denken unnötig abschneidet“ (ebd.). Mit Chagall wandele ich zwar ästhetisch auf anderen Pfaden; mein wissenschaftliches Ansinnen ist jedoch dasselbe.30 28 Kulturwissenschaftlich orientierte Forschungsarbeit möchte ich mit Ansgar und Vera Nünning als offenen, dynamischen und interdisziplinären Diskussionsbeitrag verstanden wissen (2003: 4f.). Es geht nicht um das Paradigmatische, sondern um das – seriöse – Experiment (Bachmann-Medick 2006: 18). Das Interdisziplinäre darf jedoch nicht zu Lasten des Disziplinären erreicht werden. Im Idealfall lassen sich Synergieeffekte zwischen den Fachdisziplinen erzeugen, ohne deren Identität zu unterwandern. 29 Die Kunsthistorikerin Aleksandra Šatskich beispielsweise operiert bei der Analyse von Chagalls Illustrationen zu Gogol’s Mërtvye duši mit Bachtins Karnevalsprinzip (vgl. Šatskich 1991b: 76–88 und 1999). 30 Dies ist auch der Grund dafür, dass die gut erforschten westeuropäischen und besonders französischen künstlerischen Einflüsse zurückstehen – was nicht bedeutet, dass sie ignoriert würden.

Marc Chagall – zwischen (jiddischer) Literatur und (malerischer) Metapher  | 21 Die (für die westeuropäische Kunstgeschichte) andere, intermedial erfasste Welt des Ostjudentums in Chagalls Schaffen tritt neben das gründlich erforschte ‚Eigene‘, nämlich die westeuropäische historische Avantgarde mit Paris als ihrem wichtigsten Zentrum. Wie schon bei Malevič sind bei Chagall Kunst und Welt nicht voneinander zu trennen. (Anders als Malevič denkt der theoriefeindliche Chagall Kunst und Welt ausschließlich in seinen Bildern. Hier besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen den beiden Giganten der russischen Avantgarde, zwischen dem, der mit dem Schwarzen Quadrat (1915) den Nullpunkt in der Malerei setzt und dem, der den Höhepunkt der jüdischen Kulturrenaissance markiert.) Diese existenzielle und reziproke Verankerung von Leben und Kunst in Chagalls Denken und Schaffen begründet die gewählte Forschungsbewegung vom KonkretLebensweltlichen zum Abstrakt-Exegetischen. In Büchern lesen, in Bildern, in der Vergangenheit oder in den Augen anderer – der Topos von der Lesbarkeit der Welt (Hans Blumenberg) ist, sofern man es nicht bei der bloßen Metapher belassen will, deshalb so wichtig, weil er die Kategorie des Untersuchungsgegenstandes nicht auf eine Disziplin festlegt (was Walter Benjamin immer bespöttelte; s. Weigel 2004: 11). Denn, wie eine alte Kunstliebhaber-Weisheit besagt: „Man sieht nur das, was man weiß.“ (s. Conrad 1998: 38) Oder, für das aktuelle Vorhaben, wohl treffender: „Man sieht nur das, was man gelesen hat.“ So nehmen wir wie einst Mendele Moykher-Sforim unseren Bücherpacken und gehen Chagalls Bildern entgegen.

2  Medialität und Intermedialität – Methodisch-theoretische Grundlagen

Befreiung von großen Vorbildern Kein Geringerer als Leonardo da Vinci lehrt uns ‚Wer immer nur Autoritäten zitiert macht zwar von seinem Gedächtnis Gebrauch doch nicht von seinem Verstand.‘ Prägt euch das endlich ein: Mit Leonardo los von den Autoritäten! Erich Fried (132005: 60)

Das Bild ist – wie das Wort – eine der größten kulturellen Leistungen der Menschheit. Dank seiner gelingt dem Menschen ein zunächst magischer, dann ästhetischer Akt, den Dingen habhaft zu werden. Und dennoch wird dem Bild, den Zwängen des judeo-christlich-platonischen und später aufklärerischen Logozentrismus unterworfen, eine angemessene wissenschaftliche Auseinandersetzung versagt. Im anhaltenden iconic – oder pictorial – turn versucht man die unterschätzte epistemologische Relevanz des Bildes zu kompensieren.31 Dem iconic turn, der, interdisziplinär verhandelt, die ‚großen Erzählungen‘ der klassischen Kunstgeschichte unterwandert, muss der linguistic turn vorausgehen, bis man, an Sprach- und Logoskritik geschult, dem Bild die Ehre erweist, die ihm gebührt.32 Dabei geht der homo 31 S. hierzu in Auswahl Mitchell 1994, Maar/Burda 2004, Rippl 2005: 11–15, Bachmann-Medick 2006: 329–377 und www.iconicturn.de (Zugriff: 5.3.2012). Dem pictorial turn folgt – auch bedingt durch Erfolge in der Hirnforschung – die kulturwissenschaftliche Hinwendung zu akustischen Phänomenen auf dem Fuße. Der iconic turn reagierte auf die Übermacht der Sprache, die akustische Wende auf die des Visuellen und Sprachlichen. 32 „Erst seit kurzer Zeit wird am Projekt einer ‚Bildwissenschaft‘ gearbeitet, während sich die Sprache seit der Antike einer dauernden diskursiven Erörterung erfreut.“ (Boehm 2007a: 34) Das mosaische Bilderverbot, Platons Abwertung des Bildes und die christliche Instrumentalisierung des – nun legitimierten, aber vom (göttlichen) Wort abhängigen – Bildes sind drei Hauptgründe dieser verzögerten Annahme des Bildes (Boehm 2007a: 40–42). Was die Frage nach der Logik der Bilder mit Sprachkritik zu tun hat, veranschaulicht er ebenfalls (2007a: 40–47). Neben Gottfried Boehm treiben im deutschsprachigen Raum vor allem Klaus Sachs-Hombach (2005), Hans Belting, der an einer Bildanthropologie arbeitet (s. Belting 2001), und Hans Bredekamp die Entwicklung einer die traditionelle Kunstgeschichte erweiternden Bildwissenschaft voran (s. Belting 2007; Bredekamp 2003a: 56–58; 2003b: 418– 428; 2008, 2009.) Horst Bredekamp untersucht u. a. die Manipulation durch Bilder und die Manipulierbarkeit von Bildern (2004: 29–66), Lydia Haustein (2008) (post)moderne Ikonen im Zeitalter von

Medialität und Intermedialität – Methodisch-theoretische Grundlagen  | 23 pictor dem zoon logon echon der Antike voraus (Boehm 2007a: 38). Erst radikale (post) moderne Denkbewegungen führen eine „epochale Verschiebung“ (Boehm 2007a: 45) herbei: „[D]er Logos dominiert nicht länger die Bildpotenz, sondern er räumt seine Abhängigkeit von ihr ein“ (ebd.).33 Erst jetzt fragt man, ohne essentialistisch sein zu müssen, nach dem – historisch, kulturell und diskursanalytisch verschiedenen – Vorstellungs,bild‘ eines Bildes.34 Im Gefolge W.J. Mitchells, eines der großen Bildtheoretiker unserer Zeit, lautet die korrigierte Fragestellung nicht mehr „Was ist ein Bild?“, sondern: „Was meint der Begriff ‚Bild‘ bei Platon, bei Aristoteles [...]?“ (Rippl 2005: 18). Erst jetzt zeichnen sich die heuristischen Möglichkeiten ab, Lessings grundlegende Unterscheidung zwischen der Raum-Kunst „Malerei“ und der Zeit-Kunst „Literatur“ im Laokoon (1766) aufzubrechen und ihr wechselseitiges Interagieren zu untersuchen. Im Anschluss an Lessing, Susanne Langer (41992; s. hierzu Rippl 2005: 37–41), Gabriele Rippl und Gottfried Boehm ist zu diskutieren: Wie funktionieren Bilder? Wie erzeugen sie Sinn? Was ist ihre Logik? Sensibel für die Semioseprozesse eines Bildes antwortet der Kunstphilosoph Boehm:



Globalisierung und Kommerzialisierung. Im Querschnittbereich Bild und Bildlichkeit der Fritz-Thyssen-Stiftung (http://www.fritz-thyssen-stiftung.de/foerderung/foerderungsbereiche/querschnittbereichbild-und-bildlichkeit/; Zugriff 5.3.2012) wird der transdisziplinäre Umgang mit dem Bildbegriff und den bildlichen Repräsentations- und Erkenntnisformen gefördert. Nach dem Forschungsprojekt „Das Technische Bild“ am Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik (HZK; Humboldt-Universität) und der Mitarbeit in der interdisziplinären Arbeitsgruppe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften Die Welt als Bild (2005–2008, vgl. Reichle/Siegel/Spelten 2007 und Markschies/Zachhuber 2008) leitet Bredekamp seit 2008 die DFG-Kolleg-Forschergruppe „Bildakt und Verkörperung“ an der Humboldt-Universität. Neben Mitchell unternimmt im angloamerikanischen Raum James Elkins einen grundsätzlichen Versuch, Kunstgeschichte in eine weiter gefasste Geschichte visueller Artefakte einzubetten (1999). 33 Boehm entwickelt diesen wuchtigen Gedanken unter Berücksichtigung von Wittgensteins Sprachphilosophie und Blumenbergs Metaphorologie. 34 S. Mitchell (1990: 17–68), Boehm (1994) oder Elkins (1999). Mitchell und Elkins klassifizieren medial unterschiedliche visuelle Repräsentationsformen künstlerischer und nichtkünstlerischer, mentaler und materieller Natur vom Vorstellungsbild bis zum Diagramm. Mitchells Bildtypologie von 1984 ist eine um digitale Bildformen zu erweiternde Kategorisierung (s.  Rippl 2005: 17–19). Gottfried Boehm untersucht das Erkenntnispotenzial von Bildern, seien es nun Computertomographien oder Zeichnungen Leonardo da Vincis, zwischen „picturing science“ oder „producing art“ (2007: 94–112). Die Historizität des Bildbegriffs betont vor allem Rippl: „Die Frage nach dem Bild lässt sich also nicht ontologisch und allgemein beantworten, sondern immer nur punktuell für einen bestimmten Zeitraum und unter Berücksichtigung der diskursanalytischen Ebene.“ (2005: 17f.). An Gadamers Hermeneutik geschult und von Derridas „différance“ geleitet, sieht Gottfried Boehm in der Differenz von künstlerischen Bildern ihren Wesenskern (1994: 29–36 und 2001: 253–271). Boehms Konzept des Kunstbildes ist im Folgenden maßgeblich. Es stellt die Ästhetizität des Kunstwerks in den Vordergrund und versucht, die „Eigensprachlichkeit von Bildern begrifflich und [...] ohne Rückgriff auf Modelle der Semiotik oder der klassischen Kunstwissenschaft zu fassen.“ (Stiegler 2008: 423). Nichtsdestotrotz erinnert Boehms Position an die Dominantsetzung der ästhetischen Funktion, wie sie im semiotisch verankerten Strukturalismus von Roman Jakobson (1979) oder dem tschechischen Kunsttheoretiker Jan Mukařovský (1967: 44–54; 21974; 1986: 93–110) vorgenommen wird.

24  |  Medialität und Intermedialität – Methodisch-theoretische Grundlagen Bilder besitzen eine eigene nur ihnen zugehörige Logik. Unter Logik verstehen wir: die konsistente Erzeugung von Sinn aus genuin bildnerischen Mitteln. Und erläuternd fügen wir hinzu: diese Logik ist nicht-prädikativ, das heisst nicht nach dem Muster des Satzes oder anderer Sprachformen gebildet. Sie wird nicht gesprochen, sie wird wahrnehmend realisiert. (Boehm 2007a: 34; Hervorh. von mir)

Die Logik des Bildes liegt jenseits der Sprache.35 Das Bild bringt als Zwitter zwischen „Ding und Nicht-Ding“ (Boehm 2007a: 37) Bedeutung hervor. Es ist nicht nur, es zeigt auch etwas: Dem Auge eröffnet sich „ein im Materiellen verwurzelter Anblick, ein Sinn“ (ebd.). In der Differenz zwischen dem Sichtbaren, materiell Gegebenem, Präsentem und dem Unsichtbaren, dem Immateriellen, Abwesenden, steckt die ganze Potenz des Bildes.36 Das Bildthema, das eventuell eine außerbildliche Referenz zulässt, und eine von jeder Referenzialität autonome, genuin ästhetische Bildgestaltung bilden die beiden Pole der spezifisch bildkünstlerischen Semiose. Gerade in der Verschränkung von beidem als Gegenkraft einer „auf Kontrast und Differenzierung beruhenden Aktivität“ (Boehm 2007a: 48) entsteht ein „Überschuss des Imaginären“ (Boehm 2007a: 49). „Die medial bedingte Unbeweglichkeit des Bildes eröffnet auf kunstvolle Weise den Prozess seiner Aspekte, in dem sich der jeweilige Sinn des Bildes zeigt.“ (Boehm 2007a: 48) Dieser Prozess beruht auf einer Differenz des Ikonischen. Nicht alles davon ist in Sprache übersetzbar. Es bleibt ein Rest, der uns die Grenzen sprachlich vermittelter Erkenntnis vor Augen führt. Dieser unübersetzbare Bedeutungsrest ist schlagendes Argument für die Autonomie des Bildes. Das Bild mag ein statisches Medium sein, seine Sinnentstehung ist – als Folge der ihm inhärenten Differenz – prozessual.37 (In der Regel ist, die futuristische Graphomanie ausgenommen, die Sinngenese eines literarischen Textes von der Materialität des Artefakts wie Druck, Buch, Papier, Schriftart etc. unabhängig. Bedeutung ereignet sich auf der Ebene der Laute, Morpheme, Lexeme, Sätze etc., die durch die Grapheme repräsentiert sind. Mit Friedrich Kittler kann man im Unterschied zum Bild für das Symbolsystem Literatur von „Ersatzsinnlichkeit“ sprechen; zit. nach Renner 2008: 426).

35 Deshalb ist ein Bild nicht auf rein sprachliche Erklärungen reduzierbar, s. Hansen-Löve 1983: 318, Boehm 1994: 22; Boehm 2001: 267–268, Rippl 2005: 49f. 36 Kein Bild „schafft Präsenz ohne den unvermeidlichen Schatten der Abwesenheit“, sagt Boehm (2007: 38f.) im Gefolge Maurice Merleau-Pontys, der im Zusammenhang mit Chagalls Selbstportrait mit Palette von 1917 noch eine wichtige Rolle spielen wird (s. Kap. 4). Für Merleau-Ponty, der in seinem Entwurf „Die Verflechtung – Der Chiasmus“ der Verschränkung von Sichtbarem und Unsichtbarem nachgeht (1986: 172–203), gibt das Bild einem Abwesenden sein Fleisch und damit Präsenz (Boehm 2007a: 39). Boehm zeigt diese Dialektik zwischen Präsenz und Absenz u. a. anhand Claude Monets Gemälde der Kathedrale von Rouen auf (1894; Boehm 2007a: 47–53). 37 „So sehr sich dieser Prozess auch beschreiben lässt, angemessen zugänglich wird er nur im Akt der Betrachtung.“ (Boehm 2007a: 52) James Elkins (1998) setzt sich intensiv mit dem Verfehlen des Bildes durch sprachliche Prädikationen auseinander, insbesondere, wenn sie einer semiotischen Sicht auf Bilder geschuldet sind.

Medialität und Intermedialität – Methodisch-theoretische Grundlagen  | 25 Die Potenzialität des Ikonischen beruht gerade auf seiner Unbestimmbarkeit (s. Boehm 2007b: 199–212). Gottfried Boehm geht davon aus, dass „Unbestimmtheit eine Eigenschaft darstellt, die Bildern generell zukommt“ (2007b: 200). Seine theoretische – und praktische – Bezugsgröße ist Paul Cézanne: Cézanne hat seine Malerei mittels Farbformen als Übersetzung der farbgebenden Empfindung (‚sensation colorante‘) verstanden. Deren Unbestimmtheit in der Wahrnehmung kehrt als ein offener Spielraum aus ‚taches‘ im Bilde wieder. Dieser Spielraum ist die visuelle Basis, die es dem Betrachter erlaubt, den Sinn des Bildes [...] aus den unbestimmten Farbformen zu generieren. [...] In unserem Sinne eröffnet die Sensation einen Zugang zu jener Potenzialität des Bildes, durch die der Mangel an Bestimmtheit in einen Überschuss an Sinn umschlägt. (Boehm 2007b: 204)

Warum beginne ich als Philologin im Rahmen einer Text-Bild-Studie mit dem Bild? 1. Ein Vorstoß in die Intermedialität zwischen Bild und Text funktioniert nicht ohne den Rückzug in die Medialität der beteiligten Einzelkünste. Ohne ein genaues Verständnis von Bild und (literarischem) Text, ihre Funktionsweisen und semantische Offenheit steht ein Text-Bild-Vergleich auf tönernen Füßen.38 2. Das Bild geht der Schrift und dem Text voraus, so suggeriert es zumindest die Entwicklung der Schrift (vgl. Coulmas 1994: 256–264; Flusser 1988). Die Schrift – hier metaphorisch zu verstehen als Ort des Logos – fungiert dabei beileibe nicht nur als „Zähmung und Kritik des Bildes“, wie uns der Medienphilosoph Vilém Flusser glauben machen möchte (1988: 16). Sie bringt ihre eigene Bildlichkeit hervor (vgl. Metapher). Horazens Diktum „ut pictora poesis“ kann man getrost umkehren.39 3. Differenz, Unbestimmtheit, Sinnüberschuss – kennen wir diese Kernelemente der Semiose, die Gottfried Boehm für die Kunst benennt, nicht auch aus dem literarischen Text? Die (post)strukturalistische Revolution der Literaturwissenschaft hat mit Jacques Derridas Prinzip der „différance“ und der „dissémination“ zweierlei bewirkt: Die Philologie ist dank der Philosophie sensibel geworden für den beständigen Sinnaufschub in einem Text (vgl. auch Jacques Lacans psychoanalytisches Pendant der Bedeutung, die sich unter die Signifikandenkette schiebt und dort verschwindet).40 Nicht-diskursive Lektüren betonen die Paradigmatik im (narrativen) Text, in dem über seine linear-syntagmatische Struktur 38 Zum Textbegriff s. Lotman 1998: 13–285 (dt. 1973), Martens 1989: 1–25 und Ueding 2009: 489– 509. Ähnlich dem Bild- oder dem Kulturbegriff hat man es mit einem „entmutigend weiten und einem quälend engen“ Textbegriff zu tun (Eagleton 2001: 48). Konstitutiv für die vorliegende Arbeit sind – auch aufgrund ihrer strukturellen Genauigkeit beim Erfassen narrativer und lyrischer Texte sowie ihrer interpretatorischen Offenheit – die Auffassungen des russischen Kultursemiotikers Jurij M. Lotman zum künstlerischen Text (1998; s. hierzu auch Lachmann 1977: 1–36). 39 Für Horazens „ut pictora poesis“ und Lessings die Diskussion prägende Aussagen gilt gleichermaßen: „Whether or not these critical judgements adequately define the full gamut of painterly and literary production, historically they have had enormous interpretive agency.“ (Mann 2006: 673) 40 Lacan argumentiert in „Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud“ (frz.: „L’instance de la lettre dans l’inconscient ou la raison depuis Freud“; 31991 [1949]: 15–55), dass das Unbewusste wie Sprache organisiert sei. Wie in der Sprache gleitet das Bezeichnete unter dem Bezeichnenden weg; s. auch Eagleton 1988: 152–159.

26  |  Medialität und Intermedialität – Methodisch-theoretische Grundlagen hinaus simultane Sinnbezüge entstehen können, also Sinnbezüge, die wir eigentlich dem Bild zuschreiben.41 Und: Der Phänomenologe Roman Ingarden, der den anderen großen Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty beeinflusst haben dürfte, benennt die „Unbestimmtheitsstellen“ als zentrale Orte der Bedeutungsentstehung im (literarischen) Kunstwerk.42 Zwischen Ingardens Schichtenmodell für den literarischen Text und Erwin Panofskys ikonographisch-ikonologischee Methode zur Bildanalyse ergeben sich hierdurch Berührungspunkte.43 Beide Ansätze betonen durch das Aufdecken der „Unbestimmtheitsstellen“ bzw. dem von Heidegger übernommenen „Ungesagten“ (Panofsky 31984a [1932]: 199) die semantische Offenheit des Kunstwerks.44 Wolfgang Iser wird vergleichbare Phänomene in seiner Rezeptionsästhetik später „Leerstelle“ nennen (s. bes. 1994: 257–347). Nicht von ungefähr kommt dem Akt des Lesens bei Iser und dem Akt des Sehens bei Merleau-Ponty (oder John Berger) so große Bedeutung zu: Hier wird der im wort- oder bildkünstlerischen Artefakt angelegte Sinnüberschuss umgesetzt: „Für die Sinnentstehung ist allerdings entscheidend, im Bild jenen Akt des Sehens wieder zu beleben, der darin angelegt ist. Erst das gesehene Bild ist in Wahrheit ganz Bild geworden“ (Boehm 2007a: 49). Ebenso kann man über Literatur sagen: Erst der gelesene Text ist ganz Text geworden. 41 Von Roman Jakobson stammt das entscheidende Diktum zum ästhetischen Text: „Die poetische Funktion projiziert das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination“ (1979: 94); S. hierzu auch Lotman 1998: 89–94. Konstitutiv ist die syntagmatische und paradigmatische Überstrukturiertheit vor allem für lyrische Texte (s. hierzu Link 1981: 192–219). 42 S. Ingarden 41972: 261–270. Ingarden leitet die Unbestimmtheit des literarischen Kunstwerks von dessen Intentionalität ab. Direkte Folge ist die semantische Ambivalenz des Textes. Derrida spricht von der „dissémination“ (Zerstreuung) von Sinn und beständigem Sinnaufschub, der Polysemie und damit Unbestimmtheit erzeugt (1972; dt.: 1995). Zur Ontologie des Bildes s. Ingarden 1962: 137–253. 43 Ingarden unterscheidet in seiner ontologischen Sichtweise auf den Text, die er in Anlehnung an die Triade Ausdruck-Bedeutung-Gegenstand des Phänomenologen Edmund Husserl entwickelt, die Schicht der sprachlichen Lautgebilde, die der Bedeutungseinheiten, der dargestellten Gegenständlichen und schließlich diejenige der schematisierten Ansichten (41972). Erwin Panofsky, auch er phänomenologisch beeinflusst, entwickelt in seinem Gründungstext „Ikonographie und Ikonologie“ (1939/1955) sein dreistufiges Deutungsmodell (31984b: 207–225; s. auch Noll 2003: 151–155): Es umfasst den Phänomensinn, den Bedeutungssinn (literaler Sinn) und den Dokumentsinn: Panofsky schreitet von der Form- zur Bedeutungsanalyse voran und verankert diese dann in einem größeren geistesgeschichtlichen Kontext. Zur Vorstellung und Diskussion dieses Modells s. besonders Bätschmann 1984: 57–72 und Eberlein 51996: 169–191. Ingardens Lautebene ließe sich mit Panofskys Phänomensinn korrelieren, die der Bedeutungseinheiten mit Panofskys „Bedeutungssinn“ und die der dargestellten Gegenständlichkeiten und der schematisierten Ansichten mit dem Dokumentsinn, die jeweils den höchsten Abstraktionsgrad der Analyse beschreiben (zu Ingarden s. Schmid 1995: 22–36). Auf Fortsetzungen dieser beiden Schichtenmodelle – der Slavist Wolf Schmid entwickelt im Anschluss an Roman Ingarden und Karlheinz Stierle ein Vier-Schichten-Modell des narrativen Textes (1982: 83–110) – kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. 44 Im Vergleich zwischen Bild und Text stuft Ingarden die Unbestimmtheitsstellen im Bild für größer als im Text ein (s. 1962: 235). Umberto Eco entwickelt ausgehend von der Unbestimmtheit sein Konzept des offenen Kunstwerks (1987), das außer der Literaturwissenschaft auch die Kunstwissenschaft befruchtete (s. von Rosen 2003: 256–258).

Medialität und Intermedialität – Methodisch-theoretische Grundlagen  | 27 Jenseits der Wasserscheide von Produktions- und Rezeptionsästhetik verbindet Bild und Text die dialektische Differenz von Präsenz (des materiellen Zeichens) und Absenz (ihrer immateriellen Mehrdeutigkeit), von Sinnvollzug und Sinnentzug. Zur Differenz innerhalb eines Textes gesellt sich die Differenz der Intertextualität, zur Differenz innerhalb eines Bildes die der Interikonizität.45 Ein Text ruft einen anderen Text auf, ein Bild ein anderes Bild. Für die jiddische Literatur ist der Doppelkontext der religiösen, hebräischen Schriften und der ‚profanen‘ ostjüdisch-jiddischen Literatur einschließlich des shund (jidd. für Trivialliteratur) relevant. Für Chagall ist es die lange Tradition der jüdischen Buchillustration und der jüdisch-jiddischen, aber auch der russischen (Avantgarde-)Kunst.46 Nimmt man beide Medien zusammen, tritt die Differenz ihrer intermedialen Beziehung hinzu. Joachim Paech nennt dies die „Differenz-Form des Dazwischen“ (1998: 16). Sie ist für die folgenden Analysen in den Rang einer Leitkategorie zu erheben.47 Doch was meint Intermedialität von Text und Bild? Im Rahmen seiner berühmt gewordenen Analyse von Velázques’ Las Meninas (1656) in Les mots et les choses (dt.: Die Ordnung der Dinge, 1996) von 1966 kommt Michel Foucault auf die Beziehung von Sprache und Malerei zu sprechen (1996: 31–45). Foucault charakterisiert diese als „unendliche Beziehung“ (1996: 38), was nicht heißen soll, dass das Wort unvollkommen sei und sich angesichts des Sichtbaren in einem Defizit befinde (ebd.). „Sprache und Malerei verhalten sich zueinander irreduzibel; vergeblich spricht man das aus, was man sieht: das, was man sieht, liegt nie in dem, was man sagt [...]“ (ebd.48 (Die Aussichtslosigkeit eines intermedial angelegten, Literatur und Malerei in Beziehung setzenden wissenschaftlichen Unterfangens scheint vorprogrammiert.) Das Vergleichbare entdeckt er, indem er die semiotische, Saussure’sche Grundfunktion von Sprache, dass ein Name auf einen Referenten in der Objektwelt verweist, ausschaltet. Er spricht nicht „gegen, 45 Zur Intertextualität, einem von Julia Kristeva eingeführten Terminus technicus für Text-Text-Beziehungen, die ihren Ursprung in Bachtins Dialogizität und Kristevas Bachtin-Lektüre „Wort, Dialog und Roman bei Bachtin“ (1972: 345–375) hat, s. in Auswahl Bachtin (1979), Stierle (1983: 7–26), Lachmann (1991 und 1996: 794–806), Genette (21996), Schahadat (1995: 366–377), Aczel (2003: 287– 289) und Herrmann/Hübenthal (2007). Interpikturalität beziehungsweise Interikonizität meint – analog zur Intertextualität  – das Verweisen von Bildern auf andere (s.  von Rosen 2003: 161–164). Interikonizität ist ein noch junger und diskutierter, doch brauchbarer Begriff in der Bildwissenschaft (Zuschlag 2006: 89–99, Gelshorn 2007: 53–58 und Gamer 2007: 127–148). Julia Gelshorn weist in ihrem durchaus polemischen Text auf die Notwendigkeit einer adäquaten, am visuellen Material orientierten Theorie-Bildung und Terminologie-Findung hin (2007: 57) Die Herausgeber des Sammelbandes ­Verwandte Bilder. Die Fragen der Bildwissenschaft (2007) Ingeborg Reichle, Steffen Siegel und Achim Spelten schließen im Vorwort mit einer Art Plädoyer für die Interpikturalität: „[...] in jedem einzelnen Bild lässt sich nicht allein ein Stück Welt erkennen. In ihm spiegeln sich zugleich alle verwandten Bilder.“ (S. 11) 46 Für letztere spielt der Buchkult des Futurismus eine entscheidende Rolle, der in seinen teilweise kruden Einzelausgaben einen vielfältigen Lettrismus an den Tag legt (s.  hierzu zuletzt Hansen-Löve 2006: 60–65). Für die jüdisch-jiddische Avantgarde s. Kazovsky (2003) und Hazan-Brunet (2009). 47 S. auch Rippl 2005: 51; Rajewsky spricht von „intermedial gap“ (2002: 70f.). 48 Peter Zima benennt die Heterogenität und Eigengesetzlichkeit der Kunstarten als heuristisches Problem. „In der Literatur bildet die verbale Sprache, in der bildenden Kunst bildet das ‚Sehen, das visuelle Vermögen‘, die Grundlage des Verstehens“ (1995: 16).

28  |  Medialität und Intermedialität – Methodisch-theoretische Grundlagen sondern ausgehend von [der] Unvereinbarkeit“ (ebd.; Hervorh. S. K.) von Sprache und Malerei. Der Rückzug der Sprache aus der Pragmatik macht Sprache zu einer Mittlerin zwischen Malerei und Mensch. In unendlichen Annäherungen an das Sichtbare seitens der Sprache wird die „Malerei vielleicht ganz allmählich ihre Helligkeiten erleuchten“ (ebd.). Dort, wo die Referenzialität des Wortes (seine Semantik) zugunsten anderer, ästhetischer Wertigkeiten zurückgestellt ist, kann der Vergleich zwischen Sprache und Malerei eine unvermutete Nähe aufzeigen. Der Stimme des Wissensarchäologen sei die des bereits erwähnten Phänomenologen Merleau-Ponty an die Seite gestellt, der in Le Langage indirect et les Voix du Silence ebenfalls der Beziehung zwischen Sprache und Malerei nachgeht (1960: 49–104; dt. 1984: 69–114): Merleau-Ponty zufolge gibt es ein „stillschweigendes Sprechen“ und eine Malerei, die „auf ihre Weise spricht“ (1984: 76). In bemerkenswerter Ähnlichkeit zu Foucault lässt MerleauPonty die referenzielle Funktion von Sprache außen vor. Er wendet sich der „authentischen Sprache“ (1984: 74) zu – gemeint ist die Sprache der Literatur. Diese Sprache „in der zweiten Potenz“ (1984: 75) drückt durch das, was sie nicht sagt, ebenso viel aus wie durch das, was sie sagt.49 Hinsichtlich eines empirischen, referenziellen Gebrauchs ist sie Schweigen.50 In diesem autonomen Raum ästhetischer Autoreferenzialiät ist Sprache der Malerei ähnlich: Malerei erreicht uns durch die „schweigende Welt der Farben und Linien“ (1984: 74), durch eine „kohärente Deformierung des Sichtbaren“ (1984: 108). Geeint sind die beiden Medien letztendlich dadurch, dass in ihnen die Begegnung mit der Welt zum Ausdruck gebracht wird (Merleau-Ponty 1984: 86). Hans-Georg Gadamer spricht von ihrer „Teilhabe an der Wirklichkeit“ (1994: 90) und ihrer „Einladung zum Verweilen“ (1994: 104), dank derer man aus der Realität heraustritt. Die „prägende Kraft der Medien bei der Welterfassung“ (Rippl 2005: 47) trifft in besonders hohem Maße auf Text und Bild zu: „,Wort und Bild‘ sind zwei wichtige, sich gegenseitig ergänzende und wechselseitig bedingende Weisen menschlichen Selbst- und Weltzugangs: Bilder sind von Texten umstellt und Texte werden von Bildern beeinflusst [...].“ (Rippl 2005: 20; s. auch S. 31)51

49 Lotman nennt dies semiotisch-trocken: „Iskusstvo – vtoričnaja modelirujuščaja sistema“ (Die Kunst ist ein sekundär modellierendes System; 1998: 21). Die Dynamik der eben für das Bild konstatierten Differenz zwischen dem offenen und dem zunächst verdeckten Sinn charakterisiert also auch das Medium der Literatur. 50 Die strukturalistische Erklärung desselben Phänomens mag dies zusätzlich verdeutlichen: MerleauPonty setzt in seinen Überlegungen die ästhetische Funktion dominant, die Roman Jakobson im Zusammenhang mit seinem Kommunikationsmodell behandelt (1979: 83–121). Andere Funktionen, wie z. B. die referenzielle, treten hier zurück (s. auch Mukařovský 21974). 51 Die Bild- und Theaterwissenschaftlerin Veronika Darian regt nicht nur im Hinblick auf die von den Interart Studies angestrebte „wechselseitige Erhellung“ der Künste (s. Rippl 2005: 31), sondern auch für ein tieferes Verständnis von Gewalt eine intermedial profilierte Ästhetik des Schreckens an: „Überhaupt könnte sich der Blick auf Untersuchungen bezüglich eines gewaltsamen Stils in der Literatur als hilfreich erweisen für weiterreichende Beobachtungen eines gewaltsamen bildlichen Stils.“ (2007: 179) Fast hundert Jahre zuvor nimmt der russisch-jüdische Kunsthistorischer Jakov Tugendchol’d den Krieg zum Anlass für einen Vergleich zwischen Literatur und Malerei (1916: 159–166).

Medialität und Intermedialität – Methodisch-theoretische Grundlagen  | 29 Die Skepsis dem erklärenden Wort gegenüber, die uns seit Wittgensteins Sprachkritik begleitet, kann den Wunsch, dem Gesehenen, Gelesenen und deren wechselseitiger Bezogenheit Sinn abzugewinnen, nicht verdrängen. Auch ich folge mit vorliegender Studie dem „offenbar tief verankerte[n] Bedürfnis im Menschen“ (Boehm 2007a: 37), ästhetische Knotenpunkte in Wort und Bild, die in ihrer Ambivalenz und Unbestimmtheit Sinnüberschuss erzeugen, auszuwerten und Bedeutung zuzuschreiben. Das nicht-prädikative Bild und eine von Prädikationen lebende Bildanalyse schließen sich ebenso wenig aus wie die polyseme Potenz der Literatur und eine literaturwissenschaftliche Sinnsetzung. Sensibilisiert durch Foucaults Irreduzibilität, die sich übersetzungstheoretisch mit der Irreduzibilität zweier Sprachen vergleichen lässt, sind Chagalls Bilder und ihre Bezugnahme auf Texte im Wissen um das nicht in Sprache Übersetzbare zu analysieren.52 Die methodisch-theoretische Ausrichtung der vorliegenden Arbeit gründet auf einem Dreischritt. Zunächst ist die spezifische mediale Qualität der im Fokus stehenden ostjüdischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts zu bestimmen; beschäftigen wird uns hier beispielsweise das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die Frage der Gattungen und Erzählweisen oder der Grad der Ästhetisierung eines Kunstwerks. Dem ist – vergleichend  – die Medialität der Kunst Marc Chagalls an die Seite zu stellen, bevor intermediale Bild-Text-Bezüge zwischen Chagalls Werk und der Literatur des Ostjudentums hergestellt werden. Die Grundlage der Textanalyse bilden Methoden und Ansätze der (post)strukturalistischen und hermeneutischen Literaturwissenschaft.53 Die ikonographisch-ikonologische Methode Erwin Panofskys (1892–1962) – mit Aby Warburg als ihrem Ahnherr (Eberlein 51996: 169) – stellt das klassisch gewordene Fundament der Bildbetrachtung dar, ohne die Möglichkeit weiterer ästhetischer Erkenntniswerte durch neuere semiotische oder hermeneutische An­sätze der Kunstwissenschaft außen vor zu lassen.54 (Es lohnt sich allemal, bei den jüdischen Vätern 52 In Die Sprache der Anderen oder die ursprüngliche Prothese rückt Derrida die Grenze zwischen zwei Fremdsprachen in den Blick, in die das Unkommunizierbare eingelagert ist (2003 und frühere Version 1997a: 15–41). Diese und andere Erkenntnisse aus dem translational turn lassen sich für intermediale Analysen nutzbar machen (vgl. Bachmann-Medick 2006: 238–283). Auch zwischen den beiden Medien Text und Bild finden Übersetzungsprozesse statt (vgl. Jakobson 1971a: 260–266). Auch hier ist die intermediale Übersetzung die „Agentur der Differenz“ (Haverkamp 1997: 7). Auch hier bleibt ein nicht erschlossener Rest, der der ‚Einsprachigkeit‘ des Einzelmediums anhaftet und weder in ein anderes Medium noch in eine adäquate wissenschaftliche Beschreibung übertragen werden kann. Der russische Formalist Jurij Tynjanov konstatiert bereits 1922 in seinem Schlüsseltext „Illjustracii“ (Illustrationen; 1977: 310–318; dt. 1982: 184–195) die Unübersetzbarkeit der Literatur Gogol’s oder Chlebnikovs in die Malerei, da beide Kunstarten „medial und semiotisch völlig verschiedenen, ja geradezu entgegengesetzten Ebenen“ angehören (Hansen-Löve 2008: 160). 53 Dass Methodenpluralismus kein methodologischer ‚Defekt‘ ist, sondern den Erkenntniswert steigern kann, beweist Mikhail Krutikovs Monographie Yiddish Fiction and the Crisis of Modernity (2001): Krutikov kombiniert die marxistische Literaturtheorie eines Georg Lukács mit Michail Bachtins Dialogizitätsprinzip und Jurij Lotmans Sujettypologie. 54 Einen Überblick über kunstgeschichtliche Deutungsmöglichkeiten von der Form-, Struktur- oder Stilanalyse bis hin zu einer soziologisch oder semiotisch orientierten Auswertung bietet Hans Belting (51996). In Kenntnis der problematischen Annäherungsversuche zwischen Bildwissenschaft und Semiotik möchte ich weder Bild und Zeichen gleichsetzen noch auf das Erkenntnispotenzial der Semiotik

30  |  Medialität und Intermedialität – Methodisch-theoretische Grundlagen der Kulturwissenschaft in die Schule zu gehen: Panofskys ikonographisch-ikonologischer Ansatz und Aby Warburgs doppelter Blick für das ästhetische Detail und das kulturelle Ganze sind im Kontext der heutigen kulturologischen Wissenschaftsinteressen faszinierend.55)

Intra-, Inter- und Transmedialität Die Intermedialitätsforschung ist ein facettenreicher, in der Anwendung jedoch schwieriger methodisch-theoretischer Bezugsrahmen.56 Die Mannigfaltigkeit der Medien, die mannigfaltige intermediale Bezüge herstellen, die ihrerseits auf mannigfaltige Weise funktionieren und klassifizierbar sind, ist ein Grund dafür, die Offenheit und die manchmal ins Metaphernhafte abgleitende Verwendung der Basisbegriffe „Medium“ oder – im Falle von Text-BildBeziehungen – „Text“ und „Bild“ ein anderer.57 Ein intermediales Patentrezept gibt es nicht – und soll es auch nicht geben. 58 Jedes theoretische Modell ist  – Jan Mukařovský para­­phrasierend – ärmer als der ästhetische Reichtum, den es beschreiben will. Intermedialitätskonzepte finden im vorliegenden Fall Anwendung, sofern sie nicht als Korsett fungieren, sondern als Analyseinstrument die spezifischen Wechselbeziehungen von Text und Bild im Werk Marc Chagalls erhellen helfen. Auch hier geht es letztlich um Differenz, nämlich um diejenige zwischen methodischer Fixierung von Intermedialität und – wie bereits in den wort- und bildkünstlerischen Einzelmedien – einem sich der Beschreibung entziehenden

55

56

57 58

und semiotisch orientierten Kunstphilosophie (beispielsweise Mukařovskýs) für die Bildanalyse verzichten. Innerhalb der notwendigen theoretischen Debatten sei auf die Vermittlungsversuche Klaus SachsHombachs verwiesen (2005 und 2009). In der vorliegenden Studie geht es nicht um Deutungshoheiten einer Disziplin, sondern um interdisziplinäre Deutungstoleranz sowie um die Praktikabilität und Relevanz interdisziplinärer Impulse, die zu Chagalls Kunst im Spannungsfeld von Literatur und Malerei einen Zugang ermöglichen. „Die Warburgschule geht davon aus, dass jede ästhetische Wahrnehmung in eine ‚Konstellation sozialer Vorstellungen‘ eingefügt ist, aus der man ein ‚Kulturgedächtnis‘ rekonstruieren kann.“ (Renner 2008: 430). Neben Warburg und Panofsky sind Hermann Cohens Ästhetik des reinen Gefühls (1912), Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung (1921) und natürlich Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (1923–29) zu nennen. Zu Versuchen jüngeren Datums, Panofskys Ikonologie in Anwendung auf moderne Bildmedien (Kino, Video, Alltagsbilder etc.) auf ihren kulturellen Mehrwert auszuloten, s. Boehm/Bredekamp 2009. Zur Intermedialität von Text und Bild s. Jakobson 1971b: 338–344, Hansen-Löve 1983: 291–361, Harms 1990, Zima 1995, Wolf 22001: 284–285, Wolf 2002: 22–104, Schoell-Glass 2003: 348–351, Schnitzler 2004, Rippl 2005: 11–100, Horstkotte/Leonhard 2006 und Paech/Schröter 2008: 155– 270. In der Semiotik und der Kulturanthropologie wird der Textbegriff für die Kultur als Ganze verwendet, vgl. Lotmans Kultursemiotik (2001) und Clifford Geertz’ Metapher von der „Kultur als Text“ (s. Ort 2003: 33–35; Bachmann-Medick 2003: 86–107). Von den Versuchen, Intermedialität generell für alle Künste zu reflektieren und zu konzeptualisieren s. Zima (1995: 1–28), Schröter (http://www.theorie-der-medien.de/text_detail.php?nr=12; 5.3.2012); Paech (1998) und Paech/Schröter (2008). Irina Rajewsky (2002) versucht in ihrer Monographie ein generalisiertes Intermedialitätskonzept, auf das im Folgenden kurz eingegangen wird. Joachim Paech und Jens Schröter fügen der gängigen Intermedialität zwischen den Künsten solche Hybridformen hinzu, wie sie durch digitale Darstellungsformen möglich werden (s. 2008: 10).

Medialität und Intermedialität – Methodisch-theoretische Grundlagen  | 31 Rest. Die Spannung zwischen literatur- und kunstwissenschaftlicher Konkretisierung und ästhetischer Offenheit und Flexibilität des Text-Bild-Verhältnisses ist dabei als konstruktives Element der Sinnfindung zu verstehen. Die vergleichenden Parameter leiten sich nicht allein aus den Möglichkeiten der Theoriebildung ab, die sich aus einer intra-, inter- und transmedialen Dimension zusam­ mensetzt (vgl. Rajewsky 2002). Sie müssen mit dem kulturellen und ästhetischen Kontext zusammenspielen, in dem die Bilder und Texte zum Ostjudentum entstanden sind, um die es hier geht. Peter Zima kommt mit seinem Versuch, transdisziplinäre, d. h. medienunabhängige Vergleichsmomente aus der metadisziplinären Semiotik in die Intermedialität einzuführen, besondere Bedeutung zu (1995: 1–28).59 Was Zima im Auge hat – Struktur, Intertextualität, Dis-/Kontinuität, Kode oder thematische Isotopie –, sei hier ergänzt um die oben entwickelte dekonstruktivistische Leitkategorie der Differenz. Die Anbindung dieser Metakategorien an die einzel- und intermediale Ausformung muss dabei gewährleistet sein (vgl. auch Rippl 2005: 50). Grundlegend für die Interaktion der bildlichen und sprachlichen Medien sind Konzepte zur Intermedialität, wie sie im slavischen Raum formalistisch von Jurij Tynjanov zur Illu­ stration, später strukturalistisch von Roman Jakobson (1993b: 212–218; 1979 [1935]: 212– 219; s. hierzu Hansen-Löve 1983: 335) sowie semiotisch von Boris Uspenskij (1995 [1970]; dt.: 1975) entwickelt wurden. Die Unterschiede zwischen Text und Bild sind mit Lessings kanonisch gewordenem Laokoon (1766) benannt.60 Die Hirnforschung bekräftigt deren mediale Differenz durch eine divergierende „kognitive Verarbeitung“ von Bildern und Texten (Rippl 2005: 41). Dem bemerkenswerten Theorieteil von Gabriele Rippls Monographie ist es zu verdanken, dass sie Lessings rezeptionsästhetische Klassifizierung der Literatur und der bildenden Kunst als – in toto – sukzessive oder simultane ‚Ordnung der Künste‘ relativiert. Sie lenkt den Blick nicht auf die Binäropposition der Lessing’schen Typologie, sondern auf Zwischentöne der medialen Verfasstheit von Text und Bild. Die simultane Bildkunst birgt sukzessives Potenzial. Ebenso kann die primär sukzessive Literatur simultane Elemente aufweisen. „Die These von der Simultaneität des Bildes ist ein Mythos“ (2005: 37) – Erich Fried würde sich über Gabriele Rippls Lossagung von den Autoritäten freuen. Viele Bilder Chagalls werden ihr Recht geben. Ohne Mediendifferenzen aufzulösen, macht ihre Analyse für die mediale Nähe zwischen Text und Bild sensibel.61 59 Zima hält hierfür Ausschau nach einer „Terminologie, die einerseits so abstrakt ist, dass sie auf heterogene Kunstformen angewandt werden kann, andererseits aber so konkret ist, dass sie problemlos an die allgemeine Begrifflichkeit einzelner Disziplinen wie Literaturwissenschaft, Kunstsoziologie, Filmsemiotik und Musikwissenschaft angeschlossen werden kann. Ihre Anschließbarkeit an die spezifische Begrifflichkeit dieser Disziplinen – etwa an die Metrik oder die Narrativik in der Literaturwissenschaft – muss nicht gewährleistet sein.“ (1995: 19). 60 Zu den grundlegenden strukturalistisch-semiotisch benannten Differenzen s. auch Titzmann 1990: 368–384. 61 Rippl versucht eine intermediale Typologie jenseits eines reduktionistischen (logozentristischen) Me­dienpurismus. Zugleich grenzt sie sich gerade durch die Betonung der nicht absolut gesetzten

32  |  Medialität und Intermedialität – Methodisch-theoretische Grundlagen Neben diesen Ansätzen, die den generellen Unterschied zwischen Wort und Bild im Auge haben, treten solche, die für intermediale Text-Bild-Beziehungen eine konkrete Binnen­ differenzierung versuchen.62 Manfred Pfister operiert mit der typologischen Trias der Absenz, Präsenz oder Co-Präsenz der Text-Bild-Medien (1993: 321–343; s. auch Rippl 2005: 54): Im ersten Fall sind Text und Bild in einem Werk nicht kopräsent (Ekphrasis, Bild mit literarischem Sujet), im zweiten Fall sind sie kopräsent (z. B. Emblem, Cartoon, Illustration). Im dritten Fall gehen Text und Bild räumlich ineinander über. Pfister nennt hierfür drei Untergruppen: a) ein Text ist indexikalisch in ein Bild eingebaut (dies gilt beispielsweise für die Namensbezeichnung in der russischen Ikone); b) ein Text ist Bestandteil der Bildfiktion (pictorial fiction), so in Stillleben mit Büchern oder in Chagalls zahlreichen Stadt- und Schtetl-Ansichten, auf denen sich häufig Ladenschilder finden;63 c) ein Text erscheint als Wort-Bild („word-image“; 1993: 323), d. h. textuelle Elemente werden jenseits einer mime­ tisch-referenziellen Funktion Bestandteil des Bildes, vgl. die Fülle von kubistischen Bildern, die Buchstaben und Wörter in die Bildkomposition einbauen (s. bes. Pfister 1993: 322– 323).64 Die letztgenannte Subkategorie, welche die ‚Neutralisierung‘ der Semantik zugunsten der bildästhetischen Funktion eines Textes mit sich bringt, kehrt ebenfalls in Chagalls Kunst wieder.65 Irina O. Rajewsky (2002) entwickelt eine auf der Intertextualitätstheorie basierende Intermedialität.66 Aus literaturwissenschaftlicher Warte systematisiert sie vielgestaltige Interferenzen der Literatur vorrangig mit dem Film. Wie Pfister geht sie von drei Hauptkate­

62

63 64

65 66

Unterschiede von der Semiotik oder den Interart Studies ab, die Gefahr laufen, „Mediendifferenzen zu nivellieren“ (Rippl 2005: 34 und 50; zur Abgrenzung der Intermedialitätsforschung von den komparatistischen Interart Studies siehe auch Rajewsky 2002: 10). Im Folgenden seien drei für die Arbeit relevante Ansätze vorgestellt. Die vom Anglisten und allgemeinen Literaturwissenschaftler Wolf Werner versuchte Öffnung der intramedialen Erzähltheorie hin zu einer „intermedialen Narratologie“ (2002: 22–104; hier S. 26) birgt für das erzählerische Potenzial von Bildern Anregungen, bricht – wie auch von Rippl durchgeführt – Lessings Diktum von der Simulta­ neität der Bildkunst auf (s. o.). Werners Ansatz wird in der vorliegenden Arbeit nur in Teilen nutzbar gemacht, da auch die lyrische Gattung für den intermedialen Vergleich herangezogen wird. Als Beispiele seien hier nur Nächtliche Szene (1910; Abb. in: Kamenski 1989: 94), Das Haus im Schtetl Lyozno (1914; Abb. in: Benesch/Brugger 2006: 53) oder Der heilige Fuhrmann (1911–12; Abb. in: Kamenski 1989: 105) genannt. Ein Beispiel aus der Literatur ist das Bildgedicht (Technopägium), berühmt geworden durch Marinettis „parole in libertà“ oder Apollinaires Calligrammes (vgl. Pfister 1993: 324). Die russischen Kubofuturisten sprengten mit ihren handschriftlichen Gedichten, Bildgedichten und den daraus resultierenden Interferenzen die Grenzen zwischen Text, Buchstabe und Bild auf (s. hierzu Hansen-Löve 1983: 321– 334, Poljakov 1998 und Kravets 2009: 29–35). In der jüdischen Kultur finden sich Miniaturen mit hebräischer Mikroschrift. Neben ihrem (manchmal ungeklärten) Textgehalt ergibt die Graphemfolge eine bildhafte Darstellung (s. Abb. in: Gutmann 1978: 41, Jüdische Miniaturen aus sechs Jahrhunderten 1988: 125). Umgekehrt spielt natürlich auch die ästhetische Qualität von Graphemen für die Kategorie der Bildfiktion eine Rolle. Irina Rajewsky zeichnet sorgfältig die generelle intermediale Theoriebildung nach. Sie fasst ausgehend von einem engen Begriffsverständnis Intertextualität nicht wie mittlerweile häufig üblich als Sonderfall der Intermedialität auf (2002: 59–77). Dabei bezieht sie sich auf die Begründer der Intertextualität Michail Bachtin und Julia Kristeva, die den Text- und damit den Intertextualitätsbegriff generalisiert,

Medialität und Intermedialität – Methodisch-theoretische Grundlagen  | 33 gorien aus, die sich – dem Anspruch der Studie entsprechend (Rajewsky 2002: 5) – leicht auf Text-Bild-Bezüge übertragen lassen: Außer den intermedialen Bezügen unterscheidet sie Medienwechsel (z. B. Literaturverfilmung) und Medienkombination (z. B. Oper).67 Rajewskys Kategorie der intermedialen Bezüge erreicht im Vergleich zu anderen Ansätzen eine größere Ausdifferenzierung. Doch droht der Versuch einer umfassenden Systematisierung der komplexen intermedialen Bezugnahmen eine theoretische Kompliziertheit hinzuzufügen, die im Versuch einer umfassenden Klassifizierung durch terminologische Überfrachtung den Blick auf intermediale Verfahren verstellt.68 Das Graduelle mag keine Schubladen. Bei aller Notwendigkeit der theoretischen Kategorisierung darf eines nicht übersehen werden: Intermediale Repräsentationsformen variieren je nach zeitlichem und kulturellem Kontext. Genau diese kulturkontextuelle Gebundenheit macht Aage Hansen-Löves Theorieansatz so wichtig (1983: 291–360).69 Der Münchner Slavist reflektiert Inter­mediali­ tätskonzepte des russischen Symbolismus und der russischen Avantgarde (Kubofuturismus, Suprematismus), also genau der Stilformationen, zwischen denen sich Chagalls künstlerische Bildsprache hauptsächlich formiert. Hansen-Löves Analyse macht deutlich, dass nicht nur die Historizität und Kulturbezogenheit des Bild- und Textmaterials, sondern auch die Geschichtlichkeit der Text-Bild-Beziehung deren Typologie beeinflusst (vgl. auch Rippl 2005: 31–33). Hanse-Löve arbeitet in Anlehnung an Ch. S. Peirce’ Trias des indexikalischen, ikonischen und symbolischen Zeichens für die russische Moderne und Avantgarde, während der der intermediale Dialog besonders intensiv ist, drei Typen der Korrelation von Wort- und Bildkunstwerken heraus.70 Zum einen berücksichtigen sie die Metareflexion zu deren

67

68

69 70

nicht aber auf neuere Entwürfe wie den von Renate Lachmann oder Gérard Genette. Hansen-Löve geht bei seinem Intermedialitätsansatz ebenfalls von der Intertextualität aus (1983: 294–298). Rajewskys „Medienkombination“ entspricht Typ 2 und 3 bei Pfister, ihre Kategorien „Medienwechsel“ und „intermedialer Bezug“ fallen in der Pfister’schen Klassifizierung unter Typ 1, da real-materiell nur ein Medium präsent ist. Eine fremdmediale Einzelreferenz bedeutet zwingend auch den Bezug zum anderen medialen System; diese „Systemreferenz“ kann man in Entsprechung zu Peter Zimas Kategorisierung als Referenz auf den Kode einstufen. Die Terminologie wird in der Folge in der Feingliederung wenig trennscharf. Eine „Systemerwähnung qua Transposition“ (s. 2002: 83–117) – laut Rajewsky ein nur punktueller intermedialer Bezug (2002: 132) – ist ebenso möglich wie eine „Systemkontamination qua Translation“, die das kontaktnehmende Medium durchgängig betreffen soll (2002: 124–135; vgl. Schema S. 157). Warum jedoch kann eine solche Systemerwähnung, die streckenweise Verfahren eines anderen Mediums transponiert, nicht ebenso eine Kontamination bedeuten? Wo hört die „simulierende“ Systemerwähnung auf, wo beginnt die „evozierende“? Wie wären diese beiden Teilkategorien der Systemerwähnung im Bild auseinanderzuhalten? In dieser kulturellen Gebundenheit reflektiert Hansen-Löve auch die Entstehung des Formalismus im Kontext der russischen Avantgardekunst der 1910er Jahre (1978: 59–98). Die russische historische Avantgarde charakterisiert der intermediale Dialog „auf allen Ebenen der Semiose (also im Bereich der Signans-Struktur ebenso wie in jenem der Semantik bzw. Ikonographie und den Prozessen der Semiose/Desemiose in der ästhetischen Pragmatik); man kann daher nicht nur von einer wechselseitigen Realisierung (hier im allgemeineren Wortsinn) der jeweiligen medialen, konstruktiven und ikonographischen Strukturen sprechen, sondern auch von einer gemeinsamen Sprachregelung und Konzeptualisierung der theoretischen Reflexion der Künstler bzw. Kunsttheoretiker der Avantgarde“ (Hansen-Löve 1983: 298; s. auch Flaker 1980: 11–17; interessant ist hier, dass Hansen-Löve hier eine Sprachme-

34  |  Medialität und Intermedialität – Methodisch-theoretische Grundlagen (Inter-)Medialität, wie sie zum damaligen Zeitpunkt beispielsweise bei Blok, Malevič oder Chlebnikov erfolgte.71 Zum anderen trägt sein Ansatz der – sonst weitgehend ausgeblen­ deten – Tatsache Rechnung, dass intersemiotische Prozesse in beide Richtungen, vom Text zum Bild und umgekehrt, stattfinden können (Hansen-Löve 1983: 305). 1. Hansen-Löves erster Korrelationstyp für die Wort- und Bildkunst meint die Transposition „von narrativen Motiven einer ‚fiktionalen‘ Situation (fabula) mit feststehendem perspektivischen Fokus aus einem Wort-Text in einen ‚narrativen‘ Bild-Text“ (1983: 304); „sign symbol“ nach Peirce (s. hierzu Hansen-Löve 1983: 307f.).72 2. Die zweite Text-Bild-Korrelation umfasst die Transfiguration „von semantischen Komplexen eines imaginativen Wort-Textes, der nach dem Prinzip der ‚Realisierung‘ bzw. ‚Entfaltung‘ aus einem semantischen Kontrast und/oder Parallelismus [...] generiert wurde, zu imaginativen Bild-Texten, deren ‚Raumsemantik‘ das unperspektivische Sprachdenken des verbalen Ausgangstextes ikonisch realisiert“ (ebd.); „sign icon“ nach Peirce (s. hierzu Hansen-Löve 1983: 308–311). 3. Den dritten und abstraktesten Korrelationstyp stellt die Projektion „von schematischen, konzeptuellen Modellen, die explizit als Diskurs ausformuliert oder implizit aus narrativen oder imaginativen Texten rekonstruierbar sind [...], in Bild-Texte, die dadurch den Charakter ‚appellativer‘ oder paradigmatischer Modell-Bilder erhalten“ (ebd.); „sign index“ nach Peirce (s. hierzu Hansen-Löve 1983: 312–318).73 Während der erste Typus einen geringen Grad an Autoreferenzialität aufweist, ist die letzte Text-Bild-Korrelation maximal autoreferenziell. Typ zwei nimmt eine Zwischenstellung ein, oszilliert zwischen „referentieller und autoreflexiver Zeichenfunktion (im aperspektivischen System)“ (ebd.). Im Falle Marc Chagalls spielen vor allem der erste und zweite Korrelationstyp eine tragende Rolle.74

71 72 73

74

tapher bemüht). Die Affinität zwischen den beiden Medien während der historischen Avantgarde schlägt sich auch in den zahlreichen Verbindungen zwischen Literaten und Malern nieder, man denke an Gertrude Stein und Picasso, Velimir Chlebnikov und Kazimir Malevič, Pavel Filonov oder Tatlin (s. Kowtun 1993), an die russischen (Kubo-)Futuristen der bildenden Kunst und der Literatur – und natürlich an Chagall und Blaise Cendrars, Apollinaire, Paul Éluard, Réné Schwob oder – später – Yoysef Opatoshu und Avrom Sutskever. Ebenso fällt beispielsweise bei Vasilij Kandinskij, Vladimir Majakovskij, Kazimir Malevič oder Elena Guro, bei Max Beckmann, Paul Klee, Max Ernst oder Salvadore Dalí eine malerisch-literarische Doppelbegabung auf. Für die polnische Moderne trifft dies auf Bruno Schulz und Stanisław Witkiewicz zu. Arnold Schönberg malte ebenso wie der Komponist und Freund Malevičs, Michail V. Matjušin. Vgl. Bloks „Kraski i slova“ (Farben und Worte) von 1906 (2003: 15–18); zu Malevič und Chlebnikov s. Fußn. 77. In Pfisters und Rajewskys Modell entspricht die Transposition jeweils Typ zwei (keine Kopräsenz bzw. Medienwechsel). Das Pendant einer literarischen Transposition, das ein bildkünstlerisches Sujet umsetzt, wäre wohl die Ekphrasis; s. hierzu die vorbildliche Darstellung bei Rippl 2005: 56–100. Kategorie zwei und drei fallen bei Rajewsky unter die Rubrik „intermediale Bezüge“. Hansen-Löves „Projektion“ lässt sich wohl am ehesten mit Rajewskys „Systemkontamination qua Translation“ in Verbindung setzen. Es handelt sich hierbei um Formen impliziter Intermedialität, in denen das Schriftmedium nicht direkt auf der Bildoberfläche erscheint (i. U. zu Pfister, der vorrangig explizite intersemiotische Text-Bild-Bezugnahmen auflistet). Chagalls Widersacher Kazimir Malevič ist vor allem dem dritten Typ zuzuordnen.

Medialität und Intermedialität – Methodisch-theoretische Grundlagen  | 35 Entscheidend ist für die im Folgenden behandelten Artefakte die medienspezifische Ästhetik, die inhaltlich bedingte Schwingungen zwischen Bild und Text begleitet. Denn: Die spezifische Materialität des Einzelmediums tritt mit dessen Semantizität  – der (bild) inhaltlichen Sinnerzeugung – in ein Spannungsverhältnis (vgl. Rippl 2005: 42–50).75 Diese Aufwertung des ästhetischen Materials enthebt es seiner dienenden Funktion gegenüber dem Inhalt. Sie lenkt, formalistisch gesprochen, den Blick verstärkt auf die „Gemachtheit“ (ru.: sdelannost’) des ästhetischen Objekts, auf seine Faktur.76 Diese Entautomatisierung – und ‚Entthronung‘ des Sprachlichen und Referenziellen (vgl. Hansen-Löve 1983: 306), wie sie uns bei Merleau-Ponty und Foucault begegnet ist, – begleitet die Entpragmatisierung. Bereits bei diesen methodischen Überlegungen ist die Frage nach dem Status der Malerei Chagalls sowie der behandelten Literatur zwischen Autonomie und Illustration (von Wirklich­ keit) zentral. Dies hohe Bewusstsein für die ästhetischen Möglichkeiten eines Mediums, die während der historischen Avantgarde in Russland einen wahren Medienpurismus auslöste (vgl. Hansen-Löve 1983: 321), begleitet eine gesamtavantgardistische Tendenz zur multimedialen Entgrenzung.77 Intermediale Transformationen und Inversionen (Boehm 2004: 113) machen Kunst und Literatur zu einem ästhetischen „thirdspace“ (Homi Bhabha) oder „Heterotop“ (Michel Foucault).78 Die ästhetische Entgrenzung dynamisiert den Bedeutungsprozess hin zu einem hybrid intermedialen „Sinn im Werden“, ohne die Spezifik des einen Mediums in derjenigen des anderen aufzulösen: Sie [die intermediale Entgrenzung – S. K.] lässt sich an Mallarmés „Un coup de dés“ demonstrieren, an den Schriftcollagen des Kubismus, der Entdeckung des Objektes oder der Entwicklung komplexer, multimedialer Rauminstallationen durch Schwitters, El Lissitzky u. a. Sie ebnen eingebürgerte Mediendifferenzen ein. Dennoch wäre es zu wenig, würde man lediglich von einer „Lingualisierung“ der Bilder oder einer „Ikonisierung“ der Schrift sprechen. Stattdessen kommt eine kunstvolle Grenzgängerei zustande, vor allem zwischen Text und Bild, die Vieldeutigkeit des „Lesens“ vollzieht sich an einer gemeinsamen Matrix, aus der die unterschiedlichen Darstellungsvermögen hervortreten. Diese Matrix ist ein Medium mit besonderen Potentialen. Eines, das nicht schon zur Verfügung steht, sondern aller75 Die Einzelmedien tragen in ihrer spezifischen materialen Verfasstheit zur „Konstruktion von Bedeutung“ bei (Rippl 2005: 45). 76 Man denke an Boris Ėjchenbaums programmatische Analyse „Kak sdelano Šinel’ Gogolja“ (Wie Gogol’s Mantel gemacht ist, 1917; 1969: 123–159) oder an Vladimir Majakovskijs „Kak delat’ stichi“ (Wie Verse zu machen sind, 1927; Majakovskij 1959 t. 12: 81–117). 77 Vgl. die Programmschriften und Manifeste von Velimir Chlebnikov „Slovo kak takovoe“ (Das Wort als solches, 1913), „Bukva kak takovaja“ (Der Buchstabe als solcher, 1913) oder von Kazimir Malevič, der praktisch-suprematistisch und theoretisch nach reinem Künstlertum sucht („chudožestvo kak takovoe“, 1920; 1995: 164). Nikolaj Evreinov begründet das „Theater als solches“ (teatr kak takovoj; vgl. die gleichnamige Schrift von 1913) – mit Mejerchol’ds entliterarisiertem Mimus-Theater an der Seite. Für eine erste Hinführung s. Felix Philipp Ingolds Studie zum russischen Schwellenjahr 1913 (2000). 78 Dies beginnt 1910/11 mit Georges Braque, der noch vor Juan Gris und Picasso Buchstaben und Wörter in seine kubistischen Kompositionen einbaut (s. Pfister 1993: 323). In Russland operiert Michail Larionov bereits 1908 mit der Schrift im neoprimitivistischen Bild Soldat zu Pferde (Abb. in: Guercio 1988, Tafel 18). Zu Bild und Schrift bei Chagall s. bes. Kap. 5 und 8.2.

36  |  Medialität und Intermedialität – Methodisch-theoretische Grundlagen erst gewonnen werden will. Es ist Desiderat, nicht Faktum. Ergebnis einer Arbeit, nicht ihr Ausgangspunkt. (Boehm 2004: 112–113; Hervorh. S. K.)79

Die kulturwissenschaftliche Öffnung der Philologien bedeutet häufig eine Öffnung zum Visuellen hin. Dem Bereich der Intermedialität kommt dabei für neue Fragestellungen der Kulturgeschichte und -wissenschaft medientheoretisch, aber auch ästhetisch große Bedeutung zu. Untersuchen lassen sich unter Rückgriff auf die genannten methodisch-theore­ tischen Ansätze Formen offener und verdeckter Intermedialität und daraus resultierende Mehrfachcodierungen, die Übertragung von Verfahren der Wort- bzw. Erzählkunst ins Bild, Veränderungen des literarischen ‚Prätextes‘ durch den Medienwechsel in die Malerei (oder umgekehrt), um den daraus resultierenden semantischen und ästhetischen Mehrwert zu bestimmen.80 Für die Wechselbeziehung zwischen der ostjüdischen Literatur und der Malerei Marc Chagalls haben die intra- wie intermedialen Methodenkonzepte den Vorteil, für kultu­ro­ logische Dimensionen durchlässig zu sein. Die wort- und bildkünstlerischen Artefakte können und müssen sowohl auf ihre innerästhetische und intermediale Dynamik hin als auch im historisch-kulturellen Kontext untersucht werden (vgl. Kampf 1990: 9). Die Wechselbeziehung von Text und Bild verfügt, ähnlich der Text-Text-Beziehung, über ein enormes gedächtnisstiftendes und kulturschöpferisches Potenzial.81 Deren mnemischer Kraft ist gerade für das Judentum als „Gedächtnisvolk par excellence“ (Jacques Le Goff ) Rechnung zu tragen: „To be a Jew is to remember“, sagt Elie Wiesel.82 Die Erforschung intermedialer Text-Bild-Interaktionen ist aber auch deshalb so wichtig, weil die visuelle Kultur aufgrund des Bilderverbots zunächst marginalisiert erscheint.83 Dabei ist die jüdische Bildkultur untrennbar mit der jüdischen Buchkultur verbunden: Die jüdische (Illuminations)­Kunst beginnt mit dem Ausschmücken hebräischer Endbuchstaben – und nicht, wie andere

79 Hans-Georg Gadamers hermeneutische Sicht auf die Seinsweise aller Kunst als „Vollzug“ tritt hier gleichsam in doppelter Potenz auf (s. 1994: 90–104, hier S. 100). Gabriele Rippl beschreibt diese intermediale Dynamik als „Interaktionen und Verschränkungen zwischen Wort und Bild“, deren Grenzen als „offen und beweglich“ zu betrachten sind (2005: 33–34). 80 Zum formalistischen Terminus technicus des „Verfahrens“ (russ.: priem) und seiner „Entblößung“ (russ.: obnaženie, s. Šklovskij 1969: 2–35). Ob Chagalls bildhaftes Sprachdenken seine Bilder hervorbrachte oder sein Denken in Bildern seine Literatursprache, sei dahingestellt. 81 Innerhalb der Intertextualitätstheorie wurde dies bislang jedoch kaum gewürdigt (s. Rippl 2005: 53); zur mnemischen Kraft des Bildes s. Boehm 1985: 37–57; Aage Hansen-Löve geht auf die gedächtnisstiftende „vertikale“ Intertextualität ein (1983: 294–298). 82 Zit. nach Weinreich 2005: 231. Das biblische Deuteronomium, also das 5. Buch Mose, ist ein Gründungstext kollektiver Mnemotechnik (s. Assmann 1992: 212–228). Für die jüdische und christliche Kultur wird hier eine Erinnerungskunst entwickelt, die auf der Trennung von Identität und Territorium beruht. In seinem Kern ist das jüdische Gedächtnis „ein Gedächtnis Gottes“ (Weinreich 2005: 231). Die jüdische Kultur, die sich daraus entwickelt hat, ist gerade in heutiger Zeit, die von Flucht und Migration gekennzeichnet ist, besonders bedenkenswert (s. Frühwald 2007: 168f.). 83 Zum Bilderverbot und zum Mythos, es würde generell bildliche Abbildungen untersagen, s. HeimannJelinek 2004: 53–64, Mann 2004: 282–201, 2006: 673–675 und Kap. 4.

Medialität und Intermedialität – Methodisch-theoretische Grundlagen  | 37 Kulturen, mit der Darstellung der Wirklichkeit.84 Die Genese der jüdischen Kunst war ein genuin intermediales Unterfangen. Die Diaspora-Situation dürfte hier eine nicht zu vernachlässigende Größe sein: Die Einbettung der jüdischen in die fremde (z. B. europäische) Kultur und das daraus resultierende Spannungsverhältnis zwischen einer am Buchstaben orientierten jüdischen und einer visuellen abendländisch-hellenischen Kultur könnte sich positiv auf die ‚Emanzipation‘ vom latent die Geschichte der Kunst bestimmenden Bilderverbot ausgewirkt haben (s. von Kritter 1993: 11). Gerade während der russisch-jüdischen Kulturrenaissance sind jüdische Künstler wie Moyshe Soyer, Joseph (jidd.: Yoysef ) Tshaykov (russ.: Iosif Čajkov), Marc Chagall oder Ėl’ Lisickij (El Lissitzky) für die Bedeutung von Schrift und Text für die Entwicklung der Malerei extrem empfänglich (vgl. Mann 2006: 675): Boris Aronson und Yisokher Ber Ribak, Kunstschaffende und -theoretiker in einem, erinnern in ihrer Programmschrift Di vegn fun der yidisher moleray (Die Wege der jüdischen Malerei) von 1919 an die prägende Rolle des Buches und der Schrift für die visuelle jüdische Kultur: Di yidishe folk-kunst bavayzt tsum bestn, az bay yidn hot tomid gelebt der organisher molerisher khush. Nor di farkerperung fun di ekht-molerishe formen hot zikh bay undz ongehoybn ersht far di letste zekhtsig yor. Di ongeklibene molerishe energye, vos hot nisht gehat keyn meglekhkayt zikh oys­ tsudrikn in plastishe formen, hot zikh opgeshpiglt bloyz in der verter-form fun der yidisher kultur. Fun danen nemt zikh dos, vos di analitishkayt, sintezirtkayt un dos fartifn zikh in molerishe zukhenishn zaynen azoy eygntimlekh dem materyal funem modernem yidishn kinstler. Dos kinstlerishe vort, vos hot farkerpert in zikh di plastishe oyffasung, hot bakumen aleyn ale elementn fun plastik. fun danen nemt zikh di plastishe bildlikhkayt fun der yidisher vertlekher kultur.“ (1919: 123) Die jüdische Volkskunst beweist hervorragend, dass es bei den Juden seit jeher einen natürlichen Sinn für Malerei gab. Doch setzte die Materialisierung echt malerischer Formen erst in den vergangenen sechzig Jahren ein. Die angesammelte malerische Energie, die keine Ausdrucksmöglichkeit in der ­plastischen Form hatte, spiegelte sich einzig in der Wortform der jüdischen Kultur wieder. Daher rührt es, dass der Hang zum Analytischen und Synthetisieren sowie die Hingabe an malerische Experimente dem Material des modernen jüdischen Künstlers so eigen sind. Das künstlerische Wort, das die plastische Auffassung in sich aufgenommen hat, erhielt selbst alle Elemente des Plastischen. Daher rührt die plastische Bildlichkeit der jüdischen Wortkultur.

Diese paradoxe Verschränkung einer das Visuelle ausgrenzenden, schriftzentrierten und einer das Visuelle gerade durch ihre Schriftlichkeit hervorbringenden Kultur ist – als Extremfall einer ‚intermedialen Hassliebe‘ – im Falle der ostjüdischen Kunst essentiell. Ohne die – zeitlich zunächst – vorausgehende Entstehung einer modernen jüdischen Identität, für deren 84 „Die ersten Sujets der Malerei waren Tiere“ (Berger 2001: 15), weil die ersten Maler Jäger waren und eine magische Beziehung zwischen einem Tier und dessen Repräsentation herstellten (ebd.). John Berger nennt für die Ursprünge der Kunst die Sumerer, Ägypter und Perser, nicht aber die Juden (ebd.). Die ästhetische Repräsentation im Judentum beginnt – eng angebunden an die Schrift, an Gottes Wort in Exodus 25–27 – mit der Ausschmückung des Stiftzelts mit der Bundeslade (s. Magall 2005: 57–62).

38  |  Medialität und Intermedialität – Methodisch-theoretische Grundlagen Herausbildung die jiddische und neuhebräische Literatur ein wichtiges Vehikel war, wäre der innerjüdische Emanzipationsprozess von der Religion (hin zur Kunst) vielleicht nicht vollzogen worden. Das Bilderverbot hätte die Bildproduktion blockiert. Auf der Suche nach einer neuen, säkularen Identität schwingt sich das Ostjudentum auf zu den Höhen jiddischer literarischer Produktion, um dort auch die Kunst zu finden.85 Die moderne ostjüdische Kunst kann daher im Detail nur im Bewusstsein der gesellschaftlich-politischen und künstlerischen Prozesse des ehemaligen Russischen Imperiums verstanden werden (Kazovskij 1991: 228). Umgekehrt bedeutet dies mit der Heidelberger Judaistin und Kunsthistorikerin Annette Weber gesprochen: „Die Frage nach der Kunst und der Bedeutung visueller Strukturen ist zentral für die Erforschung der kulturellen Identität der Ostjuden.“ (Weber 2006: 8) Marc Chagall steht wie kein zweiter Künstler für das Ineinander von Kunst, Inter­ medialität und ostjüdischer Identität – und entzieht sich zugleich dieser auf ein kulturelles Selbstverständnis verengten Zuschreibung. Das Primat des Visuellen durchzieht wie ein roter Faden Chagalls schriftstellerisches Werk. Umgekehrt sind viele seiner Bilder sprachlich verankert. In der wort- und bildkünstlerischen Selbst(er)findung kann man Chagall in Teilen habhaft werden. Chagalls intermediale Ästhetik enthüllt sein künstlerisches Vermögen, in dem, was Literatur und Malerei trennt, das Verbindende zu entdecken und gerade durch die Differenz der beiden Medien seine kreative Entfaltung voranzutreiben. Dies gilt nicht nur für die Illustration, von der der Künstler hier spricht: Ikh hob shtendik getroymt in kinstlerisher arbet far bikher – tsunoyfgisn zikh mit der literatur, say undzerer, say fun andere felker. Onheybndik fun der bibl, Lafonten, Gogol, Perets, Sholem-Aleykhem, biz di lebndike haynt. Gemeynt es ton nit als ilustrator bukhsteblekh, nor vi a simen fun kunst-kroyveshaft, vayl a khuts vos yede kunst hot ire eygene gezetsn un mitlen, iz do tsvishn zey a bashtimte harts-linye, vos endlekh fareynikt zi zey. (Rontsh 1967: 235) Ich habe bei der künstlerischen Arbeit für Bücher ständig davon geträumt, mit der Literatur zu verschmelzen, sei es mit unserer [der jüdischen Literatur; S. K.], sei es mit der anderer Völker. Angefangen mit der Bibel, La Fontaine, Gogol’, Perets, Sholem-Aleykhem bis zu den heutigen Autoren. Ich meine das nicht als Illustrator im buchstäblichen Sinne, sondern als ein Zeichen der Verwandtschaft zwischen den Künsten, denn abgesehen davon, dass jede Kunst über ihre eigenen Gesetze und Mittel verfügt, existiert zwischen den beiden eine bestimmte Herzlinie, die beide schließlich vereint.

85 Barbara Kirshenblatt-Gimblett und Jonathan Karp heben hervor, dass die gesamte moderne jüdische Identität, die sich in ambivalenten Spannungsfeldern entwickelt, eine primär künstlerische ist (2008: 1–19). Dies erklärt den enormen Aufschwung von Literatur, Malerei, Musik und Theater innerhalb weniger Dezennien im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. Zur modernen jüdischen Identität generell s. Meyer 1991, Ben-Chanan 1992 oder Boyarin 1997. Zum Zusammenhang von Sprache und Identität im Judentum s. Grözinger 1998, zur Identitätsreflexion in der jüdischen Kulturphilosophie s. Goodman-Thau 2004.

3 Marc Chagalls intermediale Poetik in Eygns (Über mich selbst, 1925) und Ma vie (1931)

„Je m’appelle Marc, j’ai l’intestin très sensible et pas d’argent, mais on dit que j’ai du talent [...]“ Chagall, Ma vie, 1931, S. 133. „Je ne comprends pas les hommes, pas plus que mes tableaux.“ Chagall, Ma vie, 1931, S. 146.

Moyshe Segal, Movsha Shagal, Mark Šagal, Marc Chagall – ein und dieselbe Person verbirgt sich hinter diesen Namen. Sie stehen programmatisch für die facettenreiche Identität eines der berühmtesten Künstler des 20. Jahrhunderts, eines Künstlers, der keine Pseudonyme suchen muss. Das Leben erfindet sie für ihn. Als Movsha Shagal wird das erste von neun Kindern von Yekhezkl (jiddisch für Ezechiel) Zaher und Feyge-Ite am 6. Juli 1887 (24.6. nach dem alten gregorianischen Kalender) in kyrillischen Lettern ins Geburtsregister des Russischen Imperiums eingetragen.86 Der ursprüngliche jüdische Familienname „Segal“ (hebr.: ֹ‫ ;שג”ל‬Akronym für „Sgan Levia“/ Anhänger der Leviten) wird ‚russifiziert‘ zu „Shagal“, vielleicht durch den Vater, will man Chagall Glauben schenken, eher wohl durch den Großvater väterlicherseits (Harshav 1994: 61). Aus dem Kosenamen „Moshka“, dem kleinen „Moyshe“  – dies die jiddische Variante zu Hebräisch „Moshe“ (hebr.: ‫– )משֶֹה‬, wird später russisch „Mark“; der Namens­ wechsel ist auch ein Wechsel vom jüdischen Stammvater zum christlichen Evangelisten Markus. Aus „Segal“ wird russisch „Šagal“ (die Betonung liegt auf der letzten Silbe). Mit lateinischen Buchstaben transliteriert, taucht in Chagalls Bildunterschriften früh ein zweites „l“ auf: Das russische „Šagal“ – auch dies findet sich vielfach auf seinen Bildern – weicht dem weicher klingenden, lateinischen Graphem „Chagall“, das russische „Mark“ dem französischen „Marc“. Phonetisch mag der Künstler dadurch gebändigt sein. Sein Schaffens­ furor hingegen bleibt bis an sein Lebensende ungebremst.

Eygns versus Ma vie Das russisch-jiddisch-französische Bermuda-Dreieck um Marc Chagalls Person gibt bezüglich seiner früh verfassten Autobiographie ebenfalls Rätsel auf.87 Zwei Versionen liegen vor, 86 Zu Chagalls Geburtsort und -tag s. Šatskich 1991a: 21–22. Die offiziellen Dokumente bestätigen den 6. Juli als Geburtstag des Künstlers. Chagall selbst gab in der Regel, wie in seiner Malerei eher der Symbolik als der Wahrhaftigkeit verpflichtet, den 7.7. an. Auch die jüngere Forschung übernimmt dies vielfach (vgl. Wilson 2007: 3, Wullschlager 2008: 9). 87 Stefana Sabin spricht treffend von „literarischer Autobiografie“ (2004: 90). Im Vorwort zur französischen Version werden Chagalls Aufzeichnungen als Erinnerungen gehandelt; aufgrund ihrer Knappheit

42  |  Identität interkulturell und intermedial Eygns (Über mich selbst) in jiddischer und Ma vie in französischer Sprache.88 Eygns wird 1925 sukzessive in der renommierten Warschauer jiddischen Wochenschrift Literarishe bleter (Literarische Blätter) abgedruckt.89 Ma vie erscheint 1931 in Paris. Beide Fassungen unterscheiden sich in Inhalt, Umfang und Form. Chagall widmet sich in Ma vie – als Quellen seiner künstlerischen Inspiration – seiner Familie und seiner Geburtsstadt Vitebsk. Wir verfolgen in chronologischer Manier Chagalls Werdegang hin zur cross-cultural-figure, die zwischen Peripherie (Vitebsk und Lyozno) und Zentrum (Petersburg, Moskau, Paris), zwischen Russland und Europa, Schtetl und Metropole, jüdischem Leben und russischer/europäischer Kunst hin- und herpendelt (vgl. Harshav 2003: 1–25). Zugleich ist dieses persönliche Dokument ein beeindruckendes Stück Kulturgeschichte: Chagalls Aufzeichnungen durchmessen die bewegtesten Jahre der russi­ schen und europäischen (Kunst-)Geschichte. In ihnen begegnen sich das universale Drama des Ersten Weltkrieges und das private Glück des jungen Chagall, das russische „Serebrjanyj vek“ (Silberne Zeitalter) und die westeuropäisch-russische Avantgarde, die sozialistische Revolution und die ostjüdische Kulturrenaissance.90 Eygns ist ähnlich kohärent-chronologisch aufgebaut wie Ma vie. Chagall beschließt die jiddische Variante nach sechzehn Kapiteln – wie auch die Illustrationen – mit einem letzten Gedenken seiner toten Eltern, mit der Geburt seiner Tochter Ida und seinem Traum, in dem sie, wie einst ihr Vater, von einem Hund gebissen wird; die (post)revolutionäre Zeit von 1917 bis 1922 findet hier keinen Eingang. Im französischen Text ist zwischen diesem ‚sechzehnten‘  – die Kapitel sind nicht nummeriert, jedoch durch kleine Zeichnungen voneinander abgegrenzt  – und den drei noch folgenden Kapiteln in der inhaltlichen Darstellung und Schreibweise ein Bruch auszumachen. Chagall ‚stolpert‘ in der Chronologie der Beschreibung von seiner Zeit als Kunstkommissar in Vitebsk 1918–1920 zur Geburt

ist Ma vie nicht der Memoirenliteratur zuzuschlagen (s. Aaron 2003: 72). Philippe Lejeune macht im strukturalistisch geprägten Le pacte autobiographique folgendes zur Bedingung: „Pour qu’il y ait autobiographie (et plus généralement littérature intime), il faut qu’il y ait identité de l’auteur, du narrateur et du personnage.“ (1975: 15) In späteren Publikationen reagiert der Spezialist für die autobiographische Gattung auf Kritik mit einer Revision allzu kategorischer Postulate, vgl. Lejeune 2005. S. hierzu auch Kap. 9.2. 88 Die jiddische Fassung liegt als Schreibmaschinenskript mit einem Umfang von 80 Seiten am YIVO in New York (Register 108, box 83, folder 83.4). Übersetzungsalternativen zu Über mich, das in russischen autobiographischen Texten als O sebe ein Pendant findet, sind Eigenes oder Von mir selbst (s. auch Harshav 2004: 81). Eygns ist auch der Titel des 1918 zweimal erschienenen Almanachs der avantgardistischen Kiever Literatengruppe um Dovid Bergelson, Leyb Kvtiko, Dovid Hofshteyn und Perets Markish. 89 S. Harshav 2004: 968, Fußn. 15. Textstellen aus dieser Publikation, die über die Maschinenschrift hinausgehen, hat Benjamin Harshav in seine englische Übertragung aufgenommen. Die jiddische Autobiographie ist seit einigen Jahren in seinen Übertragungen ins Englische (2004: 85–166) und Russische zugänglich (Chagall 2009). 90 Sabin zieht eine Linie zwischen Gauguins Noa, Noa (1897) und Chagalls Ma vie: Beide Texte stellen das für das westeuropäische Publikum Fremde (Haiti; die Welt des Ostjudentums) als das Eigene vor. Anders als Chagall handelt es sich für Gauguin tatsächlich um eine fremde, exotische Kultur, in die der französische Künstler sich einlebt (2004: 91–92). Chagall erwähnt Gauguin in Ma vie einmal (1931: 158).

Marc Chagalls intermediale Poetik  | 43 seiner Tochter Ida im Jahre 1916, um von da ins Revolutionsgeschehen zurückzukehren:91 Das Folgekapitel vereint eine judenfeindliche Aktion des sowjetrussischen Geheimdienstes, der ČK (Črezvyčajnaja kommissija/Außerordentliche Kommission; dt. meist Tscheka), gegen seine Schwiegereltern mit einer pointierten Darstellung der Theater- und Literaturhelden auf der russischen Revolutionstribüne. Chagalls (Selbst-)Beschreibung kippt vom Privaten ins Öffentliche, weitet das Autobiographische zur Zeitgeschichte. Der Künstler erscheint neben anderen Größen der russischen Revolution nun als öffentliche Figur. Chagalls Darstellung seiner Zeit als Kunstkommissar in Vitebsk, die ihn nachhaltig prägen wird, als Bühnenbildner an dem in jiddischer Sprache spielenden GosET (Gosudarstvennyj evrejskij teatr/Staatliches Jüdisches Theater) und als Zeichenlehrer jüdischer Kriegswaisen in Malachovka drängt die poetisierte Darstellung in den Hintergrund. 92 Und: In der Zeit zwischen 1917 und 1922 gibt es keine Illustrationen. Mit großer Wahr­ scheinlichkeit verfasst oder vollendet er diese Teile (auch in russischer Sprache?) später, während seines Exils in Paris. Einen Text zu seiner Arbeit am GosET 1920 und 1921 veröffentlicht Chagall beispielsweise 1928 in der zweiten Ausgabe von Di yidishe velt (Die jüdische Welt) anlässlich einer Westeuropa-Tournee des Theaters.93 Generell bleibt Einiges an Chagalls ‚jüdisch-jiddischer‘ Identität in beiden Fassungen im Dunklen. Zu etwaigen Kontakten mit ostjüdischen Malerkollegen wie Natan Al’tman, Yisokher Ber Ribak und David Shterenberg, jiddischen Schriftstellern wie Dovid Hofshteyn, Perets Markish und

91 In der offiziellen Ernennung heißt es: „[...] chudožnik Mark Šagal naznačaetsja upolnomočennym označennoj Kollegii po delam iskusstva v Vitebskoj gubernii ([...] der Künstler Mark Šagal wird zum Bevollmächtigten des genannten Kunstkollegiums im Gouvernement Vitebsk bestimmt; Šatskich 2000: 21 sowie S. 20–43). Unter Chagalls Leitung wird am 28.1.1919 die Vitebskoe Narodnoe chudožestvennoe učilišče (Vitebsker Kunst(hoch)schule) in der Villa des ehemaligen Bankiers Višniak in der Bucharinskaja ulica eröffnet. Er leitet sie bis kurz vor seiner Abreise nach Moskau am 5.6.1920. Außer unüberwindbaren Differenzen mit Malevič  – und Rivalitäten mit Ėl’ Lisickij, dem zweiten Genie an seiner Seite, – mag ihn auch das Interesse an einer weiteren Arbeit als Bühnenbildner am Teresvat (Teatr revoljucionnoj satiry/Theater der Revolutionssatire) bewogen haben (Šatskich 2000: 184– 186; Harshav 2006a: 165). Im selben Zug wie Chagall sitzen am 5. Juni 1920 Vertreter der Künstlergruppierung UNOVIS mit ihrem Anführer Malevič, der von November 1919 bis Juni 1922 in Vitebsk wirkt. Ein Gruppenportrait zeigt im Zentrum Malevič in Herrscherpose: Statt Reichsapfel und Zepter hält er das wohl von Lisickij oder Čašnik gestaltete runde Emblem als ‚Herrschersymbol‘ in Händen. Laut Ljudmila Chmel’nickaja, Leiterin des Marc-Chagall-Museums in Vitebsk, kehrt Chagall nach dem 5.6.1920 noch einmal in seine Heimatstadt zurück. 92 Aleksej Michajlovič Granovskij (1890–1937) leitet 1918/1919 zunächst in Petrograd das Evrejskij Teatr-Studija i Škola sceničeskogo iskusstva (Jüdische Theaterstudio und Schule für Bühnenkunst), von 1920–1928 dann das Gosudarstvennyj evrejskij kamernyj teatr (Staatliches Jüdisches Kammertheater; kurz: GosEKT) in Moskau. Am 15.9.1924 wird es in Gosudarstvennyj evrejskij teatr (Staatliches Jüdisches Theater; [GosET]) umbenannt. Zu Chagalls Wandmalereien für das GosET s. Reifenschied 1996, Harshav 2006a: 163–181 und 2006b: 109–127; zu Granovskijs Theaterästhetik s. Veidlinger 2000, Ivanov 2007, Harshav 2008 und die in Vorbereitung sich befindliche Dissertation von Diane Mehlich. 93 Harshav 2003: 34 und 206. Auslöser für die Publikation war das Wiedersehen mit Salomon (Shloyme) Mikhoels (russ.: Michoėls, 1890–1948) und Aleksej Granovskij, der nicht mehr in die UdSSR zurückkehrt. Sie dient als Grundlage für die französische Fassung (s. Chagall 1931: 158–167).

44  |  Identität interkulturell und intermedial Dovid Bergelson oder anderen Vertretern der Kultur-Lige in Moskau und Malachovka schweigt er.94 Eygns und Ma vie gehen inhaltlich und in der (syntaktischen) Rhythmik der Passagen, in der Mikrokomposition und in der Wahl der Sprachbilder verschiedene Wege. Die Ab­­weichungen mögen minimal erscheinen – unter poetologischen Gesichtspunkten wiegen sie schwer.95 Ein Blick auf den Schluss der Autobiographie mag dies verdeutlichen. Als eine Art Postskriptum bringt Chagall, fremd in der von der Revolution erschütterten Heimat, seine Sehnsucht nach der westeuropäischen Avantgarde zum Ausdruck, der künstlerischen wie der literarischen: Finf yor shlogt in undzer neshome mit fontanen. Kh’bin afile moger gevorn ... un kh’vil afile esn. – Kh’vil dikh zen, Gleyz, Sandrar, kishef-makher Pikaso. kh’bin farmogert, kh’vel kumen mitn vayb, mitn kind. Ikh vel zikh tsugisn vi a taykh tsvishn aykh. Eyropa vet mikh efsher lib bakumen. un mit ir ineynem, Rusland, mayn Rusland. (Chagall, Eygns, o. J; YIVO, Reg. 108, f. 83.4, S. 75; im Folgenden zit. als Eygns)96

In der französischen Übersetzung der russischen Vorlage heißt es: Ces cinq ans bouillonent dans mon âme. J’ai maigri. J’ai même faim. J’ai envie de vous revoir, B..., C..., P... Je suis fatigué. Je viendrai avec ma femme, mon enfant. Je m’étendrai près de vous. Et, peut-être, l’Europe m’aimera et, avec elle, ma Russie. (Chagall 1931: 252f.)97 94 Sprechend hingegen ist eine Aufnahme aus Chagalls Zeit in Malachovka, einer Datschen-Siedlung nahe Moskau und damals Auffangbecken der jüdisch-jiddischen Intelligenz, in der sich die Chagalls 1921 niederlassen (Abb. in: Harshav 2003: 297). Sie zeigt den Maler mit Yekhezkl Dobrushin, Literaturkritiker und Dramaturg am GosET, dem Komponisten Joel Engel und den beiden jiddischen Autoren Der Nister und Dovid Hofshteyn. In Malachovka sind zirka 120 jüdische Kriegswaisen untergebracht, die ihre Eltern während des Bürgerkrieges verloren haben. Nach seinem Debakel als Kunstkommissar in Vitebsk arbeitet Chagall dort als Zeichenlehrer. Zugleich probt er mit Kindern, die am GosET mitwirken dürfen, Stücke von Sholem-Aleykhem (Vitali 1991: 140). Chagalls Wirken in Malachovka erforscht aktuell Jan Bruk, Kunstarchivar der Moskauer Tret’jakov-Galerie. Zur Kultur-Lige s. in Auswahl Kazovsky 2003, 2007, Lenhart 2009: 157–192 und Estraikh 2010: 197–210 sowie Kap. 8. 95 Die vorliegende Arbeit will keinen systematischen Vergleich der jiddischen und der russischen Version (in französischer Übersetzung) leisten. Es geht hier vorrangig um den Zusammenhang intermedialer wort- und bildkünstlerischer Bezugnahmen, wie sie inhaltlich und poetisch in Ma vie respektive Eygns vorgenommen werden. Dennoch ist es wichtig, in diesem Rahmen auf die ungeklärte Textgenese und Teilautorschaft hinzuweisen. 96 „Fünf Jahre pulsiert es in unserer Seele. / Ich bin sogar mager geworden ... und ich möchte sogar essen. – Ich will dich sehen, Gleizes, Cendrars, Zauberer Picasso. / Ich bin abgemagert, ich will mit Frau und Kind kommen. Ich will mich wie ein Fluss zu euch hinzuströmen. / Europa wird mich vielleicht lieb gewinnen. Und mit ihm zusammen Russland, mein Russland.“ Chagalls Wunsch, auf dem Umweg über Westeuropa von Russland „liebgewonnen zu werden“, mutet prophetisch an. In der Tat ist Chagall erst seit der Perestrojka vollständig rehabilitiert. Zu Sowjetzeiten galt er als persona non grata. 97 In diesem Kapitel wird wie in der gesamten Studie ausschließlich aus der französischen Version zitiert, um weitere – übersetzungsbedingte – sprachliche Entfernungen von Chagalls Text zu vermeiden.

Marc Chagalls intermediale Poetik  | 45 Aus „undzer“ (unserer) – das Personalpronomen kann stellvertretend für seine Familie, aber auch für die russisch-jüdische Kulturavantgarde stehen, der er sich zugehörig fühlt – wird in Ma vie ausschließlich Chagalls Seele. Die explizit genannten Pariser Freunde in der jiddischen Version sind mit Initialen angedeutet; Picassos Sonderstellung als „kishef-makher“ (Zauberkünstler) ist getilgt. Die Rhythmisierung durch die zweimalige Wiederholung von „Russland“ am Textende fehlt. Das Synthetisierende in Chagalls Persönlichkeit, sein Wunsch, in der westeuropäischen Avantgarde aufzugehen, ausgedrückt im Vergleich „zikh tsugisn vi a taykh“ (hinströmen wie ein Fluss), ist neutralisiert.98 Dennoch ist Eygns weder die ‚jüdischere‘ Variante zu Ma vie noch wirkt Ma vie avantgardistischer als Eygns. Sie beide sind Texte eines Juden und eines Avantgardisten. Die inhaltlichen und ästhetischen Unterschiede liegen in der unterschiedlich gelagerten rezeptionsorientierten Autorintention begründet:99 Einige Episoden, die jüdische Religion oder Chagalls (Selbst-)Stilisierung zum hofierten Künstler der französischen Avantgarde betreffend, fehlen in Eygns.100 Beides reserviert Chagall für Ma vie und damit für die Gojim, die Nichtjuden. Ihnen will er seine Zugehörigkeit zum Judentum und zum französischen Parnass demonstrieren. Ihnen erspart er einige Derbheiten, über die der Leser der jiddischen Version herzlich lacht.101 Chagalls Autobiographie, in denen er ähnlich seiner Autoportraits beständig um sich kreist, hat also zwei Gesichter. Dies wiegt umso schwerer, als sie, wie Chagall selbst schreibt, seinem bildkünstlerischen Schaffen ebenbürtig ist: „Ces pages ont le même sens qu’une surface peinte. / S’il y avait dans mes tableaux une cachette je pourrais les y glisser ... Ou peut-être se colleraient-ils au dos d’un de mes personnages ou encore sur les pantalons du ‚Musicien‘ de ma peinture murale? ...“ (1931: 252)102  98 Die deutsche Übertragung neutralisiert noch weiter und überträgt „s’étendre“ (sich ausstrecken, sich erstrecken) mit: „In eurer Nähe werde ich mich niederlassen.“ (1959: 173). Die Formulierung könnte auf Chagalls Bild Der liegende Dichter (1915) anspielen, in der er sich vor ländlicher Kulisse langgestreckt darstellt.  99 Zur Rolle des Adressaten für die Abfassung von Ma vie s. auch Sabin 2004: 91. 100 Das berühmteste Beispiel stellt wohl Apollinaires Ausspruch dar, Chagalls Bilder seien „surnaturel“ (1931: 169). In der Forschung wurde es zum geflügelten Wort für Chagalls Kunst. Möglicherweise hat es Chagall dem großen Vorreiter der Avantgarde schlichtweg in den Mund gelegt, um sein Renommee (unter den Surrealisten) noch zu steigern. In Ma vie werden weiterhin Jom Kippur und Pessach beschrieben. Chagalls ambivalente Einstellung zur Religion zwischen Faszination und Ersticken fließt hier ein (1931: 62–72). In der jiddischen Version fehlt diese Passage komplett, Chagalls selbstironische Darstellung seiner Mehrfachbegabung als Sänger, Geiger, Tänzer und Maler ausgenommen. 101 Benjamin Harshav listet einige inhaltliche Glättungen auf (2004: 82–84). Sie nehmen dem Text im Unterschied zur jiddischen Variante einiges von seinen Bella missfallen habenden sexuell-derben Untertönen, wie man sie auch von Chagalls Bildern kennt. 102 Eygns lautet gerade bei der unmittelbaren Text-Bild-Korrelierung zu Beginn des Zitats etwas anders: „Dos hot epes a fakturishe badaytung. Oder ven s’zol zayn aza min shafkele in mayne bilder, volt ikh gevis farbahaltn ahin dem dozikn tekst; ... un efsher volt er zikh ingantsn oysgeleygt oyfn rukn fun epes a held, oder in di hoyzn fun a klezmer fun mayne teatralishe gemeln.“ (Das hat eine wörtliche Bedeutung. Oder wenn es eine Art Schränkchen in meinen Bildern geben würde, würde ich sicher dort diesen Text verbergen; ... und vielleicht wird er sich gänzlich auf dem Rücken eines meiner Helden entrollen, oder in den Hosen eines Musikanten aus meinen Theatergemälden; S. 75). Realiter klebt Chagall nicht dem Musikanten, sondern einem seiner drei Akrobaten aus der Wandbemalung Einführung in das

46  |  Identität interkulturell und intermedial Nur zu gern wüsste ich, wohin die russische Ursprungsversion verschwunden ist, die heute als verschollen gilt (Harshav 2004: 975). Denn mit neun russisch beschriebenen Heften reist Chagall 1922 aus der damaligen RSFSR aus, die seine Kunst nicht verstehen will (s.  Meyer 21968: 313).103 Sie würden viele Antworten bergen, die Chagalls doppelte Autobiographie mit sich bringt, die so wenig in Frage gestellt wird und es – gerade aufgrund der schwierigen Übersetzungslage – so nötig hat: Als der Maler 1922/23 in Berlin Station macht, versucht sich Dr. Walther Feilchenfeldt, Verlagsleiter im Paul Cassirer Verlag und von 1924 an Teilhaber an dessen Kunstgalerie, anhand der jiddischen Vorlage an der Über­ setzung.104 War diese Fassung zum damaligen Zeitpunkt mit der russischen Erstversion identisch? Chagalls 1931 in Paris erschienene Autobiographie wird von Bella Chagall aus dem Russischen übertragen. Diese französische Version wird – vom Künstler autorisiert und natürlich stärker rezipiert als Eygns  – zum kanonischen Referenztext für die ChagallForschung – und zur Grundlage weiterer Übersetzungen ins Hebräische (1943), Deutsche (1959), Englische (1960), Italienische (1960) und – spät, aber doch – ins Russische (1994). Poetologisch in vielem seiner alogischen Bildsprache verwandt, stellt Chagalls Text sowohl Walther Feilchenfeldt als auch den ursprünglich mit der französischen Übertragung betrauten André Salmon vor unlösbare Probleme.105 „Chagall est intraduisible“, konstatiert der französische Autor im Vorwort zu Ma vie (1931: 10). Das könnte daran liegen, „que le russe de Chagall ne soit pas du russe“ (ebd.). Chagall wiederum ist Salmons Übertragung­ „zu ‚französisch‘“ (Meyer 21968: 377). Aussage gegen Aussage. Das (salomonische?) Urteil­­ in diesem Übersetzer,prozess‘ fällt Chagall selbst: Zwar nicht mit muttersprachlichen Französisch-Kenntnissen ausgestattet, dafür jedoch in voller Kenntnis von Chagalls wortund bildkünstlerischer Imagination, überträgt zu guter Letzt Bella die Autobiographie in ­jüdische Theater seinen Zettel, der die wichtigsten jiddischen Literaten nennt, auf einen Oberschenkel (s. Abb. in Harshav 2006b: 114–115; s. Einleitung). 103 Chagall liest in Kaunas anlässlich einer Ausstellung aus seinem Manuskript. Hier, umgeben von der russischen und jüdischen Intelligenz setzt Chagall die 1911 begonnenen und während der Kriegsjahre 1915–1916 erweiterten Aufzeichnungen fort (Meyer 21968: 313). Eine weitere Lesung findet in Chagalls Berliner Atelier durch Bella statt (Güse 1985: 15). Am 20.12.1922 wird die UdSSR gegründet und löst die RSFSR (Rossijskaja Sovetskaja Federativnaja Socialističeskaja Respublika/Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) ab. 104 S. Wilson 2007: 89 und Walther Feilchenfeldts Schwiegertochter Rahel in einem Mail vom 25.8.2009. Franz Meyer, Benjamin Harshav und Jackie Wullschlager in der jüngsten Biographie zu Marc Chagall nehmen an, dass Feilchenfeldt aus dem Russischen übersetzt habe (Meyer 21968: 318; Harshav 2004: 78; Wullschlager 2008: 294). Erstmalig wurde der Anfang von Chagalls Aufzeichnungen 1922 in der Dezemberausgabe von Kunstblatt dem deutschsprachigen Publikum vorgestellt. Er ist Teil des Beitrags der lettisch-jüdischen Kunsthistorikerin Fannina W. Halle (s. Hille 2005: 116f.). Hille vermutet, dass Fannina Halle, des Russischen mächtig, die russische Version übersetzt habe. Der Beginn ist mit der jiddischen Version fast identisch; Halle könnte also auch aus dem Jiddischen übersetzt haben. Zu Chagalls Zeit im Berlin der Weimarer Republik s. Hille 2005: 104–129. 105 Salmon war wohl in einer schwierigen Situation: Bellas Ansprüche an die Übertragung waren extrem hoch, der Schriftsteller ihrem Charme erlegen (s. Wullschlager 2008: 318f.). Laut Auskunft von Rahel Feilchenfeldt arbeitet ihr Schwiegervater mit Bella an der jiddischen Vorlage. Bella übersetzt zunächst aus dem Jiddischen ins Französische, Walther Feilchenfeldt dann ins Deutsche. Da Bella vielfach Änderungen vornehmen will, zieht sich die Übertragung schließlich zu sehr in die Länge.

Marc Chagalls intermediale Poetik  | 47 ständiger Rücksprache mit ihrem Ehemann.106 Der Autor des Textes wird zum Mit-Über­ setzer, die Übersetzerin zur Co-Autorin. Können wir dieser französischen Version trauen? Spielt die jiddische Fassung hierbei eine Rolle? Inwieweit nimmt Bella Chagall (und vielleicht auch Jean Paulhan?) auf die Übertragung und/oder auf die russische Vorlage Einfluss? Wie in zahlreichen Bildern verschwimmen die Grenzen zwischen Chagall und seiner Muse. Auch für die jiddische Version stellt sich die Frage nach der Mit-Urheberschaft oder zumindest nach einer literaturavantgardistischen Einflussnahme: Laut Benjamin Harshav übertragen zwei versierte jiddische Lyriker, Oyzer Varshavski (1898–1944) und vor allem Perets Markish (1895–1952), in Paris den Text des Künstlers, der ein einfaches Jiddisch pflegt und in seinen Briefen durchaus fehlerhaft schreibt, aus dem Russischen (2004:  79–80).107 Auch hierbei wacht Chagall mit Argusaugen über den Sprachentransfer. Anders als bei Ma vie unterschlägt er jedoch die Übersetzer (ebd.). Außer der schwierigen Frage nach der (Mit-)Autorschaft an den Texten ist man zudem mit dem Dilemma ihrer Unabgeschlossenheit konfrontiert. Das Jahr 1922, das Chagall als Schlusspunkt unter seine autobiographischen Betrachtungen setzt, ist symbolisch zu verstehen: Es markiert das Ende seiner Zeit in der russisch-ostjüdischen Heimat, nicht das Ende der Textabfassung. Noch in den 1920er und 1930er Jahren wachsen die Aufzeichnungen weiter (Harshav 2004: 80–81).108 Von wann stammen die Ergänzungen, die im Unterschied zu Eygns die spätere kanonisierte Version, Ma vie also, durchziehen? Was bewegt Chagall (und/oder Bella?), sie aufzunehmen? Die jetzige Fassung von Ma vie stellt bestenfalls die Übersetzung der (verschollenen) russischen Vorlage dar. Schlimmstenfalls ist sie die Übersetzung einer (russischen) Bear­ beitung der (jiddischen) Übersetzung (des russischen Originals) – als würde der Text in

106 Die Französisch-Lehrerin von Chagalls und Bellas Tochter Ida und der Schriftsteller Jean Paulhan stehen beratend zur Seite (Meyer 21968: 377). 107 Vgl. auch Chagalls Brief an Lyesin vom 22. Mai 1924, in dem er Markish als Übersetzer nennt (Harshav 2004: 329). In der Tat herrscht zwischen Chagalls Briefen und Eygns ein auffälliges sprachlich-stilistisches Gefälle. Noch 1930 schreibt er in einem Brief an den jiddischen ‚Literaturpapst‘ Shmuel Niger, dass er beim Schreiben dem Jiddischen Russisch vorziehe (Harshav 2004: 360). Markish gibt in Paris gemeinsam mit Varshavski das zweite Heft der jiddischen Zeitschrift Khalyastre (Die Bande, 1924) heraus, die als Sprachrohr der ursprünglich in Warschau angesiedelten expressionistischen Autoren wie Meylekh Ravitsh, Uri Tsvi Grinberg und eben Markish dienen sollte (s. Shneer 2004: 163). Im diesem Heft, zu dem Chagall auch das Titelblatt beisteuert, ist das Kapitel über seine Berufung zum Künstler abgedruckt. Harshav geht davon aus, dass Chagall, Markish und Varshavski, die durch den expressionistischen Impetus ihres Schaffens verbunden sind, in Paris an der jiddischen Version arbeiteten. Doch auch Feilchenfeldt arbeitet bereits in Berlin mit einem jiddischen Text. Ist er vielleicht dort entstanden? Varshavski befindet sich wie Chagall 1923 in Berlin, bevor er nach Paris weiterreist (Astro 2007: 325). Auch Markish befand sich seit 1922 in Berlin und Paris (s. Szymaniak 2005: 336). Arbeitet Chagall bereits in Moskau und Malachovka, in Kontakt mit dem Zirkel der jiddischen Kultur-Lige um Dovid Hofshteyn und Perets Markish, daran? Im Gespräch mit Edouard Roditi bestätigt Chagall als Entstehungsort der Autobiographie Moskau (1973: 51). Zur Sprache, in der sie verfasst ist, macht er keine Angaben. 108 Vielleicht hat sich Chagall nicht schon früher zu einer Übersetzung entschließen können, weil ihm die Fassung vom Beginn der 1920er Jahre zu fragmentarisch erschien (Harshav 2004: 78).

48  |  Identität interkulturell und intermedial seiner assoziativ-alogischen Machart nicht schon genug Ungereimtheiten in sich bergen. 109 So bleibt wohl nichts anderes übrig, als die französische und die jiddische Version komplementär zu lesen, auch um die (Dis-)Kontinuität zwischen ihnen zu erfassen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Ma vie. Für Benjamin Harshav stellt Eygns aus stilistischen und kompositorischen Gründen den authentischeren Text dar (2004: 84).110 Doch ist der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Marc Chagall in späteren Jahren für die französische Ausgabe inhaltliche und stilistische Änderungen und Ergänzungen vornimmt. Chagalls Reflexion zur Kunst in Ma vie ist im Vergleich zu Eygns stark erweitert; für seine (literarische) Selbstverortung ist dies zentral. Ob der Chagall zum Zeitpunkt der Übersetzung tatsächlich so schlecht französisch spricht und deshalb Bellas Sprachkompetenz bei der Textbearbeitung nicht gewachsen ist, wie Harshav annimmt (2004: 84), ist in Frage zu stellen; schließlich lebt er bereits von 1910 bis 1914, dann von 1923 an in Paris.111 Er verkehrt mit führenden französischen Dichtern und rezipiert intensiv deren Lyrik.112 All dieses Hinterfragen ist notwendig – und prekär, insbesondere dann, wenn man sich, wie im vorliegenden Fall, auch der intermedialen Poetik des Textes widmen will, die möglicherweise Fremdeinflüssen unterliegt. Doch ist Chagalls literarische Imagination, wie sie uns in Ma vie (und Eygns) entgegentritt, der visuellen so nah, dass man die bildhafte Kraft des Textes durchaus mit dem Malersubjekt in Verbindung bringen darf.

Ma vie intermedial Über die biographische Faktizität hinaus, die keineswegs hundertprozentig verbürgt und für den Autor im Vergleich zu möglichen ästhetischen Spielereien und Mythisierungen sekundär ist, hilft Ma vie bei der Enträtselung von Chagalls Bilder-Denken.113 Spielerisch leicht schlägt Chagall die Brücke vom Sprachlichen zum Visuellen und zurück. Chagall projiziert nicht nur Teile seiner Biographie in seine Bilder. Auch seine oft autobiographischen Bilder schie-

109 Apčinskaja 1994: 181, Harshav 2004: 81–82. Die Historikerin Olga Litvak bereitet augenblicklich mit Marc Chagall and the Expressionist Moment in Jewish Culture eine Studie zu Chagalls wenig transparentem Verhältnis zum Jiddischen als Teil seiner Selbststilisierung vor. Ich danke ihr für wertvolle Hinweise. 110 Harshav schreibt hierzu: „It is of one piece, one rhythm running through it all, rather than the disjointed, additive composition of the better known My Life. And it contains many authentic anecdotes and details, written closer to the time of the events, which later became blurred, distorted, or deleted.“ (ebd.) 111 In Baal-Teshuva (2008: 38 und 112) sind zwei Seiten der handschriftlichen (und nicht ganz fehlerfreien) Abschrift zweier Passagen aus Ma Vie abgedruckt, in denen Chagall den Text mit Zeichnungen verquickt (s. hierzu auch Harshav 2004: 84). 112 Ein Brief Chagalls über Gogol’s Mërtvye duši (Die toten Seelen, 1842), der 1941 veröffentlicht wird, weist orthographische, aber keine grammatikalischen Fehler auf (s. Meyer 21968: 496). Chagalls erste Sammlung von Gedichten, verfasst zwischen 1930 und 1964, wird 1968 in französischer Sprache veröffentlicht – diese Gedichte sind von Philippe Jaccottet unter Anleitung des Künstlers übersetzt. 113 Der Übersetzer aus dem Französischen ins Deutsche Lothar Klünner schreibt in seinem Nachwort: „Die künstlerische Impression, die Poesie, führt hier das Wort.“ (1959: 177)

Marc Chagalls intermediale Poetik  | 49 ben sich in seine Textseiten. Ma vie ist ein (unheilbarer) Fall von Intermedialität und intermedialer Autopoiesis. Ma vie ist ein Text über Kunst. Zugleich ist er ein Kunst-Text. Neben der (zugegebener­ maßen berechtigten) Inhaltsbezogenheit, die man Chagalls Autobiographie meist angedeihen lässt, lohnt ein Blick auf ihre Poetik. Er enthüllt ein Forschungsdesiderat: Außer einem ersten Versuch einer poetologischen Annäherung anhand der deutschen Vorlage gab es bislang noch keine Auseinandersetzung mit der Chagalls Text(ästhetik) dynamisierenden Inter­ medialität.114 Dabei gleicht Ma vie in mehrfacher Hinsicht einer Trickkiste von Text-BildBezügen, die das theoretische Spektrum von expliziter und impliziter Intermedialität nicht nur ausreizen, sondern sprengen. Was tun mit einem Text, der vor Bildzitaten, Bildgattungen und Bildevokationen überquillt? Makrostrukturell lassen sich für Ma vie drei Intermedialitätsebenen ausmachen. Jede Ebene lebt von verschiedenartigen Bezugnahmen zwischen Sprache und Bild. Die folgende Klassifizierung und Charakterisierung intermedialer Phänomene soll, ohne einengen zu wollen, deren ästhetische und funktionale Differenz offenlegen. 1. Auf einer ersten Inhaltsebene ist Ma vie von einer thematisch-motivischen Bezugnahme auf die Malerei durchsetzt. Chagalls Autobiographie fungiert hier nicht nur als Gedächtnisspeicher für sein Leben, sondern auch als Erinnerungsdepot für viele (seiner) Bilder. 2. Die sprachliche Präsentation der Autobiographie – die Ausdrucksebene also – bindet Stilistik und Intermedialität eng aneinander. Verschiedene bildgebende und -generierende Verfahren ergänzen gängige literarische Strategien zu einem pikturalen Schreiben. Im Medium der Literatur entfaltet Chagall ein ästhetisches Instrumentarium, das auch sein bildkünstlerisches Schaffen prägt. 3. Neben die intramedial-textinterne Bezugnahme auf die Kunst tritt die intermediale TextBild-Beziehung in Form der zwanzig Illustrationen, die Chagall auf Walther Feilchenfeldts Wunsch hin anfertigt. Realisiert ist sie in der deutschen Ausgabe Mein Leben von 1959.115 Die Illustrationen setzen die extreme Selbstbezogenheit aus der Autobiographie fort. Inhaltlich stellen sie punktuell einen Bezug zu konkreten Textstellen her. In ihrer humorvoll-lakonisch-suggestiven Machart spiegeln sie ästhetisch den gesamten Text

114 Stefana Sabin gibt in ihrem Beitrag einen guten Überblick über Chagalls Schreibtechnik und deren Nähe zu seiner Malerei (2004: 90–92). 115 Die Radierungen, geplant als Illustrationen zu Chagalls Autobiographie, werden zunächst separat ediert. Ihre Reihenfolge in der deutschen Ausgabe von 1950 divergiert zur 1923 herausgegebenen Mappe. Dort sind die Illustrationen in folgender Reihung erschienen: 1. Der Vater, 2. Mutter und Sohn, 3. Die Großväter, 4. Die Großmutter, 5. Pokrovskaja in Vitebsk, 6. Geburt, 7. Feuer in der Stadt, 8. Haus in Peskovatik, 9. Der Talmudlehrer, 10. Speisezimmer, 11. Haus in Vitebsk, 12. Haus des Großvaters, 13. Ein alter Jude, 14. Vor dem Tore, 15. Liebende auf der Bank, 16. Hochzeit, 17.Selbstportrait, 18. An der Staffelei, 19. Am Grabstein der Mutter und 20. Grab des Vaters (s. Feilchenfeldt/Brandis 22005: 101–105). Auffällig ist die Zyklizität der Graphiken: Sie beginnen mit den Eltern und enden mit ihren Gräbern. Ma vie ist mit anderen Zeichnungen versehen. Zu den Illustrationen s. Güse 1985: 11–19, Conrad 1998: 41–43, Sabin 2004: 90–92 und Hille 2005: 125f. Auszuwerten sind sie im Kontext anderer graphischer Arbeiten jüdischer Künstler in Berlin, mit denen Chagall in Kontakt war, z. B. Hermann Struck und Joseph Budko (s. Bertz 1991, bes. S. 17 und 22).

50  |  Identität interkulturell und intermedial wider.116 Diese Text-Bild-Dimension ist umso wichtiger, als die Illustration eines Künstlers zu seinem eigenen Text einen seltenen Sonderfall innerhalb der Gattung darstellt.117 Chagalls Text-Bild-Intermedialität in Ma vie ist jedoch nicht nur in dieser Drei-EbenenKategorisierung mehrschichtig. Ein Blick auf die verschiedenen Formen von Intermedialität und deren Funktion in der Autobiographie trifft einen Wesenskern seines Schaffens, den manches Bild beim ersten (und manchmal erst beim zweiten) Betrachten freilegt: Sprache und Bild sind untrennbar miteinander verbunden. Und: Chagalls anderes Sehen prägt nicht nur seine Malerei, sondern auch seine Literatur (s. Kap. 4 und 5). Einzelreferenzen auf die Malerei erfolgen durch die explizite Nennung des bildkünstle­ri­ schen Mediums „tableau“ (z. B. 1931: 187, 216) oder „dessin“ (z. B. 1931: 38, 83, 85, 128f. et passim), eines Bildtitels, Bildthemas oder – als „Fremdreferenz“ – eines Künstlers. Implizit erstehen Chagalls Bilder vor dem Auge des Lesers durch – karnevalis­tische – Ekphrasis und Bildevokation. Konkrete Bildtitel sind in Ma vie vergleichsweise rar: Chagall nennt Über der Stadt (1914–18; 1931: 56), Meiner Braut gewidmet (1914; 1931: 162; im Frz.: L’âne et la femme), Der Jude in Grün (1914, 1931: 175) sowie Die Geburt (1911), Die Hochzeit (1911/12) und – mit vorausgehender impliziter Beschreibung (1931: 96–98) – Der Tod (1908; 1931: 141– 142).118 Durch die unmittelbar aufeinanderfolgende Nennung vergegenwärtigen sie visuell den Lebenszyklus. Chagall nennt explizit noch Die Erscheinung (1917/18). Ihr geht eine Beschreibung voraus, die zwischen Vision und Ekphrasis oszilliert (1922: 81).119 Eine eindeutige Zuweisung dieser unmittelbar-poetischen Wiedergabe zu dem das Gemälde generierenden Traum oder zum Bildergebnis ist unmöglich.120 116 In Pfisters Kategorisierung fallen die Illustrationen in ihrer „Symmedialität“ (Horstkotte 2006: 8) mit dem Text unter Typ zwei (Kopräsenz von Text und Bild), in derjenigen Hansen-Löves unter den Typ der Transposition. Chagalls Illustrationen schließen, da sich auch poetische Verfahren ins Bild übersetzen, die Transfiguration nicht unbedingt aus. Karoline Hille weist darauf hin, dass die Radierungen inhaltlich und formal eine Entsprechung zum Text bilden sollen (2005: 126). Umgekehrt finden sich implizite und explizite Schriftelemente in den Illustrationen, die wiederum auf den Text(gehalt) zurückverweisen: Illustration Nummer acht, Haus in Vitebsk, weist mit russisch „tut“ (hier) den Ort des Anderen (Russland oder das Örtchen?) aus. In Der Talmudlehrer (Ill. 9) bestätigt Chagall mit dem fehlerhaft geschriebenen „Dyamkin der melamed“ (Dyamkin, der Lehrer, der eigentlich „Dyatkin“ heißt) die Mühen, dem Knaben hebräisch beizubringen. In Pokrowskaja-Straße erscheint die russische Aufschrift auf dem Ladenschild der Mutter – gewollt oder unabsichtlich? – spiegelverkehrt von rechts nach links, also in der jiddischen und hebräischen Leserichtung. 117 Berühmtester Vorgänger ist neben Michelangelo sicher Leonardo da Vinci mit seinen Codices. Oyzer Varshavski, der seine Literatur als Malerei wahrnimmt, wendet sich in den 1930er Jahren verstärkt der Kunst zu, illustriert seinen eigenen Text (postum veröffentlicht in L’ Arrière-Montparnasse: nouvelles; gouaches; aquarelles et dessins de l’auteur, 1992; s. Astro 2007: 327). Ich danke Mikhail Krutikov für diesen Hinweis. 118 Zum Bild Die Geburt s. auch 1931: 76f. 119 Es wäre abwegig, in diesem subjektiven und hochpoetischen Text eine sachliche Bildbeschreibung zu vermuten. Dennoch kommt die genannte Passage einer Ekphrasis nahe. 120 Das Bild selbst ruft interikonisch das für Renaissance und Barock wichtige Motiv der Evangelisten und Heiligen auf, die – als Signum ihrer Heiligkeit – von Engeln besucht werden. Die Nähe zu Caravaggios

Marc Chagalls intermediale Poetik  | 51 Chagalls Autobiographie würde sich in eine reich bebilderte Chagall-Monographie verwandeln, nähme man – neben den Illustrationen und expliziten Bildnennungen – all die Evokationen eigener Bilder auf, mit denen er den Text bestückt. Für Marc Chagalls Bilder gilt: „Wer liest, sieht mehr (jiddische Literatur darin)“, für seine Autobiographie hingegen: „Wer sieht, liest mehr (Bilder aus Ma vie heraus)“. Mit den Mitteln der Literatur erweckt er assoziativ an die hundert Bilder zum Leben, die sich im Text verbergen. Die genannte Ziffer ist ein Näherungswert: Je weiter wir in Chagalls Oeuvre und in seinen kunstgeschichtlichen Hintergrund, auf den er anspielt, eindringen, desto größer wird sie.121 Dass viele Textstellen sich mit den Illustrationen verbinden lassen, versteht sich von selbst (s. 1931: 22, 26, 29 et passim). Schließlich sind die Radierungen als (v)erklärende Hilfestellungen einem Text beigegeben, dessen Autor wider den gesunden Menschenver­­ stand schreibt – und malt (1931: 37). Graphik und Text stehen in einem spannungsvollen Wechselverhältnis von bildästhetischer Konkretisierung der Literatur und Autonomie, mit der Chagall in weitere, den Text ergänzende Bedeutungsfelder aufbricht. Jede litera­­ rische Erklärung einer Illustration ‚kompensiert‘ er durch ein insinuierend-ästhetisches Spiel, das wiederum die Zeichnung verrätselt. Die Großväter aus Chagalls gleichnamiger Radie­ rung beispielsweise sind in ihrer avantgardistischen Gestaltung so ausgewiesene Vertreter­ der jüdischen Buchkultur, dass die Grenze zwischen Mensch und Buchstabe aufgeweicht ist (s. Abb. in: Chagall 1959: 96a). Chagalls assoziativ-phantastische Bildgestaltung stellt das Gleichgewicht zwischen der Logik und der Alogik seiner Gedanken- und Bilderwelt wieder her, das die kohärente Text-Bild-Referenz in Ma vie zu gefährden droht.122 Zentrale (und vordergründig einfache) Motive seiner Malerei wie Mond, Zaun, Häuschen und generell das Bildsymbol „Vitebsk“ mit der kleinen Kuppelkirche, die im Text mehrfach erwähnt werden, lösen neben einem Einzelbild eine ganze Bilderkette aus.123 Dies gilt ebenso Berufung des heiligen Matthäus (1599/1600), der sich wie auf Chagalls Bild nach dem Engel umsieht, ist besonders groß. Auch hier nimmt Chagall, ähnlich der Referenz auf Moses, der die Gesetzestafeln erhält, eine sakrale Stilisierung seines Schöpfertums vor. 121 Die folgende Charakterisierung des Chagall-Biographen Alexander Sydney gilt nicht nur für Chagalls Lebens-, sondern auch für dessen Bilderwelt: „Wie Chagalls Bilder ist auch ‚Mein Leben‘ eine beunruhigende Legierung von Naturalismus und zauberhafter Dichtung [...] Sollte ‚Mein Leben‘ als Biographie im eigentlichen Sinn dienen, so müsste man einen Anmerkungsapparat anfügen, der alles erklären würde, worauf Chagall anspielt oder was im Hintergrund aufleuchtet in diesem Buch, das, wie seine Bilder, zurückhaltendes Andeuten mit beinahe schonungsloser Bekennungslust verbindet.“ (1984: 14f.) 122 Chagalls Bildersprache fußt wesentlich auf der alogischen Kombination diskreter logischer Einheiten. Neben Chagalls alogischem Einsatz einzelner Bildelemente entwickelt Malevič mit dem „alogizm“ (Alogismus) 1913–1914 eine eigene Strömung innerhalb des russischen Kubofuturismus, die auch als Radikalisierung des Kubismus zu verstehen ist. In Anlehnung an den „zaum‘“ der Futuristen, einem Sprachgebrauch „hinter dem Sinn“, koppelt Malevič – beispielsweise in Kuh und Geige (1913) – Bildelemente, die dem euklidischen Verstand widersprechen (s. hierzu Malevič 1995 Bd. 1: 165 und Kowtun 1993: 40–46). In der alogischen Komposition Kuh auf Geige ist die Schnecke wiederum alogisch um 90 Grad gedreht und wie die Geige selbst von vorne aufgemalt. Malevič soll später mehrfach darauf hingewiesen haben, dass das Bild eigentlich „Kuh auf Geige“ heißen sollte. Ich danke Hans-Christoph Dittscheid und Nils Wiesenberg für ihre Hinweise. 123 Stadtansichten evoziert Chagall beispielsweise auf S. 118, 140 oder 142. Die „l’église d’Uspène“ (1931: 140) meint eigentlich die „Uspenskij-Kirche“ (Auferstehungskirche, wörtlich: Entschlafens­

52  |  Identität interkulturell und intermedial für die zahlreichen Blicke aus dem Fenster, die Chagall literarisch wagt.124 Derartige Bild­ evokationen des Draußen sind ergänzt durch textuelle Assoziationen mit Innenansichten (s.  1931: 29) und entsprechenden visuellen Pendants, so beispielsweise die Illustration Speisezimmer oder die Gemälde Sabbath (1910) und Das gelbe Zimmer (1911). Fernab vom Ding-Kult der Avantgarde und insbesondere des Konstruktivismus, der das Ding (russ.: vešč’) in die Absolutheit erhebt, enthüllen Evokationen von in Chagalls Schaffen seltenen und symbolträchtigen Objektbildern einen intimen Bezug zwischen dem betrachtenden Menschen und dem betrachteten – und verlebendigten – Gegenstand: „La petite veilleuse à pétrole doucement s’empare de mon âme [...]“ (1931: 53). Dieselbe Petroleumlampe brennt später „à son aise [...] boit son pétrole à sa soif [...]“ (1931: 144).125 Der die Lampe beneidende, hungrige und durstige Chagall sitzt – wie in Der Spiegel (1915) – träumend „au bord de la chaise“ (ebd.; im Bild sieht man ein schlafendes Menschlein). Die Unterlegenheit des Menschen gegenüber dem Gegenstand wird im Bild durch die symbolische Größe der Lampe gegenüber dem winzigen, zu einem Nichts degradierten Menschen ausgedrückt.126 Diese anthropomorphisierenden Metaphern ins Bild gebannter Gegenstände aus Ma vie könnten bisherige Deutungen zu Der Spiegel (1915), Stillleben mit Lampe (1910) oder Die Uhr (1914) dynamisieren. Den Löwenanteil evozierter Bilder machen Portraits aus. Ob Familienmitglieder, allen voran Bella, die „[t]oute vêtue de blanc ou tout en noir“ (1931: 178f.) durch viele seiner Bilder geistert, ob anonyme alte Juden (1931: 145, 174, 176) oder junge, für den Krieg (und damit für den Tod?) bestimmte Soldaten (1931: 182) – diese Evokationen erfüllen wie ihre realen Vor-Bilder eine erinnernde Funktion.127 Bild und Text verschmelzen zu einem intermedialen Gedächtnistext einer untergegangenen Welt, die sich Chagall unauslöschlich eingebrannt hat.128 In der Bildgattung Portrait oder in ihrer literarischen Periphrase bekommen diese Menschen ein Gesicht, das im Bild unmittelbar oder im Text – mittelbar –

kirche). Auf S. 205 bezieht er sich auf die Stadtgestaltung Vitebsks anlässlich des Ersten Jahrestages der Revolution im Jahr 1918 (s. Kap. 4). 124 Beispiele für die Assoziation von Fensterbildern finden sich auf S. 118, S. 220 oder – als komische Variante eine missglückten Fensterblicks – eine Seite früher: „Dans la chambre, une seule fenêtre. / On apercevait un bout de route et un sapin au milieu. Mais mon beau-frère, en s’asseyant devant, me cachait tout le paysage.“ (S. 219) Vor allem 1914, am Beginn seiner „dokumentarischen Phase“, malt Chagall unzählige Bilder vom Fenster aus (s. S. 174). Zur Bedeutung dieses die Grenze zwischen Innen und Außen überschreitenden Akts s. Kap. 5 und Chagall 2008. 125 Beide Textstellen fehlen in Eygns. 126 Dieses ästhetische Verfahren stammt aus der Ikone, s. hierzu Kap. 5 und 9. 127 Vgl. das berühmte Porträt Bella mit weißem Kragen (1917) und die ‚blauen‘ Bilder wie beispielsweise Das Bad des Kindes (1916), Das Gartenfenster (1917) oder Interieur mit Blumen (1917; Abb. in: Guerman/Forestier 2004: 72f., die in unmittelbarem Zusammenhang mit Idas Geburt stehen (s. hierzu 1931: 218f.). 128 Chagall schreibt angesichts der Massenvertreibungen im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg: „J’avais envie de les [les Juifs; S. K.] faire transporter sur mes toiles, pour les mettre en sûreté.“ (1931: 194)

Marc Chagalls intermediale Poetik  | 53 geschaut wird. Chagalls doppeltes Porträtieren ist keine Tautologie, sondern eine medial komplementäre, die Zeit überbrückende Gedächtnisleistung. Besonders eindrucksvoll geschieht dies in Bezug auf Chagalls jüngsten, früh verstorbenen Bruder David: „J’ai fait une étude de toi, David, la mandoline à la main. Tu riais. Ta bouche rosée, pleine de dents. Tu es bleu sur mon tableau.“ (1931: 214f.)129 Das „Du“ im Text vergegenwärtigt den toten Bruder (bei jeder Textrezeption, in der dieses „Du“ erklingt, aufs Neue); das Blau im Bild von 1914/15 verewigt ihn in seiner transzendentalen Symbolkraft, die Chagall Cimabue und Giotto abgeschaut hat. Bildtitel, -ekphrasis oder -evokation – alle diese Formen bergen per se eine Systemreferenz (s. Rajewsky 2002). Doch auch explizite Verweise auf die Kunst generell (z. B. 1931: 48, 141, 162f. et passim), auf Bildgattungen oder Kunsttechniken, -elemente, -richtungen und -epochen stellen diese Referenz zum Gesamtsystem Malerei her.130 Chagalls Ma vie strotzt vor intermedialer Autoreferenzialität. Die literarische Inszenierung seiner eigenen Malerei wird aber erst im Nebeneinander von Auto- und Fremdreferenz voll wirksam. Den Einfaltspinsel, den Chagall als Teil seiner Selbstinszenierung auch autobiographisch mimt, nimmt man ihm nicht ab:131 Hinter seiner scheinbaren Naivität verbirgt sich die messerscharfe visuelle Auffassungsgabe des Genies, das nicht nur im Medium Bild, sondern auch literarisch einen ‚intertextuellen‘ Dialog mit der Kunst pflegt:132 En passant unternimmt Chagall in seiner Autobiographie einen Streifzug durch die Geschichte der Malerei. Der Text-Raum verwandelt sich in ein – ganz und gar undidaktisches, assoziativ und achronologisch konzipiertes – Museum: Lesend durchschreitet man Chagalls Bilduniversum und die (europäische) Kunstgeschichte von der primitiven Kunst bis zur Avantgarde, von den Chimären der Kathedrale von Nôtre-Dame in Paris (1931: 168–170)

129 In Eygns heißt es knapper: „ikh hob dikh gemolt, Dovid mit der mandolinke. a bloer zitst du oyf dem bild.“ (Ich habe dich gemalt, David mit der Mandoline. In Blau sitzt du da auf dem Bild; S. 72) Ähnlich komplementär lassen sich das Kapitel zu Chagalls Theaterarbeit und Wandmalereien für das GosET lesen, die wiederum reale Bilder jüdischer Hochzeitsrituale aufrufen. 130 Chagall nennt als Bildgattung mehrfach das Portrait (vgl. u. a. 1931: 44, 85 und 89), das Landschaftsbild (S. 159), die Ikone (S. 71 und 118), als Technik Aquarelle (S. 169) und immer wieder Zeichnen und Zeichnung. Erwähnte Elemente der Malerei sind Form (S. 152), Volumen (S. 163), Perspektive (ebd.) und – immer wieder – die Farbe (vgl. Fußn. 159). Punktuell wird auf die Bildhauerei Bezug genommen, z. B. durch die Nennung der russisch-jüdischen Bildhauer Mark Antokol’skij (S.121, 123, 140 und 146), dessen Schüler Il’ja Jakovlevič Gincburg ([Ginzburg]; 1860[?]–1939) oder Aristide Maillol (S. 157). 131 Chagall inszeniert sich als Dummkopf (1931: 36, 79), als Stotterer (S. 80, 134, 142 und 228) und als mit weiblichen Zügen ausgestatteter (S. 206) – er geht dabei immer wieder auf sein lockiges, dunkles Haar ein – und sich schminkender Sonderling (S. 107). Zur kulturgeschichtlichen Betrachtung von Haarfarben s. Junkerjürgen 2009. Marc – Moyshe – Chagall baut bezüglich seiner selbstironischen Identitätskonstruktion bewusst das Stottern ein, das ihn mit seinem berühmten Namensvetter Moses verbindet. 132 Man denke an die stillende Bella in Mutterschaft (1914), mit der Chagall an Darstellungen der „Maria lactuosa“ in der Renaissance oder an den Ikonentyp der Galaktrophousa anknüpft (Abb. in: Benesch/ Brugger 2006: 66), oder an seine Soldatenbilder, die in unmittelbarer Auseinandersetzung mit Michail Larionov entstanden sind (s. Kap. 7).

54  |  Identität interkulturell und intermedial bis zur mit einzigartigen Wandmalereien ausgestatteten Holzsynagoge im belarussischen Mogilëv (1931: 233).133

Kunsttheorie in Ma vie Chagall breitet über Ma vie ein Koordinatensystem der Nähe und Distanz zu anderen Künstlern. In dieses Netz der Bezüge sind seltene, bisweilen humorvolle und ironische künstlerische Positionen eingewoben. Dabei ist Chagall ein auffällig theoriefeindlicher Künstler. 134 Theoretisch-programmatische Fundierungen verschiedener Ismen oder Kunstkonzeptualisierungen, wie sie in der (russischen) Avantgarde zuhauf in Manifesten und Traktakten vorgenommen werden, sind ihm fremd.135 Theorie gibt es bei Chagall nur in der – mündlichen, malerischen oder literarischen – Praxis: Nicht im Manifest, sondern in der flüchtigen Münd133 Diese Synagoge, die Ėl’ Lisickij und Ribak im Zuge einer ethnographischen Expedition 1916 aufsuchten, kann guten Gewissens als Gründungsmythos der ostjüdischen malerischen Avantgarde verstanden werden: Ihre Wandmalereien, von Lisickij und Ribak kopiert, stützen die theoretischen Fundierung der ostjüdischen Kunst in der Volkskunst (s. hierzu Kampf 1978: 52–55, 1990: 16–21 und Apter-Gabriel 2009: 56–59). Lisickij verfasst hierzu Erinnerungen. Veröffentlicht wurden sie 1923 in der jiddischen Kunstzeitschrift Milgroym (Granatapfel) und ihrem hebräischen Pendant Rimon (engl. Teilübersetzung in: Apter-Gabriel 21988: 233–234, vollständiger Abdruck in Hazan-Brunet 2009: 221–223). Die vom Ehepaar Wischnitzer-Bernstein herausgegebene Doppelzeitschrift will im Berlin der Weimarer Zeit ein Organ moderner jüdischer Kunst sein (s. hierzu Dmitrieva 2006: 254–256). 134 In Bletlekh (Kleine Blätter, zunächst erschienen im ersten Heft von Shtrom 1922) schreibt er hierzu in gewohnt ironischer Manier: „A mol nokh in Pariz in mayn ‚la-rush-tsimer‘, vu ikh hob gearbet, hob ikh durkhn sphanishn ventl gehert, vi s’ampern zikh yidishe emigrantishe shtimen: ‚Iz vos zhe meynstu, sofkol-sof, Antokolski iz nit geven keyn yidisher kinstler, oykh nit Izraels, nit Liberman!‘ Der lomp hot gebrent azoy tunkl un baloykhtn mayn bild, vos iz geshtanen mitn kop arop (azoy arbet ikh – freyt aykh!) un lesof, ven tsu tog tsu hot der Parizer himl genumen heln, hob ikh freylekh oysgelakht di leydikgeyerishe gedanken fun mayne shkheynim vegn dem goyrl fun der yidisher kunst: meyle, redt aykh – un ikh vel arbetn.“ (Einmal, damals in Paris in meinem Zimmer in La Ruche noch, wo ich arbeitete, hörte ich durch die spanische Wand hindurch, wie sich Stimmen jüdischer Emigranten streiten: „Ja, was denkst du denn, schließlich war Antokol’skij kein jüdischer Künstler und Israëls oder Liebermann auch nicht!“ Die Lampe brannte schwach und beleuchtete mein Bild, das verkehrt herum dastand (so arbeite ich – freut euch!) und schließlich, als bei Tagesanbruch der Pariser Himmel hell wurde, lachte ich die müßigen Gedanken meiner Nachbarn zum Schicksal der jüdischen Kunst fröhlich aus: Redet nur – ich werde arbeiten; Chagall 1967: 106, engl. Übers. in Harshav 2003: 39–40). Der heilige Droschkenkutscher (1911/12) beispielsweise entstand auf diese Weise. Ergriffen vom Salon des Indépendants des Jahres 1910 schreibt er: „Aucune académie n’aurait pu me donner tout ce que j’ai découvert en mordant aux expositions de Paris, à ses vitrines, à ses musées.“ (1931: 152; „[...] kayn adademyes oder shuln fun vosere nisht iz shtet hobn mir nit gekent gebn dos, vos ikh hob gebisn un gegrizshet baym harts fun di frantsoyzishe oysshtelungen, gasn-vitrines un muzeums“; [...] keine Akademien oder Schulen konnten mir das geben, was ich im Herzen der französischen Ausstellungen, Schaufenster und Museen zu beißen und knabbern bekam; Eygns, S. 53) und „Personellement, je ne crois pas que la tendance scientifique soit heureuse pour l’art.“ (1931: 168; nicht in der jiddischen Fassung.) 135 Diese Theoriefeindlichkeit ist ein wichtiger Grund für den Antagonismus zwischen Chagall und Malevič, der in einer eigenen Stufe systematisch zu vertiefen wäre (s. auch Kap. 4). Die Wucht des Suprematismus tritt ihm jedoch voll in der Ausstellung 0,10 von 1915 entgegen. Malevičs suprema­

Marc Chagalls intermediale Poetik  | 55 lichkeit der Rede hinterlassen (meta)theoretische Reflexionen zur Malerei ihre Spuren. 136 Nicht in der Sukzessivität der Schrift, sondern in der Simultaneität des Bildes mit seinem bewegten Zusammenspiel von Formen, Farben, Flächen und Linien be- und hinterfragt er theoretische Grundlagen einer Stilrichtung. Nicht im Traktat, sondern im literarischen Text artikuliert Chagall seine Kunst,theorie‘ und -polemik, die von Komik, aber auch von entschlossenem Ernst begleitet sind. Eingebettet in den kreativen Umgang mit der Wechselbeziehung von Text und Bild setzt sich Chagall in Ma vie knapp, aber dezidiert mit dem Realismus, Impressionismus, (vor allem russischem) Symbolismus, Futurismus, Kubismus und Suprematismus auseinander. Den Orphismus thematisiert er nicht, wohl aber – mit Wohlwollen – seinen Begründer, Robert Delaunay (1931: 164).137 Den Expressionismus, als dessen Begründer er gehandelt wird und als den er sich im Text auch darstellt (1931: 169 und 250), streift er nonchalant.138 Spezifisch russische Avantgarde-Ismen wie der Kubofuturismus, der Rayonismus (lučizm), der von Malevič vertretene Alogismus (alogizm) und der Konstruktivismus fehlen. Chagalls Auseinandersetzung mit der russischen Avantgarde findet vor allem kunstpraktisch statt. Diese Leerstelle verdeutlicht wohl, dass Chagall primär von der westeuropäischen Avantgarde beeinflusst – und Ma vie primär für den westlichen Leser verfasst ist.139 Chagalls unorthodoxe Kunstreflexionen dienen in erster Linie der Abgrenzung von Kunstschulen und -ismen. Seine entgrenzte Künstlerpersönlichkeit, die in Text und Bild Kultur-, Kunst- und Realitätsgrenzen sprengt, widersetzt sich jeder einem (logischen) Programm folgenden Malerei. Zum Realismus ist Chagall unfähig: Jeder Versuch, eine der Mimesis verpflichtete Zeichnung eines Gipsabgusses von Voltaire anzufertigen, scheitert bereits in Jurij (Jehuda) Pens Vitebsker Kunstschule. Wie sehr er auch Augenmaß nehmen mag, „le nez de Voltaire tire toujours en bas“ (1931: 93).140 Chagalls erste Begegnung mit tische Bilder mit seinem Schwarzen Quadrat in der ‚Ikonenecke‘ stellen alles andere dort Gezeigte in den Schatten (s. Wullschlager 2008: 210–213). 136 Harshav (2003) hat Chagalls Reden in englischer Übersetzung zusammengetragen. 137 Chagall war mit Delaunay und dessen russischer Frau Sonja Terk befreundet. Delaunays orphistischer Farbenkreis, seine eigengesetzlich eingesetzten Formen und seine Theorie der Simultankontraste prägen Chagalls Schaffen dieser Zeit stark (Liebelt 1971: 101, Tasseva 1985: 105, 125–143). 138 Chagall erwähnt den Expressionismus in einem Atemzug mit dem Kubismus anlässlich des Ausbruchs des 1. Weltkrieges als Stilformation, die die Welt „tortillait“ (1931: 170). En passant spricht er von Herwarth Walden als ‚Schutzpatron‘ der Expressionisten, mit dem er auf Vermittlung Apollinaires bekannt wurde (1931: 166; s. auch S. 250). 139 Zentrale Figuren der russischen Avantgarde wie Michail Larionov, Natalja Gončarova, Aleksandra Ėkster oder Lisickij fehlen. Letzter könnte gemeint sein, als Chagall von seinem „disciple le plus zélé“ (1931: 209) schreibt, der zu Malevič übergelaufen ist (später kommt es zum Zerwürfnis). Lisickij gestaltet beispielsweise den Umschlag zu Malevičs Vitebsker Buch O novych sistemach v iskusstve (Über die neuen Systeme in der Kunst, 1920; s. hierzu Šatskich 2000: 52–56). 140 In Eygns bezieht Chagall Voltaires Nase explizit auf sich selbst: „Volters noz firt mikh arop; zi tsit mikh alts nidriker [...]“ (Voltaires Nase führt mich nach unten, sie zieht mich immer weiter nach unten; S. 28). Dieselbe humorvoll und ironisch als Selbstbestätigung inszenierte Unfähigkeit begleitet ihn auch bei späteren Versuchen in Paris, die naturgetreue Darstellung Corots zu imitieren: „J’ai pris une photographie, mais plus je m’efforçais de faire du Corot, plus je m’en éloignais et j’ai fini à la Chagall.“ (1931: 159; nicht in Eygns). Jurij Pen ist nicht nur für Chagall, sondern für die weitere Entwicklung der

56  |  Identität interkulturell und intermedial Léon Bakst (eigentlich Lev Samojlovič Rozenberg; 1866–1924) wird mit ähnlicher Komik bedacht (1931: 132–135). In einer großartigen Momentaufnahme fängt Chagall die Extrempole von Baksts kultureller Identität ein: Neben Bildern griechischer Götter hängt „un rideau d’autel de synagogue, en velours noir brodé d’argent“ (1931: 133), das HellenischFigürlich-Fleischliche neben dem Jüdisch-Ornamental-Geistigen.141 Doch Chagall, dem Symbolischen stets verhaftet, blieb der Symbolismus Baksts und des Mir iskusstva (Welt der Kunst) fremd (ebd.).142 Zwar bietet ihm Baksts Schule ein „Europe en miniature“ (1931: 136), doch verkommen Kunstrevolutionäre wie Cézanne oder Matisse in deren stilisiertem und mondän-manieristischem Ästhetizismus zur Modeerscheinung (ebd.). Chagall ist zu sehr von der ländlichen (und jüdischen!) Peripherie des russischen Großreiches geprägt, um in großstädtisches „l’art pour l’art“ zu verfallen.143 Chagalls Erdverbundenheit („J’aime la terre“; 1931: 163) erklärt einerseits seine Adelung des Primitiven, andererseits seine Abneigung dem technikversessenem Futurismus gegenüber (Chagall spricht von „formalisme“; ebd.). In offener Ablehnung des theoretischen Kubismus, den er praktisch sehr wohl in seinen Stil integriert (1931: 168), offenbart sich Chagalls künstlerisches Credo:144 Eine theoriebasierte, verwissenschaftlichte Kunst bleibt in der Ratio gefangen, nur eine im Psychischen verankerte Kunst ist frei (1931: 169). Einzig die von keiner theoretischen Reflexion verstellte Kunst der Seele ist maltechnisch vollkommen. 145 Chagall lässt allein das Subjektive und Individuelle gelten. (In der Tat, wie viele Gemälde lassen sich schnell als kubistische erkennen, nicht aber auf Anhieb Juan Gris, Picasso, Aleksandra Ėkster, Nadežda Andreevna Udal’cova oder Albert Gleizes zuordnen?) Er besingt jüdischen Kunst hin zu mehr ästhetischer Autonomie eine Schlüsselgestalt. Nach seiner akademischen Ausbildung in der Klasse Pavel Čistjakovs erweitert er sein Themen- und Stilspektrum unter dem Einfluss der Wandermaler. Pen wendet sich dezidiert jüdischen Themen zu. Die Darstellung des – jüdischen – „byt“ (Alltags) wird in seinen Bilder häufig symbolisch überhöht (vgl. Der Uhrmacher, 1929). Er koppelt so (ethnographischen) Realismus und Symbolismus (s. Kazovskij 1992: 7–77, bes. S. 45f.; zu Pen s. außerdem Le Foll 2002, Zeltser 2003: 84–89 und Kučerenko/Cholodova 2006). 141 In Eygns heißt es knapper: „reproduktsyes fun grikhishe geter. / a paroykhes fun a shul-orn-koydesh. modne.“ (Abbildungen griechischer Götter. / Ein jüdischer Toraschrein-Vorhang aus einer Synagoge. Seltsam; S. 45) 142 Die Bewegung entsteht in Abgrenzung zu den Wandermalern und vereint Künstler, Schriftsteller und Musiker, unter ihnen Bakst, Benois und Sergej Djagilev, vgl. Boris Kustodievs Gemälde Gruppenportät der Künstler der ‚Welt der Kunst‘ (1915–1920; s. Leek 1999: 86–93 und Chagall 1931: 155). 143 Ähnlich abschlägig sind die Äußerungen zu Nikolaj Konstantinovič Rerich (andere Schreibung: Rërich; 1874–1947), bei dem Chagall ebenfalls in die Schule ging (s. 1931: 131). Rerich schuf neben Bühnenbildern für Djagilevs Ballett von symbolistischem Historismus durchsetzte Monumentalgemälde, die in seiner Frühphase vor allem den historischen Anfängen Russlands gewidmet sind. Sein Umgang mit der Farbe könnte für Chagalls Evolution wichtig gewesen sein. 144 Gleizes und Metzinger, auf die sich Chagall bezieht, veröffentlichen 1912 das erste theoretische Werk über den Kubismus, Du cubisme. 145 Chagall bemüht im Zusammenhang mit Ismen, die durch formale Vorgaben den Zugang zum Wesentlichen verstellen, einen schlagkräftigen Vergleich: „Je compare ce bagage formel au Pape de Rome, somptueusement vêtu à côté du Christ tout nu ou à l’église décorative près de la prière en plein champ [...] (1931: 169; nicht in Eygns). Es ist gleich zu zeigen, dass gerade der assoziative Vergleich ein Kernelement seiner Poetik und einen Schlüssel zu seinem Denken ausmacht.

Marc Chagalls intermediale Poetik  | 57 das dem Unbewussten entspringende Emotionale als Träger des Mythischen, das er nicht von der Formsprache einer Strömung aufgesogen und ebenso offen für Logik wissen will.146 Wer so viel Kunst und Künstler verteufelt, muss selber eigene Götter haben. Zeitgenossen Chagalls können es nicht sein, sie sind allenfalls Rivalen, unter Umständen Gruppenanführer und somit eine verdächtige Künstler-Spezies.147 Entpuppt sich Chagall als konservativer Avantgardist? Eine erste Lektüre von Ma vie vermag dies nicht zu beantworten. Dennoch ist der Text Spiegelbild eines Bildes, das – wie die Autobiographie – Chagalls künstlerische Filiation (und sein Bedürfnis danach!) auf intermediale Weise offenlegt: In Der Jude in Rot (1914) schreibt Chagall seine Vorbilder in kyrillischer, lateinischer und hebräischer Schrift auf einen cremefarbenen Vorhang (s. Abb. 1). Es sind dies klassische Fixpunkte der (europäischen) Kunstgeschichte, neben denen monumental ein roter bärtiger Mann mit dem für die Darstellung des Wandernden Juden symbolischen Sack (jidd.: „torbe“) und Stock aufragt: die Meister der (Früh-)Renaissance Cimabue, Giotto und Fouquet, aber auch El Greco und Tintoretto, Chardin und Courbet(!), Van Gogh und Cézanne – und natürlich Rembrandt.148 In seiner russisch-jiddisch-französischen Triglossie re-kontextualisiert Chagall (neben der Universalsprache der Malerei) alte, auch spanische, niederländische oder italienische Bekannte in sein Universum. Sein Spiel mit Schrift weitet sich hier zu einer übergreifenden Kultursemantik aus: Giotto und „Breugelmužik“ (Breugel, der Bauer; gemeint ist Pieter Bruegel d. Ä.) werden in kyrillischer Schrift verzeichnet und dadurch in die Nähe der russischen Kultur gerückt. Rembrandt, als einziger auf Jiddisch auf den Vorhang gebannt, wird zum ‚jüdischen Künstler‘ (s. Kap. 4 und 7).149 146 Diese zentrale Passage steht nicht in Eygns. An anderer Stelle sind Chagalls individuelle Intuition (oder intuitive Individualität) und seine Methoden- und Gruppenaversion in einem Atemzug genannt: „Je ne saisis rien que par mon instinct. Vous comprenez? Et la théorie scolaire n’a aucune prise sur moi.“ (1931: 138). Vgl. Eygns, S. 48: „Ikh bin bloyz toyfes mit an inerlekhn geher, ir farshteyt? Un di algemeyne, ongenumene metodn fun der shul klebn zikh nit tsu mir.“ (Ich begreife nur mit einem inneren Ohr, ihr versteht? Und die gängigen, etablierten Methoden aus der Schule greifen bei mir nicht.) 147 Am deutlichsten wird dies wohl anhand der Person Kazimir Malevičs: Auf den hohen Ernst des suprematistischen ‚Guru‘, der seine Malerei auf fast obsessive Weise durchtheoretisiert und in Vitebsk eine Art suprematistische Autokratie versucht, kontert er gegen Ende seiner Autobiographie mit beißendem Spott: „Un troisième professeur qui habitait l’académie même s’entourait de femmes saisies d’un mysticisme ‚suprématique‘. / Comment les attirait-il, je n’en sais rien.“ (1931: 209) Chagall spielt auf Nina Kogan, die in Vitebsk ein suprematistisches Ballett aufführte, und auf Vera Ermolaeva an. Dem extrem demokratischen Chagall war die elitäre Künstlervereinigung UNOVIS (Akronym für Utverditeli novogo iskusstva/Bekräftiger der neuen Kunst), die sich am 14. Februar 1920 in Vitebsk formierte, völlig fremd (s. hierzu Šatskich 2000: 73–111). 148 „Pollaiuolo, Signorelli und andere waren ursprünglich aufgeführt, wurden später aber ausgelöscht.“ (Meyer 21968: 223). S. auch Amishai-Maisels 21988: 96, Fußn. 61, und Stooss 2003: 66f. 149 Ziva Amishai-Maisels schlägt zwei Lesarten der Schriftzüge vor: Der Jude im Bild lebt, im Unterschied zu den genannten Kunstgrößen, in einer anderen Welt, befindet sich wie Chagall zum Zeitpunkt der Bildentstehung im Exil, fernab von Westeuropa. Die multikulturelle Verschriftung der Künstler kann aber ebenso Chagalls individuelles Künstleruniversum bezeichnen, in das er sein Schaffen einbettet (21988: 80f.).

58  |  Identität interkulturell und intermedial Wessen Erbe Chagall antritt, zeigt er auch implizit: Der Vorhang ist ein wichtiges Element des spätmittelalterlichen Marienbildes und der (ital.) Renaissance.150 Der sich gleichsam auf ein blaues Holzhaus aufstützende, frontal gezeigte Jude ist eine deutliche interikonische Referenz auf Rembrandts Judenportraits der Eremitage sowie auf Starik s korzinoj (Der Alte mit dem Korb, 1892) seines jüdischen Lehrers Pen (anderer Titel: Shames [jidd. für Synagogendiener]; s. Amishai-Maisels 21988: 81 und Weber 2004a: 110–111; Abb. in: Kučerenko/ Cholodova 2006: 20). Doch geht Chagall nicht nur durch die farbliche Verfremdung weit über dessen realistische Wiedergabe von Armut und Gottesfurcht hinaus.151 Mit Pen oder Courbet als realistischen Malern und Cézanne als Wegbereiter des Kubismus bezieht sich Chagall auf Stellvertreter von Ismen, die er als Kollektivbewegungen ablehnt. Er besingt das individuelle Genie, nicht die kollektive Programmhörigkeit.152 Zugleich affirmiert Chagall durch die Nennung dieser Künstlersubjekte eine malerische Tradition, die sein späterer Widersacher Malevič im unmittelbaren Zitat des Kunst-Objekts ablehnt: In Komposition mit Mona Lisa von 1914 streicht er provokativ da Vincis Gioconda mit einem (prä-suprematistischen?) roten Kreuz durch! Chagall hebt auch bildkünstlerisch die Grenze zwischen Theorie und Praxis auf. Anders als Malevič, der seine suprematistische Theorie in seine Bilder projiziert (und umgekehrt seine Bildempfindungen in Texte verwandelt), gehen Text- und Bildgattungen ebenso ineinander über wie die unterschiedlichen ästhetischen Möglichkeiten von Text und Bild. Die Schrift in Der Jude in Rot ist (über ihre Semantik hinaus) Teil der Ästhetisierung des Bildmotivs.153 Umgekehrt sind Visualität und Malerei wesentlicher Bestandteil von Chagalls wortkünstlerischem Programm.

150 Der Vorhang, seit der Antike und dem Mittelalter geläufig, ist besonders wichtig in Mariendarstellungen. Er fungiert als symbolisches Tor zum Himmel; bei der Darstellung von Mariae Geburt und Tod verweist er auf die Heiligkeit des Vorgangs (Lexikon der Kunst 1981 Bd. 5: 476). Chagall verwendet den Vorhang nicht zur ikonologischen Adelung des Heiligen (vgl. Raffaels Sixtinische Madonna) oder irdischen Herrschers (Fouquets Karl VII, König von Frankreich; um 1445; Abb. in Gowing 1988: 78), sondern für einen alten Juden, der stellvertretend für das jüdische Volk das Exil (er)trägt. 151 Mit der späteren Illustration Ein alter Jude, in seiner Vergänglichkeit durch weiche Schraffuren im Profil eingefangen, antwortet Chagall auf sein Monumentalgemälde des frontal gezeigten Juden. Beide sind durch den Sack und den Stock Hypostasen des Ewigen Juden (vgl. Amishai-Maisels 21988: 80). Sie sind wie viele ihrer Doppelgänger auf Chagalls Bildern Übersetzungen von Mendeles „kol Yisroel – eyn torbe“ (ganz Israel ist ein Bettelsack; s. hierzu Harshav 1994: 60–61, 2006: 121–131; Weber 2004a: 110). 152 Das Ölbild trägt Züge des seit der Renaissance gepflegten Freundschaftsbildes (für diesen Hinweis danke ich Albert Dietl). Gerade in der Romantik huldigt es der „amicitia“ als höchstem Wert in der bürgerlichen Welt (Lexikon der Kunst, Bd. 2, 2004: 595–596). Chagall reiht sich hier in eine allerdings selbst zusammengestellte Freundschaftsgruppe ein. 153 Dieses Prinzip praktiziert Kazimir Malevič zunächst noch in seiner kubofuturistisch-alogischen Phase. Im Suprematismus gibt er es auf.

Marc Chagalls intermediale Poetik  | 59

Bild und Sprachbild – ein Blick auf die Poetik von Ma vie Chagalls Eingangskapitel zu seiner Kindheit und Jugend in Vitebsk sind reich an Vergleichen und Metaphern. Mit den Dichtern, mit denen Chagall später in Paris in Berührung kommt, kehren die Sprachbilder vermehrt wieder (1931: 149–183). Nach Chagalls Rückkehr nach Russland 1914 überschlagen sich die Ereignisse, und so kippt die Autobiographie denn auch bei deren Darstellung vom Simultan-Bildhaften in einen pointiert-lakonischen Stenogrammstil. Das Narrative drängt das Lyrische zurück. Chagalls Kapitel über die Ereignisse und Peripetien zwischen 1917 und 1922 sind der Bildhaftigkeit und Bildkommentierung fast entkleidet. Am Puls der Zeit hat die Metapher das Nachsehen. Chagall ist es primär um die inhaltliche Vermittlung der gigantischen Umwälzungen um 1917 zu tun. Dieser konzeptuelle Wandel zieht auch in Anbetracht der mehrjährigen Arbeit am Text stilistische Veränderungen nach sich. Zwei die Poetik gestaltende Textelemente bleiben dennoch konstant: Komik und Assoziativität der Rede. Das Anekdotische und Lakonische in Chagalls Stil gibt häufig Anlass zum Schmunzeln. Seine literarische Beschreibung in Ma vie hat – wie die Illustrationen – den Charakter einer Skizze mit Leerstellen, die zu füllen der Imagination des Lesers respektive Betrachters überlassen sind. Beide Elemente erwachsen einem zentralen Wesensmerkmal von Chagalls Künstlerpersönlichkeit: Grenzen sind für ihn dazu da, aufgehoben zu werden. Chagall ist ein Künstler der Liminalität. Seine reale und ästhetische Situation „in-between“ (Homi Bhabha) vereint das Divergente in wort- und bildkünstlerischen Hybriden. In seinen Bildern tilgt er die Grenze zwischen sich und Bella, Ding und Mensch, Leben und Tod, ihm und Bella, Außen und Innen, Realität und Traum, Rationalem und Irrationalem, zwischen den Kulturen und Sprachen. Dies trifft auch auf Ma vie zu. Ob Schrift im Bild oder Bild in der Schrift, ob Sprachmetaphern im Text und deren Realisierung im Bild (s. Kap. 5) – die Grenze zwischen Bild und Text wird beständig überschritten.154 Bildhafte Poetisierung, die die Sukzessivität des narrativen Textes aufbricht, lädt Ma vie mit lyrischen Verfahren auf. Die Syntagmatik der Chagall’schen Erinnerungen tritt mit ihrer Paradigmatik in ein Spannungsverhältnis. Chagalls Autobiographie wird zum alter ego seiner Malerei: „I podobno šagalovskoj živopisi, Moja žizn’ – odnovremenno razvernutyj vo vremeni rasskaz i liričeskaja izpoved’, v kotoroj nerazryvno slity vnešnij i vnutrennij mir, nastojaščee i prošloe, poėzija i proza.“ (Und ähnlich Chagalls Malerei handelt es sich bei Ma vie um eine zeitlich entfaltete Erzählung und um eine lyrische Beichte zugleich, in der die äußere und die innere Welt, Gegenwart und Vergangenheit, Poesie und Prosa ineinander fließen; Apčinskaja 1994: 181) Chagall schreibt in der Sprache seiner Bilder. Er kultiviert eine eigene ‚Rhetorik der Malerei‘ – mit der Farbe als ihrem Hauptvehikel. Chagalls intermediale Grenzüberschreitung zwischen Text und Bild gäbe es nicht, wäre für ihn die Grenze zwischen Leben und Kunst nicht fließend: „das Leben ist ein Bild“,

154 Auch im Text offenbart sich – wie in den Bildern – dank der schwankenden Perspektive das Ineinander der irrational-intuitiven und der rationalen, konstruktiven Ursprünge seiner Kunst (Apčinskaja 1994: 182).

60  |  Identität interkulturell und intermedial könnte man, Calderón paraphrasierend, sagen.155 Umgekehrt spült gerade Chagalls intermediale Poetik in Ma vie dies Ineinander von Leben und Kunst, Chagalls ureigene Wahrnehmung und Imagination begründend, an die Textoberfläche. 156 Weltempfinden, Kunst und Rhetorik sind hier nicht voneinander zu trennen.157 Chagall misst das Leben mit den Kategorien der Kunst.158 Dort, wo er im Begreifen des Lebens (oder des Anderen) scheitert, springt als Metapher für sein Abgleiten an der Welt die Kunst ein.159 Dort, wo es glückt, verwandelt sich die Realität in Bilder.160 Das rhetorische Zentralverfahren, das das Changieren zwischen dem Leben und seinem sekundär modellierenden (Lotman), literarischen Pendant zum Ausdruck bringt, ist der Vergleich. Der Vergleich ist die Schnittstelle zwischen diesen beiden Welten. Er existiert gleichrangig neben der Metapher, die über das tertium comparationis die Grenze zwischen Bild und Wirklichkeit tilgt. Manchmal gibt der Vergleich Anlass zur Komik: Eine von Chagalls Tanten besitzt eine Nase „comme un tableau de Morales“ (1931: 39; vgl. Eygns S. 12). Häufig auratisiert er das Leben durch die Erhabenheit der Kunst. Chagall fasziniert eine Straße in Lyozno (mit einem Unbehosten!), einem Schtetl „comme sur les images“ (1931: 69),161 155 Bei Chagall gibt es keine klare Trennlinie zwischen Selbst, Welt und Kunst. Beim Blick aus dem Fenster in eine sternenklare Nacht, die suprematistische Züge annimmt, und beim Blick auf eines seiner Bilder sagt er: „Je suis couché entre ces deux mondes et regarde par la fenêtre.“ (1931: 220; vgl. Eygns, S. 74) Die folgende textästhetische Analyse gerade der Vergleiche in Ma vie wird dies offenlegen. 156 Die konsequente Überschreitung von Leben und Kunst, das „žiznetvorčestvo“ (Lebensschaffen) war Kernkonzept des späten russischen Symbolismus und der Avantgarde: Das Leben wird zur Kunst, der Künstler zum Kunstwerk (s. hierzu Schahadat 1998 und 2004). Jakov Tugendchol’d schreibt über Chagalls Bilder, dass sie leben (Chagall 1931: 235). 157 Dies erklärt Chagalls Anhängen an das Mythische (s. auch Tasseva 1985: 186–192). Jurij Lotman und Boris Uspenskij nennen als Basismerkmal des mythischen Denkens die Isomorphie von Welt und Text im Unterschied zum Heteromorphie von Welt und Meta-Text im logisch-rationalen Denken (Lotman/ Uspenskij 1986: 881–907). 158 Über seinen Großvater auf dem Dach schreibt er: „Pas mal comme tableau.“ (1931: 36; in der jiddischen Version heißt es: „nisht keyn shlekht bild“; S. 10). In der Tat realisiert er dieses Bildmotiv in der Illustration Haus des Großvaters und einem Folgebild von 1947 (Abb. s. Harshav 2004: 103). Sie ist zugleich die Realisierung der Redewendung „meshugener, arop fun dakh!“ (Verrückter, runter vom Dach), die als Aufforderung gemeint ist, auf den Boden der Tatsachen zurückzukommen; Harshav 1992: 58, 2006: 130). Die komische Beschreibung seiner zahlreichen Onkel endet mit der Feststellung: „En somme, c’est la peinture.“ (S. 41; vgl.: „S’iz moleray“; Eygns, S. 12). 159 „Tout me semblait énigme et tristesse dans mon père. Image inaccessible.“ (1931: 23) Diese Wendung findet sich nicht in der jiddischen Version. 160 Die aus dem Leben genommenen, aber keineswegs wie im Leben wiedergegebenen Juden seiner Monumentalportraits von 1914/15 werden in Ma vie aus der realen Begegnung mit einer unmittelbar an den Leser gerichteten Frage in ekphrastische Beschreibung und damit in Bildgestalten übersetzt. Die dreimalige Frage „Avez-vous vu ...?“ beziehungsweise „Vous avez vu ...?“ rhythmisiert diese appellative Passage, die in Eygns fehlt (S. 175–177, s. auch S. 145). Wie sehr Chagalls Portraits aus dem ostjüdischen Leben gegriffen, ‚Dokumente‘ sind, belegen Fotografien von Juden der Zeit. 161 In der französischen Version steht „faubourg“. Lyozno war jedoch ein Schtetl, ca. 60 km von Vitebsk entfernt. Chagall könnte die vielen Schtetl-Abbildungen im Auge haben, die Pen und nach ihm andere jüdische Künstler wie beispielsweise Elena Kabiščer-Jakerson gemalt haben (s.  hierzu Kazovsky 2000: 80–90).

Marc Chagalls intermediale Poetik  | 61 „[c]omme si dans la rue de Lyozno en plein jour avait ressuscité la peinture de Masaccio, de Piero della Francesca“ (1931: 37).162 Die Kirchen, Synagogen und Zäune in Vitebsk sind „simples et éternelles, comme les bâtiments sur les fresques de Giotto“ (1931: 21; Eygns, S. 2). Ein Gendarm scheint Bildern (1931: 119), die Frau des Duma-Abgeordneten und Chagall-Gönners Maksim Vinaver (1862–1926) „d’une fresque de Véronèse“ entstiegen zu sein (1931: 147). Die Haare eines Mädchens „étaient ceux d’une icone“ (1931: 118). Bella schließlich ist „plus pure que la Madone de Raffaël“ (1931: 120).163 Die Hochzeit zwischen Marc und Bella, eine Mesalliance in den Augen ihrer betuchten Eltern, die ein Juweliergeschäft in Vitebsk führten, ist letztendlich – und für Chagall sehr beruhigend – authentisch „comme sur mes tableaux“ (1931: 176; Eygns, S. 59: „vi bay mir oyfn bild“); während der Flitter­ wochen erscheint das gesamte Haus als „simple nature morte à la Chardin“ (1931: 177); eins der Zimmer „avait l’air d’un panneau génial des grands salons de Paris“ (1931: 182).164 Umgekehrt schaukeln die Tuben während seiner Lehrzeit bei Pen  – und bei einer toten Kunst, dem Realismus, – im Farbkasten „comme des cadavres enfantins“ (1931: 93; Eygns, S. 28f: „vi kinderishe meysimlekh“; hier funktioniert der Vergleich in die umgekehrte Richtung von der Kunst zum Leben bzw. Tod). Chagalls Auto(r)stilisierung enthüllt gerade im Text-Bild-Vergleich eine gehörige Portion Selbstironie: Das Kind, das Feyge-Ite zur Welt bringt, ist tot, einer lebensmüden kleinen Blase gleich, „[c]omme si elle s’était bourrée de tableaux de Chagall“ (1931: 20; vgl. Eygns, S. 1: „punkt vi er [der penkhere; dt.: „die Blase“] volt zikh ibergegesn mit Shagals bilder.) Eine intermediale Lesart von Ma vie enthüllt Chagalls Zwischenstellung zwischen Symbolismus und Avantgarde. Wie in seiner Malerei wählt er auch poetisch nicht den Weg der Abgrenzung, sondern der Integration. In Ma vie begegnen sich der synästhetische Impetus der Symbolisten und die poetische Infamie der Avantgarde. 165 Das Haus von Chagalls Großvater „était remplie pour moi des sons et des odeurs de l’art“ (1931: 35). Bakst legt er die – symbolistischen – Worte in den Mund: „Maintenant [...] vos couleurs chantent“ (1931: 157). In Apollinaires Mund „les mets résonnaient [...] Le vin sonnait dans son verre, la viande claquait entre ses dents“ (1931: 167).166 162 Vgl. Eygns, S. 10: „Glaykh vi oyf di gasn fun Lezne, in mitn hele teg, iz oyfgeshtanen di moleray fun Mazatshyo, Pyero di Frantsisko.“ Tatsächlich hat Masaccio Nackte gemalt, so in seiner Vertreibung aus dem Paradies (1427). Chagall dient das Bild für seinen androgynen Adam-und-Eva-Körper in Hommage à Apollinaire (1911/12) als Vorbild (Harshav 2006: 94f.). 163 Diese letzten Vergleiche mit der Malerei finden sich nicht in Eygns. 164 In der jiddischen Variante schreibt Chagall: „Un bay undz in der heym – geveynlekher, prostakisher ‚naturmort‘ fun Sharden“ (Und bei uns zu Hause – ein gewöhnliches, schlichtes ‚Stillleben‘ à la Chardin; Eygns, S. 60) und: „Dos tsimer hot tsu tsvelf azeyger inderfri forgeshtelt mit zikh a genyaln plafon fun a Parizer grand-zalon.“ (Das Zimmer stellte um zwölf Uhr mittags eine geniale Decke eines Pariser grand salon dar; S. 61) 165 Vgl. Verlaines programmatische Aussage „de la musique avant toute chose“ oder Baudelaires Correspondances aus den Fleurs du Mal (1857). Das Symbolistische findet so neben dem Symbolischen in Chagalls Schaffen seinen Platz. 166 Diese synästhetischen Metaphern gibt es nicht in der jiddischen Fassung. Apollinaire wird dort dank seiner Bildgedichte als Wegbereiter der Avantgarde gewürdigt: „In lider fun tsifern un oysyes bakante kritst er oys a veg ...“ (In Gedichten aus Ziffern und vertrauten Buchstaben zeichnet er den Weg; S. 45)

62  |  Identität interkulturell und intermedial Chagalls pikturales Schreiben speist sich vor allem aus dem Bildpotenzial der Literatur, wie es sich während seiner Reifejahre beispielsweise bei den Avantgarde-Dichtern Apollinaire, Cendrars und Majakovskij entfaltet.167 Mit der Metapher schlägt er die Brücke von der Wortkunst ins Leben: Zumeist handelt es sich um verlebendigende oder anthropo­morphi­ sierende Metaphern. Im Hause Chagalls „la lampe se reposait et les chaises s’ennuyaient“ (1931: 29), wenn der Vater einschlief. Felle geschächteten Rinds „faisaient de tendres prières, priaient le ciel-plafond pour l’expiation des péchés de leurs meurtriers“ (1931: 35).168 Später, als die Revolutionseuphorie langsam erlischt, versteckt sich die Hoffnung „dans la serviette de cuir“ (1931: 221; weitere Beispiele S. 1931: 24, 41, 48, 166 et passim). Anthropomorphisierte Bildmotive der Inhaltsebene, so die trinkende Petroleumlampe, ergänzen auf der Ebene der Präsentation anthropomorphisierende Metaphern, die im Zusammenhang mit der Malerei entwickelt werden. Kurz vor Chagalls Abreise nach Paris „se renversent“ seine Farben, „se réduisent en vin et mes toiles jaillissent de la boisson“ (1931: 142). Kubistische und expressionistische Bilder „se sont crispés“ bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges (1931: 170).169 Angesichts der Entbehrungen, Todesfälle und Nöte „vibrent“ Chagalls Bilder (1931: 215).170 Chagall, der mehrfach ins Exil gehen musste, ohne je daran zu verzweifeln, hat seine Heimatlosigkeit in der Heimat schmerzlich empfunden (s. 1931: 251). Doch so, wie ihn im zunächst fremden Paris die Bilder des Louvre auffangen  – seine Freunde sind zunächst die toten Maler –, geben dem in der Heimat unverstandenen Maler seine eigenen Bilder in Chagall seinerseits verewigt dessen dichterisch-lettristische Neuerung in seiner Hommage à Apollinaire (1911–1912). Wie der Dichter enthebt er die Schrift ihrer Linearität – er signiert mit lateinischen und hebräischen Buchstaben, ordnet sie auch untereinander an – und gibt so die Simultaneität von Apollinaires Bildgedichten malerisch wieder. 167 Alle drei sind herausragende Figuren innovativer avantgardistischer Text-Bild-Verbindungen. Blaise Cendrars publiziert 1913 zusammen mit der Künstlerin Sonja Delaunay das legendäre Gedicht La prose du Transsibérien. In diesem zwei Meter langen Leporello gehen Wort und Malerei eine völlig neuartige Symbiose ein. Zu Apollinaire und Cendrars s. Meyer 21968: 145f. Auch Vladimir Majakovskij baut Grapheme und Zahlen in seine Bilder ein (vgl. Roulette von 1915); seine Text-Bild-Interaktionen erfahren in seinen satirisch-agitatorischen okna ROSTA (ROSTA-Fenster, 1918) ihren Höhepunkt. Chagall geht im Unterschied zum russischen (Kubo-)Futurismus weder wort- noch bildkünstlerisch so weit, die Semantik zugunsten anderer Wortebenen auszuschalten. 168 In der jiddischen Fassung wird Wirklichkeit wiederum als Kunst empfunden: „Rozeve farbn flisn, azelkhe farblutikte ...“ (Rosa Farben fließen, so blutüberströmte ...; S. 9). Die Verbindung aus Farbe und Fleisch evoziert Rembrandts und Chaïm Soutines Darstellungen geschlachteter Ochsen. Der im weißrussischen Smiloviči geborene Soutine (1893–1943) siedelt 1913 nach Paris über. Ähnlich Chagall entwickelt er unter dem Eindruck der Sammlungen im Louvre seinen expressionistischen Stil. Die Labilität seiner Person, die zwischen Annahme und Ablehnung seines jüdischen Erbes schwankt, zeigt sich in fast krankhaften Verzerrungen seiner Gestalten und in einem unruhigen, pastosen Farbauftrag. 169 In Eygns spricht Chagall vom Kubismus und Futurismus: „Der kubizm hot zikh gehakt un der futurizm hot zikh gedreyt, un plutsling zenen di forgefiln mekuyem gevorn oyf mizrekh.“ (Der Kubismus zerhackte sich, der Futurismus drehte sich, und plötzlich wurden die Vorahnungen im Osten Realität; S. 57) 170 In diesem gezielten Einsatz anthropomorpher Sprachbilder unterscheidet sich das metaphernärmere Eygns deutlich von Ma vie. Die Stilistik des jiddischen Textes ist stärker durch komische Überraschungseffekte gekennzeichnet, die durch die Montage scheinbar gegensätzlicher Sinneinheiten entstehen.

Marc Chagalls intermediale Poetik  | 63 Russland Geborgenheit (s. 1931: 149f., 159 und 251).171 Dies erklärt in Teilen die auffällige Autoreferenzialität, die in Chagalls Schaffen Autobiographie und Autoportrait, Text, Sprache und Bild eng aneinanderbindet.172 Bevor allerdings Chagall (zwangsweise) auf Reisen gehen muss, tut dies sein Kopf: Mehr als einmal in Ma vie löst sich, wie im Bild Irgendwo außerhalb der Welt (1915; in: Baal-Teshuva 2008: 82), sein Kopf vom Körper (1931: 42, 52, 56); mehr als einmal schwebt Chagall – wie viele seiner Figuren in Text (1931: 41 und 142) und Bild – über der Welt (1931: 106, 170 und 243).173 Wer derart unverfroren die Gesetze der Schwerkraft, der Anatomie und der Logik bricht, ist entweder Engel, Exzentriker – oder ein Revolutionär, der die Welt nicht nur anders sieht, sondern auch anders malt.

171 In Ma vie nimmt er zu seiner Bildsprache, die Russland in seinen Augen all die Jahre fremd geblieben zu sein scheint, seine Muttersprache Jiddisch hinzu (1931: 100). 172 Dies trifft ebenso auf Chagalls Mayn vayte heym. Oytobiografishe poeme (Mein weit entferntes Zuhause. Autobiographisches Poem) von 1936–1937 zu (1938: 149–151; Neuabdruck in: Di goldene keyt 60, 1967: 91–94; engl. Übers. in: Harshav 2004: 461–466). Das Poem besingt im Wesentlichen erneut Chagalls Eltern und seine Heimatstadt Vitebsk, enthält aber auch seinem 1937 ermordeten Lehrer Jurij Pen gewidmete Zeilen. Die Umstände von Pens Tod sind bis heute nicht geklärt. 173 Aus der Fülle von Bildern mit schwebenden Figuren lassen sich aus der frühen Phase nennen: Russland, den Eseln und Anderen (1911), Vom Monde (Das russische Dorf; 1911), Paris durch mein Fenster (1913), Über Vitebsk (1914) und natürlich Über der Stadt (1914–1918).

4  Das inszenierte Ich oder: die Geschichte einer Ziege

Warum malt ein Mensch sich selbst? Unter vielen Motiven ist eines identisch mit dem, das jemanden veranlasst, sich malen zu lassen: Es geht darum, den Beweis zu erbringen, der ihn vermutlich überleben wird, nämlich dass er einmal existiert hat. Sein Blick wird bleiben und auch sein An-Blick, und in diesem doppelten Begriff deutet sich das Geheimnis oder das Rätsel an, das in diesem Gedanken steckt. Sein Blick befragt uns, die vor dem Portrait stehen und versuchen, uns das Leben des Künstlers vorzustellen. John Berger (1971), Dürer: ein Bild des Künstlers, 52005, S. 15–26. Je ne voudrais pas être pareil à tous les autres ; je veux voir un monde nouveau. Marc Chagall, Ma vie, 1931, S. 142. Das Sehen des Malers ist eine fortwährende Geburt. Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, 1984, S. 21.

Das Ich beschreiben „Ver bin ikh?“ (Wer bin ich?) – mit dieser Frage macht sich Chagall in Eygns auf die Suche nach seiner komplexen russisch-jüdischen Identität (S. 6 und 68). „Qui suis-je?“ hallt es von den französischen Seiten in Ma vie wider (1931: 29 und 228). „Wer bin ich?“ – diese(r) Frage stellt sich Chagall in unzähligen Selbstportraits vor allem der frühen Periode von 1909 an bis in die 1920er Jahre hinein; wieder und wieder stellt er sich vor den Spiegel und uns vor Rätsel. Eine noch zu schreibende Geschichte seiner Selbstbildnisse würde ein dialektisches Kräftespiel zwischen Irritation und Integration mehrerer Identitäten ergeben, die Transitorik der Ismen mit dem einenden Fluchtpunkt „Künstler-Ich“ offenlegen. Wer bin ich? Bei Chagall ist dies Frage und Fangfrage, Vexierspiel und Vektor ästhetisch-kultureller Zuordnung sowie individuell-künstlerischer Evolution zugleich. Packt man Chagalls obsessive Selbstreflexion etymologisch an, kommt man diesem Künstler, der sich gerade aufgrund seiner permanenten interkulturellen und ästhetischen Selbstinszenierungen immer wieder entzieht, nahe. Chagall spricht in seiner Autobiographie über seine narzisstische Neigung, hinter der sich gattungsorientierte Betrachtungen verbergen: Di heymishe flegn mikh oftmol bamerkn shteyn farn shpigl. Nor in der emesn hob ikh gekukt in shpigl, trakhtndik vegn di shverikaytn oyb s’vet oyskumen fun zikh tsu shraybn an oytoportret. (zikh oysgedreyt.) (Eygns, S. 33f.)174 174 Im vorliegenden Kapitel wird hier vorrangig aus der jiddischen Fassung zitiert. Sie liegt zeitlich näher an Chagalls Formierung als Künstler, wie er sie im hier behandelten Selbstbildnis reflektiert. Zur Selbstbetrachtung im Spiegel in der französischen Version s. Chagall 1931: 78.

Das inszenierte Ich oder: die Geschichte einer Ziege  | 65 Meine Leute zuhause sahen mich wieder und wieder vor dem Spiegel stehen. Doch in Wahrheit blickte ich in den Spiegel, weil ich über die Schwierigkeit nachdachte, von mir ein Selbstportrait zu malen. (Ich hab’s hinbekommen.)

Das jiddische „shraybn an oytoportret“ basiert auf der Lehnübersetzung des russischen Verbs „pisat‘“, das „schreiben“ und „malen“ zugleich bedeutet.175 Die für die russische Kultur gewichtige Doppelbedeutung wiegt für Chagalls Selbstinszenierungen nicht minder schwer. Mit den kunstphilosophischen und -typologischen Überlegungen Gottfried Boehms (1997: 25–33), John Bergers (52005: 15–26) und Jacques Derridas (1997b) zum Autoportrait kann man sich an Chagalls Selbstinszenierung herantasten. Doch erst in der Koppelung seiner wort- und bildkünstlerischen Extrapolierungen des Ich lässt sich das komplexe Spiel mit verschiedenen „Ismen der Kunst“, kulturellen Zugehörigkeiten und medialen Ausdrucksformen fassen, in denen Chagalls Identität schillert.176 Erst die Anbindung des Autoportraits an ihr literarisches Pendant, die Autobiographie, und an spätere autobiographische jiddische Gedichte öffnet den Blick auf Chagalls umfassende intermediale und interkulturelle Künstleridentität.177 Chagall hat mit seinem Selbstbildnis mit Palette von 1917 ein Werk von großer Magie geschaffen – sofern es tatsächlich von ihm stammt; die Einzigartigkeit, aber auch die Fremdheit der Darstellung lassen einen Restzweifel an Chagalls Urheberschaft nicht ausräumen. Eine ästhetische und gattungsorientierte Bildbeschreibung legt tief liegende Bedeutungsschichten frei. Chagalls Selbstbildnis mit Palette birgt eine ‚Revolution des Sehens‘.178 Wer könnte da bei der Sinnsuche besser Hilfestellung leisten als Maurice Merleau-Ponty? Streckenweise ‚liest sich‘ Chagalls Autoportrait wie die bildkünstlerische Projektion von Merleau-Pontys „Philosophie des Auges“ – vielleicht auch deshalb, weil beider Referenzpunkt die Malerei Paul Cézannes ist.179 Ausgehend von Chagalls Selbstbildnis mit Farbpalette lässt sich 175 Das Russische kennt als Substantiv für „Maler“ im Unterschied zu anderen slavischen Sprachen das Wort „živopisec“, also jemanden, der „lebendig schreibt/malt“ (vgl. ukr.: „maljar“, pol.: „malarz“ oder tsch.: „malíř“). 176 Hans Arp und Lisickij veröffentlichen 1925 ein Kompendium der Avantgarde-Strömungen mit dem Titel „Die Ismen der Kunst“. 177 Hierzu zählen beispielsweise das autobiographische Poem Mayn vayte heym (Mein weit entferntes Zuhause, 1936–1937; s. Kap. 3), In Lisbon farn opfor (In Lissabon vor der Abreise, 1941), Ikh hob gemolt di vent di hele (Ich malte die hellen Wände, 1938), Tsu hoykhe toyern (Zu hohen Toren, o. J.) oder Dos bild (Das Bild, o. J.; Abdruck in: Di goldene keyt 60, 1967: 91–105). Von Theodor Schulzes Beitrag zur wortund bildkünstlerischen Selbstkonstitution Marc Chagalls (2003: 103–124) abgesehen, ist bislang noch keine systematische Auswertung von Chagalls Selbstbildnissen erfolgt. Dabei nehmen sie in Chagalls Werk einen zentralen Platz ein und bergen als kreative Form der Selbstverortung zwischen Eigenem und Fremdem eine spannungsreiche Auseinandersetzung mit Vorgängern und deren Selbstdarstellung. 178 Chagall selbst prägt für die ästhetischen Umwälzungen, die er während seines ersten Paris-Aufenthaltes erlebt, den Terminus „révolution de l’œil“ (s. Liebelt 1968: 141, 1971: 26). 179 Als Grundlage für die folgenden Überlegungen dienen insbesondere die Abhandlungen L’œil et l’Esprit (1961), Le Langage indirect et les Voix du Silence (1960; dt. in: Merleau-Ponty 1984: 13–44, 69–114; zu den französischen Quellen s. ders.: 153) und Le Visible et l’Invisible, suivi de notes de travails (1971 [1964], dt. erschienen 1986).

66  |  Identität interkulturell und intermedial auch Chagalls ‚Kulturrevolution‘ beschreiben (s. Abb. 7). Chagalls Bild ist eine Selbstreflexion, die das Künstler-Ich in actu und vis-à-vis seiner ontologischen Herkunft Vitebsk zeigt, zu der er malend immer wieder zurückkehrt. All diese Analysedimensionen zirkulieren ebenso wie die drei Bildthemen Künstler, Schaffensakt und Schaffensprodukt in einem offenen Semioseprozess. Im Folgenden ist also die Rede von Chagall, der sieht, von Chagall, der malt – und von Vitebsk, das gesehen und gemalt wird, das in doppelter Hinsicht die Genese des Künstlers bedeutet. (Die Ambivalenz der Formulierung zwischen Genitivus subiectivus und obiectivus ist beabsichtigt.)

Selbstbildnis mit Farbpalette – ein Blick hinter die Ikonographie Chagalls Selbstbildnis mit Farbpalette zeigt in klarer Dreiteilung des Bildraums linkerhand den Künstler selbst und rechterhand eine teilweise leere Leinwand, aus der, in alogischer Brechung der Dimensionen und der Wirklichkeit zugleich, Häuser gleichsam um 90 Grad gedreht dreidimensional herausragen. Die Bildmitte – in der Regel der Ort des sich selbst Porträtierenden – ist im Gegensatz zu seinen figürlichen Bildrändern mittels kubistisch organisierter Farbdreiecke zunächst – arbeitshypothetisch – als Bildhintergrund auszuweisen. Einem farblich und durch eine Leiter mit der Palette verbundenen Haus entsteigt im Goldenen Schnitt des Bildes Schornsteinqualm. Wir haben es nicht nur mit einem geometrisch organisierten Raum zu tun, der sich avantgardistisch der Tiefendimension verweigert und die Zentralperspektive der Renaissance negiert. (Chagall liebte ja bekanntlich die Geometrie; s. Chagall 1931: 83). Innerhalb dieses aperspektivischen Raumes affirmiert Chagall Raumtiefe. Der im Bildzentrum vertikal aufsteigende orangefarbene Kaminrauch kreuzt den Schornsteinqualm eines hell hingehauchten Hauses der Leinwand, liegt also räumlich gesehen vor letzterem, bevor er hinter einer diagonalen Schräge mit Weiß aufgehellten blauen Flächen verschwindet. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich die Farbpalette als erste Bildebene, hinter der der Künstler und die Leinwand auftauchen. Die Farbgebung des gesamten Bildes ist mit Ausnahme der Farbpalette, auf der warme Rot-Orange-Töne dominieren, kühl. Die senkrecht orientierte Linienführung des Gesamt­ bildes betont die Vertikale. Dieses Ordnungsprinzip wird durch steigende und fallende Linien des mittleren Bilddrittels ebenso unterwandert wie die waagrechte Ausrichtung der Häuser auf der rechten Seite. Die Dynamik der blau-schwarzen Linien und Flächen in der Bildmitte kontrastiert mit der Ruhe von Chagalls Gesichtsausdruck links und den die Leinwand bewohnenden Häuschen rechts. Eine ‚reale‘ Lichtquelle fehlt; vielmehr scheint von der Leinwand ein magisches Licht auszugehen, das auf Chagalls Gesicht abstrahlt. Wie so oft bei Chagall rhythmisiert die Farbgebung sein Selbstbildnis: Das Braun seiner lockigen Haare steht mit dem zackigen Bretterzaun ebenso in einer Äquivalenzbeziehung wie die den Pinsel haltende helle Hand mit dem in zarten Farbtönen auf der Leinwand abgebildeten Dorf. Die symmetrische Bildstrukturierung, der ein klares lineares Gerüst zugrunde liegt, wirkt beruhigend. Doch der Schein trügt: In die kubistische Formgebung eines kosmischen Raumes hinein schwebt von rechts aus der Leinwand heraus eine alogisch an ebenjene

Das inszenierte Ich oder: die Geschichte einer Ziege  | 67 Leinwand festgebundene rot-gelbe Ziege, die ihr Farbkleid aus der Palette unter ihr bezogen zu haben scheint. Chagall präsentiert sich in grüner Jacke mit weißem Kragen. Er zitiert so sein eigenes Selbstportrait in Grün von 1914, das ihn, das Gesicht dem Betrachter zugewandt, vor einer ebenfalls grünen Wand, in fließenden Formen zeigt (Abb. in Kamenski 1989: 172).180 Mittels der klassischen Künstlerattribute Pinsel, Palette und Leinwand bezieht er sich auch auf die abendländische Tradition des Selbstbildnisses, die großen Selbstportraitisten in weißem Kragen wie Tizian, El Greco – und natürlich Rembrandt.181 Rembrandt ist für Chagall die Identifikationsfigur schlechthin. Ihm widmet er seine Autobiographie. Ihn stilisiert er zum jüdischen Künstler (s. Kap. 3), sich selbst wiederum in einem frühen Autoportrait von 1909 zu Rembrandt, dessen Identität er sich dort anzieht wie in anderen Referenzbildern dessen selbstbildnerische Techniken (s. Kap. 5).182 Einer der Gründe mag in Rembrandts impliziter Selbstinszenierung als Christusfigur liegen, wie sie auch Chagall – unter dem Einfluss von Aleksandr Blok – in seinen ersten, russisch verfassten Gedichten, aber auch im Bild praktiziert hat. 183 180 Chagall gebraucht während seiner Pariser Zeit warme und leuchtende Rot-, Gelb- und Grüntöne, die er in Komplementärkontrasten einsetzt (Tassova 1985: 141). Grün ist für ihn die Farbe der Emotion (vgl. Der grüne Jude, s. hierzu auch Kap. 5), des Lebens (Ich und das Dorf, 1911/12) und wie im obigen Beispiel der Inspiration (vgl. auch Der Dichter, 1911, Der liegende Dichter (1915) oder Über der Stadt, 1914–1918). Kazimir Malevič hingegen hegt eine Abneigung gegen Grün. Für ihn ist es die Farbe der utilitaristischen (diesseitigen) Welt. Im Suprematismus spielt sie tatsächlich eine untergeordnete Rolle. In seinem in Vitebsk veröffentlichten Traktat Über die neuen Systeme in der Kunst schreibt Malevič – in dem Jahr, in dem Chagalls grüne Kühe die Stadt zieren, nämlich 1919 – über die Kunst, sie entsage (vorrangig durch den Suprematismus) der Zeichen „zelenogo mira, mjasa i kosti“ (der grünen Welt, des Fleisches und der Knochen; 1995 Bd. 1: 177) und verwandele dadurch die Welt. Malevič hat mehrfach den Suprematismus theoretisch fundiert (vgl. hierzu Malevič 2000 und 2004); zu den in Vitebsk entstandenen Texten s. Malevič 2000 Bd. 1: 153–265 und Bd. 4: 156–199. 181 Grün ist El Grecos Der Hl. Lukas als Maler von 1608 (Abb. in: KML 1965 Bd. 2: 757). Auch die Ähnlichkeit der schmalen Finger und der Fingerhaltung in beiden Gemälden ist frappierend. Als Heiliger Lukas zeigt sich El Greco in einem Selbstportrait von 1604 und nimmt so eine Identifizierung zwischen sich und dem Schutzpatron der Künstler vor. 182 Als Referenzbilder für Chagalls Rembrandt-Inszenierung lassen sich in Auswahl Selbstbildnis mit Samtbarrett (1634; Abb. in: Rembrandt 2006: 21), ein Autoportrait von 1632 (Wright 2000: 322, Abb. 327), das ihn mit weißem, herabfallenden Kragen zeigt, das Selbstbildnis (um 1640; The National Gallery, London; Rembrandt 2006: 35, Abb. 25), auf dem er sich in der selbstsicheren Pose des ‚uomo famoso‘ präsentiert (Wetering 2006: 38) oder Selbstportrait an der Staffelei (1660) nennen. Letzteres ist eines der wenigen Selbstbildnisse, in denen er sich als Maler ausweist (Wright 2000: 330, Abb. S. 341). 183 Rembrandt setzt sich auch als Christi Henker oder als Apostel Paulus ins Bild (Chapman 1990: 105– 127). Zur Christus-Figur in Marc Chagalls Malerei s. Roskies 1985: 284–289, Amishai-Maisels 1982: 92–101, 2003: 223–237 und 2004: 124–133. Blaise Cendrars’ Tochter Miriam hat Chagalls erste russische Gedichte aufbewahrt (s. hierzu Harshav 2004: 190–193 mit Auszügen in englischer Sprache). In ihnen zeigt sich, wie gut Chagall das russische Metrum und Reimsystem beherrscht; eins davon ist sogar in Sonettform verfasst. Angefüllt sind sie mit symbolistischen Clichés, Todessehnsucht und christlicher Symbolik (Harshav 2004: 191). Das Gedicht Osennjaja ljubov‘ (Herbstliebe, 1907) des symbolistischen Dichters Aleksandr Blok, der zur Christusfigur ein gespaltenes Verhältnis hat (s. Kasack 2000: 155–160), dient als Prätext zu Chagalls Christusinszenierung in Golgotha (anderer Titel: Christus gewidmet, 1912; Harshav 2004: 192f.). Explizit ist Chagalls Identifizierung mit Christus in der Skizze

68  |  Identität interkulturell und intermedial Es hat genauso gut mit Rembrandts intensiver Auseinandersetzung mit dem Judentum zu tun, die auch Chaïm Soutine zu dem großen Holländer hinzog.184 Chagall zitiert mit seinem Selbstbildnis mit Farbpalette weiterhin sein berühmtes Selbst­ portrait mit sieben Fingern (1911; Abb. in Kamenski 1989: 137). Auch dort zeigt er uns ein Bild im Bild – das auf 1913/14 datierte Russland, den Eseln und anderen (Abb. in: Harshav 2006: 90–91) – sowie eine Palette, welche die Kunstavantgarde in Farbe und kubistischer Form bereithält.185 Hebräische Lettern benennen in Jiddisch links „Pariz“ und rechts „Rosseye“ (Russland; von russ.: Rossija) mit dem imaginierten Vitebsk darunter. Chagall vereint hier die beiden Extrempole seiner künstlerischen Heimat.186 Im Autoportrait vereinigen sich die „Rekonstruktion des äußeren Aussehens und die Darlegung der inneren Befindlichkeit“ (Boehm 1997: 25). Zwischen diesen beiden Polen der Selbst-Präsentation für einen Anderen und der Reflexion der eigenen Person inszeniert sich Chagall im Selbstportrait mit sieben Fingern in Paris unter Rückgriff auf die französische zu Golgotha von 1908 (veröffentlicht 1923); hier hängt der Maler das Christus-Kind, den Jesus-Emmanuel, mit seinem eigenen Konterfei ans Kreuz (vgl. Liebelt 1985: 138); diese Eindeutigkeit übernimmt er nicht ins Ölbild (zu Golgatha s. auch Liebelt 1971: 89–111, Hille 2005: 194–199). Die bekanntesten bildkünstlerischen Chagall-Christus-Legierungen stellen Der gekreuzigte Maler (1940; s. Meyer 2 1968: Kat.nr. 689) und Die Kreuzabnahme (1941) dar, die anstelle der Inschrift „INRI“ Chagalls Namen trägt (s. Abb. in Amishai-Maisels 2004: 129). Seine Christusidentifikation, von Cendrars dichterisch besungen, setzt Chagall selbst in seinen russischen und jiddischen Gedichten fort (s. Chagall 67: 97, 1975: 17, 66 und 81, s. hierzu Amishai-Maisels 1982: 85–104). Auch Majakovskij hat sich auf schrille Weise in Oblako v štanach (Wolke in Hosen; 1914/15) zum „golgofniku oplevannomu“ (bespuckten Golgathaer) stilisiert (1955 Bd. 1: 190; s. Kasack 2000: 165–169). Das Kreuz und der gekreuzigte Jesus sind ebenfalls ein wichtiger Topos der jiddischen Literatur im 20. Jh. (s. hierzu Roskies 1985:  258–310 und Hoffman 2007). 184 Anna Seghers (eigentlich Netty Reiling) hat zu Rembrandts Auseinandersetzung mit dem Judentum promoviert (Seghers 1983). Auch Erwin Panofsky hat sich in Anlehnung an Georg Simmel damit befasst (1998: 971–1006). Rembrandt und Chagall verbindet die intensive Verbindung zu ihren Ehefrauen: Bei Rembrandt ist es Saskia, bei Chagall Bella. Beider Schaffen ist auch im Kontext ihrer Konkurrenten ähnlich: Bei Rembrandt ist es Rubens, bei Chagall vor allem Malevič. Beide setzen sich in Öl und Gravur mit der Bibel auseinander. Rembrandt ist für Chagall bei seinem Radierwerk zur Bibel ein wichtiger ikonographischer Bezugspunkt (s. Kap. 12). Beide befragen über Jahrzehnte hinweg im Autoportrait ihr Selbst. Und: Bei beiden Künstlern halten sich hartnäckig Mythen, die – um mit Ernst van de Wetering im Bild zu bleiben – „den Blick“ auf ihr Schaffen und ihre Person „verstellen“ (Wetering 2006: 65). 185 Zur Analyse dieses programmatischen Bildes s. Harshav 2006a: 87f: Harshav bringt den Bildhintergrund mit dem Pfau aus der jüdisch-jiddischen Folklore in Verbindung. Aleksandra Šatskich deutet Russland, den Eseln und anderen als kosmologisches Bild (2000: 200–268; s. auch nä. Kap.). Möglicherweise spielt Chagall mit dem Bildtitel auf die von Michail Larionov 1912 gegründete Künstlervereinigung Oslinyj chvost (Eselschwanz) an, in der Michail Larionov, Natal’ja Gončarova, aber auch Tatlin und Malevič viel Neoprimitivistisches zeigen. Larionov wiederum knüpft mit diesem provokanten Gruppennamen an einen Pariser Kunstskandal von 1910 an, als im Salon des Indépendants als Angriff auf einen elitären Kunstbegriff ein mit einem Eselsschwanz gemaltes Gemälde gezeigt wurde. Kunstkonservative Kreise reagierten empört (Thun 1993: 38; Chardžiev 1976: 33). 186 Im Jiddischen stünde auch das aus dem Deutschen abgeleitete „Rusland“ bereit. Šatskich sieht Paris als Hypostase von Babylon, Vitebsk als Chagalls irdisches Jerusalem (2000: 260–268). Harshav entziffert das jiddische Wort für Russland als leicht jiddisiertes „Rossiye“ (2006a: 88).

Das inszenierte Ich oder: die Geschichte einer Ziege  | 69 Formensprache als der kulturell Andere. Die Exotik der hebräischen Schriftzeichen wiegt hier mehr als ihre Semantik. Mit expliziten kulturellen Zuschreibungen erfindet sich Chagall für den Blick von außen, der, ist er kein Jude, in der Regel an der denotativen Entschlüsselung der Grapheme scheitert. Auch die Entzifferung der sieben Finger als implizite Umsetzung der jiddischen Redewendung „mit ale zibn finger“ (dt.: „sich einer Sache ganz und gar widmen“) gelingt nur in Kenntnis der jiddischen Kultur und Sprache (Amishai-Maisels 1978: 76–93, Harshav 2006: 88–93).187 Chagalls Selbstbildnis mit Farbpalette bildet zum Selbstportrait mit sieben Fingern den Gegenpol einer selbstbezogenen Introspektion. Anders als dort schlagen der Rausch der Farben und eine fast diabolisch-manierierte Identifikation mit der geometrischen Formen­ sprache des Kubismus in die vornehme, apollinische Kühle und Ruhe von Malduktus und Malersubjekt um.188 Chagall meditiert hier über den Schaffensakt, durch den er sich von innen heraus definiert. Er sinnt produktions-, nicht rezeptionsbezogen über den Wesenskern künstlerischen Schaffens nach. Eine explizit vorgenommene jüdische Zuweisung fehlt. Chagall nimmt eine lokale Verortung seines Schaffens nicht in Lettern, sondern auf der Leinwand vor: Vitebsk als Ort des Malens verbindet sich so mit seinem Malakt.

Merleau-Pontys „Philosophie des Auges“ und Chagalls „Revolution des Sehens“ „Wer auch immer der Maler sei, während er malt, praktiziert er eine magische Theorie des Sehens.“ (Merleau-Ponty 1984: 19; Hervorhebung M. M.-P.) Was auch immer der Maler malt, er „bringt seinen Körper ein“ (Paul Valéry, zit. nach Merleau-Ponty 1984: 15). Und: Wer auch immer der Maler sei, der sich malt, während er dies tut, projiziert er diese beiden Komponenten, das Körperliche des Sehens und das Sichtbarmachen des eigenen Körpers, ins Bild. Diese Reflexion des (sich) Sehens erhebt er durch die Art und Weise der ästhetischen Gestaltung des gemalten Malaktes in eine höhere Potenz. All diese Präsuppositionen treffen auf Chagalls Selbstbildnis mit Farbpalette zu. Möglich wird dies, indem der Künstler erstmalig (?) seinen sich und die Welt befragenden Blick des Autoportraits nicht auf den Betrachter richtet, an dem sich das Ringen um Identität entzündet, sondern auf die vor ihm stehende ‚Leinwand‘.189 Gängige Kernfragen zum 187 In der Regel arbeitet Chagall, was seine jüdische Identität angeht, im Autoportrait sehr subtil. Er setzt in einigen Autoportraits visuelle Umsetzungen jiddischer Redewendungen ein. Erratisch ragt hier das die Religion dominant setzende Selbstportrait mit Phylakterien (nach 1923) heraus. 188 Auch wenn Russland und Vitebsk die ersten Bildthemen von Chagalls Pariser Zeit sind, verliert die (russische) Realität in Paris mehr und mehr ihren Einfluss auf Chagall: „Šagal prinjal kubističeskoe utverždenie ploskosti cholsta v kačestve samodovlejuščej, pervorodnoj sfery razvertyvanija živopisnogo dejstva.“ (Chagall übernahm die kubistische Affirmation der Leinwandfläche in ihrer Eigenschaft als sich selbst genügende, ursprüngliche Sphäre, in der sich der malerische Akt entfaltet; Šatskich 2000: 261). 189 Außer den bereits genannten und im Folgekapitel behandelten Autoportraits sind die wichtigsten Selbstbildnisse en face in chronologischer Reihenfolge: Selbstbildnis mit weißem Kragen (1914; Abb. in Baal-Teshuva 2008: 6), zwei Selbstbildnisse von 1914 – dasjenige in der Sammlung Im Obersteg zeigt ihn als enigmatisch-dämonischen Eulenspiegel und stellt formalästhetisch einen deutlichen Bezug zu

70  |  Identität interkulturell und intermedial Künstlersubjekt, die im Rahmen der Gattung Selbstbildnis behandelt werden (Identitäts­ suche; Konflikt von Innen und Außen), werden – wie im Bild selbst – an die Seite gedrängt. Dieses bildräumliche, semantische und intentionale Zurückweichen schafft Platz für den Schaffensakt, der  – typisch für Chagalls ironischen Umgang mit den Dingen  – die vermeintliche gegenständliche Leere der Bildmitte füllt. Die steigenden und fallenden Linien, durchleuchtet vom weißen Licht (der Inspiration?) im Bildzentrum stehen für das Hin und Her zwischen Bildschöpfer und -schöpfung. (Chagall wiederholt diese Bezogenheit des Künstlerblicks auf die Leinwand in einem seltsam anmutenden Bildnis von 1919, in dem er sich, der realiter nie Malevič folgen wollte, als suprematistischer Maler imaginiert.)190 Chagall macht aus der Genese des Bildes ein Bild, aus dem „Sinn im Entstehen“, auf den Merleau-Ponty die Bestimmung der Malerei schlechthin gründet (1984: 100), das Thema, das in der Betitelung des Bildes zunächst gelöscht ist.191 Bemerkenswert an diesem Selbstbildnis ist nicht so sehr Chagalls Dekonstruktion der ikonographischen Gepflogenheiten des Autoportraits, das einen unsichtbaren Spiegel voraussetzt (vgl. Derrida 1997b: 64). In einigen Selbstbildnissen legt er das Sich-Sehen im Spiegel offen, indem er sich – wie Cézanne in seinem Selbstbildnis mit Palette (1890) – als links malender Künstler malt (er war Rechtshänder). 192 Chagall reiht sich durch die interikonischen Bezüge in die lange Tradition der Selbstdarstellungen. Zugleich entblößt er das Verfahren der Selbstporträtierung. Die angenommene Authentizität des Autoportraits entlarvt er als Illusion.193 Damit macht er erneut den Schaffensakt zum Helden des Bildes, diesmal auf der Achse zwischen dem Betrachtenden und dem Betrachteten. Wir blicken – zeitlich verzögert eine Teiloperation des Malaktes wiederholend – in einen ‚Spiegel‘ und seiner Pariser Zeit her (s. Weber 2004: 109) – und Selbstbildnis vor dem Haus (1914, Abb. in Burda 2006: 59). In keinem anderen Lebensabschnitt porträtierte sich Chagall so häufig wie 1914 und 1915 in Vitebsk (Meyer 21968: 221). In späteren Selbstbildnissen finden sich beide Modelle, der Selbstbildner mit Blick auf die Binnenleinwand (vgl. das den Opatoshus gewidmete Selbstportrait an der Staffelei, 1952; Abb. in: Koller 2009: 19) oder aus dem Bild heraus auf den Betrachter (z. B. Künstler mit Staffelei, 1955; Abb. in: Baal-Teshuva 2008: 11). 190 Chagalls widernatürlich langer Arm auf diesem Bild erinnert an den produktiven Arm (der Bauern, der Handwerker) in zahlreichen Bildern Malevičs, man denke an Heumahd (1909) oder an den berühmten Schleifer von 1912 (Abb. in Leek 1999: 97, Guercio 1988: Tafel 34); für diesen Hinweis danke ich Walter Koschmal. 191 Merleau-Ponty bezieht sich hier auf Paul Ricœur und dessen Begriff des „avènement“ (Auftreten; 1984: 100). Zur Untermauerung liefert er eine beeindruckende Beschreibung von Matisse, dessen Pinselführung während des Malprozesses in Zeitlupenaufnahme festgehalten wurde (1984: 75f.). MerleauPontys Reflexionen lassen sich mit dem „fruchtbaren Augenblick“ in Verbindung bringen, von dem Lessing spricht (s. Wetzel 1997: 132). 192 Vgl. Selbstbildnis mit sieben Fingern (1913–14), Selbstbildnis (1914) oder Selbstbildnis an der Staffelei (1919). In seinen Illustrationen zu Mërtvye duši (Die toten Seelen, 1923–1925) zeigt er auch Gogol’ als Linkshänder. 193 Wie bei Cézanne oder bei Janis (Ivan) Tilburg (1880–192), der sich 1915 im Selbstportrait ebenfalls als Linkshänder darstellt und in der Vitebsker Kunstschule 1919 das Studio für Bildhauerei betreut (Šatskich 2000: 31–32), bestätigt sich hier Derridas anhand von Henri Fantin-Latours Selbstbildnissen entwickelte Hypothese, wonach ein „Zeichner sich selbst beim Zeichnen vor einem Spiegel“ zeichne (1997b: 63f.).

Das inszenierte Ich oder: die Geschichte einer Ziege  | 71 sehen Chagall so, wie er sich während des Porträtierens gesehen hat, nämlich mit dem Pinsel in der linken Hand. Chagall macht aus uns Betrachtern Kunstschaffende. Für einen Augenblick werden wir – in Bezug auf den Künstlerkörper – zu Chagall. Was den Blick des Künstlers anbelangt, bleiben wir Zuschauer; Identität und Distanz halten sich so die Waage. Viele Maler, unter ihnen Delaunay in seinem 1957 erschienen Du cubisme à l’art abstrait, haben über den „mechanischen Trick“ (zit. nach Merleau-Ponty 1984: 22) des Spiegels nachgesonnen, in dem sie die „Metamorphose des Sehenden und des Sichtbaren erkannten“ (ebd.). Mit Delaunay, der theoretisch und praktisch die Simultaneität der Farben propagiert, ist Chagall während seiner ersten Pariser Jahre gut bekannt. Im Wissen um dessen Orphismus und Kubismuskritik generiert er die zahlreichen Sinnsimultaneitäten in Selbstbildnis mit Farbpalette. Chagall führt mit geschickten Identitätsspiegelungen, aber auch mit Realitäten und Dimensionen Malen als Metamorphose vor. (Merleau-Ponty nennt dies die „Metamorphose des Seins in seinem [des Malers; S. K.] Sehen“; 1984: 20, vgl. auch S. 78). Blickt man auf die fiktive Leinwand auf der realen Leinwand, so inszeniert Chagall dort das Umschlagen „der Dinge in ihr Gesehenwerden, die doppelte Zugehörigkeit der Dinge zur Welt im Großen und zu einer kleinen, persönlichen Welt [Chagalls; S. K.]“ (Merleau-Ponty 1984: 24). Blickt man auf Chagall, so sieht man den Künstlerkörper als Ursprung des Erschauens und Erschaffens des Bildes. Der konzentrierte, auf die Leinwand (auf das bereits Geleistete und noch zu Leistende?) gerichtete Blick tastet die weitere Genese des Bildes ab, während die Malerhand innehält. Chagall führt die Verschränkung von Tasten und Sehen vor, einen Chiasmus Merleau-Pontys, den Derrida weiterentwickeln wird (s. Wetzel 1997: 146). Dieses „Umschlagen des Sehens in ein blickendes Tasten und umgekehrt des Tastens in begreifendes Sehen“ (ebd.) verwischt die Grenze zwischen dem Sein des Künstlers und dem Sein außerhalb seiner selbst. Merleau-Ponty beschreibt dies als „Einkörperung des Sehenden in das Sichtbare“, als „Suche nach sich selbst im Sichtbaren, dem es zugehört“ (1986: 173). Hinter dieser Überlegung steht indirekt die Frage nach künstlerischer Ursache und Wirkung, der sich Merleau-Ponty kunstphilosophisch und Chagall praktisch annähern: „Das, was man Inspiration nennt, sollte wörtlich genommen werden: Es gibt tatsächlich eine Inspiration und Expiration des Seins, ein Atmen im Sein, eine Aktion und Passion, die so wenig voneinander zu unterscheiden sind, dass man nicht mehr weiß, wer sieht und wer gesehen wird, wer malt und wer gemalt wird.“ (Merleau-Ponty 1984: 21) Chagall reflektiert dadurch ästhetisch den Ursprung künstlerischen Schaffens. Wie John Berger in seinen „Schritten zu einer kleinen Theorie der Sichtbarkeit“ (2003: 11–24) räumt er den Dingen das prozesshafte Mitwirken an der Kunst ein, das die vermeintliche Schaffenshoheit durch das künstlerische Subjekt relativiert: „Es ist die Illusion der Moderne (und die Postmoderne konnte nichts daran ändern), dass der Künstler ein Schöpfer ist. Eher ist er ein Empfänger. Was wie eine Schöpfung wirkt, ist ein Prozess, in dem das vom Künstler Empfangene eine Form findet.“ (Berger 2003: 19)194

194 Hier kehrt generalisiert die mittelalterliche Vorstellung wieder, wonach der Künstler sein Bild von Gott erhält.

72  |  Identität interkulturell und intermedial Genau dies reflektiert und repräsentiert Chagall in einer Darstellungspraxis, die die dreidimensionale Außenwelt mit der zweidimensionalen Welt der Leinwand verquickt. Was war zuerst: die Welt oder das Bild? Kein Schatten trübt die Leinwand. Sie erscheint als leere Matrix (als Mutterboden) und als „Mutterland“ (rodina, so der russische Begriff für Vaterland), als reale Heimat Chagalls zugleich. Sieht Chagall nun die leere Leinwand, auf die er Vitebsk aufträgt, oder sein – imaginiertes? – Vitebsk, das er auf die Leinwand überträgt? Die Leinwand gleicht plötzlich einem changierenden Tuch, einem „Oder“, das es nur dank der Existenz dieser beiden Gegensätze gibt. Der Rand des Bildes im Bild, der die Grenze zwischen Welt und Bildfiktion markiert, wird durch die Häuser, die beiden Welten angehören, transzendiert.195 Zu allem Überfluss lässt sich das Bild nicht nur von links nach rechts, von rechts nach links oder von unten nach oben lesen (um die Bildebenen zu betonen), sondern auch um 90 Grad nach rechts drehen. Chagall schwebt nun übermannshoch über der Stadt-Leinwand, nimmt wie so oft die Vogelperspektive ein. Die Nähe zu Über der Stadt (1914–1918) und zu Der Spaziergang (1917–18) ist unübersehbar (Abb. in Benesch/Brugger 2006: 94f ). Chagall imaginiert ‚sich und sein Dorf‘ im Flug auch autobiographisch: „[...] je vole au-dessus du monde“ (Chagall 1931: 106). In der Tat malte Chagall des Öfteren seine Bilder auf dem Kopf stehend (Chagall 1967: 106). Die zu bemalende Leinwand dreht er um, auch wenn er dies im Bild Selbstportrait an der Staffelei (1914/22; s. nä. Kap.) genau andersherum festhält. Das komplexe Mit- und Ineinander von Ismen, Dimensionen und Farbfunktionen ist Resultat von Chagalls revolutionärem ‚neuem Sehen‘, mit dem er ganz in der Tradition des russischen Formalismus steht.196 Es verwandelt Malerei in eine „Sprache zweiter Potenz“ (1984: 75).197 Chagalls Selbstbildnis mit Palette von 1918 exemplifiziert dies in meisterhaft konstruktivistischer Weise: Wir sehen eine Palette mit ‚Augen‘ (Abb. in: Benesch/Brugger 2006: 104). Angeleitet von formalistischen Theorien, die er kritisch rezipiert (vgl. 1984: 107), führt der französische Philosoph in „Das mittelbare Sprechen und die Stimmen der Malerei“ Malerei als „kohärente Deformierung des Sichtbaren“ vor (1984: 108; Hervorh. M. M.-P.). Ähnlich wie die Literatur, jedoch in einem völlig anderen medialen Vollzug, eröffnet die Malerei eine neue Welt, „nämlich diejenige, die der Maler sieht, und die in seiner eigenen Sprache nur von jenem namenlosen Gewicht befreit ist, das sie zurückhielt und in der Mehrdeutigkeit verharren ließ“ (1984: 86). In Chagalls Ästhetik, die von einer plumpen außerästhetischen Instrumentalisierung frei ist, begegnen sich Chagalls In-der-Welt-Sein und seine Imagination. Seine ästhetische „Traumwelt“ (Merleau-Ponty) meint in ihrem Rückbezug auf das Figürliche, das Subjektive und das real Existierende, das sie niemals bloß

195 Zur dritten Dimension s. Merleau-Ponty 1984: 26. 196 Zum von Viktor Šklovskij eingeführten Prinzip des „neuen Sehens“ s. Hansen-Löve 1978: 19–24. 197 In diesem Begriff Merleau-Pontys klingt Lotmans Theorem von Kunst als „sekundär modellierendem System“ an (s. Kap. 2, Fußn. 49). Merleau-Ponty entwickelt, ausgehend von Sprachzeichen bei de Saussure, seine intermediale Philosophie einer sprechenden Malerei.

Das inszenierte Ich oder: die Geschichte einer Ziege  | 73 kopiert, auch die Autonomie der Kunst von theoretischen Programmen. Chagall hat sich einer Vereinnahmung durch welchen Ismus auch immer entzogen.198 In Selbstbildnis mit Farbpalette unterstreicht Chagall außer der Bedeutung des Schaffensaktes für seine Künstleridentität diejenige des Schaffensortes. In Text und Bild besingt er seine Stadt Vitebsk, die ihn hervorgebracht hat und die er hervorbringt – oder, wie Merleau-Ponty sagen würde, die ihn sieht und die er sieht. Vitebsk ist für Chagall mehr als nur Geburtsstadt. Es ist die Stadt, die seine Künstleridentität begründet. Es ist die Stadt, die in Chagalls (wertendem) Koordinatensystem zum Referenzpunkt für Paris wird und nicht umgekehrt: „Paris, tu es mon second Vitebsk“, sagt Chagall in Ma vie (1931: 170). Vitebsk ist zugleich Chagalls ‚zweites Jerusalem‘: Mit Vitebsk, einem festen Bestandteil seiner Ikonographie, variiert Chagall den Topos von der himmlischen Stadt. In Bildern und Gedichten kehrt sein irdisch-himmlisches VitebskJerusalem nach oder gerade wegen seiner realen Verwüstung wieder (Šatskich 2000: 266– 268). Auf Vitebsk verfasst er 1938 das Gedicht Di shtot di vayte (Die weite Stadt oder Die weit entfernte Stadt): Es klingt in mir di shtot di vayte di kloysters vayse un di shuln. di tir iz ofn. Der himl blit, dos lebn flit alts vayter. Es benken in mir di gasn krume, matseyves groe, – oyf a barg es lign tif di yidn frume. In farb un flekn, in likht un shotn, shteyt mayn bild fun vaytn, ikh vil mit dem mayn harts fardekn. Ikh gey tseflosn un tseflakert, es blitsn yorn. Mayn velt in kholem kumt tsu mir, un ikh – ikh ver farlorn.

198 Das bekannteste Beispiel sind die Versuche, Chagall als Surrealisten einzureihen. Chagall jedoch kann sich mit deren „écriture automatique“ nicht identifizieren (vgl. Wullschlager 2008: 321f.).

74  |  Identität interkulturell und intermedial Nit zukht mikh haynt, nit zukht mikh morgn, ikh bin antlofn fun zikh aleyn, ikh vel far zikh a grub farzorgn, ikh vel tsegeyn in groys geveyn. (Chagall 1967: 92–93)199 In mir erklingt die Stadt, die weite, Die weißen Kirchen, die Synagogen. Die Tür ist offen. Der Himmel blüht. Das Leben fliegt immer weiter. Ich sehne mich nach Straßen krummen, Grabsteinen grauen, – auf einem Berg in der Erde tief liegen Juden fromme. In Farbe und Flecken, in Licht und Schatten, steht mein Bild von weitem da, mit ihm will ich mein Herz bedecken. Ich gehe konturlos und entflammt Jahre blitzen auf. Meine Welt kommt im Traum zu mir Und ich – ich werde mich verlieren. Sucht mich nicht heute und nicht morgen, vor mir selbst bin ich davon, werde mir eine Grube besorgen, werde vergehen in großem Weinen.

Die Grenze zwischen Vitebsk als realer und als gemalter Stadt ist auch im Gedicht fließend. Wie in Selbstbildnis mit Farbpalette changiert Vitebsk zwischen realer Existenz und Erin­ nerung. Es existiert als Gedächtnisbild im Dichter-Subjekt, dessen Imagination durch den Anblick Vitebsks als gemaltes Bild stimuliert wird – um den Preis, dass der Dichter in seiner eigenen Raumzeit entwurzelt wird, seiner selbst verlustig geht. Im Gedicht und im Selbstportrait wird das (Binnen-)Bild zum „locus memoriae“ für den „genius loci“ Vitebsk. In

199 Das Motiv des (elterlichen) Grabes, das auch in Eygns und Ma vie sowie im autobiographischen Poem Mayn vayter heym (1936–1937) eine Rolle spielt, kehrt hier wieder.

Das inszenierte Ich oder: die Geschichte einer Ziege  | 75 beiden Fällen ist das bild- und wortkünstlerische Schaffen Chagalls eine Gedächtniskunst ­als ars und vis.200 Chagalls ‚Revolution des Sehens‘ ist in der Verschränkung von Zwei- und Dreidimensionalität mehr als eine bloß formale Auseinandersetzung mit Cézanne, der – so Giacometti – in seiner Malerei immer die Tiefe suchte, oder mit Delaunay, der die räumliche Tiefe als „neue Inspiration“ der Malerei empfand (zit. nach Merleau-Ponty 1984: 33). An Chagalls Spiel mit Raumdimensionen und räumlicher Gestaltung haftet etwas Zeitliches. Es entspringt der mnemischen Energie seiner Bilder, aber auch ihrer formalästhetischen Faktur. Innerhalb der steigenden und fallenden Linien und der Konfrontation der Bildelemente und -ebenen entfaltet sich eine Narration.201 Sie erzählt von der Genese eines Bildes, von der Überwindung des Todes durch die Malerei und von der Subjektkonstruktion als wechselseitige Spiegelung von Welt und Künstler-Individuum. Sie erzählt von der Transitorik des Künstlersubjekts „unterwegs zu sich selbst“ und fasst das Transitorische künstlerischen Schaffens – mit Hei­ degger gesprochen – als ein „[U]nterwegs zum Bild“ (Wetzel 1997: 133). Sie erzählt aber auch die Geschichte dreier Revolutionen. Will man es nicht einfach bei Chagalls Alogik belassen, erhellen sie, warum eine rot-gelbe Ziege (und nicht etwa eine Kuh oder ein Hahn, die Chagall ebenso oft durch seine Bilder geistern lässt), an der Binnenleinwand angebunden, durch den kosmischen Raum der realen Leinwand fliegt.

Selbstbildnis mit Farbpalette 2 – Eine Ziege und drei Revolutionen Bei der Datierung von Chagalls Bildern ist Vorsicht geboten.202 Im Falle seines Selbstbildnisses mit Farbpalette darf man der Jahreszahl 1917 trauen – und alle Implikationen in die ikonologische Analyse des Bildes mit hereinnehmen, die diese Jahreszahl bereithält. Ein ikonographischer Vergleich mit Ölbildern aus demselben Jahr fördert eine gemeinsame Formensprache zutage: Chagalls sechs große Vitebsk-Gemälde der Zeit (Vitebsk vom Zadunov-Berg, Das blaue Haus, Das graue Haus, Der Marktplatz, Das rote Tor, Der Friedhof und Das Friedhofstor) 200 Die Unterscheidung von Erinnern als ars und als vis, also als Gedächtniskunst und als kreative Umformung von Erinnertem, geht auf Aleida Assmann zurück (2003: 27–32). Rainer Metzger behandelt in seinem einleitenden Beitrag zum Katalog der 2006/07 in Wien gezeigten Ausstellung Chagalls bildkünstlerische Mnemotechnik (2006: 13–20). Für Derrida bedeutet bereits der Moment des künstle­ rischen Abbildens das Umschlagen von Wahrnehmen in Erinnerung. Aus diesem Grunde operiert er „in fast allen Texten mit der anagrammatischen Doppeldeutigkeit zwischen regarder (schauen) und re-garder (zurück-bewahren/behalten)“ (Wetzel 1997: 134). 201 Olga Tasseva lehnt das narrative Element zugunsten der ästhetischen Diskontinuität von „Raum und Zeit“, von „gegenständlichen Zeichen und deren Beziehungen zueinander“ ab (1985: 211). Doch genau mittels der formalen und semantischen Interaktionen der Bildelemente kann sich eine Narration entfalten. 202 Vgl. die Zeichnung Erinnerung. Chagall datiert sie im Hinblick auf den thematischen Auslöser (Ausbruch des Ersten Weltkrieges); es muss jedoch um 1918 entstanden sein (Harshav 2004: viii). Auch Franz Meyer weist Chagalls Liebespaare, betitelt mit Meiner Frau gewidmet, als falsch datiert aus; entstanden seien sie 1916 und nicht, wie angegeben, im Jahre 1917 (21968: 244).

76  |  Identität interkulturell und intermedial sind ähnlich kubistisch in der Raumgliederung (Meyer 21968: 248; Bildkat. 249, 270–274). Die Reflexion des Malermetiers, das ihn zu dieser Zeit beschäftigt, äußert sich auch im ebenfalls stark kubistisch gegliederten Portrait, das Chagall von seinem ersten Lehrer Jurij Pen vor einer großen Staffelei (das Bildthema ist nicht zu sehen) mit unzähligen Portraits im Hintergrund in dessen Atelier anfertigt.203 Das Portrait, das Pen 1914 wiederum von seinem Schüler macht, zitiert er in seiner Selbstdarstellung von 1917: Hier wie da trägt er eine grüne Jacke mit großem weißen Kragen.204 Chagall erlebt die Februar- und Oktoberrevolution in Petrograd mit. Alte Bekannte aus seinen Pariser Jahren 1910–1914, Anatolij Lunačarskij vorneweg, arbeiten intensiv an der sozialistischen Umgestaltung des Lebens und der Kunst.205 Neben Vsevolod Mejerchol’d für das Theater und Vladimir Majakovskij für die Dichtung wird Chagall als Kunstkommissar gehandelt (Meyer 21968: 255). In die Euphorie der sozialistischen Revolution hinein rät ihm Bella, sich aus kulturpolitischen Aktivitäten herauszuhalten (Chagall 1931: 197; Meyer 2 1968: 255). Im November 1917 kehrt er mit seiner Frau und Töchterchen Ida nach Vitebsk zurück (Šatskich 2001: 21).206 Chagalls Entscheidung gegen die Kunstpolitik bedeutet einen Rückzug auf sich selbst, auf seine Heimatstadt und auf die Kunst. Sie bedeutet einen mächtigen Schub in Chagalls künstlerischer Entwicklung, die sich schon im ersten Revolutionswinter in Vitebsk in „vier großen Kompositionen, die das gemeinsame Leben des jungen Paares feiern“ (Meyer 2 1968: 255), manifestiert.207 Chagalls Selbstbildnis mit Farbpalette ist – mit dem (winter?) weißen Vitebsk auf der Leinwand  – die fünfte. Sie ist die Einzige, in der Chagall seine Individualutopie von politischer und ästhetischer Revolution – in Cézannes Terminologie – ‚malend denkt‘ (Merleau-Ponty 1984: 31). Chagall markiert in seinem Selbstbildnis von 1917 durch ein bildexternes und drei bildinterne Elemente die Sonderstellung der Farbpalette. Bereits der Bildtitel, ob nun von Chagall vergeben oder nicht, lenkt die Aufmerksamkeit darauf. Kompositorisch stellt sie das Bindeglied zwischen Kunstsubjekt und -objekt dar. Sie befindet sich auf einer ersten Darstellungsebene im Bild (das ins Bild ragende Dreieck ist sozusagen ganz oben), die symbolisch den Ursprung der Malerei markiert. (Im Anfang war für Chagall die Farbe, nicht der die Farbe 203 Von diesem verloren gegangenen Portrait existiert nur noch eine Schwarzweißaufnahme (s. Meyer 2 1968: Kat. 275). Es korrespondiert mit Chagalls Beschreibung der von Portraits überquellenden Kunstschule (1931: 89), was zwei Aufnahmen deutlich machen (Kučerenko/Cholodova 2006: 7 und 14). Chagall und Pen zogen damals gemeinsam durch Stadt und Umgebung und arbeiteten en plein air (Meyer 21968: 248). 204 Abb. in: Kazovskij 1992: o. S. Chagalls weiße Hand erinnert an die weißen Handschuhe aus Pens Gemälde. 205 Lunačarskij veröffentlicht am 14.5.1914 in Kievskaja Mysl’ (Kiever Gedanke) eine der frühesten positiven Kritiken zu Chagall (Abdruck in englischer Sprache in: Harshav 2004: 213–216). Nach der Oktoberrevolution wird er Narodnyj komissar prosveščenija (Volkskommissar für Aufklärung), vgl. hierzu auch Chagall 1931: 203–206. 206 Statt Chagall übernimmt dann David Shterenberg diesen Posten. 207 Es sind dies Der Spaziergang, Doppelbildnis mit dem Weinglas, Die Hochzeit und Über der Stadt (begonnen 1914; Meyer 21968: 255–256).

Das inszenierte Ich oder: die Geschichte einer Ziege  | 77 Auftragende.)208 All die Farben, die die anderen, ‚hinteren‘ Bildelemente formen und färben, sind auf der Palette enthalten: Braun für den Zaun, Grün für Chagalls Jacke, Blau für den zwischen Leinwand und Maler liegenden Raum, cremiges Weiß für das Bild auf der Leinwand in statu nascendi – und Gelb für die ins Rot hinüberwechselnde Ziege. Diese Farbkreise heben sich vor der warmen orange-roten Farbgebung der Palette ab, die formal Äquivalenzen schafft zwischen Dingen, die zunächst nichts gemein haben. Rot ist der Pinsel, rot sind das Haus und der Kaminrauch, rot sind die Ziege und der pinkelnde Mann. Das RotOrange erfüllt neben der ästhetischen eine symbolische Funktion, die nach einer kulturologischen Auflösung verlangt.209 Rot war die Farbe der Revolution (zu Argumentationszwecken sei diese Plattitüde gestattet). Chagall übersetzt die revolutionäre Konnotation der Farbe in sein Bild; die Farbe Rot lädt er so mit einer revolutionären Potenz auf, die sich auf seine Leinwand – und damit auf seine Malerei  – überträgt. Farbpalette und Haus sind durch die Leiter miteinander verbunden. Es handelt sich hierbei um den Prototyp ostjüdisch-(bela)russischer Häuser – und vielleicht um das Haus, das in Vitebsk sein Atelier (bei Javič) beherbergt, das Haus, von dem aus er wieder und wieder seine Geburtsstadt malt (1931: 117).210 Das Häuschen ist auf dem Weg ins Bild. Im Selbstportrait verknüpft Chagall dessen real-ontologischen Status mit dem symbolischen: Das Haus figuriert als Ort von Chagalls Kunstproduktion und als Symbol für seine Kunstrevolution. Es bringt – im Bild – auf seinem Weg ins Binnenbild die Farben von Chagalls Palette mit, mit denen er realiter – im Atelier – Vitebsk auf seinen Gemälden kleidet. Nicht nur das Haus, auch der weiße, sonderbar gebogene Finger verbindet Palette und Leinwand. Der Zeigefinger weist auf den gezackten Lattenzaun, der Chagalls Erinnerungen ebenso prägt wie zahlreiche seiner Bilder, und einen urinierenden Mann (vgl. Über der Stadt; Chagall 1931: 47, 50, 56 et passim). Der Maler ist so frei, das Urinieren mit einem hellen Bogen darzustellen. Finger/Malakt und Urin/Urinieren treten in der Farb- und Formgebung in eine Äquivalenzbeziehung. Chagall und den pinkelnden Mann (vielleicht ein Jude, da 208 Farbe ist für ihn nicht bloßes Pigment, sondern – auch in seiner Literatur – der Ort der kreativen Ausfaltung seiner Imagination. 209 Erwin Panofsky erschloss für die Perspektive in der Malerei eine symbolische Funktion (1994; Erstausgabe 1924/5 durch Friedrich Saxl). 210 Vgl. Chagall 1931: 56. Eine frühe Aufnahme zeigt Holzanbauten im Hofe seines Wohnhauses in der Pokrovskaja ulica (Pokrovskaja-Straße; Harshav 2004: 49). Bella, die ihm Modell steht, lässt Chagall eines Nachts, als die Tür versperrt ist, durch das Fenster seines Ateliers nach draußen (1931: 120). In Über der Stadt, an dem er parallel gearbeitet haben könnte, zeigt er ebenso wie im Bild Die roten Häuser von 1922 ein solches Haus mit Leiter und Anbau rechts. Die Leiter führt im Bild wie in Wirklichkeit zu dem Ort, von dem aus er die Stadt überblickt (vgl. Chagall 1931: 22). Beispiele urinierender oder defäkierender Menschen in Chagalls Kunst sind Über der Stadt (1914–1918), die Illustration Haus in Peskovatik (1922) und das farbige, eben erwähnte Pendant Die roten Häuschen (s. Compton 1995, Abb. 17 und 18) und natürlich Chagalls Einführung in das jüdische Theater (1920). Hier pinkelt ein Mann – ist es der Maler selbst? – auf ein Schwein. Gedeutet wird diese Detailszene aus der großformatigen Einführung als ‚Akt der Unabhängigkeit‘ des jüdischen Künstlers von der ihn dominierenden, christlichen Kultur (das Schwein steht als nicht koscheres Essen metonymisch für den Christen, s. Harshav 1992: 33, 2006a: 189).

78  |  Identität interkulturell und intermedial bärtig und mit der typischen jüdischen Schirmmütze ausstaffiert) verbindet das Phallische der Fingerstellung und des Urinierens. Es mag für des Künstlers Schaffenskraft stehen; es meint aber, nimmt man den Zaun hinzu, auch den Bruch mit den Tabus. Man uriniert ebenso wenig auf offener Straße wie man als Jude Maler wird. Ähnlich dem roten Haus ist der Zaun als Repräsentant der realen Vitebsker Zäune und als Symbol des Judentums in seiner Ambivalenz zwischen natürlicher Existenz und kultureller Codierung zu sehen. „Machet einen Zaun um die Tora“ – heißt es in den Sprüchen der Väter (Pirke Avot 1, 1).211 Die jüdische Tradition (gemeint ist vor allem der Talmud) ist dieser Zaun – und tatsächlich findet sich in jüdischen Abbildungen ein Zaun um die Tora.212 Die einen überwinden das Begrenzende des Zauns schreibend, die anderen malend. Julian Stryjkowski hat in seinem Roman Głosy w ciemności (Stimmen in der Finsternis, 1946; veröff. 1956) mit dem Blick seines Protagonisten, des kleinen Aronek, und dessen Freund Kiwe-Łoszak durch ein Loch im Zaun in den „księży sad“ (Garten des Priesters) den literarisch wohl schönsten Ausbruch aus der ostjüdischen Welt geschaffen (1957: 129–145).213 Chagall ist subversiver. Bei ihm ist der Tabubruch, der Umsturz der traditionellen Werte gesteigert durch die karnevaleske Umkehrung des Hohen und des Niedrigen. Er bricht nicht nur mit dem zweiten mosaischen Gesetz, er durchsetzt seine Bilder immer wieder mit urinierenden und defäkierenden Gestalten. In strenger vertikaler Bewegung wandert die Farbe Rot von der Palette zur Ziege: Auch hier gilt die Doppelung des Bildzeichens als ikonisches und als symbolisches.214 Ziegen gab es zuhauf in den einfachen ostjüdischen Haushalten. Zugleich ist die Ziege ein Zentralsymbol des Judentums. Aufgrund unterschiedlicher tanachischer, talmudischer und volkstümlicher Verwendungen ist ihr ein reiches mythisches Leben beschieden: In Fortsetzung eines heidnischen Brauches schicken die Juden, so Leviticus 16, 5–10, zwei Ziegenböcke und einen Widder in die Wüste. Einer der Ziegenböcke ist für Azazel bestimmt. Der andere entsühnt die Sünden der Juden vor Gott. In den Literarisierungen Sholem-Aleykhems, Perets’ oder von Der Nister lebt die Ziege in der modernen jiddischen Literatur fort.215 Als 211 Zitiert wird aus dem babylonischen Talmud (bT 1996 Bd. 9: 666). In den Sprüchen der Väter heißt es in III, 17: „R. Aqiba sagte: Scherz und Ausgelassenheit verleiten den Menschen zur Unsittlichkeit. Die Überlieferung ist ein Zaun für die Tora, die Zehntabgaben sind ein Zaun für den Reichtum, Gelübde sind ein Zaun für Enthaltsamkeit, und Schweigen ist ein Zaun für die Weisheit.“ (bT 1996 Bd. 9: 673) 212 Vgl. Darstellungen des Berg Sinai mit einem Zaun auf Toramänteln oder den Kupferstich von J. Herz (1826; Abb. in Wischnitzer-Bernstein 1935: 44 und 46). 213 Głosy w ciemności entsteht in Moskau unter dem Eindruck des Warschauer Ghettoaufstandes und wird erst 1956 veröffentlicht. Zu Stryjkowski s. Stryjkowski/Szewc 1991, Kot 1997, Pacławski 1999 und Zanthier 2000. Der Held des Buches, der kleine Aronek, dessen Lebensweg in Echo (1988), dem vierten Teil von Stryjkowskis Romantetralogie, weiterverfolgt wird, sollte als Widerstandskämpfer im Warschauer Ghetto enden. 214 Auf dieses Umschlagen des Realen ins kulturell Codierte geht auch Rainer Metzger (2006: 16) ein. 215 S. beispielsweise Sholem-Aleykhems A mayse on an ek: aroysgenumen fun an altn pinkes un baputst (1901, Eine Geschichte ohne Ende: einem alten Pinkas [Gemeindechronik] entnommen und ausgeschmückt), Der farkishefter shnayder (Der verzauberte Schneider, 1901), Motl Peyse dem khazns (Motl Peyse, der Kantorssohn, unvollendet), der mit seinem Bruder des Nachts unwissentlich zwei Ziegen schwarz färbt, als die beiden sich einer Unmenge von Tinte entledigen oder Der Nister, A nozir in midber un a tsig (Ein

Das inszenierte Ich oder: die Geschichte einer Ziege  | 79 Teil des Kinderliedes rozhinkes mit mandlen (Rosinen mit Mandeln) und besonders als Protagonistin der aramäischen Haggada-Erzählung Khad Gadya (Eine kleine Ziege) ist sie fest im kollektiven Gedächtnis der Ostjuden verankert.216 Lisickij, der sich zwischen 1917 und 1920 der Avantgarde, der jüdischen Kulturrenaissance und der Revolution gleichermaßen verschrieb, versieht 1917 und 1919 die Erzählung vom unsterblich gewordenen Zicklein, die am ersten Pessachabend vorgelesen wird, mit Illustrationen.217 Inhaltlich und ästhetisch spiegeln sie seinen revolutionären Geist wieder: Statt eines alten Mannes ist die weiße Ziege, die sinnbildlich für das jüdische Volk steht, von einem Jungen (= die Revolution) begleitet (Abb. in: Hazan-Brunet 2009: 132–134); am Ende der Fassung von 1919 ist der Todesengel tot und nicht, wie in einer früheren Version von 1917, erst im Sterben begriffen. Der tatsächliche Sieg der Roten über die Weißen begründet diese ästhetische Untermauerung des Sieges der Revolution (Birnholz 1973: 132, Kampf 1990: 37). Chagall färbt seine Ziege Selbstbildnis mit Farbpalette rot: Die Revolution (der Kunst) betrifft auch die Juden. Tatsächlich bedeutet die Revolution von 1917 erstmals deren faktische rechtliche und politische Gleichstellung (Haumann 51999: 190–196). Die Revo­ lution bringt (zunächst) auch die Freiheit der Kunst – und der kunstschaffenden Juden. Innerhalb der Ikonographie von Chagalls Selbstbildnis haben sich Ursache und Wirkung jedoch umgekehrt: Der Maler Chagall instrumentalisiert im Revolutionsjahr die Farbe Rot für seine Revolution der Kunst und des Judentums. Der globale Umsturz, der das Russische Imperium erfasst, ist im individuellen Umsturz gespiegelt, den Chagall der Kunst (metonymisch repräsentiert durch die Leinwand) und den Juden (repräsentiert durch die Ziege) anbietet. Die Ziege befreit das Bild aus einer allzu eindimensionalen Fixierung auf das Jahr 1917. Ein Jahr, bevor er sein Selbstbildnis mit Farbpalette anfertigt, illustriert Marc Chagall eine Erzählung aus Yitskhok Leybush Perets’ Folkstimlekhe geshikhtn (Volkstümlichen Geschichten, 1904–1914; s. Kap. 6) – und liest im Zuge dessen vielleicht auch dessen Erzählung Hisgales, oder di mayse fun tsignbok (Die Offenbarung oder: Die Geschichte vom Ziegenbock, 1904) aus der Sammlung Khsidish (Chassidisches, verfasst v. a. zwischen 1899–1901).218 Perets’ Ziegen­ bock kann sich, nachdem er sich von heiligem Gras, das um die Ruine eines jüdischen Einsiedler in der Wüste und eine Ziege, 1922/23). Leyb Kvitko hat das in Deutschland unter dem Titel Der Wolf und die sieben Geißlein bekannte Märchen ins Jiddische übersetzt (A tsig mit zibn tsigelekh/Eine Ziege und sieben Zicklein; 1928). Hier versucht ein Bär, sich Zutritt zum Häuschen der sieben Zicklein zu verschaffen. 216 Zum Narrem in Khad Gadya, das in mehreren Kulturkreisen existiert, s. Gal-Ed 2001: 57–67. 217 Der Text der Erzählung ist eine Allegorie auf die Überwindung des Todes. Lisickij gestaltet daneben die Fahne, die am ersten Mai 1918 über den Roten Platz getragen wird, und Lenins Redepodium (1920/1924). Parallel illustriert er jiddische (Kinder-)Bücher (s. Kampf 1990: 35–40; Hazan-Brunet 2009: 241). Das Motiv von Khad Gadya, vom italienischen Liedermacher Angelo Branduardi als Mäuschen in einen anderen Kontext übersetzt, ist auch im russischen Volksmärchen vertreten. 218 Perets 1946 Bd. 4: 202–208. Hisgales, oder di mayse fun tsignbok stammt aus der Reihe Reb Nakhmenkes mayses (Geschichten Rabbi Nachmans), die innerhalb der Chassidischen Geschichten, so die gängige deutsche Bezeichnung der Sammlung, einen eigenen Zyklus bilden. „Hisgales“ bedeutet im engeren chassi-

80  |  Identität interkulturell und intermedial Gebetshauses wächst, ernährt hat, mit seinen Hörnern in den Himmel hängen. In den himmlischen Sphären fragt er nach der Ankunft des Messias. Zur Antwort „ziftst men, baym kise-hakoved“ (seufzt man vor Gottes Thron; 1946: 206) – denn genau dadurch beschleunigt man diese. Sind die Juden in Not, schüttelt die Ziege dann und wann Edelsteine herab, die eigentlich zu den Kronen der Gerechten gehören.219 Doch echte Gerechte werden immer seltener, und so sammeln sich die Juwelen ungebraucht an. Die armen Juden finden dann Splitter davon auf dem Marktplatz und tragen sie nach Hause. Der Ziegenbock bricht mit ihnen Stückchen Ewigkeit aus dem Himmel, mit denen die Juden ihre Lebenszeit verlängern, weil sie nicht Hungers sterben müssen. Die Erzählung ist damit keineswegs zu Ende. Die große Gabe und Güte des Ziegenbocks wird vernichtet, als die Juden entdecken, wie prächtig sich das Horn des Ziegenbocks als Tabaksdose ausnimmt. Um der weltlichen Leidenschaft des Tabakschnupfens willen mehrt sich der Ruhm des Ziegenbocks; doch sein Horn verringert sich. Damit werden ihm Wundertaten unmöglich.220 Die Erzählung vom Ziegenbock ist eine Binnenerzählung, Reb Nakhmenke in den Mund gelegt. Mit Reb Nakhmenke ist Rabbi Nachman ben Simcha von Bratzlav (jidd.: Nakhmen Braslever; 1772–1810) gemeint. Nachman, einer der großen Zaddikim des Chassidismus, ist mehr als eine Heiligenfigur. Er revolutionierte den Chassidismus als Narrator. Als Erster stellte er das Erzählen von Geschichten ins Zentrum seines Wirkens: „They say that stories put you to sleep,“ lehrt er seine Schüler, „but I say that through stories you can awaken people from their sleep.“ (zit. nach Roskies 1995: 25) Erzählen ist für ihn der (H)Ort des Göttlichen (vgl. 1 Chron 16, 24; Roskies 1995: 27).221 dischen Kontext konkret die Offenbarung eines Zaddiks (Frommen; s. Niborski 1999: 77). Zu den Unterschieden zwischen Perets’ chassidischen und volkstümlichen Geschichten s. Kap. 6. 219 Gemeint sind die sechsunddreißig Gerechten. Diesen Lamedvovnikes (wörtl.: „Sechsunddreißiger“) – hebräisch „lamed“ und „vov“ ergeben zusammen den Zahlenwert 36 – werden laut Talmud der Göttlichen Gegenwart ansichtig (Sanh. 97b; bT 41996: Bd. 9: 67). Sie garantieren den Fortbestand der Welt (Sukk. 45b; bT 1996 Bd. 3: 380). Im jüdischen Volksglauben stellt man sie sich „als Leute niedriger Herkunft vor, deren Lebensweg unauffällig ist, die unerkannt leben und ihre Verdienste und Kräfte nur in Krisenzeiten offenbaren, wenn es darum geht, die Gemeinde, das Volk oder die Welt zu retten“ (Wiesel 1988: 251, s. hierzu auch Galley 2003). 220 Außer seinen Geschichten um „Reb Nakhmenke“ oder der Humoresken Dem rebns tsibek (Des Rebben Pfeifenrohr) widmet sich Perets in Iber a shmek tabak (Über eine Prise Tabak, 1906; 1947 Bd. 5: 147– 151) aus Khsidish (Chassidisches) dem Tabakgenuss. Der Satan bringt hier den Chelmer Rebben – also einen chassidischen Rabbi – nach zwei gescheiterten Versuchen mit dieser Leidenschaft zu Fall. Chagalls Ölbild On dit (1912) – neu aufgelegt um 1925 als Der Rabbiner (frz. Titel: La prisée) – könnte, wie Karoline Hille überzeugend darlegt, unmittelbar mit Peretsens Erzählung zu tun haben (zu den mehrfachen Bedeutungsschichten des Bildes s. Hille 2005: 81–91). Was die hebräische Inschrift im Davidstern anbelangt, irrt sie wie andere vor ihr: Chagall schreibt hier ‫( סת‬ST für „sefer tora“: die Tora), nicht wie angenommen ‫( מת‬MT für „mavet“: Tod), und die Abkürzung des Tetragramms ‫( הי‬HI) und nicht ‫( חי‬ChI; chai; lebendig; Harshav 1992: 82). Julian Stryjkowski, vielleicht wie Chagall von Perets inspiriert, zeigt in Austeria (dt. erschienen als Austeria oder Die Osteria; 1966) ein weltfremdes Zaddikentum. Die Degeneration der in Tags Schenke abgestiegenen Chassidimus äußert sich in übermäßigem Alkohol- und Tabakkonsum. In Głosy w ciemnosći sind Reb Toiwje und sein weibliches Pendant, die kluge, im Talmud beschlagene Pesi diesem Laster erlegen. 221 Zugleich findet der Chassidismus im Erzählen eine adäqate Form, sich selbst auszudrücken. Das erste chassidische Buch mit Geschichten des Begründers der ostjüdischen Frömmigkeitsbewegung, des Bal

Das inszenierte Ich oder: die Geschichte einer Ziege  | 81 In Perets’ volkstümlicher Erzählung meint der als literarische Figur wiederauferstandene Rabbi Nachman mit dem Ziegenbock sich selbst. Wie der Ziegenbock kann er keinem Juden etwas abschlagen – und verliert an Kraft. Rettung gibt es für ihn nur durch die Parabel, die er erzählt und die ihn meint. (Hier tritt eine Selbstreflexion zutage, wie sie sich auch in Chagalls Selbstbildnis vollzieht.) Perets’ Erzählung erinnert inhaltlich und poetisch an die Revolution der chassidischen Narration, für die Nakhmen Braslever steht.222 Der Text redu­ pliziert dessen Erzählstrategien. Er hat eine kulturelle, hier religiös-läuternde, und eine ästhetische Dimension; auf letztere aufbauend, wird Perets die nun ins Säkulare hinüber­ gewechselte Revolution der jiddischen Literatur fortsetzen. Wie Perets schickt Chagall seine Ziege nicht in die Wüste, sondern hängt sie in den Himmel – vielleicht genau an die Stelle des Mondes, gegen den sich Gott ‚versündigt‘! Denn der babylonische Talmud (Hullin 60b; bT 41996 Bd. 11: 184) berichtet von einem Sündenbock, den Gott selbst zu jedem Neumond (jidd.: rosh-khoydesh) und damit zu Monatsbeginn als Sühneopfer darbringt, weil er den Mond schwinden lässt (vgl. Nu 28: 14–15; s. Schwartz 2004: 295–296; 323). Chagalls Ziege ist rot von der Revolution, aber auch von seiner (lässlichen) Sünde, Maler geworden zu sein (s. 1931: 44).223 Die jüdische mystische Vorstellung von einem Gott, der menschengleich sündigt und darüber seufzt (s. Schwartz 2004: 323), mag den theurgischen Maler-Sünder beruhigen. Die rote Ziege in Chagalls Bild steht zwar für ein ganz und gar säkulares Erlösungswerk, doch bringt sie wie ihr heiliges Pendant in Reb Nakhmenkes Erzählung, das in Perets’ literarischer Transformation fortlebt, die Juden dem Heil näher.224 Chagalls Revolution des Sehens hat wie Perets’ Offenbarungstext zu Reb Nakhmen eine doppelte Dimension. Kulturell richtet sie sich an die Juden. Ästhetisch geht sie über eine ethnische oder nationale Zuschreibung hinaus. (Einen messianischen Zug hat sie in beiden Fällen.) Sie meint das Judentum mit, ist jedoch im Spiel mit nationalen Kennzeichen immer erfinderisch und kulturdurchlässig. Chagalls Kunst schwebt wie die Ziege über den Kulturen.

Schem Tov (BeSchT; 1700–1760), wurde fünfundfünfzig Jahre nach dessen Tod gedruckt. Das zweite Erzählwerk aus dem ersten Jahrhundert der ostjüdischen chassidischen Bewegung birgt die gesammelten volkstümlichen Erzählungen von Rabbi Nachman. Erst im letzten Drittel des 19. Jh. wurden chassidische Erzählungen in größerem Umfang gedruckt (Dan 1986: 111). 222 Nakhmen Braslever baut in allegorischer Weise mystisch-kabbalistische Vorstellungen beispielsweise des tsimtsum (Zusammenziehen Gottes) oder der kelipot (der göttlichen Funken) in seine jiddischen Erzählungen ein. Neben Perets übt er auch auf An-Ski und auf Der Nister großen Einfluss aus. In Nakhmens Gefolge lässt Perets vorrangig einfache Gestalten auftreten, also Verborgene (Lamedvovnikes), die als Bettelleute daherkommen, so in seiner letzten und berühmtesten Erzählung von 1810, Ma‘ase mehaz‘ betlers (Die Geschichte von den sieben Bettlern; Dauber 2007: 203–210). Zu Rabbi Nachman s. auch Roskies 1995: 20–55. 223 Laut dem talmudischen Traktat Yoma 67a (bT 1996 Bd. 3: 182–195; Schwartz 2004: 296) band man ursprünglich ein rotes Band an die Tür der Tempelvorhalle, das sich zum Zeichen der Vergebung weiß färben sollte. 224 Die zionistische Spielart einer Ziege mit messianischen Zügen führt Samuel (Shmuel) J. Agnon in ­seiner hebräischen Erzählung Der Eingang zur Höhle oder die Geschichte von der Ziege aus (1928: 208– 211).

82  |  Identität interkulturell und intermedial

Jüdische Kulturrevolution und (nicht-)jüdische Selbstinszenierung Als Jude ein Selbstportrait zu malen ist mehr als eine Frage der Gattung. Es ist ein Aufbegehren gegen das Bilderverbot, ein Aufbegehren gegen einen Gott, dem man als gottgleiches Geschöpf seine Begabung verdankt. Eine verzwickte Angelegenheit insbesondere für Chagall, der in seiner Autobiographie seine Begabung als Gottesgabe empfindet (1931: 103).225 Über Jahrhunderte hinweg waren Juden Gegenstand der künstlerischen Darstellung nichtjüdischer europäischer Maler. Erst nach der Pionierleistung Moritz Daniel Oppenheims (1800–1882), der 1822 ein Selbstportrait anfertigt (Abb. in: Goodman 2001: 51), durchbrechen die jüdischen Künstler in Russland an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert diese Monopolstellung des Anderen in visuellen Darstellungen. Vor allem in der Moderne rücken Juden(selbst)darstellungen ins Zentrum der eigenen kulturellen Repräsentation (Nochlin 1996: 187–200).226 Den Konflikt zwischen Jude-Sein und Künstler-Sein leben viele jüdischen Künstler nach der Emanzipation vom Bilderverbot auf extreme und bisweilen schmerzhafte Weise aus.227 Im ästhetischen Diskurs Russlands, der seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts national überformt ist und in dem parallel eine jüdische Erweckungsbewegung von statten geht, entzieht sich Chagall einer nationalen Vereinnahmung. (Die theoretische Vereinnahmung durch Ribak und Aronson schmeichelt ihm).228 In Ma vie versetzt er dem Kunsttheoretiker Vladimir Stasov (1824–1906), der selbst kein Jude war, und dessen Plädoyer für eine jüdische Nationalkunst einen Seitenhieb (1931: 136).229 In seinen Bildern inszeniert er sich mit den 225 Die Aussage fehlt im jiddischen Manuskript. Zu Chagalls distanziertem Verhältnis zur Religion s. Kap. 3. Die künstlerische Verfilmung von Chagalls Leben in „Strasti po Šagalu“ (Verlangen nach Chagall, 2007, Regie: Andrej Mel’nikov) betont dessen Malerei als Gottesgabe. Sie setzt das Erhalten der Gesetzestafeln und Gottes Aushändigen der Malutensilien an Chagall gleich (http://rutube.ru/ tracks/430154.html?v=32da63a1de8a5c058fe9d378c7981733&bmstart=0; 5.3.2012). Auch in Ma vie, nicht aber in Eygns, stellt Chagall diesbezüglich eine Verbindung zu Gott her (1931: 142). 226 Als ein wichtiges Beispiel lässt sich das Selbstportrait mit Saul und David im Hintergrund (1908; Abb. in: Goodman 2001: 51) des niederländisch-jüdischen Malers Jozef Israëls (1824–1911) nennen, der vielfach ostjüdische Maler beeinflusste. Auch Jurij Pen fertigt neben unzähligen Portraits auch Selbstportraits an, vgl. sein Avtoportret s palitroj (Selbstportrait mit Palette) von 1898 oder Avtoportret s Muzoj i Smert’ju (Selbstportrait mit Muse und Tod) von 1924 (Abb. in: Kučerenko/Cholodova 2006: 89 und 111). Milly Heyd zeichnet in ihrem Beitrag „Selbstporträts: Zur Frage der jüdischen Identität“ Selbstbefragungen jüdischer Künstler im 20. Jahrhundert von Moritz Daniel Oppenheim bis Jim Dine nach (2003: 86–99). Gerade bei Autoportraits von jüdischen Künstlern, also Repräsentanten einer kulturellen Minderheit, „wird die Frage von deren ethnischer, religiöser oder nationaler Zugehörigkeit für das Studium des Selbstportraits relevant“ (S. 86). Zur Positionierung jüdischer Künstler zwischen Eigenem und Fremdem im Portrait s. Amishai-Maisels 1991: 165–184 und Goodman 2001: 15–39. 227 Man denke an die Selbstbildnisse Ludwig Meidners, Arnold Schönbergs oder Chaïm Soutines. 228 In seinem Beitrag zum Widmungsband für den früh verstorbenen Ribak würdigt Chagall seinen Kollegen vor allem dafür, dass er ihn in seinen theoretischen Reflexionen berücksichtigte (1937: 83). In Bezug auf Chagalls Selbstbezogenheit spricht dies Bände. 229 In Auseinandersetzung mit dem jüdischstämmigen Bildhauer Mark Antokol’skij formuliert Stasov um 1870 erste Anregungen zu einer jüdischen Nationalkunst (Amishai-Maisels 1996: 54; s. auch Kampf 1990: 15–16).

Das inszenierte Ich oder: die Geschichte einer Ziege  | 83 Mitteln einer internationalen Avantgarde. Hier, in der ideologischen und ästhetischen Entnationalisierung der Kunst, ist Chagall zutiefst jüdisch. Oder sollte man besser sagen: „zutiefst jiddisch“? Denn wie diese, vom großen jiddischen Linguisten Max Weinreich als „Fusionssprache“ bezeichnet, mischt Chagall das gesamte Arsenal avantgardistischer Ismen, ohne sich jemals einer dieser Richtungen komplett zu verschreiben.230 Chagalls bereits in jungen Jahren bestehender Wunsch, Künstler zu werden, ist mehr als pubertäres Aufbegehren. Er kommt einer Kulturrevolution gleich. Chagall inszeniert diesen Ausbruch aus der jüdischen Welt, der zunächst ein Hinüberwechseln in die russische Kultur bedeutet, bevor Jüdisches und Russisches, kulturell Nationales und ästhetisch Internationales fusionieren, humorvoll in seiner Autobiographie: Ikh hob gut gekent ale zidlerayen fun gas – un oykh a bisl laytishe verter. nor aza min fantastish bukhvort, aza min nisht doik vort vi „khudozhnik“ – hob ikh nisht gehert. S’heyst, kh’hob yo gehert, nor in undzer shtot hot men es keynmol nisht geredt. Vi kumt es? Ikh volt keynmol nisht gekent, loyt ayngeboyrener – ikh veys nisht vos – derloybn zikh afile in gedank aroysredn aza vort. Nor ven mayn khaver hot derzen di tsehangene bilder oyf undzer vant hot er a zog geton azoy: ‚Her nor, du bist dokh an emeser khudozhnik!‘ Vos heyst khudozhnik? Ver khudozhnik? Ken ikh den in der emesn oykh zayn a ... za? Er iz avekgegangen un hot mir gornisht geentfert. Un ikh hob zikh dermont az ergets, in der shtot Vitebsk, hob ikh in der emesn gezen a groyse shild, vi oyf di kromen: ,S shul fun molerey un tseykhenen fun khudozhnik Pen’. Un ikh hob a trakht geton: ,Mayn goyrl iz bashtimt. Men darf nor ahin arayn un endikn dem ort, un ikh bin shoyn a fertiger khudozhnik. Un ikh vel zikh opgezegenen mit der mames khaloymes vegn a meshores, a bukhhalter, oder in bestn fal – a fotograf mit mebl.’“ (S. 24)231 Die Schimpfwörter von der Straße kannte ich alle gut, auch ein bisschen Umgangssprache. Doch ein derart phantastisches Wort, ein derart fremdes (nicht hiesiges) Wort wie „Künstler“ [russ.], das habe ich nicht gehört. Das heißt, ich habe es schon gehört, doch in meiner Stadt sprach man es kein einziges Mal aus. Wie kommt das? Ich hätte es mir als Hiesiger – was auch immer – niemals erlaubt, mir auch nur in Gedanken so ein Wort vorzusagen. Doch als mein Freund die Bilder an unserer Wand sah, sagte er: ‚Hör doch, du bist doch ein richtiger Künstler!‘ Was heißt Künstler? Wer ist ein Künstler? Kann ich denn wirklich auch so etwas sein? Er ging fort, ohne mir eine Antwort zu geben. Und ich erinnerte mich, dass ich in der Tat irgendwo in der Stadt Vitebsk ein großes Schild gesehen hatte, wo wie auf Ladenschildern stand: ‚Mal- und Zeichenschule des Künstlers Pen‘. 230 S. Metzger 2006: 14. Zum Jiddischen als Fusionssprache s. Weinreich (1973) und Harshav (1990: 27–40). 231 Das Spiel mit der Fremdheit des Künstlerseins setzt sich auf Seite 32 fort: Chagall kündigt seinen Eltern an, dass er in einem „khu-do-zhestvenne utshilishtshe“ (russ.: chudožestvennoe učilišče; künstlerische Lehranstalt) lernen wird. In Ma vie ist die Fremdsprachigkeit des Begriffs getilgt: Hier ist schlicht von „artiste“ die Rede (1931: 85f.).

84  |  Identität interkulturell und intermedial Und ich dachte: ,Mein Schicksal ist bestimmt. Man muss nur hineinkommen und dort einen Abschluss machen, und schon bin ich ein fertiger Künstler. Und ich werde mich von Mamas Träumen verabschieden, ein Bediensteter, ein Buchhalter oder bestenfalls ein Fotograf mit eigenem Mobiliar zu werden.“

Was als Fremdwort und Fremdkörper im jiddischen Text so unerhört daherkommt, realisiert Chagall als das bislang Ungesehene: Seine Bilder revolutionieren die (jüdische) Kunst. Und wer mit der (ikonoklastischen) Tradition des Judentums so radikal bricht, muss sich – im Autoportrait – selbst erfinden. Eben dieser Bruch nicht der, sondern mit den Gesetzestafeln ist eine Erklärung für Chagalls häufige Selbstbefragung und -inszenierung im Bild. Chagall taucht hierfür ein in die klassische (Tintoretto, Rembrandt, El Greco) und avantgardistische Tradition des Autoportraits, wie sie das Abendland prägt (Cézanne, Picasso) und auch in den russischen Kulturraum hinüberschwappt (Larionov, Malevič, Tatlin). In der Autobiographie konstruiert sich Chagall als Spross des Synagogenmalers Segal (Chagall 1931: 233).232 Er widmet die jiddische Fassung in russischer Sprache Rembrandt, Cézanne, seiner Mutter und seiner Frau („Rembrandu, Sezanu, mame, žene“; Eygns, S. 1) – und hebt so die Grenze zwischen natürlich-biologischer und geistiger Verwandtschaft auf. Den westeuropäischen Wahlverwandten Cézanne und Rembrandt stellt er Michail Vrubel’ (1856–1910), seinen ‚russischen Bruder‘, an die Seite. Für ihn wählt er eine Beschreibungstechnik, in der dessen symbolistische Farben- und Formensprache aufschimmert: Ergets, mir, kinder fun ayn foter, voynen oyfn breg yam. Ale, khuts mir, zenen farmakht in a shtayg fun khayes – a hoykhe, a breyte. der foter, aza min orang-utang, a stalediker, mit a baytsh bay der shtayg, nisht er strashet undz, kinder, nisht er masert undz vegn epes ... Plutsling hot zikh farvolt undz alemen bodn. Un undzer eltern bruder, Vrubeln, dem zelbn rusishn kinstler, un er iz gevorn mayn bruder tsvishn ale undzere umtsolike brider. Dem ersthtn hot men aroysgelozt zikh bodn Vrublen. Ikh gedenk, ikh ze, er hot zikh oysgeton, undzer libling. Un ot fundervaytns zen zikh zayne goldene fis, vi a sher tsenemen zey zikh. un er iz shoyn vayt. Un der yam zidt, roysht, azelkhe vayse, zidike khvalyes, kemlen loyfn on, vaser vi smole, stelnik, blitn fun honik – aza gedikhte, langzam un royshik trogt zi zikh. Vu zhe iz mayn oremer bruder? Mir ale baumruikn zikh. M’zet shoyn bloyz zayn kop. (Eygns, S. 43; vgl. Chagall 1931: 129; engl. Übersetzung in: Harshav 2004: 134f.) Wir, Kinder eines Vaters, wohnen irgendwo am Rande des Meeres. Alle außer mir sind in einen Tierkäfig eingeschlossen, einen hohen, breiten Käfig. Der Vater, eine Art Orang-Utan, ernst, mit einer Peitsche neben dem Käfig, droht weder uns Kindern, noch liest er uns wegen irgendetwas die Leviten 232 Bis heute zerbricht man sich am Vitebsker Chagall-Museum über die Authentizität dieser Künstler­ genealogie den Kopf. Der Vitebsker Publizist und Fernsehjournalist Arkadij Šul’man erklärt dies damit, dass jiddisch „iberenkl“ über „Urenkel“ hinaus auch „Ururenkel“ usw. bedeuten kann. Außer der privaten Mythenbildung ist somit eine tatsächliche Verwandtschaft zwischen Chagall und Segal durchaus möglich.

Das inszenierte Ich oder: die Geschichte einer Ziege  | 85 ... Plötzlich wollten wir alle baden. Auch unser älterer Bruder Vrubel’, eben jener russische Künstler, und er wurde unter all den unzähligen Brüdern mein Bruder. Als ersten ließ man Vrubel’ zum Baden frei. Ich erinnere mich: Ich sehe, er hat sich ausgezogen, unser Liebling. Und von weitem sieht man seine goldenen Füße, wie eine Schere spreizen sie sich. Und weit draußen ist er schon. Und das Meer kocht, rauscht, solch weiße, schäumende Wellen, Wellenkämme rollen heran, Wasser wie Teer, ein Strahl, Honigblüten – so dicht, langsam und rauschend bewegt sie [die Welle] sich. Doch wo ist mein armer Bruder? Wir sind alle beunruhigt. Man sieht nur noch seinen Kopf.

Vrubel’ allerdings muss in Chagalls Traum, der die traurige Realität mit meint, sterben, um dem jüngeren Bruder (und Nachfolger als Erneuerer der russischen Kunst) Platz zu machen. Der Affen-Vater im Traum (Gott?) ‚erwählt‘ den aus dem (jüdischen?) Käfig freigelassenen Chagall dazu: „dertrunkn iz uns gevorn der zun Vrubel, geblibn bay unz iz bloyz eyn zun [durchgestrichen: – a kinstler ] – du, mayn zun.‘ / Dos bin ikh, heyst es ...“ (Ertrunken ist unser Sohn Vrubel’, geblieben ist uns nur ein Sohn [durchgestrichen: – ein Künstler; S. K.] – du, mein Sohn. / Das bin ich, sagt man ...; ebd., vgl. Chagall 1931: 130). Die Künstlerpersönlichkeit Vrubel’s zwischen Genie und Wahnsinn – Vrubel’ leidet seit 1902 an einer unheilbaren Nervenkrankheit – zieht Chagall, der sich selbst als ‚meshuge‘ (verrückt) oder als Idiot inszeniert, an.233 Vrubel’s Faszination für das Dämonische und für die Farben Lila, Blau und Purpur fesseln ihn (Harshav 2004: 134). Seine Befreiung der Kunst vom akademischen Realismus hin zu seinem ornamentalen Symbolismus macht aus ihm einen Gott. (In Léon Baksts Kunstschule, die Chagall kurzzeitig besucht, steht an prominenter Stelle Vrubel’s von braunem Samt überzogene Staffelei; ebd.). Die Leinwand dient ihm – wie später Chagall – einzig dem Ausdruck der künstlerischen Phantasie. Vrubel’ erklärt seine künstlerische ‚Besessenheit‘ vom Dämon  – man denke an sein berühmtes Gemälde Sitzender Dämon (1890) – in Abgrenzung von „čërt“ und „d’javol“ mit dessen griechischer Etymologie: „Daimon“ kann die „Seele“ bedeuten, die „olicetvorjaet soboj večnuju bor’bu mjatuščegosja čelovečeskogo ducha ...“ (die den ewigen Kampf des unsteten menschlichen Geistes personifiziert; zit. nach Kafitz 2008: 137).234 Die intensive Ausein­ ander­setzung mit dem Dämon, die Vrubel’ mit den Symbolisten teilt, findet ihr Pendant in Chagalls Identifikation mit Christus. Vrubel’ und Chagall schöpfen beide aus der russischen Ikone und der Volkskunst. Beide setzen künstlerische Stilverfahren in verschiedenen Medien 233 Harshav 2004: 134; zu Chagall und Vrubel’ s. auch Liebelt 1971: 114. Chagall bezeichnet sich selbst gerne als „beheyme“ (jidd.: Rindvieh, aber auch Idiot; vgl. 1931: 170) im Sinne eines Menschen „with no rational knowledge and yet possessing warm friendliness and intuition“ (Harshav 2006a: 63); in seinem berühmten Gemälde Ich und das Dorf (1911) zeigt er sich Auge in Auge mit einer weißen Kuh (s. hierzu Harshav 2006a: 60–65). Max Liebermann hat Chagall als „meschuggen“ Künstler tituliert (s. Harshav 2004: 357). Zu Vrubel’ s. Fedorov-Davydov 1968 und Kafitz 2008: 102–108. Zu Vrubel’ und Chagall s. Kamenski 1989: 124. Beide binden stark das Motiv des Fliegens in ihr Werk ein, vgl. Vrubel’s Fliegender Dämon (1899) oder Gestürzter Dämon (1902; Fedorov-Davydov 1968: Tafel 59 und 71) und Chagalls fliegende Bella in Über der Stadt (1914–1918) oder Akt über Vitebsk (1933, Abb. in: Baal-Teschuva 2008: 135). 234 „δαίμων“ meint in der ersten Bedeutung den Geist der Abgeschiedenen (s. Gemoll 91991: 181).

86  |  Identität interkulturell und intermedial eklektisch ein und sind in der Flächenstrukturierung höchst innovativ. Beiden ist eine Fülle von (Bild-)Gedichten gewidmet. Über Vrubel’ schrieben die Symbolisten Brjusov (M. A. Vrubelju/ Vrubel’ gewidmet, 1906), Belyj (Iskusitel’. Vrubelju/Der Versucher/Vrubel’ gewidmet, 1908) und Blok (Demon/Dämon, 1910), über Chagall Apollinaire, Éluard, Blaise Cendrars, Kurt Schwitters, die jiddischen Autoren Yitskhok Rontsh und Aaron (jidd. Orn) Kurts – und die russischen Dichter Andrej Voznesenskij und Gennadij Ajgi. 235 Das interessante Unterfangen eines literaturhistorischen Vergleichs dieser Texte würde einen wesentlichen ästhetischen Sprung veranschaulichen: Auch wenn Chagall den symbolischen Einsatz seiner Privatmythologie nie aufgibt, Bildgegenstände in symbolistischer Manier „ad realiora“ verweisen, wächst er formal weit über Vrubel’ und dessen Symbolismus hinaus. Autobiographisch und autoportraitistisch kleidet sich Chagall in viele Raum und Zeit übergreifende Künstleridentitäten. Jede einzelne ruft zugleich ihren nationalkulturellen Kontext auf – als ‚Bruder Vrubel’s‘ ist dies die russische Kultur. So berühren sich in Chagalls Malerei die Pole an ihren Extremen: In der fremdkulturell entlehnten Selbstdarstellung der „cross-cultural figure“ Chagall, die die Lücke der auf dem Bilderverbot basierenden Darstellungsfeindlichkeit schließt, ist die spezifisch jüdische conditio humana des Exildaseins unter Fremden eingefangen. In Chagalls Fall addieren sich die Widersprüche des jüdischen Selbstbildners und des Selbstbildnisses: „Nur in ihm [dem Selbstbildnis; S. K.] ist derjenige, der sieht, identisch mit demjenigen, der sich sieht.“ (Boehm 1997: 25; Hervorhebung G. B.) Indem der Sehende und sich Sehende Chagall das Bilderverbot missachtet, holt er die jüdische Religion und Kultur im häretischen Akt des Bildermalens in seine Bilder und seine Künstleridentität herein. Chagalls Selbstbildnis mit Farbpalette bedeutet eine Revolution des Sehens und der jüdischen Kultur. Mit ihnen sprengt das Vitebsker Kind kognitive und kulturelle Grenzen. Tatsächlich wird aus seiner visuellen Utopie in Teilen Wirklichkeit: 1918 wird er Bevollmächtigter des Kunstkollegiums im Gouvernement Vitebsk mit eigener Kunstschule; er ruft, in noch ungetrübter Euphorie alle Bürger auf, sich malend an der Revolution zu betei­ ligen, egal, ob Jude oder nicht (s. Harshav 2003: 27–32);236 anlässlich des ersten Jahrestages der Revolution malt er Vitebsk an und realisiert so Majakovskijs Metapher aus Prikaz po armii iskusstva (Befehl an die Kunstarmee, 1918): „Ulicy – naši kisti. / Ploščadi – naši palitry.“

235 Vgl. Tasseva 1985: 206, Baal-Teshuva 2008: 46–55, Rontsh 1967: 283–291, Kurts 1947, Voznesenskij 1984 Bd. 2: 132–134 und Ajgi 2009 Bd. 2: 76. Zu Bild- und Skulpturengedichten im russischen Symbolismus s. Kafitz 2008; zur Analyse von Brjusovs M. A. Vrubelju und Bloks Demon siehe bes. S. 98–162. Die Analyse der Bild- und Widmungsgedicht zu Chagall stellt als weitere intermediale Korrespondenzbeziehung zwischen Literatur und Malerei einen eigenen Forschungsgegenstand dar. 236 Chagalls kulturpolitische Zeitungsauftritte, wie beispielsweise in Vitebskij listok (Vitebsker Blatt) vom 7.9.1918 oder in Revoljucionnoe Iskusstvo (Revolutionskunst, 1, S. 2–3) von 1919, sind in englischer Übersetzung in Harshav 2003: 28–32 und in deutscher Sprache in Kamenski 1989: 357f. abgedruckt. In Chagalls Augen verläuft die Revolution der Kunst parallel zur Revolution der gesamten Menschheit. Sein (utopisches) Ansinnen ist es, aus allen Bürgern Künstler zu machen. Zu Chagalls sozialen und ästhetischen Zielen s. auch Liebelt 1968: 135–154.

Das inszenierte Ich oder: die Geschichte einer Ziege  | 87 (Die Straßen sind unsere Pinsel. / Die Plätze unsere Paletten; 1956 Bd. 2: 15);237 er arbeitet – u. a. als Mitglied der Kultur-Lige  – aktiv an der jüdischen Kulturrenaissance mit, gibt Kriegswaisen in Malachovka bei Moskau Zeichenunterricht. Die Ziege (das jüdische Volk), die in Chagalls Selbstbildnis 1917 revolutionsrot neuen Horizonten entgegen schwebt, färbt sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten rot von Blut. Chagalls Selbstbildnisse kippen nach seiner Ausreise aus Russland um in Erinnerungsbilder; Chagalls erneuernder Blick auf die Binnenleinwand und nicht auf den Betrachter wiederholt sich dort zunächst nicht. Den Kairos für drei Revolutionen gibt es nur einmal.

237 S. auch Dmitrieva 2005: 124. Drei der Entwürfe hierzu sind erhalten: Nieder mit den Palästen, Reiter mit Posaune und Der Spaziergang; s. hierzu Šatskich 2000: 21–23. Marina Dmitrieva untersucht die Verschmelzung von Kunst und Leben auf den theatralisierten Straßen der (Kunst-)Metropolen Petrograd, Kiev und Vitebsk. In Chagalls Zeichnungen findet sich die Rhetorik der Französischen Revolution ebenso wieder wie die russische Ikonenmalerei (2005: 117–131, bes. S. 125).

5 Die Geburt der Malerei aus dem Geiste des Jiddischen oder: Die Sprache und das Selbst238

Sholem-Aleykhem iz der onerkenter mayster fun der yidisher sphrakh. Es meg zayn a paradoks ven ikh vel zogn, az oykh Mark Shagal, der moler iz a mayster fun der yidisher shprakh. Ikh veys nisht fun nokh a yidishn kinstler fun velkhn es iz gebit, velkher zol azoy kenen yidish vi Shagal. Un nisht azoy kenen vi zen. Shagal zet mit der hilf oder durkh der yidisher shprakh. Oykh derfar, farshteyt zikh, vayl als primitiv zet er iberhoypt bilder un verter. Dos vort iz nokh nisht opgeleykht un opgenutst in zayne oygn. Sholem-Aleykhem ist der anerkannte Meister der jiddischen Sprache. Es mag als Paradoxon erscheinen, wenn ich sagen werde, dass auch Marc Chagall, der Maler, ein Meister der jiddischen Sprache ist. Ich kenne keinen anderen jüdischen Künstler, woher er auch stammen mag, der jiddisch so kennt wie Chagall. Und nicht so sehr kennen als sehen. Chagall sieht mithilfe der oder durch die jiddische Sprache. Auch deshalb natürlich, weil er als Primitivist überhaupt Bilder und Wörter sieht. Das Wort ist in seinen Augen noch nicht erblasst und abgenutzt. Leo Kenig, Mark Shagal un Sholem-Aleykhem. Etyud (Marc Chagall und Sholem-Aleykhem. Etüde), 1929, S. 31.

Identität(en) lesen – Signatur, Signans und Signatum Chagall ist (Ost-)Jude, Chagall ist Russe, Chagall ist weltbekannt und Weltbürger. Zeichnet er seine Werke mit „Chagall“, vermag ihn die westliche Welt zu erfassen; als russisch „Шагал“, hebräisch „‫ “שגל‬oder „‫( “שאַגַאל‬Shagal) – dies die jiddische Namensschreibung – bleibt er ihr zumeist fremd.239 In seinen Aufzeichnungen eines Blinden hinterfragt Jacques Derrida, inwieweit Bildsignaturen tatsächlich den Urheber eines Bildes verbriefen (1997b: 65–68) – und übersetzt damit Michel Foucaults Frage „Was ist ein Autor?“ in die Malerei (2003: 234–270). Nicht nur mit Derrida lässt sich das Malen, Signieren und Betiteln verschiedenen Ich-Instanzen, wenn nicht gar verschiedenen Urhebern zuschreiben.240 Dabei stellen Bildsignatur und Bildbezeichnung – ähnlich wie bei einem Text – ein großes Potenzial der Rezeptionssteuerung dar. 238 Ansätze zu diesem Kapitel sind in meinem Beitrag für Blick in die Wissenschaft (2007: 41–48) skizziert und in russischer Sprache in Vitebskij bjulleten’ (2011: 26) publiziert. 239 Die hebräische Schrift gibt auch den jiddischen Chagall wieder. Neben die Konsonanten tritt zweimal das Aleph (‫)א‬, das die Vokalisierung des Wortes im Jiddischen anzeigt. 240 Für Chagall hat im Falle von Der Jude in Schwarz-Weiß der Bildtitel keine große Bedeutung. Er nennt ihn wahlweise Rabbiner oder Rabbiner im Gebet; Alexandre Benois überlässt er in einem Brief von 1914 die Betitelung des Betenden Juden  – bei Aronson/Ribak als Yid, vos iz mispalel (Betender Jude, 1919: 1922) bezeichnet – und der Zeichnung Der Greis (s. Kap. 7; Weber 2004: 110). Während seiner Zeit in Paris vergibt sein Dichterfreund Blaise Cendrars mehrere Bildtitel, darunter das berühmte Russland, den Eseln und anderen (Meyer 21968: 145; Hille 2005: 81).

Die Geburt der Malerei aus dem Geiste des Jiddischen  | 89 Chagalls Bildunterschriften sind ein wichtiger Schlüssel zu ihm: Sie offenbaren seine multiple Künstleridentität, die sich zwischen der (ost)jüdisch-russischen und der westeuropäisch-französischen Kultur bewegt. Verschiedene Schrift- und Lesetraditionen überkreuzen sich in der Signatur seiner Bilder: Neben Kyrillisch und Latein erscheinen Hebräisch und Jiddisch, Erstere zu lesen von links nach rechts, Letztere von rechts nach links. Alterität und Alphabet gehen bei Chagall eine spannungsreiche Beziehung ein. Mit hebräisch „S-g-l“ (‫שגל‬/‫ )סגל‬und besonders jiddisch „Shagal“ (‫שאַגַאל‬/‫ )שאגאל‬signiert Chagall einige seiner zwischen 1908 und 1922 entstandenen Bilder aus der „russischen Periode“.241 „Шагал“ steht – gelegentlich noch mit dem harten Zeichen „ъ“ (russ.: tvërdyj znak) der petrinischen Orthographie – unter Bildern, die durch und durch ostjüdisch sind. 242 Chagalls Name taucht aber nicht nur als Paratext (Genette) zu, sondern auch als Text in seinen Bildern auf. Neben der Signatur des Bildes geht der Künstlername als Signans – und damit auch als Signatum – in Chagalls Bilder ein.243 Wieder ist die Grenze zwischen Leben und Kunst fließend, verschmilzt der signierende Chagall mit dem im Bild sich selbst designierenden. Besonders bei seinem eigenen Namen spielt er mit der Doppelnatur des Graphems als ikonischem und ästhetischem Zeichen zwischen Semantik und Ästhetik. Die Ambivalenz des Bildes zwischen Sagen und Zeigen wird durch diese Ambivalenz des

241 Jiddische Signaturen tragen Mann mit Gespann (1916) und Entführung (1920; Abb. in: Kamenski 1989: 284). On dit beispielsweise signiert Chagall mit seinem französischen Namen; im dargestellten Buch taucht jedoch sein jiddischer Name „Segal Moyshe“ (‫ )סגל משה‬auf. Auch in Der Jude in Rot schreibt Chagall die hebräische Radix „‫ “סגל‬ein. Seine Studie zu Purim (1916/17) zeichnet er rechts russisch „Шагал“ und links jiddisch „‫( “שאגאל‬Abb. in: Kamenski 1989: 259), seine Zeichnung Maler an der Staffelei (1914) jiddisch und lateinisch. Chagall schreibt seinen jüdischen Namen wahlweise mit „shin“ (‫ )ש‬oder „samech“ (‫)ס‬. In der Schreibung „‫ “סגל‬klingt die Nähe zum Synagogenmaler Yitskhok Ayzik Segal an, als dessen Nachfahr er sich in Ma vie stilisiert (zu Segal s. Tsherikover 1937: 56). 242 Russisch signiert Chagall beispielsweise seine Bühnenbildentwürfe für das jiddisch spielende GosET oder sein Wandgemälde Liebe auf der Bühne (1920)! In Paris setzt er unter ein Selbstbildnis von 1913 seine russische Unterschrift (Abb. in: Chagall 1985: 95), in Vitebsk unter Der Spaziergang von 1917 (Abb. in Benesch/Brugger 2006: 95). Das „harte Zeichen“ (ъ) findet sich auf einigen Zeichnungen von 1914–1915, so auf Alter Mann und alte Frau, Straße in Vitebsk oder Vitebsk. Der Bahnhof (Abb. in Benesch/Brugger 2006: 79, 81 und 83). Eliminiert wurde dessen Schreibung am Wortende mit der Rechtschreibreform 1917 (das entsprechende Dekret erschien 1918; s. hierzu Jachnow 1994: 803– 808). In Sholem-Aleykhems Eisenbahngeschichte Gimenazye (Gymnasium, 1902) plagt sich ein jüdisches Kind mit dem Zeichen „jat‘“ (Ѣ), das ebenfalls abgeschafft wurde (1955: 128). Sholem-Aleykhem spielt hier – wie in anderen Erzählungen auch – anhand der sprachlichen Unterlegenheit mit der kulturellen Asymmetrie zwischen den russischen ‚Kolonisatoren‘ und den Ostjuden. 243 Chagall wäre nicht Chagall, wenn er hier nicht die Ordnung unterwandern würde: In Chagalls großformatiger Einführung in das jüdische Theater verewigt sich der Künstler selbst. Der Theater- und Kunstkritiker Abram Ėfros trägt ihn zum Leiter des GosET Aleksej Granovskij. Chagall schreibt – mit viel Hintersinn – über seine Person seinen jiddischen Namen in hebräischen Lettern in der nichtjüdischen Leserichtung von links nach rechts! In der Illustration Pokrovskaja in Vitebsk zu Mein Leben, die Chagalls Mutter vor ihrem Geschäft zeigt, tauscht er erneut Schrift und Leserichtung: „lavka“ (Laden) und „Šagal“ erscheinen auf Kyrillisch, sind aber von rechts nach links zu lesen. Russisch „lavka“ vermerkt Chagall – nach hebräischer Manier – nur mit Konsonanten im Ölbild Regen (1911, Abb. in: Harshav 2006a: 130).

90  |  Identität interkulturell und intermedial Schriftzeichens dynamisiert.244 Chagall ist hier nicht avantgardistischer als Picasso, Braque oder Malevič.245 Doch im Unterschied zum Lettrismus anderer Künstlerkollegen ist der Selbstbezug eklatant.246 Die (intermedial entfaltete) Doppelfunktion des Sprachzeichens „Chagall/Шагал“ ist eng an die Doppelbedeutung seines Namens geknüpft: Russisch „Šagal“ meint zunächst den Eigennamen, markiert aber im Russischen genauso die 1./2./3. Person Singular maskulin zum Verb „šagat’“ (schreiten, marschieren, weit ausholen). Die Bedeutung von Chagalls Namen wird zur Metapher (in) seiner Kunst.247 Keine anderen (Selbst-)Bildnisse vermögen den Furor seiner ästhetischen Revolution und Selbstreflexion besser zu vermitteln als Kubistische Landschaft (1918) und das in Mischtechnik gefertigte Selbstbildnis (1918; s. Abb. 2 und 8).248 In ihrer Faktur und alogischen Struktur, besonders aber in der Farbgebung bilden die beiden Bilder ein Paar. Dass beide auch bezüglich der Gattung eine Einheit bilden, sieht man im Falle des kubistischen ‚Landschaftsbildes‘ erst auf den zweiten Blick; dass sich Chagall in beiden Bildern dezidiert mit Malevič auseinandersetzt, vielleicht erst auf den dritten. Zudem schlagen beide Werke eine Brücke in die jiddische Sprache bzw. hebräische Schrift. Chagalls Mehrfachidentität fordert Mehrfachlektüren. Schräg über das linke Bilddrittel verläuft in der Kubistischen Landschaft ein weißer Streifen, in dem in lateinischer, kyrillischer und hebräischer Schrift Chagalls Name geschrieben steht. Nach der Leserichtung von rechts nach links des jiddischen „‫( “שאגאל‬Shagal) folgt sein Name – manchmal nur mit ein, zwei Buchstaben angedeutet – zwölfmal in Russisch und viermal in Französisch. Von links nach rechts dynamisch aufsteigend folgt man damit  – so Benjamin 244 Im Kontext des Bildes kommt es zu einer Umkehrung der Funktionsdominanz: Die ästhetische Ausgestaltung des Buchstabens, die für die natürliche Sprache im Vergleich zur semantischen Funktion, dem Aussagen, sekundär ist, wird im Kontext des Bildes zur Primärfunktion. S. hierzu auch Schneider 1995: 62–65. 245 Aage Hansen-Löve schreibt hierzu, an Boris Groys (1992) anknüpfend: „Dieses Spiel mit der Inter­ ferenz von Phonem, Graphem und Ideogramm bzw. Bild durchzieht die gesamte lettristische Tradition und steht auch am Ursprung einer Konzeptualisierung der Ungegenständlichkeit in der Kunst bei Malevič und Kandinskij, wenn das linguistische Zeichen bzw. die Zeichenhaftigkeit selbst umkippt in die graphische bzw. bildnerische Gestalt. Solchermaßen wird die Kippfigur – wie das Vexierbild – zum Paradigma der De- und Resemiotisierung der Zeichen und Realia in einer Konzept-Kunst, der es primär um das Ausloten der Valorisierungsgrenzen zwischen Kunst und Nicht-Kunst geht [...] Damit wird die Malerei zu einem (philosophischen) Experiment, die Bilder nehmen den Charakter von appellativen Demonstrationsobjekten an [...], das Konzept – im Extremfall als reine Null-Position – tritt an die Stelle des Artefakts, der Index (also das Appellative) an die Stelle der anderen Zeichentypen.“ (1994: 361f., Fußn. 145). Vgl. auch das Graduiertenkolleg zur Schriftsprachlichkeit an der FU Berlin (www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/schriftbildlichkeit/; 5.3.2012). 246 Malevič nimmt in Ein Engländer in Moskau (1913–1914) vermutlich auf Kručenych (s.  Ingold 2000: 161) oder in Portrait des Künstlers Ivan Kljun (1913; eigentlich: Kljunkov) auf den Malerkollegen Bezug. „Zaum’“ und „alogizm“ werden so aneinander gebunden, der „alogizm“ wird als Gruppenphänomen affirmiert. 247 Weitere Schreitbilder sind verschiedene Versionen des Reisenden (1914, 1917; Abb. in Baal-Teshuva 2008: 92, Meyer 21968: Kat.nr. 290, 305). 248 Aufgrund der deutlichen Auseinandersetzung mit den Einflüssen Malevičs auf die Entwicklung der Vitebsker Kunstschule ist die Bildentstehung für 1919/1920 anzunehmen (s. Liebelt 1968: 151, Harshav 2006a: 65). Dasselbe dürfte auf das behandelte Selbstportrait zutreffen.

Die Geburt der Malerei aus dem Geiste des Jiddischen  | 91 Harshav  – Chagalls Werdegang vom jüdisch-jiddischen zum die russische und französische Avantgarde durchmessen habenden Künstler.249 Zwei weitere Wörter zeigen ebenso wie das überraschend realistisch in die kubistische Landschaft eingepasste Gebäude an, wo dieser Weg endet: in der Vitebsker Chudožestvennoe učilišče (Künstlerische Lehranstalt). Das mit einem klassizistischen Atticus versehene Bauwerk in der Bucharinskaja ulica 10 (heute: vulica gazety „praŭda“ 5) mit dem mit einem grünen Schirm entlanggehenden Männchen ist damit ikonisches Zeichen der Realität und zugleich visuelle Realisierung der Wortsemantik von „Künstlerische Lehranstalt“ und „šagal“ (ich/du/er marschierte/Chagall). Umgekehrt aktualisieren die Lettern als Sememe diese Bedeutung; als Grapheme stehen sie in ihrem ästhetischen Kontext (vor dem cremig-weißen Hintergrund) für die Spuren, die Chagall konkret auf seinem Weg zur Kunst­ schule im (verschneiten?) Vitebsk und im übertragenen Sinne in der Malerei zurücklässt. Chagalls häufiger Namenszug ist jedoch mehr als nur Symbol für seinen künstlerischen Werde­ gang. Die weiße diagonale Fläche mit Schriftzügen ruft Chagalls schriftbesetzten Vorhang aus Der Jude in Rot (s. Kap. 3) auf. Mit der formalästhetischen Referenz auf dieses Vor-Bild holt Chagall die künstlerischen Vorbilder herein, in deren Fußstapfen er tritt. In Chagalls kubistischer Landschaft steckt ein kubistisches Stillleben: Was bei Picasso in Die Violine (Jolie Eva) (1912) und bei Malevič als Prototyp seines „alogizm“ (Alogismus) in Kuh und Geige (1913) offensichtlich ist, ist bei Chagall synthetisch zu koppeln: Eine blaugetönte Geige ist halbiert und über eine horizontale Achse nach unten gespiegelt. Cha­ galls nicht gegenstandsorientierte, kubistische Geigenschnecke rechts unten zitiert die gegen­ ständliche Schnecke bei Picasso und Malevič. Chagalls Widersacher an der Vitebsker Kunstschule versieht seine theoretische Schrift O novych sistemach v iskusstve mit einem zeichnerischen Double von Kuh und Geige, das die Doppelperspektivik der Ikone (Dar­ stellung frontal und von der Seite) aufgreift (s. Abb. 4, 5 und 6).250 Beeinflusst von Malevič, führen I. Gavris, L. Judin, L. Ciperson und L. Zuperman unter der Anleitung Vera Ermolaevas dort an Geigen kubistische Fingerübungen durch.251 Die „figura249 Jede Namensnennung steht für ein Schaffensjahr, die vier französischen „Chagalls“ für seine vier Jahre Paris, die zwölf (Harshav geht von acht bis zehn aus) kyrillischen Namen(sandeutungen) die Zeit von 1900–1910 und von 1918 bis 1920 (2006: 65–69). 250 Außer Kuh und Geige verweist Harshav auf Malevičs Eine Durchgangsstation: Kuntsevo (1913; Abb. in: Harshav 2006a: 67). Stimmt die Datierung auf 1920, ist Kubistische Landschaft wieder eine ganz praktische Antwort auf Malevičs kunsttheoretisches Wirken (und Verwirken von Chagalls Ideen) in ihrer gemeinsamen Vitebsker Zeit. Statt der Kuh malt Chagall mit hauchzarten rosa Konturen die (typisch ostjüdische) Ziege neben einem Mann ins Bild, deren Silhouette vor die Vitebsker Kunstschule eingezeichnet ist. Aufgrund der Farbgebung tritt sie in eine Äquivalenzbeziehung zu Chagalls Künstlerauge. In seinem Bauhausbuch Die gegenstandslose Welt von 1927 setzt Malevič die metatheoretische Reflexion kubistischer und suprematistischer Darstellungsexperimente anhand der Geige fort (1980: 30–31). Chagall greift sie als fast schon emblemhafter Fetisch kubistisch-suprematistischer Kunst auf. Zugleich ist es das jüdische Instrument seiner Bilder, vgl. v. a. Der Geiger (1912/13 und 1911–1914; Abb. in: Walther/Metzger 1987: 32–33). 251 Zu Vera Ermolaevas „kubističeskaja masterskaja“ (kubistisches Studio) s. Šatskich 2000: 87–90. Zu Judins, Gavris’, Zupermans und Cipersons kubistischen Geigenstudien s. die Abb. in: Šatskich 2000: 86, 100–103.

92  |  Identität interkulturell und intermedial tion antilogique“ (Liebelt 1968: 151) der Kubistischen Landschaft ist Chagalls (anti)kubistische Reaktion auf die durch und durch logischen Darstellungen seiner Kollegen, die ins feindliche Lager Malevičs übergelaufen sind. Zur expliziten Manifestation des Künstlers, der grünbeschirmt zu seiner eigenen Lehranstalt marschiert, gesellt sich in Kubistische Landschaft die implizite. Die Semantik der Bilderformen ergänzt die Semantik der Schrift: Das in sich geteilte, farblich gestufte graue Dreieck als Mund, die schematisierten dunklen Locken des Schallloches – Locken sind auch in Chagalls Autobiographie sein Markenzeichen – und das mit Grün, der Farbe Chagalls affizierte Auge im fragmentarisierten Kreis (und im Bildzentrum zugleich) ergeben zusammen einen durchaus femininen Chagall im Profil (s. Abb. 2).252 Eine weich geschwungene, weiß und magentarot geteilte längliche Fläche im linken unteren Bildeck verwandelt sich bei dieser ‚anatomischen‘ Lektüre des Bildes in einen Arm. Die Schnecke rechts unten entpuppt sich als Farbpalette; sie enthält als Farbtupfer – wie im Selbstportrait mit Palette von 1917 – genau die Farben, aus denen Kubistische Landschaft besteht.253 Chagalls Verfahren, das ästhetische Material zu anthropomorphisieren (im Medium der Literatur vor allem durch Vergleich und Metapher), kehrt hier mit den Mitteln der Malerei wieder. Das Subjekt, das bei Malevič aus dem Bild verschwindet, ist bei Chagall auf subversive Weise präsent. Bildurheber und Bildprodukt verschmelzen bei Chagall zu einer Einheit, auch um auf diese Weise Malevičs entsubjektiviert-suprematistischem Aufbruch ins Universum mit einem eigenen subjektzentrierten Bilduniversum zu kontern. Die frappierende Ähnlichkeit der Farbverwendung, die geometrisierte Bildkomposition, die Koppelung von Figürlichem und Nichtfigürlichem und der Einsatz von Schriftzeichen verbindet das implizite Autoportrait Kubistische Landschaft mit dem expliziten, auf 1918 datierten Selbstbildnis (s. Abb. 8). Es zeigt einen fragmentarisierten Chagallkörper, der sich in Kenntnis des sprachlichen Hintergrundes erklärt. Dank des tiefen ‚russischen‘ L am Wortende tönt der Name Chagall „vi a shal fun gleker“ (wie Glockenklang), schwärmt Bella in ihren Erinnerungen Di ershte bagegenish (Die erste Begegnung; Chagall 1947: 25). Die Bedeutung des russischen Verbums spiegelt sich im Lautkörper: Beide implizieren Schwung, Elan, Dynamik. Chagall übersetzt dies in seinen visuell inszenierten Künstlerkörper: Ein langes Bein und ein Arm, ohne Torso direkt mit dessen Kopf verbunden, formen zusammen ein russisches „л“ (l). Dieser aus den drei Körperteilen bestehende Buchstabe vollendet den auf Kyrillisch ins Bild gesetzten bunten Schriftzug „šaga-“ (шага-) zu „šagal“ (ich/du/er schritt) beziehungsweise „Šagal“ (Chagall). Im Gestus avantgardistischer Collagetechniken vermittelt die bildkünstlerische Gestaltung einen Sinngehalt, der über den Eigennamen hinausgeht: Das Bein veranschaulicht die Wortbedeutung des schwungvollen Schreitens; Bein, Arm und Kopf stehen gemeinsam metonymisch für die Verve des Künstlerindividuums Chagall. 252 In der magentaroten Fläche rechts neben der Kunstschule ist noch ein Gesicht angedeutet. 253 Den Bezug zu Selbstportrait mit Farbpalette stellt Chagall auch durch die rosafarbene Ziege her; Chagalls jüdischer Hintergrund ist dadurch nicht allein durch die Schrift präsent. Kubistische Landschaft lässt sich auch als Anspielung auf Georges Braques kubistisches Stillleben Geige und Palette lesen (1910), das in kubistischer Manier die Musik und die Malerei kombiniert (Abb. in: Guercio 1988: Tafel 17).

Die Geburt der Malerei aus dem Geiste des Jiddischen  | 93 Chagall übersetzt diesen voranschreitenden Gestus in Namensgebung und Künstlergabe intermedial ins Medium der Malerei. Zugleich überschreitet er durch die Bildkomposition und die Wahrnehmungsdynamik des Schriftzuges, der zunächst von links nach rechts aufsteigend gelesen und dann durch den nach links ausgerichteten Buchstaben-Körper (Chagall blickt ebenfalls nach links) vollendet wird, suprematistisches Figuren- und Farbarsenal. Chagall, der Schreiter und Überschreiter (von kulturellen Grenzen, von Künsten und Tabus) geht – dank seiner Namensmetaphorik im buchstäblichen Sinne – über Malevičs Hauptfarben Weiß und Schwarz, über dessen Weißes Quadrat und den Balken als verlängertes suprematistisches Quadrat (s. Malevič 1980: 71) hinweg (das weiße Craquelé im Balken erinnert an die Ikone des Suprematismus, das Schwarze Quadrat von 1914).254 Nicht genug damit: Eine kleine, im Spagat durch die Luft fliegende Figur (auch aus anderen Bildern bekannt) pinkelt schnurgerade in einen gelben Kreis und damit in die erste aus dem Quadrat entstandene suprematistische Figur. Handelt es sich hierbei gar um Chagall? Die assoziative Nähe zum Schreiten, vor allem aber zum Haus, dem Prototyp zu Chagalls Vitebsk-Jerusalem und Symbol seines Schaffens, sowie das Tintenfass auf dem Dach, mit dem der Künstler sein Monumentalgemälde Der Jude in Hellrot (1915; s. Kap. 7) und damit sich selbst zitiert, suggerieren dies. Chagall transzendiert im Selbstbildnis den Suprematismus. Er vollführt damit ein Paradoxon, mit dem er ästhetisch ein Terrain verteidigt, das er während der Vitebsker Zeit realiter an Malevič abgegeben hat: Chagall, der Verfechter figürlichen Malens, schwebt über den suprematistischen Flächen, ist ‚höher‘ (superior) als das gegenstandslose Höchste (supremus), nämlich Malevičs ungegenständlicher Suprematismus.255 Ganz russisch ist Chagalls ‚visueller Klangkörper‘ aus seinem Selbstbildnis von 1918 vielleicht nicht, weiß man um die graphische Nähe zwischen dem kyrillischen „š“ (ш) und dem hebräischen „shin“ (‫ )שׁ‬oder „sin“ (‫)שׂ‬. „Jüdisch im Inhalt, sozialistisch in der Form“ heißt – zwangsweise – die sozrealistische Parole der jiddischen Literatur, die wie die russische von der Ideologie vereinnahmt wurde. „Russisch im Inhalt und ein bisschen jüdisch in der Form“ heißt es bei dem weltberühmten Sprössling aus Vitebsk. Bei Chagall ist in jeder Hinsicht Beweglichkeit gefragt. Chagalls Neubeginn als jüdischer Künstler nach seinem Vitebsk-Debakel als anationalproletarischer Kunstfunktionär ist untrennbar mit dem Moskauer GosET und seinem Wirken in Malachovka verbunden. Diese Schwerpunktverlagerung seiner Identität ist – auch mittels der Schrift im Bild – in den Wanddekorationen verewigt. In Die Liebe auf der Bühne von 1920, Teil der Wanddekorationen für Granovskijs Theater, ist die hebräische Abbreviatur von Chagalls Namen eingeschrieben: ‫ל‬-‫ג‬-‫( ש‬sh-g-l). Eine anmutige, filigrane Balletttänzerin und ihr Partner, an den sie sich sanft anlehnt, gerinnen in Chagalls lyrischer Darstellung zum 254 In einer suprematistischen Komposition von 1915 experimentiert Malevič ebenfalls mit einem Rechteck und einem Kreis (s. Abb. 9). Das Schwarze Quadrat könnte auch durch die quadratische Raute im schwarzen Balken angedeutet sein, das von Chagalls Buchstaben verdrängt wird. 255 Genau genommen handelt es sich um ein kompliziertes – und alogisches – In- und Übereinander von weißem Rechteck, Balken und Chagalls Torso, aus dem Chagall siegreich hervorgeht.

94  |  Identität interkulturell und intermedial Symbol der Liebe. Eingewoben in die hauchzarte, pastellene Gestaltung des Ballettpaares erscheint Chagalls Name in riesigen hebräischen Buchstaben, also ohne Vokale: „Shin“ (‫ש‬/ sh) und Gimel (‫ג‬/g) in der oberen Bildhälfte, Lamed (‫ל‬/l) in der unteren rechten Bildhälfte (Harshav 2006a: 207 und 2006b: 140; s. Abb. 10 und 11).256 Das explizit Russische aus dem Selbstbildnis von 1918 verschwindet von der Bildfläche. Stattdessen taucht implizit (erneut) Chagalls jüdischer Name auf – und mit ihm die Sprachwelt des Jiddischen. Das Jiddische wird von nun an (erneut) einige seiner (Selbst-)Bildnisse auf offene und verdeckte Weise gestalten. Das ästhetische Verfahren bleibt gleich, nämlich intermedial.257 Die bislang genannten Beispiele belegen einerseits die explizite Kopräsenz der beiden Zeichensysteme Sprache und Malerei bei Chagall. Das Medium für die Sprache ist die Schrift; diese ist  – in ihrer Doppelnatur  – auch visuelles Medium. Zu dieser Kopräsenz gesellt sich – als Beispiel für die implizite Übersetzung von Sprache ins Bild – andererseits der Wechsel vom Zeichensystem Sprache in das der Malerei. In beiden Fällen ergänzt die latente und/oder manifeste Präsenz der Sprache das Bild über seine rein bildmedialen Bedeutungs­ ebenen um eine – für Chagall zentrale – kulturelle Dimension. Die Stunde des Jiddischen, das wie kein zweites Symbolsystem (Ernst Cassirer) Chagalls ostjüdische Identität markiert, hat geschlagen.

Wenn aus jiddischen Sprachbildern sprechende Bilder werden Schrift im Bild bedeutet immer auch Sprache im Bild. Aber Sprache im Bild muss nicht mit Schrift einhergehen – andere Bildelemente übernehmen die denotative Funktion der ­Grapheme. Chagall malt nicht nur das, was er sieht, sondern auch das, was er hört. Zahlreiche seiner Bilder versieht er mit sprachlich begründeten – jiddischen, aber auch russischen (s. Kap. 11) – Bedeutungsschichten. Manche entführen – wie auch die jiddische Literatur – in die (verloren gegangene) Welt des Ostjudentums. Manche berühren sich – innerhalb der Gattung des Selbstportraits – mit Chagalls künstlerischer Selbstreflexion. Bild, Sprache und Identität verschmelzen zu einer (ästhetischen) Einheit. Chagall hat besondere Rezeptoren für die bisweilen herrlich komischen Metaphern, Redewendungen und Sprichwörter des Jiddischen.258 Die auffällige Bildhaftigkeit des 256 „L“ ist zugleich der Anfangsbuchstabe für jiddisch „libe“ und russisch „ljubov’“ (Liebe) – und verknüpft so den Bildurheber Chagall mit dessen bevorzugtem Bildthema (Harshav 2006: 140). 257 Chagall verwendet erstmalig hebräische Grapheme in seinem Selbstportrait mit sieben Fingern (1911; Šatskich 2000b: 265). 258 Im Gespräch mit Edouard Roditi unterstreicht der „Breughel der jiddischen Volkssprache“ (Chaim Gamzou in: Roditi 1973: 42) die große Bedeutung der jiddischen Redensarten für sein Schaffen, streitet jedoch eine absichtliche Bezugnahme ab: „Ich habe sie niemals bewusst illustriert, und vor allem habe ich niemals wie Breughel systematische Kompositionen gemacht, in denen jedes Detail ein anderes Sprichwort veranschaulicht. Diese Redensarten und Sprichwörter sind populär geworden, weil Tausende von Menschen sich ihrer täglich bedienen, um ihre Gedanken auszudrücken.“ (1973: 43; s. auch Amishai-Maisels 1978: 76). Diese interessierten aus ethnographischen Gründen auch An-Ski (s. 1928 Bd. 15: 215–222, 231–239). Von Ignats Bernshteyn (1908) und Yoysef Guri (2006) stammen wichtige jiddische Sprichwörtersammlungen, vgl. auch die Einträge in Stutshkov (1950). Am Institut für Jiddis-

Die Geburt der Malerei aus dem Geiste des Jiddischen  | 95 Jiddischen und Chagalls Denken in Bildern münden in die Metapher. André Breton ordnet Chagall die Metapher als Figur par excellence zu (s. Einl.; in Ma vie dominiert jedoch der Vergleich.) Diese Erkenntnis gewinnt er aus Chagalls Bildsprache. Sie rührt aber auch von Chagalls Muttersprache her.259 Unzählige Male realisiert Chagall die Wortsemantik einer Redewendung oder eines Sprachbildes als ikonisches Zeichen.260 Chagall steht damit – von Pieter Bruegels d. Ä. Sprichwortdarstellungen abgesehen – ganz in der Tradition der russischen literarischen Avantgarde: 261 Majakovskij, im Leben Bürgerschreck, in der Kunst einer der Rädelsführer der russischen Futuristen, der „budetljane“ (wörtl.: Zukünftler), und ähnlich selbstbezogen wie Chagall, nimmt Sprachbilder wörtlich: Seine Lyrik lebt von der Realisierung sprachlicher Metaphern: Das „gorjaščee serdce“ ([vor Liebe] brennende Herz) des lyrischen Ich in Majakovskijs Poem Oblako v štanach (Wolke in Hosen, 1914–15) soll von der Feuerwehr gelöscht werden. Doch das lyrische Subjekt ist dagegen: Es will selbst mit seinem Liebeskummer fertig werden. So rollt es „glaza nazleznënnye bočkami“ (tränengefüllte Augen in Fässern; 1955: 180) aus seiner Seele heraus. Majakovskij ist es auch, der Chagalls Namen wörtlich nimmt und – in revolutionärem Eifer – wünscht, jeder möge so schreiten wie Chagall (Chagall 1931: 226). Das komische Potenzial, das die Realisierung einer Metapher in sich birgt, hat in der jiddischen Klassik Sholem-Aleykhem für sich entdeckt. Im dritten Kapitel „Hayntike kinder“ (Kinder von heute) aus Tevye der milkhiker (Tevye, der Milchmann, 1895–1916) bittet der Fleischer Leyzer-Volf Tevye zu sich, wohl um dessen braune Kuh zu kaufen, so jedenfalls denkt der wohl berühmteste Milchmann der Weltliteratur (tatsächlich will der Fleischer Tevyes Tochter ehelichen). Tevye, dieser komisch-ostjüdische Hiob, schmettert ihn in einem seiner meisterhaften Monologe  – eigentlich sind es Zwiesprachen mit seinem Urheber Sholem-Aleykhem (und mit Gott?) – mit einem konkretisierten Sprachbild ab: „Oyb er [Leyzer-Volf ] meynt [...] di mavre beheyme undzere, meg er nemen a shtekn un aroysshlogn zikh fun’m kop.“ (1953: 238; Wenn er unsere braune Kuh meint [...] so soll er einen Stock nehmen und sich das aus dem Kopf schlagen; ÜS: Armin Eidherr; Scholem Alejchem 2002: 85). Chagall selbst, ein Kind der jiddischen Klassik und der russisch-westeuropäischen Avantgarde zugleich, wartet in Ma vie bei seinem Abschmettern des Kubismus mit einer komischen Metaphernrealisierung auf: Den Kubisten wünscht er „qu’ils mangent à leur faim leurs poires carrées sur leurs tables triangulaires!“ (Chagall 1931: 162). tik der Universität Trier hat Ane Kleine 2008 ein Forschungsprojekt zu jiddischen Phraseologien gestartet (http://www.uni-trier.de/index.php?id=19918; 5.3.2012). 259 Chagall ist weit weniger Surrealismus-affin als die Surrealisten Chagall-affin sind. 260 S. hierzu Amishai-Maisels 1978: 76–93, Harshav 1992b: 51–87 und 2006a: 128–135, Lénéman 1983: 168–171 und Soltes 1998: 17–36. Eines der bekanntesten Beispiele ist „geyn iber di hayzer“ (über die Häuser gehen), um das Dasein herumziehender Juden, die von Haus zu Haus gehen und um Almosen bitten, zu beschreiben (s. auch Kenig 1929: 31). Als so genannte Luftmenschen führen sie in der jiddischen Literatur, aber auch in Chagalls Bildern ein glücklicheres Dasein als in der Wirklichkeit (s. hierzu Berg 2007: 443–440 und 2008). 261 Die bildkünstlerische Umsetzung von Sprichwörtern gilt als eine Neuerung Bruegels d. Ä., vgl. Die niederländischen Sprichwörter von 1559 (Abb. in Vöhringer 1999: 54–55, s. auch Holländer 1996: 139f.).

96  |  Identität interkulturell und intermedial

Chagall: Russland, den Eseln und anderen (1911). © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Die Transformation der (jiddischen) Semantik in Ästhetik, die dem konkretisierten Bildpotenzial der Sprache entspringt, ist ein wichtiger Baustein von Chagalls impliziter Intermedialität zwischen Malerei und mame-loshn. Oft birgt die Rückübersetzung eines zunächst kryptischen Motivs in Sprache den Schlüssel zum Bild und zu Chagalls ostjüdischer Identität. Der Jude in Grün ist auch deshalb Grün und Gelb, weil man im Jiddischen, um hohe emotionale Erregtheit auszudrücken, „grin un gel“ (grün und gelb) wird (Lénéman 1983: 182).262 Dies sei dem Juden angesichts der Vertreibungen zu Kriegsbeginn zugestanden. Bella hat Chagall in Wirklichkeit, Chagall daraufhin sich selbst in Der Geburtstag (1915/1923) „fardreyt dem kop“ (den Kopf verdreht). Chagall zeigt sich mit und ohne Bella viele Male in oder mit einem Hahn: 263

262 Zum Bild und den hebräischen Textfragmenten s. Amishai-Maises 1978: 90f. und Stooss 2003: 63–70. Auch im Deutschen kann man vor Ärger „grün und gelb“ werden. 263 Vgl. Der schwarze Handschuh (1923), Braut und Bräutigam vor dem Eiffelturm (1938–39), Bonjour Paris (1939–1942), Das Brautpaar mit Hahn (1939–1947) oder Beim Hahnenschrei (1944; Abb. in: BaalTeshuva 2008: 110, 121 und 151; Burda 2006: 154 und Walther/Metzger 1987: 79). Für das letztgenannte Bild spielt – im Zusammenhang mit Bellas Tod – die jüdische Vorstellung eine entscheidende Rolle, wonach beim ersten Hahnenschrei, wenn Tag und Nacht voneinander geschieden werden, Gott über Leben und Tod eines Menschen entscheidet. Wie andere Tiere aus Chagalls Bestiarium ist also auch der Hahn nicht auf ein monovalentes Bezugs- und Bedeutungssystem zu reduzieren. Auch das ästhetische und semantische Feld um den Hahn in der russischen Volkskunst ist hier in Betracht zu ziehen (s. hierzu Gura 1997 und Dobrianowa-Bauer 2004: 105f.).

Die Geburt der Malerei aus dem Geiste des Jiddischen  | 97 Wer unsterblich in jemanden verliebt ist, ist im Jiddischen „di kapore nokh“ oder „far emetsn“ (wörtlich: jemandes Hahn oder Huhn)“.264 Russland, den Eseln und anderen (1911), nicht nur aufgrund des Titels eines der komplexesten von Chagalls in Paris entstandenen Bildern, steht in mehrfacher Beziehung zur jiddischen Sprache (s. Abb. 12). Die Kuh auf dem Dach evoziert eine Redensart, die Chagalls künstlerischen Phantastereien entspricht: „A ku iz ibern dakh gefloygn un hot an ey geleygt“ (Eine Kuh flog über das Dach und legte ein Ei). Doch warum ist sie rot? Warum saugen ein Kälbchen und ein Mensch an ihr? Spielt Chagall hier – für ihn ungewöhnlich – mit der lateinischen Mythologie und evoziert die Romulus und Remus säugende Wölfin? Chagall, ein Nachtarbeiter, schreibt in Ma Vie eindringlich und knapp: „Deux, trois heures du matin. Le ciel est bleu. L’aube se lève. Là-bas, plus loin on égorgeait le bétail, les vaches mugissaient et je les peignais.“ (1931: 153) In Paris, unweit der Schlachthöfe von Vaugirard (ebd.), mag Chagall dieses Sprichwort eingefallen sein: „Kolzman di beheyme lozt zikh melkn, firt men zi nit zum shoykhet“ (Solange sich das Vieh [meint auch die Kuh – S. K.] melken lässt, führt man sie nicht zum Schächter; Guri 2006: 101).265 Im Bild nährt die Kuh – vom gewaltsamen Tod, den Chagall realiter hört, rot gefärbt – Mensch und Tier, während sich die übergroße Frau mit Melkeimer nähert. Auffällig häufig verwandelt Chagall in den 1910er und 1920er Jahren im Zusammenhang mit dem eigenen Ich Redewendungen in sprechende Bilder: Ob explizit als Selbstportrait ausgewiesen oder implizit über das Bildsujet als solches einzuordnen, ob Radierung zu Mein Leben oder Einzelblatt, das ‚zeichnende Sprechen‘ über sich selbst transportiert auf Grapheme verzichtende Sprache mit.266 Die hier in Rede stehenden Werke sind: Der Maler an der Staffelei (zwei Fassungen von 1914 und 1922; letztere ging mit dem Titel An der Staffelei als Blatt Nr. 18 in die Illustrationen zu Mein Leben ein), Mann mit zurückgeworfenem Kopf (1918), Selbstbildnis mit Palette (1918), Selbstportrait (1922; Illustration Nr. 17 zu Mein Leben), Selbstbildnis mit Haus im Gesicht (1922/23), Selbstportrait mit dem Haus (um 1926) 264 „Kapore“ (‫ )כּפּרה‬heißt wörtlich „Sühne(opfer)“. Am Vorabend von Jom Kippur (Versöhnungstag) wird ein Huhn zu einer Gebetsformel dreimal über dem Kopf geschwungen, bevor es geschlachtet wird. Auf diese Weise werden Ärger und Sünden auf das Opfertier übertragen (zum Ritual des „kapores shlogn“ s. Kolatch 2005: 285–286). Chagalls Aquarell Am Vorabend zum Versöhnungsfest (1912, Abb. in: Kamenski 1989: 149) thematisiert die Vorbereitungen zu diesem unter Ostjuden verbreiteten Brauch. Das Motiv des auf einem Hahn sitzenden Menschen (oft zeigt Chagall sich selbst) stammt aus der Populärkultur: Jüdische Grußkarten zu Rosch ha-schana (Neujahr) zeigen einen Jungen, der ein Täfelchen mit Auszügen der während des „kapores shlogn“ gesprochenen Gebete hochhält, während er auf einem Hahn reitet (YIVO-Encyklopädie 2007 Bd. 2: Tafel 41), vgl. hierzu auch Chagalls Der Hahn von 1929 (Abb. in: Walther/Metzger 1987: 55). Auch im russischen Volksbilderbogen (russ. „lubok“) findet sich ein Hahnreiter (s. Dobrianowa-Bauer 2004: 105, Abb. 9). Zum Lubok s. Kap. 6, Fußn. 334. 265 In Nu 19,1–10 wird die Verordnung des Herrn erläutert, eine rote Kuh als Brandopfer darzubringen. Sholem-Aleykhem spielt in seiner Erzählung A nisref (Abgebrannt, 1902) aus dem Zyklus Ayznbangeshikhtes (Eisenbahngeschichten, 1902–1911) darauf an (1955: 166–175; dt. 1995: 185–195 und Anm. S. 259). 266 Die Drucktechniken, die Chagall in Berlin und später praktiziert, sind Radierung, Holzschnitt und Lithographie (im Umdruckverfahren), s. Meyer 21968: 315–320, Kornfeld 1970 und Güse 1985: 229– 233.

98  |  Identität interkulturell und intermedial und Selbstbildnis mit dem verzierten Hut (1928; s. Abb. 13–17 und 19–21).267 All diese Selbstbildnisse, Kopfbilder zumeist, aktualisieren die Dialektik von Innen (Verstand, Emotion) und Außen (Körper), von Malersubjekt, das sich zum Gegenstand nimmt, und Bildobjekt, das den Blick des sich selbst befragenden und inszenierenden Malers an den Betrachter weitergibt. Zugleich realisieren sie jiddische Körper- und Kopfmetaphern, deren Sinngehalt den Bildgehalt auf eine weitere, stark selbstbezogene Semantik, die Metaphorik zur Allegorie hin weitet. In Der Maler an der Staffelei (1914) bannt Chagall mit Tinte einen Mann mit den Beinen nach oben und dem Kopf nach unten auf graues Papier (die Beine spreizt er dabei wie ein russisches „л“[l]; s. Abb. 13 und 14). Bei der Darstellung des Kopfes bricht Chagall nicht nur die Gesetze der Schwerkraft, sondern auch der Anatomie: Der Kopf des Malers sitzt verkehrt herum auf dem Hals, so dass er uns richtig und zugleich nicht richtig – wie es die Drehung der Person um 180 Grad eigentlich erfordert – ins Gesicht blickt.268 Links von der Figur steht eine Staffelei mit einer leeren Leinwand. Die Staffelei zeigt wirklichkeitsgetreu mit den Beinen nach unten. Als Ort der Bildrealisierung bildet sie mit dem Gesicht samt Sehsinn, dem Ort der Bildimagination, eine Einheit. Zugleich steht sie in spannungsreichem Kontrast zur bizarr verfremdeten Körpereinheit des abgebildeten Künstlers. Überhaupt scheint durch die linke Hand des Malersubjekts, die das Malobjekt, die Leinwand, leicht berührt, eine diagonale Achse von links oben nach rechts unten zu verlaufen. An ihr spiegeln sich der Aufbau des Künstlerkörpers und derjenige der Staffelei. Chagall platziert die Komposition in ein Oval, eine Art Rahmen. Wie so oft nimmt er dadurch eine Grenze mit ins Bild hinein. Diese Grenze trennt ein Außen vom Innen, trennt die – der Schwerkraft enthobene – Welt des Künstlers von dem, was sich außerhalb seiner – die der Gravitation unterworfene Wirklichkeit? – befindet. Solange das Außen noch keinen künstlerischen Ausdruck auf der Leinwand findet, bleibt es leer. Die rahmende Bildstruktur regieren aber Ambivalenzen: Die Staffelei ragt über das Oval hinaus. Sie wird so zum Bindeglied zwischen Innen und Außen. Sie steht zwischen zwei Welten, wird zum Ort einer dritten, imaginierten Welt. Auch sie hebelt die Gesetze der Logik aus, die schon bei der Darstellung des Künstlers zurückstehen muss. Was veranlasst Chagall, die gängige (und den Gesetzen der Logik entsprechende) Malerpose an der Staffelei, die er selbst mehrfach festhielt, aufzugeben? Der Malduktus spielt mit der Formensprache des Kubismus einerseits und der zweidimensionalen, ‚primitiven‘ (und im Primitivismus wieder entdeckten) Gestaltung der Volkskunst andererseits. Zum festen Bestandteil der Volkskunst wie der Avantgarde gehört die schematisierte, stilisierte Darstellung. Chagalls Rückgriff auf das Bildinventar des Kubismus, auf geometrische Formen, hier auf Dreieck und Kreis (nicht jedoch auf die dreidimensional wirkenden 267 Einen Mann mit zurückgeworfenen Kopf zeigen auch das Titelblatt zur ersten Monographie über Chagall von Ėfros und Tugendchol’d von 1918 und Oh Gott von 1919 (Abb. in: Baal-Teshuva 2008: 92 und 102). 268 Bereits in Das gelbe Zimmer von 1910 und in Der Dichter/Le poète ou half past three von 1911 sitzt der Kopf – im ersten Fall jener der Mutter, im zweiten der des Lyrikers – möglicherweise handelt es sich um Chagalls Freund Mazin – nicht mehr auf dem Hals, sondern ist nach oben gedreht; zu Der Dichter s. Haftmann 1988: 64.

Die Geburt der Malerei aus dem Geiste des Jiddischen  | 99 Formen Kubus, Kegel oder Zylinder), und der gezielte Einsatz von flächigen Schwarz-WeißKontrasten, welche die Geometrisierung betonen, bewirken diese Schematisierung. Sie lassen die Figur des Malers marionettenhaft erscheinen und machen diese  – parallel zum Marionettenkult eines Aleksandr Blok oder Vsevolod Mejerchol’d  – zum Vertreter der Avantgarde in der Kunst (s. Kap. 6). Die formal-kompositionelle Bildgestaltung reicht jedoch nicht aus, das Bildthema der Zeichnung umfassend zu erhellen. Ihm zugrunde liegt die jiddische Redewendung „iberkern mitn kop arop un mit di fis aroyf“, die besagt, dass man „mit dem Kopf nach unten und den Füßen nach oben das Unterste zuoberst kehrt“, „einen Umsturz macht“, „alles aus den Angeln hebt“. Chagall nimmt den Sinn der Redewendung wörtlich und setzt ihn ins Bild. Realisiert wird aber nicht nur das Denotat, das als direkte Wortbedeutung dem jiddischen Sprachbild anhaftet. Verknüpft ist es mit Konnotationen, die im Kontext der Kunst­ent­wick­ lung zu Beginn des 20. Jahrhunderts und der Künstlerbiographie Chagalls zu sehen sind. Im Bild wird die Verankerung in Raum und Zeit aufgehoben. Chagall imaginiert sich zudem als Künstlersubjekt, das den Perspektiven in der Malerei Hohn spottet. Weder die alt­ gediente Linearperspektive der Renaissance noch die revolutionäre kubistische Multiperspektivik organisieren das Bild, sondern die ‚verkehrte‘ Perspektive des Malers aus dem Bild heraus in die Welt.269 Chagall setzt hier bewusst den Akzent auf das Auge: Am Puls der avantgardistischen Revolutionierung der Kunst nimmt Chagall in Paris von 1910 bis 1914 im Louvre eifrig die traditionelle westeuropäische Kunst, in Salons und Galerien die Hauptvertreter der modernen Ismen in den Blick. Dank dieser ästhetischen Aneignung des Fremden gelingt ihm die Verfremdung des Eigenen, der russisch-ostjüdischen Lebenswelt und Identität. Mit diesem ‚anderen‘ Künstlerblick führt Chagall einen doppelten Umsturz in der Kunst herbei: Die eine Umwälzung betrifft die internationale Avantgarde, die andere die jüdische ‚Nationalkunst‘ (vgl. Kap. 4). Chagalls anderes Sehen spiegelt sich im Signieren des Bildes: In der Tuschezeichnung erscheinen am unteren Bildrand sein jiddischer und sein ‚euro­pä­ ischer‘ Name. Chagall wiederholt es beim Mann mit zurückgeworfenem Kopf (1911, 1914, 1918) und im Selbstbildnis mit Palette von 1918  – einer kühnen kubistisch-konstruktivistischen Selbstdarstellung, in der sich Chagalls ‚Gesichtszüge‘ aus Kubistischer Landschaft andeuten (s. Abb. 15 und 16).270 Wieder ist der Kopf gedreht, ob er sich nun vom Schwindel künst­ lerischen Schaffens dreht (jiddisch: „der kopf dreyt zikh“) oder von der Liebe zur Kunst „fardreyt“ (verdreht) ist. Chagall nimmt dies ganz wörtlich ins Bild herein, um den Ursprung seiner ‚verrückten‘ Bilder im ver-rückten Kopf (seiner Imagination) zu markieren.271 269 Diese verkehrte Sicht ruft die „obratnaja“ (umgekehrte) oder „ložnaja perspektiva“ (falsche) Perspektive als Zentralmerkmal der (russischen) Ikone auf. S. hierzu Kap. 9.1. Auch dieses Verfahren der Ikone realisiert er durch den umgekehrten Kopf und durch die Kopf stehende Figur. 270 Zum Motiv des offenen und des geschlossenen Auges s. Kap. 7 und 9.1. 271 Im Mann mit zurückgeworfenem Kopf tritt Vitebsk als Ausgangs- und Bezugspunkt zum anderen Sehen, Imaginieren und Malen hinzu. Pierre Schneider verweist als weitere ästhetische Referenz auf die byzantinische Kunst, die durch den umgekehrten Kopf eines Mannes mit Tora „die Entrückung eines Menschengeistes durch das Göttliche versinnbildlicht.“ (1995: 62) Bei Chagalls Selbstverortung tritt auch in diesem Fall eine synthetische kulturelle Verankerung zutage.

100  |  Identität interkulturell und intermedial Für seine Autobiographie greift Chagall das Bildthema aus Der Maler an der Staffelei seitenverkehrt auf. Diese spätere Bildvariation von 1922/23 wirkt konventioneller im Vergleich zur ersten. Sie ist flächiger, realistischer. Chagall hat hier die Dynamik und Dialektik der Ismen vom Bild- in den Verbaltext verlagert. Im Medium der Radierung treten die geometrischen Elemente zurück. Was bleibt, ist die Umsetzung der Redewendung ins Bild. Das jiddische Sprachbild überdauert die kubistische Bildsprache. In Berlin zieht eine für Chagall zentrale Begegnung einen wichtigen handwerklichen Wechsel nach sich: Hermann Struck (1876–1944), der als Graphiker und Maler fast ausnahmslos jüdische Themen und Figuren gestaltet, führt Chagall – im Land der Graphik – in die neue Technik des Radierens ein. Das ästhetische Umschwenken in einen zurückhaltend formalisierten, weniger kubistischen denn ‚mimetischeren‘ Zeichenduktus hängt zugleich mit Chagalls biographischen (Um-)Brüchen zusammen: Als Chagall 1922 über Kovno (Kaunas) endgültig aus der Sowjetunion ausreist, ist ihm diese Zäsur schmerzlich bewusst.272 Vitebsk, sein vitalster Bezugspunkt, ist auf immer verloren. Die Beziehung zu Vitebsk am Leben erhalten kann er nur noch kraft der Erinnerung. In Selbstportrait (1922), Selbstbildnis mit Haus im Gesicht (1922/23) und Selbstportrait mit dem Haus (um 1926) steht anders als in Chagalls erster Pariser Phase nicht das Erinnerte (Vitebsk) im Vordergrund, sondern  – über den Umweg der Sprache – der Akt des Erinnerns. Das Selbstbildnis als der von Chagall bevorzugte Ort der Manifestation revolutionärer ästhetischer Experimente gerinnt zum Gedächtnisbild. Chagalls (inhaltsorientierter) Blick zurück in die Vergangenheit dominiert das ästhetisch Neue früherer Inszenierungen seines (ausdrucksorientierten) Sehens. Die Kette zu den früheren Selbstbildnissen reißt allerdings nicht ganz ab; verbunden sind sie untereinander durch die jiddische Sprache. Chagalls Selbstportrait von 1922 für Mein Leben zeigt auf seinem Kopf ein Haus, das man üblicherweise aus seinen Vitebsk-Bildern kennt (s. Abb. 17). Die drei Fenster, das Okulus, die Leiter und der Holzzaun gehören fest zum ‚Symbolarium‘ seiner Heimat. Unter Chagalls gelocktem, mit weiblichen Zügen versehenem Haupt befinden sich, die Auflösung von Chagalls Körper ins leere Weiß des Bildes verhindernd, seine Eltern, Bella und in ihrem Arm die kleine Ida.273 Chagalls Androgynie ist Ausdruck seiner Selbstreflexion (seine vermeintliche Unmännlichkeit bekrittelt er ja selbstironisch in der Autobiographie; s. Kap. 3). Sie ist aber auch eine Hommage an Hermann Struck, der in einer der 52 Illustrationen zu Arnold Zweigs Kultbuch der damaligen Zeit, Das ostjüdische Antlitz (1920), in weicher Linienführung und Schraffur eine junge Jüdin porträtiert (Zweig 1988: 128; s. Abb. 18).274 272 Die Endgültigkeit seiner Entscheidung tritt ihm vielleicht umso deutlicher vor Augen, als er in Berlin alte Gesichter der russisch-jiddisch-jüdischen Szene wieder trifft. Für viele Vertreter der ostjüdischen und russischen Intelligenz wie Chaim Nakhman Bialik, Yisokher Ber Ribak, Dovid Bergelson, Perets Markish oder Leyb Kvitko ist das Exil (zunächst) die einzige Lösung (s. Kap. 8.3). 273 Die Illustration könnte, nachdem sie auch Bella und Ida ins zu Erinnernde einreiht, zu einer Zeit entstanden sein, als Chagalls Frau und Tochter ihm noch nicht nach Berlin nachgefolgt sind. Sie kommen im Herbst 1922 dort an (Wullschlager 2008: 277). 274 Im Zuge der jüdischen Kulturrenaissance wurden die Ostjuden zur Projektionsfläche vieler assimilierter deutscher Juden. Diese „Juden ohne Judentum“ (Brenner 2000: 11) der Weimarer Republik träumen

Die Geburt der Malerei aus dem Geiste des Jiddischen  | 101 Der romantische Gestus der Zeichnung, die den leicht verklärten Blick in die Ferne einfängt, geht nicht in Chagalls Illustration zu Mein Leben ein, wohl aber die femininen Züge der Frau und die leise Wehmut, die aus ihrem Blick spricht. Chagall rahmt dieses Gesicht nun mit seinem Vitebsker Wohnhaus oben und seinen Angehörigen unten – und mit zwei jiddischen Redewendungen, die er durch diese Bildelemente evoziert: Seine Liebsten, egal ob tot (Eltern), ob lebendig (Bella und Ida) „lign“ Chagall „in hartsn“ (oder „krikhn in hartsn arayn“); d. h. Chagall trägt sie im Herzen, hält die Erinnerung an sie in seinem Innern wach. Das Haus sitzt ihm, wie anderen ein Hut, auf dem Kopf; er hat diese seine Heimat „in seykhl“ (im Kopf ), kann sie nicht aus seinen Gedanken vertreiben. Die Illustration fängt damit den Grundtenor seiner Autobiographie als Erinnerungstext paradigmatisch ein.275 Dieselbe Redewendung „hobn epes in seykhl“ (an etwas denken, etwas im Kopf haben) liegt auch Chagalls auf 1926 datiertem Selbstportrait mit dem Haus zugrunde (s. Abb. 20). Der Künstler zeichnet sich diesmal frontal; mit leicht geöffnetem Mund und einem in die Ferne gerichteten Blick scheint er einer Welt entgegenzublicken, die nur in seinem Gedächtnis existiert. Metonymisch ist sie durch das – wie das ganze Gesicht – hingehauchte, fast zentralperspektivisch realisierte Haus auf seinem Kopf repräsentiert. Chagall ist in diesem Autoportrait ungewöhnlich realistisch; zugleich scheint sich sein Selbst in der konturschwachen Eigenrepräsentation, von der Macht der Erinnerung angezogen, aufzulösen. Ebenso wie in Chagalls Autoporträt für Mein Leben verdrängt das Gedenken des realen Zuhauses in Vitebsk das „bait schel rosch“ (Haus des Kopfes), also die Gebetskapsel, die fromme Juden zum Morgengebet an der Stirn anbringen (Harshav 2006a: 60). Die göttliche Weisung, als Teil des kollektiven Erinnerungsaktes zur Verehrung Gottes Zeichen an Arm und Stirn anzubringen, so der Inhalt der Gebetskapseln, wird bei Chagall durch die individuelle (und ästhetisch fixierte) Gedächtnishandlung abgelöst.276 Chagalls Selbstbildnis mit Haus im Gesicht von 1922/23 wirkt im Vergleich zu den Selbstbildnissen von 1922 und 1926 radikal (s. Abb. 19). Gerade im Vergleich zur rea­lis­ tischen, leicht melancholischen Autoporträtierung von 1926, in der lediglich das Haus als verfremdendes Element auffällt, drücken die druckgraphische Gestaltung und ihr vermittelter Stimmungsgehalt eine aggressive ästhetische Verfremdung und Selbstentfremdung aus. Doch auch im Vergleich zum Selbstbildnis von 1922 meint der Wechsel der Position des Hauses vom authentischen Judentum. Zweig und Struck, der sich in seinen Graphiken ausdrücklich auf Rembrandt bezieht und mit seinen Illustrationen visuelle Pendants zu Zweigs emphatischen literarischen Portraits schafft, tragen mit ihrem Buch wesentlich zum Ostjudenkult der damaligen Zeit bei (Hille 2006: 122–123, s. auch Bertz 1991: 33–39). 275 Léon Lénénman deutet die Illustration, die den feminisierten Chagall zeigt, anders: Ausgehend von den jüdischen Frauen, die im Schtetl den Sabbat oder einen Feiertag vorbereiten, alle Hände voll zu tun haben und deshalb ausrufen: „oy, oy, die gantse shtot oyf mayn kop!“ (oh, oh, die ganze Stadt auf meinem Kopf ), schließt er auf Chagalls Mutter (1983: 182). Der gesamte Bildkontext, der die Mutter neben den anderen Familienmitgliedern zeigt, und die eindeutige Gattungszuordnung zum Autoportrait lassen jedoch an der Engführung von Redewendung und Chagalls Mutter Zweifel aufkommen. 276 Die Kapseln enthalten Pergamentstreifen mit 5. Mose 6,8 und 11,18. Möglicherweise kommt auch hier ein Verfahren der Ikone zur Anwendung, die das, was ein Geschehen in einem Innenraum (im vorliegenden Fall das Erinnern) als außen befindlich darstellt (s. hierzu Uspenskij 1986: 788).

102  |  Identität interkulturell und intermedial einen Wechsel der existenziellen Befindlichkeit mit. Chagalls Gesicht ringt mit einem in langen Strichen gezeichneten, chaotischen Nichts, ohne eine Autonomie vom Dunkel (der eigenen Seele?) zu erlangen: Die dunkle, vertikale Strichführung hebt, auf begrenzende Gesichtskonturen keine Rücksicht nehmend, die Unterscheidung zwischen Bildvordergrund und -hintergrund auf. Sie droht das Selbst in ein dunkles Chaos zu reißen. 277 Schmale, schräg stehende Brauen und der stechende Blick zweier formal dissonanter, asiatisch wirkender Augen erinnern an Ernst Ludwig Kirchner. Die lange Nase, die die Stirn verengenden Locken und besonders die Augen verleihen dem Gesicht etwas Diabolisches. Das Haus anstelle des Mundes verstört. Es ist Hauptbestandteil dieser verfremdeten Wiedergabe des eigenen Ich, die sich in ihrer Intensität und alogischen Kombination zweier Elemente (hier eines Dinges und des Menschen) nur mit Chagalls Selbstbildnis mit Ziege (ebenfalls von 1922/23) messen kann. Wieder ist das Haus Symbol seiner Herkunft, seiner Kindheit. Wieder ist das Haus Resultat einer jiddischen Wendung: „hobn a ful moyl mit epes“ heißt auf Deutsch so viel wie „ununterbrochen von einer Sache sprechen“. Vitebsk geht ihm nicht aus dem Sinn, ist immer wieder Gegenstand seiner Rede (und seiner Bilder). Ob ihm dies so leicht von der Zunge geht, wie es die hinter der Darstellung stehende Redewendung suggeriert, ist im Bild offen in Frage gestellt. Schließlich ist jemand bar eines Mundes – jener ist ja durch das Haus ersetzt  – zum Verstummen bestimmt. Auf schmerzliche Weise versinnbildlicht dieser Fremdkörper im von der Schraffur gepeinigten Gesicht Chagalls (vielleicht sprachlich, vor allem aber emotional bedingte) Kommunikationsunfähigkeit. Der in die linke Wange skizzierte Mund ‚spricht‘ eher über ein Sagen-Wollen als über ein SagenKönnen. Der Verlust der Heimat lässt sich mit Worten nicht beschreiben; die innere Wunde wird durch die hektische Schraffierung und die widernatürliche Substitution des Mundes durch das Haus ins Äußere des Gesichts transponiert. 1927 hat Chagall eine neue Bleibe und damit zu sich zurückgefunden (Compton 1990: 206; Meyer 21968: 365): Sein Selbstbildnis mit dem verzierten Hut (1928) prägt eine heitere Grundstimmung. Es zeigt uns Chagall, den Clown, der mimisch und aufgrund der deutlichen Ausgestaltung der Mundpartie das frühere, in Aquatintatechnik gefertigte Selbstportrait mit Grimasse (1924) evoziert (s. Abb. 21 und 22).278 Zitiert Chagall im Selbst­ portrait von 1922 Hermann Struck, so ist es hier Rembrandt, dessen Selbstbefragung neben Dürer zu den großen Leistungen und Rätseln der Gattung Autoportrait gehört.279 Chagall 277 Auch ein frühes Selbstportrait von 1910 zeigt Chagalls Gesicht gänzlich schraffiert, allerdings ohne verzerrende Entstellung und die Grenzen des Gesichts respektierend (Abb. in Ausst.kat. Marc Chagall. Retrospektive 1985: 94). 278 Hierzu gehört auch sein Selbstbildnis mit lachendem Gesicht (1924/25; Radierung und Kaltnadel), das ebenfalls frühere Selbstdarstellungen aufgreift, beispielsweise sein Doppelbildnis mit Weinglas (1917– 1918; Döring/Gatenbröcker/Nahrwald 1997: 168–170, Ausst.kat. Marc Chagall. Retrospektive 1985: 123). 279 Zu Chagalls interikonischen und intermedialen Bezugnahmen auf Rembrandt in Autoportrait und Autobiographie s. Kap 4. Zugleich fällt die Nähe zu Fotografien auf, auf denen sich Chagall als arrivierter Künstler in gestreifter Jacke vor eigenen Bildern ablichten lässt, vgl. Marc Chagall. Retrospektive (1985): Hier ist Chagall mit gestreifter Jacke und Palette vor seinem betenden Juden (Aufnahme von 1925; S. 11) und in einer weiteren Aufnahme von 1927 (S. 15) mit Bella zu sehen.

Die Geburt der Malerei aus dem Geiste des Jiddischen  | 103 experimentiert mit Rembrandts physiognomischen Studien, in denen Leidenschaften und Affekte gespiegelt sind (Döring/Gatenbröcker/Nahrwald 1997: 170). Aber nicht nur dank Rembrandt hat dieses Selbstportrait eine lange Geschichte, die bereits in Chagalls Selbstportrait mit Eltern von 1911 ihren Anfang nimmt.280 Ähnlich der verdichtenden Traumarbeit schiebt er seinen lockigen Kopf und die Kopf­ bedeckungen seiner Eltern ineinander. Der verlebendigte Hut auf Chagalls Kopf wirkt nicht verstörend, sondern komisch, der ganze Chagall chaplinesk (s. Compton 1990: 206). Auf dem Hut finden die Bretterzäune Vitebsks sowie Marc und Bella, Chagalls Privatmetapher für die Liebe, Platz. Was nicht Platz findet, sitzt anstelle einer Feder auf dem Hut – oder ist Teil des Bildhintergrundes: Das uns schon bekannte Chagall’sche Häuschen und die kleine Kuppelkirche  – Chagalls Vitebsk-Symbol  – ist in seiner Zuordnung zum Hut und zum Hintergrund ambivalent. In Selbstbildnis mit dem verzierten Hut ist der lockige Satyr aus dem Vorgängerbild von 1924 gebändigt. Anders als das Selbstportrait mit Haus im Gesicht zeigt es nicht einen von der Last der Erinnerung gepeinigten, sondern erlösten Künstler. Der Bildhintergrund ist nicht mehr vom Chaos regiert, sondern von Chagalls Leben und Werk gleichermaßen belebt. 281 Das Autoportrait präsentiert Chagall nun wieder in der Pose des Künstlers – mit Palette, wie auf den ‚russischen‘, der Ästhetik und nicht dem Gedächtnis zugewandten Autoportraits. Chagall hat in dieser Zeichnung nicht nur einen Hut, sondern „a dakh ibern kop“ (ein Dach über dem Kopf, vgl. russ.: kryša nad golovoj). Das Dach, das in der jiddischen Redewendung metonymisch für das Zuhause steht, meint Chagalls ideelle Heimat Vitebsk, für die er schon lange eine Bildsprache gefunden hat. Es meint genauso gut sein neues reales Zuhause, in dem er seine alte und doch immer gegenwärtige Heimat Vitebsk künstlerisch zu neuem Leben erwecken kann. Der Hut wird zum visuellen Chronotop, das verschiedene Zeiten und Räume in sich zu vereinen vermag. Er übernimmt hier dieselbe Funktion wie der die jiddische Sprache realisierende Schirm in Kubistischer Landschaft: Dort ist Chagall „bashirmt“ (beschützt), hier – von der alten und der neuen Heimat – „bahit“ (behütet).282 „Bahitn“ heißt im Jiddischen außer „behüten“ auch „bewahren“: Der das Gedächtnis an Vitebsk bewahrende und Chagall behütende Hut realisiert also beide Bedeutungen.

280 S. Abb. in Marc Chagall. Retrospektive (1985: 122). Es existiert noch eine Skizze mit demselben Motiv (ebd.). Eine weitere Version von 1931 wurde als Umschlagmotiv für Ma Vie verwendet (Compton 1990: 202, Abb. ebd. S. 11). 281 Die Leinwand links zeigt einen Geiger. Mit Chagall untrennbar verbunden und weder dem Bildhintergrund noch Chagall eindeutig zuzuordnen, sind rechts ein angedeutetes Gesicht (Bella?) und ein Holzhäuschen mit Kuppelkirche, also die üblichen Vitebsk-Chiffren, zu sehen. Auch die Staffelei links ist ambivalent und könnte ebenso gut ein Fensterkreuz darstellen. 282 Der Schirm, der den zur Kunstschule marschierenden Chagall „bashirmt“ (beschützt), bedeutet in dessen Ikonographie Glück. Benjamin Harshav stellt diesen Zusammenhang über die jiddische Redewendung „got zol dikh bashiremen“ (Gott möge dich beschützen) her. Aufgrund der phonetischen Nähe könnte es mit der hebräischen Wurzel „sh-m-r“ (behüten) und dem Segensspruch „zol got dikh shoymer-umatsil zayn“ (Gott möge dich behüten und erretten) in Verbindung stehen (2006a: 65).

104  |  Identität interkulturell und intermedial Chagall spielt mit hebräischer Schrift und jiddischer Sprache. Seine (Selbst-)Bildnisse lassen uns Sprache sehen. Sie ‚sprechen‘ Jiddisch (aber auch Russisch). Chagalls Metaphernmetamorphosen nehmen sein mame-loshn beim Wort. (Bei aller Nähe Chagalls zur Bildhaftigkeit der jiddischen Sprache muss man als Rezipient auf der Hut sein, um nicht dort etwas Jiddisches in seine Bilder hineinzulesen, wo vielleicht der grundsätzlichere Wahrnehmungsmodus wirksam ist, generell in Bildern zu denken.) Eindeutig hingegen ist jedoch: Chagall inszeniert seine interkulturelle Identität intermedial (Lisickij macht dies nicht zum Gegenstand seiner Malerei). Mag die Sprache als Graphem mehr und mehr von der Bildoberfläche verschwinden, in visuelle Bilder übersetzt kehrt sie immer wieder. In seiner Mehrsprachigkeit und deren ästhetischer Inszenierung ist Chagall ein Kind seiner Zeit.283 Chagalls kulturelle Hybridität und seine hybride Ästhetik erzeugen eine ungeheure bildkompositorische und -semantische Dynamik. Die jiddische – in sich schon hybride  – Sprache hat einen wesentlichen Anteil daran. 284 Dass sie, das einstige hässliche Entlein, als Literatursprache zunächst verpönt, während der (ost)jüdischen Kultur­ renaissance ihren Siegeszug antreten konnte, hat sie – unter anderem – Yitskhok Leybush Perets zu verdanken.

283 Laut Khone Shmeruk sind die Juden in Russland und (Kongress-)Polen mit der Existenz dreier Sprachsysteme, einem hebräischen, jiddischen und russischen respektive polnischen, konfrontiert (1989: 285– 311). Dies trifft auch auf Chagall zu: Auf der Straße spricht er Russisch, zu Hause Jiddisch. Im Cheder lernte er leidlich Hebräisch (Meyer 21968: 41). Die jiddischen Klassiker Mendele und Sholem-Aleykhem inszenieren in ihren Texten wiederholt das (sprachlich) Fremde durch komische Verballhor­ nungen. 284 Zur sprachlichen Hybridität s. Varga 1999: 135–143.

6 Magier zwischen den Welten – Perets’ Der kuntsn-makher (Der Zauberkünstler, 1904), illustriert von Marc Chagall

... so berichte ich Euch, dass man, um Elijahu zu sehen, noch keiner hohen Stufe bedarf – der Unbedeutendste unter meinen Jüngern bringt das fertig. Rabbi Elimelech von Lezaisk (1717–1786; zit. nach Bloch 1996: 123) [...] A od czego się zaczęło? Od prostej książki, którą ci dał Bejrysz Scheiner. Od jednego opowiadania Pereca. Przyleciałeś z książką i mówiłeś, że nie spałeś całą noc. – Może lepiej by było, gdybym jej nie czytał – rzekł ze smutkiem Arie. – Ja nie żałuję. Byłam szczęśliwa, że mi nagle pokazano nasze życie. „Und womit hat es angefangen? Mit einem einfachen Buch, das Bejrysch Scheiner dir gegeben hat. Mit einer einzigen Geschichte von Perets. Du bist mit dem Buch zu mir gekommen und hast gesagt, dass du die ganze Nacht nicht geschlafen hast.“ „Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte es nicht gelesen“, sagte Arje traurig. „Ich bedaure es nicht. Ich war glücklich, dass mir plötzlich unser Leben gezeigt wurde.“ Julian Stryjkowski, Głosy w ciemności (Stimmen in der Finsternis), 1957, S. 182.

Die Initialzündung für Arie und seine Altersgenossinnen Fańcia und Szlomcia, in Julian Stryjkowskis Głosy w ciemności (Stimmen in der Finsternis) aus der engen Schtetl-Welt auszubrechen, geht von Yitskhok Leybush Perets aus (s. auch Kap. 4). Das ist keine Kleinigkeit, zumal obiges Zitat Perets’ doppelte Umwälzung einfängt: die Umwälzung des Lebens und diejenige der Literatur. Perets war mehr als nur Belletrist: Er war auch Sozialrevolutionär, der soziale Agitation betrieb, sich als Advokat besonders für von den zaristischen Behörden verfolgte Personen einsetzte und dafür selbst eine Verhaftung in Kauf nahm (Eidherr 21988: 341, Roskies 1995: 113). Wer nun annimmt, Perets habe vor allem Sozialkritisches verfasst, irrt.285 Mit Sozialkritischem konnte nicht einmal Dostoevskij die russische Literatur revolutionieren. Perets erneuert die jiddische Literatur, weil er genau das Gegenteil eines im Gesell­schaft­ lichen verankerten Schreibens erreicht. Er erschafft Texte, die an kein außerästhetisches ­Krite­rium gebunden sind, sich selbst genügen. Eine auf den gesellschaftlichen Nutzen ausgerichtete Literaturkritik akzeptiert diese Autonomie des „l’art pour l’art“ nicht; poet(olog)isch feiert man sie als Ergebnis eines Textes, in dem die ästhetische Funktion dominiert. Der tschechische Kunsttheoretiker Jan Mukařovský (1891–1975), von dem diese Zuschreibung stammt, hätte aus Nokhem Shtifs Worten von 1921 sofort die Basistheoreme autonomen literarischen Schaffens herausgehört:286 Perets’ literarische Schöpfung 285 Dray khupes (Drei Traubaldachine, 1901) war Perets’ Entwurf für einen sozialen Umsturz (s. Roskies 1995: 127f.) 286 Nokhem Shtif (1879–1933), ein bedeutender Sprach- und Literaturwissenschaftler und jiddischistischer Kulturaktivist, ist Mitbegründer des das Ostjudentum wissenschaftlich erforschenden YIVO

106  |  Identität interkulturell und intermedial zukht un gefint ire tsvekn un vegn nit in der fremd, nit in programen un folksnoytn, nor inveynik bay zikh, oyf eygene estetishe un ideyishe vaytn un tifn. Nit tsum dinen un vegvayzn, nor zikh aleyn barekthikn [...] sucht und findet ihre Zwecke und Wege nicht in der Fremde, nicht in Programmen und Volksnöten, sondern in sich selbst, in eigenen ästhetischen und ideellen Weiten und Tiefen. Nicht, um zu dienen oder um den Weg zu weisen, sondern um sich selbst zu legitimieren [...] (zit nach: Leksikon fun der nayer yidisher literatur, 1956 Bd. 7, Sp. 260/261; Hervorh. S. K.).

Perets’ Revolution der jiddischen Literatur kommt ihrer Neuerfindung gleich. Mendele und – in geringerem Maße – Sholem-Aleykhem sind noch stärker der traditionellen Referenzialität literarischer Texte, wie man sie aus dem 19. Jahrhundert kennt, verpflichtet. Erst mit Perets gelingt die Autonomie des Artefakts. Angesichts der Übermacht der jüdischen Aufklärung, der Haskala, die im säkularen Bereich Literatur für ihre Belange vereinnahmt, und der zentralen Stellung der Religion und der Heiligen Schrift wird die Tragweite dieser Errungenschaft hoffentlich deutlich (s. hierzu auch Glau 1999: 51). Perets, ein Gigant unter den jiddischen Autoren, betätigt sich – ähnlich Puškin – in allen Gattungen. Im Gerangel um die kulturelle und literarische Vorherrschaft des Hebräischen oder des Jiddischen entscheidet er sich literarisch für beide Sprachen, kulturpolitisch für das Jiddische. Er wird zur ideologischen Speerspitze einer auf dem Jiddischen basierenden säkularen modernen Kultur. Die Bewegung des Jiddischismus ist ohne ihn undenkbar.287 Perets’ Innovation liegt in einem zweifachen Integrationsakt begründet: Perets bezieht zum einen die vier großen, teilweise innerjüdischen geistigen Kräfte des 19. Jahrhunderts Chassidismus, Haskala, nationales Bewusstsein und soziale Idee in sein Schaffen ein (s. Niger 1946: 183–189; Glau 1999: 50). Zum anderen gelingt ihm dank moderner literarischer Verfahren und Schreibstrategien, die er aus der außerjüdischen europäischen Literatur in die jiddische Literatur übersetzt, die produktive Umformung des kulturell Tradierten. (Perets, der sich autodidaktisch Polnisch beibringt, liest daneben auch Deutsch und Russisch; s. Moss 2007: 229; Frieden 1995: 234.)288 Perets’ Neoromantik gibt ähnlich dem französischen (Jüdisches/Jiddisches wissenschaftliches Institut, s. hierzu Kap. 13). Er ist u. a. auch für den Boris-KletskinVerlag tätig. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Berlin setzt er 1926 seine dem Jiddischen verpflichtete Kulturarbeit in Kiev fort (Estraikh 2008: 1740–1741, Kühn-Ludewig 22008: 162f.). 287 Zu den Höhepunkten seines Schaffens zählen neben seinen Erzählungen die Dramen Di goldene keyt (Die goldene Kette, 1903–1913) und Bay nakht oyfn altn mark (Bei Nacht auf dem alten Markt, 1906– 1915). Zu Peretsens bilingualem Schreiben – er debütiert mit hebräischen Versen und versucht sich auch im Polnischen  – s. Roskies 1995: 114, Moss 2007: 228–239. Auch für seine Volkstümlichen Geschichten befruchten sich das Hebräische und das Jiddische wechselseitig; einige davon verfasst Perets zunächst auf Hebräisch, bevor er sie ins Jiddische überträgt (Frieden 1995: 308). Zu Perets und seiner Erzählkunst s. Niger 1952, Wisse 1991, Frieden 1995: 225–309 und Roskies 1995: 99–146. Auf der Sprachkonferenz von Czernowitz propagiert er das Jiddische als eine mögliche Sprache neben dem Hebräischen, um die ostjüdische Kulturrenaissance zu vollziehen (Wisse 2008: 1341; s. auch Kap. 1 und 13). 288 Perets, das dritte Glied in der klassischen Trias der jiddischen Literatur, hat anders als Mendele und Sholem-Aleykhem einen starken Bezug zur polnischen Kultur und Literatur. In seiner Lyrik nimmt

Magier zwischen den Welten – Yitskhok Leyb Perets und Marc Chagall  | 107 und russischen Symbolismus oder der Młoda Polska (Junges Polen) dem Mythischen und Volkstümlichen den Vorzug vor dem Realen. Perets schöpft aus dem Tanach, der mittelalterlichen jiddischen Romanze, dem jiddischen Liebeslied und chassidischem Legendengut (Roskies 1995: 113).289 Stellt man, wie David Roskies dies tut, Perets’ ästhetische Revolutionierung der jiddischen Literatur auf eine Stufe mit derjenigen von Freud für die Psychoanalyse, von Einstein für die Physik oder von Lenin für die menschliche Gesellschaft, ist sie angemessen repräsentiert: „What Peretz rescued from the ruins of his personal and cultural past was to determine [...] the future course of Jewish storytelling.“ (1995: 113–114)

„Poezye iz perzenlekhkeyt“ (Poesie ist Persönlichkeit): Zur Poetik von Der kuntsn-makher290 Wann mag Perets’ Ruhm an Chagalls Ohr gedrungen sein? In Chagalls Autobiographie(n) findet sich kein einziger Hinweis auf ihn oder einen anderen jiddischen Schriftsteller. (Mit russischen Autoren ist das anders.) Begegnet sind sich Chagall, der wahlweise in Vitebsk, Petersburg oder Paris seine Revolution der Kunst durchführt, und Perets, der dies ab der Jahrhundertwende in Warschau tut, nie.291 Anfang 1916 wird in Petrograd die Evrejskoe obščestvo pooščrenija chudožestv (Jüdische Gesellschaft zur Förderung der Künste) mit dem Ziel gegründet, die Entwicklung der jüdischen Perets auf Adelbert von Chamisso und Heinrich Heine Bezug; von Chamisso baut er ebenfalls in seine Erzählung Oyf a zumer-voynung (Sommerlicher Erholungsurlaub) ein (Röll 2006: 15–31). 289 Walter Röll schreibt hierzu, Shmuel Niger folgend: Perets „setzte sich auch mit chassidischen Konzepten produktiv auseinander wie dem der Unterscheidung zwischen ‚togteglecher neschome‘, der Alltagsseele, und ‚jontewdiker neschome‘, der Feiertagsseele, oder dem Konzept des angestrebten Verschwimmens der Grenze zwischen kruder Realität, die der niederen Welt entspricht, und dem Reich der Phantasie, der oberen Welt“ (2006: 16). 290 Das Zitat ist Perets’ programmatischem Text Gedanken vegn literatur (Gedanken über Literatur) entnommen (1947 Bd. 7: 261–269, hier S. 269; dt. in: Eidherr 21988: 10–18). 291 Vgl. Chagall 1967: 117. Chagall siedelt im September 1915 mit Bella von Vitebsk nach Petrograd über. In dieser Zeit wird er u. a. mit Demjan Bednyj, Boris Pasternak, Sergej Esenin und Vladimir Majakovskij bekannt und nimmt aktiv an der russisch-jüdischen Avantgardebewegung teil. Eine enge Verbindung entsteht zu seinen Förderern Maksim Vinaver und Grigorij Goldberg, zu den Kritikern M. Syrkin und Elyashev, der ihn an die jiddische Literatur heranführt (s. Meyer 21968: 243, Beizer 1989: 245– 249, Harshav 2004: 230–232). Chagall hält Elyashev 1918 zeichnerisch fest; dessen nom de plume „Bal-Makhshoves“ vermerkt er oben rechts in hebräischer und russischer Schrift. Ein Gedächtnistext Chagalls auf ihn erscheint 1939 in Literarishe bleter (in engl. Übersetzung in: Harshav 2004: 232–235). Um Perets, den exzentrischen Schriftstellerdandy und Protektor, scharen sich – ähnlich wie im „Turm“ (ru.: bašnja) des russischen Symbolisten Vjačeslav Ivanov in Petersburg – seine Zöglinge und Anhänger, darunter Sholem Ash, Dovid Bergelson, Der Nister, Dovid Pinski, Yoysef Opatoshu, Hersh Dovid Nomberg, Avrom Reyzen, Yitskhok Meyer Vaysenberg, Yehoyesh u. a. (s. Glau 1999: 55). „A visit to Perets’s house on Cegliana Street in Warsaw was an obligatory step in the career of any young Yiddish writer who had any ambition.“ (Bechtel 1990: 32) Harshav vergleicht Perets’ Zuhause mit einem säkularen chassidischen Hof (Harshav 2004: 41).

108  |  Identität interkulturell und intermedial bildenden Kunst zu fördern, Stipendien zu vergeben sowie Ausstellungen und Vorträge zu organisieren.292 Die Diskussion um eine autonome jüdische Kunst, zu der Perets maßgeblich beigetragen hat, ist zu diesem Zeitpunkt in vollem Gange.293 In selben Jahr zeigt Chagall in der von Nadežda Dobyčina organisierten Ausstellung Sovremennoe russkoe iskusstvo (Zeitgenössische russische Kunst) seine Illustrationen zu Der Nister und Perets. 294 1917 erscheint dann Peretsens Erzählung Der kuntsn-makher (Der Zauberkünstler/Der Taschen­ spieler) mit drei Illustrationen Marc Chagalls im Wilnaer Kletskin-Verlag.295 So heißt es in der einschlägigen Forschungsliteratur. Trotz ausgiebiger Recherchen konnte kein Exemplar ausfindig gemacht werden.296 Der kuntsn-makher – ein Geisterbuch? Die Wahrscheinlichkeit, dass es in den turbulenten und entbehrungsreichen Zeiten des Ersten Weltkrieges bei dieser Perets’schen und Chagall’schen Koproduktion beim Entwurf blieb, ist groß.297

292 Die Gesellschaft mit Dependancen in Moskau, Char’kov und Kiev besteht bis 1917 und hat ihren Sitz auf der Vasil’ev-Insel (Vasil’evskij ostrov, 5 linija 50). Ihr Vorsitzender ist der Duma-Abgeordnete Maksim M. Vinaver, sein Stellvertreter Il’ja Ja. Gincburg (Beizer 1989: 292; Kazovskij 1991: 243). Ziva Amishai-Maisels (1995: 60) und Kazovskij (1991: 243) nennen als Gründungsjahr 1916, Beizer 1915 (1989: 292). Zur Gesellschaft s. auch: http://www.chagal-vitebsk.com/node/81; Zugriff: 5.3.2012. 293 Angesichts der zahlreichen russisch-jüdischen Doppelidentitäten ostjüdischer Kulturschaffender ist ein an nationalen Kategorien orientiertes, im kultursemiotischen Sinne Jurij Lotmans exklusives Kunstverständnis fragwürdig. Aus der Perspektive einer rechtlich und sozial benachteiligten jüdischen Minderheit im autokratischen Zarenreich ist es verständlich. 294 Amishai-Maisels 1995: 60; Beizer 1989: 248. Die bislang wenig berücksichtigten Illustrationen werden erwähnt bei Meyer 21968: 253, Abramsky 1995: 61f. und Amishai-Maisels 1995: 143f. 295 Boris Arkadevitsh Kletskin (1875–1937) ist eine wichtige Figur der jiddischen Kulturrenaissance. Aufgrund seiner unermüdlichen Verlagstätigkeit hat er wesentlichen Anteil an der Verbreitung moderner jiddischer Literatur (s. Baker 2008 Bd. 1: 905–906). Perets’ Erzählung erschien bislang zweimal in deutscher Sprache: 1913 übersetzt sie Matthias Acher (Pseudonym für Nathan Birnbaum) mit dem Titel „Der Zauberkünstler“ für die Reihe „Vom alten Stamm“ des Jüdischen Verlags Berlin (S. 29–36). Die Neuübersetzung „Der Taschenspieler“ stammt von Armin Eidherr (21988: 41–47). Acher betont mit seiner Überschrift das Element des Zauber(n)s, für das das Jiddische auch das Wort „kishef“ bereit hielte (ein „Zauberer“ wäre demnach ein „kishef-makher“). Armin Eidherr wählt für seine Übersetzung den Titel „Taschenspieler“. „Kuntsn“ meint im Jiddischen Kunststücke, der Begriff verbindet Kunst und Zauberei (s. Roskies 1995: 142): Die vordergründige Eindeutigkeit des Titels tritt zur Ambivalenz des Gesamttextes in eine spannungsreiche Beziehung. Für die autorisierte hebräische Übertragung wählt Perets den doppeldeutigen Titel „ose-nifla‘ot“ (Zauberkünstler), nicht das eindeutige „kosem“ oder „mekhashef“ (Zauberer, Magier; Roskies 1995: 372; Roskies wählt in seiner Analyse zu Perets‘ Erzählungen im Englischen statt „magician“ den Begriff „conjurer“). Achers und Eidherrs Übersetzung lassen sich komplementär lesen: Die ältere ist stärker inhaltlich, die andere wohltuend sprachlich-ästhetisch orientiert (s. auch Armin Eidherr im Nachwort zu seinem Übersetzungsansatz 21988: 246–251). 296 Franz Meyer (21968: 717) und Benjamin Harshav (2003: 41) beispielsweise gehen von der Realisierung des Buchprojekts aus. Hier danke ich besonders Akvile Grigoraviciute von der Litauischen National­ bibliothek in Vilnius, die mich bei der Suche unterstützt hat. 297 Dies ist umso mehr anzunehmen, als während des Ersten Bürgerkrieges jiddische Publikationen verboten werden. Sie erscheinen vereinzelt in Vilna, Warschau und Odessa. In Petrograd verbieten die Behörden die Verwendung hebräischer Lettern; davon ist auch der Kletskin-Verlag betroffen (Estraikh 2005: 26). Chagall selbst schreibt im Jahre 1925 für Literarishe bleter nur davon, dass sich ein Verlag an ihn gewandt habe. Dies sei für ihn der Anlass gewesen, Perets zu lesen (1967: 113). Im Unterschied

Magier zwischen den Welten – Yitskhok Leyb Perets und Marc Chagall  | 109 Über den Ort der drei Zeichnungen zu Perets’ Erzählung im Text, die Chagall auf Anregung Nokhem Shtifs anfertigte (Harshav 2003: 213), lässt sich also nur spekulieren. Das erste Blatt ist eindeutig als Titelblatt zu identifizieren: Es zeigt einen in ein Oval gebetteten Juden, der in einem Buch liest (Abb. 23). Über ihm befinden sich jiddische Schriftzeichen, die Perets als Autor und Der kuntsn-makher als Werk angeben. Ein über einem kubistischen Schtetl schwebender Elias, in der Papierwahl und ovalen Einrahmung dem vermeintlichen Titelblatt ähnlich, könnte als Schlussillustration gedacht gewesen sein (Abb. 24). Auf einer dritten Zeichnung verewigt Chagall die drei Hauptakteure der Erzählung, Khayim-Yoyne, seine Frau Rivke-Beyle und den Zauberkünstler (Abb. 25).298 Der Rahmen der dreiteilig aufgebauten, in einem wolhynischen Schtetl spielenden Erzählung könnte jüdischer nicht sein: Pessach steht vor der Tür. Ein Zauberkünstler hält eingangs mit seinen Kunststücken die Einwohner in Atem. Er ist ebenso geheimnisvoll wie seine Darbietungen: Keiner sieht ihn je etwas essen. So wunderbar wie die Wunder Gottes ist seine Zauberei: Der Zauberkünstler schabt Münzen von den Fußsohlen. Sabbatzöpfe fliegen durch die Luft. Dabei ist er bettelarm und ewig hungrig. Die Schtetl-Juden rätseln, was es mit dem Magier auf sich hat; er ist ihnen „di finfte frage tsu ‚ma-nishtane!‘ ...“ (die fünfte Frage zu ‚ma-nishtane! [wörtl.: Was ist anders!]...“; Perets 1947 Bd. 5: 147) Dieser Ausdruck des Staunens bezieht sich auf die vier Fragen, die am Seder-Abend (jidd.: seyder) gestellt werden (s. Mischna Pessachim 10, 4; bT 1996 Bd. 2: 664).299 „Ma nishtane“ (‫ )מה נשתנה‬sind die ersten Wörter der vier Fragen der Haggada (jidd.: hagode), also der Gebete und Lieder, die am Seder-Abend gelesen und gesungen werden.300 Die Andersartigkeit dieses wun­ derlichen Gastes ist vom Erzähler nur im Vergleich mit derjenigen des Seder-Abends zu fassen. Im zweiten Teil wendet sich der Erzähler dem armen jüdischen Ehepaar Rivke-Beyle und Khayim-Yoyne zu. Ihre große Armut, die in einer ausführlichen Retrospektive in derselben Intensität vorgestellt wird wie Khayim-Yoynes Gottvertrauen, hindert sie daran, den Seder zu Hause zu begehen. So bleibt ihnen nichts anderes übrig, als bei anderen als Bittsteller

hierzu beteuert er 1930 in einem Brief an Shmuel Niger, nie Aufträge zu klassischen jiddischen Autoren, wie Perets einer ist, erhalten zu haben (Harshav 2004: 360). 298 In Meyer 21968 fehlt diese Zeichnung. Eine Zusammenschau der drei Arbeiten zu Perets’ Erzählung findet sich in Hazan-Brunet 2009: 102. 299 Der Seder-Abend wird zu Ehren von Pessach (von hebr.: ּ‫פסח‬/vorübergehen an, überschreiten) begangen. Dieses wiederum verbindet zwei Traditionslinien: Das Fest des Pessach-Lamms geht zurück auf 2. Moses 34,25, wonach Gott den Juden die zehnte Plage ersparte, die den Erstgeborenen jeder ägyptischen Familie traf. Hinzu kommt das Fest der ungesäuerten Brote, an dem des Auszuges aus Ägypten gedacht wird (s. 2. Moses 12, 34 und 23,15; Kolatch 2005: 222–224, s. auch Gal-Ed 2001: 35–67). 300 Die erste Frage lautet vollständig: „Warum ist diese Nacht anders als alle anderen Nächte?“. Der SederAbend wird so als Fest der Freiheit gewürdigt. Es folgen „Warum essen wir dieses ungesäuerte Brot?“, „Warum essen wir bittere Kräuter?“ und „Warum sitzen wir heute Abend angelehnt?“. Auf diese Weise wird des eiligen Aufbruchs aus Ägypten, wo man gesäuertes – unreines, da vergorenes – Brot (chomez) zurückließ, des bitteren Schicksals in der ägyptischen Sklaverei und erneut der Freiheit gedacht, die durch das Anlehnen zum Ausdruck gebracht wird (s.  hierzu Gal-Ed 2001: 44–45 und Kolatch 2005: 248). Chagall erwähnt die Hagode in Ma vie zweimal (1931: 22 und 68).

110  |  Identität interkulturell und intermedial anzuklopfen und dort mitzufeiern. Für Rivke-Beyle ist das eine Tragödie. Doch sie fügt sich dem Willen ihres Mannes. Und siehe da, ein Wunder geschieht: Im dritten, abschließenden Teil der Erzählung, der ganz dem Seder-Abend gewidmet ist, betritt der Zauberkünstler die finstere Stube des Ehepaares just in dem Moment, als es aufbrechen will. Er beschenkt es mit einem reich gedeckten Tisch, den er, wie andere Utensilien auch, herbeizaubert. Ob hier alles mit rechten Dingen, also nach Gottes Willen, zugeht, wollen Khayim-Yoyne und Rivke-Beyle vorsichtshalber vom Rabbi selber wissen. Der erteilt dem Wunder die Absolution. Nach Hause zurückgekehrt, findet das Ehepaar die Wunderdinge für ein eigenes Seder-Mahl unverändert in aller Pracht vor. Der Wundertäter hingegen ist verschwunden. Die Erzählung endet mit einer chassidischen Pointe: Der Gast war der Prophet Elias, eine Zentralfigur des ostjüdischen Volksglaubens.301 Wie in anderen Erzählungen aus den Folkstimlekhe geshikhtn (Volkstümliche Geschichten, verfasst 1894–1912; Frieden 1995: 229) sind Perets’ narrative Versatzstücke in Der kuntsnmakher unverkennbar: Armut, ein göttliches Wunder und Menschen, die die entsprechende moralische Größe mitbringen.302 Doch keine Größe der Erzählfiguren ohne die Größe dessen, der die Fäden in der Hand hält: Perets’ heterodiegetisch-extradiegetischer Erzähler führt eine Doppelexistenz, die sich erst narratologisch erschließt: Jovial und explizit führt er den Rezipienten von einem Schauplatz – dem Gesellschaftsraum, in dem der wunderliche Künstler seine Zauberstückchen vorführt – zum Nächsten, aus der ganz und gar präsentischen Unmittelbarkeit und Thea­ tralität des Erzählens dank einer Retrospektive in die erzählte Vergangenheit der Protago­ nisten: „Nor eyder es kumt tsu ‚ma nishtane‘, veln mir iberlozn dem kuntsn-makher, un ibergeyn tsu Khayim-Yoynen un zayn vayb Rivke-Beyle.“ (Doch ehe es zu ‚ma nishtane‘ kommt, wollen wir den Zauberkünstler alleine lassen und zu Khayim-Yoyne und seine Frau Rivke-Beyle übergehen; 1947 Bd. 5: 148) Über das Erzähler und Leser verbrüdernde „wir“ hinaus simuliert die Frische und Lebendigkeit der Erzählweise große Nähe zum Volk. Staunen prägt ganz und gar den ersten Erzählteil. Ausrufe, Vergleiche, volkstümliche Wendungen – sie alle sind Merkmale des Oralen, die Perets in seine Poetik überführt. Sie sind aber auch erzählstrategische Täuschungsmanöver. Sprachlich mag der Erzähler ganz mit dem ostjüdischen Boden verhaftet sein, doch der Erzählakt impliziert zugleich das Wissen 301 Auch in der ostslavischen Folklore nimmt der Prophet Elias, der magische, am 20. Juli stattfindende Kultakte um den Donnergott Perun ersetzen soll, einen wichtigen Platz ein (s. Zelenin 1927: 38–42, Makašina 1982: 83–101). Angerufen wird er beim Ernteritual des Bartflechtens (zavivan’e borody). Eine kleine Menge von Getreidehalmen, genannt „boroda“ (Bart) oder „koza“ (Zopf ) auf dem Feld wird nicht geschnitten; dann wird sie so gewunden oder abgebrochen, dass Halme zur Erde herabhängen, bevor sie in der Erde vergraben wird. Die Zeremonie symbolisiert die magische Aussaat für das folgende Jahr. „Von den ungeschnittenen Halmbüschelchen sagt man gewöhnlich, der Bart sei für den Propheten Elias (dessen Tag der 20. Juli ist), für Gott, für Christus, für den Erlöser, für den heiligen Nikolaus“ (Zelenin 1927: 41). 302 Vgl. auch Der arendar (Der Pächter; Perets 1947 Bd. 5: 315–332), Der oytser (Der Schatz, Perets 1947 Bd. 5: 198–201), Nisim oyfn yam (Wunder am Meer, 1947 Bd. 5: 139–146) oder Zibn gute yor (Sieben gute Jahre, 1947 Bd. 5: 105–109). Khayim-Yoynes Namensvetter in An opkumenish (Eine Abmachung; Perets 1947 Bd. 5: 93–103) ist von ähnlicher innerer Stärke (Niger 1952: 325).

Magier zwischen den Welten – Yitskhok Leyb Perets und Marc Chagall  | 111 um die Wundertätigkeit Gottes. Die Nullfokalisierung im Kuntsn-makher – der Erzähler hat gleichsam gottgleich die Übersicht – ergänzt die Oralität und Unmittelbarkeit der Erzählung um eine göttliche Dimension. Hier liegt der Kern chassidischen Erzählens, den Perets in seine Prosa übersetzt.303 Stimme und Fokalisierung stehen in der Erzählung weit auseinander.304 In dieser Spannung steckt Perets’ ideologischer Standpunkt (s. hierzu Uspenskij 1975): Perets, der Maskil, trifft sich hier mit Perets, dem ‚Chassiden‘, der menschlich von der Sehnsucht der Chassidim nach dem guten Menschen und poetisch von deren Legendengut beseelt ist.305 Die durchaus volkstümlichen Chassidischen Erzählungen konnten nicht aufklärerisch sein, wohl aber die Volkstümlichen aufklärerisch und chassidisch. Während in Perets’ früherem Schaffen diese beiden Tendenzen ebenso auseinanderklaffen wie das Realistische und das Romantische (s. hierzu Bal-Makhshoves 1953: 196), laufen sie nun zusammen. Bal-Makhshoves, über lange Jahre mit dem Schriftsteller befreundet, erklärt dies mit der ostjüdischen Kulturrenaissance, an der Perets maßgeblich beteiligt war.306 Die Synthese aus Perets’ Haskala-Bestrebungen und chassidischen Erzählstrategien erklärt in Teilen auch den Wechsel von der homo- bzw. auto­ diegetischen Perspektive der Chassidischen Erzählungen zur vorrangig heterodiegetischen in den späteren Volkstümlichen Geschichten (vgl. Frieden 1995: 307f., Moss 2007: 235).307 Das sich meist in unmittelbarer Nähe großer Zaddikim und deren mystischer Versenkung befindliche erzählende Ich der Chassidischen Erzählungen bleibt selbst mystisch. Der Er-Erzähler der Volkstümlichen Geschichten hingegen sucht, dem aufklärerischen Optimismus des Autors folgend, aus der Vogelperspektive die Nähe zum (jiddisch sprechenden) Rezipienten. Shmuel Niger nennt dies „shutfes mitn folk“ („Partnerschaft mit dem Volk“; 1952: 310). Diese didaktischen Tendenzen sind jedoch nur Beiwerk zu Perets’ in die Autonomie erhobene Ästhetik. Perets’ Erzählweise, Komposition und Sprache eröffnen der jiddischen Literatur an der Schwelle zum 20. Jahrhundert den Weg in die Moderne und später in die Avantgarde.308 Mehr noch als in der Sammlung Khsidish steht in den Volkstümlichen 303 Mark Kiel findet hierfür die treffende Formel „vox populi, vox dei“ (1992: 88–120). 304 Zu diesen beiden narratologischen Kategorien s., Gérard Genette folgend, Martinez/Scheffel 4 2003: 63–89. 305 Zu Perets’ aufklärerischen Tendenzen s. Bal-Makhshoves 1953: 191–203. Perets sammelt – wie Bialik auch – neben jiddischen Volksliedern chassidische Legenden, etwa die Shivkhe-bal-shem-tov (Lobpreisungen des Bal Shem Tov), ein populäres jiddisches Buch mit den Sagen des BeSchT (Bal-Makhshoves 1953: 197; Röll 2006: 15). Für das Verständnis von Perets ist Ruth Wisses Unterscheidung zwischen „khsides“ (Chassidismus) und „khsidish“ (Chassidisch) wichtig (s. Wisse 1991: 66). 306 „Ersht fun der tsayt, ven es hot zikh ongehoybn a shtarke natsyonale bavegung bay yidn, un a dank ir iz bashafn gevorn a tribune farn yidishn poet, kinstler, gezelshaftlekhn tuer u. a. v., hoybt zikh on a nayer kapitl in Peretses shafungs-lebn, un grod der shenster kapitl.“ (Erst von der Zeit an, als unter Juden eine starke Nationalbewegung aufkam, und dank ihrer entstand eine Tribüne für den jüdischen Dichter, Künstler und gesellschaftlich Aktiven, beginnt ein neues – das schönste – Kapitel in Perets’ Schaffen; 1953: 196f.) 307 Die Frage nach den Gründen für diesen Wechsel hin zur verstärkt auktorialen Instanz wurde in der Sekundärliteratur zu Perets noch nicht gestellt. 308 Hierin geht er über Mendele und Sholem-Aleykhem hinaus, mit denen gemeinsam er auf der 1919 herausgegebenen Briefmarke der Kultur-Lige und in Chagalls Einführung ins jüdische Theater verewigt ist (Harshav 2003: 41).

112  |  Identität interkulturell und intermedial Erzählungen die narrative Qualität im Vordergrund, nicht die religiöse.309 Getragen wird sie von einer einfachen, ‚naiven‘ Sprache. Sie ist weder ‚faryidisht‘ (verjiddischt), also zu nah an der Alltagskommunikation und die schriftstellerische Individualität auslöschend  – ‚farskarbovet‘ (alltäglich gemacht), so Shmuel Niger (1952: 322) –, noch ‚fargoyisht‘, d. h. fremden, nichtjüdischen Elementen unterworfen und damit von der jüdischen Leserschaft zu weit entfernt. Perets kreiert in den Volkstümlichen Geschichten „a stil, vos iz bay undz der ayngegebnster fun ale sintezn, velkhe zaynen gemakht gevorn tsvishn dem folks un dem dikhters eygener shprakh“ (einen Stil, bei uns die gelungenste aller Synthesen, die bislang zwischen der Volkssprache und der individuellen Dichtersprache gemacht wurden; Niger 1952: 323). Er verknüpft die einfache Sprache des Volkes mit einer narrativen Stilisierung, die von zwei entscheidenden Elementen getragen ist: Zum einen erzeugen der Transfer des Oralen und ‚Niedrigen‘ in die Schrift und dessen Koppelung mit dem ‚Hohen‘ in Form von zahlreichen Hebraismen auf der Phänoebene des Textes eine extreme Spannung. 310 Zum anderen dynamisieren lyrische Gattungselemente durch Rhythmisierung und die daraus resultierende Musikalität die Prosa (s.  Niger 1952: 324; Babel’ wird ihm dies später auf Russisch gleichtun, s. Kap. 9.2). Perets kreiert in der Syntax und der lexikalisch-motivischen Strukturierung des Textes eine triadische Ästhetik.311

309 „In Khsidish zeynen do zakhn, vos zaynen tifer un lirisher, vi di Folkstimlekhe geshikhtn. Ober in Folkstimlekhe geshikhtn (in di besere fun zey) iz do mer dertseylerishkayt, oykh mer bildlekhe kinstlerishkayt.“ (In Chassidisches finden sich Dinge, die tiefer und lyrischer sind als in den Volkstümlichen Geschichten. Aber die Volkstümlichen Geschichten [die besseren unter ihnen] sind narrativer und in der Bildhaftigkeit künstlerischer; Niger 1952: 310) Shmuel Niger vertieft das wenige Seiten später: Die philosophisch-religiöse Dimension zentraler chassidischer Geschichten wie Oyb nit nokh hekher (Wenn nicht noch höher, 1947 Bd. 4: 98–102) oder Tsvishn tsvey berg (Zwischen zwei Bergen; 1947 Bd. 4: 103– 117) dominiert die ästhetische (1952: 318). In den Volkstümlichen Erzählungen kehren sich die Verhältnisse um. 310 Neben der für die osteuropäische Kultur der Juden typische Triglossie (Shmeruk) ist laut Ken Frieden der Sonderfall der Selbstübersetzung dafür verantwortlich: „It has been said that when S. Y. Abramovitsh shifted back from Yiddish to Hebrew fiction after 1886, he bestowed some of the colloquial aura of everyday speech on Hebrew. Peretz traversed the opposite path, bringing the spiritual associations of Hebrew writing into his Yiddish fiction. Hence much of the power of late nineteenth-century Hebrew and Yiddish fiction derived from the effects of autotranslation and, more generally, cultural transfer. Interlinguistic transactions produced results that cannot be attributed to inspired individual creativity in a single language.“ (Frieden 1995: 309) Perets’ in Safed spielende Erzählung Mesires-nefesh (Absolute Ergebenheit, 1904; Perets 1947 Bd. 5: 207–251) aus den Volkstümlichen Geschichten weist in seinem Gesamtwerk die höchste Dichte an Hebraismen auf (Roskies 1995: 127). 311 Zu Beginn der Erzählung beispielsweise erzeugt er durch dreimaliges, stenogrammartiges Fragen und Antworten einen Rhythmus der Aufregung ob des seltsamen Gastes (1947 Bd. 5: 147). Die folgende poetologische Analyse ist komplementär zur stärker inhaltlich ausgerichteten Besprechung von David G. Roskies (1995: 138–142) zu verstehen.

Magier zwischen den Welten – Yitskhok Leyb Perets und Marc Chagall  | 113

Chagalls Sinn für Perets’ Prosa: zur Text-Bild-Beziehung von Der kuntsn-makher Peretsens und Chagalls Künstleridentitäten weisen ein hohes integratives Vermögen auf. Ist es bei Perets neben der Synthese des künstlerisch Fremden (Symbolismus) und des motivisch Eigenen (Chassidismus, jüdische Folklore) die Integration der großen Strömungen des 19. Jahrhunderts, aus der heraus eine genuin jüdische Kunst geboren wird, so ist Chagall für den Zentralkonflikt zwischen Chassidim und ihren Kritikern, den Misnagdim, unempfindlich.312 Chagall führt bereits eine ‚moderne‘ Existenz. Die ästhetische Integration des Religiösen in das Säkulare ist vollzogen. In Chagall und seinem Werk koexistieren die jüdische und nichtjüdisch-russische Identität. Mehrsprachigkeit ist der Motor sowohl von Perets’ Poetik als auch von Chagalls Ästhetik. Perets und Chagall schöpfen aus der oralen jiddischen Kultur und ihrer Gegenwelt, der hebräischen Schriftlichkeit, die von beiden ästhetisch synthetisiert werden.313 Chagalls ‚Sprachbilder‘ und Perets jiddisch-hebräische ‚Zwiesprache‘ in den Volkstümlichen Geschichten überwinden in ihrem verbalen beziehungsweise visuellen ‚dritten Raum‘ die kulturelle und sprachliche Dichotomie zwischen Jargon und loshn-koydesh bzw. Russisch. Dank der Überwindung der Sprachgrenzen loten beide in ihren Artefakten eine ungeheure ästhetische und ideologische Kulturdynamik aus. Perets’ Poetik der Autonomie, die er auch in metatheoretischen Positionen vertritt, birgt hohes Innovationspotenzial.314 Die symbolistisch-modernistische Stilisierung öffnet gerade die Volkstümlichen Geschichten für eine aus der Romantik übernommene Kategorie, die in der (jüdischen) Populärkultur schon immer ihren Platz hatte: das Phantastische.315 Perets’ spezifisch jüdische Phantastik birgt in sich die Aura des religiösen Wunders, ohne von ihm vereinnahmt zu werden. Sie ist chassidisch in der Durchdringung der diesseitigen und der jenseitigen Welt; im Kuntsn-makher wird dies besonders deutlich. Doch ist diese phantastische Durchdringung literarisch vermittelt. Hier, in der ästhetischen Transformation des Chassi­ dismus, der nur noch als motivische und erzählstrategische Folie für Perets’ Poetik fungiert, besteht eine große Nähe zu Chagall. Auch Chagall spielt mit dem Hohen und dem ‚Niedrigen‘, der Religion und ihrer Ästhetisierung, überführt die „chassidische Feier“ (Elie Wiesel) in seine (teilweise karnevalesken) ‚visuellen Feste‘. Perets vermag in seinen Texten ebenso die ostjüdische Lebenswelt zu evozieren, wie Chagall dies in seinen Bildern tut. Bei beiden ist – ob nun in ironischer Brechung chassi­ discher Vorstellungen oder nicht – die Dichotomie von Oben und Unten, Himmel und Erde 312 Zu den Angriffen von aufklärerischer und orthodox-rabbinischer Seite s. Allerhand 1977: 64–72. 313 Chagall ist empfänglich für die orale Kraft des Jiddischen, vgl. seine visuellen Umsetzungen jiddischer Redewendungen und Metaphern. Bei Perets, der grundsätzlich viel stärker mit dem hebräischen Schrifttum verbunden ist als Chagall, kommt der Hunger nach volkstümlichen Erzählungen hinzu (An-Ski zit. nach Shmuel Niger 1952: 331). Die mündliche Erzählung ist ein entscheidender Prätext zu seinen Chassidischen und Volkstümlichen Erzählungen. 314 In Gedankn vegn literatur (Gedanken über Literatur) widersetzt sich Perets in modernistischer Manier der Forderung realistischen Schreibens. Erst in der subjektiven Brechung der Realität durch den Autor erschließt sich eine tiefere Wirklichkeit; zu Perets theoretischen Schriften s. Glau 1999: 67–77. 315 Zum Phantastischen als narratologischer Kategorie s. Todorov 1970 und Lachmann 2002.

114  |  Identität interkulturell und intermedial aufgehoben.316 In einer kurzen Hommage an Perets anlässlich des zehnten Todestages, die 1925 in Warschau in Literarishe bleter (Literarische Blätter) erscheint, beschreibt der Maler Perets’ Erzählen mit eben dieser Aufhebung von Oben und Unten: Das Leseerlebnis von dessen Geschichten gleicht einem jüdischen Mond, der einem plötzlich vor die Füße fällt („varft zikh aykh plutsem fun himl tsu di fis a yidishe levone“; 1967: 113).317 Die ostjüdische Realität selbst ist von Perets’ Schreiben beseelt: Perets, der ‚Gott‘ der jiddischen Literatur, „hot gemurmlt untn tsu mayne fis. geshvumen in di volkndlekh oybn“ (murmelte zu meinen Füßen. Schwamm oben in den Wolken; ebd.). War einst in der panentheistischen Vorstellung der Chassiden Gott in allen Dingen, so ist es nun in der säkularen jüdischen Moderne Perets.318 In Chagalls Reflexionen zu Perets sind nicht nur die realen Koordinaten Oben und Unten aufgehoben, sondern – wie in seinen Bildern auch – Realität und Fiktion. Chagall stattet seine fliegenden Figuren, Repräsentanten dieses phantastischen Wanderns zwischen den Welten, mit derselben Selbstverständlichkeit aus, mit der normalerweise in chassidischen Legenden oder in Perets’ Erzählungen Sterbliche in den Himmel oder Engel auf die Erde gelangen.319 Chagall und Perets stehen für eine jüdische Moderne, die ohne das (religiös geprägte) Wunderbare nicht leben kann. Ästhetisch äußert sich das bei Perets in einem symbolistischen „supernaturalism“ (Roskies 1995: 127), bei Chagall in seinem in Alogik und Metaphorik begründetem „surnaturalisme“, der selbst Apollinaire den Mund offenstehen ließ.

316 „Un virklekh, hobn zikh den in undz, fun kindvayz on, angstik nit gebomblt ot di tener, shabesdike teg, fraytik-tsunakhtike ovntn, sametene hitlen, meydlekh fun ershter libe, peyzazhn vos otemen mit tilim, di letste klangen fun midn khazn un yidn, yidn oyf der erd un oyfn himl.“ (Und in der Tat, schwankten denn in uns nicht seit der Kindheit erschrocken jene Töne hin und her, Festtage, Abende, an denen der Sabbat beginnt, Samthüte, Mädchen der ersten Liebe, Landschaften, die Psalmen atmen, die letzten Klänge des müden Kantors und Juden, Juden auf Erden und im Himmel; 1967: 113) Hier kehrt das Verfahren der Anthropomorphisierung wieder, wie wir es bereits aus Chagalls Autobiographie kennen. 317 Die englische Übersetzung findet sich in Harshav 2003: 42f. 318 In pantheistischer Vorstellung ist die Welt Gott und Gott die Welt, vgl. Spinozas „deus sive natura“. Der Panentheismus vertritt die Auffassung: Alles ist in Gott. Diese Position mancher Mystiker findet sich im Chassidismus wieder (Rothschild 1996: 92f.). Maßgeblich für den chassidischen Panentheismus ist – Jesaja folgend – der Satz aus dem Sohar: „let atar panuj mineh“ (Es ist kein Ort, kein Platz von Ihm leer; ebd.). 319 Das Aufsteigen in den Himmel gehört sozusagen zum Tagesgeschäft des BeSchT (Grözinger 1997: 37–39). Eine chassidische Legende erzählt vom Zaddik von Berdičev (Berditshevski), dem „Licht ­Israels“, der als Fürsprecher der Juden vor Gottes Thron erscheint (Bloch 1996: 59–61). Einen dieser Besuche des BeSchT bei Gott greift Il’ja Ėrenburg in seinem Schelmenroman Lazik Rojtšvanec (Lazik Rotschwanz, 1929) auf. Aus Perets’ Erzählungen lassen sich Bontshe shvayg (Bontshe Shvayg) oder Baym goyses tsukopns (Zu Häupten des Sterbenden; Perets 1947 Bd. 5: 73–80; dt.: 1913: 18–28) anführen. Chagalls Der Himmelskutscher (1911–12) steht in unmittelbarem Zusammenhang mit Peretsens Erzählung Bontshe shvayg, sein On dit (1912) mit Iber a shmek tabak (s. Kap. 4) und Chagalls Geburt (1910) mit In meshiekhs tsaytn (In den Zeiten des Messias, 1908; s. Kamenski 1989: 70–71, Wullschlager 2008: 117–118).

Magier zwischen den Welten – Yitskhok Leyb Perets und Marc Chagall  | 115 Wenn Chagall nun Perets’ Kuntsn-makher illustriert, erfährt dessen ästhetische Trans­ formation chassidischen Ideenguts eine zweite, bildkünstlerische Verwandlung.320 Chagalls Illustration fängt in simultaner Verdichtung des sukzessiv Erzählten den Höhepunkt von Perets’ Erzählung ein: In der Tuschezeichnung zeigt er die Wundertaten des Zauberkünstlers während des Seder-Abends im Hause des bettelarmen Ehepaares. Khayim-Yoyne und RivkeBeyle formen, Körper an Körper und im Schwarz und Weiß wie Nacht und Tag aneinander­ gebunden, im linken unteren Bildteil eine Einheit; seine Schildmütze und ihr Kopftuch samt Folklorerock, den der Betrachter aus Chagalls Mutterschaft (1912/13) kennt, weisen beide – dem Text gemäß – als einfache Ostjuden aus. Im Gegensatz zum umarmenden, verbindenden Gestus des Paares reckt in der rechten Bildhälfte der Zauberkünstler, mit Zylinder und schwarzem Anzug mondän gekleidet, den linken Arm in die Höhe. (Über den rechten, bereits außerhalb des Bildraums sich befindlichen, kann man nur mutmaßen.) Jetzt, wo das Wunder vollbracht ist – zwischen den Figuren schweben ein festlich geschmückter Sedertisch und mit „hesbetn“ (Sederkissen) bestückte Stühle –, scheint er das Bild und damit den Ort des Geschehens zu verlassen: Körperrichtung und Fußhaltung deuten ein Entschwinden nach rechts oben an. All dies vollzieht sich vor weißem Hintergrund und angedeutetem Holzboden, der mehrmals, so beispielsweise in Die Geburt (1910), Das gelbe Zimmer (1911) oder in Chagalls Illustrationen zu seiner Autobiographie im Selbstporträt an der Staffelei (1922) wiederkehrt (s. hierzu Kap. 5). Perets’ Khayim-Yoyne und Rivke-Beyle sind rührende Wiedergänger von Philemon und Baucis aus Ovids Metamorphosen oder – in der russischen Variante – von Afanasij Ivanovič und Pul’cherija Ivanovna aus Gogol’s Mirgorod: Starosvetskie pomeščiki (Mirgorod: Altväterliche Gutsbesitzer, 1835). Zu Gogol’s Paar kommt zwar nur ein durch und durch irdischer Erzähler, doch kümmert es sich ebenso liebevoll um ihn wie Philemon und Baucis um die in Menschengestalt erschienenen Zeus und Hermes oder wie ihr alttestamentarisches Gegenstück Abraham und Sarah um Gott in Gestalt der drei Engel (Gen 18). Feministinnen dürften mit Gogol’s oder Perets’ Text kaum zufrieden sein: In beiden Fällen macht die Frau die ganze Arbeit. Im kuntsn-makher sind die gender-Rollen aufgrund der jüdischen religiösen Praktiken klar verteilt. Khayim-Yoyne dient Gott, Rivke-Beyle ihrem Mann. Dieser Hinweis auf die Genderspezifik ist in der poetischen Präsentation des Ehever­ hältnisses begründet: Hier kehrt die bereits erwähnte triadische Ästhetik der – dreiteiligen –

320 Ein ähnliches Beispiel für die große Strahlkraft ästhetisch transformierter mystisch-kabbalistischer Vorstellungen auf andere mediale Repräsentationsformen ist das Motiv des Dibbuk: Julian Stryjkowski hat nach eigenen Angaben mehr als zwanzig Jahre der Tanz der Bettler in An-Skis Drama Der dibek (Der Dibbuk, 1922) in der Inszenierung des Habimah-Theaters beschäftigt. Die Magie des Mystischen, die davon ausging, inspiriert den Tanz der Bettler in Austeria und ging unterschwellig auch in Głosy w ciemności ein (1991: 308 und 338); vgl. auch Berlewis Titelzeichnung für eine Broschüre anlässlich der Inszenierung durch die Wilnaer Truppe (Abb. in: Hazan-Brunet 2009: 201).

116  |  Identität interkulturell und intermedial Erzählung wieder. Dreimal erwähnt der Erzähler Rivke-Beyles stumme Ergebenheit ihrem Mann gegenüber.321 Dreimal stellt er ihr Khayim-Yoynes Gottergebenheit gegenüber.322 Rivke-Beyles Demut vor ihrem Mann ist eine Spielart der Demut vor dem Herrn. Chagall hat hierfür ebenso wie für Perets’ motivische Äquivalenzen Sensoren: Im Bild ist Rivke-Beyles Blick auf ihren Mann gerichtet, der wiederum den Zauberer anblickt. Diese in den Blick überführten Abhängigkeitsverhältnisse sind die unabdingbare Voraussetzung für Gottes Wirken. Würde eine dieser im Text dreimal variierten Komponenten fehlen, würde Rivke-Beyle aufbegehren oder Khayim-Yoyne sein Gottvertrauen verlieren, es geschähe kein Wunder. So aber entwickelt sich die Geschichte – weltlich gesehen – zum Schlimmsten (die beiden, von Armut geschlagen, können Pessach nicht feiern), aus göttlicher Sicht zum Besten, nämlich zum Erscheinen des Propheten Elias. Auch für das Wunder hat der Text eine lexikalische Trias parat: Einen unerwartet gefundenen Silberlöffel, dessen Verkauf die Armut ein wenig lindern könnte, bezeichnet der Erzähler als „nes min hashomaim“ (Wunder des Himmels; wörtlich: Wunder aus den Himmeln; S. 148). Das Gegenstück hierzu bildet die Ablehnung von „matones boservedom“ (Geschenken von Fleisch und Blut [d. h. Geschenken Sterblicher]; S. 149). Das dritte Glied ist als indirekte Rede dem Rabbi in den Mund gelegt, der von Khayim-Yoyne und Rivke-Beyle zur Prüfung der Göttlichkeit des Wunders konsultiert wird (es könnte ja auch Teufelswerk sein): Wenn sich die Mazzen brechen, die Gläser füllen und die Sederkissen berühren lassen (wieder eine Trias!), dann kommt es „min hashomaim“ (vom Himmel; S. 151). Im Bild lagert Chagall das Wunder, die Darstellungskapazitäten des zeichnerischen Mediums ausschöpfend, ebenfalls in die formal-kompositorische Gestaltung ein: Der ‚jüdischen‘ Leserichtung gemäß formt Chagall mit dem rechts angesiedelten Wundertäter (Zauberkünstler), dem Ergebnis der Wundertat (Sedertisch; Bildmitte) und dessen Empfängern (jüdisches Paar; linke Seite) eine Bildtrias; in ihr schwingt die Trias der Textkomposition und -poetik mit. Alle drei Elemente sind in einen seltsam (ir)realen Bildraum eingepasst. Mit seiner oszillierenden Perspektivik unterläuft Chagall die Gesetze der seit der Renaissance herrschenden Zentralperspektive. Mithilfe der Parkettlinien simuliert er Raumtiefe, die durch die nicht proportionale Größe der Figuren destruiert wird: Das weiter vorne stehende Ehepaar ist kleiner – und nicht, wie gemäß den Konventionen der Tiefenperspektive zu erwarten wäre – größer als der weiter hinten entschwebende Zauberer. Dank der Aperspektivik, die Chagall schon in früheren Gemälden trainiert und die den 321 „an ishe folgt a man“ (Eine Frau folgt ihrem Mann; 1947 Bd.5: 148), heißt es zunächst. Auf: „[...] Rivke-Beyle vet kegn ir man nisht geyn“ (Rivke-Beyle wird nicht gegen ihren Mann aufbegehren; S. 149) folgt schließlich: „un Rivke-Beyle, vos tut shtendik dem rotsn fun ir man [...]“ (Und RivkeBeyle, die immer den Willen ihres Mannes erfüllt [...]; S. 150). 322 Khayim-Yoynes dreifacher Vertrauensvorschuss setzt ein mit: „zogt Khayim-Yoyne, az er hot bitokhn [...]“ (Khayim-Yoyne sagt, dass er auf Gott vertraut; 1947 Bd. 5: S. 148). Wenig später konstatiert der Erzähler: „Shoyn ingantsn nisht mer vi a por vokhn tsu peysekh, – er hot bitokhn!“ (Nur noch ein paar Wochen sind es bis Pessach – er vertraut auf Gott!; ebd.). Das dritte Mal schließlich wird sein Gottesvertrauen noch durch hebräische ‚Epitheta‘ und die Unmittelbarkeit des Gesagten in indirekter Rede zum unumstößlichen Tatbestand: „[...] Un sof-kol-sof entfert er, az Khayim-Yoyne iz a ben-toyre un a yore-shomaim, un oyb er hot bitokhn, hot er!...“ ([...] und schließlich antwortet er, dass Khayim-Yoyne ein Mann der Tora und gottesfürchtiger Mensch ist, und wenn er Vertrauen hat, hat er das!...; S. 149).

Magier zwischen den Welten – Yitskhok Leyb Perets und Marc Chagall  | 117 irrealen Schwebezustand der Bildelemente verursacht, stellt Chagall keine realistische, sondern den Gepflogenheiten der russischen Ikone folgend eine symbolische Nähe zwischen den drei Komponenten des Seder-Wunders her. Dass das wunderbare Ergebnis, von Chagall mit weicher Punktierung und spielerischer Ornamentik liebevoll gestaltet, bleibt und der Wundertäter sich durch seine nur imaginäre Vollständigkeit einer umfassenden Entschlüsselung entzieht, zeigt Chagalls Treue zum Text: Der Bildbetrachter wird sich der tatsächlichen Identität des Zauberkünstlers ebenso wenig klar wie der Leser der Erzählung. Die Zeichnung offenbart jedoch auch Chagalls Sinn für das Wunderbare. Im Bild bleibt ein Rest, der weder darstell- noch deutbar ist. Pseudo-mimetische Dielenbohlen versiegen in einer weißen Bildleere: Diese übernimmt nicht nur die Funktion des Bildhintergrundes. Paradoxerweise ist der weiße Raum Repräsentant der Nacht und des Dunkels, in das hinein der Zauberer Licht bringt. Im Weiß des reinen Papiermediums hat Chagalls gezeichnetes Wunder seinen Sitz: Gleichsam von zentrifugalen Kräften herauskatapultiert, gebiert es die Protagonisten der Perets’schen Erzählung und der Chagall’schen Zeichnung. Mit dieser irrealen Junktion von Weiß, Nacht und Wunder ist Gott, der Verborgene und Ursprung aller Wunder zugleich, aufgerufen.323 Die im Text vorgeformte Ambivalenz des Wunders zwischen Teufelszeug und Gottes­ gnade – genau diese treibt Khayim-Yoyne und Rivke-Beyle zum Rabbi – findet in der Farb­ magie von Schwarz und Weiß, in der Ambivalenz ihrer symbolischen Zuschreibungen und vor allem in der Wirkmacht des Kontrastes ihre Entsprechung. Im Text macht die Assoziation des Zauberkünstlers mit den schwarzen Mächten die Ambivalenz der Figur aus. Im Bild assoziieren Schwarz und Weiß die schwarze und die weiße Magie, Teufel und Gott. Die beiden Nichtfarben werden nicht als mimetische Gestaltungsmittel für Licht und Schatten eingesetzt. Vielmehr genießen sie „totale visuelle Autonomie“ (Bozo 1985: 21).324 Pierre Provoyeur hebt diese Autonomie von Schwarz und Weiß in Chagalls Illustrationen zu Der Nister und zu Perets im Vergleich zu anderen Bildgattungen und zeitgleich entstandenen Bildern hervor: Zwischen den Zeichnungen dieser zweiten russischen Periode und den Pariser Bildern Chagalls oder den künftigen Radierungen besteht kein eigentlicher Zusammenhang. Die unendlich differenzierte Arbeit in Schwarz und Weiß lebt ganz aus der Materialität – sie löst die Kunstfrage für sich – aus eigener Kraft –, ohne andere Gattungen zu bemühen. (1985: 129; Hervorh. S. K.)

Gewiss hat Chagall diesen kraftvollen Kontrast von Schwarz und Weiß in den Kriegszeichnungen von 1914 bis 1915 geübt.325 Doch erst der Wechsel von der Chagall stark beeindru323 Zum Weiß als Farbe des göttlichen Lichts s. Ps 104, 2 und Idel 1996: 40–41. 324 „Mit Chagall steht ein Künstler vor uns, der die Grundtatsachen von Schwarz und Weiß, von Linie und Fläche beispielhaft und grundlegend vorführt. In der Auseinandersetzung zwischen Volumen und Fläche, im kunststiftenden Kontrast also zwischen Tusche und Papier, zeigt sich eine künstlerische Freiheit, die sich längst von allen akademischen Regeln abgelöst hatte.“ (21f.) 325 S. Meyer 21968: Kat.nr. 220, 242, 254–255, 270; Benesch/Brugger 2006: 79–84; Amishai-Maisels 1995: 67, Fußn. 67 und Kap. 7. Vor allem die Zeichnung Verwundeter Soldat (1914; s. Abb. 32) weist im Einsatz von Deckweiß eine Nähe zum Elias-Blatt auf.

118  |  Identität interkulturell und intermedial ckenden Realität  – die Ölbilder dieser Zeit fasst er ja als ‚dokumentarische‘ (Meyer 2 1968: 219) – zu sekundären Modellen wie Kunst und Literatur lässt den Maler den Schritt in die Autonomie des Mediums Zeichnung vollziehen. Dies ist einer Verankerung des Stils in der Volkskunst einerseits und – was der bildkünstlerischen Unabhängigkeit der Illustration zunächst entgegenzustehen scheint – in der Literatur geschuldet. Die Illustration übernimmt das Feiertagsarsenal und die Naivität jüdischer Volksbilderbögen, wie sie beispielsweise den jüdisch-ukrainischen Lubok Paschal’nyj užin (Pessach-Mahl; zweite Hälfte 19. Jh.; Kancedikas 2003: o. S., s. Abb. 26) prägt.326 Zugleich geht sie in ihrem avantgardistischen Gestus weit darüber hinaus: Die Farbenpracht des Seder-Abends, die den Lubok, Perets’ Erzählung und Chagalls eigene Erinnerungen auszeichnet, sind in den Schwarz-Weiß-Kontrast überführt.327 Chagall, der gerade von der Visualität des Rituals gefangen ist, erreicht durch das minimalistische Wechselspiel der Nichtfarben einen maximalen Assoziationsraum. Die ästhetisch autonome Wirkkraft der Illustration schöpft hieraus ihr Potenzial, auch weil Chagall durch den Einsatz von Schwarz und Weiß – wie beim Betenden Juden von 1914 – ins kulturelle Herz des Judentums vorstößt:328 „Tatsächlich fand der Künstler in den kleinen Zeichnungen zu Peretz und Nister das erstemal seinen pointierten Illustrationsstil, der ganz aus den Gegebenheiten des Graphischen herauswächst. Die Zeichnung antwortet im Rhythmus genau dem hebräischen Schriftbild der Buchseite [...] und die Figuren der Illustrationen zu Peretz, allen voran der überlange, durch das Bildfeld stürmende und stürzende ‚Zauberer‘, bewegen sich auf ähnlich getragen-inspirierte Art wie die Balken der Aleph, Daleth und Thav.“ (Meyer 21968: 246; Hervorh. S. K.)

Der in der Art eines Aleph gestaltete Zauberer ruft mehr als nur das Graphem auf. In einer Buchkultur wie der jüdischen mit ihren rabbinischen Auslegepraktiken ist es mit einer for326 Paschal’nyj užin zeigt ebenfalls Sedergläser, -karaffen und Mazzen. Auf die Haggadah (jidd. hagode), welche das Wunder des Überschreitungsfestes erzählt und aus der vorgelesen wird, verzichtet Chagall. Die russische Bezeichnung „lubok“ (Pl. „lubki“) für den Volksbilderbogen leitet sich vermutlich von „lub“ (Holz unter der Rinde, Birken- oder Lindenrinde) ab. Zu diesen äußerst populären Bilderbögen s. Koschmal 1989, hier bes. S. 3–4. Auf jüdische „lubki“ verweist Boris Aronson in seiner Monografie Sovremennaja evrejskaja grafika (Zeitgenössische jüdische Grafik; Teilübersetzung ins Englische s. ApterGabriel 21988: 235–238). Abbildungen meist auf Pessach bezogener Volksbilderbögen finden sich in Kancedikas 2003: o. S. Die Tradition der russischen und jüdischen Volksbilderbögen, etwaiger Wechselbeziehungen und ihrer Bedeutung für Marc Chagall ist in einer größer angelegten Studie zu vertiefen. Erste Ansätze zum Lubok in Chagalls Werk finden sich bei Friedman 1978: 94–107, Tasseva 1985: 65–70, Kazovskij 1991: 241 und Dobrianowa-Bauer 2004: 100–111. Der jiddisch schreibende Kritiker Leo Kenig weist auf den Einfluss des russischen Lubok auf Chagall hin (1937: 49). 327 Vgl. Ma vie, wenngleich die ‚Christianisierung‘ von Pessach als „pâques“ zweifelhaft erscheint: „Et les Pâques! Ni le pain pascal, ni le raifort, rien ne m’émuet autant que l’Agade, ses lignes, ses images et le vin rouge dans les verres pleins.“ (1931: 68) Pessach ist Chagall also primär ein ästhetisches Erlebnis. In der jiddischen Version ist die Episode, in der Chagall das Seder-Mahl schildert, nicht enthalten. Zu den Farben in Der kuntsn-makher s. u. 328 Annette Weber schreibt über diesen Juden in Schwarz-Weiß: „Der Schriftgedanke beherrscht also auch dieses Bild, ist jedoch nur als gemalte Metapher präsent: durch den Schwarz-Weiß-Kontrast und die Ikonographie“ (2004: 116).

Magier zwischen den Welten – Yitskhok Leyb Perets und Marc Chagall  | 119 malen Oberflächenanalyse nicht getan. Der Reichtum der Zeichnung erschöpft sich jedoch nicht nur in ihrem jüdischen Tiefensinn. Da, wo es zutiefst jüdisch zugeht, hinterlässt vielleicht auch die russische Kultur ihre Spuren.

Elias: Prophet oder Provokateur ? Zum Heiligen und Profanen in Text und Bild Der Prophet Elias erfüllte alle Voraussetzungen, zur „Schlüsselfigur der jüdischen Legende“ zu avancieren (s. Goldstein 1990: 129, auch Diederichs 22004: 404). Bereits als tanachische Figur ist er von Wundern geradezu umstellt (s. Calvocoressi 142005: 80–81): Raben füttern ihn während einer großen Dürre am Bach Kerit; von einer Witwe erhält er nahe Sidon Nahrung, die auf geheimnisvolle Weise nicht zu Ende geht. Später erweckt er den Sohn der Witwe von den Toten. Wer den biblischen Elias kennt, weiß, dass es sich um einen Zauberer handelt: Auf dem Berg Karmel gewinnt er den Wettstreit gegen vierhundert­fünfzig BaalPriester: Obwohl Elias vorher noch Wasser auf den Altar goss, entzündet der jüdische Gott durch Feuer vom Himmel einen Opferstier (1 Kön 17–19, bes. 18, 36). Die größte Faszination geht jedoch von seiner Gotteserfahrung am Berg Horeb (1 Kön 19) und seiner Entrückung aus. Elias, der wie Moses das Wasser zu teilen vermag, fährt in einem Feuerwagen gen Himmel (2 Kön 2). Elias’ Tod ist schriftlich nicht niedergelegt. In der jüdischen Vorstellungswelt lebt der Prophet noch immer. Über die Jahrhunderte steht er den Juden in Bagdad, Istanbul und Krakau bei. In Safed erscheint er erst Lurias Vater, dann dem Mystiker, der der Kabbala den letzten Schliff gibt, selbst.329 Von Safed ist es ein gedanklicher Katzensprung nach Medžybiž, der Wirkstätte des Bal Schem Tov, dessen Geburt Elias vorausgesagt haben soll (Goldstein 1990: 131 und 134).330 Der Prophet wird nicht nur zu einem Wiedergänger in der rabbi­ nischen Literatur, sondern auch in der mündlichen Überlieferung des Chassidismus.331 Der Bal Schem Tov, Rabbi Elimelech von Lezaisk (1717–1786) oder der „Seher von Lublin“, Rabbi Jakob Jizchak (gest. 1815), führen ihn im Munde (s. Wiesel 1988: 36, Bloch 1996: 123, 148–149 und 275–276).332

329 Zur lurianischen Mystik s. Scholem 1980: 267–314. 330 Zu Międzybóż s. die wunderbare Beschreibung von Verena Dohrn 1993: 146–154. 331 Schon ins Ma’asse-Buch (jidd.: mayse-bukh), das auch den Vorläufern der osteuropäischen Chassiden, den Khsidej Ashkenaz (Frommen aus Aschkenas), einen großen Legendenteil widmet, findet Elias Eingang, vgl. die Legende um die Sederfeier Jehuda Chassids mit einem Frommen aus Speyer (Basler Ausgabe von 1602; 22004: 495f.). In Der Prophet Elia und die drei Söhne, die im Kräutergarten ihres Vaters Wache hielten erfüllt der Prophet jedem der drei Söhne eines gläubigen Juden einen Wunsch, versteht die Sprache der Tiere und führt dem jüngsten eine fromme Frau zu (S. 403f.). 332 Beatrice Silverman Weinreich hat die Präsenz des Propheten Elias in der jiddischen Folklore untersucht. Sie klassifiziert u. a. auf der Grundlage von Vladimir Propps Morfologija skazki (Morphologie des Märchens, 1928) die verschiedenen mündlichen Elias-Erzählungen nach Gattung, Aktant, Schauplatz, Intention und Grad der Komplexität und zeigt Interferenzen mit christlichen Heiligenlegenden zu Elias auf (1965: 208–217). Perets übernimmt bei räumlicher Konkretheit (Wolhynien) die zeitliche Unbestimmtheit der volkstümlichen Erzählungen (1965: 210).

120  |  Identität interkulturell und intermedial Perets, der Magie chassidischen Erzählens erlegen, verhilft Elias in einigen seiner Chassi­ dischen und Volkstümlichen Geschichten zu einer ruhmvollen literarischen Zweitexistenz. Der Elias des BeSchT, der für seine Pfeife um Feuer bittet (s. Wiesel 1988: 36), mag den Anstoß zu Perets’ humoristischer Erzählung Dem rebens tsibek (Des Rebben Pfeifenrohr, 1895) gegeben haben. In Mesires-nefesh (Absolute Ergebenheit, 1904) lehrt Elias kabbalistischen Legenden folgend einem Bettler in der Wüste die Tora (s. hierzu Roskies 1995: 127–133, Ginzberg 1968 Bd. 4: 229). Die Legende des „Sehers von Lublin“ über einen Mann, der Elias unbedingt sehen will (Bloch 1996: 148f ), ist neo-chassidisch aufbereitet in Zibn gute yor (Sieben gute Jahre; Perets 1947 Bd. 5: 105–109). Statt in Gestalt eines Arabers, wie im Midrasch Ruth Rabba überliefert und Perets gewiss bekannt (der Midrasch kommt 1887 in Vilnius heraus; s. Ginzberg 1968 Bd. 6: 327), erscheint Elias in der Erzählung als „a daytshl“ (Deutscher bzw. deutsch gekleideter Ostjude; S. 105) in Tracht.333 Vor Gott erwirkt er für den armen Wasserträger Toyvye (Tobias) und dessen Weib Sorele (Diminutiv von Sara) die Verwendung eines Schatzes auf unbestimmte Zeit. Ob rabbinisch, chassidisch oder neo-chassidisch: Elias tritt als Retter vor allem armer Juden auf.334 In einer auffälligen Überhöhung korrespondiert in Perets’ Erzählungen Armut mit moralischem Reichtum. Der geistig und ethisch hochstehende Mensch – Khayim-Yoyne aus Der kuntsn-makher ist ein Paradebeispiel dafür – ist ein Kernelement der Perets’schen Figurenkonzeption (s. Niger 1952: 320–322).335 Nur er ist des Propheten würdig, als der sich der Taschenspieler am Ende der Erzählung entpuppt. Perets unterläuft jedoch mit der subtilen Ironie des Aufklärers die orale Tradition der Chassidim (s. hierzu Frieden 1995: 281–309). Der beständige Aufschub, dem Propheten im Irdischen eine Heimat zu geben, ist in deren Augen immer Gottes Wille – und Grund für das immer wiederkehrende Ritual, am Seder-Abend die Tür zu öffnen und die Begegnung mit Elias auf „Leshono habo birusholaim!“ (Nächstes Jahr in Jerusalem!) zu verschieben.336 Im Kuntsn-makher ist für Elias’ erneutes Entschwinden der Wille des Menschen verant­ wortlich (sofern nicht auch er Ausdruck des göttlichen Willens ist): Die ganze jüdische Welt wartet am Sederabend auf Elias, doch Khayim-Yoyne und Rivke-Beyle, darauf bedacht, dass es nach Gottes Willen zugeht, suchen die rabbinische Prüfstelle auf! Aus chassidischer Perspektive haben die beiden alles falsch gemacht, gedenkt man der Legende um Elias, wie 333 Ginzberg zitiert ausführlich die Legende von den sieben Jahren; 1968 Bd. 4: 206f. 334 Elias soll den Ausspruch getan haben, dass „der Heilige, gepriesen sei er, unter allen guten Eigenschaften herumsuchte, um sie Jisraél zu geben, doch fand er [für sie] nichts weiter als die Armut“ (bT, Hagiga 9b, 1996 Bd. 4: 261; s. auch Goldstein 1990: 131). 335 Auch Ruth Wisse argumentiert hierzu ganz im Geiste Nigers (1991: 84–92). Von An-Ski stammt eine bedenkenswerte These zum ethischen Streben im Judentum: „An-Ski, the former Narodnik revolutionary who said that he had been returned to Jewishness by Peretz’s writings, developed an anthropological theory about the Jewish emphasis on spirit. Contrasting the physical hero of European imagination with the exclusively moral hero of Jewish folklore, An-Ski suggested that the Jews have an unparalleled yearning for transcendent perfection.“ (Wisse 1991: 85; s. hierzu An-Ski 1925 Bd. 15: 15–28, bes. S. 23f.). 336 Eine wunderbare Beschreibung dieses Rituals wie der gesamten Pessach-Vorbereitungen findet sich in Bella Chagalls Erinnerungen Brenendike likht (Brennende Kerzen, 1945: 213–235; dt. 232003: 177– 211).

Magier zwischen den Welten – Yitskhok Leyb Perets und Marc Chagall  | 121 sie vom „Seher von Lublin“ überliefert ist: Auch hier vermag ein Jude nicht, durch die Hülle des Propheten – er erscheint als polnischer Adliger – dessen wahres Wesen zu erkennen (Bloch 1996: 148–150). In den Augen des gottesfürchtigen Rabbis haben die beiden alles richtig gemacht, denn das Teuflische im Gewand des Göttlichen ist eine tückische, aber durchaus mögliche Versuchung. So gilt es das Wunder auf seine Echtheit zu prüfen. Genau deshalb verkennen sie den Propheten Elias – und ‚vermasseln‘ den Anbruch des messianischen Zeitalters.337 Doch war die jüdische Welt schon bereit für das Ende der irdischen Zeit? Haben die beiden aus göttlicher Perspektive also nicht doch alles richtig gemacht (s. auch Roskies 1995: 141)? Perets’ ironischem Spiel mit dem Willen Gottes und des Menschen sind hier keine Grenzen gesetzt.338 Sein Erzähler muss sich nicht zwischen Ironie und Idealisierung entscheiden – er kombiniert beides. Der coup de théâtre am Ende der Erzählung gibt reichlich Anlass zu eschatologischen Spekulationen. Narratologisch gesehen, hält Der kuntsn-makher auf der sprachlich gestalteten Phänoebene deutlich Hinweise auf die Präsenz des Göttlichen parat, lange bevor es sich in der Schlusspointe manifestiert. Wenn es um den Einbruch des Göttlichen in die irdische Welt geht, sollte man die Rechnung nicht ohne den Erzähler machen. Eine lexikalische Äquivalenz und der Vergleich bindet den das Wunder Tätigenden und die es Erfahrenden aneinander: Vor aller Augen verschlingt der Zauberer „brenendike koyln, vi farfl“ (glühende Kohlen, wie Teigfleckchen; 1947 Bd. 5: 147). Später, vor der Ankunft des Zauberkünstlers bei Khayim-Yoyne und Rivke-Beyle, brennen ihre Augen vor Trauer „vi tsvey brenendike koyln“ (wie zwei glühende Kohlen; 1947 Bd. 5: 149). Die Farben Rot, Gold und Grün während des profanen Zauberaktes präfigurieren den heiligen „hokuspokus“ (1947 Bd. 5: 150) im Hause Khayim-Yoynes: Auch hier sind Rot und Gold beteiligt. Das Grün des Vor-Pessach-Zaubers ist beim Seder-Zauber ersetzt durch Weiß. Am SederAbend trägt man dasselbe weiße Gewand wie am Neujahrstag und an Jom Kippur, doch fungiert das Weiß nicht als Ausdruck der Trauer, sondern der Freude ob der Befreiung vom ägyptischen Joch (s. Kolatch 2005: 238).339 Es ist zugleich die Symbolfarbe für Reinheit und Gottes Liebe (Scholem 1980: 114, s. Kap. 3). Der Trickkünstler wiederholt mit seiner ersten Wundertat bei Khayim-Yoyne die erste Tat Gottes: In seinem „es vet zayn likht“ (Er werde Licht; 1947 Bd. 5: 150) schwingen Gottes erste Worte aus dem Schöpfungsbericht mit: „vajomer elohim jehi or“ (Gott sprach: Licht

337 In der jüdischen Vorstellung erscheint Elias am Ende der Zeiten als Vorbote des Messias (s. Gal-Ed 2001: 48f.). 338 Die romantische, vor allem die Inhaltsebene betreffende Ironie à la Heine, den Perets übersetzt hat, ist zurückgenommen, aber trotz der Evolution von der Ironie zur Idealisierung nicht gänzlich aufgehoben (vgl. hierzu Niger 1952: 311 und 315). Auch das – durchaus salomonische – Urteil des Rabbis ist ironisch lesbar: Er schwankt zwischen Wissen um das Wesen des Göttlichen, das in seinem Entzug begründet ist, und Positivismus. 339 Dieser weiße „kitl“ (Kittel) stellt zugleich das Totengewand. Auch der Bräutigam zieht ihn unter der „khupe“, dem Hochzeitsbaldachin, an (ebd.). Leben und Tod werden auf diese Weise als untrennbare Einheit symbolisiert. Chagall betont in seiner Beschreibung des Seder-Abends den Glanz des Festes durch die Farbe Weiß (1931: 68f.).

122  |  Identität interkulturell und intermedial werde!; Gen 1, 3; Ü: Buber/Rosenzweig).340 Mehr noch, die Gottähnlichkeit des Zaube­­-rers, das Heilige im Profanen, ist bereits in der einführenden Erzählercharakterisierung benannt: „[...] a yidish ponem – der tseylem-eloykim flit im iber der noz, un – a gegolte bord!“ (ein wahrhaftiger Jude – Gottes Bild schwebt über seiner Nase –, und: rasiert!; 1947 Bd. 5: 147)341 Der Geist Gottes schwebt über seiner Nase wie einst Gottes Geist über dem Wasser (Gen 1, 2), möchte man ergänzen. Doch kennt man die rituellen Hintergründe des Sedermahls, weist nichts deutlicher auf Elias hin als „di finfte kashe tsu ‚ma nishtane‘“ (die fünfte Frage zu ‚Ma nishtane‘; S. 148), mit der wiederum der Erzähler den seltsamen Schtetl-Besucher charakte­risiert. Denn für den Propheten Elias wird am Sederabend ein fünfter Becher bereitgestellt, der sogenannte „Elias-Becher“ (hebr.: kos Eliahu), der symbolisieren soll: Elias, du bist ein willkommener Gast (Kolatch 2005: 248). Und wenn es auf etwas keine Antwort gibt, dann auf die fünfte Frage zu „ma nishtane“. „Taiku“ heißt dies bei den Juden. Niemand anderer als Elias ist wiederum ausersehen, vor der Ankunft des Messias die Antwort zu liefern.342 Der Erzähler weiß aufgrund der Nullfokalisierung mehr als die Figuren der Erzählung; zugleich spielt er durch die lexikalische Präsentation mit dem kulturellen Wissen des Lesers. Chagall scheint die ambivalente Seinsweise des Elias aus der Erzählung zunächst in den beiden Illustrationen aufzulösen: Eine Zeichnung zeigt ihn in menschlichem Gewande, die andere als Propheten, der über ein kubistisches Schtetl hinweg zum nächsten Wunder zu schweben scheint.343 Die kreisrunde Bezeichnung „Eliahu ha-novi“ (jidd. elyenovi; Elias der Prophet) ruft die Aureole des Göttlichen auf, die Chagall andernorts einsetzt.344 Sie birgt die

340 In Yehoyeshs jiddischer Übertragung heißt es „hot got gezogt: zol vern likht“ (Gott sprach: Es werde Licht; Gen 3); zur jiddischen Tora und Chagalls Illustrationen hierzu s. Kap. 12. 341 Laut Niborski meint das „Bild Gottes“, so die wörtliche Übersetzung von „tseylem-eloykim“, das Göttliche im Menschen (1999: 255). 342 Vgl. Ginzberg 1968 Bd. 4: 233, Stryjkowski/Szewc 1991: 250. In Głosy w ciemności widmet Stryjkowski dem Taiku ein eigenes Kapitel. 343 Der fliegende Elias ist fest im jüdischen Volksglauben verankert (s. hierzu Gal-Ed 2001: 49). Ebenso fliegt Chagalls Bella über Vitebsk in Über der Stadt, 1914–1918. Aus der Zeichnung ist eine ganze interikonische Kette von Elias-Darstellungen in verschiedenen visuellen Medien ableitbar. Im Duktus der neu erlernten Radiertechnik gibt er in Berlin Anfang der 1920er Jahre die kubistische Formensprache zugunsten einer wesentlich realistischeren Darstellung auf. Der Prophet kehrt in den Illustrationen zur Bibel (Blatt 86–88), in den Glasfenstern der Union Church in New York (1965–66) oder im Mosaik in Nice (1971) wieder. In Chagalls Illustration zu Bellas Erinnerungen ist der Prophet mit Becher und Flügeln abgebildet. Chagall verweist hier auf den fünften Becher, den Elias-Becher, und auf die Legende, dass Elias in einer ersten Seinsweise der Engel Sandalfion war (s.  Ginzberg 1968 Bd. 5: 202). Das Ölgemälde Das brennende Haus von 1913, das die Ikone Ognennoe voschoždenie Il’i (Die Feurige Himmelfahrt des Elia) zitiert (s. Spira 2008: 129, Onasch 1961: 76), enthält als Subtext Elias’ Auffahren in die Himmelssphären. Zu Chagalls mehrfacher Hinwendung zu diesem Motiv s. Friedman 1984: 102–113. 344 Vgl. seine Illustrationen zur Bibel (Blatt 1, 27, 96, 99 et al.). Chagalls Emanation Gottes ziert häufig das Tetragramm.

Magier zwischen den Welten – Yitskhok Leyb Perets und Marc Chagall  | 123 Entschlüsselung der Heiligkeit des Elias. Zugleich setzt die Zeichnung die Legende über sein wiederholtes Erscheinen auf Erden fort.345 Chagalls Gestaltung des Wundertäters ist nicht weniger doppelbödig als die Erzählung selbst. Getreu der literarischen Vorlage birgt die ästhetische Darstellung ihres profanen Inhalts (ein Mann mit Frack und Zylinder, s. Abb. 25) einen heiligen Subtext. Perets lagert in seine Erzählung jüdische Kulturelemente zum biblischen Propheten ein. Chagall greift dies auf  – und ergänzt die kulturelle Tiefendimension der Zeichnung zugleich um die russische Kultur, genauer um einen ‚Propheten‘ des russischen Avantgarde-Theaters. Der Körper des ‚Elias im Frack‘ ist als Aleph geformt. In diesem Rekurs auf den ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets schwingt dessen geheiligter Charakter mit. Laut der Kabbala verfügen die hebräischen Buchstaben über eine geheimnisvolle Schaffenskraft, derer sich Gott bei der Erschaffung der Welt bediente. Das Aleph entspricht dem Zahlenwert Eins. Der jüdische Gott ist der Eine und Einzige. Nicht umsonst beginnen viele Gottesnamen mit einem Aleph (Adonai, El, Elohim, Adir; Mandel 2003: 23; s. auch Stryjkowski 1991: 256f.). Mit einem Aleph beginnt auch das Wort für Mensch: „adam“ (ebd.). Das Aleph ist das Bild des Menschen. Es ist derjenige Buchstabe, in dem das Göttliche und das Menschliche in eins fallen. Julian Stryjkowski beschreibt in Ocalony na Wchodzie (Gerettet im Osten) das Aleph folgendermaßen: Jedną ręką pokazuje niebo, drugą ziemię. Jest to symbol połączenia w istocie ludzkiej boskiego regiona z ziemskim. Mit einer Hand zeigt es den Himmel, mit der anderen die Erde. Es ist das Symbol für die Verbindung der göttlichen mit der irdischen Sphäre im Wesen des Menschen. (1991: 256)

Chagalls Aleph ist die bildkünstlerische Antwort auf Perets’ „tseylem-eloykim“ (Bild Gottes) aus dem Text. Über die jüdische Buchstabenmystik ergibt sich eine Verbindung zwischen Elias dem Propheten und Chagalls sakral-profaner Hülle: Das Aleph, das aus zwei Yod und einem Vav zusammengefügt ist, hat den Zahlenwert 26. Diesen Wert teilt mit ihm das Tetragramm (JHWH/‫ ;יהוה‬s. auch Mandel 2003: 23). Das Tetragramm setzt sich aus einem Yod, einem Vav und zwei Hey zusammen. Der Zahlenwert des Hey wiederum ist Fünf: Die Fünf ist, so Friedrich Weinreb, die „Eins im Hier“, im Irdischen, markiert also nach der göttlichen Ordnung (symbolisiert durch die Buchstaben Aleph bis Giml bzw. die Zahlen eins bis vier) die Präsenz Gottes (die Eins) in der „anderen“, irdischen Ordnung (62005: 98–103, hier S. 99). Die Fünf ist – im Seder-Ritual und in Perets’ Fiktionalisierung im Kuntsn-makher – die Zahl für den Propheten Elias, der als Repräsentant des Göttlichen auf Erden wandelt. Aus den chassidischen Legenden wissen wir, dass der Prophet in den weltlichsten aller Gewänder auftritt. Bei Chagall ist das ähnlich: Die heilig-profane Doppelidentität seines befrackten Elias’ in Fortsetzung von Perets’ Elias-Trickkünstler erinnert an Boris Grigor’evs Porträt des Regisseurs Vsevolod Mejerchol’d (1873–1940) von 1916 (s. Abb. 27). Mejerchol’d 345 Die Ergänzung „ha-novi“ (der Prophet) ist ein weiterer deutlicher Verweis auf den Volksglauben, aus dem Chagall schöpft.

124  |  Identität interkulturell und intermedial steht wie kein Zweiter für die Revolutionierung des russischen Theaters.346 Grigor’ev extrapoliert zwei der multiplen Identitäten des großen Theatermagiers: Zeigt er im Bildhintergrund Mejerchol’d als rot gekleidete Figur mit Pfeil und Bogen, so sieht man im Bildvordergrund den Regisseur als Impresario – im Frack und mit Zylinder! Pfeil und Bogen verweisen auf Mejerchol’ds „Jagd-Etüde“. Sie ist die Kernübung seiner apsychologischen Biomechanik, mit der er die russische Schauspielästhetik aus den Angeln hebt.347 Entwickelt wird sie von 1913 an in Petersburg, wo Mejerchol’d in der Borodinskaja-Straße ein eigenes Theater-Studio eröffnet.348 Hier und theatertheoretisch als Herausgeber der Hefte Ljubov’ k trem apel’sinam (Liebe zu den drei Orangen) agiert er in Anlehnung an eine Figur aus E.T.A. Hoffmanns Geschichte vom verlorenen Spiegelbilde aus den Abenteuern der Silvesternacht (1815) unter dem Namen „Doktor Dapertutto“. Frack und Zylinder weisen ihn im Portrait als Impresario aus. Mejerchol’d alias „Doktor Dapertutto“ steht synekdochisch für die – säkulare, Chagall entscheidend beeinflussende – russische Kulturrevolution, an der einige hochberühmte Zylinderträger beteiligt sind. Bei Vladimir Majakovskij, erst futuristischer „budetljanin“ (Zukünftler), dann „Trommler der Revolution“, genießt der Zylinder Kultstatus. Diesen gibt Majakovskij dann an den Imaginisten und Esenin-Freund Anatolij Mariengof weiter (s. Majakovskij 1959 Bd. 12: 286). Der neoprimitivistische David Burljuk, neben Majakovskij ein weiterer Repräsentant der künstlerischen Avantgarde, trägt ihn ebenso wie Sergej Esenin, auch er ein – von Marc Chagall bewunderter – Revolutionär der Lyrik (s. Abb. 28 bis 30).349 Nicht nur aufgrund der Kleidung lassen sich Ähnlichkeiten zwischen Grigor’evs Porträt und Chagalls Illustration herstellen. Auch die Körperhaltung von Chagalls zauberndem Elias mutet wie eine Synthese aus Mejerchol’d, dem Impresario und seiner exzentrischen Arm­ haltung, und Mejerchol’d, dem Bogenschützen, an, dessen Beine ebenfalls eine Bewegung nach rechts ausdrücken.350 Ob Chagall nun tatsächlich von Grigor’evs Gemälde inspiriert ist,

346 Zu Mejerchol’d s. Rudnickij 1981, Gladkov 1990, Elagin 1998, Leach 2003 und Koller 2005. Chagalls Zeichnungen zu Perets sind auf 1915 datiert. Doch erhält er den Auftrag für diese Illustrationsarbeit erst 1916 (Hazan-Brunet 2009: 102). In einer frühen Variante der Illustration von 1915 fehlt die mondäne Elias Figur noch. 347 Zur Jagd-Etüde s. Bochow (1997a: 44–45, 138–151 und 1997b). Mejerchol’ds Schauspiel- und Theaterästhetik basiert primär auf mimisch-volkstümlichen Theaterformen wie der Commedia dell’arte, dem slavischen Balagan sowie dem japanischen und chinesischen Theater. 348 S. hierzu Leach 2003: 103–129 und Fel’dman 2000: 352–444. 349 Der Bauern- und Naturdichter Sergej Esenin, Vertreter des Imaginismus mit starker Neigung zum Rowdytum, ist eine nicht wegzudenkende Größe der russischen Literatur. Neben Aleksandr Blok schätzt Chagall Esenin, der in seinem dichterischen Schaffen immer wieder aus seiner Kindheit im russischen Dorf schöpft, am meisten (1931: 226). Zu Fotos, die Majakovskij und David Burljuk mit Zylinder zeigen s. Lekmanov/Sverdlov 2007: 307 und 312. 350 Ist bei Grigor’ev das Bein abgeschnitten, so ist es bei Chagall der Arm; das Verfahren ist jedoch dasselbe. Das Bild ist vornehmlich rot, weiß und schwarz – wie Perets’ Beschreibung des Sederwunders; auch diese Äquivalenz könnte Chagall zum Zitieren des Mejerchol’d-Porträts bewogen haben.

Magier zwischen den Welten – Yitskhok Leyb Perets und Marc Chagall  | 125 ist schwer zu sagen. Wichtiger ist jedoch, dass beide – Aleksandr Ja. Golovin ließe sich hier noch anführen – ein beeindruckendes reales Vorbild hatten.351 Wann Chagall Mejerchol’d das erste Mal persönlich begegnet, ist nicht überliefert. Kenntnis voneinander könnten die beiden über Aleksandr Blok gehabt haben (s. Abb. 31).352 Aber auch ohne Mittelsmann ist der mit Alogik und Form spielende Chagall auf den mit denselben ästhetischen Elementen experimentierenden Mejerchol’d aufmerksam geworden. Mit der Inszenierung von Bloks symbolistischer Farce Balagančik (Die Schaubude, 1906) leitet Mejerchol’d einen Paradigmenwechsel im russischen Theater ein.353 Mit derselben Aufführung hat er – neben weiteren symbolistischen Inszenierungen von Maurice Maeter­ linck und Leonid Andreev – wesentlichen Einfluss auf Chagalls künstlerische Formierung.354 Der Regisseur selbst tritt in diesem mit verschiedenen Wirklichkeitsebenen spielenden Stück als schwarz-weiß gekleideter Pierrot auf. Ein ebensolcher Pierrot liegt in Chagalls Jahrmarkt (1908) den übrigen, à la Mejerchol’d marionettenhaft-grotesken Bildgestalten zu Füßen wie der Regisseur in Balagančik den Bühnenfiguren (Kamenski 1989: 53–55, Wullschlager 2008: 63 und 74). Chagall bringt dem virtuosesten unter den russischen Avantgarde-Regisseuren – anders als dessen Antipoden Aleksandr Tairov – unverhohlen seine Hochachtung entgegen:355

351 Golovin malt Mejerchol’d mit roter Mütze vor ornamental-symbolistischem Hintergrund (Abb. in: Leek 1999: 117). 352 Mejerchol’d setzt Bloks symbolistische Dramen Balagančik (Die Schaubude, 1906 und 1908) und Neznakomka (Die Unbekannte, 1914) szenisch um. Mejerchol’d und Blok, mit dem Chagall während seines ersten Petersburg-Aufenthaltes in Kontakt ist, gehen in dieser symbolistisch-stilisierten Phase des Theaterregisseurs eine kongeniale Verbindung ein. Mejerchol’d besucht des Öfteren Baksts Kunstschule (Wullschlager 2008: 111); weiterhin könnte Benois ein Bindeglied zwischen Mejerchol’d und Chagall sein. Auch die theaterversessene Bella, in jungen Jahren Schauspielerin Stanislavskijs (Wullschlager 2008: 98), die bis zu einer langwierigen Verletzung auf die Bühne zurückkehren will, spielt hier eine Rolle. In den Gesichtszügen von Chagalls Magier lässt sich sogar Blok selbst vermuten, zieht man Photographien heran. Chagalls ‚Elias im Frack‘ wäre dann in seiner Identität erneut gespalten. 353 S. Clayton 1994: 85–87, Rudnickij 1989: 338–344. Besonders mit seinen Inszenierungen am Teatr im. V.F. Komissarževskoj (Komissarževskaja-Theater) sorgt Mejerchol’d für Furore. Chargen aus den 1900er und 1910er Jahren zeigen Mejerchol’d in deutlicher Überzeichnung zumeist im Frack und in starkem Schwarz-Weiß-Kontrast (Abb. in: Fel’dman 2000: 208–227). 354 Mejerchol’d inszeniert 1906 in Petersburg Maeterlincks Pelléas et Mélisande, Sœeur Béatrice und Le Miracle de Saint Antoine sowie Andreevs symbolistisches Mysterium Žizn’ čeloveka (Das Leben des Menschen. 1908). 355 In einem linksorientierten Text von 1919 in Vitebskij listok würdigt Chagall Mejerchol’d als Revolutionär des Theaters (zit. nach Harshav 2004: 262). Zu einer Zusammenarbeit kommt es nie, obwohl sie sich 1922 nur knapp verfehlen (s. Satskich 2001: 186 und 188). Dabei ist Mejerchol’d derjenige Regisseur, der für Einflüsse aus der bildenden Kunst am offensten ist, sich häufig an der Malerei orientiert. Ein mit dem Schauspiel interagierendes Bühnenbild übernimmt eine zentrale Funktion in seiner Gesamtästhetik, viele Szenen sind als Tableau konzipiert (vgl. Michajlova 1995; Koller 2005: 168– 182). 1930 wendet sich Mejerchol’d brieflich an Chagall (Meyer 21968: 365).

126  |  Identität interkulturell und intermedial Meyerhold, écharpe rouge autour du cou, profil d’empereur en exil, est le rempart de la révoution théâtrale. Il n’y a pas longtemps, il travaillait au théâtre Impérial, et portait avec éclat l’habit. (Chagall 1931: 225)356

Mejerchol’d, schon im Frack Revolutionär des russischen Theaters, entwickelt in seinem stilisierten und später bedingten Theater (uslovnyj teatr) eine Ästhetik, die Chagalls (theater-) ästhetischen Vorstellungen entsprochen haben muss: Der Bühnenraum und seine amimetische Gestaltung sind mit dem Schauspieler gleichwertig.357 Mejerchol’d bricht im Theater die Raum-Zeit-Kategorien ebenso auf, wie Chagall dies im Bild tut. Beiden gemeinsam ist die Abneigung gegen das ‚realistische‘ Bühnenerleben und psychologische Spiel Stanislavskijs.358 Mejerchol’d favorisiert die lange Tradition des Mimus- und Maskentheaters.359 Chagalls Bemalung der Schauspieler anlässlich der Eröffnung des GosET – das Theater präsentiert unter der Leitung Aleksej Granovskijs am 1.1.1921 einen „Sholem-Aleykhem ovnt“ (Sholem-Aleykhem-Abend) – lässt sich in diese Tradition einreihen.360 Aufgrund der Säkularisierung und Ästhetisierung des Mysteriums, der leisen symbo­lis­ tischen Ironie, des Spiels mit den Realitäten, vor allem aber aufgrund der Nähe zum Volks­ tümlichen mag Chagall auch zwischen Mejerchol’ds und Perets’ Kunst eine Verwandtschaft gespürt haben. Die Helden auf Mejerchol’ds Bühne sind Straßenkomödianten – Peretsens Taschenspieler-Elias ist einer von ihnen. Chagall überführt die textuelle Prozessualität des Perets’schen Wunders im Kuntsn-makher in die von Mejerchol’d geprägte Theatralik des Bildes. Seine Illustration ist ein Vexierspiel mit kulturellen Masken – und den verschiedenen Identitäten eines russischen Bühnenmagiers, eines jiddischen Textzauberers und eines jüdischen Propheten. In ihr spiegelt sich die  – 356 Chagall meint das Petersburger Imperatorskij teatr (Kaiserliches Theater) am Nevskij Prospekt (heute Teatr im. Puškina/Puškin-Theater). Dort findet kurz vor Ausbruch der Februarrevolution 1917 Mejerchol’ds legendäre Inszenierung von Lermontovs Maskarad (Der Maskenball) statt und führt den „zakat imperii“ (Untergang des Imperiums; Rudnickij 1981: 217) in theaterästhetischer Vollendung vor. 357 Nikolaj V. Tarabukin zeichnet die Evolution von Mejerchol’ds Raumästhetik nach (1998: 63–75). Nach der ersten dekorativen Phase mit einem „Bühnenbild als Gemälde“ (kartina-dekoracija) wie etwa in Lermontovs Maskenball folgt die konstruktivistische „Werkbank“ (stanok) als Antipode. Dieser postrevolutionären Kombination von Biomechanik und Konstruktivismus, wie Mejerchol’d sie erstmalig in seiner Inszenierung von Crommelyncks Velikodušnyj rogonosec (Le cocu magnifique, 1922) praktiziert, steht Chagall mit Befremden gegenüber. Diese Agitprop-Produktion sollte übrigens die letzte russische Theateraufführung sein, die Chagall vor seiner Abreise aus Russland sieht (Mejerchol’ds Balagančik war die erste; s. Wullschlager 2008 : 276). Zum Bühnenbild von L.S. Popova s. Michajlova 1995: 151–164. 358 Für Stanislavskijs Bühnenrealismus, den er in Aleksej Granovskijs Inszenierungsstil wiedererkennt, hat er in Ma vie nur Verachtung übrig (1931: 236 und 240f.). Berührung mit avantgardistischen Theaterformen hat Chagall auch durch die Zusammenarbeit mit Nikolaj Evreinov (s. Kamenski 1989: 313f.). 359 S. hierzu vor allem seine 1912 erschienene Schrift O teatre (Über das Theater; abgedruckt in Mejerchol‘d 1968 Bd. 1: 101–257). Sie enthält den programmatischen Text Balagan (Die Schaubude, S. 207– 229). 360 Das Theater spielt Mazl tov, Agentn (Vertreter) und ein auf einer Kindererzählung basierendes Stück (später ersetzt durch S’align/Es ist eine Lüge). Zum GosET s. auch Kap. 3.

Magier zwischen den Welten – Yitskhok Leyb Perets und Marc Chagall  | 127 produktive – Kollision der jüdischen und der russischen Welt ebenso wider wie diejenige der Hoch- und der Volkskultur. Perets und Chagall zeigen Elias in einer profanen Hülle. Dennoch ist bei beiden das Göttliche auf der Phänoebene präsent. Dieses Changieren zwischen dem Sakralen und dem Säkularen macht die Zentralspannung der Erzählung aus. Chagall setzt sie im Bild fort. Dass Grigor’ev in seinem Porträt Mejerchol’ds alter ego einfängt, ist unschwer zu erkennen. Dass nun der „kuntsn-makher“ Perets’ alter ego sein könnte (s. Moss 2007: 236) ist nicht unbedingt der logische Umkehrschluss hierzu. Perets überwindet „the otherness of Hasidism by imagining himself as a hasidic storyteller surrounded by faithful followers“ (Roskies 1995: 125). Der von Maimonides’ Rationalismus und Heines Ironie geprägte Perets wird zu einem „zaddik in disguise“ (ebd.), der jiddische Legenden neu erfindet.361 Und wie hat er sich verkleidet? Mondän, ganz mondän, wie Elias aus Der kuntsn-makher eben. Zwischen Perets’ Seder-Wunder und An-Skis Seder-Erzählung Paschal’naja misterija (Das Pessach-Mysterium, 1910) liegen Welten, genauer gesagt die Revolution von 1905 und – nach dem Trauma von Kišinëv (1903) – entsetzliche Pogrome, die sie begleiten.362 Der ostjüdische, jiddisch und russisch schreibende Autor und Ethnograph Salomon (Shloyme) An-Ski (eigtl: Rapoport; 1863–1920), eine Schlüsselfigur der ostjüdischen Kulturrenaissance, fängt mit seiner Kurzerzählung den tiefgreifenden Umbruch im Ostjudentum angesichts der politisch-ideologischen innerjüdischen und russischen Umwälzungen ein.363 Anhand des SederMahls, das in einer nicht näher benannten Familie in unterschiedlichen Konstellationen gefeiert wird, inszeniert der homodiegetische Erzähler im iterativen Erzählakt einen Hauptkonflikt jüdischen Seins. Das mythische Zeitempfinden, das alljährlich durch das (freudvolle) Seder-Fest und die rituelle Erinnerung an das Ende des babylonischen Exils erinnert, wird verdrängt durch das (schmerzhafte) Empfinden der chronologischen Zeit, in der sich das Exil täglich verlängert – und verschlimmert (vgl. Krutikov 2001: 162f. und Kap. 8.3). Pessach, angefüllt von messianischen Erwartungen wie die Seder-Becher, wird heimgesucht von einem Pogrom. Zeit, um die Becher zu leeren, bleibt keine. Sie reicht gerade noch, um angesichts des gewaltvollen Jetzt alle Hoffnung zu verlieren. Der Konflikt zweier Zeitkonzeptionen, den An-Ski in Paschal’naja misterija in aller Knappheit meisterhaft vorführt, ist der Konflikt zweier Generationen: Die Väter, die an der mythischen Zeit festhalten, ringen mit den Söhnen, die angesichts der Ereignisse innerhalb der chronologischen Zeit ihre Haltung den eigenen Wurzeln gegenüber definieren müssen, an den Traditionen festhalten oder mit ihnen brechen. Der Ich-Erzähler kehrt am Ende der Erzählung nach seinem Ausbruch aus der jüdischen Welt geläutert an den Seder-Tisch

361 Zu Maimonides s. Kap. 13. 362 Die Pogrome im Jahre 1905 sind der Grund für Sholem-Aleykhems Emigration aus Russland und seine wiederholte literarische Auseinandersetzung damit (s. Litvak 2009: 1–38). Auch Babel’ widmet dem Pogromjahr 1905 eine Geschichte, s. hierzu Kap. 9.2. 363 Zu An-Ski s. Roskies 1992: 243–260, Werberger 2004: 62–79, Safran/Zipperstein 2005 und Safran 2008: 1518–1520.

128  |  Identität interkulturell und intermedial zurück.364 Der ‚verlorene Sohn‘ lässt dabei keineswegs das Moderne hinter sich. Im Gegenteil: Statt der traditionellen vier Fragen, mit denen er (unreflektiert) die Tradition fortsetzen würde, will er neue Fragen stellen – nicht um die Tradition zu ersetzen, sondern um sie im Ringen um Freiheit auch von innerjüdischen Zwängen mit modernen Weltanschauungen zu durchsetzen. Auge in Auge mit der Gewalt.

364 Dies ist ein deutliches autobiographisches Element der Erzählung: Nach Jahren in Paris und der Schweiz als Sozialrevolutionär kehrt An-Ski 1905 nach Russland zurück. Die Rückbesinnung auf seine Wurzeln wird bereits während seines Aufenthalts in Westeuropa zum Ausgangspunkt seines ethnographischen Interesses (Safran 2007: 1519).

Marc Chagalls Bilddoppelgänger  | 131

7 Marc Chagalls Bilddoppelgänger: Der Jude in Hellrot (1914/15) und Der Krieg (1914)

Literatur kann unsere Fähigkeit stärken, um Menschen zu weinen, die nicht wir selbst sind und nicht zu uns gehören. Susan Sontag anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2003 Zur gleichen Zeit, 2007, S. 259. Przyjechaliśmy aż spod granicy, oddzielający nas szczęśliwie od złego dla Żydów kraju. Wir kommen von der Grenze, die uns glücklich von dem für die Juden schlechten Land trennt. Julian Stryjkowski, Sen Azrila (Asrils Traum), 1995, S. 92.

Der Krieg und die Kunst: Chagalls Kriegsbilder im Kontext der Avantgarde „Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt [...]“, tönt Filippo Tommaso Marinetti in seinem futuristischen Manifest im Februar 1909 in Le Figaro. Fünf Jahre später huldigen die italienischen Futuristen, aller brutalen Realität zum Trotz, immer noch dem Krieg (s. hierzu Corbineau-Hoffmann 2000: 205–209). Während sich bei ihrem Wortführer Marinetti – so Ulrich Schulz-Buschhaus – „die Geburt einer – vielleicht sogar der Avantgarde aus der Apotheose des Krieges“ vollzieht (zit. nach Corbineau-Hoffmann 2000: 209), lehnen die russischen Futuristen und später die Dadaisten den Krieg vehement ab (Kowtun 1993: 43). Ihr lyrischer Protest gegen das große Morden im Ersten Weltkrieg verbindet sie mit dem Symbolismus und dem Akmeismus, denen sie poet(olog)isch entgegenstehen. Diesem Pro­ test zuliebe spielt Majakovskij mit seinem Titel zum Gedichtzyklus Vojna i mir (Krieg und Welt/Frieden, 1917) auch auf Tolstoj an, den er im Manifest Poščečina obščestvennomu vkusu (Ohrfeige dem allgemeinem Geschmack, 1912) gemeinsam mit Burljuk, Kručenych und Chlebnikov lieber „s parochoda sovremennosti“ (vom Dampfer der Gegenwart) stößt (Burljuk u. a. 2009: 69–70).365 Ihm zuliebe greift Letzterer in seinem Gedicht Otkaz (Absage) von 1922 auf den gängigen Wortsinn zurück, den er mit seinem zaum’ (‚jenseitigem‘ Sinn), mit Sternen- und Wurzelsprache konstant aushebelt (Chlebnikov 2001: 366 und 489). Die Größe des Todes verbietet hier Geniestreiche dichterischer Innovation. Der Symbolist Aleksandr Blok und der Akmeist Osip Mandel’štam bringen gleichermaßen ihr kaltes Entsetzen ob des Krieges zum Ausdruck.366 Anna Achmatova, Russlands tragische 365 Auch im Poem Flejta pozvonočnik (Die Wirbelsäulenflöte, 1915) setzt sich Majakovskij in der für ihn üblichen Selbstinszenierung mit dem Krieg auseinander. 366 Zu Blok s. Kamenski 1989: 193 und 198. Zu Mandel’štam s. besonders sein Antikriegsgedicht Rejms i Kel’n (Reims und Köln) von 1914 (22000: 194–195).

132  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Muse, ist in Molitva (Gebet, 1917) bereit, zum weiblichen Hiob Russlands zu werden. Jeden erdenklichen persönlichen Schicksalsschlag würde sie auf sich nehmen, „čtoby tuča nad tëmnoj Rossiej / Stala oblakom v slave lučej“ (damit die Dunkelwolke über dem finsteren Russland / zu einer Ruhmeswolke der Lichtstrahlen werde; Achmatova 1993: 52).367 Die russische wort- und bildkünstlerische Avantgarde ist – im Unterschied zum italienischen Futurismus und den englischen Vorticists – antimilitaristisch (vgl. Bowlt 2008: 347–366). Chagall stimmt in den Chor der russischen Intelligenzija mit ein, die auf die Zivilisations­ krise mit „kaltem Schrecken“ reagiert (Kamenski 1989: 198). Er schließt sich den erschütterten Stimmen einer Kultur an, der er als russisch-jüdischer Künstler entstammt und in die er nun nach seinem Paris-Aufenthalt zurückkehrt. Auch für ihn ist der Krieg ein Schock. Die „sanglante comédie“, dies seine theatrale Metapher für den Krieg in Ma vie (1931: 171), steigert sein Bedürfnis, die von Zerstörung und Tod bedrohte, von ihm wieder­ entdeckte Heimat in unzähligen Bildern zu dokumentieren, ihr im Bild Dauer zu verleihen. Doch anders als seine russischen Künstlerkollegen Petrov-Vodkin, Končalovskij, Le-Dantiu, Larionov, Filonov oder Malevič, anders als viele Expressionisten ist Chagall nicht am Frontgeschehen beteiligt.368 Seine Bilder zeigen keine Geschütze und Schützengräben, keine Luftangriffe und Bomben wie diejenigen von Otto Dix, George Grosz, Max Pechstein, Willy Jaeckel oder Ludwig Meidner.369 So mag es verwundern, bezüglich der Visualisierung von Krieg und Tod auf Marc Chagall zu sprechen zu kommen, der in unzähligen Bildern eine Hymne an die Liebe und das Leben malt, trunken von Glück und Lebensbejahung. Doch gibt es zum Leuchten seiner Farbfeuerwerke eine – oftmals graphisch-zeichnerische – Kehrseite. Im genügsamen Spiel von Schwarz und Weiß fängt sie die Erfahrungen des Ersten Krieges rigoros ein. Chagall hält keine Kriegshandlungen fest, sondern deren Vorbereitungen und Folgen.370 Im Gefolge Larionovs, mit dem ihn primitivistische Nähe zur Volkskunst verbindet (Kamenski 1989: 30), fertigt er in gedämpften Farben gehaltene Soldatenbilder in Gouache und Öl 367 Das Gedicht stammt aus Achmatovas Zyklus Belaja staja (Weiße Schar, 1917). Die öffentliche, vom Kriegsentsetzen erfasste Stimme tritt hier neben das Intime, Persönliche (Holthusen 1963 Bd.1: 85f.). 368 Der Krieg bricht „buchstäblich in das Leben und Schaffen Chagalls ein“ (Kamenski 1989: 193): Chagall, der 1914 zum Heimaturlaub nach Vitebsk zurückkehrt, um der Heirat seiner Schwester Zina beizuwohnen und seine Jugendliebe Bella wieder zu sehen, bleibt bedingt durch den Krieg mehr als neun Jahre in Russland (Wullschlager 2008: 182). Den Kriegsausbruch erlebt er in Vitebsk. Später ist er seinem Schwager als – untaugliche – Schreibstubenhilfe zugeteilt in der in Reaktion auf den deutschen Aggressor von Petersburg auf Petrograd umgetauften Hauptstadt (s. hierzu Chagalls selbstironische, ein wenig kokettierende Ausführungen in Ma vie; 1931: 188f. und Meyer 21968: 243). Unter russischen Avantgarde-Malern sind generell wenige aktive Kriegsteilnehmer. Die Kriegsthematik findet deshalb – im Vergleich zum deutschen Expressionismus – relativ wenig Niederschlag in der russischen Avantgarde. Auch bildet sich keine übergreifende Ikonographie des Krieges aus (Bowlt 2008: 359f. und 365). 369 Das Soldat-Sein und Soldatendasein reflektiert auch Ernst Ludwig Kirchner in seinem Selbstbildnis als Soldat (Jürgens-Kirchhoff 1993: Abb. 73). Zur Darstellung des Krieges im deutschen Expressionismus s. Ausst.kat. Pabst 1982 und Schneider 2005. 370 Kriegsfotografien der Zeit zeigen Schützengräben, Kriegsgefangene, verwüstete Landschaften (s. Bowlt 2008: 352–355).

Marc Chagalls Bilddoppelgänger  | 133 an.371 Nüchtern den Tatsachen ins Auge blickend, bringt er die innere Spannung mobilisierter Soldaten zum Ausdruck. Ihr Warten, ob mit Brotlaiben unter dem Arm oder der Liebsten zugewandt, ihre militärische Gestik zeigt die Ambivalenz zwischen kampfbereiter Pflichterfüllung und unfreiwilliger Anwärterschaft auf den Tod. In beklemmend erratischen Schwarz-Weiß-Zeichnungen hält Chagall den Einbruch des Krieges ins zivile Leben fest. Es sind dies Ansichten von Vitebsk, die in karger Strichführung und schematisierter Figuren­ zeichnung bewaffnete Soldaten zeigen, die das Stadtbild prägen.372 Die Züge, in denen Chagall stinkenden Soldaten voller Flöhe gegenübersitzt (s. Chagall 1931: 182f.), die an die Front fahren, kehren hier wieder (vgl. Vitebsk. Der Bahnhof, 1914; Abb. in Benesch/Brugger 2006: 83; s. auch Meyer 21968: Kat. 216 und 217). In diesen Miniaturen, Momentaufnahmen der Mobilmachung, formt sich das Hagar-Motiv der um den Schutz ihres Kindes besorgten Mutter aus.373 Dünne Schraffuren auf den Gewändern, die sich im geometrisierten Stadthintergrund wiederholen, wirken wie Insignien des Todes, der hinter dem gezeichneten Leben lauert. Die Störung des Alltags äußert sich vor allem in einer verstörenden Ästhetik. Ist es in Vitebsk (Bahnhof ) der kategorische Einsatz schwarzer (oft horizontaler) Linien, so kommt diese Funktion in Alter Mann und Frau (1914–15), Flüchtlingen (1914), Die Beweinung (1914/15) und Verwundeter Soldat (1914; s. Abb. 32) der schwarzen Fläche zu. Schwarz breitet sich im Bildraum aus wie der Tod in seiner Endgültigkeit. Bei Chagall, der normalerweise als Bildhintergrund die Farbe Weiß bevorzugt, dominiert in diesem „nächtlichen Stil“ (Provoyeur 1985: 125) nun – ähnlich wie bei seinem Kollegen Natan Al’tman – Schwarz.374 Seine NachtBilder, stumme Zeugnisse der Trennung (Der Aufbruch in den Krieg, 1914) oder der Trauer 371 Abb. in Kamenski 1989: 191, 198 und 201, Meyer 21968: Kat. 210–218. Larionovs erste Soldatenbilder gehen auf das Jahr 1900 zurück (George 1966: 62). Im Zusammenhang mit seinem Wehrdienst entstehen mehrere Soldatenbilder, die in primitivistischer Manier die animalische Verrohung der Soldatenzunft einfangen, darunter Soldaten (Erste Version 1908), Tanzende Soldaten (1909), das verkappte Selbstbildnis Kopf eines Soldaten, Schlafender Soldat (1909) sowie das rayonistische Portrait eines Soldaten von 1910–11 (s. Abb. in: Gontcharova. Larionov 1963, Kat. Nr. 127; George 1966: 121 und Guercio 1988: Tafel 17 und 18). Chagalls Auseinandersetzung mit Larionov, der mit Malevič in den Künstlergruppierungen Bubnovyj valet (Karobube) und Oslinyj chvost (Eselschwanz), auf die er im Titel zu seinem Bild Russland, den Eseln und anderen anspielt, tätig ist, wäre einen vertiefenden kunstgeschichtlichen Vergleich wert. Kamenski weist auf den unmittelbaren Einfluss Larionovs auf Chagall hin. Die beiden stellen 1913 anlässlich einer Moskauer Ausstellung neben Natal’ja Gončarova gemeinsam aus (1989: 29f.). 372 Marcadé 1985: 124–125. Russland bietet seit Chagalls Kindheit „dem Maler das Schauspiel eines Landes in Waffen“ (S. 124). Die Vertreibungen während des Ersten Weltkrieges sind für die Juden ein bekanntes Szenario (s. Roskies 1985: 92). 373 Vgl. hierzu Meyer 21968: 237f., 447 und Liebelt 1971: 124; weitere Abb. s. Meyer 21968: Kat. 183, 241, 242 und 242. Das Motiv der Mutter, die ihr Kind schützend umfängt, findet sich beispielsweise in Katze und Frau mit Kind oder Gruppe von Menschen von 1914 (Kruglov/Petrova 2005: 80 und 81). In Chagalls Ikonographie zum Zweiten Weltkrieg spielt es erneut eine entscheidende Rolle (s. Kap. 14). 374 Vgl. hierzu auch Chagalls Akrobaten von 1914, der in bunten Farben dem tiefschwarzen Hintergrund trotzt. Anatolij Ėfros schreibt über Chagalls dynamischen Einsatz von Schwarz und Weiß: „Schwarze Fetzen, schwarze Stäubchen, schwarze Muster, schwarze Stücke von Gestalten und Gegenständen, steif und wie aufgezwirbelt bis zum Unmöglichen – sie überfallen den Zuschauer, zerren ihn in ihren Strudel und reißen ihn fort.“ (1921: 74).

134  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild darüber, einen Menschen verloren zu haben (Die Beweinung), sind wirkungsvoll in ihrer holzschnitt- bzw. scherenschnittartigen Verein-fachung.375 (Chagall verstärkt diese Wirkung durch den Einsatz von Deckweiß.) Die Nichtfarbe Schwarz, die bleiche Gesichter und Gesten konturiert, umhüllt und enthüllt die Ohnmacht des Menschen.

Chagall: Verwundeter Soldat, 1914. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Auf die „Fratze des Krieges“ (Max Beckmann; zit. nach Jürgens-Kirchhoff 1993: 175) reagiert der deutsche Expressionismus mit der Ausdrucksgeste des Entsetzens. Sie kulminiert in einer Ästhetik der Gewalt.376 Die Hypertrophierung der Geste, die Deformierung und Verstümmelung des Körpers prägt expressionistische Kriegsdarstellungen. Max Beckmann beispielsweise, der als freiwilliger Krankenpfleger am Krieg teilnimmt, bis er nach einem Nervenzusammenbruch im Herbst 1915 zunächst beurlaubt und 1917 aus dem Militärdienst entlassen wird,

375 Abb. in: Benesch/Brugger 2006: 79 und 89. Die Zeichnungen wecken Assoziationen mit dem Expressionismus, aber auch mit den traditionellen jüdischen Scherenschnitten („shvueslekh“) aus weißem Papier, die an Shavuot (jidd. Shvues) in die Fenster gehängt werden, s. die Abbildungen in Grunwald 1924: 51–54. 376 In der Lyrik August Stramms beispielsweise führt die Gewalterfahrung im Ersten Weltkrieg zur Sprachgewalt, die vor allem vom Verbum ausgeht. Nach der Zerstörung des menschlichen Körpers folgt diejenige der Syntax (s. Corbineau-Hoffmann 2000: 211–214).

Marc Chagalls Bilddoppelgänger  | 135 hält neben dem Kriegsalltag wie Chagall häufig Verwundete fest.377 Chagalls Expressivität mündet – in stilistisch anderer Hypertrophierung der Geste – in eine Ästhetik der Ohnmacht. Hände, die Schutz und Nähe geben wollen, Hände, die in Trauer gerungen werden, tauchen vor einem finsteren Hintergrund auf, werden vom Schwarz der Tusche isoliert und erreichen so ihr Gegenüber nicht. Opfer des Krieges sind die Frauen, die Angehörigen, diejenigen Soldaten, die von ihren Kriegsverletzungen vielleicht ein Leben lang gezeichnet sind. Der Körper ist der Ort physischen und psychischen Schmerzes. Dennoch bleibt er wenigstens künstlerisch eine intakte Entität, ohne Heroik, ohne pathetisches Martyrium.378 Chagall entwickelt in seinen Verwundeten- und Totenbildern eine essentialistische Dialektik von Schwarz und Weiß. In unbarmherziger Offenlegung der inneren wie äußeren Leiden der Betroffenen führen sie die Sinnlosigkeit des Krieges vor. Chagalls Vignette Verwundeter Soldat – in der Serie der Tuschezeichnungen sicher das bedeutendste Blatt (Kamenski 1989: 199) – zeigt einen Verwundeten in Kriegsjoppe. Sein Gesicht ist zerfurcht, die Zähne sind zusammengebissen. Um den zur Seite geneigten Kopf trägt er einen Verband. Der harte Kontrast der beiden Nichtfarben wird auch hier zur Metapher für den Antagonismus von Leben und Tod. Die Zeichnung enthält eine Bildchiffre, die unter anderem im Juden in Rot (1915) wiederkehrt: Ein Auge ist geschlossen, das andere offen.379 Was hat es damit auf sich?

Doppeltes Unheil und Verdoppelung der Botschaft „Chagalls Bilder über den Krieg können möglicherweise missfallen“, schreibt Jakov Tugendchol’d, russisch-jüdischer Kunstkritiker und Chagall-Monograph, „[...] aber da, wo andere Maler das Eisen darstellen, malt Chagall Gesichter.“ (zit nach Kamenski 1989: 200) Der Künstler thematisiert nicht das Kollektiv im Dienste des Krieges, sondern das Individuum, nicht die Maschinerie des Mordens, sondern den Menschen. Ihn interessiert der familiäre Kontext, das Einzelschicksal angesichts von Vertreibung, Flucht und Tod.

377 Beckmann erlebt den Krieg zu Beginn als „gesteigerte Form des Lebens“ (zit. nach Jürgens-Kirchhoff 1993: 154), was seinem expressionistischen Lebensgefühl zunächst entgegenkommt. Später kann er sich nur noch durch malerische Passion – als Leidenschaft und Leiden in der Nachfolge Christi – vor dem Wahnsinn retten (Jürgens-Kirchhoff 1993: 151–204, bes. S. 175). Auch der jüdisch-tschechische Autor Richard Weiner, der seine Kriegserlebnisse literarisch verarbeitet hat, erlebt an der serbischen Front einen Nervenzusammenbruch (Weiner 2005: 291). 378 Im Unterschied hierzu entwickelt Beckmann einen neuen, vom Krieg geformten, martyrologisch überhöhten Figurentypus, der sich an spätmittelalterlichen Typen orientiert (Jürgens-Kirchhoff 1993: 172). Ludwig Meidner wählt die groteske Deformation. 379 Es findet sich ebenfalls in einer frühen Zeichnung der Eltern von 1910, in Auf der Bahre (1914), Bauernpaar (1914), Der Jude in Grün (1914), Die Bewegung (1916), in einer Illustration zu Der Nisters Das Kind im Kinderwagen (1917) und in der 36. Illustration zu Gogol’s Mërtvye duši (s. Kap. 11). Chagall teilt dieses Motiv eines offenen und eines geschlossenen Auges nur mit Yoysef Tshaykov (s. Kap. 8.4) und Yisokher Ber Ribak (s. Kap. 9.1). Zwar portraitieren sich Yehuda Pen 1898 und Natan Al’tman 1927 mit einem zugekniffenen Auge, doch steht dies eindeutig im Kontext der Selbstanalyse (Abb. in: Kučerenko/Cholodova 2006: 2 und Hazan-Brunet 2009: 93).

136  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Die jüdischen Flüchtlingsströme, die Chagall durch Vitebsk ziehen sieht, sind ihm Anlass zu einer doppelten Reflexion des Ersten Weltkrieges: Er bedenkt bildkünstlerisch das universale und das spezifisch jüdische Drama. Chagall, der mit seiner Kunst nach der Einheit der Welt strebt, schmerzt der Krieg als Angriff auf die humanitas.380 Ebenso muss er dem Leid der Juden zusehen, die Deportationen, Antisemitismus (auch in der zaristischen Armee) und todbringendem Militärdienst ausgesetzt sind. Denn gerade Galizien, Podolien und Wolhynien, also Siedlungsgebiete der Ostjuden, werden zum bevorzugten Kriegsschauplatz.381 Diese doppelte Reflexion der bikulturellen jüdisch-russischen Künstleridentität Chagall mag der Grund für zwei Bilddoppelgänger sein. Die Skizze Der Zeitungsverkäufer findet ihr Pendant im Ölbild mit gleichem Titel (beide entstehen 1914). Chagalls vielbehandeltem Monumentalgemälde Der Jude in Hellrot (1914/15) geht außer der Studie Der Greis die Tuschezeichnung Der Krieg voraus (1914; s. Abb. 35 bis 37).382

Chagall: Der Zeitungsverkäufer, 1914. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012. 380 Im Gespräch mit Aleksandr Kamenskij sagt Chagall 1973: „... ich habe oft davon geträumt, das Gefühl der Einheit der Welt wiederzufinden, das man in der Antike kannte. Die Welt wie ein untrennbares Ganzes zu sehen, auf einmal den Anfang und das Ende zu umfassen, welche Reinheit!“ (1989: 364) 381 Zum Ersten Weltkrieg im Zarenreich s. Stökl 41983: 627–635. Nach dem Durchbruch der Deutschen 1915 verschiebt sich die Frontlinie zwischen Deutschen und Russen mehr und mehr nach Osten – durch den Ansiedlungsrayon hindurch. Russland, das auf den Krieg wirtschaftlich, logistisch und sozial nicht vorbereitet ist, erlebt einen Zusammenbruch des Verteilungssystems mit verheerenden Folgen. Für die russische Armee wird der Erste Weltkrieg zum Debakel: In 40 Kriegsmonaten sterben sieben Millionen Soldaten (Bowlt 2008: 349). 382 Der Greis steht zurück, da bei der folgenden Auswertung besonders die Rolle der Grapheme im Bild untersucht wird.

Marc Chagalls Bilddoppelgänger  | 137 In Der Zeitungsverkäufer von 1914 bannt Chagall einen bebrillten, Pens Judenportraits aufrufenden Austräger russischer und jiddischer Zeitungen ins Bild (s. Abb. 33). Neben ihm ragt massiv die Vitebsker Il’inskaja cerkov’ (Il’inskij-Kirche) auf. Die Figur des alten Juden, den trauerschweren Blick irritierend auf den Betrachter gerichtet, von einem kummervollen Leben gezeichnet, platziert er vor die altbekannte Kulisse seiner Geburtsstadt. Doch erstrahlt der Himmel über Vitebsk diesmal nicht in dem herrlichen Blau, das Chagall so gerne den Künstlern des Trecento entlehnt. Glutrot gefärbt ist er, eine (apokalyptische) Reminiszenz an das Blut, das unter Kanonendonner an der Front vergossen wird. Düster wie der zu erwartende Ausgang des Krieges sind Straße und Häuser, nicht schneebedeckt wie in Chagalls berühmtem Bild Über Vitebsk aus demselben Jahr. Chagall macht in dieser stillen Vision „den Ewigen Juden zum Verkünder des Kriegsausbruchs und des Untergangs.“ (Aaron 2003: 55) Sein Kriegsbote wirkt ohnmächtig angesichts „la vache qui faisait la politique mondiale“ (Chagall 1931: 170). In seinen Gesichtszügen liest der Betrachter das Leid, das die Leser den Zeitungen entnehmen, die er verkauft. Die schreckliche Prophetie steht in einer russischen Tageszeitung – „gazeta“ (russ.: Zeitung) ist zu lesen, der erste Teil des Titels ist unkenntlich – oder im Ogonek (wörtlich „Feuerchen“), einer russischen Wochenschrift.383 Die schreckliche Prophetie steht aber auch in der jiddischen, von 1910 bis 1939 in Warschau herausgegebenen Tageszeitung Momen[t].384 Den Kerngedanken des Bildes – die schlimme Botschaft vom Krieg zu überbringen – erprobt Chagall in der Skizze (s. Abb. 34). Hier fokussiert er das Gesicht des alten Juden und den Inhalt der Zeitungsausgabe: Auf Russisch steht auf einem der Blätter gut leserlich die Schlagzeile „vojna“ (Krieg). Diese Version des manifesten Kriegsthemas, vermittelt in kyrillischen Schriftzeichen, verwirft er im Ölbild zugunsten der jiddischen bzw. russischen Medien, die vom Krieg künden. Chagall setzt bewusst kyrillische und hebräische Schriftzeichen nebeneinander. Russisch und Jiddisch stehen stellvertretend für das multikulturelle slavisch-jüdische Leben im Ansiedlungsrayon (um Vitebsk herum), das vom Weltgeschehen bedroht ist. Die gesamte Zivilbevölkerung ist in Gefahr, auch die jüdische. Der Krieg kennt keine ethnischen Grenzen.

383 Zu Der Moment, einer der wichtigsten und langlebigsten jiddischen Tageszeitungen s. Cohen 2008: 1193f. Ogonek ist eine illustrierte Wochenschrift. Zum ersten Mal wird sie am 9 (21). Dezember 1899 als der Literatur und Kunst gewidmete Beilage den Petersburger Birževye vedomosti (Börsennachrichten) beigegeben. Seit 1902 erscheint sie gesondert als eigenständige Publikation. Die Redaktion befindet sich heute in Moskau; (http://www.ogoniok.com/inside/hystory/; Zugriff: 5.3.2012) 384 Chagall deutet den letzten Buchstaben, das Tes, nur an. In die Serie der Zeitungsbilder gehört weiterhin das ebenfalls 1914 entstandene Ölgemälde Smolensker Nachrichten. Zu lesen ist dort der russische Titel des Blattes (Smolenskij vestnik) und die Schlagzeile „Vojna“ (Krieg). Chagall knüpft mit diesem Bild inhaltlich an Pens Za gazetoj (Zeitungslektüre, ca. 1910; Abb. in Kučerenko/Cholodova 2006: 57) und kompositorisch an Paul Cézannes Die Kartenspieler (1890–1895) an. Die ostjüdische ‚Ikonographie des Zeitungslesens‘ verdeutlicht die ungeheure Bedeutung der jiddischen Presse für die jüdische Emanzipationsbewegung und Kulturrenaissance im 19. und 20. Jahrhundert (s. hierzu Greenbaum 2008 Bd. 2: 1260–1268).

138  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild

Chagall: Skizze für Der Zeitungsverkäufer. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Neben diese beiden Kriegsbotenbilder tritt die Gestalt des Ahasverus aus Der Krieg und Der Jude in Hellrot. Auch diese Geschwisterbilder verbindet ein Gattungswechsel von der Zeichnung zum Ölbild, ein Darstellungswechsel vom „Genrehaft-Anekdotischen“ (Weber 2004: 109) zum Monumental-Archetypischen und ein Schriftwechsel vom Kyrillischen zum Hebräischen. Auch hier schlägt sich Chagalls Schaffen paradigmatisch nieder, das vom konkreten „psychischen Schock“ (s. Chagall 1955: 11) zur abstrakten Idee fortschreitet.385 In Chagalls Monumentalgemälden Der Jude in Schwarz-Weiß (1914), Der Jude in Grün (1914) Der Jude in Rot (1914) und Der Jude in Hellrot (1914/15) sind die Gestalten „nicht nur Bettler, sondern zugleich Propheten von Gottes Wort, ihre Spiritualität und Gelehrsamkeit hebt sie weit über ihr armseliges, elendes Bettlerdasein hinaus.“ (Weber 2004: 109) Gerade im Kontext des Krieges werden sie „Sinnbilder der Existenz des jüdischen Volkes“ (ebd.).386 Das

385 Jacques Lassaigne, von dem diese Beobachtung stammt, geht von einem „geistigen Schock“ aus (zit. nach Weber 2004: 110). Da Chagall jedoch mehrfach die psychische Erschütterung als Ausgangspunkt seines Schaffens in den Vordergrund rückt, liegt hier der Schwerpunkt stärker auf dem Emotionalen. 386 Laut Annette Weber fungieren diese Judendarstellungen zugleich als „Spiegelbilder von Chagalls Künstlerpersönlichkeit“ (ebd.; s. Kap. 4).

Marc Chagalls Bilddoppelgänger  | 139 deutlichste Vehikel der conditio judaica ist in diesen Bildern – das Tuscheblatt Der Krieg eingeschlossen – nicht das Schrappnell, sondern die Schrift.387 Chagall kehrt im Juni 1914 nach Vitebsk zurück. Nach der Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand am 28. Juni erklärt Österreich-Ungarn am 28. Juli Serbien, Deutschland dann am 1. August Russland den Krieg. Eine Woche später sind Frankreich und  – als Reaktion auf den Einmarsch deutscher Truppen in Belgien  – auch Großbritannien am Kriegsgeschehen beteiligt. Ende August folgt Japans Kriegserklärung an Deutschland. Dass Chagall, wie Nikolaj Aaron schreibt, „[f ]ernab der scheinbaren Naivität und Verträumtheit seiner frühen Kunst [...] ein genauer Beobachter der Weltpolitik“ (2003: 54) ist, beweist die Zeichnung Der Krieg. Marschierende Soldaten mit geschulterten Bajonetten aus dem rechten oberen Bildviertel ergänzend, schreibt Chagall in kyrillischen Lettern links spiralförmig vom Bildthema und -‚titel‘ „Vojna 1914“ (Krieg 1914) aus die Länder in die Zeichnung, die von Anfang an am Weltkrieg beteiligt sind: „Francija“ (Frankreich) ist deutlich zu lesen, „Rossija“ (Russland) und „Anglija“ (England) verschwinden hinter einem schwarzen Balken. „Serbija“ (Serbien) und „Belgija“ (Belgien) setzen den Schriftzug fort. Chagalls Wortspirale, die die gesetzmäßige Bewegung von Gewalt einfängt, endet mit „Japon...“ (eigentl. „Japonija“: Japan). Dieser Ländername bricht mit dem unvollendeten Buchstaben „n“ ab, so, als würde dem Bildurheber angesichts der rasanten Ereignisse der Atem zur Vollendung fehlen. Die Aggressoren Österreich-Ungarn und Deutschland tauchen nicht auf.388 In die kyrillischen Grapheme hinein, Signifikanden der Kriegsakteure und – im Zeitalter der Nationalismen – Symbole für (Völker-)Hass und Tod, tanzt eng umschlungen ein Paar. Für den uniformierten Soldaten und seine Liebste wird der Tanz anlässlich der Mobilmachung zum ‚Abschiedswalzer‘.389 Chagall stellt hier die Verbundenheit zweier Menschen der Zwietracht der Völker gegenüber. Er denkt individuelles Glück und universales Unheil zusammen, macht aus dem Krieg keine Abstraktion. Ob der Schriftzug nun zur Spur der Tanzschritte wird oder den „danse macabre“ des Krieges symbolisiert, dem das Paar gezwungenermaßen folgen muss, fließt ununterscheidbar ineinander. Vor diesem Bildhintergrund sitzt, in die düstere Vorherrschaft der Farbe Schwarz getaucht und von den graphischen und ikonischen kriegerischen Elementen im Hintergrund eingeschlossen, ein bärtiger Jude. Er scheint sich vor einem (auch symbolisch zu verstehenden) Fensterkreuz vom bewegten Geschehen auszuruhen. In regungsloser Haltung wird er Opfer der dramatischen Ereignisse ‚draußen’, die er nicht beeinflussen kann. Der Alte verschmilzt 387 Zum verborgenen Schriftcharakter im Juden in Schwarz-Weiß s. Kap. 6. 388 Osip Mandel’štams Gedicht Zverinec (Tierschau) von 1916 operiert ebenfalls mit den Hauptkriegsbeteiligten Deutschland, England, Frankreich und Russland (1993: 10f.). Der Dichter wählt hierfür die nationalen Tiersymbole Adler, Löwe, Hahn und Bär. Der „Deutsche“ (Germanec) als Aggressor ist explizit benannt. 389 Das sich umarmende Paar ruft frühere Soldatenbilder auf: Die Gouache Soldat (1911; Abb. in Kruglov/ Petrova 2005: 53) zeigt einen Soldat, der im Schoße einer Bäuerin ruht. Ein verliebtes Paar in Der Soldat trinkt (1911–12; Abb. in Kamenski 1989: 118) tritt als farbige Variation des Liebespaars auf, s. auch die Gouache Soldat und junge Bäuerin (1911; Abb. in Kamenski 1989: 97). In den Jahren 1914 bis 1917 setzt Chagall die Liebesthematik im Privaten fort: Chagalls Serie der Liebenden in Blau, Grün, Rosa und Schwarz setzt er dem Weltkrieg und damit dem (Völker-)Hass entgegen.

140  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild mit dem Innenraum (vielleicht einem Bahnhof, in dem viele Juden zusammengekauert in Realität und Malerei ihres Schicksals harren?), mit dem bodenlosen Schwarz. Auf groteske Weise zeichnet sich die weiß eingezeichnete Silhouette vor der schwarzen Tuschefläche ab. Helle Hände, auf den Oberschenkeln ruhend, kontrastieren mit der gleichfarbigen Bewegtheit im Bildhintergrund – und mit den schwarzen Augen, die in keine Zukunft blicken.390 Neben den Händen liegt seine „torbe“ (jidd.: Sack), die konkret seine Habseligkeiten birgt und sinnbildlich für das Diaspora-Dasein steht: „trogn zayn pekl“ (sein Bündel tragen) heißt hier auch „shlepn dem goles“ (das Exil ertragen). Mit der obligatorischen Schildmütze und dem Sack gerinnt die Darstellung des Greises zum Symbol für die verfolgten Ostjuden.391 Chagall arbeitet hier ästhetisch mit seinem bevorzugten Verfahren des Farbkontrastes. Dank des Hell-Dunkel-Gegensatzes schafft er formal Äquivalenzen zwischen Elementen, die semantisch unvereinbar sind (z. B. die schwarze Schrift der aktiven Kriegsteilnehmer vs. die schwarze Figur der betroffenen jüdischen zivilen Kriegsopfer). Zugleich erzeugt er durch die Koppelung einer realistisch-mimetischen mit einer stilisiert-antimimetischen Darstellung des Bildraumes und Figurenarsenals eine hohe ästhetische Spannung (s. hierzu Meyer 21968: 224 und Weber 2004: 111). Im Zeichen des Krieges verliert der ewige Jude den Boden, auf dem die Soldaten im Hintergrund sich so sicher bewegen. Doch nichts ist ambivalenter als ein Bildraum, in dem Schrift und Schritte ein absurdes Dasein führen. Der Jude in Hellrot (1915) greift ikonographisch die überdimensionale Figur des Ewigen Juden auf. Auch hier ruhen die Hände auf den Schenkeln, blickt dem Betrachter unter der Schildmütze ein zerfurchtes Gesicht mit beunruhigender Augengestaltung entgegen.392 Die Gestalt ist durch die verfremdende Farbgebung der Hände auch mit dem Juden in Rot (1914, s. Abb. 1) und dem Juden in Grün verbunden. Die weiße Hand im Juden in Hellrot verweist auf den Juden in Rot, die grüne auf den Juden in Grün, dem der Prediger von Slutsk Pate stand (Chagall 1931: 175).393 Ähnlich der literarischen Beschreibung in Ma vie verschmelzen diese Darstellungen zu einem ‚Triptychon‘ von tiefer Spiritualität und menschlicher Würde.394 Trotz der avantgardistischen Gestaltung – in der antinaturalistischen Farbgebung und kubistischen Formensprache hallt Chagalls Pariser Zeit nach – fällt die ikonographische Nähe dieser Judengemälde zur visuellen Imagination der Juden im 19. Jh. (Israëls, Pen etc.), 390 Chagall setzt für den Hell-Dunkel-Kontrast die Materialität des gebräunten Papiers ein. Mit dem Draußen ist der Jude durch das Deckweiß verbunden, das in unregelmäßigem Auftrag die Willkür des Krieges unterstreicht. In das Deckweiß hinein ist ein weiterer, von den Wirren des Krieges erfasster Soldat angedeutet. 391 Julian Stryjkowski zeigt in seinem Roman Austeria die Verfolgung der Juden nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges im habsburgischen Galizien. Zaristische Kosaken dringen in ein Schtetl ein und verwüsten es. 392 Der Jude in Hellrot ist besonders im Kontext der anderen monumentalen Judengemälde mehrfach behandelt, s. Meyer 21968: 222–224, Amishai-Maisels 21988: 81, 96f., Weber 2004: 106–119 und Harshav 2006a: 121f. 393 Die Bildbetitelung zieht sich in jiddischer Sprache rechts über die ersten beiden Zeilen. 394 Sie ragen unübertroffen aus Chagalls Schaffen heraus. In späteren Jahren hat Chagall diesen Judengestalten, so Annette Weber in ihrem überzeugenden Beitrag, nie mehr „Einzelbilder gewidmet, in denen die tragische Größe ihrer Existenz in diesem Ernst und dieser künstlerischen Vollendung zum Ausdruck kam“ (2004: 117).

Marc Chagalls Bilddoppelgänger  | 141 besonders aber zu Rembrandt auf, den Chagall in Der Jude in Rot ‚judaisiert‘. Der Jude in Grün beispielsweise korrespondiert mit Jozef Israëls Spross eines alten Stammes (1889) und Leonid Pasternaks Judendarstellungen (s. Amishai-Maisels 21988: 96–99, Weber 2004: 111). In ihm schwingt ebenso Rembrandts Ölportrait Alter Mann im Lehnstuhl (1654) mit, das Chagall wohl in der Eremitage gesehen hat (Abb. in Schwartz 2006: 313). Der Jude in Hellrot steht in interikonischem Dialog mit Rembrandts Der alte Jude (1654) und Israëls’ Allein auf der Welt (1886). Sein geschlossenes Auge mag von Samuel Hirszenbergs Kohlezeichnung Jerusalemer Juden beeinflusst sein.395 Die monumentale Figur scheint dem Betrachter aus dem Bild förmlich entgegenzustürzen. Der Faltenwurf ihres dunklen Anzugs, die bewegten Linien des flammendroten Barts und die tiefen Furchen im Gesicht übersetzen – vor den geraden horizontalen Linien der Häuser und der vertikalen Schrift im Hintergrund – eine große innere Unruhe nach außen. Ist der Jude gerade dabei, die Schtetl-Kulisse zu verlassen (vgl. Harshav 1992: 73)? Die minutiös ins Bild übertragenen Zitate aus Genesis (hebr. Bereschit/jidd. Breyshes) halten eine Antwort parat. Zugleich eröffnen sie im Verein mit der antimimetischen Farbverwendung zusätzliche Bedeutungsschichten. Vor gelbem Hintergrund erscheint, beginnend auf der rechten Seite, Gottes Verheißung an Abraham, das auserwählte Volk ins gelobte Land zu führen (Gen 12,1–3). Nach diesem für die jüdische Religion zentralen Gründungsmythos, dem Bundesschluss zwischen Gott und dem jüdischen Volk, folgt ein Textausschnitt zur Beschneidung als Zeichen des Bundes (Gen 17, 24–27).396 Chagall schließt die Geschlechterfolge nach Isaak an (Gen 25, 19–21). Mit Jakob, der sich nach Paddan-Aram aufmacht, um „von dort eine Frau zu nehmen“ (Gen 28,7; Ü: Buber/ Rosenzweig), ist die Trias der Patriarchen vollendet (s. hierzu Magonet 2003: 61–65).397 Chagall setzt diese Ausschnitte aus der Heiligen Schrift, die metonymisch für die Auserwähltheit des jüdischen Volkes stehen, in ein gelbes Halbrund. Indem Chagall links unten seinen eigenen Namen in die abrahamitische Geschlechterfolge einschreibt, macht er seine Zugehörigkeit zum jüdischen Volk explizit (er signiert hier mit „‫)“סגל‬. Durch die Schrift am Horizont seines zum Text erweiterten Bildraums und durch ein Holzfass, das anstelle eines Kamins das Dach des rechten Häuschens ziert und ein Tintenfass mit Federkiel sein könnte, stellt er sich in die Tradition der „Sofrim“, der Toraschreiber.398 395 S. Amishai-Maisels 21988: 81. Hirszenbergs Zeichnung wird 1912 in Ost und West (H. 12: 136) abgebildet. Der Rekurs auf jüdische Künstler des 19. Jh. und die Zeitschrift Ost und West, mit der Pen seine Schüler vertraut macht (Kazovskij 1992: 28f.), spielen für Chagalls künstlerische Entwicklung eine nicht zu unterschätzende Rolle. 396 Die Textstelle behandelt die Beschneidung Ismaels und Abrahams. 397 S. hierzu Meyer 21968: 222, 666 und Amishai-Maisels 1978: 91–93. Ziva Amishai-Maisels arbeitet die Bibelreferenzen heraus, ebenso die direkten persönlichen Bezugnahmen, die Marc Chagall in den Schrifttext einbaut oder insinuiert. Bei Rebekkas Schwangerschaft (Gen 25, 21) setzt er – im linken Bildrand – seinen eigenen Namen in Hebräisch ein. Jakobs Suche nach einer Gattin in Paddan-Aram, dem Herkunftsort seiner Mutter, parallelisiert Amishai-Maisels mit Chagalls Rückkehr nach Vitebsk zu Bella und zu dessen Familie (1978: 93). 398 Man ist zugleich an den Waschzuber erinnert, in dem auf wundersame Weise dem totgeborenen Chagall das Leben geschenkt wird (s. 1931: 19f., vgl. die dazugehörige Illustration Geburt). Laut Kamenski symbolisiert das Tintenfass die Heilige Schrift (1989: 217).

142  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Chagall nimmt durch den Bildkontext, mit dem er die Worte der Tora umgibt, zugleich deren Deutung vor. Im visuellen Medium setzt er die Exegese der Heiligen Schrift fort. Der Krieg, den er in der gleichnamigen Zeichnung abbildet, führt Chagall in Der Jude in Hellrot zu seinen jüdischen Wurzeln. Das allgemeine Entsetzen ob des Weltkrieges wirft ihn auf seine jüdische Identität zurück. Die bildkünstlerische Reflexion des jüdischen Schicksals zwischen eschatologisch-messianischer Verheißung und realgeschichtlicher Desillusionierung im Ölbild ergänzt die Repräsentation der universalen und jüdischen Historie aus dem Tuscheblatt. Der Graphem- und Sprachwechsel vom Russischen zum Hebräischen bedeutet in erster Linie einen Perspektivenwechsel vom Kosmopoliten zum (Ost-)Juden. Der hebräische heilige Text an der Bildoberfläche ruft dabei mehrere jiddische (literarische) ‚Profanationen‘ auf, die in der Semantik der Schrift und der Symbolkraft der Farben Gelb und Rot verborgen liegen.399 Statt mit Rauch steht Gottes Wort mit schwarzer Tinte in den gelben ‚PergamentHimmel‘ geschrieben.400 Gelb wird im Islam und im christlichen Europa früh zur Farbe der Juden (Scheiner 2004: 52f ). Vom Judenrad an, eingeführt auf dem Konzil von Narbonne (1227) unter Papst Gregor IX., ‚avanciert‘ es „zur erniedrigenden Farbe für Juden in Europa“ (Scheiner 2004: 142).401 Neben dieser abwertenden christlichen Konnotierung ist die Farbe Gelb auch innerjüdisch negativ belegt. Isaak Babel’ bringt seine ambivalente Haltung zum Judentum durch gelbe Bärte zum Ausdruck, die in Konarmija (Die Reiterarmee, 1923–25) mehrfach aufleuchten.402 Osip Mandel’štam erinnert sich in seiner autobiographischen Prosa Šum vremeni (Das Rauschen der Zeit, 1925) des schwarz-gelben „chaos iudejskij“ (jüdischen Chaos; 1966: 103–108).403 Diese wenig schmeichelhafte Farbsymbolik für das (orthodoxe) 399 Zur kabbalistischen Farbsymbolik s. Scholem (1973: 98–151). 400 Udo Liebelt versteht „das hebräische Schriftbild des göttlichen Aussendungsbefehls an den Erzvater Abraham“ vor gelbem Hintergrund als Baldachin (1985: 140). Rembrandt gestaltet in Das Gastmahl des Belsazar (um 1635) das Menetekel mit weißen, von göttlichem Licht umgebenen hebräischen Graphemen vor schwarzem Hintergrund. Die Schrift wirkt hier wie eine Umkehrung der kabbalistischtheosophischen Buchstabenmystik: Sie begreift die Tora als „schwarzes Feuer auf weißem Feuer“ geschrieben (Idel 1996: 39–44, hier S. 39). 401 Das speichenlose Rad steht „für das Vergängliche schlechthin“ (Scheiner 2004: 88f.). Den Juden sollte durch das Tragen des Rades zu verstehen gegeben werden, „dass die Zeit ihrer Religion vorbei sei, dass sie sich seit Jesu Kreuzigung auf dem hinablaufenden Teil des Rades befanden“ (ebd.). 1941 verfügt Goebbels das Tragen des gelben Judensterns, der das von den Zionisten ausgewählte ‚jüdische‘ Symbol, den Schild Davids, mit der die Juden konnotierenden Farbe kombiniert (Scheiner 2004: 140). 402 Vgl. Gedali, Rabbi (Der Rabbi) und Učenie o tačanke (Die Lehre vom MG-Wagen, 2000: 25–28, 31–33 und 35–38). 403 Im Kapitel „Bunty i franzuženki“ (Unruhen und Französinnen) erscheint Mandel’štam das Judentum als Chaos, das ihn „kločkami černo-želtogo rituala“ (als Fetzen eines schwarz-gelben Rituals, 1966: 93) anfällt. Gemeint ist der Tallit (jidd.: Tales), der zum rituellen Gebet angelegt wird. Im späteren Kapitel „Chaos iudejskij“ (Jüdisches Chaos) wirft der jüdische Großvater in Riga dem jungen Mandel’štam ein „černo-želtyj šelkovyj platok“ (schwarz-gelbes Seidentuch; 1966: 106) um die Schultern. Der das jüdische Chaos symbolisierende gelbe Gebetsmantel mit den schwarzen Schaufäden wird hier mit der Fremdheit des Hebräischen gekoppelt: der Großvater „zastavil povtorjat’ za soboj slova, sostavlennye iz neznakomych šumov“ (hieß mich Worte nachsprechen, die aus unbekannten Geräuschen bestanden; ebd.; ÜS: Ralph Dutli; s. hierzu auch Cavanagh 1995: 103–145).

Marc Chagalls Bilddoppelgänger  | 143 Judentum setzt er auch in seiner Lyrik ein: Am deutlichsten wird dies am Oxymoron „solnce čërnoe“ (schwarzen Sonne) aus dem Eröffnungsgedicht zur Gedichtsammlung Tristia (1922; 1993: 6–7) und des „želtyj sumrak“ (gelben Dunkels) in Vernis’ v smesitel’noe lono (Du kehr zurück in jenen Blutschoß, 1920), die der Dichter der Sonne des Hellenismus entgegensetzt: „Vernis’ v smesitel’noe lono, / Otkuda, Lija, ty prišla, / Za to, čto solncu Iliona / Ty želtyj sumrak predpočla.“ (Du kehr zurück in jenen Blutschoß / Aus dem du, Lea, einmal kamst, / Weil du das gelbe Dunkel vorzogst / Und nicht Ilions Sonne nahmst; 1993: 76–77; ÜS: Ralph Dutli)404 Das Gelb führt im Juden in Rot ein Doppelleben, das im Zusammenspiel mit der Farbe Rot Chagalls ambivalente Haltung zum Judentum zum Ausdruck bringt: Ob nun als Symbolfarbe für den Antijudaismus oder  – im Zusammenspiel mit Schwarz  – für das (unaufgeklärte) ‚Chaos‘ der jüdischen Religion, birgt sie in Form der Schrift (ihrer Semantik) die göttliche Verheißung an das auserwählte Volk. Diese Dialektik von Verfolgung und Verheißung wird weiter ausgefaltet, wenn man – jiddische – Kontrafakturen auf den hebräischen Gründungs­ mythos aus Gen 12 kennt.405 Mit der Berufungsformel „Lek-Lekka ...“ (geh, gehe weg; Gen 12, 1), dem Dativus ethicus, Zuhause und Familie zu verlassen, verheißt Gott Abraham Land und Nachkommenschaft. In der Semiotik der jüdischen Folklore und des Jiddischen verweist derselbe Ausdruck im Gegenteil dazu auf die Vertreibung der Juden aus fremdem Land. „Parshes lekh-lekho“ meint nicht die entsprechenden Abschnitte für die Wochenlesung, sondern ironisch tatsächliche Aktualisierungen dieses (unabgeschlossenen) ‚Kapitels der Vertreibung‘ (Harshav 1992: 73f. und 2006a: 121f.). „Lekh-lekho keyn Kherson, keyn Volin, ergets andersh“ (Geh, geh nach Cherson, nach Wolhynien, geh irgendwo anders hin)  – so konterkariert der „zeyde“ (Großvater) der jiddischen Literatur Mendele Moykher-Sforim den Erlösungsgedanken von Gen 12 (zit. nach Niborski 1999: 140). In der seinen „hakdomes“ (Vorrede) zu Masoes Binyomen ha-shlishi (Die Fahrten Benjamins des Dritten, 1878), einer parodistischen Verfremdung des hebräischen Gebetsduktus und Attacke auf falsche Religiosität (Frieden 1995: 80f.), karikiert der Erzähler Mendele erneut Gen 12:406 „gey, gey, krikh-aroys“ (geh, geh, kriech heraus), so spricht Gottes Engel zu allerlei Ungeziefer – und zu den Juden, „geyt, geyt – iber di hayzer!“ (geht, geht – von Haus zu Haus) zu den jüdischen Bettlern (1928: 3f.). „Lekh-lekho“ heißt das vorletzte 404 Auch im Gedicht Sredi svjaščennikov levitom molodym... (Inmitten all der Priester ein junger Levit, 1917) aus Tristia korreliert Mandel’štam Gelb und Nachtschwarz, die „želtizna [...] nebes“ (das Gelbe der Himmel) mit „nad Evfratom noč’“ (der Nacht über dem Euphrat; Mandel’štam 1993: 46f.). Zum Einsatz der Farben Gelb und Schwarz in seinem Schaffen s. Taranovsky 1976: 48–67, Cavanagh 1991: 317–348 und Mann 2006: 685–688. 405 Der Bundesschluss zwischen Gott und Israel aus der Patriarchenerzählung wird im Buch Exodus wiederholt (2 Mose 24; vgl. auch Magonet 2003: 42). Gen 12 ist auch in Julian Stryjkowskis Sen Azrila (Azrils Traum, 1975) ein wichtiges Movens für die Handlung. 406 Ähnlich Rabinovitshs literarischem Alter ego Sholem-Aleykhem ist Abramovitshs Erzählerfigur des Mendele aufgrund der Interferenzen zwischen literarischer Erzählerfigur und realem Autor komplex (Aberbach 1993: 7). Zu Mendele s. Niger 1928, Allerhand 1977: 56–59, Steinberg 1977, Frieden 1995: 9–94, Aberbach 1993, Wisse 1971: 25–40 sowie Miron 1973 und 2000: 81–127; s. auch Kap. 11. Mendeles Reiseroman erscheint auch unter dem Titel Kitser masoes Binyomen ha-shlishi (Die kurzen Fahrten Benjamins des Dritten).

144  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Kapitel in Sholem-Aleykhems Tevye der milkhiker (Tevye, der Milchmann, verfasst 1895– 1916). Tevye, der Hebräisch radebrecht, Gottes Wort dabei richtig deutet und so Anlass zu viel Komik gibt, wird Zeuge der grotesken ‚Realisierung‘ der Verheißung als Vertreibung (1953 Bd. 3: 345–364).407 In Chagalls Bild bezieht sich das Bibelzitat in seiner subversiv-volkstümlichen Bedeutung auf die Vertreibung von 1,5 Mio Juden, die 1914 ihre Bleibe binnen 24 Stunden räumen müssen. So will es der von der zaristischen Armee ausgegebene Befehl an der deutschrussischen Kriegsfront (Harshav 1992: 74 und 2006a: 121).408 In Kenntnis des realen und jiddischen Subtextes, aber auch in Kenntnis der kyrillischen Vorgängerzeichnung wird deutlich, wie Chagall durch das hebräische Zitieren von Gen 12, 1–3 den Krieg ins jüdische Bewusstsein spiegelt. Mendele Moykher-Sforim und Sholem-Aleykhem sind hier nicht von ungefähr in einem Atemzug genannt. Das Text-Bild-Kontinuum der Kontrafakturen zu Gen 12 steht für die fortgesetzten Vertreibungen, angefangen von den Pogromwellen seit den 1880er Jahren, die Mendele und Sholem-Aleykhem beschäftigen, bis hin zur Entwurzelung der Juden im Ansiedlungsrayon während des Ersten Weltkrieges, die Chagall schockiert.409 Zugleich verbindet Mendele, Sholem-Aleykhem und Chagall die Legende von den Roten Juden (jidd.: aseres-hashvotim). Im jüdischen Volksglauben leben die Roten Juden, wohl Nachkommen der verlorenen Zehn Stämme Nordisraels, die nach der Okkupation ihres Landes durch die Assyrer 721 v. Chr. ins Exil gehen müssen, jenseits des sagenhaften Flusses Sambatyon hinter den „Bergen der Finsternis“ (jidd. hore khoyshekh) weiter.410 Dort, jenseits dieses Flusses, der am Sabbat ruht, warten sie auf die Rückkehr in ihr Reich (vgl. Jeremias 31). In Mendeles Masoes Binyomen ha-shlishi beflügeln Legenden um die Zehn Stämme und die Roten Juden die Phantasie und Reiselust des Protagonisten (1928: 12, 29–31). Wie Don Quijote ist Benjamin besessen von dem, was er gelesen hat.411 Die Macht der Fiktion – es 407 Zur antithetischen Figurenkonzeption von Tevye, der verkörperten Ruhe (im Sturm) und MenakhemMendl, dem unermüdlichen Hasardeur, den der Wind wie ein Blatt durch die Welt zu jagen scheint, s. Bal-Makhshoves 1953a: 172–190. Zu Sholem-Aleykhem s. Wisse 1979, Roskies 1995: 147–190, Frieden 1995: 95–224 und Miron 2000: 128–334. 408 Vgl. die später entstandene Skizze Erinnerung, die an diesen Anlass erinnert. Sie zeigt einen Juden, der sein Zuhause auf dem Rücken trägt. Manchmal waren die Fristen von Vertreibung und Deportation noch kürzer: Zieliński spricht von drei bis acht Stunden (2008: 105–119). 409 Aberbach analysiert Mendeles Schreiben im Kontext der Pogrome, die 1881–1884 und 1903–1906 stattfinden. Gerade die Pogrome der 1880er Jahre führen einen Paradigmenwechsel in seinem Schaffen von erzieherischen Schriften auf Hebräisch hin zu jiddischer Fiktion herbei (1993: 6). Die jiddische Literatur wird dadurch zu einem wichtigen Faktor für das erwachende ostjüdische ‚Nationalbewusstsein‘. 410 S. Steinberg 1977: 88f., Mendele 21983: 132, Ortag 31997: 61 und Hillel 2002. Unter Salomos Sohn Rehabeam teilt sich Gesamtisrael in die Zehn Stämme des Nordens (Israel) und in Juda (10. Jh. v. Chr.); die Zehn Stämme trennen sich damit vom Könighaus Davids. Jerobeam wird König über alle Nordstämme. 411 Für Mendele, einer Zentralfigur für die Entwicklung der jiddischen und modernen hebräischen Literatursprache, ist neben anderen russischen Autoren Ivan Turgenev besonders wichtig. 1860 erscheint dessen Rede Gamlet i Don Kichote (Hamlet und Don Quijote), in der er u. a. Cervantes’ Schelmen­figur reflektiert (1956 Bd. 11: 168–187).

Marc Chagalls Bilddoppelgänger  | 145 sind dies vor allem jüdische Reiseberichte und Geschichten um Alexander den Großen – bewegt ihn zu seiner Reise nach Erez Israel.412 In Glupsk (ins Deutsche übertragbar als „Dummstadt“) werden Benjamin und sein Gefährte Senderl als „Rote Juden“ gefeiert.413 Grund für die eschatologische Überhöhung der beiden Unglücksraben aus Tuneyadovke, der „Faulenzerstadt“, sind Toltse und Trayne, zwei alte Frauen. Jeden Samstag ziehen sie in Erwartung des Messias oder anderer Erlöserfiguren wie der sechsunddreißig Gerechten vor die Stadt. In Benjamin und Senderl glauben sie fündig zu werden (1928: 80). Statt jedoch jenseits des Sambatyon gemeinsam mit den Roten Juden „in gedule, oysher un koved“ (Ruhm, Reichtum und Ehre; 1928: 11) zu leben, werden die beiden, nachdem sie auf dem Fluss Pyatignilovke (die Fünffäulige) und später dem Dnepr gefahren sind, Opfer eines Soldatennepps.414 Masoes Binyomen ha-shlishi entpuppt sich als Satire auf die „Alija“ (hebr. Aufstieg), das Auswandern nach Palästina. Benjamin, nach dem Jüngsten der Joseph-Brüder benannt, und Senderl, der jüdische ‚Alexander der Große‘ (Senderl ist die jiddische Koseform für Alexander), müssen dem Zaren dienen. Nach einem missglückten Fluchtversuch werden die beiden Käuze, für den zaristischen Militärdienst gänzlich ungeeignet, vom Dienst suspendiert. Sholem-Aleykhem setzt mit seiner zweiteiligen Erzählung Di royte yidlekh. An oysgedakhte zakh (Die roten Juden. Eine erfundene Geschichte, 1900) die motivische Bearbeitung der Legende um die Roten Juden in der jiddischen Literatur fort (1923: 7–67).415 Der extradiegetische IchErzähler stellt in zehn Kapiteln die Roten Juden anhand ihres Aussehens, ihrer Lebensweisen, Straßen und Speisen vor. Er entwirft ein komisches, bisweilen satirisches Bild der legendären Juden, die sich in nichts vom Leben der Ostjuden – und den Schilderungen in Mendeles Kitser masoes Binyomen ha-shlishi – unterscheiden.416 Auch hier dominiert eine komische Diskrepanz zwischen dem Hohen und dem Niedrigen: Der Sabbat bietet Gelegenheit zu Flirts, niveauloses 412 Mendele entwirft Benjamins Reisen als Parodie auf berühmte Namensvettern und deren Unternehmungen: Benjamin der Erste (Benjamin bar Jona von Tudela) ist ein spanischer Jude aus dem 13. Jahrhundert, der über Italien und Byzanz ins Heilige Land gelangt. Mit Benjamin dem Zweiten ist Joseph Israel Benjamin gemeint, der Mitte des 19. Jahrhunderts ausgedehnte Reisen unternimmt (Steinberg 1977: 88). Mendele setzt stilistisch – man denke an die erhabenen, hebräischen Reiseberichten entlehnte Rede in Benjamins Schilderungen (s. hierzu Frieden 1995: 82) – und inhaltlich im Gefolge Gogol’s die groteske Hyperbel als Mittel der Komik ein: Die Reise nach Erez Israel bringt ihn drei Orte weiter nach Glupsk und von da ins Militärgefängnis. 413 vgl. Saltykov-Ščedrins Glupov in Istorija odnogo goroda (Geschichte einer Stadt, 1870). Im Einsatz der Satire besteht zwischen Mendele und Saltykov-Ščedrin eine Affinität (Aberbach 1993: 54, Krutikov 2000: 95–98). Mikhail Krutikov zeigt im Kontext jiddischer und russischer Literarisierungen, wie Mendele mit Glupsk auch die chassidische Hochburg Berditshev persifliert (2000: 91–114). 414 Der Krimkrieg markiert den sozialen Tiefpunkt für die Ostjuden, bevor die großen Pogromwellen über sie hereinbrechen: Laut eines Gesetzes von 1853 dürfen Juden andere Juden außerhalb ihres legalen Aufenthaltsbereich ohne Pass gegen Geld oder als Rekrutenersatz ausliefern (Aberbach 1993: 56). 415 Vgl. auch Meshugoim (Verrückte, 1923: 70–134). 416 Beispiele für Sholem-Aleykhems Sprachkomik sind inadäquate Vergleiche, hypertrophiertes Sprechen, Zitieren der ‚fremden‘ Rede der Roten Juden mit klugen Hebraismen, die sich natürlich auch im Jiddischen finden. Aus dem Text geht zunächst nicht eindeutig hervor, ob der Erzähler tatsächlich die Roten Juden erreicht, deren Dasein dem der Ostjuden zum Verwechseln ähnlich sieht, oder ob er bei den Ostjuden weilt, die sich für Rote Juden halten.

146  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Zeitungswesen nimmt man für hohe Literatur. Auch hier wird der Topos der Roten Juden zur Parodie auf das ostjüdische Exildasein, das von Passivität fördernden Erlösungsvorstellungen und innerjüdischen Querelen bestimmt ist.417 Durch zusammenfassende Untertitel, die im Kern den Inhalt eines Kapitels wiedergeben, stellt Sholem-Aleykhem einen intertextuellen Bezug zur religiösen hebräischen Literatur des 19. Jh., zu Don Quijote und natürlich zu Mendele her.418 Wie Glupsk, Schauplatz mehrerer Romane Mendeles, ist auch die namen­­lose Hauptstadt in Sholem-Aleykhems Di royte yidlekh eine einzige Pfütze (s.  Mendele 2 1983: 87–88). Sholem-Aleykhem schildert die „blote“ (Schlamm) – besonders die „fun der trukener gas“ (aus der trockenen Straße) – mit detailreicher Komik (1923: 14, 19–22). Wie die Ostjuden bei Mendele, die im Reich der Roten Juden ihr Heil sehen, sind Sholem-Aleykhems Juden zu einer Veränderung ihrer Lebensbedingungen nicht imstande. Als ein messianisch anmutender Fremder, einer „fun ayere tsen milyon brider, vos gefinen zikh oyf yener zayt taykh sambatyon“ (von den zehn Millionen Brüdern, die sich auf jener Seite des Flusses Sambatyon befinden; 1923: 25) die bis nach Osteuropa versprengten roten Juden in einer flammenden aufklärerischen Rede davon überzeugen will, nach Erez Israel zu kommen, ist aus dem Stimmengewirr während einer Versammlung mehrfach nur das russische „ne zhelayem“ (wir möchten nicht) herauszuhören (1923: 33). Mehr noch: Der von zionistischen Idealen beseelte Gast wird vom Herbergswirt aufgefordert, das Weite zu suchen, da man ihn als Aufwiegler sozialer Unruhen bei der Obrigkeit angezeigt habe (1923: 40). Viel wird – von den ‚Gelehrten‘ – geredet. Doch ändert sich nichts. Mit der auch metaphorisch zu verstehenden Nacht, die sich über die rote Judenheit (und ihren Verstand) senkt, schließt der Erzähler den ersten Teil (1923: 44). Erst als die Juden brutal mit Pogromen konfrontiert werden, erkennen sie, dass die Chance, aus der Legende um die Roten Juden Wirklichkeit zu machen und nach Erez Israel zu gehen, vertan ist. Der Text kippt hier vom Satirischen in eine metanarrative Reflexion über das zerrissene jüdische Volk. Reiche Juden schieben die dringend benötigte Hilfe für die „kaptsonivkes“ (Bettelstädtchen) auf (1923: 52).419 Statt sich solidarisch zu zeigen, sehen sie die Emigrationswünsche der Armen als Gelegenheit, diese loszuwerden. Zionistische Ideale werden dann von Unterhändlern, die jüdische Auswanderer in ein Betteldasein zwingen, unterwandert. Auch von der Wirklichkeit in Erez Israel gibt es nichts Gutes zu berichten: Nach einer Ellipse in der Narration im vorletzten Kapitel folgt ein Perspektivenwechsel auf die dorthin emigrierten Juden. Der Erzähler zitiert aus einem Brief, in dem von allerlei Unbill berichtet wird. Man solle bloß bleiben, wo man ist, denn: „[...] inem taykh Sambatyen iz geven nishto azoy fil vaser, vifil trern mir un undzere vayber hobn fargosn biz hayntikn

417 Sholem-Aleykhem führt Letzteres anhand der beiden Gazetten „di royz“ (Die Rose) und „di dorn“ (Die Dorne) vor, die sich gegenseitig mit Schmutz bewerfen (1923: 16–18). 418 Zu Mendeles Parodie religiöser Werke, indem er wie diese Überschriften als inhaltliche Zusammenfassungen einsetzt s. Frieden 1995: 81. 419 Sholem-Aleykhem ruft damit die ganze Palette an Bettlerbegriffen auf, mit denen Mendele Fishke der krumer (Fischke der Lahme, 1869) und Kitsoes masoes Binyomen ha-shlishi bestückt (1928: 3f.). Auch in dessen Prolog zu Dos vintshfingerl (Der Zauberring, 1888) kommen Figuren aus Kabtsansk und Tuneyadevke zu Wort (Miron 1973: 130, Frieden 2007: 185).

Marc Chagalls Bilddoppelgänger  | 147 tog“ (im Fluss Sambatyon war nicht so viel Wasser, wie wir und unsere Frauen bis auf den heutigen Tag Tränen vergossen haben; 1923: 65).420 Das Land der Verheißung entpuppt sich als neues babylonisches Exil, als „goles Mitsraim“ (1923: 66). Mendele und Sholem-Aleykhem, der mit einem verzweifelten „oy, brider“ (oh, Brüder; 1923: 60) Mendeles Vorrede zu Binyomens Reiseabenteuern zitiert (vgl. 1928: 5–6), schreiben auf den Höhen der jiddischen Literatur gegen die Schicksalsergebenheit der Juden Osteuropas an. Dass diese, statt gegen ihre Unterdrücker zu revoltieren, untätig auf den Messias warten, ist der Kern ihrer Identität.421 Bei gleichzeitiger Kritik am DiasporaDasein formulieren die beiden Autoren in ihren Texten ihr ambivalentes Verhältnis zum Zionis­mus.422 Mendele ist der satirischere von beiden, Sholem-Aleykhem stärker tragi­ komisch; er schöpft die soziale Funktion des Lachens unter Tränen aus, wie man sie von Gogol’ kennt.423 Zur innerjüdischen Stoßrichtung der beiden jiddischen Texte kommt – verstärkt durch die Wucht der Differenz zwischen der Zeichnung Der Krieg und dem Ölbild Der Jude in Hellrot – Chagalls internationaler Kriegskontext hinzu. Die selbst verschuldete Tatenlosigkeit der Juden wird durch das von außen über sie hereinbrechende Unheil ergänzt. Chagalls roter Jude wird zur Kippfigur zwischen Verheißung und Fluch, zwischen Erwählung und ewigem Exil. Im Juden in Hellrot zirkulieren die Extreme: Die Juden erscheinen als das auserwählte und als das geschlagene Volk zugleich. Die eschatologische Dimension, die Mendele und Sholem-Aleykhem in ihren Texten komisch parodieren, taucht im Zusammenspiel von Farbe und hebräischer Schrift im Ölbild mit großer Ernsthaftigkeit auf. Fast unheimlich ist sie auch dem Gesicht des alten Juden eingeschrieben: Zum Gegensatz zwischen Grün und Weiß, zwischen Leben und Tod, gesellt sich ein offenes und ein geschlossenes Auge. Der alte Jude, mit dem Chagall das Dokumentarische um das Visionäre ergänzt (Haftmann 1988: 72), trägt so den Tod und zugleich dessen Überwindung im Glauben im Gesicht: „tsumakhn (mit) an oyg“ (ein Auge schließen) bedeutet im Jiddischen „sterben“.424 Das andere, geöffnete Auge ist gelb getrübt wie der Hintergrund der Bibelzitate. Der rote Jude, groß wie Jeremias, „hot ayn oyg bay got“ (hat ein Auge bei Gott), d. h. er hat – allen Anlässen 420 Erneut realisiert Sholem-Aleykhem eine Sprachmetapher, vgl. Kap. 5. 421 Aberbach 1993: 61, s. auch Dubnov 1931 Bd. 1: 34f. Dennoch liegt für Mendele die Zukunft der russischen Juden in Russland; die Maskilim sind für ihn in diesem Kontext eine mutige Minderheit von Idealisten: Er glaubt an Aufklärung und Bildung; im Erlernen des Russischen sieht er die Chance zur Integration (Frieden 1995: 5 und 72). 422 Aberbach 1993: 2. Sholem-Aleykhem, ein unermüdlicher Fürsprecher des Jiddischen, setzt sich zugleich für die Ideen des Zionismus ein. Er schreibt zionistische Propagandetexte wie Meshiekhs tsaytn (Die Zeiten des Messias, 1898) oder Oyf vos badarfn yidn a land (Wozu brauchen Juden ihr eigenes Land?, 1898) und nimmt als amerikanischer Delegierter am Achten Zionistenkongress teil (Miron 2008: 1721, http://en.academic.ru/dic.nsf/enwiki/196635; 5.3.2012). Statt nach Palästina wandert er jedoch in die Vereinigten Staaten aus. 423 Vgl. Perets 1947 Bd. 6: 301–304, s. auch Bal-Makhshoves 1953: 173–175. Zu Gogol’s Komik, der Chagall nahesteht, s. Kap. 8.2 und 11. 424 Es kann auch – ähnlich dem Deutschen – „ein Auge zudrücken“ bedeuten im Sinne von „etwas entschuldigen“, „wegschauen“ und „sich unwissend stellen“. Ich danke Yitskhok Niborski für wertvolle Auskünfte, um etwaige jiddische Referenzen dieses eigentümlichen Augenpaares zu entschlüsseln.

148  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild zum Trotz – sein Gottvertrauen nicht verloren. Dieses Gottvertrauen unterscheidet ihn vom allgemeinen apokalyptischen Weltempfinden, das die russische Literatur und Kunst mit der deutschen teilt – man denke an Ludwig Meidners Bilder oder an Gedichte Georg Heyms (s.  Bowlt 2008: 347, Vorndung 1990: 129–144; s. Kap. 9.1). Es verbindet ihn mit den Roten Juden in Sholem-Aleykhems Erzählung (der große Meister lässt das Ende natürlich offen). Auch „[...] zey hobn nisht farlorn zeyer bitokhn, zey hobn gehat a hofenung, az zey veln nokh hern, mirtseshem, fun dortn [Palästina  – S. K.] gute psures mit yeshues venekhomes“ ([...] sie verloren ihr Gottvertrauen nicht, sie hatten eine Hoffnung, dass sie, Gott zum Dank, von dort noch gute Nachrichten voll Erlösung und Trost hören würden; 1923: 66).

8  Pogrome, Pikturales und Poesie

Ruda chmura rozłaziła się na wszystkie strony jak żywa plaga i pluła ogniem. Dym zapadł się nagle i rozpłaszczył. Rozszerzał się na całe niebo. Spadały czarne płaty sadzy, jak małe ptaszki, wystrzelił wysoko słup ognia tryskający iskrami. Pożar wydobywał się na plecach dymu coraz wyżej. – Z takiego pieca trudno się wydostać. Czuć swąd. Pierzyny się palą. Ja to znam z Kiszyniowa...“ Die rötliche Wolke kroch nach allen Seiten auseinander wie eine lebende Plage und spie Feuer. Auf einmal senkte sich der Rauch und verbreitete sich über den ganzen Himmel. Schwarze Rußfetzen schwebten herab wie kleine Vögel, funkensprühend schoss eine Feuersäule in die Höhe. Auf den Schultern des Rauchs klomm der Brand höher und höher. „Aus so einem Ofen ist schwer herauszukommen. Man riecht’s bis hierher. Da brennen Federbetten. Ich kenne das aus Kischinew...“ Julian Stryjkowski, Austeria, 1968, S. 208 (ÜS: Janus von Pilecki).

Das ursprünglich russische „pogrom“ hat als Lehnwort einen wenig löblichen Siegeszug in viele europäische Sprachen angetreten. Etymologisch hängt es mit „grom“ (Donner) zusammen.425 Neben den tosenden Übergriffen, während derer zertrümmert und demoliert wurde – all dies Bedeutungsnuancen von „(po)gromit’“ –, hat sich das stille Herumwirbeln von Daunen ins kollektive Gedächtnis der Ostjuden eingeprägt. Auch in Sholem-Aleykhems Di royte yidlekh (Die roten Juden, 1910) klagt eine junge Frau, die im Dreck zwischen Kleidern, Scherben und Feder nach ihrem Festtagskleid sucht: „di kishns tserisn, dos gefes tsebrokhn, afile dos shtsherbate yoykh-tepl, meshtayns gezogt, oyf pits-pitslekh ...“ (die Kissen sind zerrissen, das Gefäß zerbrochen, sogar die schrammige Suppenterrine ist, oh weh, in Stücke ...; 1923: 50). Pogromerfahrungen sind im ostjüdischen Bewusstsein so präsent, dass sie sich wie ein roter (Blut-)Faden durch die jiddische, aber auch durch die russische (Korolenko, Babel’) und polnische Literatur (Stryjkowski) nicht nur jüdischer Provenienz ziehen.426 Kein Wunder: Zwischen 1870 und 1921 fegen immer wieder Pogromwellen über den ehemaligen russischen Ansiedlungsrayon hinweg, in dem über 90 Prozent der jüdischen Minderheit angesiedelt sind (s.  v. a. Dubnov 1928 Bd. 10 und Budnickij 2005). Besonders hart trifft es die junge Ukraine, die im Juni 1917 ihre Unabhängigkeit erklärt.427 Kiev wechselt mehrmals den Besatzer. Die Ukraine und ihre Hauptstadt werden vom russischen Bürgerkrieg, den Autonomiebestrebungen und dem russisch-polnischen

425 S. hierzu die Einträge bei Dal’ (41914: 403f.), Volin/Ušakov (1939: 352) und Ožegov (1991: 528). 426 Zu jiddischen Pogromtexten s. Roskies 1985: 53–195. Zu Sholem-Aleykhems Di royte yidlekh s. Kap. 7. 427 Einen Überblick über die turbulenten Ereignisse und zahlreichen Machtwechsel in der jungen Ukraine vermitteln Kappeler (1994: 167–186) und Boeckh/Völkl (2007: 50–71).

150  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Krieg 1920 geschüttelt.428 Die ostjüdische Kulturrenaissance, die mit der Gründung der Kiever Kultur-Lige im Januar 1918 eine Wegmarke setzt, blickt auf Trümmer und Ruinen, auf Zeugnisse brudermörderischer Barbarei. Die Kultur-Lige, deren Moskauer Dependance kurzzeitig auch Marc Chagall angehört, ist eine beeindruckende Manifestation der jüdischen Emanzipation im jungen Sowjetrussland. Im Januar 1918 gegründet, versteht sie sich als Sprachrohr einer modernen, säkularen jüdisch-jiddischen Kultur. Die jiddische Literatur wird neben der bildenden Kunst und einem umfassenden Bildungsprogramm einer ihrer Hauptpfeiler. Mit Dovid Hofshteyn (1889–1952), Leyb Kvitko (1890–1952) und Perets Markish (1895–1952) steht ihr ein Poetendreigestirn vor, das mit seiner innovativen und expressiven Lyrik die Euphorie der Revolution mit der jüdischen Tradition zu verbinden sucht (s. Jendrusch 2002: 7f.).429 Ihrem Postulat, als höchsten Ausdruck jüdischer Emanzipation Weltkultur zu schaffen – dies übrigens das Leitmotiv Osip Mandel’štams, der im selben Jahr wie Hofshteyn seine Tristia herausbringt –, wird Hohn gespottet: Während die Lige eine beeindruckende Kulturtätigkeit in Verlagswesen, Kunst- und Literaturschaffen sowie in der Volkserziehung ankurbelt, wüten antisemitische Todesschwadronen.430 Zwischen 1918 und 1920 finden dort in annähernd 1300 Ortschaften mehr als 1500 Pogrome statt. Unterschiedlichen Schätzungen zufolge werden zwischen 50 000 und 200 000 Juden ermordet oder erliegen ihren Verletzungen. Zirka 200 000 Juden werden verletzt oder zu Krüppeln. Frauen werden zu Tausenden vergewaltigt, die Zahl der Waisenkinder geht in die Hundertausende (Budnickij 2005: 275f.). Chagall, der im Herzen immer ein Kind geblieben ist, gibt in Malachovka 1921–1922 solchen Kriegswaisen Zeichenunterricht. Über sie schreibt er in Ma vie (in die jiddische Erstversion geht diese Erfahrung nicht ein): Ces enfants étaient les plus malheureux des orphelins. Tous, ils venaient d’être précipités à la rue, frappés du fouet des bandits, terrifiés par l’éclair du poignard qui avait égorgé leurs parents. Assourdis du sifflement des balles et du fracas des vitres cassées, ils entendaient encore tinter à leurs oreilles les suprêmes prières de leurs père et mère. Ils avaient vu comment on arrachait sauvagement la barbe du père, comment on éventrait leurs sœurs, violées en hate. [...] J’enseignai l’art à ces petits malheureux. Pieds nus, vêtus légèrement, ils criaient plus fort l’un que l’autre et de tous côtés retentissait: ‚Camarade Chagall! ...‘ Seuls leurs yeux ne voulaient ou ne pouvaient pas sourire. (1931: 245–246, s. auch Kap. 3) 428 Isaak Babel’ setzt diesem Krieg in Konarmija (Die Reiterarmee) ein unvergessliches Denkmal. Il’ja Ėrenburg, der vom Herbst 1918 bis November 1919 in Kiev lebt, beschreibt in seiner Autobiographie von 1966 eindrücklich diese Zeit der Wirren (1990 Bd. 1: 281–297). 429 Perets Markish wird in der Regel in einem Atemzug mit den beiden anderen Kiever Dichtern Hofshteyn und Kvitko genannt. Allerdings ist er nur bedingt Kiev als Kulturzentrum zuzuschlagen, da er verstärkt in Ekaterinoslav wirkt (Estraikh 2005: 34). 430 Zu Kiev als ostjüdischer und besonders jiddischer Kulturmetropole s. Kazovsky 2003, 2007: 24–37, Estraikh 2005: 6–36 und 2010: 197–217, Hülsen-Esch/Aptroot 2008: 19–29 sowie Krutikov 2010: 109–120.

Pogrome, Pikturales und Poesie  | 151 In wenigen Worten fängt Chagall das Grauen von Krieg und Pogromen ein. Literarisch skizziert er eine Topographie des Terrors, die sich realiter über den Ansiedlungsrayon erstreckt – und die er bildkünstlerisch ausspart. Wie mit der Gewalt umgehen, die mit beängstigender Regelmäßigkeit über die Ostjuden hereinbricht, wie mit Entwurzelung, Verlust von Hab und Gut, Verletzung und Vernichtung? Aus der rechtlichen und faktischen Ohnmacht heraus kompensieren die Ostjuden leidvolle Pogromerfahrungen kulturell: In Bildern wird gespeichert, wovor man aus Scham vor der Bestie Mensch die Augen verschließen möchte. Lieder, Legenden und Literatur erzählen von Grausamkeiten, für die man eigentlich keine Worte findet.431 Das reale Zerstörungswerk des zaristischen Ungeheuers wird zum Motor einer sich kulturell-ästhetisch affirmierenden Minderheit. Die Gewaltausbrüche während der Pogrome werden zur poetischen und ikonographischen Herausforderung. Zum ersten Mal in der Geschichte des modernen Judentums dringen die säkularen Belange in die visuelle Imagination ein und machen den – auch in der bildkünstlerischen Darstellung – dominanten religiösen Traditionen den Rang streitig (Cohen 1998: 221). Viele ostjüdische Künstler um die Jahrhundertwende begegnen der fin-de-siècleStimmung mit Motiven, Mythen und Symbolen, die traditionelle jüdische (Heils-)Konzepte und Perspektiven reorganisieren (Cohen 1998: 222). Der polnische Jude Samuel Hirszenberg (1865–1908), wie sein Kollege Maurycy Gottlieb (1856–1879) Schüler des polnischen Historienmalers Jan Matejko (1838–1893), hypostasiert die jüdische Vergangenheit und Gegenwart im gewaltvollen Konflikt mit dem Christentum: Hirszenbergs Wandernder Jude zeigt die Figur des Ewigen Juden in Todesangst auf der Flucht vor Toten und Kreuzen.432 Nach Gottliebs Selbst-Porträt Ahasuerus (1876) ist dies die zweite Deutung der (christlich geprägten) Figur unter jüdischen Künstlern im 19. Jh. (Cohen 1998: 225f.).433 Hirszenbergs Exil von 1904 stellt die Fortsetzung des wandernden Juden dar (Cohen 1998: 230; Tumarkin 2001: 174, Abb. 32). Das realistische Gruppenbild zeigt unzählige jüdische Frauen, Kinder und Männer auf der Flucht.434 Hab und Gut mussten sie zurücklassen; einzig „taleysim“ (jidd. für Gebetsschals), Torarolle und einen Teekessel führen sie mit sich. Als moderne Vergegenwärtigung des Goles (die Juden wandern im Bild nach links, also nach Westen) wird es zum Kultbild zahlreicher Juden, deren Nationalbewusstsein erwacht ist. Hirszenbergs 431 In Ost und West findet sich ein jiddisches Volkslied mit dem Titel Nach dem Pogrom aus der Sammlung von Leo Winz (1914 H. 9–12: 665; der Titel ist nur in deutscher Übersetzung angegeben). Shimen Frugs Gedicht Hot rakhmones (Habt Erbarmen!) bringt in Vertonung während des Ersten Weltkrieges, der Pogrome von 1919 und in einem Hilfsappell für das Lubliner Ghetto während der Nazi-Diktatur 1942 jüdisches Leid zum Ausdruck (Roskies 1984: 83). 432 Hirszenberg studiert Kunst in Warschau und Krakau. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in München kehrt er 1891 nach Polen zurück und arbeitet die nächsten Jahre in Łódź (Cohen 1998: 224). 1907 emigriert er nach Palästina und unterrichtet an der neu gegründeten Bezalel-Kunstakademie in Jerusalem. Zu Hirszenberg s. Cohen 1998: 223–236, Tumarkin 2001: 174 und Michalak 2004: 52–56. Zu Gottlieb s. Mendelsohn 2002. 433 Hirszenberg gestaltet das Gemälde in Kenntnis von Gustave Dorés Holzschnitt Der ewige Jude (1852); 1901 fertigt der gebürtige Lemberger Alfred Nossig eine Skulptur des ewigen Juden an (Cohen 1998: 227). 434 Als literarisches Pendant hierzu lassen sich die jüdischen Flüchtlinge aus Stryjkowskis Austeria nennen, die in Tags Schenke vor den Kosaken Zuflucht nehmen.

152  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild realistische Ikone der Vertreibung hängt, so An-Ski in seinen Zikhroynes (Erinnerungen, 1928), in zahlreichen ostjüdischen Haushalten und kursiert als Postkarte. Einst mussten die Juden ins Exil, weil sie den Bund mit Gott gebrochen hatten; diese Juden nun sind auf dem Goles-Marsch, weil sie ihn gerade nicht gebrochen haben, so An-Skis bittere Erkenntnis (zit. nach Roskies 1984: 276–280). Exil wird rezipiert als Apotheose der conditio judaica, des Diaspora-Daseins, und deren tiefer Tragik (Cohen 1998: 231).435 Jakob Weinles (1870–1938), ein weiterer polnischjüdischer Maler, nimmt in Juden auf der Flucht vor einem Pogrom (ca. 1914) auf das Bild Bezug. In den folgenden Jahren, „[...] as the suffering of Jews magnified, Marc Chagall, Ben Shahn, William Gropper, and Nathan Rapoport returned to the theme of Jews’ escaping and wandering, adopting the pattern set by Hirszenberg’s painting.“ (Cohen 1998: 233–234) In der Tat findet die Massendarstellung, die Chagall fremd ist, in den Portraits des Vitebsker Künstlers eine Parallele: Hirszenbergs vertriebene Massen und Chagalls zum Symbol erhobene Juden auf der Rast rufen den Archetypus des Ahasver auf.436 Chagalls Hypostase des Ewigen Juden mit Schirmmütze und „torbe“, dem Bündel, wird bis in seine SchoaRepräsentationen hinein zum Inbegriff des zum Herumirren verdammten und verfolgten Ostjuden (s. Kap. 7 und 14).437 Mit den bildkünstlerischen Bewältigungsversuchen der Pogrome von Leon Pilichowski (1867/69–1931), Maurycy Minkowski (1881–1930), Moyshe (Moses) Maimon (1860–1924), Boris Pasternaks Vater Leonid (1862–1945) und nicht zuletzt Jurij Pen verschiebt sich das Augenmerk von der entwurzelten jüdischen Masse hin zum individuellen Schicksal einzelner Familien.438 Beeinflusst vom polnischen Realismus, von den russischen Wandermalern und der

435 Vgl. die Augustausgabe von Ost und West von 1904 (Heft 8); das Gemälde wird hier in unmittelbarem Zusammenhang mit Herzls Tod rezipiert. 436 In einer frühen Erzählung des hebräischen Autors Joseph Chaim Brenner von 1905 zerreißt der Protagonist dieses Bild in Stücke (Cohen 1998: 233). Von Hirszenberg stammt ein weiteres berühmtes Massenbild, Das schwarze Banner (1905), das manchmal auch mit dem Zusatz Die Beerdigung des Rabbi versehen wird (s. Kampf 1990: 11, Cohen 1998: 234f.). Das beklemmende Bild – im Querformat wie Holbeins Der tote Christus im Grabe (1521/22), der bei Dostoevskij fast einen epileptischen Anfall hervorruft (Dostoevskaja 1971: 165) – zeigt eine Prozession schwarz gekleideter Juden verschiedenen Alters. Sie begleiten einen schwarzen Sarg – vielleicht ein Pogromopfer? –, auf dem ein aufgeschlagenes Buch liegt; Hände recken sich dem Sarg entgegen, Gesichter sind mit angstgeweiteten Augen dem Betrachter zugewandt. Laut Norman Kleeblatt, Kurator am Jüdischen Museum in New York, entlarvt das titelgebende, über den Sarg gebreitete Banner die „Schwarzen Hundertschaften“ (černye sotni), die für zahlreiche Pogrome 1905 und 1906 verantwortlich zu machen sind. Deren Publikationsorgan ist Russkoe znamja (Das russische Banner); das Geld, das ihnen von der Regierung für ihre Gewaltakte ausbezahlt wurde, nannte man „Schwarzes Geld“ (Cohen 1998: 234). Der Titel des Gemäldes spielt auf beides an. Das Bild bezeugt den Tod eines Juden; mit dem auf den Sarg gelegten Buch symbolisiert es denjenigen der Buchreligion und des Judentums schlechthin. 437 Das jüdische Volkslied Dos pekele (Das Bündel) widmet sich diesem symbolträchtigen Begleitstück der Juden (Abdruck in Ost und West 1907 H. 8–9: 563–564). Auch Benjamin und Senderl in Mendeles Masoes Binyomen ha-shlishi schnüren vor Reiseantritt ihr Bündel (1928: 34). 438 Zu Pilichowski, Minkowski und Leonid Pasternak s. Cohen 1998: 236–238, 251–255 und Michalak 2004: 56–58.

Pogrome, Pikturales und Poesie  | 153 jüdischen realistischen Tradition Jozef Israëls dominiert die soziale Dimension (vgl. Cohen 1998: 238). Das Bild fungiert (noch) als inhaltsorientiertes Dokument der pogromgeprägten Wirklichkeit. Eine martyrologische Betrachtung überwiegt (s. Cohen 1998: 235). In der Pogromliteratur findet sie ihr Pendant in Texten, die Hiob folgend die Theodizee aufwerfen und Christi Martyrium auf das jüdische Schicksal zurückprojizieren.439 (Diese interreligiöse Auseinandersetzung mit Gewalt wird Chagall in seiner Weißen Kreuzigung von 1938 aufgreifen; auch hier zeigt sich seine Nähe zur jiddischen Literatur.) Der mimetischrealistische Opferdiskurs des leidenden Juden in der Kunst bringt durchweg die jüdische Passivität und Gewaltlosigkeit zum Ausdruck. Noch sind die Künstler ohne adäquate ästhetische Antwort auf die rasanten politischen und ideologischen Entwicklungen, mit denen man auf Pogrome und Vernichtung zu reagieren versucht: [...] only few glimpses could be seen of an emerging new image of the Jew; neither Hirszenberg nor Pilichowski, neither Minkowski nor Pasternak integrated the new Jew who organized and resisted the pogroms or the Zionist who sought to bring a solution to the suffering and passive responses to victimization. Jewry was at a crossroads, and these artists were too overcome by the tragedy to see a world beyond or to reflect one that was being overhauled. However, their social comment set the stage for a new voice on the Jewish political horizon – where Jewish artists were to become important interpreters of contemporary Jewish life. (Cohen 1998: 254f.)

Vielleicht kann Chagall wesentlich zur Ikonographie der Kulturrenaissance beitragen, weil er kein unmittelbarer Zeuge der Pogromtragödien war, die vor dem Ersten Weltkrieg die Ostjuden erschüttern. Möglicherweise kann sein  – ästhetisch ebenbürtiger, im kulturellen Gedächtnis jedoch fast vergessener – Künstlerkollege Yisokher Ber Ribak die „Ikonographie des Pogroms“ (Sed Rajna 1997: 330) gerade deshalb revolutionieren, weil er Augenzeuge ist. Ribak muss zusehen, wie sein Vater im Jahre 1919 einem Pogrom im ukrainischen Elizavetgrad zum Opfer fällt.440 Auf Chagalls heiter-humorvoller Autobiographie liegt wie ein Schatten der russische Antisemitismus. Immer wieder bricht er in die Erfolgsgeschichte des arrivierten jüdischrussischen Künstlers ein, leise skizziert wie manche Zeichnung und gerade deshalb so 439 S. Roskies 1984: 258–310 und Hoffman 2007. Die bekanntesten Beispiele stellen Uri Tsvi Grinbergs in Kreuzform gedrucktes expressionistisches Poem Uri Tsvi farn tseylem (Uri Tsvi vor dem Kreuz, 1922) und die in der jiddischen Leserschaft nicht unumstrittenen christologischen Romane Sholem Ashs dar (Harshav 2004: 339, zu Ash s. Sitarz 2007: 8–18). 440 Zeit seines Lebens empfindet er seinem Vater gegenüber, zu dem er ein schwieriges Verhältnis hatte, eine tiefe Schuld (Ribak 1937: 9; s. Kap. 9.1). Ein weiteres wichtiges avantgardistisches Referenzbild ist Die Zerstörung des Ghettos von Abraham Manievič (1881–1941), entstanden während des Bürgerkriegsjahres 1919 in der Ukraine (Abb. in: Tumarkin 2001: Tafel 10). „The painting, fully informed with the principles of modern design, is composed in colours of grey and black, lit with spots of red. It is a hommage to the ghetto. The buildings are still intact, crowding around the double-roofed synagogue in the centre. But the ghetto is empty. What was once a lively habitat is still. Only a lonely black goat, an animal cultivated by many of its former inhabitants, stands on the lower right corner.“ (Kampf 1990: 84)

154  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild bedrohlich.441 Chagalls bildkünstlerisches Oeuvre ist rar an Pogromdarstellungen. Der Topos des vertriebenen Juden hingegen taucht – als Reaktion auf reale Pogromflüchtlinge – bereits 1909 in der Skizze Auf der Flucht auf (Meyer 21968: Kat. 33; vgl. auch Abb. 35). Unter den acht Zeichnungen im elften Jahrgang von Der Sturm (1920) – es sind dies teils realistische, teils ins Karikaturale gezogene Stationen seines Vitebsker Lebens – findet sich eine fast unheimliche Skizze, die sich mit den Folgen antijüdischer Ausschreitungen in Verbindung bringen lässt.442 Umrisse eines Hauses sind zu sehen, daneben Bäume mit unnatürlich langen Stämmen, auf die einige Menschen Zuflucht gesucht haben. In diesem eigentümlichen Nebeneinander von Stadt und Wald zeigt Chagall im Bildzentrum einen Gehenkten und einen Mann, der einem Toten ein Grab schaufelt. Der Mann am Galgen ruft Darstellungen der Geschichte um Ester und deren Rettung der Juden auf, die zu Purim verlesen wird: Illustrierte Esterrollen (Megillat Ester) zeigen die zehn gehenkten Söhne des prototypischen Judenfeindes unter Xerxes (hebr. Achaschverosch), Haman, den das gleiche Schicksal ereilt.443 Die Figuren sind bar jeglicher Individualität, wirken schematisch, puppenhaft. Das Bildthema bildet wegen des beängstigend schemenhaften Zeichenduktus’ eine seltsame Ausnahme in Chagalls frühem Oeuvre. In Chagalls bildkünstlerischer Auseinandersetzung mit Vertreibung und Gewalt dominiert das Universale (1. Weltkrieg) das Partikulare (Pogrome gegen Juden). Den Sprung in die ästhetische Radikalität bei der Darstellung von Pogromen macht Chagall mit Hilfe (und mit den Mitteln) der Literatur: 1922 erscheint Dovid Hofshteyns Gedichtzyklus Troyer (Trauer), illustriert von Marc Chagall.444 Der Text und die Bilder hierzu erschließen sich jedoch erst umfassend im Kontext der Pogromliteratur und -kunst.

441 S. Chagall 1931: 127, 141 und 223f. Laut seiner Autobiographie wäre Chagall beinahe selbst in Leningrad einem Pogrom zum Opfer gefallen (1931: 192f.). Zum Antijudaismus in Russland s. Szyjkowski 1980 (2 Bde.). 442 Die Zeichnungen zeigen Chagalls Eltern, eine Geburt, eine Straße und eine Mikve. Weitere ChagallAbbildungen finden sich in den Heften Eins bis Fünf des Folgejahrgangs 1920. 443 Vgl. die Abbildungen einer niederländischen Rolle aus dem 18. Jh. (de Vries 102006: o. S.) oder aus dem persischen Ardaschir-Buch (Gutman 1978: 47). 444 Nach dem Ableben Lyesins (Pseudonym für Avrom Valt; 1888–1938) fertigt Chagall für eine postume Edition zum Gedicht Nokh a bletl, mayn folk ... (Noch ein Blatt, mein Volk; 1938: 15) von 1894 eine Pogromzeichnung an (mit Variante in Chagall 1985: 179). Das Gedicht ist Teil des zwischen 1894 und 1919 verfassten Zyklus In angst fun di tsaytn (In Angst vor den Zeiten, 1938: 7–32). Die Illustration konkretisiert das Gewaltgeschehen, das im Gedicht als eines unter vielen ins „lebns-bukh“ (Lebensbuch) eingetragen ist. Chagall zeigt Pogromisten, die mit Äxten das Leben von Ostjuden bedrohen. Einer der Aggressoren tritt einen Juden mit Kippa, der verzweifelt eine Torarolle zu schützen versucht. Der Text nimmt den grenzenlosen Zorn vorweg, der später bei Bialik offen ausbrechen wird: „ikh hob rakhe gedorsht azoy glutik / un zikh shtiln gemuzt mit a trer“ (ich dürstete so glühend nach Rache / und musste sie mit einer Träne stillen; 1938: 15).

8.1 Chaim Bialiks In shkhite-shtot (In der Stadt des Schlachtens, 1904/22) und Perets Markishs Di kupe (Der Haufen, 1921/22) – von einem Gott, der zum Zorn aufrief und verlassen wurde Während der Osterfeierlichkeiten vom sechsten auf den siebten April 1903 – das Fest der Auferstehung Christi ist häufig Anlass, die vermeintlichen ‚Christusmörder‘ zu prügeln – werden im ehemals russischen Kišinëv (heute Hauptstadt Moldawiens) 49 Juden getötet und annähernd 600 Personen verletzt (Moskovich 2008: 900–902). Die Raserei der Pogromisten bringt das Fass der fast grenzenlosen ostjüdischen Geduld zum Überlaufen: Am 20. April 1903 erscheint in Odessa eine hebräisch verfasste Proklamation (Roskies 1984: 323). Verabschiedet und unterzeichnet wird sie von herausragenden Vertretern der jüdischen Intelligenz unterschiedlicher ideologischer Couleur: Außer den (Kultur-)Zionisten Ahad Ha-Am, Ben-Ami und Yehoshua Ravnitski (1859–1944) setzen Bundisten ihre Namen darunter; der Historiker und Geschichtsphilosoph Simon (jidd.: Shimen) Dubnov, der sich mit Feuereifer für die kulturelle Autonomie der osteuropäischen Juden einsetzt, signiert ebenso wie der spätere hebräische Nationaldichter Chaim Nachman Bialik (1873–1934). Neben einem geplanten, geheimen Informationsbüro, das alle nur greifbaren Dokumente über mögliche Übergriffe sammeln und verbreiten sollte, rufen sie – Leo Pinskers Autoemanzipation im radikalen Sinne fortsetzend – zur Selbstverteidigung auf: In allen von Pogromen bedrohten Gemeinden sollen die Juden eine bewaffnete Selbstwehr organisieren (s. Roskies 1984: 84–86, Cohen 1998: 235f.).445 Erinnert man sich der Rede des Nobelpreisträgers Isaac Bashevis Singers, das Jiddische sei eine Sprache, die keine Worte für Waffen habe (1977: 14), begreift man die Drastik des jüdischen Gesinnungswandels.446 Diesem intellektuellen Akt der Selbstaffirmation folgt ein für die hebräische und jiddische (Pogrom)lyrik folgenschwerer Gang an die Stätte des Grauens: Chaim Nachman Bialik begibt sich nach Kišinëv.447 Die Spuren der Verwüstung verwandelt er in ein Sprachdenkmal, 445 Der Eintrag zu „pogrom“ in der russischen Evrejskaja Ėnciklopedija (Jüdische Enzyklopädie) nennt als Beispiele ostjüdischer Selbstwehr Verteidigungsmaßnahmen im heute weißrussischen Gomel während eines Pogroms vom 29. August bis 1. September 1903 und – nach der Revolution von 1905 – in Melitopol im April 1905. Hier unterstützen Russen ihre jüdischen Mitbürger. Ebenfalls im April 1905 kann die jüdische Selbstverteidigung im Verein mit zaristischen Truppen in Simferopol ein Pogrom verhindern (http://www.eleven.co.il/article/13251/; 5.3.2012; REĖ 2007 Bd. 6: 562–576). 446 Aus der russischen Intelligenz verurteilen Lev Tolstoj, Maksim Gor’kij und Vladimir Korolenko das Kišinëver Pogrom aufs Schärfste. Zur Unterstützung der Pogromopfer veröffentlich Sholem-Aleykhem 1904 den Almanach Hilf (Hilfe), zu dem neben hebräischen und jiddischen Autoren auch Korolenko und Tolstoj beitragen (Roskies 1984: 77, 165f. und Zeira 1996: 110–114). In Deutschland dokumentiert der Übersetzer Berthold Feiwel 1903 unter dem Pseudonym Told das Pogrom in einer ausführlichen Publikation (s.  Cohen 1998: 231). Feiwel beschreibt minutiös genau die Vorbereitung und Durchführung des Massakers, den sozialen, geistlichen und politischen Kontext, so beispielsweise das antijüdische Verhalten der Obrigkeit, aber auch jüdische Verteidigungsmaßnahmen sowie die Reaktionen in Zarenreich und Ausland (Told 1903; s. Kap. 8.4). 447 „Bialik [...] mustered greater authority than any modern Jewish poet before or since, by virtue of having been in Kishinev himself and of having reported the event in both Hebrew and Yiddish with a voice that resonated with biblical echoes.“ (Roskies 1984: 91). Zum intertextuellen Nachklang Bialiks im Schaffen Paul Celans s. Wolfram 2006.

156  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild „oral history“  – Bialik spricht mit Überlebenden  – in Poesie.448 Unter dem Pseudonym Moshe Nemirov veröffentlicht Bialik 1904 im Journal Ha-zeman (Die Zeit) das Poem zunächst hebräisch als Be-ir ha-haregah (In der Stadt des Schlachtens), bevor es dann in Eigenübersetzung auf Jiddisch als In shkhite-shtot erscheint (Ravnitski in Bialik 1922: 3).449 Das literarische Produkt ist alles andere als bloßes Dokument. Bialik verankert zwar durch den Titel die Kommunikationssituation des Poems am konkreten Ort, doch dient das physische Erleben von Zerstörung und Vernichtung als Sprungbrett zu metaphysischen Erklärungsversuchen. Gott, der sich sonst erbarmt, bittet sein Volk zu ergrimmen. Auge in Auge mit Kišinëv bleibt nur das „Auge um Auge, Zahn um Zahn“. Der Gott der Liebe, der sein eigenes Volk angesichts der Massaker nur noch zum Hass aufrufen kann (1922: 21), ist in der Krise. Der Text verkündet statt der Allmacht die Ohnmacht Gottes. Die erschütternde Erkenntnis von Gottes Schwäche und Scham enthüllt sich in einer das gesamte Poem über konstanten Dialogsituation: Ein anonymes lyrisches Ich, das die Intimität der Gattung nicht zur Innenschau nützt, wendet sich leitmotivisch an sein Gegenüber, an den „mentsh“ (1922: 7, 23), den er auch „ben-odem“ (Sohn Adams; 1922: 13, 18, 19, 20, 21) nennt. Wer spricht da? Die Ambivalenz der lyrischen Stimme lässt sich nicht komplett ausdeuten. Und doch: Es spricht der Schöpfer zu seinem Ebenbild, dem er – von Kišinëv erschüttert – nicht mehr das Wasser reichen kann. Gott selbst bittet seine Schöpfung um Vergebung: „ikh bin aher gekumen, toyte beyner, / bay aykh mekhile betn: zayt mir moykhl! (Ich bin hierhergekommen, tote Gebeine, / um euch um Vergebung zu bitten: verzeiht mir!; 1922: 17).450 Die Gesprächssituation konterkariert den Dialog zwischen dem allmächtigen Gott und dem Menschen aus der Tora.

448 Dies Moment der Zeugenschaft, das für die Literatur der Schoa so wichtig werden wird (vgl. Agamben 2003 und Kap. 14), verbindet Bialik beispielsweise mit Chagall, der den Vertreibungen 1914 zusehen muss, vor allem jedoch mit Ribak und Leyb Kvitko, die beide Zeugen brutalen Pogromgeschehens werden. 449 Die folgenden Zitate stammen aus dem 1922 im jüdischen Klal-Verlag in Berlin erschienenen Nachdruck von Bialiks Fun tsar un tsorn (Von Trauer und Zorn). Die Ausgabe vereint nach einem Vorwort Ravnitskis, der mit Bialik die anlässlich des Pogroms von Kišinëv verabschiedete Proklamation unterzeichnet, zwei Poeme: In shkhite-shtot (In der Stadt des Schlachtens; 1922: 7–23) und Dos letste vort (neviish) (Das letzte Wort [prophetisch]; 1922: 24–32). Die exakte Übersetzung des jiddischen Titels lautet In der Stadt des Schächtens. Bialik verwendet in seiner Autoübersetzung das Substantiv „shkhite“, obgleich es im Jiddischen das hebräischstammige „hargenen“ (töten, umbringen) gibt. Er nimmt hier eine Bedeutungsverschiebung in den religiösen Kontext hinein vor. Der Titel des Poems birgt so in nuce die Zentralspannung des Gedichts zwischen Tod und Glauben. Die hebräische Fassung mit englischer Übersetzung von A. M. Klein ist in Prooftexts 25 (1/2) abgedruckt (2005: 8–29). Vladimir (Zeev) Jabotinskij übersetzt, die nihilistische Position Bialiks glättend, das Poem ins Russische und verhilft ihm so zu einer intensiven Rezeption (Miron 2010: 90). Zum Poem, in dem das sonst dominante jüdische Kollektiv keine Stimme erhält und diese an eine gleichsam zwischen Gott und Prophet gespaltene lyrische Instanz abgibt, s. ders.: 88–94. 450 Dasselbe Anliegen frommer Juden, die sich in der Synagoge an ihn wenden, kann er nach der Erschütterung durch Kišinëv nicht ertragen: „Tsi zindikt den a shotn oyf di vent [...]? (Sündigt denn ein Schatten an den Wänden [...]?; 1922: 20).

Chaim Bialik und Perets Markish  | 157 Nicht ein einziges Mal antwortet der Mensch. Doch folgt er getreulich den Befehlen des lyrischen (göttlichen) Ich: Er geht überall dorthin, wohin dieses seine Schritte lenkt. Zwischen Trümmern (1922: 7 und 8) irrt er herum, zwischen Bergen Hab und Gut (1922: 8 und 9). Das lyrische Du – alter ego des realen Autors – gelangt von der Straße auf einen Dachboden (1922: 8–10). Die nächste Station der Zeugenschaft ist ein Keller, in dem jüdische Frauen vergewaltigt wurden, während jüdische Männer tatenlos zusahen (1922: 12–13).451 Es folgt der Gang ins Tal zu einem Stall: An zerbrochenen Wagenrädern klebt Blut und Hirn (1922: 14); hier trauert die Schechina, Gottes Glorie (1922: 16). Weiter geht es zum Friedhof (1922: 17), auf dem Gottes Resignation sich Bahn bricht: Mit einem Gott, der sich selbst die Frage nach dem „Warum“ des Wütens stellt, hat sich die Theodizee ad absurdum geführt.452 Ein Gott, der Nacht für Nacht mit seinem weiblichen Gegenpart, der Schechina, auf dem Friedhof für die Toten beten will (1922: 18), hat aufgegeben. An diesem Tiefpunkt menschlicher Hoffnung schickt das lyrische Ich das „Du“ zurück (in die Welt?): Viel „tsar“ (Leid) hat dieses Du im Gepäck, aber auch viel „tsorn“ (Zorn). Gott will kein Wehklagen mehr, er will die eigene Entthronung. Er wartet auf die große Wut, die das Unglück aller Generationen rächen wird, „un aynleygn di velt, tseraysn himlen, / mayn shtul, mayn kise-hakoved, iberkern!“ (und die Welt zum Einsturz bringen, Himmel zerreißen, / und meinen Stuhl stürzen wird, meinen Gottesthron!; 1922: 20). Bialik führt in In shkhite-shtot die Folgen antijüdischen Terrors drastisch vor Augen. Was folgt, nachdem das gesamte Ausmaß der Vernichtung durchmessen ist? Die überlebenden „mentshn-verim“ (Menschenwürmer; 1922: 21) werden mit ihrem Leid hausieren gehen. Das Du, das tapfer alle Etappen des Grauens ertragen hat, wird ganz wörtlich in die Wüste geschickt. Sein Herz, das es eingangs im Poem aus Eisen schmiedet  – es bildet wie die zweimalige Anrede „du mentsh“ (du Mensch) den Rahmen des Poems –, wird es im Wahn herausreißen. Sein Wehklagen wird in der Wüste vom Sturm verschlungen (1922: 23). Man fragt sich, welcher Schrei schwerer zu ertragen ist: der stumme Schrei auf Edvard Munchs weltberühmtem Bild von 1893  – laut Hilde Zaloscer das Signum einer ganzen Epoche (s. Corbineau-Hoffmann 2000: 215) – oder derjenige von Bialik, vom Sturmwind übertönt, der einst, als Elias am Horeb war, „Berge spellend, Felsen malmend“ tobt, doch in dem Gott nicht ist (1 Kön 19; Ü: Buber/Rosenzweig). „Komm und sieh!“ (hebr.: tse’enah u-re’enah) – das gesamte, stark appellative Gedicht paraphrasiert diesen biblischen Imperativ aus dem Hohelied (3, 11).453 Die das Poem organisierenden Aufrufe eines verlassenen Gottes sind Teil eines konsequenten ästhetischen Programms. Bialik lässt einen Gott sprechen, der moralisch am Boden, dichterisch jedoch im 451 Hier bricht sich Bialiks Wut angesichts der realen jüdischen Passivität während der Pogrome Bahn. Statt die eigenen Frauen zu schützen, gehen die Juden nach den Übergriffen in die Synagoge, um den „goyml“Segen zu erbitten. Die Juden rezitieren „goyml“, wenn sie einer großen Gefahr entkommen sind (Niborski 1999: 53). Bialik attackiert hier die Praxis jüdischer Frommer, die Verantwortung an Gott abzugeben: Vergewaltigungen sind für sie primär ein religiöses, kein existenziell menschliches Problem. 452 Das Sprechersubjekt rät dem lyrischen Du, lieber auf einem Dachboden von „der griner shpin“ (der grünen Spinne; 1922: 10) als vom Himmel eine Antwort zu erbitten. 453 S. bes. 1922: 14. Zur Tsenerene, einer im 17. Jh. entstandenen, mitteljiddischen Bibelparaphrase, die als Frauenbibel im Ostjudentum sehr beliebt ist s. auch Kap. 12.

158  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Vollbesitz seiner Kräfte ist.454 Noch bevor Federico García Lorca Anfang der 1930er Jahre der Welt seine Boda de sangre (Bluthochzeit; Erstveröffentlichung 1936) schenken wird, führt Bialik diese Metapher für das Morden in Kišinëv jiddisch als „blut-khasene“ (Bluthochzeit; 1922: 8) im Mund.455 Aus Metaphern und zahlreichen Wiederholungen lautlicher und lexikalischer Natur ragen Paradoxon und Oxymoron heraus: Der Geruch von „blut un bliten“ (Blut und Blüten; 1922: 9), den ein Akazienbaum verströmt, erinnert ebenso an das Pogrom wie die Sonne, deren Strahlen nicht wärmen, sondern dem herumwandernden Zeugen „oysshtekhn di oygn“ (die Augen ausstechen; ebd.). Als Nebeneinander von Werden und Vergehen muss das lyrische Du Kišinëv erleben, als „shkhite mit a friling“ (Frühlings­ schächten; 1922: 9).456 Der „shmerts-gayst“ (Schmerzensgeist) tappt mit geschlossenen Augen im Dunkeln nach „mit shtume angstn ongefiltn kholel“ (einer mit stummen Ängsten erfüllten Leere; 1922: 16). Am Ende der Augenzeugenschaft soll der Mensch, das lyrische Du, seinen Zorn „in shoys fun di nokh lebedike meysim“ (in den Schoß der lebenden Toten; 1922: 18) werfen und „in zeyer brenendiker yam fun trern“ (in deren brennendem Tränen­ meer; 1922: 19) verschwinden. Die Absurdität von Kišinëv gebiert das ästhetische Paradox. Zu ihm gehört untrennbar ein für den gläubigen Chassiden unvorstellbares theologisches Paradox: Gottes Glorie, die Schechina, ist im Exil. Mit diesem Exil der Schechina in In shkhite-shtot, die sich nicht wie in kabbalistischer Vorstellung in die Welt einwohnen kann, korrespondiert das konkret und metaphorisch eingesetzte Leitbild des zerbrochenen Gefäßes. Zerbrochen sind menschliche Körper und Räder, die für das Judentum stehen können (Judenrad!; 1922: 14 und 21). Zerbrochen ist das jüdische Leben und die Scherbe, die dieses jüdische Leben symbolisiert (1922: 8 und 20). Auf die Emanation Gottes, der sich nach dem Bruch der Gefäße (hebr. schebirath ha-kelim) in die Welt einwohnt, folgt eine Welt des Pogroms, an der Gott zerbricht.457 Über lange Kola erstreckt sich in Bialiks In shkhite-shtot die Beschreibung des Grauens von Kišinëv. Dabei bleibt es nicht, weder in der Wirklichkeit noch in der Literatur: Zu Kišinëv, der einen „shkhite-shtot“ (Stadt des Schlachtens), gesellen sich in den folgenden Jahren viele

454 Eine Analyse der Ästhetik kann hier nur ansatzweise geleistet werden. Sie müsste neben Fragen der Metrik, des Reims und der prosodischen Dynamik u. a. die Symbolik der Farben  – Leitfarbe ist Schwarz – berücksichtigen. Roskies analysiert die hebräische Fassung 1984: 86–92, ebenso Milner 2005: 60–72 und Horowitz 2005: 73–85. 455 Der Dichter greift das Bild, das Hochzeit und Tod koppelt, mit der Metapher der „shvartse khupe“ (schwarzen Chuppa; 1922: 15) auf. 456 Bialik kontrastiert im Poem konsequent das Werden der Natur mit der Vernichtung menschlichen Lebens. Leyb Kvitko wird es im zweiten Teil von 1919 gelingen, Natur und Menschsein wieder harmonisch zu verbinden (s. Kap. 8.3). 457 Laut der theosophischen Lehre des jüdischen Mystikers Luria können die Gefäße die Emanationen göttlichen Lichts nicht auffangen und zerbrechen; dieser Bruch der Gefäße wird herangezogen, um den Ort des Bösen zu erklären (s. hierzu Scholem 1980: 287, 291–295).

Chaim Bialik und Perets Markish  | 159 „shkhite-shtet“ (Städte des Schlachtens; Ravnitski 1922: 5). Auf Bialiks Pogrompoem folgt eine Flut von Pogromtexten, die alle literarischen Gattungen umfasst.458 1921, achtzehn Jahre nach Kišinëv, erscheint in Warschau in einer Luxusausgabe Di kupe (Der Haufen) von Perets Markish. Leicht verändert wird dieser Pogromgedichtzyklus ein Jahr später in Kiev ediert.459 Mit ihm eröffnet der exzentrischste Vertreter des Kiever PoetenDreigestirns die lyrische Zeugenschaft von der Blüte der jiddischen Literatur – und vom Untergang der ostjüdischen Kultur. Nach Di kupe erscheinen in knapper Abfolge 1922 in Moskau Dovid Hofshteyns Troyer und 1923 in Berlin Leyb Kvitkos 1919 (s. Kap. 8.2 und 8.3). Zwischen Markishs Di kupe und Bialiks In shkhite-shtot liegt ein Weltkrieg, dessen Frontgeschehen sich dem radikalen Modernisten Markish über seine Verletzung und Demobilisierung hinaus tief ins Gedächtnis einbrennt.460 Zwischen den beiden lyrischen Pogrombewältigungsversuchen liegen unzählige antijüdische Ausschreitungen gerade der nachrevolutionären Zeit, in der wechselweise Petljuras ‚rote‘ Guerilla und Denikins weiße Todesschwadronen während des Bürgerkrieges jüdisches Leben vernichten (Dobzynski 2000: 9–10). Il’ja Ėrenburg, der 1919 Kiev als Schauburg von Pogromen und als Hochburg jiddischer literarischer Produktion erlebt, schreibt hierüber in seinen Memoiren Ljudi, gody, žizn’ (Menschen, Jahre, Leben): Čto mne skazat’ o kievskom pogrome? Teper’ nikogo ničem ne udiviš’. V černych domach vsju noč’ naprolet kričali ženščiny, stariki, deti; kazalos’, ėto kričat doma, ulicy, gorod. [...] Perec Markiš napisal v te gody poėmu o pogrome v Gorodišče; tam ubili pjat’sot čelovek. V Bab’em Jaru ubili svyše semidesjati tysjač evreev, a v Evrope – šest’ millionov ... Ja sebja lovlju na ėtom sopostavlenii. [...] Da, v 1919 godu palači ešče ne dodumalis’ do gazovych kamer; zverstva byli kustarnymi: vyrezat’ na lbu pjatikonečnuju zvezdu, iznasilovat’ devočku, vybrosit’ v okno grudnogo mladenca. (1990 Bd. 1: 297) Was soll ich über den Kiever Pogrom sagen? Heutzutage ruft das bei niemandem mehr Erstaunen hervor. In den schwarzen Häusern schrien die ganze Nacht hindurch Frauen, Greise und Kinder; es schreien die Häuser, die Straßen, die Stadt. [...] Perets Markish schrieb in jenen Jahren eine Dichtung über den Pogrom in Horodishtsh; dort wurden fünfhundert Menschen getötet. In Babij Jar ermordete man über siebzigtausend, und in Europa sechs Millionen ... Ich ertappe mich bei dieser Gegenüberstellung. [...] Ja, im Jahre 1919 waren die Henker 458 Jakob Gordin und Evgenij Čirikov verfassen Dramen, der deutsch, jiddisch und hebräisch schreibende Yakov Rabinowitz, Leo Pinsker, Asher Barash, Sholem Ash oder Lamed Shapiro Prosawerke. Als Narrativ geht das Pogromland Ukraine auch in Dovid Bergelsons Erzählung Tsvishn emigrantn (Unter Emigranten; 1928) ein, s. hierzu Valencia 1999: 193–207. Dennoch ist wie im Expressionismus und seinem Aufbegehren gegen den Krieg die Dominanz der lyrischen Gattung – als dichterisches Aufbegehren gegen Gott und die Übermacht des Kollektivs? – auffällig (vgl. Krutikov 2010: 115). 459 Seth Wolitz hat die Unterschiede ihrer Reihenfolge zusammengestellt (1987: 65). Im selben Jahr erscheint auch T.S. Eliots The Waste Land. 460 Zur Biographie Markishs, den man während der Bürgerkriegszeit in der Ukraine 1919 für tot hielt, s. Shmeruk/Harshav 21987: 751–756. Einen Überblick zu seinem Schaffen liefert der Sammelband von Sherman/Estraikh/Finkin/Shneer 2011.

160  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild noch nicht auf die Gaskammern gekommen, die Gräueltaten waren dilettantisch: Man schnitt fünfzackige Sterne in die Stirn, vergewaltigte junge Mädchen, warf Säuglinge aus dem Fenster.461

Ėrenburg streift hier einen Text, der für Furore sorgt.462 In 22 Gedichten – nimmt man die Kiever Version als die kanonische an – ergießt Perets Markish seine dichterische Galle über göttliche Heilsvorstellungen.463 Der ‚Held‘ des Zyklus, mit dem sich das lyrische Ich identifiziert, wenn es nicht gerade dessen Apotheose betreibt, ist ein Haufen stinkender Pogromopfer. Von diesem Haufen herab wird Gott gestürzt. Gottes Verkündigung auf dem Sinai (1921: 28), auf dem Berg Ararat (1921: 23) oder auf Golgotha (1921: 29) hat angesichts von Markishs dichterischer Blasphemie ausgedient. Nicht Jerusalem, sondern Babel wird verherrlicht (1921: 9). Der eine und einzige jüdische Gott muss sich in einer Reihe mit Christus und Allah nennen lassen (1921: 21 und 22; s. auch Roskies 1984: 100). Er wird – wie überhaupt die Idee des Monotheismus – in seiner Einzigartigkeit entlarvt. Mittels eines poetischen und konfessionellen Eklektizismus besingt der Dichter wider die ‚göttliche Ordnung‘ die Herrschaft des Chaos. Markishs ästhetischer Impetus und seine weltanschauliche Rage sind zu groß, als dass er Gott und die bisherige Tradition einfach nur negieren würde. 464 Einen ästhetisch und theologisch bedeutsamen Rahmen um die 22 Gedichte herum, die mit einem „Kaddisch“ beginnen und mit „Amen“ enden, kann nur ein lyrisches Subjekt entwerfen, das die religiösen Implikationen kennt.465 Neben der Tradition der Echa, des Klagelieds des Jeremias, und der kinot (von hebr. „kina“: „Klagegebet“), die sich daraus ableiten, konterkariert Markish  – aufgrund der poeminternen Datierung auf Jom Kippur – die Musaf-Gebete, Zusatzgebete an Sabbat oder Festtagen, und die Pijutim, liturgisch-poetische Ausschmückungen eines Stammgebetes.466 Die Zehn Gebote zurückgeben und damit den Bund, den Gott mit den 461 Die tatsächliche Zahl der Opfer beläuft sich nach Eliezer David Rosental auf 216 (zit. nach Roskies 1984: 98). Die Übersetzung basiert auf der deutschen Übertragung von Menschen. Jahre. Leben durch Alexander Kaempfe (1962: 386). 462 Hilel Tsaytlin, Schriftsteller, Publizist und Philosoph, wirft Markish Blasphemie vor (s.  Roskies 1984: 100, Wolitz 1987: 66). 463 Da mir bislang keine Kiever Ausgabe zugänglich ist, greife ich auf die Warschauer Erstedition zurück. Die beiden in der Kiever Ausgabe herausgenommenen Gedichte 9 (1921: 14) und 16 (1921: 23–24) sind hier berücksichtigt. Die französische Übersetzung von Charles Dobzynski (2000) basiert ebenfalls auf der Warschauer Ausgabe. 464 Der Literaturkritiker Yekhezkl Dobrushin findet bereits im Frühwerk das Ungezügelte dieses jiddischen Stürmers und Drängers bemerkenswert (s. 1919: 75–82). 465 Diese Technik der Rahmung erinnert strukturell an Bialik. Ästhetisch und weltanschaulich haben Bialik und Markish wenig gemein. Dobrushin charakterisiert Markishs Schaffen als „anti-byalikish“ (antibialikhaft; 1919: 80). Bialiks Poem als erzählender Dichtung erteilt Markish, dessen Dichtung von Bialik vehement abgelehnt wird, durch das Zyklische seiner Gedichtsammlung eine Absage (Wolitz 1987: 59, Krutikov 2010: 113f.). 466 Seth Wolitz hat detailliert die Subversion sakraler Prätexte herausgearbeitet (1987: 57–59). Gerade aufgrund der Symbolik der Zahl 22 ergeben sich wichtige intertextuelle Referenzen zum Tanach: In Gen 22 wird Isaaks Bindung beschrieben, die an Rosch ha-schana, also nach Jom Kippur, verlesen wird (s. Kap. 12); das erste und zweite Kapitel des Klageliedes des Jeremias sind als Akrostichon der 22 hebräischen Buchstaben aufgebaut. Da sich die Ermordung der Juden an Jom Kippur ereignet, werden sie nicht bestattet (Kazovsky in Hazan-Brunet 2009: 170).

Chaim Bialik und Perets Markish  | 161 Menschen geschlossen hat, aufkündigen kann nur ein lyrisches Ich, das sie zur Kenntnis genommen hat (1921: 30). Die Subversion sakraler jüdischer Texte paart Markish mit einer kosmopolitischen Montage moderner Lyrik (s. Dobzynski 2000: 15). Er ist – wie andere Vertreter der jiddischen Avantgarde – empfänglich für die ästhetischen Neuerungen des von Ezra Pound beeinflussten Imagismus, des deutschen Expressionismus und des russischen Futurismus (Dobzynski 2000: 13): Neben der Egomanie früher Gedichte verbinden ihn die Profanation des Göttlichen und der Furor, mit der er der – jiddischen – dichterischen Tradition abschwört, mit Majakovskij.467 Zur Steigerung des ästhetischen Potenzials seines Zyklus ist Markish diese jüdisch-christliche ,Mesalliance‘ gerade recht: „By placing sacral Jewish genres against secular European genres, Markish confronts on the formal plane the gentile world and the traditional Jewish world in order to produce poetic tension, discontinuity, and irony – a superb example of Jewish modernist formalism in action.“ (Wolitz 1987: 57)468 Markish spielt verschiedene metrische und strophische Möglichkeiten durch, vom klassischen Sonett bis zum freien, ganz dem Ausdruck hingegebenen freien Vers. Sein Paroxysmus treibt den Rhythmus häufig in die Synkope. Die Expressivität seiner Verse ist – lange vor Albert Camus – die eines „homme révolté“. Mit erhobener Faust präsentiert das lyrische Ich Sprachbilder des Ekels, die den guten Geschmack herausfordern. Markish radikalisiert Bialiks physische Konkretheit der Pogromfolgen. Über die visuelle Darstellung von getrocknetem Blut und Hirnmasse hinaus evoziert Markish durch die Betonung des Geschmacks- und des Geruchsinns den Prozess der Verwesung. Er spielt im ersten Gedicht bewusst mit der Zusatzbedeutung von „kupe“, das im Jiddischen außer „Haufen“ auch „Kot“ bedeuten kann. Die Anthropomorphisierung von Wind und Erde bringt in dieser Anti-Welt keine Erleichterung. Gottes Schöpfung wird mit verstörend aggressiven Bildern von verwesendem Fleisch und Exkrementen Hohn gespottet. Sie ist nicht – wie bei Bialik – intakt, sondern entweiht: Nit! Lek nit, kheylev himlisher, mayne farpapte berd, Fun mayne mayler khlyupen broyne ritshkes dzeygekhts, O, broyne roshtshine fun blut un fun gezegekhts, Nit! Rir nit dos gebrekh oyf shvartser dikh fun dr’erd. Avek! Se shtinkt fun mir, se krikhn oyf mir fresh! Du zukhst dayn tate-mame do? Du zukhst dayn khaver? 467 Ähnlich der in den USA entstandenen Literatengruppen Di yunge (Die Jungen) in ihren Anfängen und den Inzikhisten (wörtlich: Insichisten, also die, die Introspektion halten) wie Yankev Glatshteyn und Aaron (Orn) Glants-Leyeles schreibt Markish keine sozialorientierte Lyrik. Diese Richtung vertreten die so genannten „sweatshop“-Dichter wie Yoysef Bovshover oder Moris Rozenfeld (vgl. Dobrushin 1919: 79, Valencia 2009: 22–26). Markish ist wie Majakovskij, der das literarische Erbe provokativ über Bord wirft (s. Kap. 7), ein Dichter ohne Erbe (Dobrushin 1919: 75). Seine exzessive Inszenierung des eigenen Ich findet ein untersuchenswertes Pendant bei Markish, vgl. dessen Gedicht Ikh (Ich; Szymaniak 2005: 44, vgl. Dobrushin 1919: 76). 468 Dies ist der Kern von Wolitz’s fundierter Besprechung von Markishs Poetik, die Roskies stärker inhaltlich-ideologische Lektüre ergänzt.

162  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Zey zaynen do! Zey zaynen do! Nor s’shtinkt fun zey an aver! Avek! Zey loyzn zikh tserepete mit hent tseboygene vi mesh ... A kupe koytik gret – fun untn biz aroyf iz! Na! Vos dir vilt zikh, dul-vint, krats aroys un nem dir! Antkegn zitst der kloyster, vi a tkhoyr bay kupe oysgeshtikte oyfes. O, shvartse dikh! O fayer blut! Oyf tents, oyf tents – aroyf di hemder! M’hot undz do oysgeleygt di gantse shtot – a kupe – ale, ale, yud-aleph tishri tarpe. Nein! Leck nicht, himmlischer Talg, meine verklebten Bärte, Aus meinen Mündern rinnen braune Ströme Fett, O, brauner Rost aus Blut und aus Sägemehl Nein! Berühr nicht das Erbrochene auf dem schwarzen Schenkel der Erde. Weg! Gestank verströme ich, es kriechen Frösche auf mir! Du suchst deine Eltern? Du suchst deinen Freund? Sie sind da! Sie sind da! Doch stinkt es von ihnen ganz fürchterlich! Weg! Sie entlausen sich, Schlampige, mit Händen, verbogen wie Messing ... Ein Haufen kotiger Wäsche – von unten bis oben! Na! Was du haben willst, verrückter Wind, kratz es heraus und nehm es dir! Gegenüber sitzt die Kirche, wie ein Stinktier bei einem Haufen erstickter Hühner. O schwarze Schenkel! O Feuerblut! Auf zum Tanz, auf zum Tanz – hoch die Hemden! Man hat uns hier hergelegt, die ganze Stadt – einen Haufen – alle, alle, (Am) 11. Tischri 5681. (1921: 5)

Die Koppelung des Synästhetischen und des ästhetischen Schocks kennt man von Baudelaire. Sein berühmtes Gedicht Correspondances ist nicht zufällig Teil seiner Fleurs du Mal (1857). Das Loblied auf die Macht der Sinne ist umgeben von Hymnen an die Hässlichkeit. Markishs Arsenal an dichterischen Unverschämtheiten aus Di kupe findet in Baudelaires Blumen des Bösen einen würdigen Vorläufer.469 Une charogne ist ein direkter intertextueller Vorläufer zum Eingangsgedicht aus Di kupe: Auch hier wird der Text zum Götzendienst an 469 Les Fleurs du Mal erscheinen 1907 und 1908 in den Übersetzungen von A. Panov, Ėllis (Pseudonym für Lev L’vovič Kobylinskij) und A. Al’ving auf Russisch als Cvety zla (s.  http://www.vekperevoda. com/1855/ellice.htm und http://www.vekperevoda.com/1855/lamble.htm; 5.3.2012). Markish, der fünfzehnjährig seine ersten Gedichte auf Russisch verfasst, könnte Baudelaire in einer dieser frühen Übertragungen rezipiert haben. Eine Übersetzung ins Jiddische konnte ich nicht ausfindig machen; s. http://www.yiddishweb.com/dubletn/iberzetsungen.htm; 5.3.2012). Baudelaire und seine Negation etablierter idealistischer Schönheitsvorstellungen verleiht dem russischen diabolischen Symbolismus wichtige Impulse (vgl. hierzu Hansen-Löve 1989). Gennady Estraikh nennt, dem jiddischen Literaturkritiker Nokhem Oyslender folgend, neben Walt Whitman als weitere wichtige Referenzfigur des französischen Symbolismus Émile Verhaeren (2005: 34).

Chaim Bialik und Perets Markish  | 163 der Verwesung (1967: 64–65). Ein Kadaver mit einer „carcasse superbe“ reckt „comme une femme lubrique“ die Beine in die Höhe (1967: 64). Baudelaires Koppelung von Eros und Thanatos hallt in Markishs „shvartser dikh fun dr’erd“ (schwarzem Schenkel der Erde) wider. Wo es bei Baudelaire stinkt, dass das lyrische Ich den Angriff auf den Geruchssinn euphemistisch verhüllt („La puanteur était si forte, que sur l’herbe / Vous crûtes vous évanouir“; ebd.), ist Markish unverblümt: „Nor s’shtinkt fun zey an aver!“ heißt wörtlich „Doch sie stinken wie ein Pfurz!“. Larven, die in Une charogne wie eine dickflüssige Masse an „lebendigen Lumpen“ (vivants haillons) herabtropfen, ersetzt Markish durch Frösche, die den Haufen emporkriechen, bevor die Toten ihre Lumpen zum danse macabre lüften („aroyf die hemder!“).470 Was Baudelaire die Katzen (vgl. Le Chat, 1967: 70), sind Markish Rabe und Krähe: Immer wieder bevölkern sie einzelne Gedichte aus dem Zyklus. Der Rabe, der als erster von Noah ausgesandter Vogel ohne Aussicht auf das Ende der Sintflut zu ihm zurückkehrt (Gen 8, 7), wird zum Symboltier von Markishs neuem Stiftszelt, auf der das lyrische Ich Gott Platz zu nehmen bittet: Ikh hob dir oyfgeshtetlt in mitn mark a nayem mishkn, a shvartse kupe, vi a bloter ... Bazets zikh oyf ir dakh dem brustikn, glaykh vi a rob an alter oyf a mistkastn ... Ich habe dir mitten auf dem Markt ein neues Zelt aufgestellt, einen schwarzen Haufen, wie ein Geschwulst ... lass dich auf ihrem Brustdach nieder, wie ein Rabe auf einem alten Mistkasten ... (1921: 7)

Wendet man Karl-Heinz Bohrers Maßstäbe für eine Ästhetik des Bösen auf Perets Markishs Di kupe an, erscheint sie einem als besonders gelungene Umsetzung.471 Markishs Bilder der Ver470 Natürlich sind gravierende Unterschiede zwischen den beiden Zyklen nicht zu unterschlagen: Bei Markish finden sich keine Schönheitshymnen im Sinne eines „l’art pour l’art“, keine provokatorische Inszenierung von Sexualität und Fleischlichkeit und keine Verherrlichung des Ennui, sondern ein gewaltvolles Schreiben aus der Auflehnung heraus. Markish untermauert seine dekadente Position, die er mit Baudelaire, Verlaine und Huysmans teilt, im Manifest und setzt sie schriftstellerisch als Mitglied der Literatengruppe Khalyastre (Bande) fort, vgl. seine Einführung zum ersten Heft, das unter demselben Titel in Warschau erscheint (Abdruck in Szymaniak 2005: 43). Für deren zweites, in Paris herausgegebenes Heft steuert Chagall einen Teil seiner Autobiographie und das Titelblatt bei: Die Zeichnung zeigt die Dichter- und Künstlerbande Markish, Varshavski und Chagall am Eiffelturm hängend. Neben Chagalls visuellen Eiffelturm-Bildern hat Markish, der während seiner Pariser Jahre zum „ungekrönten König“ der jüdischen Bohème wird (Jendrusch 2002: 104), dichterisch das Wahrzeichen der französischen Hauptstadt besungen (s. 21987: 434). 471 Im Unterschied zur ethisch-idealistischen Imagination des Bösen ist diese Ästhetik des Bösen, angefangen von Poe und Baudelaire, als „Grundstein einer Poetologie der Moderne“ (2004: 22) vom ethischen Referenzpol des Guten abgekoppelt. Bohrer untersucht dies besonders in „Das Böse – eine ästhetische Kategorie?“ (2004: 9–32), „Gewalt und Ästhetik als Bedingungsverhältnis“ (2004: 168–187) und „Stil ist frappierend: Über Gewalt als ästhetisches Verfahren“ (2004: 188–213).

164  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild wesung überwuchern den Text, der frenetische Rhythmus seiner Verse peitscht den Leser durch den Zyklus. Die semantischen Brüche und Leerstellen in und zwischen den Gedichten sind durch keine Transzendenz zu füllen. Die mit modernistischen Techniken gespeiste Ambivalenz der Ästhetik greift religiöse literarische und liturgische Traditionen auf, nicht aber deren religiöse Essenz. All dies sind Merkmale einer Poetik, die bereits auf der SignansEbene einer ideellen Koppelung des Guten und Schönen einen Riegel vorschiebt. Markishs ästhetische Radikalität bricht über die jiddische Literatur herein wie das Pogrom über Horodishtsh. Sie zerreißt das von Bialik so eng geknüpfte Band zwischen (dem wenn auch ohnmächtigen) Gott und der Dichtung. Di kupe, karikierendes Klagelied eines modernen AntiJeremias und Hymne eines jiddischen Baudelaire an einen Leichenberg, ist der metaphysische Nullpunkt der jiddischen Pogromlyrik. Glücklicherweise ist er nicht auch ihr Endpunkt. Mit Dovid Hofshteyn und Leyb Kvitko treten zwei Pogrom-Dichter auf den Plan, die radikaler sind als Markish, der Rebell: Sie erschüttern die Grundfeste des jüdischen Nationalmythos vom auserwählten Volk (Krutikov 2010: 115) – und spenden dennoch Hoffnung.

8.2 Gezeichnete Gesichter – Marc Chagall illustriert Dovid Hofshteyns Gedichtzyklus Troyer (Trauer, 1922)472 Každyj stich – ditja ljubvi, Niščij nezakonnoroždennyj, Pervenec – u kolei Na poklon vetram – položennyj. Jeder Vers – ein Kind der Liebe, bettelarm, unehelich, Erstgeborener – am Fahrbahnrand Den Winden zur Verneigung hingelegt. Marina Cvetaeva (1918) In yidishn vort, vi s’iz vild, vi s’iz mild, vi s’iz tayer, iz faran aza ruf tsu banayung, iz faran aza helisher fayer, az vintn, vos tsien oyf veltishe breyte barotn, nit kenen farblozn zayn gliendn otem, un ashn fun tkufes nit kenen zayn tsunter fargroyen, zayn muntern tsunter, vos helt zikh oyf shtilkayt fun bloyen. Im jiddischen Wort, wie es wild ist, mild ist und teuer, lebt der Ruf zu Erneuerung, lebt ein höllisches Feuer, Und Winde, die unter der Herrschaft der Welt umherjagen, Können ihm nicht seinen brennenden Atem verschlagen, Die Asche der Zeiten kann seine Glut nicht verdunkeln, Seine heitere Glut, die noch in der Stille von Blau will funkeln. Dovid Hofshteyn (1929)

„Dovid Hofshteyn hot antdekt velt motivn, di velt darf nokh im antdekn“ (Dovid Hofshteyn hat Weltmotive entdeckt, die Welt muss ihn noch entdecken)  – mit bescheidenen Schritten hat ,die Welt‘ begonnen, die Aufforderung des jiddischen Schriftstellers Avrom Reyzen (1876–1953) einzulösen (zit. nach Podryatshik 1988: 21): Die wichtige, in Jeru­ salem und später in New York von Khone Shmeruk und Benjamin Harshav herausgegebene Anthologie A shpigl oyf a shteyn (Spiegelglas auf Stein; 1964/21987; dt. Teilübersetzung 2002) – der Titel ist einem Gedicht Perets Markishs entnommen – antwortet diesem Ruf nicht nur in ästhetischer, sondern vor allem auch in ethischer Hinsicht. Sie bringt Stimmen jüdisch-sowjetischer Autoren zu Gehör, die wesentlich zur Blüte der jiddischen Literatur und insbesondere der Lyrik beitrugen, bevor sie vom zynischen Vernichtungsapparat Stalins ausgelöscht wurden. Die Stimme des „neuen Menschen“ Dovid Hofshteyn (1889–1952), so der jiddische Literaturkritiker Bal-Makhshoves, ist eine unter ihnen (1953b: 303). Hofshteyn 472 Das Kapitel stellt die leicht erweiterte Fassung des gleichnamigen Aufsatzes dar, erschienen im Wiener Slawistischer Almanach 64 (2009: 35–73).

166  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild wird in den 1990er Jahren neu, also nicht ideologisch deformiert, ins Russische übersetzt.473 Zur Einsicht freigegebene Dokumente bringen im postsozialistischen Russland zögerlich einen Erkenntnisprozess zu Hofshteyns schlimmem Ende unter Stalins Terrorregime voran. Auch Marc Chagall trägt zur Entdeckung Dovid Hofshteyns bei. Chagalls und Hofshteyns Wege kreuzen sich 1921 in Malachovka. Dorthin flieht der eine 1920 aus Vitebsk vor dem Kunstkrieg mit Malevič, der andere 1921 aus Kiev vor dem Bürgerkrieg und dem Russisch-Polnischen Krieg, der vor allem in der Westukraine tobt. In Malachovka wird die Idee geboren, den zwischen 1919 und 1922 entstandenen Gedichtzyklus Troyer (Trauer) zu illustrieren.474 Im Ergebnis entsteht dank der modernistisch gestalteten Synthese aus Text, Illustration, Typographie und Layout ein Meisterwerk jiddischer Buchkunst (Hazan-Brunet 2009: 104, Wolitz 1995: 95f.). In 4 500 Exemplaren gedruckt, soll der Erlös jüdischen Kriegs- und Pogromopfern zu Gute kommen.475 Die lyrische Gattung erlaubt es Hofshteyn, in variierenden Stilen und Registern eine Stimmenvielfalt der Trauer erklingen zu lassen, die auch vor der Theodizee nicht halt macht. Chagall antwortet auf diese Polyphonie und auf den schweigenden Raum, der sie umgibt – vieles ist nicht zu Ende gesprochen, unbeantwortet, verebbt im Ungewissen –, mit einem Titelblatt und sieben Zeichnungen. In ihrer konstruktivistischen, zur Abstraktion neigenden Machart stellen sie eine visuelle Entsprechung zu Hofshteyns in der Schwebe gehaltenen Dichterrede dar.476 Text und Bild bilden ästhetisch und intentional eine Einheit. Diese speist sich aus inhaltlichen Übereinstimmungen. Sie ist aber auch in der ästhetischen Faktur versteckt. Es lohnt sich – um mit Derrida zu sprechen –, den Spuren in Hofshteyns Gedichten und in Chagalls Illustrationen zu folgen, Bilderspuren in der Schrift und Schriftspuren im Bild.477 Spuren des Bildhaften erscheinen zunächst auf der Textoberfläche, also auf der Ebene der Signifikanten, um in der Tiefe der möglichen Bedeutungen ein bilderreiches Doppelleben 473 Valerij Sluckij und Michail Krutikov haben wesentlichen Anteil daran, vgl. der russischsprachige Gedichtband von 1997. Zu Sowjetzeiten wurde Hofshteyn von dem Kinderbuchautor und Übersetzer Samuil Jakovlevič Maršak (1897–1964) ins Russische übertragen. 474 Die genaue Entstehungszeit des Poems ist unklar: Wird Troyer in A shpigl oyf a shteyn auf 1920–1922 datiert, so erfolgt zugleich der Hinweis, dass sein Abfassen 1948 auf das Jahr 1919 eingegrenzt wird (Shmeruk/Harshav 21987: 779). In der zweibändigen Werkausgabe zu Hofshteyn von 1977 wiederum wird Troyer dem Jahr 1921 zugeschlagen (1977: 106). Auch die Datierungen der Chagall’schen Zeichnungen sind – wie so oft bei ihm – zu hinterfragen (Wolitz 1995: 96). Ein Original von Troyer befindet sich in Paris im Musée d’art et d’histoire du Judaïsme. 475 Diagonal über die Umschlagrückseite verläuft der in einen Balken gesetzte Schriftzug: „di gantse hakhnose funem bukh – letoyves di hungerndike yidishe kolonyes.“ (Der gesamte Verkaufserlös ist für die hungernden jüdischen Kolonien bestimmt.) 476 1922 erscheint Troyer mit einem Textkorpus von elf Gedichten. Die zweibändige Ausgabe von Hofshteyns Lider un poemes (Gedichte und Poeme) von 1977 enthält statt der ursprünglich elf acht Gedichte. In chronologischer Reihenfolge sind dies: Kuk nor on, vi zi yogt (Seht nur her, wie sie jagt), Zun-fargang (Sonnenuntergang), Amol, amol, in shtile toln shepsn kh’hob gepashet (Einst, einst hütete ich in stillen Tälern Schafe), Ukrayne (Ukraine), In faln (Im Fallen), Kinder-shprukh (Kinderspruch), Shtam (Stamm), Keyn dakh, keyn vent – un shveln umetum (Kein Dach, keine Wand – und Schwellen ringsumher). 477 Der Name Derrida fällt hier nicht von ungefähr, ist es doch gerade ihm zu verdanken, dass mit seiner Grammatologie (1967) die Schrift im abendländischen Denken wieder in ihr Recht gesetzt und nicht, wie von Vilém Flusser verkündet, mit der Erfindung der Photographie ihr Ende eingeläutet ist.

Marc Chagall und Dovid Hofshteyn  | 167 zu führen. Und Schriftspuren erscheinen im Bild – in einem doppelten Sinne: Chagall fasst zeichnerisch nicht nur dem Wortsinn entspringende Bildbedeutungen, sondern überführt systematisch einzelne Textfragmente in seine Illustrationen.

Dovid Hofshteyns Poetik der Tristesse Jakov Savčenko (1890–1937) und Sergej Esenin (1895–1925), zwei Lyrikern und Vertretern des Ukrainischen und des Russischen, ist jeweils eines der elf Gedichte gewidmet.478 Ein hebräisches Bibelzitat tritt neben ein jiddisches Motto von Hofshteyns Dichterkollegen Osher Shvartsman (1890–1919; 1922: XII). Hofshteyn zirkelt so explizit seinen intertextuellen und zugleich interkulturellen jüdisch-slavischen Kontext ab. Auch verdeckte Intertexte mit Sholem-Aleykhem und Chaim Bialik zeigen Hofshteyns Verwurzelung in der jiddischen und hebräischen (Pogrom-)Literatur.479 In Jiddisch führt er, der 1889 im Krähwinkel Korostyšev bei Kiev geboren wird und von seinem neunten Lebensjahr an Jiddisch und Hebräisch, Ukrainisch und Russisch schreibt, den prekär ambivalenten Zustand ostjüdisch-osteuropäischen Seins vor.480 Zerrissen zwischen „heymen“, einem störend-hoffnungsvollen Plural zu „Heim“ (21987: 265), und einem Heimatland „on dakh oyf halb“ (mit nur einer Dachhälfte), so im Widmungsgedicht an Dovid Bergelson (21987: 264), zwischen der Sehnsucht nach einem friedvollen Zuhause in der Ukraine und der Einsicht, dass der „Goles“ (hebr.: Galuth), das Exil, die conditio sine qua non (ost)jüdischen Lebens ist, findet der Dichter seine wahre Heimat in der – jiddischen – Sprache. Hier, im virtuos und suggestiv gestalteten Sprachraum der Dichtung, evoziert er mehr als einmal die reale Topographie der Ukraine. Auch in Troyer ist die Ukraine Schauplatz und Held der Handlung in einem. Bereits das typographisch als Aleph gestaltete Eingangsgedicht entwirft  – programmatisch für den gesamten Zyklus – ein doppelbödiges Portrait der realen Heimat Hofshteyns: Hier darf die befreite Judenheit in den Jubel über die seit Juni 1917 unabhängige Ukraine einstimmen.481 Hier muss sie von Januar 1919 an die zahlreichen Opfer entsetzlicher Pogrome betrauern.

478 Zu Esenin s. Kap. 6. Jakov Savčenko, ein wenig bekannter ukrainischer Lyriker, Literatur-, Film- und Theaterkritiker, vertritt in seiner Dichtung eine modernistisch-avantgardistische Richtung. Wie viele andere moderne Kulturschaffende gerät auch er unter die Räder sozrealistischer kulturpolitischer Doktrinen, bis das Terrorregime Stalins 1937 seinem Leben ein Ende setzt (www.slovopedia.com/2/209/259320. html; 5.3.2012; http://www.feb-web.ru/feb/litenc/encyclop/lea/lea–4761.htm; 5.3.2012). 479 In einer anderen Version des Poems Ukrayne, abgedruckt 1922 in der zweiten Ausgabe der jiddischen Avantgardezeitschrift Shtrom (Der Strom bzw. Strömung), vermerkt Hofshteyn vier Widmungen (s.  Shneer 2004: 144–150). Hofshteyn widmet Bialik in der späteren Bearbeitung des Zyklus das Gedicht Keyn dakh, keyn vent .... 480 Zu Hofshteyns Jugend und dichterischen Anfängen s. Hofshteyn 1977b: 199–201, Jendrusch 2002: 78 und Krutikov 2010: 111f. 481 Der hierfür eingesetzten „Rada“, dem Zentralrat des Landes, mit Sitz in Kiev gehörten über fünfzig Repräsentanten jüdischer Parteien an; innerhalb der antisozialistischen und antirussischen Regierung gab es ein eigenes „Ministerium für jüdische Angelegenheiten“, das „die nationale Autonomie der jüdischen Minorität symbolisieren sollte“ (Dubnov 1920 Bd. 10: 518). Mit dem Hinweis auf die Zeit des

168  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Der konkrete Zeitraum vom Frühsommer 1918 bis Januar 1919 ist auch im chiastisch konstruierten Motto zum ersten Gedicht präsent: „Sivn – mazl toymim/mazl shvat – deli (Sivan – das Zeichen der Zwillinge/das Zeichen shvat – Wassermann; 1922: V).482 Diese Betonung der Realgeschichte bestätigt einen folgenschweren thematischen und typologischen Wandel in der jiddischen Literatur, der in der Januarrevolution 1905 und den darauffolgenden Gewaltakten Juden gegenüber seinen Ursprung hat: Von nun an dominiert das lineare Prinzip der leidvoll erlebten Historie das mythische.483 Die Zyklizität des mythischen Prinzips, jahrhundertelang Teil des jüdischen Bewusstseins, rivalisiert mit der literarischen und künstlerischen Reflexion konkreter geschichtlicher Ereignisse. Die Mythos gewordene Ewigkeit wird an das real erlebte „Jetzt“ der Zeitlichkeit, die Erfahrung der gewaltgeprägten Moderne an die Tradition geknüpft. Dies gilt in besonderem Maße für die Lyrik der Kiever Gruppe um Markish, Kvitko – und Hofshteyn (s. Shmeruk 21987: 23). Die Gräuel der Pogrome werden in eine weitere, weniger zeitlich-geschichtliche als geschichtsphilosophisch-eschatologische Ambivalenz gekleidet, die in der jüdischen Literatur eine lange Tradition hat: Der Ort der Gewalt (= Ukraine) evoziert den (utopischen?) Ort der Idylle. Diese Gewalthölle, wie sie in der Ukraine der (Bürger-)Kriegszeit erfahren wird, kommt nicht aus ohne den Geschmack des Paradieses. Wo ein Paradies, da ein Gott: Wie in biblischen und säkularen Prätexten zu Troyer ist der implizite Adressat des Zyklus Gott in all seiner Gewalt(igkeit): Gott, der waltet und der gewalttätig ist (s. auch Kap. 13), Gott, der anders als bei Bialik schweigt. Mit ihm geht – zwangsweise – die seit Hiob immer wieder gestellte Frage nach Berechtigung und Sinn des Bösen in der von Gott erschaffenen Welt einher. Diese Frage der Theodizee steht auch im Spannungsfeld von Text und Bild. In Ukrayne (Ukraine; 1922: VI–VIII) durchfährt das lyrische Ich in einer verrosteten, ausgeschlachteten Eisenbahn seine Heimat. Spuren der Verwüstung ziehen an ihm vorüber. Das Land des Dnjepr’ und der Steppe, einst „miklet-plats“ (Asyl) für die Juden, muss sich den schmerzensreichen Vorwurf anhören: „Af ale – ale shtrekes zayne / shotnt zikh dayn shand, / Ukrayne!“ (Auf alle – alle seine Gegenden / wirft Schatten deine Schande, / Ukraine!; S. VIII) Der Lakonismus der knappen Zeilen lässt gleichrangig mit dem Text die Leerstellen des Gedichts sprechen. Dem Schweigen (ob der Monstrosität der Geschehnisse), das in den regelmäßigen, ja leitmotivisch wiederkehrenden drei Punkten am Ende jeder Sinneinheit anklingt, antwortet das schweigende Weiß des Papiers. Das Verstummen des lyrischen Ich – eingestanzt in den vielen, den Text auch graphisch strukturierenden Gedankenstrichen – ist der Raum stummer Vergegenwärtigung des Entsetzens. In dem folgenden, Esenin gewidmeten Gedicht Amol, amol in shtile toln shepsn kh’hob gepashet (Einst, einst hütete ich in stillen Tälern Schafe) erinnert sich das lyrische Ich an diese friedvolle Zeit des Schafehütens. Die sprichwörtliche Schäferidylle jedoch wird gestört: In Wassermanns hat Hofshteyn vermutlich auch die erneute Besetzung Kievs durch die Rote Armee vom Februar 1919 im Auge. Zur Gestaltung des ersten Gedichts s. auch Wolitz 1995: 104. 482 Sivn meint den neunten Monat des jüdischen Jahreskreises (Mai/Juni), Shvat den fünften (Jan./Febr.); „deli“ heißt wörtlich „Eimer“ als Symbol für den Wassermann (s. Schulte 2006: 149). 483 Sholem-Aleykhems statisch-archetypische Figuren wie Menakhem-Mendl, Motl und Tevye erleben Geschichte vorrangig noch mythisch (s. Krutikov 2001: 67–117, bes. 115–117 und Kap. 6).

Marc Chagall und Dovid Hofshteyn  | 169 wirkmächtigen Bildern evoziert Hofshteyn nahendes Unheil: Vom Donnern der Hufe begleitet, nähern sich „dorfishe tabunen“ (Dorfherden), blutlüstern und barbarisch  – Hofshteyn vergleicht sie mit „shtoltse hunnen“ (stolzen Hunnen; 1922: IX). In Ikh bin mid shoyn (Ich bin müde schon; 1922: X) evoziert das lyrische Ich den nördlichen Teil Israels.484 Galiläa (hebr.: galíl, jidd.: gólil) ist für das Sprechersubjekt der Ursprungsort für das Paradox, dass gläubige Christen in Jesu Namen das Volk verfolgen, von dem Jesus abstammt. „Golil“ bezeichnet im Jiddischen zugleich generell „Gegend, Region“. Der eine, konkrete Ort der Gewalt gegen Juden, Galiläa, ist überall – und meint damit auch die Ukraine. Das ambivalente Nebeneinander einer Sehnsucht nach Harmonie und Frieden, nach der Unschuld des Menschen angesichts seiner großen Schuld, diese Gleichzeitigkeit des Paradieses und der konkreten Höllen, durchzieht den gesamten Zyklus: In Zun-fargang (Sonnenuntergang), dem fünften Gedicht des Poems, scheint alles auf der Erde bereit „far frayen flam fun lebn“ (für die freie Lebensflamme; 1922: XI). Doch der Anblick der Verwüstungen – im etymologisch verwandten Bild des „vistenish“ (Wüste; ebd.) gefasst – und der Klang der Trauer („geveyn“/ Weinen; ebd.) bindet in scharfem Kontrast die potenzielle Vitalität an die tatsächliche Vernichtung. Analog zum Inhalt evoziert die typographische Gestaltung des Gedichtes als Kreis das – auch von Mandel’štam verwendete – Oxymoron der „schwarzen Sonne“ (Wolitz 1995: 106, s. hierzu Kap. 7).485 Der ruhige, auch in seiner metrisch-rhythmischen Gestalt Harmonie evozierende Duktus wird abgelöst vom Staccato moderner, stärker tonischer Verse. In faln (Im Fallen) entfaltet erneut in expressiver Manier die Ohnmacht des fragenden und klagenden lyrischen Ich vor dem gähnenden Abgrund („opgrunt“), der sich angesichts des Leidens der Juden auftut (1922: XII–XV). Ihm und dem adressierten Du ruft das Sprechersubjekt die Kinderjahre in Erinnerung, die Jagd auf einen Fuchs, ein wichtiges Tier talmudischer Sprüche und Sagen, das auch im Klagelied des Jeremias vertreten ist (Jer 5,18).486 Die Blutspuren im Schnee werden – als Gedächtnisträger für das Opfer – tief betrauert. Trauer ist die einzig mögliche Antwort auf den Abgrund der Gewalt und der Ohnmacht. Die Blutspuren, die das lyrische Ich im Blick einfängt, gerinnen zu Textzeilen, die den Tod des Opfers durch die Lebendigkeit der Verse einlösen. „S’iz fort shoyn fevral ...“ (Obwohl es noch Februar ist ...) leitet das nächste Gedicht, Kinder-shprukh (Kinderspruch; 1922: XVII–XIV), ein. Hofshteyn knüpft in diesem zentralen

484 Später geht dieser Text in sein berühmtes Lid fun mayn glaykhgilt (Gedicht meines Gleichmuts, 1929) ein (s. 21987: 779). 485 Inwieweit zwischen Hofshteyns Troyer und Mandel’štams Tristia intertextuelle Bezüge bestehen, bedarf einer eingehenden Betrachtung. Osip Mandel’štam ist 1919 kurzzeitig in Kiev und somit – wie Hofshteyn und Ėrenburg  – Zeuge des Bürgerkrieges; hier lernt er seine spätere Frau Nadežda kennen (s. hierzu Dutli 2003: 185–193). Wie sich die Ereignisse der Zeit in beider lyrischem Schaffen niederschlagen, scheint ebenso untersuchenswert wie das jüdische Selbstverständnis des jiddischen, der Tragödie der (ost)europäischen Judenheit zugewandten Hofshteyn und des russisch-assimilierten, der Tragödie der Kultur generell sich widmenden Mandel’štam. Beide verbindet ein ungemein hohes Ethos ihrer Dichtung. 486 Zu Beispielen für entsprechende talmudisch-midraschische Fabeln s. Ehrmann 2004: 81–84.

170  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Gedicht des Zyklus an die Chronologie des ersten Gedichts an.487 Die Trauer erreicht hier ihren Höhepunkt. Drei Fragen bewegen das lyrische Ich: Wie hat sein Großvater getrauert angesichts des erfahrenen Leids? Wie werden später die Kinder trauern, die jetzt unschuldig in der Diele spielen und in späteren Jahren die schmerzhafte Wiederholung der Geschichte – mit neuen Pogromen und neuem Leid – werden erfahren müssen? Und an wen kann sich der trauernde Jude wenden, um getröstet zu werden? Das lyrische Ich greift zunächst zu heiligen Büchern, zu „sforim“.488 Das seit dem 18. Jahrhundert herausgegebene Gebetbuch Beys-Yankev (Haus oder Stamm Jakob) des Talmudisten und Rabbiner Ja’akov Emden (1697–1776) spendet ihm Trost.489 Hier stößt das lyrische Ich auf den Mann aus Uz, auf Hiob, um dann im „tanakhl“ (Diminutiv von Tanach; S. XVIII) zu blättern: Mayn treyst iz in dem mir bashtanen, vos ergets a land aza Uts iz faranen, vos dort hot gevoynt a man Iev, un ot, in der shtot, vos heyst Kiev, mit yorn mit toyznter shpeter gemisht hob ikh glatinke britishe bleter [...] Mein Trost bestand für mich darin, dass es irgendwo ein Land wie Uz gibt, dass dort ein Mann wohnte namens Iev (= Hiob; S. K.), und hier, in der Stadt, die man ruft Kiev, Tausende Jahre später ich in glatten britischen Seiten blätterte [...] (ebd.)490

Hofshteyn paart sein Klagelied aufgrund des Leidens, das gerechte und unschuldige Menschen zu erdulden haben, mit der Hiobsgestalt.491 Neben der Theodizee-Thematik bindet die laut487 Interessant ist hier der Sprachwechsel von den hebräischen Monatsbezeichnungen im Eingangsmotto zur aus dem Russischen abgeleiteten jiddischen Monatsbezeichnung „fevral“. 488 Singular „seyfer“ (hebr.: „sefer“). Das jiddische „bukh“ bezeichnet weltliche Schriften. 489 Die breit rezipierte Gebetsammlung Beys-Yankev (wörtl.: Jakobs Stamm, eigentlich: Haus) des Rabbi und Talmudisten Ja’akov Emden (1697–1776) erschien 1745 (Nachdruck in Lemberg 1904 und Samet 2 2006 Bd. 6: 392–394). Beys-Yankev ist auch der Name einer wohltätigen Organisation, die u. a. Mädchenschulen einrichtet. 490 Mit den „britischen Blättern“ ist die in hoher Auflage verbreitete englische Tora-Ausgabe von J.H. Hertz (Hertz-Chumash) gemeint (s. Magonet 2003: 109–112). Für diesen Hinweis danke ich Yitskhok Niborski. 491 Hofshteyns Text steht damit in einer Reihe literarischer Hiob-Darstellungen von Oskar Kokoschka, Ivan Goll, Karl Wolfskehl, Nelly Sachs oder Joseph Roth. Margarete Susman reflektiert die Hiobs-

Marc Chagall und Dovid Hofshteyn  | 171 lich-poetische Seite beides aneinander: Hofshteyn reimt „Iev“ – so der jiddische Name Hiobs – auf „Kiev“. Der ungewöhnliche männliche Reim fällt in der Umgebung weiblicher Endreime auf. Betont wird er durch die zahlreichen o-Assonanzen in den beiden Verszeilen, die zum hellen Endvokal einen Kontrast bilden. Zugleich verstärkt die parallele Stellung des räumlichen Gegensatzes von „dort“ (dort) und „ot“ (da) im gleich gestalteten metrischen System (Amphibrachys; jidd.: „amfibrakhi“) die emotional-religiöse Gemeinsamkeit aufgrund der Ereignisse, die Hiob respektive die Stadt Kiev, die metonymisch für die Ukraine steht, ereilen.492 Mag die Hiobsgeschichte dem Großvater Trost spenden, den Kindern, zu denen das lyrische Ich sich selbst rechnet, vermag sie ebenso wenig Halt zu geben wie die Kommentare des großen mittelalterlichen Tora-Kommentators und Talmudisten Raschi (1040–1105). Die Kulmination des Kernthemas der Trauer ist an eine Vertiefung der Theodizee gekoppelt. Als die Hiobsfigur im Poem erscheint, ist der Riss zwischen den älteren Generationen, die in den heiligen Büchern Halt finden, und den Jüngeren unübersehbar, die ihre Abwendung von Gott offen bekunden: Mit entblößtem Kopf – ein schweres Vergehen gegen den Höchsten, denn jedes Kaddisch ist mit Kopfbedeckung zu sprechen – schreit das lyrische Ich seine Ohnmacht hinaus. Sich nicht Asche aufs Haupt zu schütten, Trost in der Trauer und nicht in Gott zu finden – dieser Affront dem Allmächtigen gegenüber ist offene Provokation. Das lyrische Ich ist des Blätterns in heiligen Büchern müde. Es stürzt die Jahrtausende alte, von der Heiligen Schrift (und von Gewalt!) gestützte kollektive Identität der Judenheit vom Sockel und verherrlicht sich selbst. Es feiert – Markish alle Ehre machend – seine übersteigerte individuelle Identität. Der Rausch des Subjekts, trunken vom eigenen Leid – in jeder der sechs Schlusszeilen wiederholt sich das Possessivpronomen „mayn“ (mein) –, schließt das Gedicht ab: „[...] di greys fun mayn mentshlikhn elnt, / di greys fun mayn troyer – / ot dos iz mayn treyst, / mayn gevisn, / mayn dreyst / un mayn koyekh... ([...] die Größe meines menschlichen Elends – / die Größe meiner Trauer – / hierin liegt mein Trost, / mein Gewissen, / meine Dreistigkeit, / und meine Stärke ...; S. XIX). (Der goetheanisch-prometheische Geist, wie er auch Perets Markish eignet, weht hier.) Nach dem expressiv-modernistischen Gestus der vorausgehenden beiden Poeme, wie er vom Futurismus eines Majakovskij her mit seinen überraschend verfremdenden Sprach­bildern und seiner harten Rhythmik vertraut ist, knüpft Hofshteyn bei Kinder-shprukh an die Tradition des Liedes an. Auf die – dem Inhalt von Gewalt und Zerstörung antwortende – fragmentierte Syntax folgt die Kohärenz des Kinderliedes, auf die Dissonanz futuristischer Dichtung die Harmonisierung durch Reim und Metrum: Nicht nur ein Refrain, auch Paar- und Kreuzreime Gestalt 1946 im Kontext der Schoa (Susman 1968). 492 Die Reimfolge „Iev“-„Kiev“ taucht in dem 1927 erschienenen Gedicht Bakante, gut bakante libe bilder ... (Bekannte, gut bekannte liebe Bilder ...) nochmals auf. Hofshteyn war im Zuge der einsetzenden Enthebraisierung der jiddisch-sowjetischen Literatur genötigt, sich dafür zu rechtfertigen (s. Shmeruk 1987: 36). Laut Khone Shmeruk wäre es 1935, also nach der Inthronisierung des sozialistischen Realismus und aufgrund starker antihebräischer Tendenzen jiddisch-sowjetischen Autoren unmöglich gewesen, Derartiges überhaupt zu schreiben. Aufgrund seines Palästina-Aufenthalts in den Jahren 1925– 1926 nimmt das Hebräische in Hofshteyns Schaffen einen wichtigen Platz ein (s.  Podryatshik 1987: 34–37). Die ideologisch bedingte Verstümmelung seiner Lyrik stimmt mit dem Wissen, wie sehr Hebraismen diese ästhetisch bereichern, besonders traurig.

172  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild und ein stärker syllabotonischer Fluss strukturieren den Text, ohne jedoch seinen modernistischen Tenor, der am Ende des Gedichts die von Gott autonome Stellung des Subjekts unterstreicht, komplett abzulösen.493 Die Gattung diktiert dieses andere lyrische Intonieren: In Kinder-shprukh erreicht nach den beiden narrativ ausgerichteten Poemen Ukrayne und In faln die elegische Grundstimmung des gesamten modernen Klageliedes ihren Höhepunkt. In Vider roysh fun reder git tsu visn ... (Wieder gemahnt uns das Rauschen der Räder ...; 1922: XX), dem nächsten Gedicht des Zyklus, wird das Thema das Unterwegsseins aus Ukrayne aufgegriffen. Das Unbehaustsein, schmerzhaft erlebt beim Gang durch ukrainische Häuserruinen im darauf folgenden Keyn dakh, keyn vent – un shveln umetum ... (Kein Dach, keine Dächer – und Schwellen ringsumher; 1922: XXI) oder über russische Felder (Gefaln in vovltog [sic! Gemeint ist „voyltog“] fun velt/Gefallen in der Pracht der Welt; 1922: XXII), weitet sich zum Unbehaustsein in der ganzen Welt. Hofshteyn setzt unter Keyn dakh, keyn vent  – un shveln umetum ... die Angabe: „Zhitomir – Radomysl 1921“. Doch ist das Poem hier – anders als in der späteren Ausgabe von 1977 – keineswegs zu Ende: Auf Gefaln in vovltog fun velt folgt Ver shtoybt mikh mit opshaf in vunk? (Wer will da Vernichtung auf mich stäuben?; 1922: XXIII).494 Auch setzt sich hier die klassische Ordnung des strophischen Prinzips fort, das uns bereits aus den Eingangsgedichten (Amol, amol ... und Zun-fargang) vertraut ist und seit Keyn dakh, keyn vent wieder die Gedichtstruktur dominiert. In diesem ‚Postskriptum‘ schimmert trotz der Entbehrungen und Verluste, die willkürlich über die Juden hereinbrechen, noch die Hoffnung durch, dass die Menschen auf eine höhere Macht vertrauen können.

Chagalls Illustrationen im Text-Bild-Vergleich Hofshteyn intoniert auf vielfältige Weise das Lied des Leides. Neben der ästhetischen Spannung, die Tradition und Moderne nebeneinander und gegeneinander stellt, spricht aus Troyer 493 Angelika Corbineau-Hoffmann untersucht in ihrem lesenswerten Beitrag zur Sprachgewalt moderner Lyrik, wie das Wort in Futurismus und Expressionismus zunehmend aus der syntagmatischen Ordnung zugunsten des – asyntaktischen – Paradigmatischen herausgelöst wird. Gewalt tritt damit nicht nur thematisch, sondern auch als radikale Veränderung der Sprachstrukturen in Erscheinung (2000: 191– 228). Hofshteyns expressionistischer Zyklus weist streckenweise ähnliche Tendenzen auf, wie sie in der deutschen, französischen, italienischen oder russischen Lyrik des Futurismus und Expressionismus zu beobachten sind. 494 Das ursprünglich zweistrophige Gedicht Ver shtoybt mikh ... geht in der späteren Bearbeitung mit dem Titel Shtam dreistrophig als vorletzter Text in den Zyklus ein. Aufgrund der rahmenden Position und ähnlichen Struktur des daktylischen Shtam und des jambischen Amol, amol ... – sie bestehen aus drei Strophen mit je vier Zeilen, aus Kreuzreim mit männlichem und weiblichem Reim im Wechsel – treten die beiden Texte in der überarbeiteten Fassung in Beziehung zueinander. Auch durch die dreifache Anapher von „ver“ (Wer?) in der zweiten Strophe – in der Erstfassung ist es die erste – stellt Hofshteyn eine Verbindung zum Widmungsgedicht an Esenin Amol, amol ... her: Hier werden ebenfalls in der zweiten Strophe anaphorisch die ersten drei Zeilen eingeleitet („nor“/ „nur“). Im späteren Gedicht fragt das lyrische Ich also nach dem ‚Täter‘, der die im früheren Gedicht skizzierte Idylle zerstört, in der nur friedfertige Tiere leben (s. 1977a: 87 und 105).

Marc Chagall und Dovid Hofshteyn  | 173 das hohe Ethos seiner Dichtung (s. Podryatshik 1988: 21). Hofshteyn begegnet der Hässlichkeit von Pogromen, Vernichtung und Tod mit erhabener Lyrik. Elf Mal variiert er den Tenor der Trauer. Elf Mal betont er die Tragweite der Tragik. Was erwartet uns bei Chagalls Illu­ strationen zu Troyer? Ukrainische Trümmerlandschaften? Trauernde Juden? Chagall zeigt uns im Bild keineswegs das, was uns – vordergründig – am Text auffällt. Der manifesten Trauer der Texte antwortet er mit der latenten Komik seiner Bilder. Wie kommt es zu einem derartigen ästhetischen Bruch zwischen Text und Bild? Und wo liegen die verborgenen Verbindungslinien zwischen Text und Bild, die ihn rechtfertigen? Dies sind komplexe Fragen, deren Beantwortung eine knappe Darstellung der Verteilung und ästhetischen Gestaltung der Bilder im Gedichtzyklus verlangt. Bereits der Ort und die Faktur der Illustrationen im Text sind bedeutsam, um die spezifische Intermedialität zu klären, die zwischen Hofshteyns Gedichten und Chagalls Zeichnungen herrscht.

Der Ort der Illustrationen in Troyer Außer dem Umschlag und dem Titelblatt (s. Abb. 38) entwirft Chagall für den Gedichtzyklus insgesamt fünf Tuschezeichnungen auf Velinpapier. Mit diesen Zeichnungen, die er dem Text an die Seite stellt, setzt er bewusst (Bedeutungs-)Akzente. Das Deckblatt zeigt einen zentral platzierten, durch schwarze und weiße Flächen strukturierten Körper. Auf dem Körper sitzen zwei Köpfe. Dovid Hofshteyns Kopf ist oben, der von Marc Chagall – seltsam gesichtslos – darunter. Zwei in die jeweils entgegen gesetzte Blickrichtung weisende geometrisierte Schriftzüge nennen explizit die Namen der wort- und bildkünstlerischen Urheber. Diagonal über den hybriden Maler-Dichter-Körper hinweg ist in roten Lettern der Titel des Poems, „Troyer“, zu lesen (s. auch Harshav 2004: 303). Der darunter gezogene dünne, diagonal abfallende Strich  – ein Schwert? eine parodistische Inversion von Malevičs aufsteigenden suprematistischen Diagonalkompositionen? das orthodoxe Andreaskreuz, mit dem auf die Konfession der Täter verwiesen wird (vgl. Wolitz 1995: 100)? – durchbohrt den Künstlerkörper.495 Dass Chagall mit dieser Gestaltung des Zyklus zum ukrainischen Pogromjahr 1919 den Bogen zum Massaker in Kišinëv von 1903 spannt, wird noch zu zeigen sein (s. Kap. 8.4). Im Titelblatt taucht der Titel des Pogrom-Poems in derselben Gestaltung auf wie auf dem Umschlag, allerding ohne den zweiköpfigen Körper; auch firmiert hier alleinig Dovid Hofshteyns Name als Verfasser des Gedichtzyklus.496 Umschlag und Titelblatt liefern in ihrer Kombination von Schrift(bedeutung) und Bild die synchrone Exposition der sich im Anschluss wort- und bildkünstlerisch nach und nach entfaltenden Hauptmotive Tod, Gewalt und Trauer (Wolitz 1995: 98). 495 Ziva Amishai-Maisels erkennt in der Umschlaggestaltung eine Ähnlichkeit zu George Grosz (1990: 69). 496 Seth Wolitz, dessen Aufsatz „Chagall’s Last Soviet Performance: The Graphics for Troyer“ als Pionierleistung zu werten ist, liefert eine detaillierte Analyse von Umschlag- und Deckblattgestaltung (1995: 98–102). Der vorliegende Beitrag versucht hieran anzuknüpfen und Wolitz’ inhaltliche Berücksichtigung von Hofshteyns Text um dessen innovative Poetik als ebenbürtigen Faktor für die Genese der Illustrationen zu ergänzen.

174  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Mit dem Prinzip des Doppelportraits auf dem Umschlag ‚formuliert‘ Chagall sein ästhetisches Programm des Illustrierens. Chagall erscheint als gleichrangiger Mitgestalter des intermedialen Projekts, das in der Literatur seinen Ursprung hat. Simultan präsentiert er wort- und bildkünstlerisches Schaffen, das realiter sukzessiv von statten geht.497 Die Ebenbürtigkeit von Text und Bild zeigt sich nicht nur in der gleichzeitigen Präsenz des Dichters und des Malers, sondern auch im Ineinander von Schrift und Bild: Der Titel ist mit pikturalen Elementen angereichert. Im ersten „Reysh“ (‫)ר‬  – Anfangskonsonant der hebräischstammigen Wörter „rishes“ (Bösartigkeit; auch: Judenfeindlichkeit) oder „roshe“ (Bösewicht; s. Wolitz 1995: 100) – ist ein Fuchs zu sehen, der im Poem eine wichtige Rolle spielt. Laut Seth Wolitz könnte Chagall auch auf Ezechiel 13,4 angespielt haben: „Wie Füchse in Trümmern, deine Künder, Jisraels, sinds geworden!“ (Ü: Buber/Rosenzweig; ebd. vgl. auch Klagelieder 5,15f.) In das zweite „Reysh“, das Chagall umkehrt und damit in ein Schofarhorn verwandelt, setzt er einen Pferdewagen und einen Menschen, die sich auf ein Haus zubewegen.498

497 Ganz ähnlich verfährt Chagall in der zwischen 1923 und 1925 entstandenen Illustration Gogol und Chagall zu Gogol’s Mërtvye duši (Die toten Seelen, 1842): Auch hier erscheint der Maler mit Pinsel und Palette ‚auf Augenhöhe‘ mit dem Autor, den die Insignien Papier, Tinte und Feder als solchen ausweisen. Die beiden Künstler verschmelzen zwar in dieser Abbildung nicht zu einem Körper, wie dies bei Troyer der Fall ist. Doch ‚berühren‘ sich die Künstlerkörper semantisch; der Bildkünstler kopiert in Körper- und Kopfhaltung den Wortkünstler (s. Chagall 1999: 124f.). Diese Ikonographie führt zum Titelblatt von Moyshe Brodersons Sikhes Khulin (Banalitäten, 1917). Der Illustrator Lisickij vereint im ersten (!) säkularen illustrierten jiddischen Buch (Wolitz 1995: 95) unter den Flügeln des Engels der Inspiration, der sich auch bei Chagall findet, eine Personifizierung der Malerei und diejenige der jüdischen, primär religiösen Buchtradition. Einem hoch gewachsenen, bärtigen Mann mit Palette gegenüber steht eine ebenfalls bärtige Figur mit einer Schriftrolle in der Hand. Unten, gewissermaßen als Synthese zwischen diesen Antipoden, sieht man den modernen, bartlosen Schriftsteller der neuen, emanzipierten jiddischen Literatur, vielleicht Broderson selbst, bei Kerzenschein in ein Buch schreiben (Abb. s. Kazovsky 2003: 72). 498 Der Prophet Ezechiel spielt auch in Markishs Di kupe eine wichtige Rolle (s. Dobzynski 2000: 20). Mit dem Einsatz des Schofarhorns ruft Chagall wirkmächtige religiöse Assoziationen auf. Der Schofar, gefertigt aus dem Horn eines Widders oder einer Antilope, erklingt im Monat Elul (August/September), also einen Monat vor Neujahr, täglich außer am Sabbat und am Neujahrstag (Kolatch 2005: 268– 270). Rosch-ha-Schana ist der Tag des Gedenkens. Ein lang gezogener Schofarton beendet den darauf folgenden Jom Kippur, den Tag der Versöhnung. Auch in diesem rituellen Kontext verweist das Schofarhorn auf Abrahams Bereitschaft, Isaak zu opfern (Gen 22, 1–19; s. Kap. 12). Die Theodizee, die angesichts dieser Reminiszenz an das Menschenopfer anklingt, wird vertieft durch das Hauptgebet, das am Neujahrstag ertönt: „... und Gewalttätigkeit wird ihren Mund schließen und alle Gesetzlosigkeit ganz wie Hauch vergehen, wenn du die Herrschaft der Willkür von der Erde entfernst.“ (zit. nach de Vries 102006: 84)

Marc Chagall und Dovid Hofshteyn  | 175

Marc Chagall: Illustration zu Troyer von Dovid Hofshteyn, 1922. © VG Bild-Kunst,

Bonn 2012.

Nach der Illustration des Leitmottos für den gesamten Zyklus „Ikh mon nit, ikh freg nor“ (Ich mahne nicht, ich frage nur ..., Abb. 44) – sie zeigt ein Kindergesicht – ist das fünfte Gedicht Zun-fargang mit einer Zeichnung versehen: Es zeigt in der Horizontalen einen Kinderfriedhof, dem sich im Bildzentrum ein händeringender Mensch-Ding-Zwitter entgegen reckt (Abb. 40; Harshav 2003: 304). Wie bereits bei Chagalls Zeichnung zu Peretsens Der kuntsn-makher (s. Kap. 5) oder wie in Gustav Meyrinks Der Golem (1915) gleicht der hier deformierte Menschenkörper dem Buchstaben Aleph, mit all seinen kabbalistischen Implikationen.499 Das folgende Poem In faln stattet Chagall mit zwei Illustrationen aus. Die erste Tuschezeichnung zeigt Hunde und einen Abort. Die Frivolität des Bildes wird durch ein kopulierendes Hundepaar und eine verkehrt herum gezeichnete Gestalt mit heruntergelassenen Hosen, die nach ihrem Hinterteil greift, augenfällig (Abb. 41).500 Die zweite Zeichnung zeigt einen Mann mit Gewehr und einen Fuchs (Abb. 42). Doch wie das Bild betrachten? Belässt man es in der Position, wie es üblicherweise abgedruckt ist, sieht man einen Männerkörper mit erhobener Hand und einem Gewehr, dessen Kolben nach unten zeigt. Dreht man jedoch das Bild um 180 Grad, so sieht man einen Schützen auf dem Boden liegen, dem seine Beute, der Fuchs, über die Wange läuft.

499 Für den Hinweis auf Gustav Meyrink danke ich Holger Nath. 500 Benjamin Harshav assoziiert die Darstellung mit einer menstruierenden Frau (vgl. 2003: 307 und 2006a: 122–126).

176  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild

Marc Chagall: Illustration zu Troyer von Dovid Hofshteyn, 1922. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Marc Chagall: Mann mit Gewehr. Illustration für Troyer, 1920. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Unangetastet lässt Chagall das nächste Zentralpoem Kinder-shprukh. Erst das neunte Ge­­ dicht Keyn dakh, keyn vent ... sieht man um die letzte Illustration ergänzt. Es sind hier nicht Majakovskijs Oblaka v štanach (Wolken in Hosen), sondern Häuser in Hosen (Abb. 43). Chagall realisiert hier – wie so oft – ein Sprachbild: Die Illustration setzt die jiddische Redewendung „di shtot geyt“ (die Stadt geht/ist auf den Beinen) visuell um, will heißen: „Der gesamte Ort ist auf der Flucht“ (Harshav 1992: 76, 2006a: 122; vgl. Kap. 5). Die erste und die letzte Tuschezeichnung bilden eine Art ‚Bilder’-Rahmen zum Zyklus: Zeigt die erste Illustration mit der Inschrift „Ale far der tsayt farshnitene“ (Denen gewidmet, die vor der Zeit getötet wurden) einen Kopf mit einem Haus, so sieht man komplementär dazu bei der letzten Beine mit Häusern.501 Der chiastische Mensch-Ding-Bezug stellt hier eine enge ästhetische Verbindung her, die durch eine weitere, inhaltliche  – beide Bilder thematisieren Vertreibung – gestützt wird.

501 Bis zu Harshavs Korrektur (1992: 87) wurde fälschlicherweise als Titel „Denen gewidmet, die vor der Zeit aufbrachen“ (s. Kamenski 1989: 261) angegeben.

Marc Chagall und Dovid Hofshteyn  | 177

Marc Chagall: Das Dorf setzt sich in Bewegung. Illustration für Troyer, 1920. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Illustrieren als Aisthesis der Poetik Chagalls Illustrationen sind durch eine klare ästhetische Linie verbunden. Lakonischer Kontrast äußert sich bereits im Material und in der minimalistischen Ästhetik: Mit Tusche zeichnet Chagall auf Papier, Schwarz kontrastiert er mit Weiß, die Fläche mit der Linie, die Geometrie mit der natürlichen Form. Und: Ikonische Ausdrucksmittel sind in allen Illustrationen mit graphischen kombiniert. Chagall zitiert – ganz konkret – Dovid Hofshteyn, der wiederum andere – literarische – Texte anführt. Intertextualität in Wort und Bild – für die Intermedialität zwischen Hofshteyns Gedichtzyklus Troyer und Chagalls Illustrationen ist sie ein wichtiger Schlüssel.502 Chagalls intertextuell-intermedialer Umgang mit Hofshteyns Prätext beschränkt sich nicht auf die Ebene der Textsemantik. Chagall vollzieht in Bezug auf den Text etwas, was für die russische Avantgarde gerade aus dem Umkreis des für Chagall wichtigen Neoprimitivismus und des stark intermedialen Kubofuturismus in Literatur (Kručenych) und Malerei (der frühe Malevič) symptomatisch war (s. Hansen-Löve 2006: 57): die „ustanovka na fakturu“ 502 Auf eine erschöpfende Darstellung der je nach Medium anders gearteten Intertextualität zwischen literarischem respektive bildkünstlerischem Phänotext und Prätext muss hier verzichtet werden. Für Hofshteyn sind insbesondere die Tradition der Pogrom-Literatur und die Werke der Kiever Gruppe relevant.

178  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild (Einstellung auf die Faktur; Viktor Šklovskij).503 Chagall fokussiert wie bereits in seinen Illustrationen zu Perets Der kuntsn-makher das zugrunde liegende – jiddische – Wortmaterial, das Hofshteyn formal-ästhetisch in die spezifisch lyrische Textfaktur umgewandelt hat. Chagalls künstlerisches Bewusstsein ist für die lautlich-rhetorisch-metaphorische Seite des Textes sehr empfänglich. Er semiotisiert das Basismaterial, nämlich die Faktur des Textes, seine Laut- und vor allem Bildlichkeit  – und übersetzt diese in seine wiederum stark fakturierten Zeichnungen. Damit vollzieht er in erster Linie eine Aisthesis der Poetik: Die Signifikantenebene des literarischen Textes wird als visueller Signifikant realisiert. Das heißt nicht, dass ihn die Tiefenschichten des Textes, die beispielsweise die französischen Surrealisten so sehr faszinierten, nicht interessierten. Aus der Verknüpfung von Textsemantik und  – semiotisierter – Textfaktur sowie deren Übersetzung ins visuelle Medium der Zeichnung entsteht ein neuer, ‚dritter‘ Bedeutungsraum. Im Bild wird eine ethoästhetische Spannung erzeugt, die auf das große, als Tiefenbedeutung mitschwingende Thema des Hofshteyn’schen Zyklus, die Theodizee, antwortet. Der Künstler selektiert für die Illustrationen das Verfahren des Kontrasts, das bereits Hof­ shteyns Text makro- und mikrostrukturell organisiert. Das oxymorale „oazisn fun mayne khurbes“ (Oasen meiner Trümmer; 1922: VII) aus Ukrayne bildet die kleinste poetische Einheit kontrastiver Gespanntheit. Antithetisch zueinander stehen auch Verszeilen („on shabes/ un on zuntik“; ohne Sabbat / ohne Sonntag) – hier werden der jüdische und der christlich-orthodoxe Tag des Herrn gegenübergestellt – und ganze Strophen (vgl. die ‚idyllischen‘ zwei Strophen und die katastrophische vierte Strophe aus Amol, amol ...). Der inhärente semantische (oder aber zeitliche) Gegensatz impliziert zumeist auch einen realen ostjüdischen: Vertreibung statt Heimstatt, Tod statt Fortbestehen. Chagall arbeitet insbesondere mit dem Potenzial der Metapher, die von der Spannung zweier Bedeutungsfelder lebt. Wie entstehen nun aus metaphorischen Textkontrasten ikonische Differenzen? Mehrfach im Text greift Hofshteyn auf anthropomorphisierende Metaphern zurück. Vermenschlicht wird der Ort der Untaten, die Ukraine. Das ukrainische Volk wird in anthropomorpher Anatomie präsentiert: „di brust / fun dayne mengen“ (die Brust deiner Menschenmengen; 1922: VII) trägt ständig die Bereitschaft in sich, „di vilde hent tsehoyden“ (die wilden Hände zu schwingen), um dann auf einen (jüdischen) Kopf niederzusausen (ebd.). Zentral ist diese Körpermetaphorik auch in Bezug auf das lyrische Ich: Als es die Spuren von Gewalt und Zerstörung vom Zugfenster aus erblickt, zittert ihm nicht nur das Herz. Auch die Wände der schäbigen, schmutzigen Zugwaggons zittern „in aynem mit di zaytlekh / fun mayn ufgevakhtn harts“ (im Einklang mit den Seiten / meines aufgewachten Herzens; S. VII). Hofshteyn verknüpft in diesem komplexen poetischen Bild die Anthropomorphisierung des Objekts (der Waggon zittert) mit der Verdinglichung von Anthropomorphem (das Herz hat zitternde Seiten). 503 S. hierzu Hansen-Löve 2006: 47–96. Das Artefakt, an dem sich die Dominanz der Faktur ideal demonstrieren lässt, ist die Collage als „einer der Gründungsakte der Kunst des 20. Jahrhunderts“ (Lüthy 2006: 163).

Marc Chagall und Dovid Hofshteyn  | 179 Diese doppelte Überschreitung der Grenze zwischen Mensch und Ding setzt Hofshteyn sogleich fort: Un unter vaklendike pleytses shteyt yung-geboygn, mit varemkeyt in kindersh reyne oygn, di alte-alte tayne: [...] und unter wackelnden Schultern steht jung-gebogen, mit Wärme in kindlich reinen Augen, die alte, alte Klage: [...] (S. VII)

Die ewige Frage danach, was die Träne eines unschuldigen Kindes aufwiegen könne, wird selbst als Kind präsentiert und dank des Kontrasts zwischen alt und jung vertieft. Diese personifizierte Klagemetapher in Hofshteyns Gedicht mag der reale Anblick eines Kindes zwischen Ruinen ausgelöst haben. In einem tieferen Sinne bringt die Verknüpfung von Mensch und Ding die Verwurzelung des jüdischen Dichters mit seiner Heimat und zugleich den Schmerz angesichts der Entwurzelung zum Ausdruck. Die  – zunächst poetische  – Vermenschlichung der Dinge angesichts der realen Entmensch­­­lichung der Welt ist auch für Chagalls Illustrationen konstitutiv.504 Alle Zeichnungen zum Zyklus weisen eine Verknüpfung von Mensch und Objekt auf! In den Abbildungen vier und fünf stehen Mensch und Objekt jeweils als Entitäten nebeneinander (der Abort und die auf dem Kopf stehende Frau, der Jäger mit dem umgekehrt aufgesetzten Kopf und sein Gewehr). In den übrigen Zeichnungen, das Titelblatt eingerechnet, ist die Grenze zwischen Mensch und Gegenstand aufgehoben. Besonders auffällig ist dies in der Illustration zu Zunfargang: Zwei schräg aneinander gesetzte Rechtecke – beide sind mit einem handschriftlichen Auszug aus dem Gedicht versehen – werden mit den Armen und Beinen eines Menschen kombiniert. Die Beine stehen im unteren, weißen Rechteck und ragen in den Schriftzug „shvimt, vi roykh, fun unter mayne fis“ (schwimmt, wie Rauch, unter meinen Füßen hervor) hinein. Hinter dem oberen, schwarzen Rechteck hervor ringt jemand die Hände – ganz dem Text entsprechend, der im Rechteck wiederholt wird.505 Der hybride Ding-Mensch betrauert 504 Zur anthropomorphisierten Metapher in Chagalls Autobiographie s. Kap. 3. 505 Die beiden Rechtecke rufen, wie die Verwendung der Diagonalen, den Suprematismus auf, mit dem sich Chagall in einigen Bildern (s. Kap. 5) sowie in seinen Wandmalereien und Bühnenbildern am GosET in Moskau auseinandersetzt (vgl. Amishai-Maisels 1995: 63). Chagall schreibt in das obere Rechteck: „iz do bayt fun tsayt/ nor far vos farbrekhn zikh di hent.“ (gibt es eine Änderung der Zeit/ doch weshalb ringt man die Hände). Er hinterfragt Hofshteyns Ur-Text, ihn modifizierend und gleichsam kommentierend: „fest vi velt iz do di bayt fun tsaytn / nor far vos farbrekhn zikh di hent.“ (so fest wie die Erde ist es, dass sich die Zeiten ändern/doch weshalb ringt man die Hände?“ (Wolitz 1995: 104)

180  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild verstorbene Kinder – vor der Zeit verstorbene Kinder, denkt man an die erste Illustration zurück –, denen in aneinander gereihten Grabsteinen ein Denkmal gesetzt ist: Im rechten Grabstein ist jiddisch „kinder“ (Kinder) zu lesen. Das Verfahren, mit poetischen Mitteln die Grenze zwischen Mensch und Ding, Subjekt und Objekt aufzuheben, ist ein Wesensmerkmal des russischen Dramen- und Prosaautors Nikolaj Gogol’ (1809–1852). Die dadurch erzielte Groteske will ein kathartisches Lachen unter Tränen hervorrufen.506 Diese ästhetische Grundeinstellung Gogol’s, das Tragische mit dem Komischen – etwa durch anthropomorphisierende Metaphern – zu koppeln, ist für Chagalls Gestaltungsprinzipien nicht zu unterschätzen. Der  – oft groteske  – Bruch, das alogische Nebeneinander des Unvereinbaren ist Teil des Gogol’schen wie Chagall’schen Künstleruniversums (s. Kap 11). In Chagalls Illustrationen zu Troyer ist die Dialektik von Anthropomorphisierung und Verdinglichung eine ästhetische Leitkategorie. Sie fängt komisch-grotesk ebenso die sich auf der Signifikantenebene manifestierende Poetik ein wie die latente Tiefenschicht der Trauer ob der Tatsache, dass die ostjüdische Heimat zerstört und dem Einzelnen entrissen ist. Die mit den visuellen Gestaltungsmitteln der Zeichnung erzeugten Gegensätze (zwischen Schwarz und Weiß, Linie und Fläche etc.) antworten den verschiedenen Formen poetischer Kontrastierung (Oxymoron, Antithetik etc.). In der Illustration zu Zun-fargang ist die Antithetik von wärmenden Sonnenstrahlen und „kalte erd mit al ire rostn“ (kalter Erde mit all ihrem Rost; 1922: XI) ebenso gebündelt wie diejenige von Licht und Schatten (vgl. Kinder-shprukh und die bereits zitierten „Schatten der Schande“ aus Ukrayne).507 Diese visuellen und verbalen Kontraste treten in einen Dialog. Der intermediale TextBild-Bezug basiert sowohl auf inhaltlich-semantischen als auch auf formal-strukturellen Äquivalenzen. Wo der Dichter dadurch die Tragik seines Trauerzyklus’ verstärkt, erzeugt der Graphiker eine – ambivalente – Komik. Doch nicht nur die durch starke Kontrastierung von Weiß und Schwarz gestützte Kombination von Mensch und Ding verbindet Gedichte und Zeichnungen. Auch die Übernahme von Verszeilen oder -fragmenten in jede einzelne Illustration trägt dazu bei.

Schriftspuren im Bild Immer wieder unterläuft die russische oder jüdische Volkskultur die Trennung von Schrift und Bild. Die Wechselbeziehung von Bild und Text ist fester Bestandteil der russischen Ikone und des russischen Volksbilderbogens, des Lubok (s. hierzu Kap. 6). Nicht wegzudenken ist sie auch aus der jüdischen Illuminationskunst und (religiösen) Volkskunst (Lubki, Laden506 Gogol’ formuliert dieses einer tiefen Religiosität und Ethik entspringende Postulat 1846 in seiner Razvjazka Revizora (Die Lösung des ‚Revizor‘ ), einer Metareflexion zu seiner Komödie Revizor (Der Revisor, 1836) in Dramenform (1951 Bd. 4: 121–137). Im berühmten siebten Kapitels des ersten Teils der Mërtvye duši (Die toten Seelen), macht der Erzähler dieses Nebeneinander von Lachen und Weinen zum Ausgangspunkt seines Schaffens (1951 Bd. 6: 133–154). 507 Dieses Spiel von Licht und Schatten aus Kinder-shprukh kehrt im Schwarz-Weiß-Kontrast des Hauses in der ersten Illustration wieder.

Marc Chagall und Dovid Hofshteyn  | 181 schilder, Plakate, Misrachim, also nach Osten hin aufgehängte Wandbehänge, um die Gebetsrichtung anzuzeigen, etc.). Die Intermedialität von Schrift und Bild ist zudem ein zentrales Wesensmerkmal der russischen und der jüdischen Avantgarde.508 Durch den Rückgriff auf eine primitivistische, kubofuturistische oder konstruktivistische Formensprache wird die Tradition des Miteinander von Schrift und Bild zu Beginn des 20. Jahrhunderts dynamisiert und radikalisiert. Was dank des regen Text-Bild-Geschehens der jüdischen Kulturrenaissance ihren ästhetischen Stempel aufdrückt, ist von Anfang an wesentlicher Bestandteil von Chagalls künstlerischem Programm: Zahlreiche kyrillische, hebräische und/oder jiddische Inschriften zieren seine Bilder und übernehmen dort eine wichtige semantische wie ästhetische Funktion. Dieses Interpolieren von Graphemen ins Bild wird Chagall bis in seine letzten Schaffensjahre, beispielsweise bei der Gestaltung der Glasfenster der Synagoge in der Hadassah-Universitätsklinik in Jerusalem (1962), begleiten. Das Hereinnehmen von Graphemen ins Bild, wie Chagall es im Falle von Troyer praktiziert, steht in unmittelbarer Nachbarschaft zu den dem Hofshteyn-Zyklus vorausgehenden und ihm unmittelbar folgenden Illustrationen: Die ähnlich primitivistischen Zeichnungen zu den beiden Märchen von Der Nister in A mayse mit a hon un a tsigele und Perets’ Erzählung Der kuntsn-makher koppeln Bild und Buchstabe. Konstruktivistisch ist Chagalls Ausgestaltung des Titelblatts zu Shtrom (Strom, 1922, Heft 1): Hier ordnet er die Buchstaben in einer steilen Diagonale, als wolle er – wie so oft – die Wortsemantik, hier diejenige von „Shtrom“ (Strom, Fluss), visualisieren. Wie schon bei Troyer, doch diesmal weitaus fröhlicher, kombiniert er Mensch und Buchstabe (s. Kazovsky 2003: 84).509 Was ist die Funktion der Grapheme in den Zeichnungen zu Troyer? Wie gliedern sich die Buchstaben in das jeweilige Bildthema und in die Komposition der Illustrationen ein? Welche Funktion übernimmt die Übersetzung lyrischer Einzelaussagen in dem anderen, nun visuellen Gestaltungskontext der Bilder? Die von Chagall ausgewählten Fragmente aus den einzelnen Gedichten sind unter primär formalem Gesichtspunkt Teil der Bildgeometrisierung. Wird im einen Fall durch den Schriftzug die Horizontale betont (Ill. 1 und 5), so ist es im anderen Fall die Diagonale (Ill. 2, 3 und 4). Die Untergliederung der Bildfläche auch durch Lettern macht diese zu einem wichtigen Strukturelement der Illustration. Ob als Druckschrift (Ill. 4 und 5) oder als Schreibschrift (Ill. 1, 2 und 3) eingefügt, treten die Buchstaben in Kontrast zu Fläche, 508 Das 1913/14 entstandene Gemälde Angličanin v Moskve (Ein Engländer in Moskau) des frühen Malevič ist ein Paradebeispiel dafür (s. Ingold 2004: 243–263). Gerade die Graphomanie und der Buchkult der Futuristen, die ganz unmetaphysisch das von Hand Gemachte (rukotvornyj) des Buches und die Individualität der Handschrift, das „samopis’mo“ (etwa Malevičs, s. Hansen-Löve 2006: 60–65), betonen, machen der später von Walter Benjamin ins Feld geführten Aura des Kunstwerkes alle Ehre. Innerhalb der jüdischen Kulturrenaissance geben zahlreiche Veröffentlichungen in den damaligen Kulturzentren Warschau, Vilnius, Kiev und Łódź Aufschluss über das Spielen mit der ästhetischen Gestaltung von Graphemen im Bild und als Bild (s. Kazovsky 2003, Szymaniak 2005). 509 Gerade durch die ästhetische Gestaltung der Grapheme stellt Chagall den Bezug zur Bibel her: Häufig sind die Bänder, die um den Toramantel gewunden sind, mit Buchstaben verziert; Shtrom wird durch diesen ikonographischen Rückgriff auf die Tora ästhetisch als ‚Bibel der Kulturrenaissance‘ markiert (Kazovsky 2003: 84). Zu Shtrom s. Shneer 2004: 145–153 und Estraikh 2008 Bd. 2: 1741–1742.

182  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Schraffur und Linie.510 Im ‚lesbaren‘ Kontext der zeichnerischen Bildausstattung, die durch die Kombination von Mensch und Ding bereits ambivalent ist, irritieren die jiddischen Schriftzeichen in ihrer optischen Besonderheit, ihrer Kleinheit und Geschwungenheit. Bereits auf der formal-ästhetischen Ebene zeichnet sich eine Inkompatibilität des Graphischen mit dem Graphemischen ab. Das ästhetische Spannungsverhältnis von Harmonie und Dissonanz zwischen Bild und Buchstabe wird radikalisiert, wenn die Bedeutung der Textfragmente hinzutritt. Was in der vierten Illustration, die das Kopulieren der Hunde und heruntergelassene Hosen ungeniert zeigt, wie die Andeutung von Rasenbüscheln aussieht, heiteres Ornament des Obszönen, entpuppt sich als tödliche Botschaft: „A shnirele blut tropns hele un reyne“ (Eine Linie aus Bluttropfen, hell und rein). Leben – eingedenk seiner Zukunftsdimension als Fortsetzung (Kopulation) – und Tod sind so kopräsent.511 Parallel zum Text schafft Chagall mit dieser Tuschezeichnung ein Erinnerungsbild an die Kindheit, das um den Tod kreist. Abweichend vom Text kreiert er ein Bild des Lebens. In diesem Tabubruch, den sein frivoles Fortpflanzungsbild darstellt, ist Chagall, der bei seinen Bildthemen häufig aus seinem persönlichen Erinnerungsschatz schöpft, am gegenwärtigsten.512 Ein weiterer Blick auf die Illustrationen 1 und 4 offenbart eine thematische Äquivalenz der von Chagall ausgewählten Gedichtfragmente: Auch in Ale far der tsayt farshnitene (Denen gewidmet, die vor der Zeit getötet wurden) und Gedenkstu vi es shtarbt aza fiksl (Erinnerst Du Dich, wie ein solches Füchslein starb) wird der Tod angesprochen. Neben dieser inhaltlichen Todesreferenz von Bildtext und Bildthema lässt die Sinnreferenz durch das Verbalisieren von Trauer im Titelbild sowie in den Illustrationen 2 und 5 den Tod als Subtext mitschwingen.513 Auch sie trägt zur engen semantischen Verbundenheit von Text und Bild bei. Als sich das lyrische Ich beispielsweise in Keyn dakh, keyn vent – un shveln umetum ... mit den Trümmern jüdischen Lebens konfrontiert sieht – zum zweiten Mal in Troyer fällt der Begriff „khurbes“ (Ruinen), etymologisch eng verwandt mit „khurbn“ (wörtl: Zerstörung), Inbegriff für die Zerstörung der beiden Tempel in Jerusalem und später für die Schoa –, weist es die Reinheit eines klaren Herbsttages zurück. Das Gottesgeschenk der (unschuldigen) Natur wiegt die von Krieg und Vernichtung verschuldete Auslöschung der Ostjuden nicht auf (S. XXI): Vos toyg zi mir, di loyterkayt di klore, vos oykh in shpaltn khurveshe farrint, un vos tsetrogn vet fun bitere askores mayn zeyer (dervayl der eyntsiker) – der vint! 510 Das Titelblatt vereint beide Schriftbilder. 511 Chagall visualisiert auch hier das Sprachbild: Das „shnirele“ (Schnürchen) tritt als Linie im Bild und damit als Tautologie zum Wortinhalt auf. 512 Obszönes – beispielsweise urinierende und defäkierende Männer – ist in viele andere Bilder Chagalls eingewoben (s. hierzu auch Kap. 4 und 11). 513 Bei der (partiellen oder totalen) Inhaltsreferenz ist ein Bezug zwischen Bildtext und Bilddarstellung hergestellt; bei der Sinnreferenz „bezieht sich der Text nicht auf die ideographisch dargestellten Inhalte, sondern lediglich auf deren Sinn“ (Koschmal 1989: 5).

Marc Chagall und Dovid Hofshteyn  | 183 Wozu taugt sie mir, die Lauterkeit die klare, die auch in Trümmerspalten verrinnt, und dass verstreut wird von bitteren Trauerzeremonien mein Säer (momentan der Einzige) – der Wind!

Dieser Verzweiflungsschrei des lyrischen Ich inmitten von Ruinen wird von Chagall visualisiert: Eine Figur ruft die Zeile „vos darf ikh zi di loyterkayt di klore“ (Was brauche ich sie, die klare Lauterkeit?) aus dem Fenster eines Häuser-Mensch-Hybriden ins Nichts der Bildfläche (s. Abb. 43). Es ist dies noch ein Fall, wo Chagall Hofshteyns Text nicht bloß zitiert, sondern semantisch transformiert (s. Fußn. 513; Wolitz 1995: 109). Die Richtung, in welche die Buchstaben weisen, erzeugt eine Spannung zum restlichen Bildinhalt: Insgesamt strebt die Zeichnung nach rechts – der rechte Fuß setzt zu einem Schritt dorthin an, die Häuserreihe ist auf der rechten Seite zu Ende gezeichnet, was an die frühere Unversehrtheit des Heims erinnert.514 Die Grapheme jedoch, begleitet von der Geste der aus dem Fenster blickenden Figur, fliehen nach links, ins Leere. Wie das lyrische Ich im Text ohne Antwort bleibt, findet die Frage, die eigentlich eine Frage der Theodizee ist, keinen visuellen Widerhall. Chagall isoliert einzelne, um Tod und Trauer – also um die Hauptthemen des Gedichts – kreisende Passagen des Wortkunstwerks und stellt sie in einen neuen – jetzt bildkünstlerischen – Bedeutungskontext. Im visuellen Koordinatensystem übernehmen sie als Schriftzeichen eine ästhetische Funktion und tragen so zur gesamten Bildsemantik bei. Als dechiffrierbare Zeichenträger beinhalten sie aber zusätzlich die ihnen eigene – todes- und unheilschwangere – Wortsemantik. Im Leser, jetzt Betrachter, rufen sie im neuen Bild-Kontext den Text-Kontext auf. Der Sinn des literarischen Textes von Dovid Hofshteyn wird auf diese Weise wiederholt und in seinem Gehalt vertieft. Zugleich wird er um neue Bedeutungsebenen des Künstlers Marc Chagall ergänzt. Chagall geht hier weit über eine rein ornamentale Funktion des Buchstabens hinaus. Doch sind die Einzelaussagen nicht nur aufgrund ihres Inhalts von Bedeutung, sondern auch, weil sie auf deren Urheber verweisen: Der Schriftzug in jeder einzelnen Illustration vergegenwärtigt also nicht nur den Sinn, sondern auch die Stimme des Subjekts aus dem Poem, die diesen Sinn erzeugt und artikuliert. Die Funktion der Schrift besteht also primär in der Verdoppelung der lyrischen Stimme. Chagall macht Stimme sichtbar. Die Stimme wird so zum Leitmotiv aller Illustrationen, so paradox das klingen mag. Dem, was verhallt, wird im Bild Dauer verliehen – wie dies Edvard Munch oder Francis Bacon (1909–1992) tun, mit dem Unterschied, dass Chagall nicht dem Akt des Schreiens, sondern dem Inhalt der Verzweiflungsschreie den Vorzug gibt. Die Trauer des lyrischen Ich wird in der grotesken Bildumgebung nur verstärkt. Im Nebeneinander von Schriftkörper und Menschenkörper erinnert Chagall an die untrennbare Verbundenheit von Sein und Sprache  – auch oder gerade wenn er vom Tod spricht.

514 In der unzensierten Fassung hat Chagall den Hybriden mit männlichen Geschlechtsteilen versehen (s. Harshav 2003: 306). In sowjetischen Reproduktionen, aber auch in der Hofshteyn-Werkausgabe ist dieses Detail getilgt.

184  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild

Ethik und Ästhetik im Bild oder: Chagalls Umgang mit Trauer und Tod Das Spiel mit der Doppelfunktion des Sprachzeichens als ästhetischem und semantischem ist konstitutiv für Chagall. Die Spannung, die bei der Decodierung beider Ebenen, der bedeutungstragenden und der zeichenhaften, entsteht, ist hoch. Mit ihr stößt man in eine weitere Sinnebene vor. Im Falle der ersten Illustration wiegt dies besonders schwer, da die Dialektik von Bild und Buchstabe auch die Dialektik von Ethik und Ästhetik in sich birgt. Auf der ersten Illustration des Zyklus, Ale far der tsayt farshnitene, ist ein reichlich naiv gezeichnetes Kindergesicht zu sehen. Geweitete, ausdruckslose Augen starren den Betrachter an. Auf dem Kopf sitzt ein Haus. Vom Haus weg fährt ein leeres Pferdefuhrwerk, auf dem gramgebeugt der Wagenlenker, möglicherweise der Vater des Kindes, sitzt. Chagall antwortet hier auf das Umschlag- und Titelbild, in denen sich, eingepasst im zum Schofar verkehrten „Reysh“ ein Pferdewagen und ein Mensch auf ein Haus zubewegen. Eine Frau – die Mutter des Kindes? – blickt dem Mann durch das Fenster hinterher. Zwischen Augen und Mund platziert Chagall die Widmung: „Ale far der tsayt farshnitene“ (s. Abb. 44).

Marc Chagall: Ale far der tsayt farshnitene. Illustration für Troyer, 1919. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Ein Kindergesicht mit einem Haus auf dem Kopf und ein Pferdegespann: Bildthematisch sind hier zwei zentrale Topoi jüdischen Denkens verknüpft. Der Fuhrmann, ein Zentral­ motiv in Chagalls Schaffen, steht sinnbildlich für das ewige Exil der Juden.515 Auch in der 515 Der Leiterwagen mit vorgespanntem Pferd wird auch in Chagalls späteren Kriegsbildern, die sich dem Zweiten Weltkrieg und der Schoa zuwenden, ebenso als Chiffre für Vertreibung und Exil fungieren.

Marc Chagall und Dovid Hofshteyn  | 185 letzten Illustration des Zyklus wird die Exilsituation der Juden aufgegriffen. Warum verlässt der Mann das Haus? Wird er jemals wiederkehren? Ungewiss ist die Zukunft des Mannes, dessen Weg in das Nichts der leeren Papierfläche führt. Das Exil auf sich nehmen, den „goles trogn“, ist in all seiner Unvorhersehbarkeit fast existenzialistisch – und in seiner Naivität komisch verfremdet – der Graphik eingeschrieben. Neben dem Topos des Exils spielt die Illustration mit einer weiteren wichtigen Denk­­ figur des Judentums. Entschlüsselt werden kann sie allerdings nur im Rückgriff auf die jiddische Sprache. Das Haus auf dem Kopf des Kindes symbolisiert die Erinnerung an dessen Heimat. Das Kind gedenkt seines Zuhauses, hat es – jiddisch – „in seykhl“ (wörtlich: im Verstand), deutsch „im Kopf“.516 Das Bild vom Haus auf dem Kopf kann aber auch bedeuten: das Kind hat ein Zuhause. „Hobn a dakh ibern kop“ (ein Dach über dem Kopf haben), eine Metonymie für das Zuhause, fällt in der Chagall’schen Abbildung in eins mit der Me­­tapher an die Erinnerung daran (s. auch Kap. 5). In der einen visuellen Abbildung entfaltet sich die Ambivalenz zweier gegensätzlicher Sprachbilder, das unversehrte Heim und die (schmerz­­ volle) Erinnerung an dieses Heim, das nach den schrecklichen Pogromen zurückgelassen wird oder gar in Schutt und Asche liegt. Die ambivalente Polysemie der Illustration entsteht also durch die manifeste und latente Präsenz der jiddischen Sprache. Latent ist sie in der Visualisierung der jiddischen Redewendung, manifest in den hebräischen Schriftzeichen. Sie resultiert aber auch aus der – ästhetischen und inhaltlichen – Koppelung von Bild und Schrift. Dadurch sind inhaltlichsprachliche Bezüge eingelagert. Dank dieser Ästhetik, die wesentlich von der Verknüpfung von Sprache, Text und Bild lebt, wird die Illustration zu einer Metaillustration des gesamten Gedichtzyklus. Dank ihrer schwingt eine gewichtige ethisch-eschatologische Komponente mit. Chagall aktualisiert hier nämlich ein Zentralmotiv des Hofshteyn’schen Zyklus: Kinder. Das lyrische Ich thematisiert mehrfach Kinder und Kindheit: In Ukrayne sieht er „kindersh reyne oygn“ (reine Kinderaugen; 1922: VII), in In faln erinnert es sich „on kindershe yorn“ (an die Jahre der Kindheit; XIII). In Kinder-shprukh spielen Kinder „af firekn shayn, vos durkh vareme fentster / tsum dil tsu dem kaltn zikh tulyen ...“ (Sonnenschein in den vier Ecken, der durch warme Fenster / sich an den kalten Flur schmiegt; S. XVIIf.). Und immer wieder fragt das lyrische Ich: „vi veln zey troyern kinder nokh kleyne?“ (Wie werden die jetzt noch kleinen Kinder trauern?; ebd.) Die Unschuld des Kindes und schuldloses Leiden, die den Tenor von Hofshteyns Tristia vorgeben, sind auch im Bild vereint. Das Leiden ist dem Kind hier buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Das Kindergesicht ist durch die Schrift ebenso entstellt wie ostjüdisches Leben durch Vertreibung, Gewalt und Tod. Die Grapheme stören als ästhetische Elemente den komisch-naiven Bildkontext. In ihrem semantischen Gehalt verstören sie ihn auch. Denn wie bereits bei „A shnirele blut tropns hele un reyne“ tritt der Tod – hier im Schriftzug „Ale far der tsayt farshnitene“ präsent – neben das Leben, das Kind. Leben und Tod, die toten

516 Wolitz verweist hier auf das jiddische Sprichwort: „er trogt dos gantse shtetl oyf zayn kop“ (er trägt das ganze Schtetl auf seinem Kopf; 1995: 102).

186  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Erinnerten und die noch lebenden Erinnernden treten in eine Beziehung der Simultaneität, die aber erst durch die Entschlüsselung der Wortbedeutung offenkundig wird.517 Die Semantik des verwendeten Verbums „farshnaydn“ ist auf grausame Weise doppeldeutig: Es bedeutet nicht nur „töten, annihilieren, zu Nichts machen, ausrotten“. Es deutet in der Wendung „farshnaydn a bund“ als Lehnübersetzung aus dem Hebräischen „karat berit“ (‫ )ּכרת בְּרִִית‬auf den Bund hin, den Jahve mit den Juden als seinem auserwählten Volk geschlossen hat.518 Es ist ein Bund, der  – so Genesis 12  – dem Volk Israel Nach­ kommenschaft und Land verheißt (vgl. Kap. 7). Angesichts von Gewalt und Vertrei­bung – in der Illustration dem Kind ins Gesicht geschrieben, im Text Anlass wechselvoller Wehklagen – werden der Bund, der hier aufgerufen wird, und die göttliche Erlösung in Frage gestellt. Auge in Auge mit dem Bösen, das den Juden widerfährt, mündet Hofshteyns Klagelied in die Theodizee: „Vos vigt ariber / a tropn blut / fun kindershn / umshuldik sheynem vezn?“ (Was wiegt / einen Tropfen Blut / eines unschuldig schönen/ Kinderwesens auf; 1922: VII) – fragt das lyrische Ich in Ukrayne.519 Auch die spannungsvolle Darstellung von Kind/Leben und Vertreibung/Tod in Chagalls Illustration werfen die Frage nach dem Sinn des Bösen auf. Hofshteyn zollt der Pogrom-Literatur durch intertextuelle Referenzen Tribut. Neben Sholem-Aleykhem, dessen Bummelzug „leydikgeyer“ (ins Deutsche übersetzt als „Leergänger“ oder „Langweiler“) aus den Ayznban-geshikhtes (Eisenbahngeschichten, 1902–1911) aufgegriffen wird, ist hier vor allem Chaim Nachman Bialiks Gründungstext In shkhite-shtot zu nennen.520 Durch die Illustrationen zu Troyer wird die Intertextualität (der Theodizee) um ihre Intermedialität ergänzt. Chagalls groteske Koppelung des Tragischen und des Komischen spielt dabei eine herausragende Rolle. Die seit dem Ersten Weltkrieg aus den Fugen geratene Welt verdient keine ernsthafte Darstellung mehr: Chagall entscheidet sich für eine verkehrte Welt, vertauscht Oben und Unten, das Hohe und das Niedrige, Tragik und Komik. Gerade in den 517 Wessen Idee der Schriftzug „ale far der tsayt farshnitene“ war, ob diejenige Chagalls oder Hofshteyns, ist unklar. Es ist der einzige Fall, wo der Text für das Bild nicht dem Zyklus entnommen ist. In der Ausgabe von 1922 ist die Illustration mit dem Motto „Ikh mon nit, ikh freg nor ...“ (Ich prangere nicht an, ich frage nur) aus In faln versehen. Hofshteyn hat in der späteren Bearbeitung das Motto durch Chagalls Illustrationstext „ale far der tsayt farshnitene“ (Denen gewidmet, die vor der Zeit getötet wurden) und Hiob 19, 26 ersetzt, das auch dem Abdruck von Tristia in der zweiten Ausgabe von Eygns vorausgeht: „[u-]mibesari eheze eloha“ /„Noch von meinem Fleische aus werde ich Gott schauen.“ (1977a: 83; Moss 2009: 266 und 350, Fußn. 36) 518 „karat“ bedeutet im Bibelhebräischen „(ab)schneiden“, aber auch „niederhauen, ausrotten“; in der Wortfügung „karat brit“ (einen Bund schließen) verweist es auf die bei Bundesschlüssen übliche Zweiteilung eines Opfertieres, vgl. Genesis 15, als Abraham zum Bundesschluss mit Gott ein Rind, eine Ziege und einen Widder in zwei Hälften teilt. 519 Das Motiv des (getrockneten) Blutes kehrt auch in anderen Gedichten Hofshteyns aus diesen Jahren wieder, etwa in Violontshel (Cello) von 1921 (1977a: 130f.). 520 Sholem-Aleykhem widmet dem Bähnchen drei 1909 verfasste Erzählungen: Der leydikgeyer (Die Bummelbahn), Der nes fun heshayne rabe (Das Wunder von Hoschana Rabba) und Khasene on klezmer (Hochzeit ohne Musikanten, 1955: 79–101) formen innerhalb der Eisenbahngeschichten einen Binnenzyklus. In Hochzeit ohne Musikanten soll die Bahn Pogromisten ins Schtetl Heysin befördern. Deren Trinkfreudigkeit und menschliche Dummheit verhindern jedoch deren Ankunft. Zur Intertextualität zwischen Bialik und Hofshteyn s. Kap. 8.4.

Marc Chagall und Dovid Hofshteyn  | 187 Illustrationen zu Hofshteyns Poem vollzieht er den Schritt vom tragischen Konstatieren und Mitleiden zur komischen Verfremdung, um die Schwere der Realität, nämlich Vertreibung, Pogrome, Gewalt und Tod erträglich zu machen. Hofshteyn hat dem Gedicht Kinder-shprukh folgendes Motto aus Jesaja 25,8 voranstellt: „... makha adonaj Jahve dima meal kol panim ...“ / „Abwischen wird mein Herr, ER, von alljedem Antlitz die Träne.“ (Ü: Buber/Rosenzweig) Es folgt auf einen Ausschnitt aus den „dine avles“ (jidd. für „Trauerregeln“): „Jesur lekrot ... bneviim v’ketuvim/ Umotar lekrot v’iov“ (Verbot (laut) zu lesen in den Propheten und Schriften / Und Erlaubnis (laut) zu lesen in Hiob). Wo ist die Träne im Kindergesicht der Illustration „Denen gewidmet, die vor der Zeit getötet wurden“? Hat der Herr sie bereits abgewischt? Oder hat das Kind keine Tränen mehr? Oder sind die Buchstaben der Ort der Tränen? So jedenfalls heißt es in dem berühmten Schlaflied Mark Varshavskis (1848–1907) Oyfn pripetshik (Auf dem Ofen). Dass laut Varshavski die Buchstaben auch ein Hort der Hoffnung sein können, mag über das große Leid, dem Hofshteyn wortkünstlerisch und Chagall bildkünstlerisch zu begegnen versuchen, hinwegtrösten: [...] Az ir vet, kinderlekh, elter vern, vet ir aleyn farshteyn, vifl in di oysyes lign trern un vi fil geveyn. [...] Az ir vet, kenderlekh, dem goles shlepn, oysgemutshet zayn, zolt ir fun die oysyes koyekh shepn kukt in zey arayn!“ [...] Wenn ihr, Kinderlein, älter werdet, werdet ihr selbst verstehen, wie viel Tränen die Buchstaben bergen und wie viel Weinen. [...] Wenn ihr, Kinderlein, das Exil euch werdet aufbürden, zermartert sein, sollt ihr von den Buchstaben Kraft schöpfen schaut in sie hinein!

8.3 Leyb Kvitkos Weg zum L(ich)t in 1919 Poslednee nebyvaloe zemletrjasenie v Japonii, uničtoživšee stolicu i mnogo gorodov, uvleklo mysl’ v oblast’ kosmičeskogo, samuju opasnuju dlja duševnogo ravnovesija. S ėtich ledenjaščich vysot kidalo mysl’ v kromešnyj ad Ukrainy 1919–1920 gg. V poslednie dni čital košmarnuju knigu „Rešumot“. Odno opisanie (o rezne v Teplike) osobenno potrjaslo menja: tipičnaja istorija ukrainskogo mestečka 1919 g., model’ užasa, perežitogo sotnjami takich mesteček ... Čitaja ob ėtich užasach čelovečeskoj stichii, ja dumaju: kuda sčastlivee japoncy, istreblennye prirodnoj stichiej! Kosmičeskie potrjasenija omračajut um, čelovečeskie – ranjat serdce. Das letzte, ungeheure Erdbeben in Japan, das die Hauptstadt und viele Städte zerstörte, lenkte meine Gedanken in den Bereich des Kosmischen, den gefährlichsten für das seelische Gleichgewicht. Von diesen eisigen Höhen riss es die Gedanken fort in die Hölle der Ukraine von 1919 und 1920. Las in den letzten Tagen das schreckliche Buch Reschumot [dt. Verzeichnisse; hebr. Zeitschrift – S. K.]. Eine Beschreibung (über das Blutbad von Teplik) erschütterte mich besonders: die typische Geschichte eines ukrainischen Schtetl im Jahre 1919, ein Modell des Grauens, das Hunderte solcher Schtetl durchmachten ... Ich lese über dieses Wüten der menschlichen Gewalten und denke: Um wie vieles glücklicher sind die Japaner, die von Naturgewalten vernichtet wurden! Kosmische Erschütterungen verdunkeln den Geist, menschliche verletzen die Seele.“ Simon Dubnov, Kniga žizni (Das Buch des Lebens), Bd. 3, 1998, S. 498 (dt. 2005, S. 83; ÜS: Vera Bischitzky). 521

Diese Gedanken, die Simon Dubnov am 11. September 1923 (Rosch ha-schana 5684) in Berlin seinem Tagebuch anvertraut, könnte man ebenso gut Leyb Kvitko (1890 [oder 1893]–1952) in den Mund legen. Tief verletzt in der Seele, verfasst der jiddische Autor im Gedenken an die „Hölle der Ukraine“ seinen zweiteiligen Pogromzyklus 1919. Erscheinungsort ist 1923 das von russischen und ostjüdischen Emigranten überflutete Berlin.522 Dorthin flieht Kvitko 1921 – wie Dovid Bergelson, Moyshe Kulbak oder Der Nister – nach dem Grauen, mit dem sich die Juden während des Bürgerkrieges konfrontiert sehen.523 Der Traum von der jüdisch-jiddischen Renaissance mit dem Ziel einer autonomen säkularen jüdischen Kultur im jungen Sowjetrussland ist zerplatzt.524 521 Das Massaker von Teplik, einer westlich von Uman gelegenen Stadt in Podolien (heute Westukraine), wird im Jahre 1919 von marodierenden Banden unter dem Kommando des ukrainischen nationalen Freiheitskämpfers Simon V. Petljura verübt (s. Dubnov 1928 Bd. 10: 525–530 und Dubnov 2005 Bd. 3: 245). Das Kapitel ist leicht gekürzt in englischer Sprache abgedruckt in: Estraikh/Krutikov 2010: 198–224. Der Wiederabdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Legenda-Verlages, Oxford. 522 S. hierzu Brenner 2000, Schlögel 1994: 234–259 und Ėrenburg 1990 Bd. 1: 382–422. 523 Shmeruk/Harshav 21987: 748–751. Kvitkos Zeit in Berlin und Hamburg findet ihren literarischen Niederschlag in seinem Roman Riogrander fel (Häute vom Rio Grande, 1928). Siehe hierzu Bechtel 1999: 247–271. 524 Seth Wolitz schildert das Debakel einer um ästhetische Autonomie ringenden jiddischen Literatur anhand der Kiever Gruppe (1978: 97–106). Dovid Bergelson beispielsweise verwehrt sich in Dikhtung un gezelshaftlikhkayt (Dichtung und soziale Potenz; 1919) gegen die außerästhetische Vereinnahmung

Leyb Kvitkos Weg zum L(ich)t  | 189 Leyb Kvitkos Gedichtzyklus 1919 vervollständigt die Serie der Pogrom-Poeme. Den vom deutschen Expressionismus und russischen Futurismus getragenen Stimmen Markishs und Hofshteyns fügt er eine urwüchsige, volksliedhafte Lyrik hinzu.525 Aus Berlin, dem letzten Mekka der jiddischen Moderne mit einer breit gefächerten Publizistik und einem beeindruckenden Verlagswesen, erklingen Kvitkos „lider“ – „lid“ bedeutet im Jiddischen sowohl Lied als auch Gedicht – von niederschmetterndem Inhalt und betörender Bildkraft.526 Ebenfalls in Berlin wird 1923 Yisokher Ber Ribaks Zyklus Shtetl, mayn khorever heym, a gedekhenish (Schtetl, mein zerstörtes Zuhause, ein Andenken) im Verlag Shveln (Schwellen) herausgegeben.527 Hier erscheinen im selben Jahr die zwanzig Radierungen des 1922 nach Berlin übergesiedelten Marc Chagalls, die ursprünglich seine Autobiographie begleiten sollten (s.  Kap. 3). Während Ribak in seinem Bildzyklus eine kohärente Ästhetik und Komposition pflegt, reizt Chagall die Möglichkeiten der Radierung von der dichten Schraffur bis zur zarten Punktierung sowie stark assoziative Anordnungen aus. Während Ribak ein homogenes kubistisches Panorama vom typisierten Schtetl-Juden, dem Schächter, dem Rabbi, dem Glaser, dem Wasserträger etc. liefert, entwirft Chagall durch und durch persönliche Erinnerungsbilder an seine Heimatstadt Vitebsk. Das Jüdische erscheint hier in stetem autobiographischem Rückbezug stark individualisiert. Ribak malt den Sabbat an sich, Chagall hält den Sabbat im Elternhaus fest.528 Beide bildkünstlerischen Zyklen sind – ganz im Gegensatz zu Kvitkos Gedichtzyklus – frei von Gewaltdarstellungen. Das lyrische Ich in Kvitkos 1919 versucht mit der grausamen, von Verfolgung, Gewalt und Tod geprägten Welt durch den Einsatz von Metaphern fertig zu werden. Ganz in der Tradition seiner „Schwarz-Weiß-Lyrik“ (Yekhezkl Dobrushin), verstärkt Kvitko so die

von Literatur. Diese pro-ästhetische Position zieht – wie in der russischen oder ukrainischen Literatur auch – gegenüber der ideologischen Instrumentalisierung der Sowjets den Kürzeren. Dafür sorgen für die russische Literatur die linken Verbände wie LEF und RAPP, für die jüdische Literatur der Chefkritiker und -literaturideologe Moyshe Litvakov (ebd.). Auf Litvakov verfasst Kvitko nach seiner Rückkehr in die Sowjetunion ein Schmähgedicht, dass ihm großen Ärger bereiten wird (s. Sherman 2007: 134f.). 525 Hofshteyn und Markish schöpfen zwar aus denselben Quellen, unterscheiden sich jedoch in ihrer Poetik deutlich: Hofshteyn ist eher elegisch, Markish provokativ, rigoros, drastisch. 526 Zur verlegerischen Blüte der jiddischen Literatur in Berlin siehe die Pionierarbeit von Fuks/Fuks 1988: 417–434, Levine 1997: 85–108, Marten-Finnis/Valencia 1999 und Kühn-Ludewig 22008. Das Berlin der Weimarer Zeit war auch für die russische Literatur ein wichtiges Zentrum, vgl. Schlögel 1994: 244: „Das ‚russische Berlin‘, das die weltweite Diaspora mit Zeitungen und Büchern belieferte und auch nach Sowjetrussland exportierte, produzierte zwischen 1918 und 1924 mehr Bücher als Moskau oder Petrograd – etwa 2100 bis 2200 Titel, herausgegeben von 86 Verlagen.“ Ohne den hohen Bedarf an weltlichen jiddischen Schriften im östlichen Europa wäre das rege jiddische Presse- und Verlagswesen zu Berlin nicht zustande gekommen (Marten-Finnis/Valencia 1999: 103). In Berlin als einem Exil-Zentrum wurde Literatur von Ostjuden für Ostjuden produziert. Zu Berlin im Spiegel der jiddischen Literatur s. die Anthologie von Andrej Jendrusch (2003). 527 Unklar ist die Entstehungszeit: „Ryback dated his drawings to 1917 to correspond to his trip to Mogilev, but Aronson, who was in close contact with him, dated them to 1922 [...]“ (Amishai-Maisels 1990: 69, Fußn. 127). 528 Annette Weber entwirft erste Vergleichsmomente zwischen den beiden Werken (2004: 50–63, bes. S. 55). Zu Ribaks und Chagalls ostjüdischen Künstlerkontext in Berlin s. Dmitrieva 2008: 233–246.

190  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild extreme Spannung zwischen der Pogromhölle und dem – verlorenen – Paradies.529 Während der Blütezeit der jüdisch-jiddischen Kunst und Literatur wird seine Dichterstimme zum Gegenstück der großen Utopie von der jüdischen Renaissance in ihrem letzten Stadium.

Gewalt, Angst und Tod – Kvitkos 1919, Teil 1 Wie groß muss der Schock ob der Pogrome in der Ukraine 1919 gewesen sein, dass Kvitkos lyrisches Ich in sechsundfünfzig Gedichten wieder und wieder um Gewalt, Vertreibung und Tod kreist? Wie unerschütterlich die Hoffnung, dass in den zweiten Teil von 1919 Lichtblicke der Liebe und der Versöhnung Einzug halten? Der erste Teil von 1919, bestehend aus 33 Gedichten, gleicht einer Höllenfahrt. Lexik und Semantik des ersten Gedichts Farmishte trotuarn (Verwirrte Gehsteige) geben den Tenor des Zyklus an: Farmishte trotuarn kalemutner ovnt, shotn-shtot. Vos blonket ir um, yunge layt – yugnt? un glit in shotn uf, un lesht in zun zikh oys vi dine sharfn? [...] Kalemutner ovnt zetst zikh op oyf farmishte trotuarn. mir vaksn tsurik, mir geyen ayn. 529 Über Kvtikos Schwarz-Weiß-Lyrik schreibt Yekhezkl Dobrushin: „... un nit umzist shpiln ale kvitkos lider, der ikersht, mit tsvey farbn, mit di azoy gerufene ‚blan-noir‘ shvarts-veys farbn – fun ayn zayt der shtramig gezunter zuniger Kvitko-yugnt un funem tsvaytn – der ‚grus fun nakht‘.“ (nicht umsonst spielen alle Gedichte Kvitkos vor allem mit zwei Farben, mit den sogenannten blanc-noir- / SchwarzWeiß-Farben, mit der kerngesunden sonnigen Kvitkojugend einerseits und dem „Gruß der Nacht“ andererseits; Dobrushin 1919: 71–97, hier S. 84. Auch Shmuel Niger charakterisiert Kvitko als „Dichter der Nacht“ sowohl hinsichtlich seiner Hinwendung zum Dunklen, Chaotischen, als auch wegen seiner Schreibstrategie, durch komplexe Bilder Sinn zu verdunkeln, s. Niger 1958: 41–48. In dieser Faszination für das Dunkle unterscheidet sich Kvitko laut Bal-Makhshoves deutlich von Dovid Hof­ shteyns Optimismus, vgl. Bal-Makhshoves 1953: 302–306. Zum Dunklen in Kvitkos Lyrik als Emanation des Unbewussten, s. Krutikov 2005: 327–333.

Leyb Kvitkos Weg zum L(ich)t  | 191 Verwirrte Gehwege, trister Abend, Schattenstadt. Was irrt ihr umher, junge Menschen – Jugend? Und erglüht im Schatten, und erlöscht in der Sonne, wie dünne Tücher? [...] Ein trister Abend senkt sich nieder auf verwirrte Gehwege. Wir schwinden, wir verschwinden. (1923: 11–13)

Das lyrische Ich versetzt uns in ein Schattenreich („shotn-shtot“; „shvartse yor“/schwarzes Jahr; auch Teufel), in die Vernichtung („mir geyen ayn“). Nicht nur die Welt hat sich verfinstert, auch der menschliche Geist: „shotn“ (Schatten“), „meshuge“ und „dul“/„dulenish“ (verrückt) sind Leitbegriffe des gesamten Zyklus.530 Gemeinsam mit diesen Schattenbildern bilden andere Leitmotive des Zyklus semantische Knotenpunkte. Dank ihrer lässt sich über die Gedichtgrenzen und die Abgeschlossenheit eines jeden Gedichts hinaus ein Bedeutungsnetz von Gewalt und Tod, Leid und Ohnmacht knüpfen. Mit dieser an rabbinische Techniken gemahnenden Intertextualität ruft ein Gedicht unweigerlich andere Gedichte aus dem Zyklus auf. Sie erzeugt ein textuelles Echo, das das Schweigen der Opfer angemessen repräsentiert.531 „toyt“ (Tod), „blut“ (Blut) und andere Begriffe aus dem Umfeld von Tod wie „meysim“ (Tote; 1923: 91), „harugim“ (Getötete; 1923: 26), „derharget“ (getötet; 1923: 64, 91) oder die „misemeshune“ (unnatürlicher Tod), die in Zi shnoret shoyn vider (Sie geht schon wieder betteln; 1923: 22–24) als Personifizierung dem Leser so unmittelbar vor Augen steht wie dem ukrainischen Juden der tatsächliche Tod, zeichnen in den Gedichten ein Bild des Grauens und der Vernichtung. Mit den – häufig metaphorisch verwendeten – Körperteilen und Sinnbildern des Lebens „kop“ (Kopf ), „oygn“ (Augen) und „harts“ (Herz), letzteres ein Zentralbegriff Kvitkos schon aus seinem ersten Lyrikband Trit (Schritte) von 1919, bilden sie eine unheilige Allianz. 530 Vgl. das Gedicht Tog vert finsterer (Der Tag wird finsterer; 1923: 25f.) oder Loz di kinder nit arayn (Lass die Kinder nicht herein; 1923: 65–67). Über das Lexem „dul“ besteht auch eine intertextuelle Referenz zu Markishs Di kupe. Im Auftaktgedicht soll der „dul-vint“ (verrückte Wind) auf Geheiß des lyrischen Ich sich am Haufen der jüdischen Opfer bedienen (s. Kap. 8.1). Im Anschlussgedicht Toyterheyt vel ikh arayngeyn ... (Tod werde ich hineingehen ...) irrt auf dem Herz des lyrischen Ich verrückt eine Stadt umher („oyf mayn harts geyt dul a shtot oys“; 1921: 6). 531 Ähnlich ist auch Babel’s Konarmija (Die Reiterarmee) strukturiert.

192  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Gesteigert wird diese emotionale Spannung durch die Kombination der Todessemantik mit dem jungen Leben: Ein Großteil der Gedichte handelt von Kindern. Verwahrloste Kinder, in Kellern verborgene Kinder, Waisenkinder, tote Kinder, aber auch gerettete und zu rettende, noch ungeborene Kinder – sie nimmt das lyrische Ich immer wieder in den Blick. Wieder und wieder wirft es seine Jugend in die Waagschale, verteidigt das Recht darauf, jung zu sein, leben zu dürfen. In Halb nakht. zitst a shverer yokh ... (Mitternacht. Sitzt ein schweres Joch ...; 1923: 40–44) konfrontiert das lyrische Ich den Rezipienten mit der grenzenlosen Verlassenheit eines Kindes, das neben seinem toten Vater erwacht (eine grausame Umkehrung zu Goethes Erlkönig). Dieser hätte es auf Bitten der Mutter bei der Mühle  – einem im ostjüdischen und ostslavischen Volksglauben unheilbringenden Ort – verstecken sollen. Doch wird er Opfer eines Raubmordes. Mit maximaler Knappheit beschreibt das lyrische Ich die Handlungen des Kindes am Morgen, dessen Berühren und Ansprechen des Vaters. Die Intensität der Kontaktaufnahme durch das Kind und die Unmöglichkeit einer Erwiderung seitens des toten Vaters tritt, verstärkt durch die Dichte des lyrischen Textes, gegeneinander an: Ein Verb, meist in asyndetischer Reihung, syntaktisch parallel geschaltet und wiederholt ohne Nennung des Subjekts, beschreibt das Tun des Kindes. Der Vater, repräsentiert durch das Personalpronomen „im“ (ihm), geht nur als grammatikalisches Dativ-Objekt oder  – aus dem Mund des Kindes  – als unbeantworteter Vokativ „pa-pa“ und später in der Koseform „va-ve-nyu“ (eigentlich „papenyu“) in den Text ein. Der Rhythmus der Verszeilen und die Kontrastierung der Verben, Repräsentanten eines ganz auf Leben gerichteten Wesens, mit den lexikalischen Hinweisen auf den Tod („blutik“/“blutig“, „vund“/“Wunde“) kulminieren in einem Paradox: Das Kind hört aufmerksam einem Herzen zu, das nicht mehr schlägt: „... hert zikh ayn / hert zikh ayn / mit kaltn oyerl / bay tatens blutiker vund.“ (lauscht/ lauscht / mit kaltem kleinen Ohr/ des Vaters kalter Wunde; 1923: 43–44) Die Tragik der beschriebenen Situation wird dadurch auf die Spitze getrieben, dass das Kind – vom Glanz der Morgensonne angestrahlt – das Faktum des Todes nicht begreift.532 Die Gefahr des lyrischen Ich, Auge in Auge mit Tod und Terror nicht dem Wahnsinn zu verfallen, ist omnipräsent – und verständlich (vgl. das Gedicht Zun/Sonne, 1923: 80–81). Angesichts zerhackter Kinderwiegen, an deren Holzplanken man Kinder aufhängt, schreit das lyrische Ich, selbst gemartertes Kind: „ikh bin noch klor!“ (Ich bin noch klar im Kopf!) in Kinder-vigelakh tsehakte (Zerhackte Kinderwiegen, 1923: 35–37). Das delirierende Ich in Loz di kinder nit arayn tsu mir (Lass die Kinder nicht herein zu mir, 1923: 65–67) bringt das paradoxale Weltempfinden der vom Pogrom Betroffenen zum Ausdruck: Ihr Ort der Freiheit ist das Gefangensein.533 Das Draußen (die Straße, das Schtetl) ist der Ort des Todes (z. B. In 532 Das epische Gedicht stellt die Umkehrung der nach lyrischen Prinzipien organisierten Erzählung Isaak Babel’s Perechod čerez Zbruč (Übergang über den Zbruč) aus Konarmija dar, die über motivische und lexikalische Äquivalenzen als allmähliche Epiphanie des Todes angelegt ist; s. Schmid 1992: 135–154 und Kap. 9.2. Eine weitere intertextuelle Referenz zu Babel’s Chef d’oeuvre findet sich im zweiten Zyklus von 1919: Im Gedicht Mayne oygn (Meine Augen) fallen Augen, ob des geschauten Grauens unwürdig weiter zu sehen, heraus (1923: 129–131). Babel’s Ich-Erzähler träumt davon, wie die Augen des Kombrig auf die Erde fallen (2001: 6). 533 „di fenster nor farheng, / tir fun droysn-zayt farbind / un fray bistu – / oyb gut iz dir tsu fray zayn.“ (verhänge bloß die Fenster / die Tür von draußen mach zu / und frei bist du – / sofern es gut ist für dich, frei zu sein; 1923: 66)

Leyb Kvitkos Weg zum L(ich)t  | 193 shtub farhakter / In der verschlossenen Stube, 1923: 14–16); das Drinnen (das Haus, der Keller, der Dachboden, vgl. 1923: 38–39, 59–62) ist der Hort des Lebens, des Überlebens und Überlegens. Denn das Drinnen ermöglicht eine Perspektive auf das Töten. Das Eingesperrtsein, das Sich-Verbergen sind konstante Topoi in 1919, ebenso der Blick, mit dem die Grenze zwischen Drinnen und Draußen, Sein und Nichtsein überwunden wird. Kvitko verstärkt dies durch die auffällige Parallelisierung von Mensch und Haus: Die Häuser, Fenster, Türen, Wände, Keller und Dachböden, die er anführt, sind immer mit dem semantischen Feld der Enge, des Verschlossen- und Versteckt-Seins korreliert. Analog zu verhängten Fenstern und verbarrikadierten Türen sind aber auch die Menschen aus 1919 in ihrer Sinneswahrnehmung eingeschränkt, vom Grauen fast blind und taub geworden.534 Am deutlichsten wird diese Korrelation in In mayn invelt, in mayn oysvelt (In meiner Innenwelt, in meiner Außenwelt, 1923: 82–83): Hob ikh toybe trit, toybe glider, blut. Toybe oygn, oyern – s’iz gedikht farshtopt mayn hoyz, di tir un toyern. (1923: 82) Taube Schritte habe ich / taube Glieder, Blut. / Taube Augen, Ohren – / Verbarrikadiert sind mein Haus / Tür und Tore.

Aus der maximalen (faktischen und psychophysischen) Beschränkung des Individuums maximale Macht zu gewinnen, das Sehen in Sprache zu gießen und dadurch den Tod zu transzendieren, wird zum Bollwerk gegen die Vernichtung. Den Waffen der Pogromisten antworten die Waffen der Poesie. Ein Blick darauf erhellt die ungeheure Bedeutung des Dichtens für den gesamten Zyklus 1919 und für den Dichter Kvitko selbst. Metapher, figura etymologica, Oxymoron, Wiederholungsfiguren wie Anapher, Epipher, Inversion, Refrain – im Verein mit dem dominierenden Kompositionsprinzip der motivisch-lexikalischen, aber auch syllabischen und lautlichen Äquivalenz entsteht im ersten Teil ein vielstimmiger Schrei der Seele.535

534 Die Einschränkung des Sehens und Hörens ist auch in Trit ein zentraler Topos, s. Bal-Makhshoves 1953: 305. 535 Hier ein Beispiel für eine syllabische Äquivalenz: „[...] zey khapn tsurik shoyn / di zaydene oyerlekh, / tseshtokhn, tseblutigt, / fun prisek tseflamt.“ (schon nehmen sie zurück / die Seidenöhrchen, / zerstochene, blutige, / von Glut entflammte; 1923: 23).

194  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Starke Metaphern treten in den Gedichten neben die Konkretheit der Gewaltdarstellung: Personifizierende Metaphern wie das Leid, das in das Blut des lyrischen Ich patscht (1923: 83), ragen aus der liedhaften Behaglichkeit der Gedichtzeilen heraus. Gewalt und Tod erscheinen häufig als personifizierte Größen, gegen die man ohnmächtig ist: Der unnatürliche Tod „geht wieder betteln“ (zi shnoret shoyn vider; 1923: 22). Die konkretisierende Metapher „zitst a shverer yokh / dem shtetl oyfn kop“ (sitzt ein schweres Joch / dem Schtetl auf dem Kopf; 1923: 40) ruft unweigerlich Marc Chagalls Verfahren auf, Kopfmetaphern im Bild zu realisieren. Dessen Illustration Ale far der tsayt farshnitene (Alle vor der Zeit Getöteten) aus Hofshteyns Pogrom-Poem Troyer beispielsweise zeigt ein Kindergesicht mit einem Haus auf dem Kopf (s. Kap. 8.2). Eine weitere poetische Antwort Kvitkos auf das Pogromjahr 1919 ist das Oxymoron. In Royte vent (Rote Wände, 1923: 70–73) blickt das lyrische Ich nicht in einen unendlichen, sondern in einen beschränkten Himmel: „[...] kuk ikh farblutigt tsum firek dem himl – / royte vent arumgeshtelt / arum mir.“ (blicke ich blutverschmiert zum viereckigen Himmel: / rote Wände / um mich herum; 1923: 70) Dort, in der freien Natur, beschwört das Oxymoron eine Gegenwelt des Heilen herauf. Doch bleiben „sonniger Regen“ (zunikn regn; S. 71) und ein „zitternder Sommer“ („dort, fun yener zayt / tsitert der zumer, -“; „Dort, auf jener Seite / zittert der Sommer“; ebd.) unerreichte Naturbilder der Sehnsucht. Sie sind seltene Beispiele für die positive Verwendung von Naturelementen. Viel öfter steht – im Sog des Todes – deren Verkehrung ins Negative. Im Gedicht Oyf gloz fun oysgezetste fenster (Auf Glas herausgenommener Fenster, 1923: 68–69) ist die Wurzel taub und das Herz tot. Dieses rhetorische Umkippen der Konnotationen (des Lebendigen ins Tote) entspricht der totalen Umwertung der Werte in einer verkehrten Welt der Vernichtung.536 In dieses Dunkel hinein leuchtet die Figura etymologica, die – ungeachtet der Semantik ihrer Bestandteile – per se die genetische Verbundenheit der Worte verkörpert, Fortbestand (von Lexemen) bedeutet: Als das lyrische Ich in Ikh hob dir nit vos ontsuzogn (Ich habe dir nichts mitzuteilen) seine Zugehörigkeit zum jüdischen Volk reflektiert, ist sein Herz von dessen „Pein gepeinigt“: „ongeveytigt hot mayn hartsn / yeder zayns a vey“ (1923: 32). In Ale, ale zaynt ir mayne (Alle, alle gehört ihr mir) knüpft das lyrische Ich mit einer doppelten Figura etymologica daran an: „[...] in mayn neshome shotnt ayer shotn, / in mayn blutik leyb / blutikt, ekbert ayer vey“ (in meiner Seele bringt euer Schatten Schatten / in meinem blutigen Leib / blutet, bohrt eure Pein; 1923: 49). Es kommt nicht von ungefähr, dass ausgerechnet im Zusammenhang mit dem jüdischen Volk die Figura etymologica ins Spiel kommt. Es kommt auch nicht von ungefähr, dass gerade sie sich im zweiten Teil – noch dazu mit dem leitmotivischen Bild des Lebens  – in S’vet azoy nit zayn (So wird es nicht sein; 1923: 135–137) fortsetzt als „kvelndiger kval, mayim-khayim kval“ (quellende Quelle, Quelle frischen Wassers; 1923: 133). Die Produktivität der jiddischen Sprache, für die die Figura etymologica exemplarisch steht, steht unumstößlich der Auslöschung ihrer Sprecher entgegen. 536 Ein bestechendes Beispiel für die paradoxe Umwertung der Werte in der Pogromwelt findet sich in Tog vert finsterer (Der Tag verfinstert sich, 1923: 25f.): Nicht das Töten ist hier „meshuge“ (verrückt), sondern der Wille zum Leben.

Leyb Kvitkos Weg zum L(ich)t  | 195

Schreiben heißt Verzeihen – 1919, Teil 2 Ist der erste Teil des Gedichtzyklus der Teil der Finsternis, der Nacht, so schlägt Kvitko schon mit dem ersten Gedicht des zweiten Teils, Opgetreyslt zikh (Abgeschüttelt, 1923: 97–100) hellere Töne an. „Di dozike lid iz shoyn a nay gezang fun yugnt, vos ba Kvitkon iz zi dokh shtendik‚ der bester oytser‘“ (Dieses Gedicht ist bereits ein neuer Gesang von der Jugend, die bei Kvitko immer für ‚das Kostbarste‘ steht), so der jiddische Literaturkritiker Hersh Remenik (1982: 45).537 Gedichte von Vertreibung, Pogromen und Tod verschwinden zwar nicht gänzlich, doch bilden Bilder von Licht, Liebe und Läuterung hoffnungsvolle Kontrapunkte (ebd.). Kvitko hat zu viel gesehen, um der Illusion einer guten Welt zu erliegen. Vielmehr weiß er, dass es Liebe nicht ohne Hass, Leben nicht ohne Tod geben kann: „ikh un du oyf vanderdiker erd / krig un libe trogn mir.“ (Ich und du auf Wanderwelt/ Krieg und Liebe tragen wir; 1923: 132–134) – in diese zwei Zeilen ist das gesamte Erlebens- und Gefühlspotenzial von 1919 eingefasst. Neue Leitmotive, die neben Blut und Tod treten, sind nun das bereits erwähnte „kval“/ „kvelkhl“ (Quelle/Quellchen, S. 108, 135–36, 161), „frayd“ (Freude; S. 98–99, 144, 147), „psure“ (Nachricht; S. 98, 113) und vor allem „loyterkayt“ (Lauterkeit/Klarheit; S. 99, 101, 107, 108, 143, 163), letzteres ein Zentralbegriff in Dovid Hofshteyns Troyer. Wird sie bei Hofshteyn angesichts der Ruinen, Mahnmale der Toten, als unnütz zurückgewiesen, so dient sie in 1919 der moralischen Kräftigung. Wie viel Blut und Tod das lyrische Ich auch bezeugen mag, nach der niederschmetternden Erkenntnis „mir geyen ayn“ (wir gehen ein) aus dem ersten Gedicht sieht es sich und das jüdische Volk am Leid wachsen: „mir zenen in leyd geloytert. / Mir vaksn aroyf inem loyter.“ (wir sind im Leid geläutert. / Wir wachsen am Lauteren empor; 1923: 140) „Toyt“ und „toyb“ waren im ersten Teil – auch aufgrund ihrer Metaphernkraft – depri­ mierende Leitbegriffe. In In mayn invelt, in mayn oysvelt, einem der Höhepunkte in 1919, werden sie korreliert. Die Hoffnungslosigkeit erreicht hier einen Tiefpunkt, weil die poetische Struktur der Verse „shpant arum a toyt fun toybenish, / molt un farbt mit toyber toytenish, / mit blutik toybenish“ (Es geht umher ein Tod der Taubheit, / malt und färbt mit tauber Totheit, / mit blutiger Taubheit; 1923: 82–83) keinen Ausweg zulässt: Die grammatischen Variationen von „toyt“ und „toyb“ führen zu nichts anderem, als syntaktisch parallelisiert und durch die „t“-Alliteration verknüpft die semantischen Invarianten zu verstärken. Auch der abschließende Chiasmus ändert nichts am Tod. Nun treten aber „toyb“ und „toyt“ aufgrund der Euphonie in eine Reihe mit zwei positiv aufgeladenen Begriffen aus dem zweiten Teil: „toyvlen“ (eine rituelle Waschung vornehmen,) und „toy“ (Tau) erzeugen jenseits der homogenen Lautstruktur starke semantische

537 Von Hersh Remenik stammt die einzige detaillierte, wenn auch ideologisch geprägte Besprechung zu 1919, die er damit begründet: „Dos iz ober a verk, vos darf nit farshvign vern, vayl on dem volt shver geven tsu farshteyn dem dikhters sheferishe evolyutsye.“ (das ist jedoch ein Werk, das nicht verschwiegen werden darf, weil es ohne dieses schwer wäre, die künstlerische Entwicklung des Dichters nachzuvollziehen; 1982: 37–49, bes. S. 43–47; hier S. 47).

196  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Ge­­gen­­gewichte. In Un felker mit klumeklekh (Und Völker mit Bündeln; 1923: 105–107) wird die Sündenbockfunktion, die die Juden im Vergleich zu anderen Völkern übernehmen, umgedeutet: Andere Völker waschen sich rein im angehaltenen Atem der Juden („ir toyvlt zikh / un loytert zikh / in undzer ayngehaltenem otem!“; 107) – euphonisch verstärkt durch die lautliche Umlautäquivalenz von „toyvlen“ und „loytern“ (läutern). So bleibt das Gleichgewicht der Erde erhalten. Zugleich sammelt die Judenheit Kräfte für den Aufstand, der den Sündenbockstatus überwinden wird. Der Morgentau assoziiert im Kontext einer durchweg positiven Naturlyrik in S’vet azoy nit sein (So wird es nicht sein, 1923: 136–137) Neuanfang und Reinheit: An dem Berg, an dem der Lebensquell entspringt, werden zuerst die Juden im Tau der Morgendämmerung losgehen. Noch freudvoller ist die Situation im Eingangsgedicht des zweiten Teils, wo der Tau neben anderen Begriffen aus dem semantischen Feld „Leben“ (z. B. „frukhtik“ / fruchtbar, „zere“/Samen) dem alles dominierenden Tod Paroli bietet. Das lyrische Ich verkündet die frohe Botschaft vom ersten Kind, das nach all den Pogromen geboren wird: A frukhtiker kum ikh atsinder mit zere, mit toy un mit vint, ikh trog aykh di psure di groyse fun ershtn, fun likhtikn kind! Als Fruchtbarer komme ich jetzt Mit Samen, mit Tau und mit Wind, ich bringe euch die große Nachricht vom ersten, vom lichtvollen Kind! (1923: 99)

Im ersten Teil noch ruft ein Kind nach seinen Eltern und berührt den geschundenen Körper seines toten Vaters. Diese einsamste aller Schilderungen ist aufgewogen durch dieses Kind aus dem zweiten Teil, das – ungeachtet aller Gräuel – „ruft aykh shoyn ‚tate‘ und ‚mame‘ / un kusht ayer payn“ (euch schon ‚Vater‘ und ‚Mama‘ ruft / und euer Leid küsst; 1923: 100). Ein Lexem – zwei Extreme: Durch das Hauptthema und Hauptlexem „Kind(er)“ laufen die beiden Hauptadern des Zyklus, die Auslöschung menschlichen Lebens und seine Fortsetzung, zusammen. Tod und Leben, Verzweiflung und Hoffnung als existenzielle Größen des Mensch-Seins werden vermittels der Kinder gegeneinander in Stellung gebracht. Das den gesamten Zyklus zusammenhaltende Hauptthema, das wie das Motiv der Blindheit in Kvitkos Debütband Trit aus dem Jahre 1919 bereits vorgeformt ist (vgl. Dobrushin 1919: 82; Niger 1958: 42), übernimmt neben der ästhetischen noch eine weitere Funktion: Das Kind ist – wie in Hofshteyns Troyer – Knotenpunkt der ethischen und theologischen Reflexion. Auge in Auge mit dem Kind haben Opfer wie Täter ihre anthropologischen Dispositionen zu überdenken, zu rechtfertigen, zu verantworten. Mir zenen vider a folk fun kinder (Wir sind wieder ein Volk von Kindern, 1923: 140) – so hoffnungsfroh hätte Kvitko seinen Zyklus ausklingen lassen können. Doch würde ein wesentliches Moment fehlen, ohne das die ethoästhetische Dichte des Textes verwässert

Leyb Kvitkos Weg zum L(ich)t  | 197 würde.538 Mit der zweimaligen Aufforderung „Zay moykhl zey, zay moykhl zey. / Ver kon nokh azoy moykhl zayn, vi du!?“ (Verzeih ihnen, verzeih ihnen. / Wer kann noch so verzeihen wie du!?; 1923: 158–159 und 163) beschließt Kvitko nicht nur das letzte Gedicht mit dem Titel Mekhile (Vergebung), sondern den gesamten Zyklus. Die Bitte, den (ukrainischen) Tätern zu vergeben, richtet sich an das lyrische Ich.539 Mit ihr ist der Aufruf zu Hass und Tradierung desselben aus früheren Gedichten aufgehoben. Sie stammt aus dem Munde einer „shtil geshtalt fun mayne oves“ (stillen Gestalt meiner Vorväter; 1923: 158). Diese Gestalt – eine Präfiguration erscheint bereits im Gedicht Fun di koymenes (Von den Kaminen herab, 1923: 138–141)  – erinnert an die leidvolle Geschichte der Ukraine im Kampf um ihre Unabhängigkeit. Mit dem „got“ (Gott; 1923: 158), dem erst geopfert und dann angebunden an einen Pferdeschweif der Garaus gemacht wurde, meint Kvitko den für die ukrainische Autonomie stehenden Hetman der Dnjepr-Kosaken Mazepa (1687–1708).540 Ethisch überragt das letzte Gedicht alle anderen; das moralische Potenzial, das BalMakhshoves an Kvitkos Lyrik so fasziniert (1953b: 305), hat sich hier voll entfaltet. Poetisch ist es aufgrund motivischer und lexikalischer Äquivalenzen in das gesamte Textgefüge eingebunden. Blickt man vom letzten Gedicht zurück auf das erste, kartieren motivische Äquivalenzen eine Außenwelt der Gefahr und eine Innenwelt der Angst und des Hasses. Die „Schatten-Stadt“ des ersten Gedichts, auf dessen Gehwegen sich jüdische und ukrainische Schritte mischen und Pogrome stattfinden, wird im letzten Gedicht aus der Distanz, von einem Versteck aus betrachtet.541 Durch den erneut metaphorischen Einsatz des Schattens im Abschlussgedicht treten der reale Ort der Gewaltausübung (die Stadt) und der Ort, wo die Gewalt ihren Sitz hat (das Herz), in Beziehung: Das lyrische Ich fragt sich, ob es in die Herzen der Täter eindringen und dort „dem shotn fun sakone“ (den Schatten der Gefahr; 1923: 160) suchen soll. Der Verdacht (jidd.: khshad), dass nach den Gesprächen (mit Gojim) das Grauen droht, verbindet ebenfalls das Eingangs- und das Schlussgedicht.542 Die gemeinsame Aura der 538 In seinem Vorwort warnt Kvitko davor, den Gedichtzyklus 1919 als reine Pogromdichtung misszuverstehen (1923: 8). Zu komplex waren die geschichtlichen Ereignisse, um monokausal auf antisemitische Aggression gegen Juden zu schließen. Zu komplex ist die Verschränkung von Ethik und Ästhetik im Text, um den Zyklus als bloße Literarisierung der Pogrome von 1919 aufzufassen. 539 Dieses letzte Gedicht beendet eine Reihe von Gedichten, die im Zyklus explizit den jüdisch-christlichen Kontext aufrufen: Iz vos, az kloyster-glokn laytn (Was bedeutet es, dass Kirchenglocken läuten; 1923: 45–46), Kuk, ikh pintl mit di oygn (Schau, ich blinzle mit den Augen; 1923: 63–64), Far klogikgrohinkn kobzar (Für den klagend-gräulichen Kobsaspieler; 1923: 86–87) und Bin geven dort, oyf yaridim (Ich war dort, auf den Märkten; 1923: 77–78). Die Stadt Uman, in der Kvitko zum Zeitpunkt des Pogroms lebt, geht explizit in Katshn mir zikh far gelekhter (Wir schaukeln vor Lachen hin und her; 1923: 152–154, s. hierzu auch Hoffman 2007: 190–192) ein. 540 Mazepa regt bereits Byron, Victor Hugo, Ryleev und Puškin zur literarischen Bearbeitung an. Puškins Poem Poltava (1829) dient Petr I. Čajkovskij als Vorlage für seine Oper Mazepa (1884). 541 Hier deckt sich der Blick des geflüchteten lyrischen Ich aus Kvitkos Zyklus mit der – freiwillig gewählten – Perspektive Chagalls (s. Kap. 4). 542 Im ersten Gedicht ist noch allgemein von verdächtigen „shmuesn“ (Gesprächen) die Rede (1923: 12). Im letzten Gedicht geht es konkret um den Dialog zwischen Juden und Nichtjuden: „Iz vos-zhe? Ven ikh hob tsugezen, / vi yidn patshn heys in hent / un goyim entfern farshlofn / – hob ikh badarft zey khoyshed zayn?“ (Ja und? Als ich zusah, / wie Juden hitzig in die Hände klatschten / und Nichtjuden verschlafen antworteten – / brauchte ich da argwöhnisch zu sein; 1923: 160).

198  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Gefahr und des Hasses als Ursprung der Pogrome wird weiter durch das in beiden Gedichten verwendete Lexem „klole“ (Fluch) hergestellt. In beiden Fällen ist es Bestandteil einer konkretisierenden Metapher: Im ersten Gedicht werfen Mäuler „shtiker shteynedike kloles“ (Stücke steinerner Flüche). Das Bild lässt sofort an die Steine denken, mit denen nach den Propheten geworfen wurde.543 Es ist dies aber auch eine Referenz an Kvitkos russisches Pendant Esenin, an die „kamen’ja brani“ (Schimpfsteine) aus Ispoved’ chuligana (Beichte eines Hooligans; 1920; 1988: 72–78), in denen wiederum als Intertext „V menja vse bližnie moi / brosali bešeno kamen’ja“ (Nach mir warfen alle meine Nächsten / mit Steinen wie von Sinnen) aus Michail Lermontovs Gedicht Prorok (Der Prophet; 1841; Lermontov 1988 Bd. 1: 224) mitschwingt (Lekmanov/Sverdlov 2007: 258). Die steinernen Flüche aus dem ersten Gedicht verflüchtigen sich im letzten Gedicht zu „der Flüche Wunden-Gerüche“ (vundn-reykhes fun klole; 1923: 158). Schließlich werden die Verwünschungen  – und sprachliche Gewalt geht der physischen meist voraus – mit einer Metapher gebannt: Die Vision der Vorväter „tsetraybt, tsetraybt / di luft fun shverer klole!?“ (vertreibt, vertreibt / die Luft voll schwerer Flüche!?; 1923: 158). Dank ihr wird aus dem Verfluchen ein Vergeben. Ahnen ahnden das Vergessen. Das lyrische Ich ist kraft seiner Jugend und seines Talents doppelt aufgerufen, dem Imperativ des Erinnerns, dem „Zakhor!“ zu folgen  – und zu vergeben. Als Gedächtnisträger des Leides (Teil 1) wie des Lebens (Teil 2) wird es – wie schon zuvor – auf einen Dachboden verbracht.544 Hier kann es, isoliert von den Lebenden, mit dem eigenen Volk und dessen Ethik in Dialog treten. Nach all dem Rufen, das wie im letzten Gedicht des ersten Teils In oylem-hatoye (In einer Welt des Chaos, 1923: 91–94) ungehört verhallt, nach all dem Schweigen, das die Verstecke füllt, endet das Schlussgedicht dialogisch. Vergeben setzt ein Gegenüber voraus. Das letzte Wort von 1919 „du“ (Du) beginnt über die interne Kommunikationssituation zwischen der Vorväter-Vision und dem lyrischen Ich hinaus zu schwingen: Es appelliert auch an den (jüdischen) Rezipienten, den Akt des Lesens mit dem Akt des Verzeihens zu verbinden.

Jiddisch – Stigma und Heil Blutik iz di luft in droysn, m’kon aykh veln nokh derkenen. – zet-zhe ret nor nit keyn yidish. Blutig ist die Luft da draußen, man kann euch noch erkennen wollen. – Habt acht und redet bloß kein Jiddisch. (Kvitko 1923: 39) 543 Zugleich evoziert es Jesus’ Weisheitsspruch, als man ihm eine Ehebrecherin vorführt: „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein auf sie“ (Joh 8, 7). 544 Die Selbstreferenz wird gleich zu Beginn deutlich: „Vos hobn mayne libe mikh aher farfirt? / [...] un farkert dem shpur fun trit“ (Was haben meine Lieben mich hierher geführt / [...] und die Spur meiner Schritte verwischt; 1923: 156).

Leyb Kvitkos Weg zum L(ich)t  | 199 Nicht nur Dovid Bergelson, der Kvitkos Talent erkennt und fördert, sei Dank, sondern auch Kvitkos Inkonsequenz: Redet bloß kein Jiddisch, rät sein lyrisches Ich in Royte stenges, grine stenges (Rote Bänder, grüne Bänder, 1923: 38–39) den Juden.545 Kvitko selbst hält sich nicht daran; stattdessen macht er das Jiddische zum Vehikel seines Schaffens. Jiddisch, im Zyklus 1919 mit obiger Blut-Metapher als Unheilbringer während der Pogrome stigmatisiert, ist zugleich der Hoffnungsträger der ostjüdischen Erweckungsbewegung. In Kvitkos Poetik feiert es seine Verankerung im Oralen und Volkstümlichen. Die Integration des Volkstümlichen in die moderne jiddische Literatur, die mit der Haskala begann, findet in Kvitkos Lyrik seine Fortsetzung.546 Gerade die für den ersten Teil typischen Refrains, die im zweiten Teil bis auf eine Ausnahme nicht mehr verwendet werden und so einen formalen Hauptgegensatz zwischen den beiden Teilen erzeugen, bringt die Nähe zum Volkslied und seiner Vorstellungswelt zum Ausdruck. Diese Volkstümlichkeit paart sich mit modernistischen Techniken. Das symbolistische Erbe von Der Nister ist deutlich spürbar.547 Doch anders als in Trit, das sehr konventionell gebaut ist, sprengen Kvitkos Sprachbilder in 1919 den Vers auf: Vers libre, die starke Expressivität der Interpunktion und die Dynamik einer in den vers libre gepassten Syntax, wie man sie vom russischen Futurismus und vor allem von Majakovskij kennt, erzeugen eine große Reibung zwischen volkstümlicher Tradition und modernistischer Innovation. Dass der Rhythmus wichtiger ist als der Vers, bezeugt die Dominanz des Modernistischen. Noch deutlicher wird dies, wenn Vers und Bild ihre Kräfte messen: Die Bild- und Metaphernkraft von Kvitkos Sprache, gestützt durch zahlreiche Wiederholungsfiguren, drängt Vers und Metrik in eine dienende Funktion (vgl. auch Dobrushin 1919: 87). Hier, in der Originalität und Wirkmächtigkeit der Sprachbilder (Vergleich, Metapher), ist die innere

545 Juden wurden aufgrund ihrer Sprachkompetenz häufig der Kollaboration mit den Deutschen bezichtigt (Zieliński 2008: 108–111). 546 Eine wichtige Rolle spielt hierbei auch Sholem-Aleykhem, siehe Remenik 1982: 37 und Dobrushin 1919: 82. Remenik schreibt hierzu: „Sholem-Aleykhem hot derhoybn di folks-shafung tsu kunst, folklor – tsu kinstlerisher literatur. Leyb Kvitko zetst fort ot di traditsye.“ (Sholem-Aleykhem erhob das Volkstümliche zu Kunst, die Folklore zu Literatur. Leyb Kvitko setzt diese Tradition fort; 1982: 37) Damit bereichert Kvitko laut Dobrushin die jiddische Lyrik um eine wichtige Komponente: „A gezunter [...] a farvaksener mit folks-vortslen kumt tsu undz der yunger Leyb Kvitko, ot der nayer nes fun undzer trukn-ratsyonalistisher biz aher oder eynhornish-romantisher, blas-farkholemter poezye.“ (Als gesunder und mit den Wurzeln des Volkes verbundener kommt der junge Leyb Kvitko zu uns, das neue Wunder unserer bis dato trocken-rationalistischen oder einhornhaft-romantischen, blaß-verträumten Dichtung; 1919: 82) 547 Shmuel Niger weist in seiner Besprechung von Kvitkos Trit mehrmals auf den Einfluss von Der Nister auf Kvitko hin, s. Niger 1958: 43, 45 und 46. Insbesondere die Lyrik der russischen Symbolisten und hier vor allem Aleksandr Bloks ist eine wichtige Bezugsgröße für Kvitkos ersten Gedichtband (Sherman 2007: 132; vgl. auch Bal-Makhshoves 1953: 302–306).

200  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Verwandtschaft mit dem Imaginisten und Naturdichter Sergej Esenin spürbar.548 Die Metapher springt vom Konkreten ins Abstrakte („a krants fun toyt“ / ein Todeskranz; 1923: 59) und umgekehrt („mit di logln / ful mit got un ful mit vayn“; mit den Schläuchen / voll mit Gott und voll mit Wein; 1923: 140). Leyb Kvitko, der in der russischen und ukrainischen Poesie beschlagen und der ukrainischen Folklore verbunden ist, integriert subtil einige dieser fremden Stilelemente in seine Lyrik.549 Etliche Slavismen bringen dieses Potenzial kulturell-poetischer Übersetzungen zum Ausdruck, z. B. „fartukh“ von ukrainisch: „fartukh“ (Schürze; 1923: 124), „aroysslinen“ (herausgeifern) von ukrainisch: „slina“ (Spucke, Geifer; S. 130); „kalyos“ von russ.: „koljaska“ (Kalesche; S. 142) oder „skarbove“ (alltäglich, banal; S. 148) von russ. bzw. ukr.: „skarb“ (Schatz, Hausrat). Das sprachliche Kolorit seines wolhynischen Jiddisch, das in Trit auch den Reim prägt (Niger 1958: 48), bindet das Regionale in das Modernistisch-Universale ein. Die Spezifik von Kvitkos Pogrom-Zyklus 1919 liegt nicht zuletzt in der Integration des Dramatischen in die Lyrik, vgl. Untn shnoren um di gest (Unten betteln sich die Gäste durch; 1923: 59–62). Das dialogische Wort als Grundelement der Dramatik sprengt die Intimität der Gattung Lyrik auf. Dank dieser Gattungsübersetzung findet oft auch ein Moment der Narration Eingang in den Zyklus: Dialogisch erzählte Gewaltepisoden wechseln sich ab mit Zustandsbeschreibungen, epische Gedichte mit reiner Introspektion. Das (lyrische) Ich, nicht mehr das Kollektiv, ist die dominante Größe des Zyklus. Paradoxerweise ist trotz der vielen Dialoge über Gewalt und Vernichtung der Gedichtzyklus ein Ruf des Lebens. Das Sprechen über den Tod, egal, ob mit oder ohne Adressat, ist umstellt von Kvitkos kreativer lyrischer Sprache. Kvitkos Lyrik ist in toto die Umkehrung seines Ratschlages, kein Jiddisch zu sprechen. Was realiter zur Auslöschung jüdischen Lebens führt, generiert eine unauslöschliche dichterische Welt.

548 „Kvitko arrived in Kiev clad in valenki, traditional Russian felt boots, and was enthusiastically welcomed as an unspoiled ,folk poet‘“ (Sherman 2007: 132). Man denkt unweigerlich an Sergej Esenin, der der Petersburger Bohème in Bauernhemd und Filzstiefeln die Schau stiehlt. Viel wichtiger als diese Inszenierung als ‚Dorfdichter‘ sind die poetischen Ähnlichkeiten, die eine komparatistische Studie wert wären, zum Beispiel die Einflüsse des (russischen respektive jiddischen) Volkslieds, der Einsatz von Farben sowie Art, Funktion und Dynamik der häufig anthropomorpen Metaphern oder des Leitmotivs der Sonne und ihrer wandelnden Konnotationen. Gennady Estraikh macht auf die Bedeutung Sergej Esenins für Kvitko aufmerksam (2002: 74). Ähnlich wie bei Esenin kippt die Begeisterung für die Revolution in Trauer um. Die Euphorie in Royte gasn (Rote Gassen) aus Trit (s. Remenik 1982: 39) und In rotn shturem (Im roten Sturm), von der jiddisch-sowjetischen Literaturkritik als erstes jiddisches Revolutionsgedicht gefeiert (s. Bechtel 1999: 250)‚ ist in Royte stenges, grine stenges aus 1919 erloschen. 549 Kvitko übersetzt unter anderem volkstümliche Geschichten, Kinderliteratur und Erzählungen Ivan Frankos aus dem Ukrainischen ins Jiddische, s. Hruzman 1990: 43–46 und Sherman 2007: 131.

8.4 Drei Pogromtexte und ihre Titelblätter – Wort- und bildkünstlerische Annäherungen an das Grauen Dostoevskijs berühmtes Diktum „My vse vyšli iz Šineli Gogolja“ (Wir kommen alle aus Gogol’s Mantel) könnte man für die avantgardistische Pogromlyrik paraphrasieren: „Wir kommen alle aus Bialiks In shkhite-shtot.“ Selbst Markish, der in seiner religiös-eschatologischen Absage Bialik grundsätzlich fern steht, errichtet sein Denkmal für den verwesenden Leichenberg auf einer intertextuellen Bezugnahme: Bialiks „du tritst oyf gantse berg tseflikte hob-unguts – / dos zenen gantse lebns, gantse lebns, / tsebrokhene oyf eybik vi a sharbn!“ (Du steigst auf ganz Berge von zerpflücktem Hab und Gut – / ganze Leben sind das, ganze Leben, / zerbrochen auf ewig wie ein zerbrochenes Gefäß [alternativ: Schädel]!; 1922: 8) bildet den Ausgangspunkt für Markishs anarchische Hymne auf dem Haufen und auf den Haufen. Bialiks „bergl mist“ (Berg aus Mist; 1922: 9) lässt Markish dann in Di kupe stinken; das von Bialik vorgegebene Bild agiert er in seinem Zyklus hässlichkeitslüstern aus. Das unreine Schwein, das in In shkhite-shtot im verunreinigten jüdischen Blut herumwühlt, wird in Di kupe zur ‚ästhetischen Schweinerei‘: Die Täterseite, die bei Bialik unweigerlich eine moralische Reflexion über den (Un-)Menschen auslöst – das Schwein symbolisiert natürlich auch die Gojim, die das Pogrom verursacht haben –, spart Markish aus.550 Der Leser ist mit dem Haufen Dreck alleingelassen, zu dem man die Juden reduziert hat. Er ist auch allein mit einer von ethischen Fragen abgekoppelten Ästhetik, mit der Gott (auch als moralische Instanz) verhöhnt wird. Ganz im Gegensatz zu Markish verbindet Dovid Hofshteyn mit Bialik die Frage der Theodizee (Bialik 1922: 11). Hier wie da irrt der lyrische Zeuge des Wütens zwischen Trümmern umher (Bialik 1922: 7; Hofshteyn 1922: XXI). Bis in lexikalische Wiederholungen hinein reicht die intertextuelle Verbundenheit zwischen Bialiks Poem und Hofshteyns poemhaftem Echo.551 Bei Hofshteyn triumphiert das lyrische Ich nicht wie bei Markish im Rausch der Gottesnegation von der Höhe des Leichenhaufens herab; bei ihm steht es vor einem Abgrund (des Nicht-Begreifen-Könnens).552 Das lyrische Subjekt aus Troyer weiß seit Bialik, dass alle Fragen, die die Theodizee aufwirft, ungehört verhallen werden: O, opgrunt! Ikh mon nit, ikh freg nor – ikh veys shoyn fun lang, fun langonen, vos heyst mit dir taynen, 550 Das Schwein taucht im ersten Pogrombild Yisokher Ber Ribaks auf (s. Kap. 9.1). 551 Bei Bialik ergeht die Aufforderung, die Leiden der Schechina bis an alle Enden der Welt zu verbreiten („tsetrog zey [...] in ale ekn fun der gantser Welt“; Bialik 1922: 17); in Hofshteyns Troyer ist es der Wind, der als stummer Zeuge der Trümmer und Trauerriten in alle Richtungen zerstiebt („tsetrogn vet [...] der vint“; 1922: XXI). 552 Das Gefühl unendlicher Trauer ob der Tatsache, an einem Abgrund der Gottverlassenheit zu stehen, ist konstitutiv für Hofshteyn. Intertextuelle Bezüge zwischen Bialik und Hofshteyn entstehen durch Bilder des Abgrunds: Hofshteyns „opgrinden fun groyen umet“ (Abgründe großer Trauer; 1922: 15) evoziert Bialiks „tkhum dem shtumen“ (stummen Abgrund), in dem alle – zum Himmel gerichteten – Hilferufe versunken sind (1922: 10).

202  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild vos heyst bey dir monen [...] Oh Abgrund! Ich fordere nichts, ich frage nur – Ich weiß schon lange, ganz lange, was es heißt dir gegenüber zu klagen was es heißt von dir etwas zu fordern [...] (1922: XII)

Denn bereits Bialiks lyrisches Ich – Stimmträger des Göttlichen! – verkündet die traurige Botschaft: Die Augen der „neshomes fun di kdoyshim“ (Märtyrerseelen; 1922: 10), die „monen“ (fordern) und „fregn“ (fragen; 1922: 11), erhalten von Gott keine Antwort: [...] un taynen shtumerheyt alts yene alte tayne, vos hot nokh keynmol nit dergreykht tsum himl un vet tsum himl keynmol nit dergreykhn: Far vos, far vos? Un nokh amol far vos? ... [...] und stimmen stumm wieder und wieder die alte Klage an, die noch nie den Himmel erreichte und den Himmel nie erreichen wird: wozu, wozu? Und noch einmal: wozu? ... (1922: 11)553

Auch Leyb Kvitko setzt Bialiks Pogromdichtung fort: Mehrfach wendet er für sein lyrisches Ich die eingangs in Bialiks In shkhite-shtot beschriebene Gesprächssituation an, aus einem Versteck heraus das Pogromgeschehen zu verstehen (s. Bialik 1922: 10 und 12). Durch beide Pogromtexte ‚streunen‘ Hunde als Teil der ostjüdischen Lebenswelt – und als Bestandteil ihrer Rhetorik.554 Kvitko fädelt zusätzlich einen Bezug zu Psalm 59 ein. Sein Gedicht „Yatkehint“ (Schlachter- /Schlachthaushunde; 1923: 155–156) – sie stehen metaphorisch für die blutrünstigen Pogromisten – greift die Atmosphäre aus dem Bittgesang Davids auf. Dieser fleht Gott an, ihn vor den Feinden der Juden, ebenfalls ins Bild der Hunde gebannt, und vor dem Tod zu beschützen: „Abendlich kehren sie wieder, / heulen wie das Hundepack und 553 Hofshteyn nimmt mit der „alten, alten Klage“ (alte-alte tayne; 1922: VII) auf diese Stelle aus Bialiks Poem Bezug. Zugleich ist es eine Anspielung auf das Volkslied „Fregt di velt an alte kashe“ (Die Welt fragt eine alte Frage; s. Mlotek/Mlotek 1998: 207. 554 S. Bialik 1922: 14 und 23. Beispiele in Kvitkos Zyklus sind Zey shtupn mikh (Sie schubsen mich; 1923: 110–112) und Vifl shoen in a tog (Wieviel Stunden am Tag; 1923: 142–143).

Drei Pogromtexte und ihre Titelblätter  | 203 umkreisen die Stadt, / da geifern mit ihrem Mund sie, / Schwerter sind auf den Lippen ihnen, denn: „Wer hörts?!“ (Ü: Buber/Rosenzweig) Neben dem Motiv des Verzeihens und lexikalischen intertextuellen Referenzen sind die auch bei Hofshteyn zentralen Kinder das wichtigste Bindeglied zwischen Bialiks Poem und Kvitkos vielstimmigem Zyklus: In shkhite-shtot erzählt von einem Kind „a lebediks tserisn, / ineynem mit zayn letstn shray oyf tsvayen – / a halber „ma ...!“ un „mame“ nit geendikt ... (lebend ent­ zweigerissen, / während seines letzten Schreis – / ein halbes „Ma ...!“ und „Mama“ nicht zu Ende gesagt; 1922: 12; s. auch S. 14). Kvitko ist – bei aller Tragik – ein Kind der Hoffnung: Er setzt Bialiks ersterbendem Ruf nach der Mutter denjenigen eines Neugeborenem entgegen: Kh’breng aykh kameyelekh-grusn fun likhtikn kind. Es ruft aykh shoyn „tate“ und „mame“ un kusht ayer payn. Ich bringe euch Amulettgrüße vom Lichterkind. Es heißt euch schon „Papa“ und „Mama“ und küsst eure Pein. (1923: 100; s. Kap. 8.3)

Mit dem Erscheinen von Kvitkos 1919 wird das Martyrium der Juden in der Ukraine ins Berlin der jüdisch-russischen kulturellen Blüte hinein versetzt. Die Drehscheibe Berlin darf sich, bereichert durch die ostjüdisch-russische Intellegenzia, die sich vornehmlich im „Romanischen Café“ trifft, mit den Titeln „ir v’am b’Israel“, Stadt und Mutter in Israel (2. Sam 20:19, s. MartenFinnis/Valencia 1999: 103–120) und „Charlottengrad“ schmücken. Sie wird für Einheimische und Emigranten vorübergehend zur Heimat, wo die „Gleichzeitigkeit einer historischen Erfahrung von Zusammenbruch und Revolution, gemacht in verschiedenen Räumen“ (Schlögel 1994: 258), zusammenläuft. Hier begegnen sich Künstler und Literaten der russischen Emigration und der noch jungen Sowjetkultur. Hier geschieht die Vermittlung zwischen west- und osteuropäischem Judentum, kollidiert ein romantisierender Ostjudenkult assimilierter Westjuden, mit dem am Bürgerkrieg und Zentralismus gescheiterten Projekt einer Jüdischen Renaissance im jungen Sowjetrussland (Bertz 1991: 39, s. Kap. 5). Das Berlin zu Beginn der Weimarer Jahre ist auf die Rezeption dieses letzten Aufbäumens der russisch-jüdischen Kulturrenaissance nicht vorbereitet, von der Rezeption von Kvitkos 1919 ganz zu schweigen. Die ungeheure Übersetzungsleistung beispielsweise Alexander Eliasbergs, Nathan Birnbaums, Theodor Zlocistis oder Berthold Feiwels berücksichtigt diesen Text nicht. So bleibt die Stimme des ostjüdischen Autors von 1919 eine Stimme für die Ostjuden. So liegt ein Text brach, dessen ungeheure Gedächtnisleistung in Bezug auf das Pogromjahr 1919 sich nur mit Hofshteyns Troyer messen kann.555 555 Wie Markishs Di kupe und Hofshteyns Troyer ist auch dieser Text bislang nicht ins Deutsche übersetzt. Für Dovid Hofshteyns Poemzyklus ist eine kommentierte jiddisch-deutsche Ausgabe geplant. Außer der französischen Übersetzung von Di kupe (2000; s. Kap. 8.1) ist Seth Wolitzs Beitrag von 1988 eine englische Teilübersetzung beigefügt (1988: 68–72).

204  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Glücklicherweise ziert jeden der drei Pogrom-Zyklen ein universell rezipierbares Umschlagbild, das inhaltlich und ästhetisch den Duktus des literarischen Prätextes aufgreift. Während in Moskau Marc Chagall Dovid Hofshteyns Troyer mit einem Titelblatt versieht, fällt diese Aufgabe im Falle der zweiten Ausgabe von Markishs Di kupe (Der Haufen, 1922) und Kvitkos 1919 Yoysef Tshaykov (1888–1986) zu.556 Tshaykov, wie Chagall bestens mit der westeuropäischen und russischen Avantgarde vertraut, zeigt auf dem Umschlag zu Perets Markishs Di kupe, wie ein Mann und eine Frau einen Kadaver zu diesem Haufen bringen, der durch den jiddischen Schriftzug und Titel „di kupe“ repräsentiert ist (s. Abb. 45). Die avantgardistischen Lettern sind auf dem Kopf stehend in einen Kreis eingepasst. Die Gestaltung ruft das Bild-Gedicht Zun-fargang (Sonnenuntergang) aus Hofshteyns Troyer auf, das in Form eines Kreises abgedruckt ist. Ein schwarzes Dreieck ragt von links oben in den Kreis hinein. Tshaykov zitiert hier Lisickijs Plakat Klinom krasnym bej belych! (Mit dem roten Keil schlag die Weißen!, 1919/1920, s. Abb. 46). Lisickij, der formal Tatlin, Malevič, Militär­kartensymbole sowie russische Ikonen und lubki zitiert, appelliert mit diesem Slogan Il’ja Ėrenburgs damit besonders an die Juden, die Revolution zu unterstützen (Kampf 1990: 37).557 Mit dieser Textwahl will er sie der kommunistischen Partei näherbringen: (Un) bewusst ruft sie die Erinnerung an den Schlachtruf „Bej židov!“ (Schlag die Juden!) wach, der während der Pogrome von den weißen Kontrarevolutionären und dem orthodoxen Klerus ausgegeben wurde. Die Wörter auf dem Plakat assoziieren die Weißen mit den antisemitischen Gräueltaten: Statt der Juden sind nun sie – als ursprüngliche Verursacher der Pogrome – zu schlagen (Birnholz 1973: 131; Kampf 1990: 37). Aufgrund dieser Ähnlichkeit zwischen Pogrombild und Propagandaplakat, das während des russischen Bürgerkrieges zwischen den Weißen und Roten für die Sowjets mobil macht, holt Tshaykov indirekt auch die Täter mit ins Bild herein. Denn getötet wurden die Juden im Ansiedlungsrayon sowohl von den (monarchistisch gesinnten) Sowjetgegnern als auch von den Rotarmisten. In Chagalls Umschlagbild zu Troyer durchbohrt die dünn gezogene, diagonal abfallende Linie den doppelköpfigen Körper mit Hofshteyns und Chagalls Gesichtern obenauf. Wie sehr gerade Kišinëv die jüdische Intelligenz bis in die 1920er Jahre hinein prägt, zeigt neben der Intertextualität des Hofshteyn’schen Textes mit Bialik auch Chagalls visuelle Interikonizität mit Ephraim Moses Lilien (1874–1925). Lilien fängt in seinen Jugendstilbildern die Erhabenheit der Erzväter und später zionistische Ideen ein. Der Künstler, der 1902 nach Russland zu Maksim Gor’kij reist, entwirft ein Jahr später das Gedenkbild Lemot al kidusch 556 Den Umschlag zur ersten Ausgabe von 1921 erstellte Henryk Berlewi. Die wellenförmige Gestaltung links oben zitiert mit dem angedeuteten Kreis Berlewis abstrakt-konstruktivistische Kompositionen, die in Folge der Begegnung mit Lisickijs Konstruktivismus entstanden (s. Abb. in: Hazan-Brunet 2009: 7). David Mazover schreibt hierzu: „Berlewi devised a striking gold-on-black composition in which the massive stone-like blocks of the title letters rise organically and almost imperceptibly out of a stylised landscape of mountain peaks.“ (http://yiddish.haifa.ac.il/tmr/tmr09/tmr09005.htm; 5.3.2012; Abb. in Hazan-Brunet 2009: 205) 557 Zu Lisickijs strukturell-kompositorischen Anleihen aus der Ikone für das Agitationsplakat s. Krieger 1998: 182–192.

Drei Pogromtexte und ihre Titelblätter  | 205 haschem beKischinov (Für die Märtyrer von Kišinëv; s. Abb. 39).558 Gedacht ist es als Titelbild für eine Anthologie jüdischer Dichtung, die Maksim Gor’kij als Reaktion auf das Pogrom herausbringen will (Brieger 1922: 136). Der Almanach soll in russischer Übertragung die „besondere geistige Kultur des Jüdischen“ (ebd.) vermitteln. Leider gelangt das Projekt, für das Lilien drei Blätter anfertigt, nicht zur Ausführung.559 1903 erscheint das Weiheblatt dann in einer deutschen Publikation Berthold Feiwels. Unter dem Pseudonym Told dokumentiert er die in Kišinëv begangenen Abscheulichkeiten ebenso wie jüdischen Heldenmut.560 Das Weiheblatt teilt mit Liliens Jugendstil-Zeichnungen zum Buch Juda (1900) dieselbe monumentale Erhabenheit. Liliens Prinzessin Sabbath (Abb. in Brieger 1922: 65), die mit Torarolle und ornamentalen Schriftzeichen auf dem Kleid auf einem Throne sitzt, oder die Engeldarstellungen (Abb. in Brieger 1922: 67) mit athletischen, nach hellenischem Vorbild modellierten Körpern und mächtigen Schwingen, folgen dieser Ästhetik. In seinen Illustrationen zum Buch der Bücher (erschienen 1908; Brieger 1922: 221) ist der MärtyrerJude des Kišinëv-Blattes durch den Propheten Daniel ersetzt. Das Bild ist auch aufgrund der anderen emotionalen Grundstimmung dynamischer: Statt des toten, christologisch gedeuteten Juden sieht man einen nachdenklichen Propheten; der Engel erhebt sich  – wogendes Meer unter ihm – hinter ihm in die Höhe. In Chagalls Titelblatt schimmert das Lilien’sche Präikon auf: Die bei Lilien durch strenge Linienführung getrennten Körper verschmelzen bei Chagall zu einem einzigen. Die schräg gehaltene Torarolle ist bei Chagall getilgt. Allein die auf die andere Seite gespiegelte dünne Linie evoziert das konkrete und pathetische Vorbild. Die Heilige Schrift ist ersetzt durch den Titel der Pogromdichtung. Liliens Märtyrer, der an Rabbi Akiva erinnert, weicht dem zweiköpfigen Künstler. Nichtsdestotrotz schwingen in der interikonischen Wiederholung der Figurenkomposition Liliens Weiheblatt und die Kišinëver Pogromrealität mit. Im Falle von Leyb Kvitkos Pogrom-Zyklus hebt Tshaykov im Umschlagbild 1919 als Pogromjahr hervor, das fast einer Auslöschung der dort ansässigen Juden gleichkam (s. Abb. 47).561 Die Zahl steht in auffälligem Kontrast zu den Schriftzügen, die sowohl Hof­ shteyns Troyer als auch Markishs Di kupe zieren. Über der Jahreszahl sind ein bärtiger alter Mann und eine von Kummerfalten gezeichnete Frau zu sehen. Das eine Auge des bärtigen Juden ist offen, das andere geschlossen. Hier wie in der die Linie betonenden Gestaltung ruft Tshaykov außer Ribak Marc Chagall auf, der mehrmals Juden mit einem offenen und einem

558 Der „kidusch-ha-schem“ (wörtl. Heiligung des [göttlichen] Namens) bezeichnet ausgehend von tanachischen Quellen den Märtyrertod von Juden, die sich statt der Zwangstaufe für den Tod entscheiden. Er ist der äußerste Ausdruck jüdischer Glaubenszugehörigkeit. Das Gegenstück hierzu ist „chilul-haschem“, die Entweihung von Gottes Namen (s. Schoeps 1992: 260, EJ Bd. 10 1971: 977–986). In Ribaks Pogrombildern spielt der „kidush-ha-schem“ ebenfalls eine wichtige Rolle (s. Kap. 9.1 und 14). Zu einer jüdischen wie christlichen Lesart des Bildes s. Roskies 1984: 280. 559 Neben dem Weiheblatt für die Opfer von Kišinëv entwirft Lilien den Kopf eines Kabbalisten und das Blatt Vater und Sohn (ebd.; Abb. in Brieger 1922: 141). 560 S. Kap. 8.1, Fußn. 446. 561 Vgl. Kap. 8.1.

206  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild geschlossenen Auge darstellt.562 Das Ineinander von geometrischer Form und menschlichem Gegenüber sowie die starke Betonung der Hände erinnern an Chagalls Höhepunkt seiner Judendarstellungen, den Juden in Schwarz und Weiß von 1914. Doch fehlen Tallit und Tefillin. Der Jude nach 1919 betet nicht mehr. Harmonie und Dissonanz halten sich die Waage. Die Übergänge zwischen Mann und Frau sind fließend, die Gestaltung der Fläche kontrastiert (winzige Punktierung beim Mann, große Punkte bei der Frau). Der Mann scheint aus einem Grabstein herauszuwachsen. Die Grenze zwischen Menschenkörper und Grabmal ist aufgehoben. Das Fehlen jeglicher Raumtiefe, die Linienführung und die Geometrisierung irritieren: Wo hört der Mensch (das Leben) auf, wo fängt der Grabstein (der Tod) an? (Auch diese Entgrenzung zwischen Mensch und Ding gemahnt an Chagall.) Die Zahlensymmetrie von 1919 wird durchbrochen, indem der zweite Teil der Jahresangabe diagonal eingefügt die Ordnung stört. Die Zahlen sind weiß in ein schwarzes Quadrat gesetzt. Als Negativ zum ersten Zahlenpaar 19 evozieren sie wie der Gegensatz von Ding (Grabstein) und Mensch (Jude und Frau) oder von geschlossenem und offenem Auge Tod und Leben.563 Die Statik des Bildes ist im Vergleich zur Dynamik auf dem Umschlag zu Markishs Di kupe erschreckend. Zeigt jene noch Überlebende, die einen Toten tragen, so ist hier alles dem Tod preisgegeben. Die Annihilierung alles Lebenden in der visuellen Darstellung erfährt eine Verstärkung, wenn die Lektüre von 1919 vollzogen ist: 1919 ist der Pogromzyklus über die Vernichtung jüdischer Kinder. Das auf dem Umschlag abgebildete Paar scheint tot zu sein – oder an den Gräbern um ihre toten Kinder zu trauern. Tshaykovs Titelbild prägt die Übermacht des Todes. Vitalität und Visualität schließen sich hier aus. Im Falle von Kvitkos Lyrik in 1919 ist das anders. Hier zeigt sich wie schon in Trit „a kvitkoisher viln“ (der Wille Kvitkos), das Joch archaischer Kräfte abzuwerfen und dem Tag entgegenzugehen (Dobrushin 1919: 87). Diese Evolution vom Instinkt zum Bewusstsein gipfelt in der Vitalität von Kvitkos Sprachbildern, mit der er Tod, Gewalt und Hass reflektiert und ästhetisch überwindet.

562 S. Kap. 7. Die Holz ähnelnde Linienführung oberhalb des Juden ruft als weiteren Hauptvertreter der russisch-jüdischen Avantgarde Natan Al’tman und sein Portrait eines alten Juden von 1913 in Erinnerung (Abb. in: Ėtkind 1971: 29; vgl. Amishai-Maisels 1995: 54–70). Für Aronson und Ribak ist Der Jude in Schwarz-Weiß (jidd. Der yid, vos iz mispalel / Der betende Jude) ein Vorzeigebild der jüdischen Avantgardekunst (1919: 121). Man ist auch an Samuel Hirszenbergs Der Friedhof (1892) erinnert, auf dem klagende Juden zwischen Grabmälern zu sehen sind (Abb. in: Michalak 2004: 54). 563 Dies ist auch der Tenor von Hillel Kazovkijs Kurzbeschreibung in Futur antérieur (2009: 170).

9  Pogromgewalt in Text und Bild: Isaak Babel’ und Yisokher Ber Ribak 9.1 Yisokher Ber Ribaks Pogrombilder (1919/20) – Schreckensvisionen eines Erschrockenen „Die Ikonographie des Leidens hat eine lange Geschichte“ – mit dieser Feststellung ruft Susan Sontag in ihrem Essay Regarding the Pain of Others (2003) die abendländische Tradition auf, von der Passion Christi und christlicher Märtyrer über die Kriegsphotographie bis zur multimedialen Kriegsberichterstattung der heutigen Zeit das Auge des Betrachters mit Gewalt und Schmerz zu konfrontieren (dt. 2005: 49). Die Gefahr der aktuellen Kriegsdarstellung in Film und Fernsehen, an deren manipulierbarer und manipulierter Oberfläche Mitgefühl und Anteilnahme abrutschen, tritt im Vergleich zur Malerei und Graphik der vorausgehenden Jahrhunderte umso deutlicher hervor. Der heutige Betrachter kämpft ob der platten dokumentarischen Nähe zum Kriegsgeschehen gegen die Indifferenz (und verliert meistens). Auch Francisco de Goya führt mit seinem Radierzyklus Los desastres de la guerra (Die Schrecken des Krieges, ca. 1810–1820) „dicht an den Schrecken heran“ (Sontag 2005: 53).564 Die Folge jedoch sei, so Sontag, ein Schock, ein beim Betrachter empfundener Schmerz (ebd.). Dem dokumentarischen und totalen Kamerablick steht das jeder Atmosphäre entkleidete, auf kriegerische Gräueltaten und apodiktisches Anklagen der Gewalt gerichtete Schwarz und Weiß der Goya’schen Graphik entgegen. Für die amerikanische Intellektuelle scheint deshalb „Goyas Kunst [...], wie die Dostojewskis, einen Wendepunkt in der Geschichte des moralischen Empfindens und des Kummers zu markieren – genauso tief, genauso neuartig, genauso fordernd.“ (S. 54) Was Goya für die christliche Maltradition der Gewalt, ist Yisokher Ber Ribak für die jüdische. Seine Pogrom-Serie von 1919/20 erreicht  – wenn auch in einer völlig anderen Technik  – eine ähnliche ästhetische und ethische Dimension wie der Spanier.565 Ribak markiert einen Höhepunkt in der Ikonographie des Pogroms, die eine umfängliche Unterabteilung der „Ikonographie des Leidens“ bildet.566 564 Goyas Zyklus umfasst 82 Grafiken (Abb. in: Sánchez/Gallégo 1995) und setzt Jacques Callots Les misères et les malheurs de la guerre von 1633 fort (2005: 52). In der schonungslosen Darstellung der brutalen Kriegsrealität auf der iberischen Halbinsel in den Jahren zu Beginn des 19. Jh. stellt er einen drastischen Kontrast zu anderen, die napoleonischen Kriege verherrlichenden Bilder von Antoine-Jean Gros oder Jean Géricault dar (s. hierzu Tugendchol’d 1916: 111–141). 565 Zu Entstehungszeit und -ort der Pogrombilder, die als Reaktion auf das Pogrom in Elizavetgrad im Jahre 1919 entstehen (Ribak 1937: 9), existieren unterschiedliche Angaben. Hillel Kazovskij datiert die Bilder auf 1919 (2003: 236–237, s. auch http://www.shtetlinks.jewishgen.org/lyakhovichi/Mukdonybio.htm; 5.3.2012), Karl Shvarts nennt Moskau 1920 (1937: 36, s. auch Tsharni 1937: 74). S. hierzu auch Meidler-Waks 2012: 37–41. 566 Die Pogromliteratur erfährt mehr und mehr eine angemessene wissenschaftliche Betrachtung (vgl. Roskies 1984). Für die Pogromkunst bleibt sie ein Desiderat. Cohens Kapitel „Images of Jewish Fate: at a Crossroads“ (1998: 220–255) bildet hier die rühmliche Ausnahme. Es endet allerdings im Realismus.

208  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Susan Sontag stellt mit ihrem Essay die essentielle ethische Frage, was der Anblick eines leidenden Menschen beim Betrachter auslöst. Um eine Antwort darauf zu finden, reflektiert sie auch die (ästhetische) Geformtheit dieses den leidenden Menschen präsentierenden Materials. Diese Verschränkung von ästhetischer Umformung von Gewalterfahrung und ethischem Appell bildet den Kern einer exemplarischen Analyse eines Bildes aus Ribaks Pogromserie.

Ribak und seine Pogromserie von 1919/20 Yisokher Ber Ribak, geboren am 2. Februar 1897 im ehemaligen Ansiedlungsgürtel in Elizavetgrad (heute Ukraine), studiert in Kiev und Petersburg Malerei. Sein Lebensweg kreuzt sich mit den großen Pogromdichtern Perets Markish, Leyb Kvitko und Dovid Hofshteyn sowie den Kritikern Yekhezkl Dobrushin und Nakhmen Mayzel, als er Anfang 1918 die Kunst-Sektion der Kiever Kultur-Lige mitbegründet.567 Er soll einer ihrer wichtigsten praktischen, aber auch kunsttheoretischen Vertreter werden. Als Schüler Aleksandra Ėksters, einer der einflussreichsten russischen Avantgarde-Künstlerinnen der Zeit, trägt er wesentlich zur Blüte der jüdisch-russisch-ukrainischen Malerei bei.568 Mit der jüdischen Folklore ist er ­bestens vertraut. Wie andere jüdischstämmige Avantgardisten nimmt er die Kunsttradi­tionen in sich auf, als er 1915 und 1916 zunächst alleine, dann gemeinsam mit Lisickij anlässlich der von An-Ski organisierten ethnographischen Expeditionen in die heutige Belarus und Ukraine reist und Friedhöfe und Holzsynagogen inspiziert. Virtuos integriert er sie in seinen kubistischen Malstil.569 Einen der Grabsteine schleppt er eines Tages gar in sein Kiever ­Atelier (Wischnitzer-Bernstein 1937: 40). Ribaks Herz schlägt für die Erschaffung einer originären und originellen modernen jüdischen Kunst. Scheu, still und introvertiert, begrüßt er zunächst die Revolution.570 Voll 567 Zur Kultur-Lige s. bes. Kap. 8.2. In dieser Zeit arbeitet Ribak u. a. auch für das jüdische Theater und gibt Kindern Zeichenunterricht (Ribak 1937: 15–18). 568 Ribak besucht 1913–1914 das Atelier Aleksandra Ėksters und Aleksandr Bogomazovs (Hazan-Brunet 2009: 244). Aleksandra Ėkster zählt vor allem aufgrund ihrer kubistischen Gemälde und Bühnenbilder für Aleksandr Tairovs Kamernyj teatr (Kammertheater) zu den herausragenden Vertreterinnen der russischen Avantgarde (vgl. Kovalenko 1993, Bowlt/Drutt 1999, bes. S. 131–153 und Ėkster 2001). Ribaks Künstlerkollege Emmanuel Mané-Katz (1894–1962), der wie Chagall ästhetisch vor allem in Paris geprägt wird, ohne die jüdische Thematik (er malt vor allem Musikanten) aufzugeben, erinnert sich an die gemeinsame Kiever Zeit (1937: 66f.). 569 Diese Fähigkeit zu synthetisieren ist bei ihm stärker ausgeprägt als etwa bei Salomon (Shloyme) Judovin, der primär als Dokumentator der jüdischen Volkskunst agiert. Gemeinsam mit Mark (Maynvil) Malkin gibt er 1920 Der yidisher folks-ornament (Das jüdische Volksornament), ein Album mit Drucken jüdischer Grabsteine, Misrachim und anderen Kultgegenständen, in Vitebsk heraus, wo er für Chagalls Kunstschule und die dortige Y.L.Perets-Gesellschaft aktiv ist (Hazan-Brunet 2009: 246). Judovin, wie Marc Chagall ein Schüler Jurij Pens, betätigt sich von den 1920er Jahren an konsequent in der Graphik. 570 Ribak konnte – so seine Witwe Sonya – erst mit sechs Jahren sprechen. Dieser Umstand ist ein Grund für seine große Schüchternheit und Introvertiertheit. Sonya Ribak sieht darin auch einen Hauptfaktor für Ribaks phänomenales visuelles Gedächtnis (1937: 10).

Yisokher Ber Ribak – Schreckensvisionen eines Erschrockenen  | 209 Idealismus widmet er sich – wie Lisickij und Tshaykov – innerhalb der Kultur-Lige der nun befreiten jüdischen Kunst. Gemeinsam mit seinem Kiever Künstlerkollegen Boris Aronson formuliert er 1919 in Di vegn fun der yidisher moleray (Die Wege der jüdischen Malerei) das ästhetische Credo der jüdischen Kunstrenaissance: Die jüdische Kunst entfaltet sich als Synthese der bisherigen ästhetischen Tradition (der Volkskunst) und den Leistungen der europäisch-russischen Avantgarde.571 In direkter Umsetzung dieser Theorie kombiniert er in seiner Pogromserie virtuos jüdische Volkskunst mit der christlichen  – westeuropäischkatholischen und russisch-orthodoxen – visuellen Hochkultur. Enttäuscht und erschüttert vom politischen Chaos der Bürgerkriegsjahre, geht Ribak 1920 zunächst nach Moskau, wo er wie Marc Chagall für die dortige Filiale der Kultur-Lige und für das GosET aktiv ist. 1921 dann bricht er nach Berlin auf. Bis 1924 bleibt er in der Stadt, die ihm neben vielen anderen ostjüdischen und osteuropäischen Intellektuellen Zuflucht bietet.572 Ribaks Biographie verzeichnet für die Jahre 1925 und 1926 ein Zwischenspiel in Sowjetrussland, wo er u. a. erneut Bühnenbilder für das jüdische Theater, diesmal in Char’kov, entwirft.573 Von 1926 bis zu seinem frühen Tod 1935 lebt Ribak in Paris, auch in den 1920er Jahren ein Kunstmekka der Avantgarde und Auffangbecken osteuropäischer Intelligenzler und Lebenskünstler. Dort intoniert er Zartes, Lyrisches, wird eine Art jüdischer Renoir.574 Leise Melancholie durchzieht seine Porträts jüdischer Männer und Frauen. Idyllische Ruhe senkt sich über die Bilder eines hochsensiblen Malers, der in seiner Heimat Schreckliches gesehen hat.575 Ribak hält bis zu seinem frühen Tod an jüdischen Themen fest.576 Nicht nur deshalb ist sein Name, dessen Werk in Deutschland der angemessenen Würdigung durch eine breitere Öffentlichkeit harrt, neben denjenigen Marc Chagalls zu setzen. Die jiddische Fachwelt 571 S. Kap. 1 und 8.3. Zu Ribaks kunsttheoretischem Beitrag zur Herausbildung der ostjüdischen Kunst s. Dmitrieva 2007: 48–61. 572 In der pulsierenden Berliner jüdisch-jiddisch-russischen Kunst- und Emigrantenszene betätigt er sich als Mitglied der Berliner Secession und der Novembergruppe (Hazan-Brunet 2009: 243). In der dort herausgegebenen Kunstzeitschrift Rimon/Milgroym (Granatapfel) finden sich neben Chagall auch Abdrucke von Ribak. Zu einer Publikation von Ribaks Pogrombildern kommt es nicht: „Mir hobn nit gehat dem mut ot di bilder tsu farefentlekhn.“ (Uns fehlte der Mut, die Bilder zu veröffentlichen; Wischnitzer-Bernstein 1937: 41). Zu Rimon/Milgroym s. Kap. 3. 573 Ein weiteres künstlerisches Produkt seiner Reise in die UdSSR ist der Zyklus Oyf di yidishe felder fun Ukrayne (Auf den jüdischen Felder der Ukraine) von 1926. 574 Er vollzieht einen Stilwandel hin zu einer „peinture expressioniste colorée dans le style d’École de Paris“ (Hazan-Brunet 2009: 243). Ribaks erster Versuch, nach Paris aufzubrechen, scheitert. Er wird wie Chagall vom Ersten Weltkrieg überrascht und an der Grenze abgewiesen (Ribak 1937: 14). 575 Wischnitzer-Bernstein (1937: 41) und Karl Shvarts (1937: 37) heben hervor, dass die Pogromschrecken von 1919, deren Zeuge Ribak wird, ihn wie Albträume verfolgen. Vielleicht nimmt Ribak die bildkünstlerische Zeugenschaft des Pogroms auf sich, um die schrecklichen Bilder in seinem Gedächtnis wenn nicht auszulöschen, so doch wenigstens medial zu bannen (vgl. Ribak 1937: 9 und Shvarts 1937: 36). 576 Neben der Malerei zählen hierzu seine Keramikfiguren für das Musée de Sèvres, die in den letzten Lebensjahren entstehen. Zu Ribaks Biographie S. Cogniat 1934, Ribak 1937: 7–28, Wolitz 2008: 1640–1642, Goodman 1995: 218–219, Hazan-Brunet 2009: 242–243 und http://www.comiteryback.org/Biography.php; 5.3.2012).

210  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild feiert Ribak als „yoyresh un sheliekh“ (Erbe und Bote) der jüdischen Volkskunst (Tsherikover 1937: 57), als „zweiten Chagall“ (tsveyter Shagal; Mukdoyni 1937: 66).577 Ribak ist deshalb eine Zentralfigur der ostjüdischen Kulturrenaissance, weil er  – vielleicht mehr als die bekannteren Chaïm Soutine, Emmanuel Mané-Katz, Natan Al’tman, Lisickij und Marc Chagall – aufgrund seiner Themenwahl und avantgardistischen Integration der jüdischen Volkskunst der ‚jüdischste‘ unter diesen Künstlern ist.578 Der aktuell dürftige Forschungsstand zu diesem herausragenden Maler zeigt im Unterschied zur großen Wertschätzung durch das intellektuelle Umfeld seiner Zeit einmal mehr, dass das Gedächtnis einer jeden Kultur, hier der ostjüdischen, der Dialektik des Erinnerns und Vergessen unterworfen ist.579 So nimmt es nicht wunder, dass Ribaks Pogromserie, die für das Verständnis seiner künstlerischen Gesamtentwicklung zentral ist, im Archiv des Mishkan l’Omanut, des Kunstmuseums in Ein Harod, Israel, darauf wartet, aus dem Speicher- ins Funktionsgedächntis übernommen zu werden.580 Für das Weiterleben von Ribaks Pogrombildern im kulturellen Gedächtnis sind die verantwortlich, die sich – wie Jacques Derrida – dem Archiv verschreiben werden: „Die Frage des Archivs ist nicht eine Frage der Vergangenheit, nach einem Begriff von Vergangenheit, über den wir ‚bereits‘ verfügten, ‚einen archivierbaren Begriff des Archivs’. Es ist eine Frage von Zukunft, die Frage der Zukunft selbst, die Frage einer Antwort, eines 577 Aleksandr Mukdoyni (eigtl. Aleksandr Kapel; 1878–1958), ursprünglich der erste in der Zunft der jiddisch schreibenden Theaterkritiker, hebt in seinem wichtigen Nekrolog auf Ribak (1937: 66–71) dessen Rückbesinnung auf die traditionelle jüdische Volkskunst hervor. Zu Mukdoyni s. http://www. shtetlinks.jewishgen.org/lyakhovichi/Mukdonybio.htm;5.3.2012. 578 Ribak 1937: 8 und Mané-Katz 1937: 63. Karl Shvarts und Aleksandr Mukdoyni weisen auf grundlegende Unterschiede zwischen dem wesentlich stärker an der westeuropäischen Kunst orientierten, ludistischen Chagall und dem auch künstlerisch und weltanschaulich auf das Jüdische gerichteten, ernsten Ribak hin (Shvarts 1937: 38, Mukdoyni 1937: 66). Auch Leo Kenig (1937: 47–51) und Jankel Adler (1937: 45) unterstreichen die stark jüdische Komponente seiner Kunst. Diese lässt sich nicht nur am Sujet festmachen (Adler betont Ribaks Verbundenheit mit dem Chassidismus; S. 43), sondern in hohem Maße auch an der Faktur – und hindert Ribak daran, in der einsetzenden Nivellierung des Sozialismus aufzugehen (Tsharni 1937: 74). 579 Der von Raymond Cogniat 1934 auf Französisch herausgegebene Katalog, der 1937 erschienene jiddische Gedenkband sowie zwei israelische Ausstellungskataloge von 1950 und 1993 nehmen sich vergleichsweise mager aus neben der Tatsache, dass die führenden jiddischen Kiever Autoren Der Nister und Dovid Bergelson Ribak als „ihren Maler“ (zeyer moler) anerkannten (Mukdoyni 1937: 67). Elye Tsherikover (1881–1943), Historiker und Gründungsmitglied des YIVO, schreibt in seinem Nekrolog: „Es iz an iberiker bavayz fun undzer kulturlozigkayt, vos ot der oytser, Ribaks grafik fun yidisher folkskunst, iz tsum veynikstn bakant un iz nokh biz itst nit aroysgegebn gevorn.“ (Es ist ein weiterer Beweis unserer Kulturlosigkeit, dass dieser Schatz, Ribaks Graphik zur jüdischen Volkskunst, am wenigsten bekannt und bis jetzt noch nicht ediert worden ist; 1937: 58; Lisickijs und Al’tmans Zeichnungen sind in der Tat veröffentlicht.) Dasselbe gilt leider auch für Ribaks Pogromserie. 580 Das Mishkan l’Omanut ist das erste nach der Staatsgründung Israels eröffnete Museum mit einer großartigen Architektur (s. http://www.museumeinharod.org.il/english/; 5.3.2012). Anlässlich eines IsraelAufenthaltes im Dezember 2009 konnte ich die acht Bilder der Pogromserie, 2012 in der Ausstellung Berlin Transit im Jüdischen Museum Berlin gezeigt wurden, einsehen und bin Ayala Oppenheimer zu besonderem Dank verpflichtet. Andere wichtige Werke aus Ribaks Kiever Zeit befinden sich im RibakMuseum Bat Yam (Israel), darunter Alef-beyt (Alphabet, 1919), Alter Jude (1919) und besonders Die alte Synagoge (1917); Abb. s. Kazovskij 2003: 235, 239 und 240.

Yisokher Ber Ribak – Schreckensvisionen eines Erschrockenen  | 211 Versprechens und einer Verantwortung für morgen. Wenn wir wissen wollen, was das Archiv bedeutet haben wird, so werden wir es nur in zukünftigen Zeiten wissen.“ (1997c: 58) Neun kleinformatige Werke in Mischtechnik (Bleistift, Tusche, Aquarellfarbe) ergeben zusammen einen Bilderreigen des Bösen.581 Im Unterschied zu früheren – zumeist realis­ tischen  – Pogrombildern, die allesamt post festum die Juden als Betroffene fokussieren (s. Kap. 7), nimmt Ribak die Täter in actu in die Darstellung auf. Von einer Ausnahme abgesehen, sind säbelrasselnde ukrainische Kosaken und Zivilisten als Pogromakteure am Bildgeschehen beteiligt.582 Von ihren Rossen herab attackieren sie jüdische Männer, Frauen und Kinder. Im Rausch der Zerstörung machen sie weder vor dem säkularen jüdischen Leben, dem Zuhause der Juden, noch vor der Religion halt: Sie schänden Frauen und Tora, setzen Häuser und Synagogen in Brand. Ribak zeigt selbst ein jüdisches Kind im Mutterleib, das vom Säbel durchbohrt wird; eine Brust der Mutter ist brutal durchgeschnitten. Das Rot des herausströmenden Bluts  – Ribak malt es ebenso wie das Feuer, das um brennende Synagogen züngelt, – verbindet das Bild mit der Darstellung einer rothaarigen Mutter, an deren Brust ein Säugling (vielleicht zum letzten Mal?) trinkt, bevor der links im Bild gezeigte Kosak ‚seines Amtes walten‘ wird.583 581 Die Blätter haben eine Größe von ca. 80 x 110 cm. Sie zeigen im Einzelnen einen erdolchten Juden mit Tora-Rolle vor einer brennenden Holzsynagoge (Blatt 1) und Juden, die sich vergeblich auf ein Schiff flüchten (Blatt 2). Im dritten Bild des Zyklus sind drei von einem Säbel gleichzeitig durchbohrte Juden zu sehen, über ihnen schwebt eine erstochene Frau mit einem Fötus im Bauch. Blatt vier zeigt ein gefesseltes Ehepaar, Blatt fünf zwei an einen Baumstamm festgenagelte Juden mit Talit, Kippa und Gebetkapseln. Ebenfalls im Gebetsumhang stellt ein Jude sich schützend vor einen jüdischen Heiligenschrein (Blatt 6; Ribak könnte hier Moyshe-Tsvi Kugl im Sinn haben, der während des Pogroms in Kišinëv bei der Verteidigung der Tora gestorben sein soll; Roskies 1984: 280). Das siebte Blatt präsentiert dem Betrachter ein jüdisches Ehepaar inmitten einer Pogromszenerie, Blatt acht panoramaartig ein Pogrom in einem Schtetl. Auf dem neunten und letzten Blatt wird eine stillende Mutter von einem Pogrom überrascht. (Die Übersicht folgt der Reihenfolge des Museums.) 582 Die Darstellung der Täter erinnert an den Kosaken Mamaj, eine beliebte Figur der ukrainischen Volkskunst, die in der Regel mit dünnem, langem Schnurrbart, Bandura, Pfeife, Waffen und gesatteltem Pferd dargestellt wird (s. Abb. Kappeler 1994 [Titelblatt]). Weitere Indizien für ukrainische Kosaken sind der Säbel; statt im typischen Kosakenmantel sind die Täter meist in ukrainischer Tracht oder im weiß bestickten Hemd abgebildet. Die hohen Kosakenmützen weichen einer Legierung aus Pelzhut und Zipfelmütze, wie man sie aus dem Puppentheater kennt (im ostslav. Raum als „balagan“ oder „vertep“ bezeichnet). Zur Geschichte der Kosaken s. Gordeev 2006 (mit. Abb.). In der Ikonographie der pogromlüsternen, asiatisch anmutenden Reiter schwingt der türkmongolische Ursprung der Kosaken mit, die sich in der „ukraina“, der Steppengrenze, niederließen und mehr und mehr ostslavisch geprägt werden (s. hierzu Kappeler 1994: 54–71). Die Täter sind als Zentralmotiv der Pogromserie mit zahlreichen interikonischen Bezugnahmen aufgeladen. Neben Bezügen zur asiatischen Kunst (s. Fußn. 593) weckt ihre Darstellung im fünften Bild des Zyklus Assoziationen mit dem heiligen Georgij zu Pferde, der mit seiner Lanze den Drachen tötet, und mit den berittenen ‚Gottesstreitern‘ in der russischen Ikone Flor i Lavr (Florus und Laurus, Moskauer Schule, 16. Jh.): Im unteren Drittel der Ikone sind drei ‚heilige Pferdehirten‘ dargestellt (s. Onasch 1961: 118, 394); ‚kappadokische Drillinge‘ werden als Pferdefänger und -bändiger „bereits im Bericht ihres Martyriums hervorgehoben“ (ebd.). 583 Goya zeigt in den Radierungen Estragos de la guerra (Verwüstungen des Krieges) und Cruel lástima! (Grausames Elend!) aus den Desastres de la guerra tote Kinder, in Ni por esas (Auch diese) eine fast nackte Säuglingsleiche und eine Frau (die Mutter?), die von einem Soldaten weggeschleppt wird; Abb. in Sánchez/Gallégo 1995: 98.

212  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Ribaks durchkomponierte und -stilisierte Dokumente sind pervers im Inhalt und naiv in der Form. Die brutale Realität der erlebten Pogrome kleidet er in kindliche Phantastik.584 In den Bildern sind ikonographische Raffiniertheit und Primitivimus spannungsvoll miteinander gekoppelt. Der Schrecken der Bilder wächst durch den Schrecken der Perspektivlosigkeit. Ribaks frühere kubistische Kompositionen, allen voran Die alte Synagoge von 1917 setzen, wenn auch in technisch versierter Brechung, die Tradition der Zentralperspektive fort.585 Seine Pogrombilder verweigern sich einer – Orientierung stiftenden – Perspektivierung. Die Absurdität des Mordens fordert eine Ästhetik ein, die in ihrer primitiv-zweidimensionalen Gestaltung das reale Empfinden dieser Absurdität ins Bild übersetzt. Wer ihr Zeuge wird, schlüpft in die Bilder. Von innen heraus, aus der umgekehrten Perspektive, erzählt Ribak, was ihm die Sicherheit, aus einer (fixen) Perspektive des wahrnehmenden Subjekts Sinn zu setzen, geraubt hat. Ribaks Pogromaquarelle ragen in ihrer Ästhetik und Faktur aus seinem Oeuvre heraus. Der hohe Grad der Stilisierung seiner Gewaltdarstellungen betrifft Raumkomposition und Figurengestaltung gleichermaßen. Die kindlich-primitivistische Figurendarstellung weicht die Grenze zwischen Mensch und Marionette auf. Die stereotyp-puppenhafte Darstellung der Täter (ukrainische Kosaken mit Säbeln, schmalen Schnurrbärten, dunkler Mütze und Pferd) und der Opfer (chassidische Juden mit dichten Bärten, Kaftan, Kippa oder Streimel) enttarnt die entindividualisierende Dimension des Massenmordes im Pogromjahr 1919. Zugleich verhindert sie irreführende Analogieschlüsse zwischen Bild- und Lebenswirklichkeit. Zwischen das erlebte Pogrom und seine spätere ästhetische Evokation hat sich eine Erschütterung geschoben, die jenseits ausgetretener realistischer, Wirklichkeit reproduzierender Pfade das, was Ribak der Welt entfremdet hat, verfremdet. In der antimimetischen Wirkkraft der Bilder entfalten sich Bedeutungen, welche die Sinnlosigkeit des tatsächlich Geschehenen ins Artefakt übersetzen. Veronika Darian hat zur Erhellung der Visualisierung von Macht und Gewalt eine triadische Verknüpfung vorgeschlagen (2007: 171–182). Neben die Darstellung von Gewalt im Bild (Achse der Semantik) und ihre mediale Ausformung (Achse der Syntaktik) kommt die Instrumentalisierung eines Bildes durch eine Machtinstanz (Achse der Pragmatik) ins Spiel. Im dialektischen Zusammenspiel dieser drei Komponenten, der Präsentation von Gewalt, der Repräsentanz einer außerhalb des Bildes existierenden Macht (die Pogromisten stehen stellvertretend für das russische Imperium und später für die junge Sowjetmacht) und der Repräsenz von Gewalt durch die ästhetische Wirkmacht des Bildes kommt im Falle Ribaks Letzterem besondere Bedeutung zu.586 584 Vgl. hierzu die treffende Beschreibung bei Roskies 1984: 281–283. Ribaks Gattin betont seine kindliche Wahrnehmung, die ihn durchaus mit Chagall verbindet (Ribak 1937: 10). Mit Jankel Adler lässt sich auch eine Verbindung zu den phantastischen Wandmalereien der Synagogen herstellen (1937: 44). 585 Auf diesem Bild, einer Hymne auf die (jüdische) Volkskunst, ist in kubistischer Verfremdung eine für Osteuropa typische Holzsynagoge aus Dobrovna zu sehen (s. hierzu Kampf 1978: 55). Die Perspektive von unten herauf, die wuchtige und unruhige kubistische Geometrisierung des Bethauses und der getürmten Wolken lassen, verstärkt durch die düstere Farbgebung, die apokalyptische Zeitenwende erahnen, die 1917 für die Juden heraufzieht. 586 Die Macht des Bildes ist auf die rein ästhetische, von allen außerästhetischen Funktionalisierungen abgekoppelte Potenz des Mediums gemünzt. Darian stützt sich hier besonders auf Georges Batailles Die Souveränität (1978: 45–86), Walter Benjamins Über die Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen (1966: 9–26) und Martin Seels Ästhetik des Erscheinens (2003): „Will sie Gewalt zum Ereignis machen, muss die Kunst sich zum Ereignis machen.“ (S. 304; s. Darian 2007: 173 und 179)

Yisokher Ber Ribak – Schreckensvisionen eines Erschrockenen  | 213

Mit den Augen des Kindes – eine exemplarische Bildanalyse zur Endgültigkeit des Todes und zur Unabgeschlossenheit der Bildbedeutung Ribaks Pogrombilder bergen angesichts der dargestellten Gewalt einen ethisch vertretbaren Tabubruch: Im vierten Bild seiner Pogromserie beispielsweise konfrontiert er den Betrachter mit einem nackten jüdischen Paar (s. Abb. 48). Eine Frau mit schlaffen Brüsten und ihr Mann, die Kippa auf dem Haupt und eine Hand vor dem Geschlecht, stehen gefesselt im Zentrum des Bildes. An die Mutter – wie in anderen Darstellungen Chagalls ist eines ihrer Augen geöffnet, das andere geschlossen – klammert sich ein dunkel gekleidetes, bleichgesichtiges Kind. Die Familie, der Nukleus ostjüdischen Lebens, ist umgeben von einer wulstartigen, rötlichen Umrandung. Über diese formale Grenze hinweg blickt das Kind (Ribak selbst?), ein Auge weiß und leer aufgerissen, zurück – dies ist durchaus auch zeitlich zu verstehen – auf eine Gruppe von Personen in der rechten oberen Bildecke. Bauern mit Äxten, Schaufeln und Mistgabeln sind zum Pogrom bereit. Der wütende Mob hat den Segen der Kirche: Ein Pope im Ornat hält ein leuchtend weißes Kreuz in der Hand, das farblich in eine Äquivalenzbeziehung zu den weißen Äxten, den Tatwaffen, tritt; die russisch-orthodoxe Kirche im Hintergrund ist nicht wie bei Chagall Bestandteil eines Schtetl-Symbolariums, sondern Symbol für die antijüdische Haltung der Kirche.587 Das Weiß von Kreuz und Äxten aus dem semantischen Raum der Pogromtäter kehrt im linken unteren Bildviertel, dem semantischen Ort der Pogromopfer wieder. Außer den verkohlten Ruinen jüdischer Häuser – dieses Bildmotiv wird auch bei Judovin in den 1920er Jahren verwenden (s.  Kazovskij 1992: o. S.)  – und einem durchbohrten Kind ist eine schwarze Figur mit grellweißen Füßen zu sehen.588 Ob es sich hierbei um die aus dem Steinofen entschwindende Seele eines Toten handelt oder um einen vom Steinkamin erschlagenen Juden selbst (die Logik von Bildthema und -struktur hier ist ambivalent), ist nicht zu entscheiden. Den Bildaufbau dominiert eine doppelte Dialektik: Der Statik in der Bildmitte steht die Dynamik an den Rändern entgegen, dem Kreis (mit dem bedrohten jüdischen Leben im Zentrum) die Diagonale: Die eine Diagonale verbindet Pogromisten und den Schauplatz des Pogroms, die andere, vom linken oberen zum rechten unteren Bildeck zu ziehen, eine Farbfläche der Finsternis, in der die gespenstische Stille des von Tod und Zerstörung heimgesuchten Schtetls nachhallt. Beide zusammen legen sich wie ein Kreuz der Auslöschung über die jüdische Kleinfamilie. Drei winzige Häuschen befinden sich als metonymische Platzhalter für das Schtetl innerhalb der wulstähnlichen Banderole. Der in der Auflösung begriffene Davidstern steht ebenfalls für die Vernichtung jüdischen Lebens. Der Kontrast (warmer und kalter Farbtöne, gemischter und reiner Farben, runder und gerader Linien etc.) tritt als Zentralverfahren des Bildes auf. Er organisiert Bildsemantik und -ästhetik: Im Kontrast zwischen figuralem und leerem Raum treffen auch die beiden 587 Der kirchlich geschürte Antisemitismus hat eine lange Tradition, angefangen mit dem Vorwurf, die Juden seien Christusmörder, verübten Ritualmorde, schändeten Hostien. 588 Der symbolische Einsatz von Farben (z. B. Weiß oder Rot), der Täter, Tatwaffe und Opfer aneinander bindet, ist auch in anderen Bildern der Serie ein zentrales Verfahren.

214  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Nichtfarben Schwarz und kaltes Weiß als Extrempunkte der durchweg warmen Farbskala zusammen. Sie bilden in ihrer ästhetischen Spannung diejenige zwischen Leben und Tod ab. Auch die „eloquentia corporis“ (Darian 2007: 175) speist sich aus dem Gegensatz: Den Juden  – in ihrer Nacktheit traurige Evokationen von Adam und Eva  – sind die Hände gebunden, die Gojim recken Waffen in die Höhe. Wie bei Goya, der ebenfalls ungeschönt nackte Leichen zeigt, ist das Bild auf Schockwirkung angelegt. Der ästhetische Schock hat hier eine ethische Dimension: Nackte Juden sind auch ihrer Würde entkleidete Juden.

Ribaks Pogromästhetik zwischen Immanenz und kultureller Implikation In enger Anlehnung an jüdische Propheten und Nietzsches Untergangsszenarien entstehen zwischen 1912 und 1916 Ludwig Meidners so genannte Apokalyptische Landschaften.589 Mit seinen „expressionistisch-gebrochenen und verzerrten Katastrophendarstellungen“ (Schmidt in: Breuer/Wagemann 1991 Bd. 2: 124) bringt der deutsche Expressionismus Europa, aber auch Russland beherrschende Vorstellungen vom Weltende zum Ausdruck (s. Kap. 7). Ribak rezipiert möglicherweise erste Werke des Expressionismus, ist jedoch weit weniger expressiv als Meidner.590 Vielleicht liest er Jakov Tugendchol’ds Monographie Problema voiny v mirovom iskusstve (Das Problem des Krieges in der Weltkunst, Moskva, 1916), die mitten im Kriegsgeschehen die Jahrtausende alte künstlerische Auseinandersetzung damit vor Augen führt. Anders als der ebenfalls jüdischstämmige Meidner, der wie Chagall dem Weltkrieg einen Spiegel vorhält, haben Ribaks Pogrombilder nichts Urbanes.591 Ribak inszeniert eine ausschließlich ostjüdische Schtetl-Realität. Trotz ihrer unterschiedlichen Topographien ähneln sich Meidners Kriegs- und Ribaks Pogromapokalypsen in der Farbgebung. Meidners Jüngster Tag (1916; Breuer/Wagemann 1991 Bd. 2: Abb. 147) beispielsweise prägt, wenn auch mit einem pastosen, rasenden Farbauftrag in der Gattung Ölbild, der Meidner mit Kokoschka oder Soutine verbindet (Read 1967: 370–371), eine ähnliche Farbtonalität: Wie bei Ribak nehmen warme Brauntöne das Entsetzen von Krieg und Pogromen in sich auf. Braun ist eine wichtige Farbe des Kubismus, die bei Meidner und Ribak jenseits aller analytischen Funktionalisierungen Stimmträger der Verzweiflung wird. Braun ist ebenso eine zentrale Farbe der frühen Kunst. Hier haftet sie weniger am Farbauftrag als am Trägermedium der Farbe: Ikone und Lubok (s. hierzu Kap. 6) entfalten wie der chinesische Holzschnitt, an den sich Wischnitzer-Bernstein beim Betrachten von Ribaks Bildern erinnert fühlt (1937: 41), ihre Bildaussage auf Holz; die frühe chinesische Malerei, das ägyptische Totenbuch und natürlich jüdische Handschriften sind, angefangen von der Tora, auf Pergament fixiert. Ribak, der seine Pogromszenen auf einen pergamentähnlichen Untergrund aufträgt, spielt auch 589 S. hierzu Schmidt in: Breuer/Wagemann 1991 Bd. 1: 84–95 und Bd. 2: 124. Sie umfassen neben Ölbildern, die Untergangsvisionen in Stadtansichten und unberührte Landschaften hineinprojizieren, auch expressionistisch verzerrte Zeichnungen (s. Breuer/Wagemann 1991 Bd. 2: Abb. 127–141). 590 Auf den Einfluss des Expressionismus auf Ribak weist Werner (22006: 601) hin. 591 Meidner geht es in seinen apokalyptischen Visionen auch um die „Vergegenwärtigung der Großstadtsituation“ (Schmidt in Breuer/Wagemann 1991 Bd. 2: 124) als einem Ursprung des Untergangsgefühls.

Yisokher Ber Ribak – Schreckensvisionen eines Erschrockenen  | 215 durch die zurückgenommene, warme Farbigkeit seiner kleinen Skala an Brauntönen mit der Archaik und Assoziativkraft des Materials. Zugleich evoziert das Braun den Ort der Pogrome. Ostjüdisches Leben spielte sich in Holzhäusern und -synagogen, vor hölzernen Zäunen und verwitterten Grabsteinen ab. An Sukkot, dem Laubhüttenfest, stellt man bunt bemalte Holzhütten auf; rituelle Gegenstände aus Holz begleiten die Juden durch das jüdische liturgische Jahr. Im Monat Elul (August/September) betet man an keyer oves (jidd. für „Grab der Väter“) an den vom Wetter gezeichneten, ornamentierten Grabsteinen der Vorväter.592 Bei aller expressionistischen Verfremdung gibt Ludwig Meidner in seinen apokalyptischen Visionen eine Konstante nie auf: Der ontologische Raum, der das Sein vertikal in einem Oben und Unten und horizontal in öden Gegenden verankert, garantiert die Bildordnung. Der Himmel mag blutgefärbt sein wie in der Apokalyptischen Landschaft von 1915 (Breuer/ Wagemann 1991 Bd. 2: Abb. 141), doch ist er als das den Bildraum logisch organisierende Element vorhanden. Bei Ribak befinden sich die Pogromopfer in einem aperspektivischen Raum. Vor diesem Hintergrund wirken die gezeichneten Figuren wie Marionetten. Die reine Bedingtheit des perspektivlosen Raums lässt keine ontologische Verankerung zu. Als Gegenentwurf zur expressionistisch verzerrten Tiefendimensionen, die das Prinzip der Zentralperspektive nicht aufgibt, speist sich Ribaks Wucht der primitiv-aperspektivischen Zweidimensionalität aus verschiedenen ikonographischen Traditionen, die der Künstler der Kultur-Lige in seine Pogromaquarelle integriert. Diese zweidimensionale Flächigkeit ver­ bindet die assyrische, babylonisch-ägyptische und die chinesische Kunst, aber auch die ostslavische Ikonen- und Lubok-Tradition mit der jüdischen Volkskunst.593 Ribaks Pogrombilder orientieren sich formalkompositorisch stark an Ikone und Lubok.594 Der Künstler nützt die satirisch-sarkastische Überzeichnung beispielsweise der politischen Lubki, um das Kosakentreiben und ihren Ehrenkodex zu entlarven.595 Er verzichtet – wie auch die primitive Malerei – auf eine natürliche Lichtquelle und operiert mit der umgekehrten 592 Auch in seinen den Pogrombildern vorausgehenden Ölbildern arbeitet Ribak häufig mit dunklen Grauund Braunabstufungen. 593 Hillel Kazovskij nennt die babylonische, assyrische und ägyptische Kunst als Referenzkünste für Ribaks Pogrombilder (2003: 66). Ribaks Bilder ähneln ägyptischen und hellenischen Kriegsabbildungen in der Aperspektivik, unterscheiden sich jedoch grundsätzlich in der Anordnung der Krieger: Ist diese in der frühen Kunst als Ausdruck einer kriegerischen Logik und deren Heroisierung logisch-sukzessiv organisiert, so unterstreicht Ribak durch die verzerrte und disproportionierte Darbietung das Chaotische, Unwillkürliche der Pogrome. Auch teilen Ribaks Kosakenkörper in Nichts den Kult des Athletischen, wie er für die frühe Kunst charakteristisch ist (s. Tugendchol’d 1916: 59). Auch über die Gestaltung der Reiter und ihrer Pferde besteht eine Ähnlichkeit zu chinesischen Holzschnitten, vgl. den Reiter auf einem Wandgemälde im Grab von Li Xiang (711; Abb. in: Vandier-Nicolas 1983: 72f.). 594 S. hierzu Tsherikover 1937: 57 und Wischnitzer-Bernstein 1937: 41. Eine seltene Integration von irdischer Gewalt ins russisch-orthodoxe Heiligenbild stellt Pokorenie Soloveckogo monastyrja (Die Unterwerfung des Soloveckij-Klosters) aus dem 17. Jh. dar (Schwarz-Weiß-Abb. in: Tugendchol’d 1916: 141). Sie erzählt mit abgebildeten Kanonen, aus denen unzählige Kugeln auf das Solovecker Kloster abgefeuert werden, und teilweise nackten Gehenkten von dessen Bezwingung. 595 Auch Kazimir Malevič und Vladimir Majakovskij greifen in ihren primitivistischen Karikaturen zum Ersten Weltkrieg auf diese Formensprache zurück (s. die Abb. in: Bowlt 2008: 357f. und Minjajlo 2004: 54–65).

216  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Perspektive.596 Nach dem Prinzip der Synsemie ergeben die Rahmenbilder, hier konkret die Pogromepisoden in den beiden Bildecken, ähnlich der Heiligendarstellung mit Vita eine Narration.597 Wie in der Ikone ist die Größe der Figuren symbolisch zu verstehen (Uspenskij 1986: 759). (Dies ist ein auch von Chagall häufig verwendetes Verfahren; vgl. Kamenski 1989: 177).598 Mit den Mitteln der Ikone inszeniert Ribak eine jüdische Anti-Ikone: Christliche Insignien wie das Kreuz oder – als Ikone in der Ikone – das Heiligenbild der Madonna oranta sind in der berühmten Ikone Bitva Susdal’cev s Novgorodcami (Schlacht der Susdaler gegen die Novgoroder, 15. Jh.; s. Onasch 1961: Abb. 41) positiv eingesetzt für einen innerchristlichen Glaubenskrieg.599 Ribak wertet das Kreuz, das im Ornat des Popen vervielfacht ist, im Kontext des Pogrombildes um zu einem Fetisch der antijüdischen Verfolgung seitens einer Religion, die aus dem Judentum hervorging. Der Davidstern und das Kreuz ergänzen sich hier zu einem Doppelsymbol, das die Kontinuität von Judentum und Christentum sowie deren interreligiösen Konflikt gleichermaßen evoziert. In Ribaks Bildzentrum stehen keine christlichen Heiligen, sondern nackte Juden. Nackt auf einer Ikone abgebildet zu sein ist dem Gottesnarren Vasilij oder Christus während seiner Theophanie vorbehalten (s. Abb. 49).600 Für die gezeigten Juden bedeutet es den Abstieg in die Hölle. Das wulstähnliche Band, das die jüdische Familie einschließt, ist in seiner Symbolfunktion ambivalent. Es weckt Assoziationen zu Marc Chagalls Skizze Der Maler mit dem umgedrehten Kopf (1915; s. Abb. 50). In diesem Entwurf zur ersten Monographie über den Künstler setzt Chagall das für ihn zentrale Schtetl-Motiv in eine Traumwolke (s. hierzu Kap. 1). Das von Chagall imaginierte Schtetl ist hier noch intakt. Bei Ribak mutiert das Ornament der jüdischen Kulturrenaissance, die in Chagalls Phantasien ihren prominentesten Ausdruck findet, zur ‚Grabeinfassung‘ der ostjüdischen Kultur. Durch die interpikturale Spannung zu Ikonen von Christi Geburt (russ.: Roždestvo Christovo), die das Geburtsgeschehen in einer Felsenhöhle lokalisieren und dadurch ebenfalls einen Blick ins Innere der Erde ermöglichen, wird dies noch schmerzlicher bewusst (s. Abb. 51).601 Ribaks Pogrombild ist als Inversion dieses Ikonentyps lesbar.

596 Zu diesem Zentralverfahren der Ikone s. Florenskij 1994: 46–103 und Uspenskij 1986: 755–795. 597 Als Beispiel hierfür sei Ikonen des Heiligen Georgij oder des Heiligen Nikolaj erinnert, den Ribak durch das Ornat des Priesters rechts oben im Bild zitiert (s. Abb. in Lichatschew 1996: Farbtafel VI, 6 und Onasch 1961: 70). 598 Zu Interferenzen zwischen Chagall und der Ikone s. bes. Liebelt 1971 und Spira 2008: 127–129. 599 Erwähnt sei hier auch das Prozessionsbild des Wandermalers Ilarion Prjanišnikov von 1893 oder Il’ja Repins Kreuzprozession im Gouvernement Kursk (1880–1883; Abb. in Leek 1999: 78f.) und Rerichs monumentales Schlachtenbild Pokorenie Kazani (Die Unterwerfung Kazans; Abb in: Tugendchol’d 1916: 158). 600 Vgl. auch die zentralrussische Ikone Die Theophanie oder die Taufe Christi aus dem 18. Jh. (Zibawi 2003: Abb. 10). 601 S. hierzu weiterhin die Ikonen in Onasch 1961: 32 und 55 sowie Liebelt 1971: 66.

Yisokher Ber Ribak – Schreckensvisionen eines Erschrockenen  | 217

Marc Chagall: Originalentwurf des Titelblatts zu Iskusstvo Marka Šagala (Die Kunst Marc Chagalls) von Abram Ėfros und Jakov Tugendchol’d. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Die Höhle, auch auf mittelalterlichen westlichen Weihnachtsdarstellungen zu finden, steht hier symbolisch für den Leib der Gottesmutter.602 Bei Ribak symbolisiert das Erdinnere den Schoß der heidnisch hochverehrten Mutter Erde wohl als letzte Ruhestätte der jüdischen Familie (als Metonymie für das Judentum). Was im Falle der Ikone den Beginn des christlichen Monotheismus markiert, bedeutet im Falle Ribaks das Ende des jüdischen. Ribak zeigt in seiner Pogromen geschuldeten Anti-Ikone keine christlichen Heiligen, sondern jüdische Helden, die den „kidusch-ha-schem“ (hebr.: ‫)קדוש השם‬, den Märtyrertod sterben.603 In einer wichtigen Eigenreferenz auf das erste Bild des Pogromzyklus, das eine brennende Holzsynagoge zeigt, ruft Ribak die jüdische Märtyrerthematik auf: Ein ukrainischer Kosake hält in der einen Hand eine Flasche, in der anderen eine Lanze, mit der er ein jüdisches Kind durchbohrt hat (s. Abb. 54). Das ermordete Kind ist von einer weißen Wulst umgeben; in sie hinein ist die vieldeutige hebräische Wurzel „‫( “קדש‬kadosch: „heilig“, „Opfer“) hineingeschrieben.604 Diese Darstellung wiederum assoziiert eine byzantinische Miniatur von Christi-Märtyrertod aus dem Chludov-Psalter (9. Jh.), die den Erlöser in einer Aureole zeigt (Abb. in: Cormack/Vassilaki 2008: 100). 602 Die Ikone betont so den mariologischen Zusammenhang (Onasch 1961: 358). 603 Zum „kidusch-ha-schem“ s. Kap. 8.4. 604 S. auch Kap. 12 und 14. Die Wurzel „‫ “קדש‬bedeutet u. s. „heilig“, „geheiligt“, „heiligen“ (s. hierzu Gesenius 171962: 702–704). Martin Buber betont für das Substantiv „kodesch“ die Dynamik des Begriffs, der „zunächst einen Vorgang, den der Heiligung, des Heiligens und des Geheiligtwerdens, später erst auch das Heiligtum bezeichnet“ (1992: 20).

218  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Dasselbe Ornament und mit ihm der religiöse Komplex des jüdischen Märtyrertodes kehrt im hier behandelten Bild wieder. Doch nicht nur deshalb ist es berechtigt, im Falle der jüdischen Familie von Märtyrern zu sprechen: Das jüdische Paar steht in deutlicher ikonographischer Nähe zu christlichen Martyriums- und Märtyrerdarstellungen.605 Ribak erteilt durch den Rückgriff auf nichtperspektivische Maltraditionen der christlichabendländischen Kunst eine Absage; eben diese zitiert er ironisch in der Figurendarstellung im Zentrum des Pogrombildes. Das Judenpaar ist kraft seiner hypertrophiert-stilisierten Darbietung (Nacktheit, Körperhaltung, Fesselung, Mimik und symbolische Augengestaltung) zum Märtyrerpaar überhöht. Auch wenn der Malduktus ein ganz und gar anderer ist, sich antimimetische Stilisierung und mimetische Emotionalität gegenüberstehen, ist das assoziative Potenzial von Ribaks Bild frappierend, mit der er christlich-barocke Märtyrerdarstellungen eines Caravaggio evoziert (s. Abb. 52). Caravaggio, in dessen Märtyrerbildern Erotik, Heiliges und Gewalt in einem in der Kunstgeschichte nicht wiederholten Spannungsverhältnis stehen, inszeniert in theatralisierten Hell-Dunkel-Kontrasten den nackten Körper des gepeinigten Christus oder geschundenen Heiligen.606 Das Faszinosum des schönen Körpers in der Geißelung Christi verdrängt den Schmerz der Geißelung. Der in Licht getauchte Körper – die Schatten erhöhen die Magie des Heiligen – ist durch die Logik der Handlung (Fesselung) im Kontext des Martyriums verankert – und glorifiziert.607 Ribak entwirft eine andere eloquentia corporis als Caravaggio. Deren Pathos und erotischen Subtext lässt er ebenso weg wie die Kausallogik der perspektivischen Märtyrerhandlung. Ribaks Schock der ästhetischen Verfremdung steht Caravaggios Schock der ästhetischen 605 Ribak, der als junger Maler christliche Kirchen ausmalt und für seine Christus-Darstellungen geschätzt wird (Ribak 1937: 14), rekurriert auch in anderen Pogrombildern darauf. Diese Malerfahrung könnte die märtyrerhaften Judendarstellungen in den Pogrombildern beeinflusst haben. Ein Jude im Tallit, der zum Schutz der Torarollen seine Hände ausbreitet, gemahnt ebenfalls an den Gekreuzigten. In einer anderen Darstellung sind Juden – wieder im Gebetsmantel – wie Märtyrer an einen Pfahl genagelt und gefesselt. Auch in der Körpersprache dieser stilisierten Figuren schwingen Darstellungstechniken christlicher Märtyrerbilder v. a. des Barock mit. 606 Das homoerotische Moment in Caravaggios körperbetonten Darstellungen christlicher oder antiker Mythen findet sich ebenso in Bildern zu Johannes dem Täufer, dem heiligen Bartholomäus oder dem schlafenden Cupido (Longhi 1993: 91, 99 und 101). 607 Dies trifft auch auf die wesentlich dynamischere Geißelung Christi zu (Abb. in Longhi 1993: 98). Auch hier sieht man einen fast nackten gefesselten Heiligenkörper, um dessen Lenden ein Tuch geschlungen ist. Auch im Martyrium der vier Gekrönten (Kat. 2006: 78) zeigt Caravaggio halbnackte und gefesselte Männer. Die hellenische Büste am Boden bildet wie die christlichen Insignien in Ribaks Pogrombild den ideologischen Gegenspieler ab. Auch durch den Einsatz von Farben leiten sich Vergleichsparameter zwischen Ribak und Caravaggio ab: Caravaggio operiert häufig mit dem Kontrast von Körperfarbe und Weiß bzw. Rot, Weiß – vgl. das rote Tuch in Johannes der Täufer oder das grelle Weiß in Die Kreuzigung des Heiligen Petrus (Kat. 2006: 169). Die Signal- und Symbolfunktion von Rot und Weiß prägt auch Ribaks Pogrombilder. Ihre semantische Funktionalisierung ist jedoch eine andere: Sie profiliert die Täter-Opfer-Dialektik. Der Einsatz von Weiß und Rot unterstreicht dabei ohne übertriebene Betroffenheit den Opferstatus der Märtyrerjuden jenseits einer christlichen Affirmation des Märtyrertodes, der durch den Erlösungsgedanken auch ästhetisch heroisiert wird (s. hierzu Oy-Marra 2007: 249–273, s. bes. S. 250).

Yisokher Ber Ribak – Schreckensvisionen eines Erschrockenen  | 219 Mimesis entgegen. Das Hier und Jetzt der christlichen Gewaltrepräsentation weicht der zeitlichen und räumlichen Unsicherheit der an der russischen Ikone geschulten primitivstilisierten Gewaltgestaltung. Wir wissen nicht, in welchem konkreten Sinnzusammenhang die einzelnen Bildelemente von Ribaks Pogrombild zueinander treten, welche sukzessive Abfolge des Geschehens anzusetzen ist. Die gezeigten Judenkörper lenken nicht das Begehren des Betrachters auf sich. Viel eher verweisen sie in ihrer antimimetisch-primitivistischen Stilisiertheit auf die erlebte und gesehene Gewalt, auf Ohnmacht und Scham. Caravaggios Körper folgen einem Diskurs der Erhabenheit, die Körper Ribaks demjenigen der Erniedrigung. Ribaks Judeneltern mit Kind (als Umkehrung der christlichen Familie mit Maria, Joseph und Jesus) sind durch das rote Band in einen ambivalenten Bildraum eingeschlossen wie die drei chaldäischen Jünglinge in den Feuerofen (Dan 3). Dass ihnen anders als den drei Märtyrern, die für den jüdischen Gott zu sterben bereit sind, eine wundersame Rettung zu Teil wird, ist unwahrscheinlich. Im linken unteren Bildrand bellt ein dunkler Hund. Ist er wie seine herumstreunenden Artgenossen in Leyb Kvitkos Pogromzyklus 1919 die letzte noch lebende Kreatur in der Szenerie der Verwüstung, wie sie in diesem Bildteil geboten wird? Oder bellt er – die Grenze zwischen ihm und der Bildmitte alogisch überschreitend – seinen Besitzern hinterher, bevor diese symbolisch für das gesamte jüdische Leben in der Erde verschwinden?608 Ribaks Hund evoziert die zahlreichen Tierabbildungen der jüdischen Volkskunst. Salomon Judovins Kopie einer Grabsteinplastik (1912–1914) beispielsweise zeigt einen Löwen, dessen Zunge, Gesichts- und Körperform Ähnlichkeiten zu Ribaks Hund aufweist (Hazan-Brunet 2009: 79, Kat.nr. 217).609 Erneut bindet Ribak durch die ästhetische Gestaltung jüdische Lebenswelt und Volkskunst aneinander. Ebenso wie Ribaks Illustrationen zu Margolin und sein Zyklus Shtetl, mayn khorever heym, a gedekhenish (Schtetl, mein zerstörtes Zuhause, ein Andenken) von 1923 weisen einige Pogrombilder eine bildinterne Rahmung auf. Große Wölbungen in dicken schwarzen Linien geben den aperspektivisch-amimetischen Darstellungen eine – der Logik des Kindes folgende? – Struktur. Wichtige Vorläufer für dieses effektvolle rahmende Prinzip sind Lisickijs Illustra­ tionen zu Khad Gadya (s. hierzu Kap. 6); Lisickijs vom Todesengel überwältigter Schächter ist mit seinem üppigen Bart der Prototyp für Ribaks von Pogromen heimgesuchte Juden

608 Vgl. die talmudische Sequenz aus Baba Kama, 60: „Wenn die Hunde heulen, so ist es ein Zeichen, dass der Todesengel in den Ort gekommen ist“ (Zit. nach Ehrmann 2004: 247). Auch im Titelblatt und in einer Illustration zu Miryam Margolins Mayselekh far kleyninke kinderlekh (Geschichten für kleine Kinder, um 1922) zeigt Ribak einen solchen Hund; Abb. in Hazan-Brunet 2009: 150f.). Die Pogromisten kehren ebenfalls wieder. Ribak bildet sie in vier mit Meydele un ganovim (Mädchen und Dieben) betitelten Blättern ab (Hazan-Brunet 2009: 152). Der Hund als treuer Begleiter des Menschen ist ebenfalls ein Topos der christlichen (mittelalterlichen) Ikonographie (vgl. Heinz-Mohr 1998: 149–151). 609 Dovid Yakersons spätere Kopie von 1940 stellt spiegelverkehrt denselben Löwen dar (Kazovskij 1992: o. S., Hazan-Brunet 2009: 59, Abb. 44).

220  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild (s. Abb. 53 und 54).610 Auch um das Signet des Yidish farlag (Jüdischer Verlag), in dessen Zentrum über einem Grabstein und einem Schtetl segnende Priesterhände erhoben sind, setzt Lisickij einen Rahmen (Abb. 55). Dieser ästhetische Segensakt hier wortkünstlerischer Produkte gilt ebenso für die bildnerische ostjüdische Avantgarde, die aus der jüdischen Volkskunst herauswächst.611 Pate könnten jüdische Grabsteine gestanden haben, die häufig auf dieses kompositorische Rahmenprinzip zurückgreifen.612 Das – todgeweihte – jüdische Brautpaar aus Ribaks siebtem Blatt ziert ein Vogel, der, ein Glöckchen im Schnabel, eigentlich vom Paradies künden sollte. Ribak nimmt hier deutlich Bezug auf Salomon Judovin  – und auf Natan Al’tman. Al’tman kopiert anlässlich einer Expedition 1913 ebenso wie Judovin Grabsteinmotive und -ornamente. Später formt er sie kubistisch um (vgl. Apter-Gabriel 2009: 54). Diese rhythmische Strichführung verbindet Ribak, Al’tman und Lisickij in der ästhetischen Weiterentwicklung der zunächst ethno­ graphisch ausgerichteten Ikonographie (Abb. 56 und 57). Ribaks interikonische Bezüge in seinen Pogrombildern enden alle auf dem Friedhof. Im Rekurs auf die letzte Ruhestätte der Pogromopfer, auf die „matseyves“ (jidd. Grabmäler) am Friedhof, ist der Endpunkt des gesamten Bildgeschehens in der Pogromserie markiert. „Friedhof“ mag auf Jiddisch „beys-oylem“, „Haus der Ewigkeit“, oder „dos gute-ort“, der gute Ort, heißen: Am Ende aller Bilder der Serie steht der Tod. Doch übernehmen Ribaks Pogrombilder wie die „matseyves“ eine doppelte Aufgabe: Sie bezeugen den Tod (durch Pogrome) und bewahren das Gedächtnis an die Toten. Ribak speichert in seiner Pogromserie auf der Inhaltsebene die Erinnerung an das ostjüdische Schtetl und dessen Vernichtung. Zugleich enthält sie auf der formal-kompositorischen Ebene Anklänge an die ostjüdische Volkskunst (Grabmäler und -ornamentik, Lubok) und deren ästhetische Transformation. Die Interikonizität mit Lisickij, Al’tman und Judovin kommt nicht von ungefähr: Alle vier heben während ihrer Expeditionen die Schätze der jüdischen Volkskunst. Alle vier bringen aus deren Ornament, Abstraktion und Flächigkeit die jüdische Avantgardekunst hervor. (Zu recht fragt man: Wo bleibt Chagall hier? Anhand der jüdischen Volkskunst, die Chagall durchaus, jedoch heterogener und aus einer größeren Distanz heraus rezipiert, zeigt sich seine  – durch frühe Kontakte mit der vor allem französischen Avantgarde bedingte  – Andersheit innerhalb der ostjüdischen Kunstentwicklung.)

610 In der ersten Fassung von 1917 ist, wie Alan Birnholz herausgearbeitet hat, der Todesengel im Sterben begriffen, in der zweiten Fassung ist er tot, d. h. durch die Revolution überwunden (Kampf 1990: 37). Ribaks spannungsreiche Auseinandersetzung in seiner Pogrom-Serie mit Lisickijs zweiter Gestaltung der traditionellen Seder-Erzählung, in die er subtil seine Verherrlichung der Revolution einschreibt, kann hier nur angedeutet werden. 611 Für das Titelblatt zu einer Broschüre des Yidisher folks-farlag (Jüdischer Volksverlag, 1919) setzt Lisickij erneut Volksornamentik als kubistisch gestaltete Rahmung um eine Schtetl-Kulisse ein (s. Hazan-Brunet 2009: 131, Abb. 60). 612 Grabsteine mit ähnlich rahmenden Konturen zeichnet Judovin ab (Abb. in Hazan-Brunet 2009: 78f. und Yudovin 2005; Nachdruck der Erstausgabe von 1920). Der Grabstein von Staro-Konstantinov von 1849 aus Yidisher folks-ornament (2005: 10; s. auch Hazan-Brunet 2009: 82 unten) oder Judovins Ornamentskizze aus Orša (Abb. in Hazan-Brunet 2009: 78, Nr. 234) sind hier besonders hervorzuheben.

Yisokher Ber Ribak – Schreckensvisionen eines Erschrockenen  | 221 Ribak, der „yoyresh“ (Erbe; Elye Tsherikover) der jüdischen Volkskunst, weist auf die „yerushe“, das kulturelle Erbe zurück, das er angetreten hat. Er holt die ostjüdische Kunst mit in seine Bilder herein und schafft so ein mächtiges Gegengewicht zu den nichtjüdischen interikonischen Bezügen – und zum Tod, den er zumindest ästhetisch überwindet. Neben der Ikone und anderen Formen der christlichen – auch volkstümlichen – Kunst (Lubok!) birgt gerade die jüdische Volkskunst den Schlüssel zu Ribaks Ästhetik. Seine Pogromserie ist ein komplexer Balanceakt zwischen Eigenem und Fremdem. Ästhetisch ist sie interkulturell. Intentional ist sie durch und durch jüdisch.

9.2 Ein Pogrom in Prosa – Isaak Babel’s Istorija moej golubjatni (Geschichte meines Taubenschlags, 1925) Babel’s Miniaturen aus Konarmija (Die Reiterarmee, 1923–1926) sind Sternstunden der Weltliteratur. Ihre wahre Größe erschließt sich erst in ihrer Zusammenschau. Geeint sind sie durch den mit autobiographischen Zügen ausgestatteten Erzähler Ljutov, der seine moralische Niederlage durch ästhetische Höhenflüge zu kompensieren versucht. 613 Der innere Zusammenhalt ist auf der Ebene der meist homodiegetischen Erzählungen durch das Figurenpersonal, durch gemeinsame Spannungsfelder wie Leben und Tod, Feigheit und Mut, Ekel und irrationale Faszination für Gewalt, intellektueller Pazifismus und kosakische Aggression gewährleistet. Auf der Ebene der Präsentation bindet ein sorgfältig gesponnenes Netz motivischer, lexikalischer und rhetorischer Äquivalenzen die 34 Erzählungen zu einem Zyklus zusammen.614 Der Erzähler bewegt sich in einer Metaphernsprache, die die Zerstörung der Welt wiedergutmachen zu wollen scheint.615 Babel’s Hang zur Zyklenbildung kennzeichnet auch seine odessitischen Erzählungen von 1926.616 Die erstmals am 18., 19. und 20. Mai 1925 in der Abendausgabe der Leningrader Krasnaja gazeta (Rote Zeitung) erschienene Erzählung Istorija moej golubjatni (Geschichte ­meines Taubenschlags) ist von Babel’ als Anfang eines weiteren, stark autobiographischen Zyklus – mit Pervaja ljubov’ (Erste Liebe) als Fortsetzung – gedacht.617 Bis zuletzt arbeitet Babel’ daran. Das Manuskript will er im Herbst 1939 einem Verlag vorlegen (Babel’ 1996: 307).

613 Vorgeformt sind sie teilweise in Babel’s Tagebuch von 1920 (2006 Bd. 2: 222–334). Bereits die Namensgebung von Babel’s fiktionalem alter ego Kirill Vasilievič Ljutov, abgeleitet von russ. „ljutyj“ (wütend, rasend), weist auf den zentralen inneren Grundkonflikt hin: Gewalt ist abstoßend und faszinierend zugleich. So ist auch die Erzählinstanz ambivalent. Ljutov ist kriegerischer Pazifist und Mörder wider Willen. Zur Konarmija s. insbesondere Belaja/Dobrenko/Esaulov 1993. 614 Schmid führt dies exemplarisch anhand der ersten Erzählung Perechod čerez Zbruč (Die Überschreitung des Zbruč) durch (1992: 135–154). 615 S. Babel’ 2006 Bd. 2: 43–194. Der Zyklus endet mit Syn Rabbi (Der Sohn des Rabbi). Argamak, Poceluj (Der Kuss), Griščuk und Ich bylo devjat’ (Sie waren neun) stehen ihm nahe (Urban 1994: 298–301). 616 Sie umfassen Korol’ (Der König), Kak ėto delalos’ v Odesse (Wie es in Odessa gemacht wurde), Otec (Der Vater) und Ljubka Kazak (Babel’ 2006 Bd. 1: 60–100). 617 Der gesamte Zyklus ist abgedruckt in Babel’ 2006 Bd. 4: 151–258, s. hierzu Luplow 1984: 225–277. In seinem Brief vom 14. Oktober 1931 schreibt Babel’ aus Molodënovo an seine Schwester Fen’ja: „Ja tam [in der Zeitschrift Molodaja gvardija – S. K.] debjutiroval posle neskol’kich let molčanija malen’kim otryvkom iz knigi, kotoraja budet ob’’edinena obščim zaglaviem ‚Istorija moej golubjatni‘. (Nach einigen Jahren des Schweigens debütierte ich dort mit einem Ausschnitt aus einem Buch, das durch den gemeinsamen Titel ‚Geschichte meines Taubenschlags‘ geeint sein wird; Babel’ 2006 Bd. 4: 297) Die Erzählung erscheint 1931 in Molodaja gvardija (Die junge Garde) unter dem Titel Probuždenie (Erwachen); ihr folgen im selben Jahr in der zehnten Ausgabe von Novyj Mir (Neue Welt) Gapa Gužva und – in deutlicher Anspielung auf Dostoevksijs Zapiski iz podpolja (Aufzeichnungen aus einem Kellerloch, 1864) – V podvale (Im Keller; Babel’ 2006 Bd. 4: 599).

Isaak Babel’ – Ein Pogrom in Prosa  | 223 Dazu kommt es nicht mehr: Babel’ wird am 15. Mai desselben Jahres vom NKVD verhaftet und in der Nacht vom 26. auf den 27. Januar 1940 erschossen.618 Seine baldige Verhaftung ahnend, erfüllt sich Babel’ noch zwei Träume: Im September 1938 fährt er nach Jasnaja Poljana, dem Sommersitz L.N. Tolstojs, steht ergriffen in dessen Arbeitszimmer. Zuvor verbringt er den Sommer in der Schriftstellersiedlung Peredelkino nahe Moskau. Dort hält er eine Kuh, Hühner – und drei Taubenpärchen in einem Taubenschlag ... (Krumm 22006: 182–184) Ihr Gurren mag ihn bei der Überarbeitung seiner Istorija moej golubjatni begleitet haben.

Beim Erzählen Kind sein – Zur Ästhetik in Istorija moej golubjatni In der pseudo-autobiographischen, in Nikolaev (von 1861 an dem Gouvernement Cherson zugehörig) spielenden Kurzprosa blickt der autodiegetische Erzähler zurück auf seinen Kindheitstraum, einen eigenen Taubenschlag zu besitzen.619 Nach erfolgreicher Aufnahme ins russische Gymnasium soll dieser Wunsch in Erfüllung gehen. Der erste Versuch scheitert nicht an der damals üblichen Fünfprozentklausel für Juden, welche die Zugangsberechtigung zu russischen Bildungsstätten regelt, sondern an der erfolgreichen Bestechung des jüdischen Getreidehändlers Chariton Ėfrussi, der seinem Sohn den Zugang zu höherer Schulbildung erkauft. Die Erzählung widmet sich ausführlich der Aufnahmeprüfung, die als „rite de passage“ inszeniert wird. Den ‚Fetisch‘ Puškin in einer Art Ekstase rezitierend, stellt der jüdische Knabe seine historischen Kenntnisse zu Peter dem Großen und damit sein russisch-nationalpatriotisches Potenzial unter Beweis.620 Die Familie feiert im Anschluss gebührend den Übertritt. In Form eines Aushangs in der Schule vom 20. September 1905 ist er offiziell verbürgt. Einen Monat später, am Sonntag, den 20. Oktober 1905, macht sich der kleine Junge auf den Weg zum Ochotnickij-Markt (von russ. „ochota“: Jagd), um Tauben zu erstehen. Er kauft drei prächtige Pärchen. Mit den sechs Friedensboten im Gepäck wird er – wie sein Großonkel Šojl – Opfer eines Pogroms. Er gerät in die Hände des Krüppels Makarenko, der, vor dem Hintergrund anderer Gewaltexzesse gegen Juden, dem kleinen Babel’ eine der Tauben ins Gesicht schlägt. Die von Makarenko zerquetschte Taube wird zur Präfiguration seines Großonkels, den er, selbst heil zu Hause angelangt, tot im Hof vorfindet.

618 Möglicher Grund für die Verhaftung ist ein geplanter Schauprozess gegen Literaten (s.  Krumm 2 2006: 187–198). 619 Babel’ verbringt seine Kindheit in Nikolaev. Zur Hafenstadt am Schwarzen Meer s. REĖ 2007 Bd. 6: 48–50. Eine deutsche Übersetzung stammt von Dmitrij Umanskij (Babel 1962: 78–90). „tales“ (Babel’ 1996: 165) – jiddisch für „talit“, den jüdischen Gebetmantel – ist dort fälschlicherweise mit „Gebetbuch“ übertragen. 620 Der wie Chagall in Vitebsk geborene Kinderbuchautor und Übersetzer Samuil Maršak (1887–1964) wurde in einer realen Prüfung demselben Stoff unterzogen und rezitiert aus Puškins Poltava (zit. nach Slezkine 2006: 143f.).

224  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Der von Lejeune geforderte „autobiographische Pakt“, der Erzähler, Autor und Protago­nist aneinanderbindet, mag zunächst als Gattungskriterium für die Erzählung verführerisch sein (s. hierzu Kap. 3). Die ausgeprägte Ästhetisierung des Textes und die Fiktionalisierung historischer Ereignisse unterlaufen jedoch bewusst den Authentizitätsanspruch autobio­graphischen Schreibens. Babel’ koppelt Fiktionalität – Lejeunes „pacte romanesque“ (1975: 27) – und autobiographische Nichtfiktionalität. Das Spiel mit der (historischen) ‚Wahrheit‘ und mit unterschiedlichen Erfahrungswerten des Erzählers und Protagonisten machen die Erzählung in ihrer Gattungszuordnung ebenso ambivalent wie das Weltempfin­den des vordergründig autodiegetischen Erzählers.621 Istorija moej golubjatni ist weniger eine fiktionalisierte Autobiographie denn eine teilweise autobiographisch motivierte Erzählung (s. Carden 1972: 154, Suchich 2006 Bd. 1: 21).622 Das ideologische und ästhetische Potenzial der narrativen Fiktion wird zum Vehikel für Babel’s Auseinandersetzung mit antijüdischer Gewalt, wie er sie real miterleben muss. Nach dem Petersburger „Blutsonntag“ im Januar 1905 und politischen Reformen, die als Reaktion auf einen landesweiten Generalstreik und Unruhen den Juden mehr Rechte bringen, heizt auch das verletzte Nationalgefühl als Folge des verlorenen Russisch-Japanischen Krieges die antisemitische Stimmung im Land an. Am 17. (30.) Oktober 1905 wird ein Zarenmanifest bekannt gegeben, das auch der jüdischen Minderheit Freiheitsrechte, Wahlrecht und die Duma als gesetzgebendes Organ garantiert.623 „Čërnye sotni“ (Schwarze Hundertschaften), anarchische Terroreinheiten, reagieren mit von der Regierung geduldeten Pogromen, die neben Odessa auch Nikolaev erfassen.624 Auch in Nikolaev, das nach der Aussiedlung unter Nikolaj I. seit 1859 wieder als Ansiedlungsort für Juden zugelassen wird, werden am 18. Oktober 1905 die zugestandenen Rechte gefeiert (REĖ 2007 Bd. 6: 48). Tags darauf finden sich russische Nationalisten zu einer Prozession zusammen. Mit dem Bild des Zaren ziehen sie durch die Straßen und feiern einen Gottesdienst. Als dann ein Schuss aus der zarentreuen Menge fällt und Polizeibeamte auf unbeteiligte Zuschauer des Umzugs schießen, beginnt der Pogrom. Jüdische Häuser werden zerstört, Menschen verletzt, einige sogar getötet. Wie so oft vollziehen sich die

621 Diese Ambivalenz kennzeichnet auch Konarmija und stellt eine Konstante in Babel’s Schreiben dar. 622 Die Familie Babel’ besaß während ihrer Zeit in Nikolaev, an der Mündung des südlichen Bug gelegen, tatsächlich einen Taubenschlag (Krumm 22006: 9). Vom Pogrom in Nikolaev war sie nicht betroffen (Carden 1972: 154). Im oben erwähnten Brief an seine Schwester Fen’ja vom 14. Oktober 1931 schreibt Babel’ über Istorija moej golubjatni: „Sjužety vse iz detskoj pory, no privrano, konečno, mnogoe i peremeneno, – kogda knižka budet okončena, togda stanet jasno, dlja čego mne vse to bylo nužno.“ (Die Sujets stammen alle aus der Kinderzeit, doch ist vieles natürlich hinzugedichtet und verändert; wenn das Büchlein vollendet sein wird, dann wird deutlich werden, wozu ich das alles gebraucht habe.“ (Babel’ 2006 Bd. 4: 297; s. auch Krumm 22006: 216) 623 Dubnov 1920 Bd. 10: 395. Weiterhin gewährt das Manifest „den Untertanen des russischen Autokrators ohne Unterschied des Standes die Grundrechte freier Bürger: Unverletzbarkeit der Person, Freiheit des Gewissens, der Rede, der Versammlung und der Korporation.“ (Stökl 1962: 600; s. Babel 1962: 87) 624 Laut Dubnov finden mehr als 300 Juden den Tod; über 4000 jüdische Haushalte sind wirtschaftlich ruiniert (1929 Bd. 10: 396).

Isaak Babel’ – Ein Pogrom in Prosa  | 225 Ausschreitungen gegen Juden „unter offenbarem Schutz und tätiger Beihilfe der dortigen Polizeibeamten“ und der Kosaken (Krutschanski 1910 Bd.2: 149–154, hier S. 149).625 Babel’ schreibt nicht Geschichte, sondern Geschichten: Der tatsächliche Pogrom in Nikolaev im Oktober 1905 und die ihm zugrundeliegenden historischen Umbrüche dienen – ähnlich seiner Konarmija – als Folie für die subjektive Transformation im Bewusstsein des intra- und autodiegetischen Erzählers. Mehrfach nimmt er, bei aller Ähnlichkeit mit dem tatsächlichen Ablauf, im Dienste der Fiktion eine Geschichtsklitterung der damaligen Ereignisse vor: Babel’ ist zum Zeitpunkt des Pogroms elf Jahre, in der Erzählung wahlweise neun oder zehn Jahre alt (Babel’ 1996: 161 und 171).626 ‚Seinen‘ Pogrom lässt er am 20. und nicht, wie real geschehen, am 19. Oktober stattfinden. Das subjektive Wissen um den Pogrom, die „oral history“, wonach – laut Kuz’ma – Šojl das einzige Todesopfer sei (Babel’ 1996: 167), steht der Historiographie, die von mehreren Getöteten spricht, entgegen. Hier bereits zeichnet sich das Spannungsfeld zwischen der erlebten und der erzählten Geschichte ab. Die subjektiverlebte und – historiographisch gesehen – bisweilen ‚falsche Wahrheit‘ tritt gegen historische Fakten an, die in ihrer objektivierten Darstellung dem Erlebten den Tod geben. Das Einzelschicksal Babel’s unterwandert die große Historie, das individuelle Sehen und Fühlen des Kindes die allgemeingültig-abstrakte Beschreibung. Diese Spannung zwischen der erlebten und der erzählten Geschichte prägt auch die homodiegetische Erzählinstanz: Sie vereint zwei Identitäten, die des unwissenden Kindes, das den Augenblick erlebt, und des wissenden Erwachsenen, der im Rückblick erzählt (vgl. auch Carden 1972: 168–172, Sicher 1986: 90). Erzählperspektivisch meint dies den Wechsel von der internen Fokalisierung hin zur Nullfokalisierung. Die Unwissenheit des Kindes (aktoriale Perspektive) kontrastiert mit dem Wissen dessen, der seine kindliche Unschuld verloren hat (auktoriale Perspektive).627 Der Modus der Kindesperspektive mündet häufig in den Dialog und damit in die Unmittelbarkeit der Rede (der junge Babel’ ist während der Prüfung mit Pjatnickij, während des Pogroms mit Makarenko und später mit Kuz’ma im Gespräch). Das erwachsene ErzählerIch überblickt aus der (zeitlichen) Distanz das Geschehen. Hier, im Modus der Distanz, 625 Dies bestätigt immer wieder auch Dubnov im zehnten Band seiner Weltgeschichte. Zur rechtlichpolitischen Stellung der Juden s. Jilge 2001a: 186–195 und 2001b: 195–206, Haumann 51999: 77–88 und 190f., Budnickij 1999 und Slezkine 2006: 121–207. Zum Schwellenjahr 1905 s. besonders Hoffman/Mendelsohn 2008. 626 Aus der Turgenev assoziierenden Folgeerzählung Pervaja ljubov’ (Erste Liebe; 2006 Bd. 1: 165–174) erfährt man, dass der Ich-Erzähler neun Jahre alt ist. Das Pogromgeschehen aus Istorija moej golubjatni dient hier als Hintergrundhandlung für das romantische Liebeserleben des Knaben, der, entflammt für Galina Apollonovna Rubcova, erste innere Eifersuchtsdramen erlebt. Auch in Konarmija operiert Babel’ wohl bewusst mit faktischen Fehlern (s. Krumm 22006: 63). 627 Simon Markiš siedelt den Erzähler in einer „sovsem neevrejskij mir“ (gänzlich nichtjüdischen Welt) an, von der aus er auf die jüdische Vergangenheit blickt (21997: 22). Dass das Jüdische hier nur als Hintergrund (fon) für das Prosageschehen fungiere, in der Darstellung der universellen Tragödie aufgehe (ebd.), ist zu hinterfragen. Vielmehr scheint sich gerade durch die ästhetisch-symbolische Aktualisierung des Jüdischen in der Erzählung Babel’s persönliche Tragödie (seiner russisch-jüdischen Gespaltenheit) mit der universellen zu verbinden.

226  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild öffnet sich die Erzählung lyrischen Verfahren. Die Nähe der Erzählung zu Drama und Dialog ist um die Nähe zur lyrischen Gattung ergänzt; die auktorial gesteuerte Deskription ist mit zahlreichen lexikalischen, phonetischen und motivischen Äquivalenzen durchsetzt.628 Diese phonetisch-lexikalische Überstrukturierung des narrativen Erzählflusses stärkt die Kohärenz der Darstellung nicht nur semantisch, sondern auch rhythmisch. Mit der Ästhetik der (lexikalischen) Wiederholung übernimmt Babel’ das Prinzip der Lyrik in die Prosa (s. auch Sicher 1986: 38). Damit knüpft er an die Poetik der Konarmija an. Babel’s ornamentales Erzählen ist allerdings zugunsten der Handlung abgeschwächt.629 Dies hat in der restringierten Perspektive des Kindes seinen Ursprung. Die lineare Narration des  – jüdischen  – Kindes mit dem Spracharsenal des Virtuosen der ornamentalen  – russischen – Prosa zu verknüpfen, bildet die spezifische ästhetische Strategie der Istorija moej golubjatni. Diese Koppelung führt im Vergleich zur Konarmija zu einer ästhetischen Verschiebung: Prägt den Erzählzyklus Konarmija wesentlich ein komplexes Metaphernsystem, so ist es in Istorija moej golubjatni ein Symbolsystem. Die Intention in Perechod čerez Zbruč und Istorija moej golubjatni ist jedoch die gleiche: In beiden Erzählungen steht die Joyce’sche Epiphanie im Zentrum.630 Der Tod des Vaters in der Überschreitungserzählung und der Tod des Großonkels in der Taubengeschichte verweist auf den großen Makel des ostjüdischen Daseins: Es ist untrennbar mit Gewalt verknüpft.631 Die kindliche Perspektive des Protagonisten auf eine Welt, in der man als Jude fremd ist – „ja šel po čužoj ulice“ (ich ging eine fremde Straße entlang; 1996: 170), sagt er – vermag dies zunächst 628 Zur Rhythmisierung von Babel’s Prosa durch Wiederholungen s. auch Sicher 1986: 34–37. Phonetische Äquivalenzen stützen die Emotionalität des Inhalts: „[...] Skvoz’ bagrovuju slepotu, skvoz’ svobodu, ovladevšuju mnoju, ja videl tol’ko staroe, sklonennoe lico Pjatnickogo s poserebrennoj borodoj.“ (Durch die purpurne Blindheit, durch die Freiheit, die sich meiner bemächtigte, hindurch sah ich einzig Pjatnickijs altes, geneigtes Gesicht mit seinem Silberbart; 1996: 162) Bei den syllabischen Wiederholungen sei hier im Zusammenhang mit der Gewaltthematik die häufige Verwendung des Präfixes „raz/ras“ (zer-, auseinander-) verwiesen (s. 1996: 170). Die lexikalischen Äquivalenzen reichen vom Wiederholen eines Wortes oder – wie auch in Konarmija – ganzer Satzteile: „My mesjac privykali k penalu [...]; my mesjac privykali k ščastlivoj žizni [...]“ (Einen Monat gewöhnten wir uns an den Federkasten [...]; einen Monat gewöhnten wir uns an das glückliche Leben [...]) bis hin zur Wiederholung des für die Erzählung zentralen Satzes: „Mir moj byl mal i užasen (Meine Welt war klein und schrecklich; 1996: 166–167). 629 Zu Babel’s ornamentaler Prosa s. Holthusen (1973: 112–138), Browning (1979: 346–352) und Schmid (1992: 135–154). 630 Wolf Schmid macht den Zusammenhang von Ästhetik und Epiphanie zur Grundlage seiner Analyse. Den Zusammenhang von Ästhetik und Epiphanie „in the Joycean sense of the spiritual revelation of the essence of a character or object“ arbeitet zuerst Efraim Sicher auf der Folie von Babel’s Kunstkonzeptionen heraus (1982: 387–396; hier S. 395); vor allem die Entautomatisierung des Bekannten durch Verfremdung spielt hier eine große Rolle (Sicher 1982: 389 und 1986: 90–93). Patricia Carden (1972: 152–178) schreibt von Babel’s Zyklus Istorija moej golubjatni als einer „journey of understanding“ (S. 177): „The understanding of desire that illuminates violence in The Story of My Dovecot is used to reveal the nature of passion in First Love, the nature of truth in In the Basement, the nature of art in Di Grasso.“ (S. 172) 631 Das Babel’s Prosa dominierende Thema der Gewalt wird vor allem von der US-amerikanischen Forschung in Bezug auf Konarmija behandelt, vgl. neben Kammer/Schulzki 1978 in Auswahl Andrew 1984a und 1984b, Stine 1984: 237–255, Schneider 1986 und Borenstein 2000: 73–124.

Isaak Babel’ – Ein Pogrom in Prosa  | 227 nicht zu erkennen. Erst Babel’s Ästhetik der Verfremdung – vermittelt aus der Position des Erzählers – bringt dies auf der Signifikandenebene dem Leser zu Bewusstsein.632 Die Epiphanie steckt in der Textpoetik – und generiert sie zugleich: Die in der Diskrepanz zwischen der kindlichen und der erwachsenen Erzählerperspektive latente Erkenntnis der Gewalt wird in Figuren der Wiederholung manifest. Ob lautlich, syllabisch, lexikalisch oder syntaktisch, Wiederholungen sind das kompositorische Leitprinzip der Erzählung. Der unbewusste Aufschub der Erkenntnis bewirkt die ständige sprachliche Wiederkehr des Verdrängten.633

Symbolische Präfigurationen des Todes Der Protagonist der Erzählung, der junge Babel’, sieht über die Schulter des Hausmeisters Kuz’ma hinweg seinen brutal ermordeten Großonkel Šojl. Was auf der Ebene der Erzählung mit der Erkenntnis des Todes endet, ist auf der Ebene ihrer Präsentation durch ein komplexes Symbolsystem lexikalischer und motivischer Äquivalenzen präfiguriert. In Perechod čerez Zbruč führen primär auf metapherngestützte Äquivalenzen in ihrer sukzessiven Abfolge zur Erkenntnis des Todes. In Istorija moej golubjatni folgt dieselbe Erkenntnis aus mehreren, simultan geschalteten lexikalisch-motivischen Äquivalenzen. Sie entfalten sich um den Ortsnamen, den Getreidehändler Chariton, das Motiv des Holzes und um die Zahl Fünf (russ.: pjat’). Ihr Einsatz macht sie zu symbolischen Vorboten des Todes; als solche offenbaren sie sich jedoch erst in Kenntnis von Šojls Tod, also in einer rückwärts gerichteten Lektüre. Diese Symbolik von Babel’s „Poetik der Offenbarung“ (Schulte 2006) reicht dabei tief in die jüdische und russische Kultur hinein. Nikolaev: Der Ortsname Nikolaev ruft den für die russische Orthodoxie wichtigen Heiligen und Schutzpatron Russlands Nikolaj, aber auch die extrem judenfeindliche Zeit der Zaren Nikolaj I und II auf. Die Judenpolitik Nikolajs I. mündet in empfindliche Eingriffe in die religiöse und kulturelle Autonomie; zugleich nehmen die militärischen Pflichten dem Russischen Reich gegenüber zu (Haumann 51999: 83–84). Unter Nikolaj II. fegen schreckliche Pogrome durch den Ansiedlungsrayon  – und damit auch durch Nikolaev. Šojl soll gesehen haben, wie Soldaten Nikolajs I. polnische Adlige des Januaraufstandes (poln.: powstanie styczniowe) gegen die russische Fremdherrschaft Aleksandrs I. erschossen (Babel’ 1996: 165).634 632 Vgl. hierzu Sicher 1986: 90–93. In der Koppelung von kindlichem Bewusstsein und Gewalt schreibt Babel’ an einem wichtigen Narrativ, das Sholem-Aleykhem vorformt (vgl. beispielsweise Motl Peyse dem khazns / Motl Peyse, der Kantorssohn, 1907/1916) und Julian Stryjkowski in Głosy w ciemności (Stimmen in der Finsternis, 1946) oder Imre Kertész in Roman eines Schicksallosen (1975) fortsetzen. 633 Ich danke Kenneth Hanshew für diese Anregung. 634 Der Wahrheitsgehalt von Šojls Geschichten wird vom Erzähler angezweifelt. In der Tat widersprechen sich auch hier Erzählung und Fakten: Der polnische Aufstand fand 1863 und nicht, wie es die Erzählinstanz von Šojl weiß, 1861 statt (in diesem Jahre kam es zu Massendemonstrationen). Die Soldaten unterstanden Aleksandr I. und nicht Nikolaj I., dessen Regentschaft 1855 mit seinem Tod endete. Das Revolutions­ komitee des polnischen Aufstandes gruppierte sich um den Vater des englischen Schriftstellers Joseph Conrad, Apollo Korzeniowski (Miłosz 1981: 169). Yoysef Opatoshu zeigt in seinem Opus magnum In poylishe velder (1921) die Beteiligung der polnischen Juden am Befreiungsversuch vom zaristischen Joch.

228  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Holz: Die Ironie des Schicksals will es, dass auch Chariton Ėfrussis Familie Opfer des Pogroms wird. Der Ich-Erzähler beobachtet einen „mužik“, der mit einem Holzhammer (derevjannym molotom; Babel’ 1996: 170) die Fensterrahmen von Charitons Haus zertrümmert: „Vsja ulica byla napolnena chrustom, treskom, peniem razletavšegosja dereva.“ (Die gesamte Straße war erfüllt vom Bersten, Krachen, Singen des nach allen Seiten davonfliegenden Holzes; ebd.). Den Käfig, der die Tauben des autodiegetischen Erzählers beherbergen soll, hat der todgeweihte Šojl aus einer Holzkiste gefertigt (S. 167); der tote Šojl wird von Kuz’ma mit Holzspänen (opilki) bedeckt (S. 171). Über das Semem „Holz“ ist auch der Junge mit dem die Juden bedrohenden Tod verbunden: Als Kuz’ma ihn nach dessen Flucht vor den pogromščiki erblickt, sagt er: „Veter tebja nosit, kak durnuju ščepku“ (Der Wind verweht dich, wie einen dämlichen Holzspan; ebd.) Der grausam zugerichtete, noch ungewaschene Šojl gilt – im jüdischen wie im ostslavischheidnischen Kontext – als unrein (jidd: treyf ).635 Für unreine (oder lebenden Personen als gefährlich geltende) Tote wird nach altslavischem Brauch eine Bestattung ohne Grab angewandt (Zelenin 1927: 327). Sie werden als „založnye“ bezeichnet, als „Zugedeckte“, da man sie – anstatt einer Erdbestattung – an der Oberfläche der Erde mit Ästen und Holz bedeckt (ebd.). Auf diese Weise wird der Zorn der „Mutter Erde“ (mat’ zemlja) auf den unreinen Leichnam nicht heraufbeschworen.636 Dass der alte Hausmeister Kuz’ma Šojl mit Sägespänen bedeckt, könnte auf seine Verwurzelung im ostslavischen Volksglauben hindeuten. Der von orthodoxen Russen getötete Jude – Kuz’ma bezeichnet sie abwertend als „kacapy“ – findet im ostslavischen heidnischen Bestattungsritual seine Ruhe, bevor man ihm  – hoffentlich  – die jüdische rituelle Totenwaschung, Ankleidung mit Tachrichim (Totengewändern) und Bestattung angedeihen lässt.637 Char(it)on: Der eine handelt mit Getreide, der andere mit Totentransporten: Der Getreidehändler Chariton Ėfrussi erkauft seinem Sohn mit 500 Rubeln den Platz im Gymnasium, der – dem geistigen Kapital nach – eigentlich dem Ich-Erzähler zustünde. Der Name Chariton ruft den Fährmann Charon aus der griechischen Mythologie auf, der die Schatten der Toten über drei Flüsse in den Hades bringt. „Damit sie den Fährlohn bezahlen können, legte man den Ver635 Im Jiddischen gibt es eigens das Femininum „misemeshune“ für die Tatsache, eines unnatürlichen Todes zu sterben; Kvitko gebraucht es in seinem Pogromzyklus 1919 (1923: 22–24). 636 Andernfalls würde der Tote zu einem Wiedergänger, würden die Menschen von der „Mutter Erde“ durch Frost und Kälte bestraft (Zelenin 1927: 328). 637 Zum abwertenden „kacap“ im Unterschied zu „moskal’“ s. http://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%9A%D 0%B0%D1%86%D0%B0%D0%BF; 6.3.2012. Etymologisch geht das Wort auf ukr.: „kak cap“ (wie ein Ziegenbock) zurück, da dem rasierten Ukrainer der bärtige Russe wie ein Ziegenbock erschien. Das Lied Nach dem Pogrom beginnt mit den Zeilen: „di vilde katsapes / mit ire lapes / zey hobn undz ale fardorbn [...]“ (Die wilden Russen / Mit ihren Tatzen / Sie haben uns alle verdorben [...]; Ost und West 1914 H. 9–12: 665. Zu den jüdischen Sterberitualen s. Trepp 2006: 386–390 und de Vries 102006: 272–330.

Isaak Babel’ – Ein Pogrom in Prosa  | 229 storbenen eine Münze (Obolos) unter die Zunge.“ (Bellinger 2000: 96) Im russischen Volksglauben legt man, um die Überfahrt ins Reich des Todes zu gewährleisten, den Toten Kupfermünzen auf die Augen.638 So verfährt der Hausmeister Kuz’ma am Ende der Erzählung mit dem toten Šojl. Pjat’ (fünf ): Von seinem sechsten Lebensjahr an – der Zahlenwert sechs wird im Judentum durch den Buchstaben „vov“ ausgedrückt – unterweist der Vater den Sohn in den verschiedensten Wissenschaften (Babel’ 1996: 161). Die kabbalistische Gematria (Zahlenkombinatorik) wird kaum darunter gewesen sein. Im Taubenschlag könnten dank Šojls Ausstattung zwölf Paar Tauben Platz finden (man denke an die zwölf Stämme Israels; S. 167); gegen zwölf Uhr verkündet ein Mann „v valjanych sapogach“ (in Filzstiefeln; 168) Šojls Tod. Von vierzig Jungen können nur zwei Juden aufs Gymnasium übertreten (1996: 161; Moses weilte vierzig Tage in der Wüste).639 Auch die Fünf und ihre Symbolik spielen in Istorija moej golubjatni eine wichtige Rolle.640 Die Übertrittsklausel beschränkt den Gymnasialzugang von jüdischen Schülern auf fünf Prozent (S. 161); dies umgeht Ėfrussi durch 500 Rubel Schmiergeld (ebd.). Der junge Babel’ erreicht in beiden Prüfungen, die ihn dem Übertritt und dem Taubenschlag entgegenbringen, die Höchstnote „Pjat’“ (S. 161 und 162).641 Der Lehrer, der anlässlich der zweiten Prüfung dem Ich-Erzähler den Weg in die Bildung und damit potenzielle Freiheit ebnet, heißt „Pjatnickij“ (‚Fünfner‘; S. 162).642 Die Kupfermünzen, die Kuz’ma auf Šojls Augen legt, der dem Jungen den Taubenschlag baute, heißen „pjataki“ (Fünfkopekenstücke; S. 171). 638 Der Volkskundler Dmitrij Zelenin schreibt hierzu: „Nach neueren Deutungen soll es das Zahlgeld für die Überfahrt über den feurigen Fluss oder für den Platz im Jenseits sein, zur Bezahlung der zu Lebzeiten nicht bezahlten Schulden“ (1927: 323). Hier ist Einfluss der griechischen Mythologie spürbar. 639 Den Zahlenwert Vierzig drückt der Mutterbuchstabe „mem“ aus, dem neben dem „reysh“ und dem „shin“ eine besondere kabbalistisch-schöpferische Funktion zukommt. Wie bei der Zwölf tritt auch hier die Vervielfachung auf: Die Zwölf kehrt in der Vierundzwanzig, die Vier auch in der Achtzig wieder (S. 163). 640 Jörg Schulte zeigt die Wiederkehr dieser Zahl in anderen Babel’-Texten auf, ohne jedoch auf ihren symbolischen Mehrwert einzugehen (2006: 93–94). 641 Im deutschen Text von 1966 wird „pjat’“ im Sinne einer Übersetzung ins deutsche Schulsystem als „Eins“ übertragen. Dadurch geht ein wichtiges Element im numerischen Äquivalenzsystem um das semantische Feld „Tod“ verloren. 642 Der kleine Babel’ bereitet sich mit der Grammatik Smirnovskijs, dem Rechenbuch Evtuševskijs und dem Geschichtsbuch von Pucykovič auf die Prüfung vor (S. 162). Diese heilige Trias an Lehrbüchern, die dem kleinen Babel’ die Höchstnote einbringt, lässt sich tatsächlich belegen: Der Russischlehrer Petr V. Smirnovskij (1846-??) verfasste mehrere Schulbücher zur russischen Sprache und Literatur, darunter 1884 ein Učebnik russkoj grammatiki (Lehrbuch der russischen Grammatik; http://www.rulex. ru/01180277.htm; 5.3.2012). Vasilij A. Evtuševskij (1836–1888), dessen Methode jedoch bei Lev Tolstoj wenig Anklang fand, veröffentlichte mehrere Lehrwerke zur Arithmetik (BĖ 2006 Bd. 16: 342). Feofil F. Pucykovič (1846–1899) verfasste eine Kratkaja russkaja istorija. So mnogimi portretami i drugimi risunkami (Eine kleine Geschichte Russlands. Mit vielen Porträts und anderen Zeichnungen), die allerdings erst 1914 in Sankt Petersburg erschienen sein soll (http://www.rulex.ru/01160745.htm; 5.3.2012).

230  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Im ostslavischen Aberglauben wird einem Toten bis zu seiner Bestattung die Fähigkeit zu riechen, zu hören und zu sehen zugesprochen (Vlasova 1998: 393). Zudem kommt mit dem Toten der Tod selbst ins Haus. Das Schließen oder Bedecken der Augen wendet die Gefahr ab, dass noch andere Familienmitglieder sterben (Vlasova 1998: 396f.). In slavischheidnischer Vorstellung entschwindet die Seele des Toten durch die offenen Augen, würden diese nicht bedeckt, oder könnte gar wiederkehren.643 Auch im Judentum schließt man die Augen eines Toten oder bedeckt sie mit Scherben. Kuz’ma will mit den kupfernen Fünfern die Wiederkehr des geschändeten Šojl abwenden. Mit der Fünf assoziiert man im Judentum aber auch den Chumesch, das Fünfbuch (die Fünf Bücher Mose). Das „hey“, das den Zahlenwert Fünf verkörpert, kommt zweimal im Tetragramm vor. Dieser Buchstabe begründet die Namensänderung von Abram zu Abraham sowie von Sarai zu Sarah (Gen 17, 5) und symbolisiert den Bund mit Gott (Weinreb 62005: 101). Die Fünf steht auch für messianische Heilserwartungen, erinnert man sich des fünften Bechers, der bei der SederFeier dem Propheten Elias bereitgestellt wird (s. Kap. 6). Die Zahl vereint den Tod und das Göttliche auf sich.

Auge in Auge mit der Gewalt: Babel’s intertextueller Dialog mit der russischen Literatur A.S. Puškins Stancionnyj smotritel’ (Der Stationsvorsteher/Der Postmeister, 1836) endet mit einem Fünfkopekenstück („pjatačok“; 1986 Bd. 3: 84). Der intra- und homodiegetische Erzähler belohnt damit einen Jungen, der ihn zum Grab des vor Gram gestorbenen Postmeisters führt, dem der Husar Minskij die Tochter Dunja entführt hat. Er wiederholt damit Dunjas Geste, die eben jenem Jungen einen „pjatak serebrom“ (silbernes Fünfkopekenstück; ebd.) überlässt.644 Das Fünfkopekenstück ist nicht das einzige intertextuelle Element, das Babel’s Erzählung mit Puškin verbindet. Puškin ist nicht der einzige russische Dichter, auf den Babel’ sich in Istorija moej golubjatni bezieht. Gewidmet ist die Erzählung Maksim Gor’kij, der Babel’ „otpravil v ljudi“ (unter die Menschen geschickt hat; Babel’ 2001: 11). „Unter die Menschen“ heißt in Babel’s Fall auch: „Unter Tiere“. Denn einen Teil dieser Zeit verbringt er in der Nordarmee, die gegen Judenič, den Anführer der Weißen, kämpft, und in der Ersten Reiterarmee unter Budënnyj. Dort wird er Zeuge lustvollen Tötens und leidvollen Sterbens, wird er mit grausamen Übergriffen auf Juden konfrontiert.

643 S. hierzu Trepp 2006: 387 und de Vries 102006: 296. In Stryjkowskis Austeria bemüht sich der Schankwirt Tag inmitten der Unruhen des Ersten Weltkrieges, der ermordeten Asia die jüdischen Sterberituale angedeihen zu lassen. 644 Die Entführung Dunjas durch den Husaren Minskij in Stancionnyj smotritel’ (Der Stationsaufseher, anderer Titel: Der Postmeister, 1836) hat ihren Vorläufer in Karamzins sentimentaler Erzählung Bednjaja Liza (Die arme Lisa; 1792). In Puškins Metel’ (Der Sturm), ebenfalls aus den Povesti pokojnogo Ivan Petroviča Belkina (Die Erzählungen des verstorbenen Ivan Petrovič Belkins, veröffentlicht 1831) lädt der Vater der Heldin Marija Gavrilovna häufig „poigrat’ v pjati kopeek v boston“ (um fünf Kopeken Boston zu spielen; 1986 Bd. 3: 59).

Isaak Babel’ – Ein Pogrom in Prosa  | 231 Neben diese manifeste Intertextualität tritt der latente Bezug zu Puškin, aber auch zu Dostoevskij.645 Mit mehrfachen Intertextualitätsbezügen schreibt Babel’ weiter am „Konzept der Filiation“ als Topos in der russischen Literatur (vgl. Lachmann 1990: 291). Die Filiation ist aber eine der Revolte des Sohnes gegen die Väter oder die des südrussischen, der lichtdurchfluteten Stadt Odessa entstammenden Babel’s gegen den übermächtigen nordrussischen literarischen Diskurs. Dieser entstammt dem düsteren, phantasmagorischen Petersburg, das aus Babel’s großen ukrainischen Vorbild Gogol’ einen Schatten macht (vgl. Vinokur 2008: 60). Babel’, der sich Maupassant und Tolstoj zum literarischen Vorbild erkor, tritt in seinem 1916 verfassten ‚Manifest‘ Odessa als „literaturnyj Messija“ (literarischer Messias; Babel’ 2001: 20) gegen Dostoevskijs Messianismus an.646 Seine Heilsfunktion sucht er in Istorija moej golubjatni mit der ästhetischen Transformation der Prätexte Puškins und Dostoevskijs zu erfüllen. Diese intertextuelle Umwertung funktionalisiert er für seine Ästhetik der Epiphanie des russischen Antisemitismus. Die Intertextualität mit Puškin ist in Istorija moej golubjatni eng mit dem Motiv des Wahnsinns verknüpft.647 Kernthema der zweiten Aufnahmeprüfung ist Peter der Große. Wie von Sinnen rezitiert der kleine Babel’ Puškins Gedichte zu Peter dem Großen, schreit sie wie in einer grotesken Inversion klassischer Gedichtdarbietungen hinaus (Babel’ 1996: 162). Puškin setzt sich in den zwei großen Poemen Poltava (1829) und Mednyj vsadnik (Der eherne Reiter, 1833) mit Peter dem Großen auseinander.648 In Poltava ‚besingt‘ er dessen Sieg über den Schwedenkönig Karl XII. im Jahre 1709. Der eigentliche Held des Poems ist jedoch der ukrainische Held Mazepa, der ukrainische Unabhängigkeitsbestrebungen vertritt.649 Während Babel’s Gedichtrezitation wirbeln die Gesichter der Prüfer vor seinen Augen durcheinander „kak karty iz novoj kolody“ (wie die Karten eines neuen Stapels; Babel’ 1996: 162). Keiner der beiden Prüfer unterbricht das wahnsinnige Stammeln des Jungen („... nikto ne preryval bezumnogo moego bormotan’ja“; ebd.). Der Vergleich mit dem Kartenspiel und das Motiv des Wahnsinns stellen einen unmittelbaren Bezug zu Puškins 645 Diese für Babel’ zunächst ungewöhnliche Bezugnahme tritt neben seine offiziellen Bezugsautoren Maupassant und Tolstoj, der wie später Babel’ bemüht war, „den Beginn von Anna Karenina ganz am konzisen Stil der Erzählungen Puškins auszurichten“ (Lachmann 1990: 291). Zu intertextuellen Referenzen zwischen Babel’, Rousseau und Dostoevskij s. Žolkovskij 1994: 89–123, zu Babel’ und Dostoevskij s. auch Vinokur 2008: 60–62. 646 Babel’ signiert diesen Text mit „Bab-Ėl’“, was sich mit „Tor zu Gott“ (von hebr. „bab“: Tor, Pforte) übersetzen ließe, und charakterisiert Odessa als messianische und jüdische Stadt zugleich (Vinokur 2008: 60–62). 647 Der Wahnsinn durchzieht – besonders als Bestandteil der Familienbeschreibung – die gesamte Erzählung. Der Großvater des Ich-Erzählers wurde verrückt, ebenso sind Onkel Lev, der Bruder des Vaters, und Onkel Simon als wahnsinnig charakterisiert (S. 163f.) 648 Hinzu kommen die Stansy (Stanzen, 1826). Puškins intensive Auseinandersetzung mit Peter setzt sich im narrativen Text Arap Petra Velikogo (Der Mohr Peters des Großen, 1827/28) fort und mündet in die auf Geheiß Nikolaj I. hin 1832 begonnene, metafiktionale Istorija Petra (Geschichte Peters des Großen), an der Puškin bis zu seinem Tod arbeitet; s. hierzu Lotman 1995: 293–299, Arminjon 1971, Krysteva 1985 und Platt 2000: 141–163). 649 Im Abschlussgedicht von Kvitkos Pogromzyklus 1919 taucht der Held erneut auf (s. Kap. 8.3). Inwieweit Babel’ die zeitgenössische jiddische Literatur und damit auch Kvitkos Pogromlyrik rezipiert hat, bleibt eine spannende Frage.

232  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Erzählung Pikovaja dama (Pik Dame, 1834) und deren Protagonisten German her. Die deklamatorische Ekstase des Puškin rezitierenden Judenjungen wiederum ruft die Ekstase chassidischen Betens auf: Ihr Ziel ist die „Kavana“ (jidd.: kavone), das Anhängen an Gott. Der kleine Babel’ aber kommt von Puškin nicht mehr los, ist von ihm geradezu besessen. Diese Besessenheit des jüdischen Babel’ vom (nord)russischen Dichtergenie Puškin führt zur Diabolisierung der jüdischen Ethnie, hier pejorativ als „židki“ bezeichnet: „Kakaja nacija [..] židki vaši, v nich d’javol sidit.“ (Was für eine Nation [...] eure Juden, sie tragen den Teufel in sich; 1996: 162) Was verbirgt sich hinter dieser Intertextualität mit Puškin? Babel’ inszeniert sich durch den Einbau des Wahnsinns motivisch, aber auch ästhetisch als Nachfolger Puškins: 650 Dessen Credo: „Točnost’ i kratkost’ – vot pervye dostoinstva prozy“ (Genauigkeit und Kürze, das zeichnet Prosa vor allem aus) in seinem Fragment O proze (Über Prosa, 1822; 1949 Bd. 11: 18–19) gilt auch für Babel’s Erzähltechnik.651 Wie Puškin poetisiert Babel’ durch die Übernahme lyrischer Verfahren (der Wiederholung usw.) seine Erzählprosa und erweitert dadurch erheblich deren Semantik (vgl. Lauer 2000: 198). Meint dieses aus intertextuellen Bezügen zu Puškin geknüpfte Symbolsystem auf der biographischen Ebene Babel’s Auseinandersetzung mit Stalin mit? Auf beängstigende Weise ruft es Parallelen zwischen Babel’s Situation unter Stalin und derjenigen Puškins unter Nikolaj I auf. Wie Puškin, der die Oppression durch Nikolaj I und die Einschränkung seiner (dichterischen) Freiheit durch Zensur und Demütigungen in die Zeit Peters des Großen zurück- und in Evgenijs Wahnsinn hineinprojiziert, weicht Babel’ auf die Ereignisse unter Nikolaj II und den Wahnsinn seiner Vorfahren aus.652 Ein letzter intertextueller Faden zu Puškin führt direkt zu einem Gewaltakt und damit zur Epiphanie und Hauptintention der Babel’schen Erzählung hin. Er steht im Kontext einer sich jüdischer und christlicher Muster bedienenden Apokalypse. Als der junge Babel’ in die Hände Makarenkos gerät, stürzt er, mit ihm übers Gesicht laufendem Taubengedärm, zu Boden.653 In die Mutter Erde hinein hörend, verebbt das Tosen des wütenden Pogroms allmählich im Bewusstsein des Ich-Erzählers und führt eine fast mystische Vereinigung zwischen dem jüdischen Knaben und der ‚russischen‘ Erde herbei. (Psychoanalytisch gesprochen, kehrt der jüdische Same in den Mutterschoß, in die „mat’ syraja zemlja“, zurück):

650 In einem nächsten Schritt der Filiation ist man bei Gogol’s Zapiski sumasšedšego (Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen; 1842) angelangt. 651 Konstatin Paustovskij erinnert sich, dass jedes überflüssige Wort in einem Text Babel’ körperliche Schmerzen verursacht habe (1970: 158). 652 Zu Puškins schwierigen Lebens- und Arbeitsbedingungen unter Nikolaj I besonders in seinen letzten Jahren s. Ziegler 1979: 119–132, 138–143 sowie Keil 2001: 387–423. 653 Makarenko begleitet seinen tätlichen Angriff mit einem Fluch auf das jüdische Volk: „Semja ichnee razorit’ nado“ (Ihren Samen muss man ausrotten; 1996: 170). Er bedeutet die Umkehrung von Gottes Aufforderung: „Seid fruchtbar und mehret euch!“, die Leyb Kvitko in seinem Pogrompoem 1919 als Hoffnungsschimmer nach erfolgten Pogromen zitiert (1923: 98).

Isaak Babel’ – Ein Pogrom in Prosa  | 233 Gde-to daleko po nej [zemlej; S. K.] ezdila beda na bol’šoj lošadi, no šum kopyt slabel, propadal, i tišina, gor’kaja tišina, poražajuščaja inogda detej v nesčast’e, istrebila vdrug granicu meždu moim telom i nikuda ne dvigavšejsja zemlej. (1996: 170) Irgendwo weit entfernt ritt das Unheil auf einem großen Pferd über sie [die Erde], doch verebbte das Geräusch der Hufe, verlor sich, und Stille, bittere Stille, die manchmal Kinder im Unglück tief beeindruckt, zerstörte plötzlich die Grenze zwischen meinem Körper und der Erde, die sich nirgendwohin bewegt hatte.

Das Donnern der Hufe ist die letzte (Laut-)Spur, die vom apokalyptischen Reiter in der Erzählung bleibt. Sie geht einher mit der Textspur, die direkt zu Puškins Poem Mednyj vsadnik und der apokalyptischen Inszenierung von Falconets Reiterstandbild führt, das dem hilflosen Evgenij hinterherjagt. Anders als Evgenij jedoch kommt der Ich-Erzähler hier zur Ruhe, bevor er „v ubranstve okrovavlennych per’ev“ (im Ornat blutbespritzter Federn; 1996: 170) den Heimweg antritt. Mit dieser Abweichung von der Vorlage wechselt Babel’ das intertextuelle Bezugssystem. Die unfreiwillige ‚Umarmung‘ der Erde, die einen Höhepunkt der Erzählung darstellt, erinnert neben Il’ja Muromec, der Kraft aus der russischen Erde schöpft, an zwei der berühmtesten – freiwilligen – Berührungen mit der Mutter Erde der russischen Literatur: In Prestuplenie i nakazanie (Verbrechen und Strafe, 1866) küsst Raskol’nikov an einem Kreuzweg am Heumarkt (Sennaja ploščad’) in Petersburg die Erde, um sein Vergehen, die Ermordung der Wucherin, zu sühnen.654 In Brat’ja Karamazovy (Die Brüder Karamazov; 1879/80) fällt Aleša „slabym junošej“ (als schwacher Jüngling; 1976 Bd. 14: 328) zur Erde, um „tverdym na vsju žizn’ borcom“ (als fürs gesamte Leben gefestigter Kämpfer; ebd.) wiederaufzustehen. Diese innere Wandlung findet parallel zu Jesu Verwandlung von Wasser zu Wein anlässlich der Hochzeit zu Kanaan – dies der Kontext von Alešas Proskinese – statt. Aleša wird nach diesem Initiationsritus zu einem anderen Menschen, um dann  – wie der Schriftsteller Babel’ – „prebyvat’ v miru“ (in der Welt zu leben; ebd.). Des Ich-Erzählers parodistische ‚Proskinese‘ aus der Istorija moej golubjatni ist ebenfalls Teil eines Initiationsritus: Am Ende der Erzählung weiß der Ich-Erzähler um die Bedrohung des Judentums durch die russischorthodoxe Kultur, für die Dostoevskij steht. Seine Tränen sind, anders als bei Aleša, keine „slezy radosti tvoej“ (Tränen deiner Freude; ebd.), sondern Tränen der Verzweiflung, wie er sie nie wieder empfunden habe (Babel’ 1996: 170). Die Geborgenheit durch die russische Erde ist zweifelhaft: Sie riecht nach Blumen – und nach Grab („Zemlja pachla [...] mogiloj, cvetami“; 1996: 170). Šojls Tod ist damit lexikalisch vorweggenommen.655 654 Raskol’nikov, der vor seinem Kniefall noch sein letztes Fünfkopekenstück los wird (!), bittet auf diese Weise auch die Erde um Vergebung, da er sich auch gegen sie versündigte (1973 Bd. 6: 405). In beiden Fällen finden sich Spuren des heidnischen Kultes um die „mat’ syraja zemlja“ (Mutter Erde; s. StangéZhirovova 1983: 423–428). Auch Dunja wirft sich in Stancionnyj smotritel’ am Grabe ihres Vaters zu Boden (Puškin 1986 Bd. 3: 84). 655 Babel’ setzt damit die Ambivalenz der Erde aus Konarmija fort; dort fungiert „seroj“ (feucht) als Leitbegriff.

234  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Die höchste intertextuelle Dichte platziert Babel’ an den Höhepunkt der Erzählung, nicht aber an den Höhepunkt der Epiphanie.656 Diese ist erst vollzogen, wenn der IchErzähler von der befreienden Blindheit des Nicht-Sehen-Könnens, während der er vom Tode seines Großonkels nur gehört hat, überwechselt in das begreifende Sehen des Toten selbst.

Von Tauben und Fischen – Babel’s intertextueller Dialog mit der Bibel Das unwissende erlebende Ich und das wissende erzählende Ich markieren die kognitiven Eckpunkte der conditio judaica angesichts von (staatlichem) Terror und Antisemitismus. In der Epiphanie der Gewalt gegen Juden kreuzen sich diese beiden Erzählperspektiven. Eingeleitet wird sie mit der Taube. Die Taube tritt in der jüdischen Bibel während der Sintflut in Erscheinung: Nachdem der Rabe nicht zurückgekehrt ist, kündet eine Taube mit einem Ölzweig im Schnabel Noah von ihrem Versiegen (Gen 7, 27–8,22).657 In der christlichen Tradition ist sie Symbol des Heiligen Geistes und damit fester Bestandteil der Ikonographie Jesu. Babel’ verkehrt die alt- wie neutestamentarische Eschatologie der Taube in eine Apokalypse: Die Taube ist in der Erzählung nicht spirituelles Symbol, sondern konkreter Körper. Ihre ursprüngliche Friedenssymbolik wird in ein drastisches Gewaltbild umgewertet: Wie die Gedärme platzen die Friedensträume, die man gemeinhin mit der Taube in Verbindung bringt. Das Taubengedärm und -blut, das dem Jungen über das Gesicht rinnt, fungiert als Realisierung der eingeschränkten Erzählperspektive des kleinen Babel’. Die buchstäbliche Blindheit – „vnutrennosti razdavlennoj pticy [...] stekali s moego viska [...] oslepljaja menja“ (die Innereinen des zerquetschten Vogels rannen mir die Schläfe hinunter [...] machten mich blind; S. 170)  – und die Unkenntnis des jüdischen Kindes, was Pogromakte und -ursachen anbelangt, fallen in eins. Der biblische Prätext um Noah und die Sintflut assoziiert das Element Wasser – und Fische. Die Kulmination der Gewalterkenntnis wird mit genau diesen Tieren – einschließlich ihres hohen Symbolwerts in der jüdischen Kultur – verknüpft. Wie Marc Chagalls Vater verkauft Šojl in Istorija moej golubjatni Fische; zwei Fische, in der jüdischen Kultursemantik Symbole des Lebens und der Fruchtbarkeit (s.  Wischnitzer-Bernstein 1935: 134), im christlichen Kontext Symbole des Lebens in Christu, bringen ihm den Tod:

656 Der Höhepunkt der Erzählung wird narratologisch gesehen noch dadurch gestützt, dass in der Handhabung der Zeit von der Raffung zur Dehnung übergegangen wird. Nach dem chronologischen Vorlauf der Ereignisse vom 20. Oktober 1905 folgt das detailliert geschilderte Weltempfinden des kleinen Jungen im Dreck. 657 Von dieser Episode im Tanach leitet sich die Friedenssymbolik der Taube, die vom göttlichen Frieden kündet, ab. Daneben erscheint die Taube als Sühne- und Brandopfer (Lev 5, 7–11), u. a. als Opfertier anlässlich der Beschneidung des Erstgeborenen (Lev 12). An die Brandopferfunktion knüpft die Stelle aus dem Johannes-Evangelium an, als Jesus die Taubenhändler aus dem Tempel vertreibt (Joh 2, 16). Zur Taube in anderen Erzählungen Babel’s s. Schulte 2006: 94f..

Isaak Babel’ – Ein Pogrom in Prosa  | 235 Ich bylo dva sudaka vsunuty v deda: odin v prorechu štanov, drugoj v rot, i chot’ ded byl mertv, no odin sudak žil ešče i sodrogalsja. (Babel’ 1996: 171) Zwei Zander steckten im Großvater: einer im Hosenschlitz, der andere im Mund, und obgleich der Großonkel tot war, lebte der eine Zander noch und zitterte.

Nicht Jonas steckt im Bauch des Fisches (Buch Jona 2, 1–11), sondern der Fisch im Rachen Šojls. Die lautliche Nähe zwischen „sudak“ (Hecht) und „sud“ (Gericht), der als „strašnyj sud“ (Jüngstes Gericht) auf die Endzeit hinweist, ist eine weitere Inversion, die Babel’ im Zusammenhang mit der biblischen Fischsymbolik vornimmt. Fisch und Vogel spielen im Buch Tobit eine wichtige Rolle. Auch dieser Prätext bleibt von Babel’s (apokalyptischen) Kippfiguren nicht verschont. Das Buch Tobit ist eine Geschichte von Vögeln, die die Blindheit bringen, und Fischen, die diese heilen. Der wohltätige Tobit erblindet, nachdem er einen erdrosselten Juden begraben hat, am Kot von Sperlingen (Tobit 2, 6–10). Der Fisch, der zunächst dessen Sohn Tobias verschlingen will, wird zum Heilmittel. Statt der Innereien des Fisches – genauer statt Herz, Leber und Galle (Tobit 6, 1–5) –, die Tobits Blindheit heilen (Tobit 11, 8–15), wird der kleine Babel’ ‚blind‘ wegen der über die Augen rinnenden Innereien des Vogels.658 Der Fisch, dessen Galle Blindheit heilen könnte, wird in Istorija moej golubjatni nicht wie im Prätext getötet, sondern überlebt, zur Todes,waffe‘ instrumentalisiert, sein Opfer. Am Ende der Narration steht nicht die Selbstoffenbarung des Engels Rafael (hebr.: für „Gott heilt“!), sondern die Offenbarung des Todes. Babel’s Ironie im Umgang mit göttlicher Rettung ist grausam. Dabei hat alles so gut angefangen: Der kleine Babel’ wird als David gefeiert, der über Goliath (den zaristischen Unterdrücker) siegt (1996: 166; S. 1 Buch der Könige, 17). Der betrunkene Repetitor des Ich-Erzählers, „Monsieur Liberman“, feiert in die chassidische Exstase hinein – das Fest, von chassidischen Gesängen und Tänzen, aber auch von Alkohol begleitet, hat etwas Dionysisches – den intellektuellen Sieg des Jungen über die Russen.659 In der geheiligten Sprache Hebräisch besingt er den Sieg eines Volkes, das kraft seines Verstandes „pobedit vragov, okruživšich nas i žduščich našej krovi“ (die Feinde besiegt, die uns umgeben und auf unser Blut warten; 1996: 166). Das komische Pathos des ‚lieben Mannes‘ – oder Mann des Buches, will man die lateinische Bedeutung in „Liberman“ nicht ausschließen – in diesem Karneval der Sprachen (jiddische Gebetsmelodien, hebräischer Trinkspruch, den der

658 Zur Blindheit der alttestamentarischen Väterfiguren Tobit und Jakob sowie des Hohepriesters Eli, die eine große Treue zum Glauben verbürgt, s. Derrida 1997: 27–37. 659 Sicher (1986: 92) deutet das Fest als „rite de passage“, dem als eigentliche Initiation der Eintritt des Jungen in die Welt der Gewalt folgt, als ihn Makarenko mit der Taube schlägt. Tatsächlich erinnert Babel’ bei der Beschreibung des Festes auch an Pessach: Den Übertritt ins Gymnasium korreliert er so mit dem Überschreitungsfest. Initiationsriten von der Unschuld in die Schuld (des Tötens) beschäftigen Babel’ auch in Moj pervyj gus’ (Meine erste Gans) und in Smert’ Dolgousova (Dolgousovs Tod) der Konarmija; ebd.).

236  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild französisierte „Liberman“ mit einem „Vivat!“ beendet; ebd.) paart sich mit der Komik der Hypertrophierung. Später wird aus dem Vergleich um David und Goliath bittere Wahrheit.660 Dem Freudenfest folgt dann in der Erzählung die Totenklage, gemäß dem Wort des Propheten Amos: „Eure Feste sollen sich in Trauer verwandeln und alle eure Freudenlieder in Totenklage“ (Amos 8, 10, s. auch Tobit 2, 6). Der einzige, der in der Erzählung außer Liberman noch weint, ist der kleine Babel’, von Makarenko geschlagen, gedemütigt und mit dem Fluch der Ausrottung behaftet (S. 170).661 Der einst gefeierte Puškinrezitator, der hierdurch von Babel’ durchaus ironisch konstruiert in die Nähe des großen Sängers und Psalmenverfassers David rückt, ist dem Mob ebenso hilflos ausgesetzt wie Evgenij aus Mednyj vsadnik Falconets Reiterdenkmal. Die Erzählung wechselt vom Siegerdiskurs um David, der Goliath bezwingt, zu einem anderen wichtigen Paar der jüdischen Heiligen Schrift, zu David und Saul. Saul ist der hebräische ‚Namensvetter‘ von jidd.: „Shoyel“, der als Lügenbaron mit seinen „pobasen’ki“ (Histörchen; 1996: 165) zur komischen Reminiszenz der literarisch tätigen Davidfigur wird. Dieser Saul, von Samuel zum ersten König über alle Stämme Israels gesalbt, wird von Gott verworfen – er tötet nicht genügend Amalekiter (s. 1 Sam 15). Auch Šojl aus der Erzählung hat sich nur als Zaungast am polnischen Aufstand gegen die Russen beteiligt, und selbst das ist nicht gewiss (Babel’ 1996: 165).662 Der alttestamentarische Saul stirbt durch das eigene Schwert (1 Sam 31). Der Saul der Babel’schen Erzählung – die biblische Vorlage bagatellisierend – stirbt durch seine Fische.663 Ein weiteres, für den jüdisch-christlichen Dialog wichtiges Narrativ wird ebenfalls unterlaufen: David, der christlich als Präfiguration Jesu (jüdisch als Präfiguration des Messias) gelesen wird, trifft in Istorija moej golubjatni auf Makarenko, den Krüppel, der sich zum Gottessohn stilisiert:664 Menja, što l’, bog syskal, – skazal on bezžiznenno, – ja vam, što l’, syn čelovečeskij ... (1996: 169) Hat mich denn Gott auserwählt ...,“ sagte er leblos. „Bin ich denn Gottes Sohn für euch, he? 660 Die Allegorie um König David ist Teil von Babel’s Drama Zakat (Sonnenuntergang, 1926–1928), das auf einer gleichnamigen, 1913 verfassten Erzählung beruht. Sie betont die Unvermeidlichkeit eines historischen und sozialen Wandels. Arye-Leyb erzählt von Davids Aufstieg, seinem Ruhms und der Eroberung Bat-Schebas, der Frau des Hethiters Urija (s. Sicher 1986: 171f.). 661 Šojl wiederum muss sterben, weil er die Russen mit Flüchen überhäuft (1996: 171). Für Kuz’ma ist dies ein heroischer Akt (Carden 1972: 170f.). 662 In die Folgegeschichte Pervaja ljubov’ (2006 Bd. 1: 165–17) karnevalisiert Babel’ auch die Bindung Isaaks (Gen 22; s. Kap. 12). Der Ich-Erzähler, der auch Isaak heißt (!), schluchzt „izvivajuščim klubkom“ (wie ein zuckender Knäuel, S. 174) ob der hoffnungslosen Liebe: „S pyaljuščimi ščekami mat’ tesnila Galinu k vychodu, potom ona kinulas’ ko mne i sunula šal’ mne v rot, čtoby podavit’ moj ston.“ (Mit glühenden Wangen drängte meine Mutter Galina zum Ausgang, dann stürzte sie zu mir und stopfte mir den Schal in den Mund, um mein Stöhnen zu unterdrücken; ebd.) 663 Für Patricia Carden ist Šojls Tod ein Akt der Selbstverwirklichung: „Shoyl’s death is the moment of realization of his fantasies, when he becomes fully himself by acting out his illusion of heroism“ (1972: 169). 664 Die theologische Linie [des Heils], die von David zu Jesu gezogen wird, rührt u. a. von Betlehem als beider Geburtsort.

Isaak Babel’ – Ein Pogrom in Prosa  | 237 Jesus heilte einst einen Aussätzigen (Luk 5, 12–16). Diesem trägt er auf, als Beweis seiner Heilung das Reinigungsopfer darzubringen, wie es Gott Moses befahl (s. Leviticus 14): Zu diesem Ritus gehören zwei Vögel, von denen der eine zu schlachten und der andere, nachdem er ins Blut des anderen Vogels getaucht wurde, freizulassen ist (Lev 14, 4–7). Der lepröse Makarenko (s. Babel’ 1996: 169) kehrt dies grausam um (Sicher 1986: 92). Ausgerechnet der Aussätzige besprengt den Juden mit Vogelblut. Ausgerechnet der ‚Sohn Gottes‘ ermordet Babel’s (Friedens-)Taube. Ordnung in diese verkehrte Welt bringt schließlich Kuz’ma, seinem etymologischen Ursprung „cosmos“ (gr. für „Schöpfung, Ordnung, Schönheit“) alle Ehre machend – mit einem heidnischen Brauch! Der Namensvetter des christlichen Heiligen und Märtyrers mag, ostslavischem Volksglauben entsprechend, den Tod als neue Seinsweise in einem anderen ‚Haus‘ dem späteren Grab verstehen. Ein ostslavisches Klagelied verortet das „feuchte Gräblein“ (syraja mogiločka) im gelben Sand.665 Gelb kommt dem jungen Ich-Erzähler auch die Gasse vor, in der Makarenko die Taube zerquetscht und Šojls Tod vorweggenommen wird (Babel’ 1996: 169). Šojls Tod, Schlusspunkt einer verkehrten Welt, in der sämtliche jüdische Heilsvor­ stellungen unterlaufen werden, vollendet das apokalyptische Empfinden und die Erkenntnis der konkreten Gewalt. Babel’ ergänzt die positive Symbolik der Fische (Repräsentanten des Lebens) um ihr Gegenteil. In der jüdischen Vorstellungswelt ist der Fisch auch Sternbild der Endzeit (Wischnitzer-Bernstein 1925: 134). Babel’ spielt mit den Fischen eine letzte verborgene Sinnlinie seiner apokalyptischen Inszenierung ein. Mit ihr diskreditiert er die Zeit als letzte Bastion der ortlosen, mit Exil geschlagenen Juden. Biblisch vorgeformte Eschatologie enttarnt er als Illusion. In Istorija moej golubjatni, die bereits im Titel Erzählen und Zeitlichkeit in den Vordergrund rückt, ist das Pogromgeschehen den Fakten entsprechend im Oktober angesiedelt. Auf der Ebene der Präsentation kehren jedoch zwei weitere Monate wieder, die im jüdischen Kalender traditionsgemäß mit Tod und Vernichtung in Verbindung stehen: Nachdem sich um die Mittagszeit die Nachricht vom Pogrom und vom Tode Šojls verbreitet, ergreift der Vogelhändler Ivan Nikodymič die Flucht. Ein Pfau sitzt ihm dabei auf der Schulter „kak solnce na syrom osennem nebe, on sidel, kak sidit ijul’ na rozovom beregu reki, raskalennyj ijul’ v dlinnoj cholodnoj trave.“ (wie die Sonne auf einem feuchten Herbstnebel, er sitzt so, wie der Juli am rosafarbenen Flussufer, der überhitzte Juli im langen kühlen Gras; Babel’ 1996: 168) Die ästhetische Verzahnung der Formulierung durch die mehrmalige Wiederholung des stimmlosen „s“ (solnce na syrom osennem nebe, on sidel, kak sidit ...) evoziert wie der anthropomorphisierende Vergleich mit der Sonne und dem Monat Juli die Hitze des Mordens aus Konarmija.666 Der Juli, der aufgrund der zweifachen Nennung ebenso 665 „Ne ubojsja, lebed’ belaja, / Ty syroj-to da mogiločki, / Bol’šoj da zemli-materi, / Pesočku da želtogo. / Živi da obživajsja / Bole vse na veki dolgie.“ (Fürchte dich nicht, weißer Schwan / Du, das Grab das feuchte, / die Mutter Erde, die große. / Lebe, ja lebe / lange, lange Jahre; Čistjakov 1982: 115f.). In derartigen Klageliedern (ru.: pričitanija) wird der Tote häufig als „golubuška“ (Täubchen) angesprochen (s. Čistjakov 1982: 116, 117 und 121). Über die Vögel, hier metaphorisch gebraucht, und die Farbe, entsteht also eine Äquivalenz zwischen Klagelied und Babel’s Kurzprosa. 666 Die Erzählungen, sofern sie von Ljutov-Babel’ datiert sind, spielen von Juli bis September 1920.

238  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild herausragt wie durch den das Heiße und das Kalte gegenüberstellenden Vergleich, korrespondiert mit dem Monat Av des jüdischen Kalenders. Am neunten dieses Monats, dem Tischa be-Aw, gedenken die Juden der Zerstörung des Ersten und des Zweiten Tempels in Jerusalems. Der Tischa be-Aw ist ein Tag der Trauer und Symbol der Zerstörung (s. hierzu Gal-Ed 2001: 91–103). Nicht umsonst evoziert diese Beschreibung des Vogelhändlers mit Pfau den Erfinder der Vierten Internationalen Gedali aus Konarmija, der – mit Hut und Vogelfeder geschmückt – das Wesen der sozialistischen ‚Heilsgeschichte‘ erklärt: Die russische Revolution ist von der (polnischen) Konterrevolution nicht zu unterschieden. Beide enden tödlich (Babel’ 2002: 25–28). Die Fische sind das Sternbild für den jüdischen Monat Adar (entspricht Februar/März). In den Adar fällt Purim, das Fest, an dem die Rolle Ester (hebr.: Megillat Ester) verlesen und – wie im Purim-Spiel vergegenwärtigt – die Rettung der Juden, die der persische König Xerxes vernichten wollte, durch die tapfere Frau gefeiert wird. In Istorija moej golubjatni gibt es keine Ester, die die Juden vor dem Pogrom zu schützen vermag. Das zyklisch wiederkehrende Sternbild der Fische, in dem jedes Jahr aufs Neue Esters Heilstat und Gottes Schutz gedacht wird, verblasst vor der zeitgleichen Symbolik der Endzeit. Die Verschränkung der mythischen und der historischen Zeit, die Mikhail Krutikov für die jiddische Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts zugunsten der historischen Dimension konstatiert (2001: 115), gilt auch für Babel’. Dass die Erzählung mit dem Wort „pogrom“ (1996: 171) schließt – das Wort wird hier überhaupt zum ersten Mal genannt –, markiert die Übermacht der Gewalt (der Historie). Hoffnung auf Erlösung, wie sie aus der mythischen Zeit überliefert ist, bleibt da keine. Zwar können sich die Eltern vor dem Pogrom flüchten und bei Nachbarn verstecken, doch bedeutet dies allenfalls die Fortsetzung von Gewalt – und von Erzählen (es folgt Pervaja ljubov’). Die Epiphanie der Gewalt in Istorija moej golubjatni ist vollzogen. Doch die Türen in die Ewigkeit sind zugeschlagen.

9.3 Der Barbarei trotzen: Yisokher Ber Ribak und Isaak Babel’ im Vergleich Anders als An-Ski, der wahlweise in jiddischer oder russischer Sprache schreibt, entscheidet sich Babel’ für das Russische als Literatursprache. Dennoch entfernt er sich nie ganz vom Jiddischen (Sicher 1984: 177).667 Russisch und Jiddisch stehen bei ihm poetisch in einer Verbindung: Jiddische Begriffe finden sich in Babel’s Tagebuch (Urban 1990: 184), Motive der jiddischen Folklore in Konarmija (s. Friedberg 1978: 192–203).668 Talmudische Erzählelemente und bibelhebräische Untertöne (Wiederholungen, Rhythmus, syntaktische Anschlüsse mit „i“/„und“ und „togda“/„dann“), mit denen Babel’s Texte angereichert sind, eignen auch dem Jiddischen (Sicher 1984: 175). Sie strukturieren Babel’s ornamentale Prosa mit. Babel’ begegnet Mendele Moykher-Sforim, dem ‚zeydn‘ (Großvater) der jiddischen Literatur, bis zu dessen Tod 1917 mehrmals; 1918 erschien Šabos-Nachamu (Shabes-Nakhmu), eine Adaptation einer jiddischen Legende über den ostjüdischen Spaßmacher Hershele Ostropoler.669 Den legendenumrankten Narren greift er in seiner Erzählung Rabbi aus Konarmija wieder auf und vermittelt so – laut Sicher (1984: 169) – dem russischen Leser seinen jüdischen Humor und den Einfluss der jiddischen Literatur auf sein Schaffen. In den 1920er Jahren übersetzt Babel’ Sholem-Aleykhem ins Russische.670 Er erstellt die Untertitel für die Stummfilmadaption von Sholem-Aleykhems Menakhem-Mendl (russ. Titel: Evrejskoe sčast’e [Jüdisches Glück], 1925). 1926 erscheint ein Drehbuch auf der Grundlage von SholemAleykhems Blondzhende shtern (Vagabundensterne, 1912; Sicher 1984: 168). Umgekehrt werden Babel’s Kurzgeschichten, die sich thematisch mit Texten seiner jiddisch schreibenden Zeitgenossen Bergelson, Der Nister, Markish oder Hofshteyn berühren, unter dem Titel Dertseylungen (Erzählungen) 1925 von der Kiever Kultur-Lige

667 Vielen ostjüdischen Autoren vergleichbar ist auch Babel’ im Kontext der Triglossie von Russisch, Jiddisch und – wenn auch in geringerem Maße – Hebräisch zu sehen (Sicher 1984: 167). Wie im Falle Chagalls redeten die (Groß-)Eltern zu Hause Jiddisch miteinander (s. Markiš 21997: 12 und Krumm 2 2006: 11–12). Die Sprache der Öffentlichkeit und des Alltags war Russisch, die Sprache der Religion das Hebräische. 668 In seinem Brief vom 2. April 1928 an F.A. Babel’ schreibt er von „a jid, a šiker“ (einem Juden, einem Trinker; 2006 Bd. 4: 211). 669 Sicher in: Freidin 2009: 197. Der „Sabbat des Trostes“ meint den ersten Sabbat nach dem 9. Aw, benannt nach den ersten Worten des Wochenabschnitts (hebr. Haftara): „Tröstet, tröstet mein Volk [...]!“ (Jes. 40, 1). Babel’ plant zu diesem ostjüdischen „Till Eulenspiegel“ (Peter Urban), der auch Itsik Manger oder Yekhiel Trunk literarisch inspiriert, einen Erzählzyklus (Lauer 2000: 646). Zu Hershele Ostropoler s. EJ 2006 Bd. 12: 1516 und http://de.academic.ru/dic.nsf/dewiki/610317; 5.3.2012 (die Angaben zu Trunk sind hier fehlerhaft). 670 1926–1927 erscheint eine zweibändige, von Babel’ herausgegebene Ausgabe von Sholem-Aleykhems Werken in der Übersetzung von S. Gecht. 1936 beauftragt ihn der Sowjetverlag Akademija (Akademie) mit der – nicht zustande gekommenen – Edition von Sholem-Aleykhems Gesamtwerk, den er in den letzten Lebensjahren wieder mit großer Begeisterung liest (Sicher 1984: 179, Krumm 22006: 177). Zu intertextuellen Bezügen zwischen Sholem-Aleykhem und Babel’ s. Žolkovskij 1999: 255–278.

240  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild ediert (Sicher 1984: 173).671 Babel’ ist – wie Marc Chagall – mit Mikhoels befreundet; die Bekanntschaft mit Dovid Bergelson bringt gegenseitiges übersetzerisches Engagement mit sich.672 Babel’s erste Frau Evgenija Gronfeyn, eine Künstlerin mit westeuropäischer Ausrichtung (s. Sicher 1984: 169), könnte das Bindeglied zu Ribak als Künstlervertreter der Kultur-Lige gewesen sein. Doch unabhängig davon, ob sich die beiden persönlich begegneten oder nicht, besteht zwischen Babel’s Pogromtext Istorija moej golubjatni und Ribaks Pogrombild eine tiefe Verwandtschaft. Den Text und das Bild zweier Juden  – Babel’s „ja ne vybral sebe nacional’nosti [...] Ja evrej, žid“ (ich habe mir die Nationalität nicht ausgesucht [...] Ich bin Jude; Paustovskij 2002: 165) gilt ebenso gut für Ribak – verbinden thematisch-motivische, aber auch ästhetische Äquivalenzen. Beider Bewältigungsversuche von Pogromen unterlaufen die „Normen des Adäquaten“ (Wertheimer 1986: 11) mittels eines ästhetischen Schocks. Die (kindliche oder Kindlichkeit fingierende) Naivität des Blicks, aus denen Ribaks Pogrombild und Babel’s Pogromtext geboren sind, kollidiert mit individuellen und kollektivkulturellen Mechanismen, Wahrnehmung und Leben am (Mittel-)Maß der Normalität jenseits von Gewalt auszurichten.673 Ribak und Babel’ zeigen Täter wie Opfer. Im Zentrum des Bild- und des Textgeschehens steht jeweils ein jüdisches Kind und seine Familie. Die Täter tauchen, wenn auch nur ­peripher, bei Ribak im rechten Bildeck, bei Babel’ als Kulisse zur Epiphanie des jungen ­Ich-Erzählers auf. Babel’s Beschreibung eines Zuges der Pogromisten wirkt wie die Übersetzung von Ribaks aufgebrachtem Mob aus dem Bild in die Literatur. Beide Darstellungen eint die Charakterisierung als Prozession, die im Namen des Allerhöchsten und/oder des Zaren der Gewalt huldigt: Bei Babel’ demoliert ein Bauer das Haus Ėfrussis, „poka na ulice ne pokazalsja krestnyj chod, šedsij ot dumy. Stariki s krasennymi borodami nesli v rukach rasčesannogo carja, chorugvi s grobovymi ugodnikami metalis’ nad krestnym chodom, vosplamennye staruchi leteli vpered.“ (bis auf der Straße, von der Duma kommend, ein Kreuzzug erschien. Alte mit gefärbten Bärten trugen das Bild des frisierten Zaren, über dem Zug flatterten Kirchenfahnen mit Heiligenbildern [wörtl: Gerechten der Gräber], fanatische alte Weiber stürmten voraus; 1996: 171). Ribak korreliert Kreuz und Beil; zum Kreuzzug gesellt sich bei Babel’ der Bauer hinzu, den Hammer an die Brust gedrückt (ebd.). Beide inszenieren die Aggressoren mit Insignien der (religiösen und/oder weltlichen) Macht und primitiven

671 Sicher schreibt hierzu: „There is no indication that this is a translation and Babel may have had a hand in this Yiddish publication of his stories. D. Feldman’s translation appeared the same year in Kharkov, followed by Gitl Mayzl’s in the Warsaw Literarishe bleter.“ (1984: 180) 672 Babel’ übersetzt Bergelsons Erzählung Dzhiro-Dzhiro (Giro-Giro, 1930) ins Russische, Bergelson Babel’s Drama Vozchod solnca (Der Sonnenaufgang, 1928) ins Jiddische; die geplante Aufführung im GosET kommt nie zustande (Sicher 1984: 173). Auch in hebräischer Sprache erscheinen Erzählungen Babel’s, so für die Sammlung Bereshit (Im Anfang; Luplow 1984: 256). 673 Jürgen Wertheimer betont im Hinblick auf eine methodisch auszulotende Ästhetik der Gewalt deren Dialektik zwischen der Repräsentanz des öffentlichen Bewusstseins und der provokativen Dissonanz, die eine Gewaltdarstellung im Bewusstsein erzeugt (1986: 11).

Yisokher Ber Ribak und Isaak Babel’  | 241 Tatwaffen, die die ebenso primitiven Beweggründe der antisemitischen Pogromisten bloßlegen.674 Ribaks Pogrombild und Babel’s Istorija moej golubjatni koppeln Gewalt und Sehen aneinander. Die motivische Äquivalenz reicht hier über die Inhaltsebene hinaus in den medial verschiedenen ästhetischen Ausdruck hinein. An dieser Stelle weiten sich beide Artefakte zu einer Metareflexion: Ribaks bild- und Babel’s wortkünstlerische Fiktio­nali­ sierungen von Gewalt bergen kunsttheoretische Aporien zu deren Darstellbarkeit. Absolute Unmittelbarkeit ist dem realen Gewaltgeschehen vorbehalten: „[...] das Authentische [der Gewalt – S. K.] ist prinzipiell vorsprachlich, nicht mehr darstellbar, jenseits der Zeichen und selbst noch der Bilder“ (s. Grimminger 2000: 22). Nach dem Verhallen des Pogromdonners bleibt Ribak und Babel’ nichts anderes übrig, als die reale Pogromgewalt als das Bereits-Gewesene und damit Abwesende mit einer medialen Vergegenwärtigung einzuholen. Ribak, Augenzeuge eines Pogroms, übersetzt in die Unmöglichkeit der authentischen Gewaltdarstellung den Blick, mit dem er dem tatsächlichen Pogrom einst folgen musste. (Auch Babel’ soll Zeuge mindestens eines Pogroms gewesen sein; Krumm 2 2006: 18.) Das jüdische Kind auf Ribaks Bild wendet sich zum Pogromzug um. Doch ersetzt den wahrnehmenden Sehapparat das Weiß leerer Augenhöhlen. Die übliche Widerspiegelung des im rechten Bildeck evozierten Pogromgeschehens im Auge des Betrachtenden ist ausgesetzt. Das hat jedoch keineswegs semantische Leere zur Folge. Der leere Blick des Kindes – ein Blick der Trauer, weiß wie die Gewänder der Juden an Jom Kippur, die ja Totengewänder sind – ist vielmehr erfüllt von der Dialektik von Sehen und Nicht-Sehen, von Nicht-Sehen-Können (im Sinne von Nicht-Ertragen-Können) und SehenMüssen.675 Der zurückgewandte Blick bezeugt die Unabwendbarkeit des Geschehens ebenso wie die Unmöglichkeit einer mimetischen Repräsentation. In diesem Blick und der ihn umgebenden Bildgestaltung entäußert sich zugleich das unbedingte Bedürfnis, die Pogromgewalt zu zeigen. Ribaks Elemente des verfremdenden Verweisens (Primitivismus, Zweidimensionalität, Alogik des Raumes und der Proportionen) legen eine ästhetische Folie auf die reale Gewalt, die dank ihrer antimimetischen Stilistik das Bild auf eine ethische Reflexion der Pogrome und ihrer visuellen Repräsentanz hin entgrenzt. Seine Ästhetik ‚stört‘ das habitualisierte Wahrnehmen und Hinnehmen von Pogromen, die im Ostjudentum fast zum Alltag gehörten. Der externe Betrachter ist nicht nur mit dem Pogrombild, sondern auch mit dem bildimmanenten Blick des Kindes konfrontiert. Dieses doppelte Sehen holt den Rezipienten ins Bild herein und nah an die Opfer (das bedrohte Judentum) heran. Die Augen der Juden im Bild werden zu Fixpunkten, von denen aus das synsemisch und polysem dargebotene Gewaltgeschehen erschlossen wird. Die Simultaneität der Bildrezeption ist um die narrativen Verfahren der Ikone ergänzt. Die mediale Unmittelbarkeit der Gewaltdarstellung wird von 674 Interessanterweise unterwandern beide Artefakte den (zumindest bis zum Zweiten Weltkrieg gültigen) Topos von der ausschließlichen Zuordnung von Gewalt und Töten zur Männerwelt (vgl. Virginia Woolfs Drei Guineen, zit. bei Sontag 2005: 9–13). Auf Ribaks Bild ist parallel zu Babel’s Beschreibung eine am Pogrom beteiligte Frau zu sehen. 675 Vielleicht ist der Blick zurück auch Ausdruck des tatsächlich nicht Sehen-Könnens eines Erblindeten, der die Aggression und Gewalt der pogromščiki sehr wohl aber hört?

242  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild der logisch-sukzessiven Decodierung der einzelnen Bildgeschichten unterwandert. Welches Bildgeschehen folgt welchem? Die offen gehaltene Abfolge der Episoden ohne Anfang und ohne Ende heißt in die Realität übersetzt: Ein Pogrom kann sich jederzeit wiederholen. Die Entblößung der Juden und des Tötens ist deshalb so drastisch, weil der enthemmte Tötungs­ trieb der Täter, der die ostjüdische Kultur ins Chaos reißt, von der ästhetischen Ordnung (einer kindlichen Wahrnehmung) gerahmt wird, die auf die gängige zentralperspektivische Deutungshoheit (der Erwachsenen?) verzichtet. Die Ambivalenz einer (Erwachsenen-)Perspektive, die verstehen will, und einer kindlichen, die Gewalt gegen Juden (noch) nicht verstehen kann, prägt auch Babel’s Text. Die Epiphanie der Pogromgewalt gelingt in Istorija moej golubjatni durch die Wissensdifferenz zweier Sichtweisen, der kindlichen Perspektive des Protagonisten und derjenigen des ‚älteren‘ Erzählers (und Alter Egos des jungen Juden). Letzterer blickt aus der Distanz auf das Gewaltgeschehen. Zugleich schlüpft er in die Innenwelt des kindlichen Ich. Mit dieser Doppelperspektive, der auktorialen Außen- und der personalen Innenschau (Extradiegesis und Intradiegesis), die ein literarischer Text dem Rezipienten bieten kann, wird der Dialog zwischen der Erzählung und seinem Leser stimuliert. Ähnlich der Doppelung des Blicks in Ribaks Bild wird durch die (zeitliche) Doppelperspektive in Babel’s Erzählung die Reflexion von Pogromgewalt angestoßen. Das Sehen von Gewalt und seine Einschränkung macht Istorija moej golubjatni zum literarischen Doppelgänger des Ribak’schen Bildes.676 So wie Ribak das (visuell) zeigt, was das Kind – tatsächliche Blindheit hin oder her – nicht sehen kann, enthüllt Babel’s Erzähler in Istorija moej golubjatni mit literarischen Mitteln, was der Protagonist nicht sehen will. Zur Blindheit, mit der der junge Babel’ durch das Taubengedärm geschlagen ist, kommt nämlich sein gewolltes Blind-Sein hinzu: Golubinaja nežnaja kiška polzla po moemu lbu, i ja zakryval poslednij nezaleplennyj glaz, čtoby ne videt’ mira, rasstilavšegosja peredo mnoj. [...] Ja zakryl glaza, čtoby ne videt’ ego. (1996: 170) 676 Auch Babel’s Einsatz der Farben Weiß, Rot und Gelb stützt dieses Doppelgängertum: Nach der vorübergehenden Erblindung des Jungen und ersten Konfrontation mit dem Tod taucht Weiß als – jüdische und slavische – Farbe des Todes und der Trauer im Text auf (1996: 170). Wie viele von Ribaks ukrainischen Kosaken zu Pferde setzt Babel’ Rot für die Täterseite ein: Ein ethnisch nicht spezifizierter „vodovoz“ (Wasserträger) geht mit rotem Gesicht herum (S. 167), das Gesicht Makarenkos ist „iz krasnogo žira“ (aus rotem Fett; S. 168), ein pogromlüsterner Bauer „podnjal krasnuju vozžu“ (hob die roten Zügel; S. 169). Auch Gelb als Farbe des Judentums kommt zum Einsatz. Das Gesicht des Taubenverkäufers ist gelb (S. 167). Die „pustynnyj pereulok“ (wüste Gasse), in der Makarenko und das Pogrom wüten, ist „utoptannyj želtoj zemlej“ (von gelber Erde zerstampft; ebd.); Gelb wird weiterhin mit wüster Ödnis korreliert: „Želtyj pereulok snova ostalsja želt i pustynen.“ (Die gelbe Gasse blieb erneut gelb und öd; S. 169) Auch in Konarmija steht das Gelb des Judentums dem „fleshy reds and crimsons of the violent, sexual Cossacks“ gegenüber (Sicher 1986: 86). Paustovskij nennt als generelles Charakteristikum von Babel’s Schreibweise ihre Visualität: „Ja byl poražen tem obstojatel’stvom, čto slova u Babelja, odinakovye so slovami klassikov, so slovami drugich pisatelej, byli bolee plotnymi, bolee zrimymi i živopisnymi“ (Der Umstand, dass Babel’s Worte, obgleich identisch mit den Worten der Klassiker, denjenigen anderer Autoren, plastischer, sichtbarer und malerischer waren, verblüffte mich; 1970: 157f.). Über Babel’s ekphrastisches Schreiben in Konarmija und Walter Paters Einfluss auf Babel’s Ästhetizismus s. Bullock 2009: 499–529.

Yisokher Ber Ribak und Isaak Babel’  | 243 Weiches Taubengedärm rann mir die Stirn herab, und ich schloss das andere, nicht verklebte Auge, um die Welt nicht zu sehen, die sich vor mir auflöste. [...] Ich schloss die Augen, um sie nicht sehen zu müssen.

Hier, im Augenblick der gewollten Blindheit, setzt die Sukzessivität der literarischen Narration zugunsten einer emotionalen Unmittelbarkeit aus, wie sie gemeinhin dem (eher) simultanen Bild eigen ist. Die Pogromhandlung wird durch einen Sinneswechsel vom Visuellen zum Auditiven ausgesetzt. Vor der archaischen Lust des Tötens, die sich während der (von Babel’ und Ribak vergegenwärtigten) Pogrome ihren Weg bahnt, suchen beide Darstellungen Schutz bei der – archaischen – Mutter Erde. Babel’s junger Protagonist erlebt, geborgen in der Feuchtigkeit der Erde, eine prälogisch-mythische Vereinigung mit ihr. Auch der kleine Junge in Ribaks Bild wird in den Schoß der Erde aufgenommen, die in ihrer Funktion als Ort des Todes (Grab) oder des (Über-)Lebens ambivalent bleibt. Babel’s Jungen umfängt die „uspokoitel’naja nemota“ (beruhigende Stille; 1996: 170) der Erde. Doch der Hufschlag des apokalyptischen Reiters macht die Erde zu einem ebenso ambivalenten Ort wie in Ribaks Bild. Die von den Pogromen gestörte jüdische Ordnung der Dinge betrifft Zeit und Raum. Babel’ und Ribak führen bei ihrer wort- und bildkünstlerischen Darstellung von Gewalt den Rückzug ins Erleben herbei. Die erniedrigte Kreatur, die wir sehen beziehungsweise lesen, misst mit ihrem ambivalenten Blick den – gemalten beziehungsweise geschriebenen – schmalen Grat, der Leben und Tod voneinander trennt. Ribaks Bild fängt dies auch mit der Darstellung der gefesselten Juden ein, deren eines Auge offen und deren anderes geschlossen ist (s. Kap. 7 und 8.4). Šojl aus Babel’s Istorija moej golubjatni hat diese Schwelle in den Tod überschritten, nicht aber der junge Protagonist. Er, der neben dem geschlossenen, verklebten Auge auch das noch offene schließt, um der todbringenden Realität zu entrinnen, soll die Augen des Toten schließen, die, obgleich offen, das Leben nicht mehr schauen. Die sprachlich verankerte Semantik des Bildmotivs mit einem offenen und einem geschlossenen Auge und das literarisch gestaltete unauslöschliche Bild des kleinen Babel’, dem Taubengedärm über ein Auge rinnt, mündet in dieselbe Epiphanie: kein Ostjudentum ohne antijüdische Ausschreitungen. Die Darstellungsmöglichkeiten von Pogrom und Gewalt sind bei aller inhaltlichen und formalästhetischen Nähe zwischen Ribaks Bild und Babel’s Text aufgrund ihrer grundsätz­ lichen medialen Differenz natürlich verschieden. 677 Ribaks Judenkörper und -gesichter frappieren durch ihre stilisierte Deformation (auch durch Verflachung), der Körper des toten Šojl im Text durch die schonungslos plastisch-realistische Beschreibung: Seine Brust ist eingedrückt, der Bart ausgerissen; seine Beine, „položennye vroz’, byli grjazny, lilovy, mertvy“ (die verdreht dalagen, waren schmutzig, lila, tot; 1996: 171). Babel’ erreicht durch seinen an 677 Dies zieht konsequenterweise eine Differenz der Rezeption nach sich, wie Veronika Darian unter Berücksichtigung Rolf Grimmingers betont: „Es handelt sich bei der bildlichen Darstellung von Gewalt mit Grimminger um ‚öffentlich besichtigte‘, theatralisch zu nennende Schreckensbilder im Gegensatz zur ‚privat gelesenen Hinrichtung‘ in Form eines Textes.“ (Darian 2007: 175) Mir scheint der Unterschied eher in den medial verschiedenen Techniken zu liegen, mit denen Gewalt codiert und anschließend decodiert wird. Ein Gewaltbild kann auch intim in einem Museumsarchiv betrachtet, ein Gewalttext in einer öffentlichen Lesung rezipiert werden.

244  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild den literarischen Vorbildern Maupassant, Tolstoj und Gogol’ geschulten, grotesk überformten Realismus eine hypertrophierte Mimesis des Toten, die im Verein mit der verfremdenden Perspektive des Kindes ihre volle Wirkung entfaltet. Sie zieht eine Imagination nach sich, die als Folge der mittelbar-literarischen Stringenz das unmittelbar Abwesende des Todes vergegenwärtigt. Ribak spielt gerade durch die übertrieben arealistische und apsychologische Darstellung das reale Pogromgeschehen in den Vordergrund. Ribaks Darstellungen sind so stark ästhetisiert, dass man hier – im Unterschied zu den Photographien, mit denen Susan Sontag sich befasst – die Wirklichkeit nicht vor ihrer Aufhebung in einem visuell-medialen Simulacrum verteidigen muss.678 Was leistet Ribaks Bild, was Babel’s Text in Bezug auf Gewalt? Die heuristische Komplementarität beider Artefakte ist da am Bedeutungsvollsten, wo ungeachtet der medialen Divergenzen kulturelle Konvergenzen in beider Pogromästhetik auftauchen. Babel’s Istorija moej golubjatni vereint die innertextliche naive Perspektive des erlebenden Ich mit der Virtuosität der intertextuellen Referenzen. Ribaks Bild kombiniert eine naive Malweise mit subtilen interikonischen Referenzen auf verschiedene künstlerische Traditionen. Babel’ führt mit der Evokation Puškins und Dostoevskijs, Ribak durch die Übernahme bildästhetischer Verfahren aus Ikone und Lubok einen Dialog mit der russischen Kultur. Aus dem interikonischen und intertextuellen Gewebe, in das Ribaks Bild und Babel’s Text eingebunden sind, sprechen zwei kluge wie verletzliche Urhebersubjekte. Wie im Falle Chagalls und vieler im Zusammenhang mit seinen Bildern behandelten Texte sind Intertextualität respektive Interpikturalität hier Vehikel der Interkulturalität. Babel’s und Ribaks ästhetische Überschreitungen in genuin russische Artefakte hinein, mit denen sie die Kreativität kultureller Heterogenität hochhalten, sind eine Gegenreaktion auf die gewaltsamen Ausschreitungen gegen Juden, hinter denen das (unbewusste und destruktive) Bedürfnis nach kultureller Homogenität steht. Ihre ästhetisch vermittelte Gewalt Ribaks und Babel’s als „Repräsentation von Unmittelbarem“ (Grimminger 2000: 21) birgt kulturelle Implikationen, die ideologisch bedingte Zurückweisungen der (ost)jüdischen Kultur desavouieren. Beide Artefakte verbindet die Entlarvung von Gewalt als dem Anderen der Kultur. Sie beide bestätigen Walter Benjamins großes Wort: „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein“ (1980: 696).

678 vgl. Jean Baudrillards Agonie des Realen (1978) und John Bergers Gegen die Abwertung der Welt (2001).

10 In der Schrift getrennt, in der Schrift geeint – Marc Chagall und Isaak Babel’

Bevor Dovid Hofshteyn wie seine Schriftstellerkollegen Perets Markish, Leyb Kvitko, Itsik Fefer oder Dovid Bergelson am 12.8.1952 in der Ljubjanka der Hinrichtung entgegengeht, hat er allabendlich „Psalmen der Trauer ob der Zerstörung des Tempels in Jerusalem“ auf den Lippen (Jendrusch 2001: 14; vgl. Ps 79). Zwölf Jahre zuvor, am 27.1.1940, wird Isaak Babel’ im selben Gefängnis als vermeintlicher Spion hingerichtet. Welche Dichter- oder Prophetenworte ihm in seinen letzten Stunden in den Sinn kamen, wissen wir nicht. Während seiner Zeit als Kriegskorrespondent in der Ersten Reiterarmee erinnert er sich an Ezechiel, Jesaja und an die Klagelieder des Jeremias (Dohrn 1993: 98, Babel 2006 Bd. 2: 336, 338f.). Marc Chagall, wie Ribak, Leyb Kvitko, Dovid Hofshteyn, Perets Markish, Isaak Babel’ und viele andere ein Kind der ostjüdischen Renaissance, schafft mit den Worten der Propheten im Ohr innige, ihr Wehklagen und Mitleid betonende Illustrationen zum Tanach. Chagalls Propheten scheinen auch das Leid seiner ostjüdischen Brüder zu betrauern, von deren tragischem Schicksal er zum Zeitpunkt der Arbeit an den Radierungen vielleicht gar nichts weiß. Jacques Derrida, in Algerien geboren und jüdischer Abstammung, reflektiert in Die Einsprachigkeit des Anderen oder die Prothese des Ursprungs (2003, s. Kap. 2) sein ambivalentes Verhältnis zu seiner Muttersprache, die ihm von der Kolonialmacht Frankreich aufgezwungen wurde: „Ich habe nur eine Sprache, und die ist nicht die meinige.“ (2003: 11) Zugleich zeigt er, dass man niemals nur eine Sprache spricht. Auch das Russische ist vielen Ostjuden, obgleich sie es aktiv beherrschen, die Sprache des Anderen. Die russische Sprache, der sie sich im Zuge der jüdischen Emanzipation im 19. und 20. Jh. entgegenlesen und -schreiben, kann zugleich das Tor zur Freiheit sein.679 Diese für die ostjüdische Intelligenz charakteristische Mehrfachidentität und Mehrsprachigkeit ist des einen Fluch, des anderen Heil: Chagall bricht vom jiddischen Elternhaus in Vitebsk ins russische Petrograd und von da in den Kosmopolitismus der Bildsprache auf. Babel’ beginnt im jüdischen Odessa seinen Siegeszug in die russische Literatur, ja in die Weltliteratur.680 Babel’ und Chagall verbindet die komisch-lakonische Verherrlichung jüdischen Lebens, der Sinn für Frivolitäten und Erotik, für Clownerien und überzeichnete Theatralik (s. Sicher 1982: 396). Pan Apolek aus Babel’s gleichnamiger Erzählung der Konarmija malt vielleicht Gemälde von der Art, aus der Chagall Inspiration für seine Christusbilder bezieht (ebd.). Der grüne Mond über blauem Gras in Berestečko, Babel’s Symbol für den Umsturz der alten Welt (ebd.), ruft unweigerlich 679 S. Slezkine 2006: 141–147, bes. S. 146: „Wenn die russische Welt für Sprache, Wissen, Freiheit und Licht stand, so repräsentierte die jüdische Welt Schweigen, Unwissenheit, Knechtschaft und Dunkelheit.“ Slezkine geht besonders auf Babel’, Abraham Cahan (Avrom Kahan) und Osip Mandel’štam ein. Für Julian Stryjkowski, Bruno Schulz oder Bolesław Leśmian übernimmt das Polnische die Funktion der (ästhetischen) Befreiung. 680 „Babel was acclaimed as the first Jewish writer to write from within Russian literature and to give the Jewish milieu color and depth.“ (Sicher 1984: 178)

246  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Chagalls Vom Monde (Das russische Dorf) von 1911 auf, das fest zu dessen Revolution der Kunst gehört (Abb. in: Baal-Teshuva 2008: 70). Babel’s eindeutige Entscheidung für das Russische als Literatursprache kann das innere Drama seiner (kulturellen) Identität nicht abwenden. Der Riss, der nach der Revolution die russische Gesellschaft spaltet, geht auch durch ihn.681 Ihm stehen alle Möglichkeiten der russischen Sprache zur Verfügung, um seine jüdischen Gestalten unsterblich zu machen. Doch darf Benja Krik im Film ebenso wenig leben wie sein im Grunde unpolitischer Schöpfer (s. Krumm 22006: 131, 140). Babel’ bleibt angesichts der Politisierung der Literatur nur die innere Emigration. Im potenziellen Exil in Paris überwältigt ihn seine Liebe zu Russland, das seine jüdischen Typen und Themen nicht haben will (Krumm 22006: 102, 106). Marc Chagall ist der glücklichere von beiden: Zwar lebt er in der Emigration und sehnt sich sein Leben lang zurück nach Vitebsk und Russland, doch realisiert er in der Pariser Fremde die ostjüdische Thematik und damit seine jüdische Identität, die Babel’ unter Stalin sein Leben kosten wird. Chagall liest Jiddisch, schreibt Jiddisch, illustriert weiter jiddische Texte und reichert seine Bilder mit dieser Sprache an, die unzählige Juden während des Stalin-Terrors und Hitlers organisiertem Massenmord beim Gang in den Tod auf den Lippen haben. Babel’s Drama der geistigen und kulturellen Zugehörigkeit ist auch ein Drama der Schrift. Kein Text vermag dies besser zu illustrieren als Syn Rabbi (Der Sohn des Rabbi), mit dem Konarmija schließt. (Am Anfang steht der Tod des jüdischen Vaters in Perechod čerez Zbruč. Es bleibt also nur die Mutter. In Babel’s Welt räumt diese vor der Revolution das Feld, die bekanntlich ihre Kinder frisst.) Il’ja Braclavskij, der Sohn des Rabbi Motalė Braclavskij aus Žitomir, stirbt im Zug der Politabteilung der Ersten Reiterarmee. Ljutov, Kriegsberichterstatter und Babel’s fiktives Alter Ego, liebkost in Konarmija mit metaphernreichen Sprachbildern Ruinen jüdischer Kultur – und in der letzten Erzählung den sterbenden Körper Il’jas: Zdes’ vse bylo svaleno vmeste – mandaty agitatory i pamjatki evrejskogo poėta. Portrety Lenina i Majmonida ležali rjadom. Uzlovatoe železo leninskogo čerepa i tusklyj šelk portretov Majmonida. Prjad’ ženskich volos byla založena v knižku postanovlenij Šestogo s’’ezda partii, i na poljach kommunističeskich listovok tesnilis’ krivye stroki drevneevrejskich stichov. Pečal’nym i skupym doždem padali oni na menja – stranicy Pesni pesnej i revol’vernyje patrony. (2002: 113) Hier lag nun alles durcheinander – die Mandate des Agitators und die Merkbücher des jüdischen Dichters. Die Porträts von Lenin und von Maimonides lagen nebeneinander. Das knorrige Eisen des Leninschen Schädels und die stumpfe Seide der Porträts des Maimonides. Die Haarlocke einer Frau lag gepresst in der Broschüre mit den Beschlüssen des sechsten Parteikongresses, und auf den Rändern kommunistischer Flugblätter drängten sich die schrägen Zeilen althebräischer Verse. Als ein trauriger und dünner Regen fielen sie auf mich hernieder – die Seiten des Lieds der Lieder und die Revolverpatronen. (ÜS: Peter Urban)

Lenin, der Anführer der proletarischen und atheistischen Weltrevolution, die das Paradies auf Erden will und dafür unzählige Tote in Kauf nimmt, und Mose ben Maimon, der größte 681 Er geht auch durch seine Ehe. Babel’s Frau Ženja steht dem neuen System, das ihre Eltern systematisch ihres Besitzes beraubt, fern. 1925 emigriert sie nach Paris (Krumm 22006: 94).

Marc Chagall und Isaak Babel’  | 247 jüdische Philosoph des Mittelalters, der die Unsterblichkeit der Seele beschwört (s. Kap. 13), treten nebeneinander. Das Hohelied der Lieder, vor dem man ob der Schönheit und Unentschlüsselbarkeit der Bilder erschauert, wird mit dem harten, gestanzten Stil kommunistischer Parolen gepaart. Der dichtende Prinz, ein Nachfolger Salomos, jetzt in einem gebrochenen Körper gefangen, wird erdrückt von der vollbusigen Üppigkeit sowjetischer Tippsen. Hebräische und kyrillische Schriftzeichen bringen den großen Widerstreit an die (Text-) Oberfläche, der Ljutov, der russisch erzählt, mit Il’ja verbindet, der hebräische Verse liest und zugleich die Religion seines Vaters, des letzten Vertreters der chassidischen Dynastie in Žitomir, verraten hat. (Chagalls Zeitungsverkäufer fällt einem hier ein; s. Kap. 7.) Beide sind hin- und hergerissen zwischen den Identitäten – und den Verpflichtungen, die man ihnen entgegenbringt. Elija und Ljutov dienen nicht mehr der Tora („studiert sie bei Tag und bei Nacht!“) und heiligen nicht mehr dem Sabbat, aber im Herzen sind sie immer noch Juden (Auch Elias’ russifizierter Name Il’ja ändert daran nichts.) Sie tauschen die Braut Israels, den Sabbat, gegen die Revolution, Lenins Reden gegen den Dekalog. Sie treten dem Bund der sozialistischen Brüder bei und aus dem heiligen Bund zwischen Gott und Israel aus. Sie folgen der Internationale, die Blut fordert, und nicht dem unverrückbaren „Lo tirzach“ (Nicht töten wirst du) aus dem Dekalog (jidd.: aseres ha-dibres; Ex 20, 13). Doch so sehr diese beiden jüdischen Häretiker auch ihrer neuen ‚Religion’, dem Kommunismus, huldigen, so wenig vermögen sie ihr Jude-Sein gänzlich abzustreifen. Il’ja braucht die jüdischen Verse ebenso wie Ljutov die in Russisch verfassten Elegien auf die untergehende jüdische Welt.682 Marc Chagall entscheidet sich nach den prägenden künstlerischen und menschlichen Erfahrungen in Russland während der Schwellenphase 1917–1922 für den Erzvater Abraham, ohne der ‚Mutter Revolution‘ ganz den Rücken zu kehren.683 Trotz der vielen Amalgamierungen und Transformationsprozesse, die Chagall nun als internationaler, als ‚französischer‘ Maler ästhetisch durchläuft, bleibt die hebräische Schrift, die Hebräisches wie Jiddisches gleichermaßen fasst, als Vermächtnis in seinen Bildern erhalten. Ihre Koexistenz mit der Kyrillica bezeugt das Miteinander der ihnen zugrunde liegenden Kulturen (zumindest in Chagalls Vorstellungswelt). Ungeachtet des Abgrundes, auf den die Welt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zusteuert, tanzen Buchstaben als sinnenfrohe Botschafter einer interkulturellen Ästhetik durch seine Bilder. Chagall rettet dorthin auch durch die Schrift Bruchstücke der ostjüdischen Welt, für die zahlreiche Juden während der Pogrome und die behandelten Autoren Markish, Hofshteyn, Kvitko und Babel’ unter Stalin ihr Leben lassen. (Auch Ribak bleibt in seinem Schaffen in Frankreich der jüdischen Thematik bis zu seinem Tode treu.) 682 In dieser Gespaltenheit sind Il’ja und Ljutov geeint. So endet denn der gesamte Zyklus auch mit dem Wort „brat“ (Bruder; Suchich 1999: 231). 683 Chagall ist besonders während des Zweiten Weltkrieges und der ersten Jahre danach sozialistischem Ideengut verbunden. In Amerika ist er beispielsweise Mitglied im Komitee jüdischer Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler, dem Albert Einstein als Ehrenpräsident vorsteht und das sich als Pendant zum Antifaschistischen Komitee der Sowjetunion verstehen lässt (s. Harshav 2003: 88). In seiner Illustration zu Lyesins Gedicht Di pionirn (Die Pioniere, 1922) hält er sich selbst im Bild fest als derjenige, der die Fahne mit dem angedeuteten sozialistischen Slogan „Da zdra[vstvuet revoljucija!]“ (Es leb[e die Revolution!]) trägt (Lyesin 1938 Bd. 1: 109f.; Abb. gegenüber).

248  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Chagalls Einsatz der Schriftzeichen steht synekdochisch für das kultursynthetische Potenzial seiner Kunst. Sie mag ein Grund dafür sein, dass Chagall im 20. Jahrhundert als wichtigster Künstler des interreligiösen Dialogs wahrgenommen wird.684 In seinem Schaffen verbindet sich das Jüdische mit dem Christlich-Abendländischen, das ethnisch Partikulare mit dem ästhetisch Universalen. Jüdische, russische und westeuropäische Elemente ergeben in seinem Schaffen eine kulturelle Polyphonie, die kulturelle Differenz nie tilgt. Chagall kann, anders als Babel’, auch schriftstellerisch das Jiddische pflegen, weil es im Unterschied zum Russischen nicht von den sozialistischen Machthabern verraten (und deformiert) wird. Anders als Babel’, der Schriftsteller, kann Chagall, der Maler, im Sinne einer universalen humanitas und „Kultur als Zivilisiertheit“ (Eagleton 2001: 56) agieren. Sie ist der Ort der ästhetischen Freiheit. Während Babel’ Stalin in die Falle geht, wird Chagall ideologisch nie aufgerieben. Auch die großen geistigen Strömungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Juden untereinander trennen (Zionismus, Kommunismus, jüdisch-christliche Ehtik), vermag er in sein ästhetisch geleitetes Weltbild zu integrieren.685 Wie Babel’ nützt Chagall den ästhetischen Raum – in seinem Fall denjenigen des Bildes –, um die Gegensätze zu vereinbaren. Auch Chagall liebt die Kontraste (und die Tabubrüche, die dadurch möglich sind), ob nun im eigenen Bild oder in Ausstellungen, „vu lebn a bild fun an altn primitiv fun mitlalter vi Dzhoto kon hengen a Pikaso [...] un lebn undzer modi­ liani kon hengen a bizantinishe ‚ikone‘“ (wo neben einem Bild eines alten Primitiven des Mittelalters wie Giotto ein Picasso [...] und neben unserem Modigliani eine ‚byzantinische‘ Ikone hängen kann; Chagall 1967: 235). Babel’s Erzähler spricht in einem Atemzug „o zvezdach i o trippere“ (vom Tripper und von den Sternen), wie Šklovskij einst pointiert konstatierte (1924: 153). In Chagalls Bildern finden wir die Herzen hebenden Engel und Männer mit heruntergelassenen Hosen. Chagalls kyrillische „pivnaja“ (Trinkstube) beispielsweise aus Nächtliche Szene von 1910 (Abb. in Kamenski 1989: 94) gehört ebenso zu seinen Bildinschriften wie der  – viel häufigere  – hebräische Gottesname JHWH (‫)יהוה‬. Babel’ und Chagall sind also nicht nur in ihrer Mehrsprachigkeit (Russisch, Jiddisch, Französisch und Hebräisch), sondern auch im kraftvollen Einsatz der Schriftzeichen geeint. Beide schöpfen für ihr wort- oder bildkünstlerisches Werk aus der russischen und der ostjüdisch-jiddischen Literatur und Kultur. Beide haben, was Komik, Karneval und Groteske anbelangt, in Gogol’ ein gemeinsames Vorbild. 684 Chagall hat gemeinsam mit Virginia Haggard „eine Art Tempel entworfen, in dem die monotheistischen Religionen zu einer mystischen Weltanschauung zusammengefasst werden sollten.“ (Aaron 2003: 120) Verwirklicht wird diese Idee im Musée National Message biblique Marc Chagall in Nice: In ihr klingt das an der orthodoxen Idee der „sobornost’“ (Gemeinschaftlichkeit/Kommunion) geschulte Konzept vom „chram iskusstva“ (Tempel der Kunst) an. Der russische Symbolist Vjačeslav Ivanov entwickelt es um 1910, also zu der Zeit, als Chagall in Petersburg mit der symbolistischen Bewegung in Kontakt kommt (s. hierzu Schahadat 1998: 3–39). In seinen Bildern für sein Musée Message biblique kehrt die Mythopoetik Vitebsks wider (Harshav 2004: 805). Chagalls Versuch, räumlich und zeitlich Disparates, Vitebsk und Jerusalem, das Irdische und das Himmlische zu verbinden, ist Ausdruck einer (ästhetischen, weniger ideologischen) Kulturutopie (vgl. Apčinskja 1994: 194). 685 Vgl. beispielsweise Chagalls Rede von 1944 anlässlich einer Feierlichkeit zu Ehren des jiddischen Dichters Itsik Fefer (Abdruck in: Harshav 2003: 95–100).

Farbbildteil  | 249

1 Marc Chagall: Der Jude in Rot, 1914. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

250  | Farbbildtteil

2 Marc Chagall: Kubistische Landschaft, 1918. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Farbbildteil  | 251

3 Schema zu Marc Chagall: Kubistische Landschaft, 1918.

4 Kazimir Malevič: Kuh und Geige, 1913.

5 Kazimir Malevič: Zeichnung für Über die neuen Systeme in der Kunst, 1919.

6 Pablo Picasso: Die Violine (Jolie Eva), 1912.

© Succession Picasso/VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

252  | Farbbildtteil

7 Marc Chagall: Selbstbildnis mit Farbpalette, 1917. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Farbbildteil  | 253 8 Marc Chagall: Selbstbildnis, 1918. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

9 Kazimir Malevič: Suprematistische Komposition, 1915.

254  | Farbbildtteil 10 Marc Chagall: Liebe auf der ­Bühne, 1920. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

11 Schema mit hebräischen Buch­ staben zu Marc Chagall: Liebe auf der Bühne, 1920.

Farbbildteil  | 255 12 Marc Chagall: Der Maler an der Staffelei, 1914. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

13 Marc Chagall: An der Staffelei. Illustration 18 für Mein Leben, 1922/1923. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

256  | Farbbildtteil 14 Marc Chagall: Mann mit zurückgeworfenem Kopf, 1918. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

15 Marc Chagall: Selbstbildnis mit Palette, 1918. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Farbbildteil  | 257 16 Marc Chagall: Selbstportrait. Illustration 17 für Mein Leben, 1922. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

17 Hermann Struck: Frauenportrait, 1920.

258  | Farbbildtteil 18 Marc Chagall: Selbstbildnis mit Haus im Gesicht, 1922/1923. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

19 Marc Chagall: Selbstportrait mit dem Haus, um 1926. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Farbbildteil  | 259 20 Marc Chagall: Selbstbildnis mit dem verzierten Hut, 1928. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

21 Marc Chagall: Selbstbildnis mit Grimasse, 1924/1925. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

260  | Farbbildtteil

22 Marc Chagall: Titelblatt für Der Zauberkünstler von Y. L. Perets, 1915/1916. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Farbbildteil  | 261

23 Marc Chagall: Der Prophet Elias. Illustration für Der Zauberkünstler von Y. L. Perets, 1915/1916. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

262  | Farbbildtteil 24 Marc Chagall: Illustration für Der Zauberkünstler von Y. L. Perets, 1915/1916. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

25 Anonym: Das Pessachmahl. Lubok, 2. Hälfte des 19. Jh.

26 Boris Grigor’ev: Vsevolod Mejerchol’d, 1916.

Farbbildteil  | 263

Vladimir Majakovskij. Photographie, 1914.

27 David Burljuk. Photographie, 1914

30 Aleksandr Blok. Photographie, 1907.

29 Anatolij Mariengof. Photographie, 1910er Jahre.

264  | Farbbildtteil

31 Marc Chagall: Der Jude in Hellrot, 1914/15. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Farbbildteil  | 265 32 Marc Chagall: Der Greis, 1914. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

33 Marc Chagall: Der Krieg, 1914. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

266  | Farbbildtteil

34 Marc Chagall: Illustration für Trauer von Dovid Hofshteyn, 1922 [1919]. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Farbbildteil  | 267

35 Ephraim Moses Lilien: Für die Märtyrer von Kišinëv, 1903.

268  | Farbbildtteil 36 Joseph Tshaykov: Umschlag für Der Haufen, 1922.

37 Lazar’ (Leyzer) Lisi-ckij: Mit dem roten Keil schlage die Weißen, 1919/1920.

Farbbildteil  | 269

38 Joseph Tshaykov: Umschlag für 1919, 1923.

270  | Farbbildtteil

39: Ysokher Ber Ribak: Bild aus Pogromserie, um 1920.

40 Ikone Der Heilige Vasilij (Jurodivyj), um 1600.

Farbbildteil  | 271 41 Ikone Christi Geburt, 15. Jh.

42 Caravaggio: Die Geißelung Christi, 1607.

272  | Farbbildtteil 43 Lazar’ (Leyzer) Lisickij: Illustration für Ein Zick­lein, 1919.

44 Ysokher Ber Ribak: Bild aus Pogrom­serie, um 1920.

Farbbildteil  | 273

45 Lazar’ (Leyzer) Lisickij: Emblem für Yidish farlag, 1917.

46 Ysokher Ber Ribak: Bild aus Pogromserie, um 1920.

47 Natan Al’tman, Tauben aus: Jüdische Graphik, 1923.

274  | Farbbildtteil

48 Marc Chagall. Das Vertragsbüro. Illustration 58 für Die toten Seelen von Nikolaj Gogol’, 1923–1925. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Farbbildteil  | 275

49 Marc Chagall. An der Stadtgrenze. Illustration 47 für Die toten Seelen von Nikolaj Gogol’, 1923–1925. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

50 Marc Chagall: Der Laternenwächter. Illustration 65 für Die toten Seelen von Nikolaj Gogol’, 1923–1925. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

276  | Farbbildtteil

51 Marc Chagall. Čičikov auf dem Bett. Illustra­ tion 16 für Die toten Seelen von Nikolaj Gogol’, 1923–1925. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

52 Marc Chagall. Das Erklären des Weges. Illustration 19 für Die toten Seelen von Nikolaj Gogol’, 1923–1925. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

53 Marc Chagall. Gevatter Mitjaj und Gevatter Minjaj. Illustration 29 für Die toten Seelen von Nikolaj Gogol’, 1923–1925. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Farbbildteil  | 277 54 Marc Chagall. Unser Held hält sich bereit. Illustration 77 für Die toten Seelen von Nikolaj Gogol’, 1923–1925. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

55 Marc Chagall. Čičikov rasiert sich. Illustration 75 für Die toten Seelen von Nikolaj Gogol’, 1923–1925. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

278  | Farbbildtteil

56 Marc Chagall. Die Opferung Isaaks. Illustration 10 für die Bibel, 1931–1939. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

58 Marc Chagall. Die Erschaffung des Menschen. Illustration 1 für die Bibel, 1931–1939. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

57 Rembrandt: Die Opferung Isaaks, 1635.

Farbbildteil  | 279

59 Marc Chagall. Frontispiz für Ein Tag in Regensburg von Joseph Opatoshu, 1933. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

61 Marc Chagall: Collage Hahn, Thora-Rolle und betender Jude, 1955. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

60 Marc Chagall: Jude, der die Thora auf dem Rücken trägt, 1931–1935. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

62 Marc Chagall: Die rote Thora, 1982. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

280  | Farbbildtteil

63 Marc Chagall. Der Fall Jerusalems. Illustration 101 für die Bibel, 1952–1956. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

65 Marc Chagall. Dornensträucher. Illustration für Die Fiedelrose von Avrom Sutskever, 1974. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

64 Marc Chagall: Pour la Tchécoslovaquie, 1939. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

III Gedächtnisbilder nach Russland und Gedächtnistexte nach der Schoa

11 Marc Chagalls „poshlust“ beim Lesen von Gogol’s Mërtvye duši (Die toten Seelen, 1842)686

Zdes’ russkij duch, zdes’ Rus’ju pachnet. Hier riecht es nach dem russischen Geist, nach der Rus’. Vissarion Belinskij, Pochoždenija Čičikova, ili Mërtvye duši, 1955 (1842), S. 219.

Pošlost’ – eine Kategorie auch der Text-Bild-Beziehung? Während Isaak Babel’ in Sowjetrussland seine Konarmija kunstvoll durchgestaltet, arbeitet Marc Chagall in Frankreich 1923 bis 1925 an den Illustrationen zu Nikolaj Gogol’s Mërtvye duši (Die toten Seelen, Text publiziert 1842), die seinen Ruhm als Illustrator von Weltliteratur mitbegründen. Von Hermann Struck in Berlin in die Geheimnisse der Radierung eingeweiht, wendet sich Chagall in dieser für ihn neuen Gattung danach Claire und Ivan Golls Poèmes d’amour (1925), den Sept péchés capitaux (1926), La Fontaines Fables (1930) und der Bibel (1931–1952) zu (s. Kap. 12).687 Technisch bedeutet dies einen Aufbruch in neue Welten, inhaltlich im Falle Gogol’s, der Bibel und weiterer Illustrationen jiddischer Lyrik eine Rückbesinnung auf die Heimat, die Chagalls gesamtes weiteres Schaffen prägen wird. Der Gravurakt wird zur Gedächtnishandlung. Chagall setzt sich seit 1917 intensiv mit Gogol’ auseinander.688 1919 entwirft er Bühnenbilder zu Gogol’s Dramen Igroki (Die Spieler, 1832–1837) und Ženit’ba (Die Heirat, 1833; Meyer 2 1968: 289; Abb. 294), 1920–1921 grotesk-satirische Bühnenbilder für das Vitebsker Teresvat (Teatr revoljucionnoj satiry/Theater der Revolutionssatire); darunter finden sich 1921 Bühnenbildentwürfe zum nicht realisierten Projekt Tovarišč Chlestakov (Genosse Chlestakov) von D. Smolin, das Gogol’s Hauptfigur aus dem Revizor (Der Revisor, 1836) in die Sowjetzeit

686 Das Kapitel stellt die erweiterte Fassung des auf Englisch erschienenen Aufsatzes „Civil servants in a circle – Chagall’s ,poshlust’ reading the Dead Souls“ dar (2009: 260–269). Aus Gogol’s Poem wird im Folgenden nach der Polnoe sobranie sočinenij (Gesamtausgabe), Bd. 6, zitiert. 687 Nach seinem Erstlingswerk zur Autobiographie (s. Kap. 3) eröffnet sich ihm hier ein weites Experimentierfeld. In gedruckter Form erscheinen Chagalls Illustrationen zu den Mërtvye duši 1948, also im Jahr seiner Rückkehr nach Frankreich, bei Tériade (Chagalls bisheriger Verleger Ambroise Vollard kommt 1939 bei einem Autounfall ums Leben). Zu Chagalls Illustrationen zu Gogol’ s. Uthemann 1985: 37–74, Loos 1991: 5–17 und Hirner 1999: 9–21. Zu La Fontaines Fabeln erstellt Chagall zunächst 1926–1927 Gouachen, bevor er in die Gravur überwechselt. Sie werden 1952 ebenfalls bei Tériade herausgegeben. Ein ähnliches Procedere wendet Chagall auch für die Bibel an: Seine Radierungen hierzu bereitet er durch 39 Gouachen vor (Gassen/Holeczek 1985: 264). 688 Vgl. seine Hommage à Gogol (1917).

284  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte versetzt.689 Den in seinen Anfängen ukrainischen Schriftsteller und den ostjüdischen Maler eint das Phantastische, Groteske und Unlogische (s. Marcadé 1985: 63).690 Chagalls Sinn für Komik und Groteske mag bereits an der Lektüre Sholem-Aleykhems oder Mendeles geschult worden sein. Mendeles Kitser masoes Binyomen ha-shlishi (Die Fahrten Benjamins des Drittens, 1878) enthalten wie Gogol’s Mërtvye duši Elemente des Schelmen- und Abenteuerromans (Binyomen ist dabei eher ein Schelm wider Willen).691 Doch nicht nur Don Quijote klingt hier an. Beide Texte stehen in der Tradition des Reiseromans. Gogol’ überhöht die Gattung mit lyrischen Digressionen zum Poem, Mendele unterhöhlt sie als parodistische Kontra­ faktur großer jüdischer Reisender des 13. und 19. Jhs. (s. Kap. 7). Beide Texte figurieren als beißende Satire auf die russische respektive ostjüdische Gesellschaft. Doch ­während Gogol’s Held Čičikov in seiner Gerissenheit kaum zu überbieten ist, ist Binyomen in seiner Einfalt unerreicht. Im Kontext seiner kulturellen Mehrfachidentität nehmen Chagalls Illustrationen zum ersten Teil von Gogol’s Mërtvye duši eine Sonderstellung ein. Sie sind ästhetisch den Gravuren zu Chagalls vielfach auf russischem Boden spielender Autobiographie verwandt, dem einzigen russischen Text, den der in dieser Literatur beschlagene Chagall mit Illustrationen versieht. Er stattet ihn mit 96 Radierungen aus. Die Bebilderungen zu den elf Kapiteln fasst er zusätzlich auf elf Tafeln zusammen. Hier wiederholt der Künstler en miniature sein graphisches Panoptikum zu Gogol’s opus magnum. Chagalls graphische Ausgestaltung entkräftet Gogol’s Vorbehalte jeglicher Illustration gegenüber, die er im Brief an P.A. Pletnev äußert.692 Handelt es sich hierbei um eine kongeniale Entsprechung? Kann bei einem Vergleich von Text und Bild davon überhaupt die

689 Šatskich 2001: 184–186 und 1991: 76–88. Die Aufführungen am Teresvat sind tief in der russischen volkstümlichen Lachkultur verankert und ein wichtiges Experimentierfeld Chagalls, das sich sowohl auf seine spätere Arbeit am GosET als auch auf seine Gogol’-Illustrationen ausgewirkt hat (ebd.). Die Figurinen und Bewegungsstudien sind als Vorstufe zu den Poemfiguren zu verstehen (s.  Meyer 21968: Abb. 318–322). Die Illustration 46 Streit zwischen Pljuškin und Mavra ist klar von Chagalls Bühnenbildentwürfen inspiriert, s. Uthemann 1985: 39 und Aleksandra Šatskichs wichtigen Beitrag Gogolevskij mir glazami Marka Šagala (Gogol’s Welt mit den Augen Marc Chagalls, 1999). Franz Meyer betont generell das Theatralische der Illustrationen (1957: XVI). Jakob Tugendchol’d weist in der ersten Chagall-Monographie bei der Darstellung von Tieren auf die Nähe zwischen Gogol’ und Chagall hin (1921: 26). 690 Zu Gogol’s „nefantastičeskaja fantastika“ (unphantastischen Phantastik; Mann 1996: 258) der späteren Petersburg-Texte s. Lachmann 2002: 238–269. 691 Zu Gogol’s Mërtvye duši als Schelmenroman s. Koschmal 1982: 333–360 und Peters 2000: 65–100. Ein weiterer wichtiger Bezugspunkt von weltliterarischem Rang ist Dantes Divina Commedia, s. Šatskich 1999 und Heftrich 2004: 32. Zum Roman allgemein s. Vajskopf 2002: 490–574 und Gerigk 2007: 117–138. 692 Am 20. März 1946 schreibt Gogol’ aus Rom: „Ja – vrag vsjakich politipažej i modnych vydumok. Tovar dolžen prodavat’sja licom i nečego ego podslaščivat’ ėtim konditerstvom. Možno bylo by dopustit’ izlišestvo ėtich rodov tol’ko v takom slučae, kogda ono sliškom chudožestvenno. No chudožnikovgeniev dlja takogo dela ne najdëš’“ (Ich bin Feind jeglicher Polytypagen [Holzdrucke; frz. polytypages] und moderner Einfälle. Eine Ware muss unverhüllt verkauft und nicht mit dieser Konditoreikunst überzuckert werden. Derartigem Schnickschnack könnte man nur in dem Fall stattgeben, wenn er extrem künstlerisch wäre. Doch dafür findet sich kein Künstlergenie; Gogol’ 1952 Bd. 14: 45).

Marc Chagall und Nikolaj Gogol’  | 285 Rede sein?693 Die Kategorie der pošlost’ (Gemeinheit, Niedrigkeit, Plattheit) ist ein Motor für Gogol’s wortkünstlerisches Schaffen. Lässt sie sich auf Chagalls Illustrationskunst übertragen? Bereits die definitorischen Versuche, der pošlost’ in Gogol’s Medium, dem literarischen Text, habhaft zu werden, machen das (problematische) Spektrum des Begriffs deutlich.694 Als grundlegend ist Gogol’s eigene Sicht anzusehen, wie er sie in den Vybrannye mesta iz perepiski z druz’jami (Ausgewählte Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden, 1847) äußert: Pošlost’, für Puškin Faszinosum, für Gogol’ Fluch (Hansen-Löve 1997: 285) ist in den „ničtožnye ljudi [...] v nich sobrany čerty ot tech, kotorye sčitajut sebja lučše drugich“ (nichtigen Menschen [...] in ihnen sind Züge derer versammelt, die sich besser als andere wähnen; 1952 Bd. 8: 292). Vor allem das unwillkürlich aufgenommene, Habitus gewordene und unscheinbare Böse bildet – so zeigt Urs Heftrich es auf – den Kern von Gogol’s pošlost’ (2004: 32–38). Für einen Vergleich von pošlost’-Konzepten in Text und Bild sind zwei Momente von besonderer Bedeutung: 1. Bei der pošlost’ handelt es sich um eine ästhetische und ethische Kategorie zugleich (vgl. Nabokov 31961: 63, Lehmann 1997: 58, Heftrich 2004: 34–35 und Zen’kovskij 2005: 163–176). 2. Puškin ist das Lachen während der Lektüre der Mërtvye duši zwar vergangen (s. 1952 Bd. 8: 294), doch hängt Gogol’s pošlost’ eng mit dem Komischen (und dessen kathartischer Wirkung) zusammen.695 In Teatral’nyj raz-ezd (1842–43) legt Gogol’ seine idealistische Sicht des Lachens dem „Avtor p’esy“ (Autor des Stücks), seinem fiktiven alter ego, in den Mund: Net, smech značitel’nej i glubže, čem dumajut [...] tot smech [...], bez pronicajuščej sily kotorogo meloč’ i pustota žizni ne ispugala by tak čeloveka. Prezrennoe i ničtožnoe, mimo kotorogo on ravnodušno prochodit vsjakij den’, ne vozroslo by pered nim v takoj strašnoj, počti kar[r]ikaturnoj sile [...] (Gogol’ 1949 Bd. 5: 169; Hervorh. S. K.) 693 Eine Inkongruenz der beiden Medien bleibt, so abstrakt-semiotisch man sie auch fassen möchte, immer bestehen. 694 Generell überwiegt das Merkmal des Platten, Banalen, Faden und Flachen, vgl. Rozanov (1970 [1891]) und Hansen-Löve 1997: 227). Nabokov legt überdies den Akzent auf den Schein, das Gefälschte und Pseudohafte (Lehmann 1997: 58). Hansen-Löve bestimmt in Fortsetzung von D.S. Merežkovskij und Andrej Belyj pošlost’ als Mittelmaß, das sich in unmittelbarer Nähe zur Mittelposition des Nichts befindet (1997: 226–229). Lehmann stellt die unterschiedlichen denotativ-konnotativen Extensionen der pošlost’ zusammen (1997: 58f.). Komplementär zu dieser synchronen Klassifizierung ist die Begriffsgeschichte bei Heftrich (2004) aufschlussreich. Der Begriff stellt Übersetzer vor unlösbare Probleme. 695 Anders als Puškin lacht Chagall aus vollem Halse, so Ivan Goll: „Man kann zu ihm kommen, wann man will: Marc sitzt da, wie ein Schuster, und klopft auf seine Kupferplatten, ein redlicher Handwerker Gottes. Seine Frau, die seiner Kunst beisteht wie eine Schwester dem Fieber des Kranken, liest ihm das Kapitel vor. Sie lachen immerfort. Ida, die siebenjährige Tochter, springt vom Klavier herzu und will die Geschichte auch hören, und nun werden die phantastischen Situationen unter Gelächter von einer seltsamen Familie neu gestaltet, mit dem ganzen Humor und der ganzen Tragik Russlands. Und der Vater, das verrückteste Kind unter den dreien, schneidet Grimassen, streckt seiner Tochter die Zunge heraus, pufft seine Frau, rauft sich die Haare in die Stirn – und zeichnet dabei ...“ (zit. nach Schmied 1976: 17).

286  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Nein, das Lachen ist bedeutender und tiefer, als man denkt [...] jenes Lachen, [...] ohne dessen durchstrahlende Kraft das Kleine und Leere des Lebens den Menschen so erschrecken würden. Das Verächtliche und Gemeine, woran er gleichmütig jeden Tag vorübergeht, würden ohne dieses Lachen vor ihm nicht in solch furchtbarer, fast karikaturaler Kraft anwachsen [...]

Es ist hier nicht der Ort, sämtliche Ausprägungen der pošlost’ in Text und Bild aufzulisten.696 Vielmehr stehen einzelne (Form-)Elemente und Aspekte dieser ethoästhetischen Metakategorie im Mittelpunkt, die einer Charakterisierung von Chagalls Illustrationen dienlich sind – und zugleich einen direkten Text-Bild-Vergleich ermöglichen. Es sind dies menschliche und (erzähl-)technische Ausprägungen des Runden. Sie spielen in den Mërtvye duši eine zentrale Rolle. Makrostukturell beispielsweise fungiert der Kreis als Figur der Handlung (Heftrich 2004: 109–113); mikrostrukturell taucht das Runde – als Ausdruck von Gogol’s Genophobie – als grotesk-hysterisch kreisender Dialog der Frauen im siebten Kapitel, als Zirkulieren der Vokale bei Kifa Mokievič und Mokij Kifovič oder als Symbol auf: Das Rad von Čičikovs Kutsche nimmt die Kreisstruktur der Mërtvye duši gleichsam vorweg (Andrej Belyj). Vor allem jedoch tritt das (inhaltsleere) Runde als körperliches Charakteristikum des fülligen Erz-pošljak Čičikov auf (Belyj 1996: 101f., Hansen-Löve 1997: 195). Dieser „curiously physical side of Gogol’s genius“ (Nabokov 31961: 3) Rechnung tragend, steht für die Text- und Bildanalyse der Körper im Vordergrund. „The belly is the belle of his stories, the nose is their beau“, so Nabokov über Gogol’s Texte (ebd.). Dass man den Gogol’schen Präferenzen für Nase und Bauch Chagalls offensichtliche Lust am menschlichen Hinterteil an die Seite stellen muss, wird die folgende Analyse zeigen. Chagall macht das Runde als Figur der pošlost’ im Bild zugleich zum Ort der pošlost’ selbst. Die Auswertung des Text-Bild-Bezugs im Lichte der pošlost’ legt ein Paradox offen: Chagall wahrt sowohl in Bezug auf den Inhalt als auch auf die sprachliche Präsentation die Treue zum Text. Trotz dieser doppelt dienenden Funktion gegenüber der literarischen Vorlage sind die Illustrationen – gerade im Vergleich mit den früheren Illustrationsversuchen A.A. Agins (1817–1875) oder P.M. Boklevskijs (1816–1897) – in hohem Maße ästhetisch autonom.697 Im Kontext der weit radikaleren russischen futuristischen Buchkunst hingegen wirken sie, da eben auch semantisch-inhaltlich an den Text angebunden, vergleichsweise konservativ: Chagall illustriert, nachdem er sich das formal-künstlerische Instrumentarium der europäischen wie russischen historischen Avantgarde angeeignet hat, einen Klassiker, der andere ästhetische Bedingungen stellt als der futuristische zaum’.

696 Dies könnte unternommen werden anhand der Einzelfiguren als Hypostasierungen der pošlost’, den pošljaki (Petruška), ihren weiblichen Pendants, den pošljački wie beispielsweise die „prosto prijatnaja dama“ (die einfach angenehme Dame) und die „prijatnaja dama vo vsech otnošenijach“ (die in jeder Hinsicht angenehme Dame, s. Ill. 66), den Gutsbesitzern und – allen voran – Čičikov selbst (vgl. Nabokov 31963: 70). Das Metamorphotische, das auch Chagalls Illustrationen prägt, bietet hier reiches Material. Auch eine Klassifizierung verschiedener Ausprägungen der pošlost’ wie Tiere/Tierhaftes, Körperteile, Figuren- oder Erzählerrede käme als Analysekriterium in Frage. 697 Zu Agins Illustrationsarbeit s. Herlth 2009: 142–152.

Marc Chagall und Nikolaj Gogol’  | 287

Piktorale pošlost’ im Kreis – Chagalls Illustrationen Nr. 47, 58 und 65 Im siebten Kapitel, nach Gogol’s berühmter Digression über das bittere Los des Schriftstellers, der in seinem Schaffen das Mittelmaß als diabolische Variante der pošlost’ ins Recht setzt, begibt sich Čičikov zum Kreisgericht, um den Ankauf der toten Seelen zu legalisieren. Dort lernt er die russische Gerichtsbarkeit kennen: Geroi naši videli mnogo bumagi, i černovoj i beloj, naklonivšiesja golovy, širokie zatylki, fraki, sertuki gubernskogo pokroja i daže prosto kakuju-to svetlo-seruju kurtku, otdelivšujusja ves’ma rezko, kotoraja, svorotiv golovu nabok i položiv eë počti na samuju bumagu, vypisyvala bojko i zamašisto kakoj-nibud’ protokol ob ottjagan’e zemli ili opiske imenija, zachvačennogo kakim-nibud’ mirnym pomeščikom, pokojno doživajuščim vek svoj pod sudom, naživšim sebe i detej i vnukov pod ego pokrovom, da slyšalis’ uryvkami korotkie vyraženija, proiznosimye chriplym golosom: „Odolžite, Fedosej Fedoseevič, del’ce za № 368!“  – „Vy vsegda kuda-nibud’ zataskaete probku s kazënnoj černil’nicy!“ Inogda golos bolee veličavyj, bez somnenija odnogo iz načal’nikov, razdavalsja povelitel’no: [...] Šum ot per’ev byl bol’šoj i pochodil na to, kak budto by neskol’ko teleg s chvorostom proezžali les, zavalennyj na četvert’ aršina issochšimi list’jami. (Gogol’ 1951 Bd. 6: 141f.). Unsere Helden sahen viel Papier für Entwürfe und Reinschriften, gebeugte Köpfe, breite Stiernacken, Fräcke, Röcke im Stil des Gouvernements und sogar eine einfache hellgraue Jacke, die sich krass von den anderen abhob und die, den Kopf zur Seite gewandt und fast bis auf das Papier gebeugt, flott und schwungvoll irgendein Protokoll abschrieb, vielleicht über die Einziehung von Land oder über die Beschlagnahme eines Gutes, das sich irgendein friedlicher Gutsbesitzer angeeignet hatte, der, während das Gerichtsverfahren noch schwebt, in aller Ruhe sein Leben beschließt und sich unter seinem Schutz Kinder und Enkelkinder zugelegt hat. Ab und an hörte man kurze Ausrufe, die eine heisere Stimme wie abgehackt ruckartig hervorbrachte: ‚Fedossei Fedossejewitsch, darf ich Sie einmal um die Akte Nr. 368 bitten!‘ – ‚Sie verbummeln immer wieder den Stöpsel vom amtlichen Tintenfass!‘ Manchmal ertönte befehlend eine machtvolle Stimme, zweifellos von einem Vorgesetzten [...] Das Rauschen der Federn war gewaltig, als ob einige mit Reisig beladene Wagen durch einen Wald fahren, dessen Boden hoch mit trockenem Laub bedeckt ist. (Gogol’ 2009: 191; Ü: Wolfgang Kasack)

Gogol’ evoziert bei der auktorialen Beschreibung des Kanzleizimmers einen „pošloe mesto“ (Ort der banalen Niedertracht): Das groteske – und erotisch aufgeladene – Sinnbild der ­Themis, die ihre Gäste in „negliže“ (Negligé; 1975: 131) und „chalat“ (Schlafrock; ebd.), ja schmutzig empfängt, lässt karnevalistisch das Hohe (Justitia) ins Niedrige (Acedia = Trägheit als eine der sieben Wurzelsünden) kippen (Heftrich 2004: 108). Das Wirken der Kanzleibeamten, der Priester im ‚Tempel der Themis‘ fasst Gogol’ mittels der rhetorischen Figur der Metonymie, die dem Leser noch vom Beginn seines Nevskij prospekt (Der Nevskij Prospekt, 1835) vertraut ist. Einzelne Körperteile bzw. Kleidungsstücke stehen stellvertretend für die ganze Person. Unmerklich geht Gogol’ bei seiner metonymischen Darstellung vom Menschlichen (Kopf, Nacken) zum Dinglichen (Frack, Gehrock) über. Wie so oft wird die Grenze zwischen Mensch und Ding aufgehoben. Über die Stilgroteske ist die Entmenschlichung des Verwaltungsapparats dem Text eingeschrieben.

288  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Dieser visuell organisierten Metonymie tritt eine auditive an die Seite: Dissoziiert von einem konkreten Sprecher ertönen Stimmen. Der Eindruck eines gewaltigen, anonymen Beamtenapparats entsteht, in dem mechanistisch über das Los zu bloßen Nummern redu­zierter Menschen entschieden wird.698 (Gerade in der Ausgestaltung des unbeseelten Beamtentums scheint Kafkas Roman Das Schloss vorweggenommen.) Neben dieser visuellen und auditiven Metonymie der (Mit-)Täter wird auch ein ambivalenter Opfer-Begriff entfaltet: ‚Dank‘ des gigantischen Verwaltungsaufwands der Jurisprudenz  – offen gelegt im hyper­bolisch-grotesken Vergleich des Rauschens der Schreibfedern mit Reisig­wagen, die durch hohes Laub fahren – bleibt so mancher rechtsbrüchiger Gutsbesitzer vor derselben verschont. Die Auflistung der rhetorischen Mittel (Metapher, Metonymie, Vergleich) bringt es ans Licht: Die ‚Banalität des Bösen‘ versteckt Gogol’ in der Phänoebene des Textes. Wie nun geht sie in Chagalls Illustrationen ein? In der Radierung Das Vertragsbüro (Ill. 58; Abb. 48) ist ein klar abgezirkelter Kreis zu sehen. Den Kreis füllen Menschenköpfe, meist im Profil. Der Blick der Gestalten ist überwiegend gesenkt, die Nasen – jede von ihnen ein Prachtexemplar – weisen mehrheitlich auf die Tätigkeit, die synekdochisch dargestellte Gerichtsbeamte ausführen: Sie schreiben (allesamt mit der linken Hand!), mal auf abgebildeten, mal auf imaginären Tischen. Diese Armee der Schreiberlinge in der linken Kreishälfte wird von einem beleibten Beamten beherrscht – auch hier kehrt das Runde als Hauptmotiv der Mërtvye duši wieder. In der klassischen Pose des Vorgesetzten, des Dompteurs in der Manege, steht dieser rechts im Kreis, an einer – wieder imaginären – Türschwelle (zum nächsten Vorgesetzten?). Chagall überträgt mit erstaunlichem Gespür für Gogol’s Komposition und Schreibweise den narrativ-sukzessiv entfalteten Teufelskreis zirkulierender Akten ins Bild. Texttreu setzt er an bei Gogol’s Metonymien: Die Stimme als Synekdoche für den ganzen Beamten wird zu einem en face gezeichneten Kopf ohne Körper, der dem Betrachter eine Aktennummer zuzurufen scheint. Auch das Verfahren der visuellen metonymischen Präsentation der Beamten überführt Chagall in ein Bild. Doch verknüpft er es subtil mit Gogol’s favorisiertem Körperteil, der Nase – und ruft damit den großen Komplex von Gogol’s ‚Nasologie‘ auf.699 Die Art und Weise des Schreibens der Textvorlage („bojko i zamašisto“) projiziert Chagall auf die Schreibenden: Zufriedenheit zeichnet sich auf ihren Gesichtern ab. Die graphomanen Kanzleibeamten evozieren Akakij Akakievič Bašmačkin aus Gogol’s Šinel’ (Der Mantel, 1842), den jeder Schnörkel in Verzückung bringt. (Im Text wird der intertextuelle Bezug zu

698 Vgl. auch die vielfach bereits bemerkte häufige Verwendung von Unbestimmtheitspartikeln wie „kakojnibud’“ (irgendjemand) oder „kuda-nibud’“ (irgendwohin). 699 Zur Nase in Gogol’s Schaffen und insbesondere in den Mërtvye duši s. Belyj 1996: 104f., Hansen-Löve 1997: 206–212. Bezüglich Chagalls ‚Nasologie‘ sei an dieser Stelle lediglich auf die Ill. 5, 39, 47, 65, 75 und 87 verwiesen (s. auch Šatskich 1999).

Marc Chagall und Nikolaj Gogol’  | 289 Šinel’ über „Fedosej Fedoseevič“, also über die wiederkehrende Wiederholungsfigur im Namen, hergestellt.)700 Die administrative Begeisterung der Beamten wird kraft der ästhetischen Gestaltung (Metonymie, Wiederholungsfigur) als künstlich, pseudohaft entlarvt. (Nabokovs Betonung des Falschen, des Scheins [„ložnoe“] schimmert hier auf ). Der übertriebene Diensteifer, von Chagall bild-, von Gogol’ wortkünstlerisch eingefangen, tötet alles Menschliche, verstanden als Einheit von Körper, Geist und Seele, ab. Er reduziert den Menschen zum eindimensionalen Erfüllungsgehilfen, zu leeren Beamten-Hybriden (Šatskich 1999). Einer von ihnen ist gar mit dem Tisch verwachsen, eine grauenvoll hybride bildkünstlerische „figura fikcii“, die Andrej Belyj als Kerntrope der Mërtvye duši erkannt hat, nicht Ding, nicht Mensch. Wie Čičikov ist auch er die wandelnde Unbestimmtheit, „ne bol’še edinicy, ne men’še nulja“ (nicht mehr als eins, nicht weniger als Null; 1996: 94). Der blutleere, seelenlose Bürokrat verdient keine ganzheitliche Darstellung. So kommt es bei Chagall zu dem seltenen, vielleicht sogar einzigartigen Fall einer Zerstückelung des Menschen – nicht einmal in seinen Bildern zur Schoa greift er auf das drastische Mittel fragmentierter Körperteile zurück. Für Gogol’s Schaffen ist es konstitutiv – und immer Indiz für das Teuflische.701 Chagall kombiniert diese Variante, pošlost’ ästhetisch zu fassen, mit der Figur des Kreises. Über die Polyvalenz in den Mërtvye duši hinaus ist der Kreis hier aufgrund einer weiteren intertextuellen Referenz mit dem Teufel korreliert: Der Kreis dient – so Aleksandra Šatskich (1999) – als Allegorie, der in seiner Konkretheit Dantes Höllenkreis parodiert. Ausgerechnet an dieser Stelle, im Zusammenhang mit einer staatlichen Einrichtung, ruft Gogol’ den Autor der Divina Commedia ins Gedächtnis: Einer der Kollegienregistratoren, der Čičikov und Manilov zum Vorsitzenden geleitet, weist ihnen wie einst Vergil Dante den Weg (Gogol’ 1951 Bd. 6: 144; Šatskich 1999, vgl. auch Heftrich 2004: 188).702 Dieses Voranschreiten in der Beamtenhölle fasst Chagall in einer Figur des Nichts: An der Schwelle zum Vorsitzenden ist die Kreislinie durchbrochen. Hinter der geschäftigen Beamtenmaschinerie, die, als käme sie aus dem Nichts, auf der Leere der weißen Fläche auf Papier kratzt, ist wiederum gähnende Leere. Keinerlei kausallogisch-perspektivische Darstellung verankert sie in einer wie auch immer gearteten Bildrealität. Die Schreib- und Redeakte der Beamten sind in dieser hermetischen Hölle reiner Selbstzweck. Hinter der geometrischen Figur des Kreises steckt eine Raumsemantik des Nichts. 700 Die Beschreibung von Akakijs Arbeitseifer trifft auch auf Chagalls Akakij-Duplikate zu, die sich als bildkünstlerische Wiederholungsfiguren im Beamtenkosmos ad libitum zu vervielfältigen scheinen: „Kakoj-nibud’ pomoščnik stolonačal’nika prjamo soval emu pod nos (!) bumagu, ne skazav daže ‚perepišite‘, ili ‚vot interesnoe, chorošen’koe del’ce’, ili čto-nibud’ prijatnoe, kak upotrebljaetsja v blagovospitannych službach. [...] On bral i tut že pristraivalsja pisat’ ee.“ (1938 Bd. 3: 143; Irgendein Gehilfe des Tischvorstands schob ihm einfach ein Schriftstück unter die Nase (!), ohne auch nur: „Schreiben Sie es ab!“ oder: „Das ist eine ganz interessante, schöne Sache!“ oder sonst irgendetwas Angenehmes zu sagen, wie es unter wohlerzogenen Beamten üblich ist. [...] Er nahm es und schickte sich sofort an, es abzuschreiben; Hervorh. S. K.) Zu Gogol’s schizoidem Schriftverständnis s. Murašov 1997: 85–105. 701 S. Gogol’ 1951 Bd. 6: 134, Nabokov 31961: 73, Lotman 1974: 250 und Hansen-Löve 1997: 195; s. auch die grundlegende Deutung des Symbolisten D.S. Merežkovskij 1909. 702 Urs Heftrich deutet die Episode am Kreisgericht als Kontrafaktur des Jüngsten Gerichts (2004: 186–190).

290  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Der Kreis taucht als rahmendes Prinzip in zwei weiteren Illustrationen auf, in An der Stadtgrenze (Ill. 47) und Der Laternenwächter (Ill. 65; s. Abb. 49 und 50). In beiden Fällen fungiert er als Verkörperung eines formlosen Null-Raumes.703 Im Text wie im Bild indiziert er das Teuflische. An der Stadtgrenze markiert das Ende von Čičikovs Reise zu den fünf Gutsbesitzern (s. Gogol’ 1951 Bd. 6: 130f.). Die Illustration dient gleichermaßen als ‚Bühnenbild‘ des nächsten Romanschauplatzes: Wie in einem Theater gibt der Illustrator den Blick auf die von Details überquellende Kulisse der Stadt NN frei. Zugleich ist die Tiefendimension der Massenszene – angedeutet durch den Weg, den Čičikovs Trojka befährt – ebenso grotesk zurückgenommen wie die ‚Bühnenrampe‘ in Form der unteren Linie, die den Kreis zu einem Halbkreis verkürzt: zwei Figuren des Bildes – eine davon ist Čičikov – tauchen auch jenseits der Rampe auf, wie in Ill. 58 gleichsam dem Nichts entsprungen. Die Zentralperspektive wird durch die unverhältnismäßige Verkleinerung von Häusern, Bäumen und Figuren parodiert.704 Der extradiegetische Erzähler beschreibt an der entsprechenden Textstelle die Stadt NN bei Einbruch der Dämmerung in gewohnter Manier zwischen Bestimmtem und Unbestimmtem. Das Zwielicht ruft zwielichtige Gestalten auf den Plan. Neben potenziellen Kunden sind grotesk inszenierte Prostituierte, Zwitterwesen zwischen Mensch und Tier – dem Aussehen und ihren Bewegungen nach gemahnen sie an Fledermäuse – als weibliche Variationen der pošlost’, als „pošljački“ (Vladimir Nabokov), vertreten.705 Die für Gogol’ typische Fallhöhe des Hohen – der Erzähler erinnert an Schillers Don Carlos (S. 131) – ins Niedrige, das ‚Rotlichtmilieu‘ der Großstadt (Petersburg) nach dem Karnevalsprinzip generiert einen Ort vulgärer pošlost’. Chagall holt die hinter der Scheinidylle der Gouvernementsstadt im Subtext verborgene pošlost’ in ihrer ordinären, mit sexuellen Konnotationen aufgeladenen Variante mit drastischen Konkretisierungen an die Bildoberfläche: Links im Bild ist ein Soldat (mit Rucksack und Militärmütze, aber ohne Hosen!) zu sehen, der dem Betrachter ungeniert den Allerwertesten zeigt und uriniert.706 Analog zum karnevalistischen Betonen der unteren Körperhälfte und der Geschlechtsorgane dieses Bilddetails weist eine der gestiefelten ‚Damen‘ mit dem Zeigefinger auf ihren Schoß; die in die gleiche Richtung gehaltene Peitsche des Kutschers und die Blickrichtung seines Pferdes lassen an sexuellen Implikationen keinen Zweifel aufkommen. Inmitten dieses bunt-frivolen Treibens à la Hieronymus Bosch steht der Wachposten am Schlagbaum. Die im Text erwähnte groteske Deformation des Körpers – der Schnurrbart des einer Nase baren Wächters scheint an der Stirn zu hängen (S. 130) – kehrt in der Radierung

703 Vgl. die lange philosophische Tradition, die angefangen mit Pëtr Čaadaev, Russland als „zero space“ (Groys 1999: 143) wahrnimmt. 704 Erneut finden sich in Chagalls Ikonographie Verfahren der Ikonenmalerei. Die übereinander angeordneten Häuser auf der linken Bildseite sind im Kontext der umgekehrten Perspektive zu verstehen (s. auch Kap. 5 und 9.1). 705 Ähnlich dem Textausschnitt zu Illustration 58 kehrt die Kombination des Visuellen und des Auditiven als Strukturprinzip wieder. 706 Chagall verwendet dieses Tabuthema mehrfach, vgl. Kap. 4.

Marc Chagall und Nikolaj Gogol’  | 291 wieder.707 Nur betont das fehlende Riechorgan, das freudianisch gesprochen das männliche Geschlechtsteil aufruft (Bachtin 1996: 15) oder wenigstens, so Nabokov, „something peculiarly and grotesquely masculine“ (31961: 5) ist, die Ohnmacht der Obrigkeit angesichts der „poshlust“ (Nabokov) der Stadt. Dass Chagall hier zweimal die Leiter ins Bild setzt, ruft die mit dem Erlösungsgedanken aufgeladene Dichotomie des Kreises und der für Gogol’ positiv konnotierten, vertikal aufsteigenden Linie (der Himmelsleiter) auf.708 In der Radierung Nr. 65 widmet sich Chagall einem winzigen Detail der Gogol’schen Vorlage: Ein Wachposten findet auf seinem Kragen ein kleines Tierchen, „i, podošed k fonarju, kaznil ego tut že u sebja na nogte“ (trat an eine Straßenlaterne heran und richtete es sofort zwischen seinen Fingernägeln hin; 1951 Bd. 6: 177). Der Kontext dieser Nebensächlichkeit – bei dem massakrierten Tier handelt es sich, wie Nabokov uns aufklärt, um einen Floh (31961: 94) – ist für das weitere Romangeschehen zentral: Korobočka fährt, nachdem Nozdrëv Čičikov auf dem Ball als Aufkäufer toter Seelen diskreditiert hat, nächtens in die Stadt und trägt wesentlich zu Čičikovs Fall bei. Die Ankunft der Korobočka geht auch in den Bildinhalt ein: In der rechten Bildhälfte ist die runde (!) Kutsche von Čičikovs „zur Nemesis gewordene[n] Muse“ (Heftrich 2004: 95) zu sehen. Doch kehrt Chagall die Prioritäten, die der Erzähler setzt, um: Das Wesentliche der Erzählsequenz (die Ankunft der Korobočka) erscheint verkleinert an der Bildperipherie; das Unwesentliche (der Nachtwärter gibt einem Ungeziefer den Rest), das sich laut Erzähler „na drugom konce goroda“ (am andern Ende der Stadt; S. 165) ereignet und der grotesken Überzeichnung von Korobočkas Ankunft dient, bildet das Zentrum des Bildes. Der Kreis, in den das Bildthema gefasst ist, parallelisiert – ähnlich dem Text (vgl. das Zwielicht) – Čičikovs und Korobočkas Ankunft in der Stadt. Welche Intention (im Sinne der pošlost’) steht dahinter? Chagall visualisiert hier Gogol’s von Puškin gerühmte Fähigkeit, das unscheinbare Böse einzufangen, das im Kleinen, Nebensächlichen aufschimmert.709 Der Hüter der Ordnung kümmert sich nur um das 707 Unweigerlich ist man hier an Gogol’s Petersburger Erzählung Nos (Die Nase, 1836) erinnert, in der der Kollegienassessor Kovalëv seiner Nase verlustig geht. 708 Vgl. die Erzählerdigression zur Korobočka: „[…] da točno li Korobočka stoit tak nizko na bekonečnoj lestnice čelovečeskogo soveršenstvovanija?“ (s. 53; […] steht denn die Korobočka wirklich so niedrig auf der unendlichen Leiter der menschlichen Vervollkommnung?). Heftrich bringt Čičikovs Reise mit Comenius’ Labyrinth der Welt in Verbindung. Comenius fasst dieses in seinem Frontispiz von 1631 als kreisförmige Stadt (s. Heftrich 2004: 112; Abb. 8); auch im Hinblick auf diese Darstellung frappiert Chagalls Wahl, die Stadt in einen Kreis zu fassen. Die Himmelsleiter als Ausweg aus dem circulus vitiosus der menschlichen Verfehlungen spielt für Gogol’ eine wichtige Rolle. Jakobs Traum bei Bet El (Gen 28, 12) ist die Grundlage für die Klimas toi paradeíson (Aufstieg ins Paradies) des Abtes Johannes vom Katharinenkloster am Sinai (7. Jh.), die wiederum in der byzantinischen Ikonentradition als Die Himmelsleiter des Heiligen Klimakos ihren Niederschlag findet (Sinai, zweite Hälfte des 12. Jh.; s. Wessel/ Restle 1978 Bd. 3: 2–14; Weitzmann 1978: 88f., Abb. 25). 709 „[…] ešče ne u odnogo pisatelja ne bylo ėtogo dara vystavljat’ tak jarko pošlost’ žizni, umet’ očertit’ v takoj sile pošlost’ pošlogo čeloveka, čtoby vsja ta meloč’, kotoraja uskol’zaet ot glaz, mel’knula by krupno v glaza vsem.“ ( […] noch kein Schriftsteller hatte eine solche Gabe, die Banalität des Lebens so klar herauszustellen, die Banalität des banalen Menschen mit solcher Kraft abzubilden, dass all das Kleine, das sonst dem Auge entgeht, allen groß ins Auge springt; Gogol’ 1952 Bd. 8:292; Ü: Urs Hefrich, 2004: 34).

292  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte (Unbedeutende), was im Lichte der Laterne zu sehen ist – so lautet die Kernaussage der Radierung. Dräuendes Unheil kann sich, ist man lediglich mit Kleinigkeiten befasst, ungehindert einschleichen. Hierfür wählt Chagall eine andere Technik: Statt der sonst dominierenden Linie arbeitet er stärker mit Schraffuren. Der höhere Schwarzanteil indiziert Nacht, Unheimliches. Die Radierung weckt nicht nur deshalb oder wegen der Weite des Platzes Assoziationen mit Gogol’s Šinel’ (Der Mantel).710 Die intertextuelle Bild-TextReferenz entsteht in erster Linie über die pošlost’ des Wächters, die auch in ihrer wesentlich dämonischeren Ausprägung im Šinel’ eine wichtige Rolle spielt.

Körper-pošlost’: „The belly is the belle of Gogol’s stories“ Der Hintern darf als würdiger Gegenpart zur viel besprochenen Nase nicht zu kurz kommen. (Man entkommt ihr ohnehin nicht, erinnert man sich der Illustration Das Vertragsbüro.) Dass er in Chagalls Radierzyklus in nicht unerheblichem Maße zum Träger von pošlost’ im Allgemeinen und derjenigen Čičikovs im Besonderen avanciert, demonstrieren die Illustrationen Čičikov auf dem Bett (Nr. 16), Das Erklären des Wegs (Nr. 19), Gevatter Mitjaj und Gevatter Minjaj (Nr. 29), Čičikov rasiert sich (Nr. 75) und Unser Held hält sich bereit (Nr. 77; s. Abb. 51 bis 55). Im Poemkontext zu Čičikov auf dem Bett (Nr. 16) feilscht Čičikov mit der Kollegien­rats­ witwe Korobočka (dt.: Schächtelchen) um verstorbene Leibeigene, die noch in den Steuerlisten geführt werden, und bleibt über Nacht. Chagall greift aus der entsprechenden Textstelle den Augenblick heraus, als Čičikov das ihm bereitete Bett besteigt (Gogol’ 1951 Bd. 6: 47). Dabei löst er sich von der hyperbolischen Erzählerdescriptio des Bettes. Er visualisiert das, was Gogol’ unverblümt beschreibt: Čičikov ist nackt.711 Chagall interessiert hier weniger die Kohärenz mit der Romanhandlung als die Betonung der (Figuren-)Stimmung. Čičikov ist hundemüde, kleidet sich eilig aus und schläft, nachdem er das mächtige Bett bestiegen hat, sofort ein. (Bei Chagall landen die Kleider, die im Text von der Haushälterin entgegengenommen werden, auf einem Schemel.) Der große Verführer hat einen verbal-sexuellen Vorstoß der alten ‚Schachtel‘ abgewehrt. Sie würde ihm auf Wunsch 710 Akakij Akakievič befindet sich auf einem unendlich weiten, öden Platz, einer „strašnaja pustynja“ (schrecklichen Wüste; 1938 Bd. 3: 161), als ihm sein Mantel gestohlen wird. Der Wächter, dessen Häuschen „kazalas’ stojavšeju na kraju sveta“ (am Ende des Welt zu stehen schien; ebd.), beteuert – in ambivalenter Weise das Diabolische Petersburgs erzeugend –, „čto on ne vidal ničego, čto videl, kak ostanovili ego sredi ploščadi kakie-to dva čeloveka […]“ (dass er nichts gesehen habe, dass er gesehen habe, wie ihn in der Mitte des Platzes irgendwelche zwei Menschen anhielten […]; S. 162). Chagall, mit der Reißbrettstadt Peters des Großen ebenfalls bestens vertraut, stellt wie bereits in der Radierung Nr. 58, eine Verbindung zwischen Gogol’s fiktionalisierter Teufelsstadt Petersburg und der fiktiven Stadt NN her. 711 Im Text heißt es: „Čičikov [...] skinul s sebja soveršenno vse“ (S. 48; Čičikov [...] hatte sich komplett alles ausgezogen). Das dunkle Hemdchen, das Chagall Čičikov in der Radierung ‚anzieht’, lässt die runde Nacktheit der unteren Körperhälfte umso deutlicher hervortreten.

Marc Chagall und Nikolaj Gogol’  | 293 wie einst ihrem Verstorbenen die Fersen kitzeln. Čičikov hingegen möchte sich und seinen Allerwertesten ins gemachte Nest setzen – und ruhen (S. 47). Über die konkrete, sexuell aufgeladene Romansituation hinaus offenbart die Illustration den parasitären Charakter von Čičikovs Existenz (vgl. auch Hansen-Löve 1997: 228).712 Der Hintern des gesellschaftlichen Schmarotzers und feist-glatten Betrügers versinnbildlicht dies als visuelle Alternative zum Sprachbild, dass sich der ohnehin korpulente Held „wie ein Kringel“ zusammenrollt (svernuvšis’ [...] krendelem; ebd.). Die sexuell konnotierte pošlost’ wird in der Illustration Nr. 19 Das Erklären des Wegs aufgegriffen. Pelageja, die im Text elfjährige Magd der Korobočka, soll Čičikov am Morgen nach der bequem verbrachten Nacht den Weg zeigen (Gogol’ 1951 Bd. 6: 58f.). Im Bild verschiebt Chagall den Akzent vom Schmutzigen auf das Erotisch-Sexuelle: Durch das getupfte (!) Kleid schimmern die vollen Rundungen von Pelagejas Po hindurch. Die weiße Hand Pelagejas packt Čičikovs Kutscher Selifan am Arm; dieser hält sinnigerweise eine Peitsche in die Höhe, die auf den Pferdehintern deutet (vgl. Ill. 47). Der Frauen- und der Männerkörper verschmelzen in der Darstellung zu einer Einheit. Die Art, in der Chagall das dralle, barfüßige Mädchen präsentiert, als es den Wagen besteigt, stellt ganz offensichtlich einen Bezug zu Čičikovs Zu-Bett-Gehen aus Ill. 16 her. Als Anlass für diese weitere bildkünstlerische Sexualisierung der Situation mag das Motiv der Entführung gedient haben, das Korobočka im Gespräch mit Čičikov erwähnt.713 Die Radierung Gevatter Mitjaj und Gevatter Minjaj (Nr. 29) bezieht sich auf die sinnlosen, von roher Gewalt geprägten Versuche einiger Bauern, Čičikovs Pferde, die sich mit denjenigen einer anderen Kutsche verheddert haben, zu befreien. In einem grotesken Rotationsprinzip (Kreis!) setzen sich Mitjaj und Minjaj – die für Gogol’ so wichtige rhetorische Wiederholungsfigur ist in diesem Figurendoppel personifiziert – abwechselnd auf Čičikovs Pferde. Die Pferde sind von deren Traktieren schließlich ganz erschöpft (Gogol’ 1951 Bd. 1: 84). Chagall zeigt den massigen Minjaj in einer häufiger gewählten Perspektive von oben. Dem Pferd verdreht es angesichts des Gewichts die Augen. Die Radierung dominiert das riesige, schwarz schraffierte Hinterteil des Bauern. Chagall verschiebt die groteske Texthyperbel um 712 Schon vorher, in der Begegnung zwischen Čičikov und Nozdrev bezeichnet der Gutsbesitzer seinen Schwager als „fetjuk“ (Weiberheld): Gogol’ weist in einer eigenhändigen Fußnote auf den anstößigen, weil das männliche Geschlechtsteil assoziierenden Charakter des dem russischen „Ф“ zugrundeliegenden griechischen Buchstaben „Θ“ hin (Gogol’ 1951 Bd. 6: 77). 713 „Požaluj, ja tebe dam devčonku; ona u menja znaet dorogu, tol’ko ty smotri! Ne zavezi ee, u menja uže odnu zavezli kupcy.“ (Dann gebe ich dir am besten ein Mädchen mit; sie kennt den Weg, aber pass auf! Entführ sie mir nicht, eine haben mir schon die Kaufleute entführt“; 1951 Bd. 6: 58) Der Hintern als weibliches sekundäres Geschlechtsmerkmal kehrt noch einmal – diesmal dezent verhüllt – wieder, als der Erzähler sich Čičikovs Vorgeschichte widmet. Hier bereits strebt der Betrüger nach dem Schein, um eine gute Partie zu machen – und nicht etwa nach dem Sein in Form wahrer Liebe: In der Illustration In der Kirche (Nr. 82) ist unterhalb eines nur mit einem Leintuch um die Lenden bedeckten Christus eine rundliche Frauengestalt von hinten dargestellt. Der wohl Betenden – fleht sie Gott um Rettung oder um die Erfüllung ihrer Liebe an? – stellt sich ein herausgeputzter Čičikov entgegen. Befrackt und in galanter Pose – als Indiz hierfür hypertrophiert Chagall wie in der Radierung Čičikov rasiert sich (Nr. 75) den Hintern – buhlt der wieder rundliche Čičikov mit dem starren und schmalen Christus um ihre Aufmerksamkeit.

294  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Minjajs Bauch, der so groß wie ein Riesensamovar ist, mit dem man für einen ganzen Markt „sbiten’“ (eine Art Punsch) kochen kann (ebd.), auf dessen Hinterteil. Die erhobene Hand mit der Peitsche zeigt nicht nur den konkreten Akt roher Gewaltausübung. Sie bildet in Verbindung mit dem tumben Gesichtsausdruck des Bauern, der entgegen den Regeln der Anatomie dem Betrachter zugewandt ist, und dem auf einer Vertikalachse liegenden Hintern eine Metapher für die Dummheit des Menschen, der sich eigentlich auf würdige Art und Weise die Natur Untertan machen sollte. Der Ursprung für die erneute Fokussierung auf den Hintern liegt in der russischen Sprache: Das Russische kennt den obszön-oxymoralen Ausdruck „dumat’ žopoj“ (mit dem Arsch denken) für dummes, fehlerhaftes Verhalten.714 Chagall dringt über die rhetorisch virtuos gestaltete Textoberfläche zum eigentlichen Gehalt der Digression vor. Was Gogol’ stilgrotesk verhüllt, nämlich die der Kreatur Leid zufügende Dummheit des ‚homo sapiens’, enthüllt Chagall, indem er einen sprechenden Ausdruck aus den niederen russischen Sprachschichten visualisiert. In der Passage zu Unser Held hält sich bereit (Nr. 77) rüstet Čičikov nach der Demontage seiner Person in der Stadt zum Aufbruch, zumal sich ein höherer Beamte, allegorisch gedeutet ein potenzieller Richter seiner Schandtaten, ankündigt (Gogol’ 1951 Bd. 6: 215). Für Čičikov ist es an der Zeit, seine Haut zu retten. Die Radierung zeigt Čičikov von hinten. Die krude Schraffur des Hinterteils stellt eine formale Äquivalenz zu Selifans Kutscherrock und zum hastig gepackten Koffer – beides Symbole für die Reise – her. Čičikovs im Vergleich zu den anderen Darstellungen äußerst voluminöse, gebückte Gestalt verdeckt fast vollständig den Kopf. (Das Runde wird durch die geraden Linien der Zimmergestaltung – Holzbohlen, Tür- und Bilderrahmen u. Ä. – betont). Ähnlich wie bei Gevatter Mitjaj und Gevatter Minjaj liegt der Illustration Nr. 77 die visuelle Realisierung eines Sprachbildes zugrunde. Die Periphrase „Videt’ žopu“ ([jemandes] Arsch sehen) verwendet man für einen Menschen, der sich heimlich davonmacht.715 Chagall belebt hier – übrigens nicht zum ersten Mal – eine tote Metapher, also ein Sprachbild, das in Folge seiner Habitualisierung nicht mehr als solches wahrgenommen wird.716 Wieder bildet ein Hinterteil das Bildzentrum. Chagall ‚karnevalisiert‘ hier die Bildgattung des Porträts, das üblicherweise durch die Darstellung des Gesichts das Wesen des Menschen einfängt. Aber sagt nicht Nabokov, dass Čičikovs Hintern dessen wahres Gesicht sei (31961: 71)? Was Nabokov in Bezug auf den Erz-pošljak formuliert, gilt im Jiddischen 714 Flegon 1973: 111. Eine Variante findet sich beim russischen Dichter Vadim Sergeevič Šefner (1915– 2002): „Nado ne zadnicej, a golovoj dumat’“ (Nicht mit dem Hintern, mit dem Kopf muss man denken; zit. nach Flegon 1973: 118). 715 S. Flegon 1973: 111. Auch Puškin, der Begründer der russischen Literatursprache, greift auf vulgäre Register des Russischen zurück: „Francuzov videli togda my mnogich žopu, Da i tvoju, govennyj kapitan!“ (Wir sahen damals den Arsch vieler Franzosen, auch deinen, du Scheißkapitän; zit. nach Flegon 1973: 111). 716 Chagalls Illustrationen zu Gogol’s Mërtvye duši bestätigen die Vermutung Ziva Amishai-Maisels, das Verfahren der Visualisierung der Rede könnte außer dem Jiddischen auch das Russische betreffen (1978: 93).

Marc Chagall und Nikolaj Gogol’  | 295 generell: Der „tokhes“, eigentlich der Allerwerteste, meint auch das „zweite Gesicht“ eines Menschen (Landmann 1960: 407). Chagall, der Ostjude, überträgt seinen in der Sprache verankerten Humor ins Bild. Chagall, der Avantgardist aus der Peripherie, tritt mit dem anarchischen und ambivalenten Lachen des Karnevals der ernsten (= vor allem mimetischen) Rezeption Gogol’s (aus dem hochkulturell orientierten und autoritär-monosemischen Zentrum der russischen Kultur) entgegen – und kommt dadurch Gogol’ näher als manch anderer.717 Eine Kunstgeschichte des Hinterns ist noch nicht geschrieben. Chagalls Illustrationen gebührte hier ein würdiger Platz. Stellt er in der Radierung Nr. 47 noch eine leicht zu übersehende Episode dar, so avanciert er in den behandelten Radierungen Chagalls zu deren ‚Held’.718 Chagalls Inszenierung von Čičikovs Hintern ist dabei mehr als nur ein komisches Element der Radierungen. Chagall entblößt Čičikovs wahres Wesen im wörtlichen, vor allem aber im übertragenen Sinne. Čičikov ist eitel: In der Ill. 75 Čičikov rasiert sich macht der grotesk große schwarze Hintern im Verein mit der stolz geschwellten Brust und dem übertrieben eiförmigen Gesicht aus der Radierung eine Art Programmbild zur „kruglota“ (Rundheit) als – äußerem – Leitmotiv von Čičikovs pošlost’.719 Čičikov haftet etwas (diabolisch) Parasitäres und Vulgäres (Ill. 16) an.720 Und: Der Aufkäufer toter Seelen ist feige (Ill. 77). Alles in allem legt Chagall durch das obszön ausgestellte Körperteil Čičikovs instinktgeleitete Natur bloß. Er trifft damit den Kern von Gogol’s Figurenkonzeption: Solange der „červ’“ (Wurm; vgl. Nabokov 31961: 74, Belyj 1996: 106) an ihm nagt, dieser ungeläuterte Teil seiner Person, in dem der Teufel steckt, bleibt Čičikov in der pošlost’ gefangen. Was Gogol’ stilgrotesk umschreibt, nämlich die physisch sich als rund manifestierende pošlost’ der deformierten Menschenseele, fasst Chagall in der Radierung im grotesk deformierten Körper. Michail Bachtin, wie Chagall zeitweilig währender der Vitebsker Kulturrenaissance in der Gouvernements-Stadt aktiv (s.  Šatskich 2001: 204–228), zeigt im Zuge seiner 717 Chagalls Dichter-Freund Cendrars ‚hört‘ aus Chagalls Bildern sexuelle Untertöne ‚heraus‘ und überträgt dies wiederum in sein Widmungsgedicht (dt. in Baal-Teshuva 2008: 46). 718 Gerade der Schwarz-Weiß-Kontrast in der Ill. 16 macht dies deutlich. Der Hintern taucht auch in anderen Illustrationen Chagalls auf, z. B. in Die Geschichte von Kamal Ez-Zaman und der Frau des Juweliers, einer Farblithographie zu den Erzählungen aus 1001 Nacht (1948), oder in Chagalls Grafik Avec du bleu, du rouge, du jaune (1968) zu eigenen, auf Französisch verfassten Gedichten. Letztere wiederholt die Darstellung aus Ill. 29. 719 S. Nabokov 1944: 74. In der entsprechenden Textvorlage taucht das Merkmal des Runden nicht auf (Gogol’ 1961 Bd. 6: 211); Gogol’ betont vielmehr den stacheligen Bart des angeschlagenen Avanturisten, während Chagall diesen in der Pose des Gewinners zeigt. Mit dem runden Kinn realisiert Chagall hier Čičikovs Eigencharakterisierung, sein Kinn sei „sovsem kruglyj“ (kugelrund; S. 135). Belyj deutet Čičikovs Rundheit als Resultat der Unbestimmtheit, Gogol’s Zentralverfahren (s. Belyj 1996: 101f.). 720 Zu Čičikov als Vertreter des schmarotzenden Bösen, das allein keine Existenzgrundlage hat s. HansenLöve 1997: 228f. Ebenfalls in die Reihe der Illustrierung vulgärer pošlost’ ist Čičikov triumphiert im Hemd (Nr. 52) aufzunehmen. Zurück in seiner Unterkunft nach den erfolgreich verlaufenen Gutsbesitzerbesuchern lüpft Čičikov in Chagalls Deutung im Tanz sein Hemd und gibt den Blick auf seine vom Künstler angedeuteten Genitalien frei. Wie in Čičikov auf dem Bett liegen im Hintergrund dessen Kleider auf einem Schemel.

296  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Rabelais-Studien die groteske Gestalt des Leibes auf (1986: 329–399, 1996: 15–23). In ästhetischer mehr als in weltanschaulicher Hinsicht trägt Čičikovs Körper bei Chagall groteske Züge.721 Čičikovs Nase und Hintern bestimmen in mehr oder weniger starker Überzeichnung Chagalls künstlerische Logik: Anders als beim klassisch oder realistisch wohl proportionierten Körper, der als Einheit wahrgenommen wird, hyperbolisiert Chagall einzelne Körperteile. Dadurch werden sie gerade in ihrem metaphorischen Mehrwert erfahrbar (vgl. Bachtin 1996: 19). Chagalls Körperdarstellungen kartographieren Gogol’s pošlost’ aus dem Poem. Das Bindeglied zwischen dem karnevalesk-grotesken Körper, der absichtlich antinormativ Tabuisiertes ausspielt und die Energien des Unbewussten aktiviert (s. Bachtin 1986; dt. 1987), und Chagalls individueller Umsetzung in den Illustrationen bildet die Sprache.

Die Entstehung der Illustration aus der russischen Sprache Gogol’s Figuren (nicht nur) in den Mërtvye duši, seine „pošljaki“ und „pošljački“, sind bekanntermaßen untrennbar mit seiner Rhetorik verbunden. Sie werden aus einer grotesken Metapher geboren oder entspringen einer Hyperbel.722 Gogol’s pošlost’, das unscheinbar daherkommende Böse, steckt also im – stilistischen – Detail.723 Was leer, form- und substanzlos ist, bedarf derartiger Sprachmasken (Jurij Tynjanov).724 Chagall, ein Meister assoziativen Kunstschaffens, folgt der ambivalenten und assoziativen Schreibweise in Gogol’s Poem (s.  hierzu Mann 1996: 242–276). Er übersetzt ästhetische Verfahren des Grotesken, wie sie im Text verwendet werden, in die Gravur. Gogol’s Protagonist Čičikov, Paradebeispiel für die „figura fikcii“, wird nie individualistisch-realistisch dargestellt.725 (Überhaupt kümmert Chagall historische Genauigkeit wenig; Bärte, die Mode und die Kleiderordnung des 19. Jh., in der sich die Rängetabelle widerspiegelt, interessieren 721 M. E. spielt der kosmische und universale Gehalt des grotesken Leibes bei Chagall eine untergeordnete Rolle. 722 Zu Gogol’s anthropomorphisierenden Metaphern, die die Grenze zwischen Mensch und Ding aufheben, s. Nabokov 31961: 77–82. Die personifizierte Hyperbel schlechthin ist Nozdrev (vgl. Heftrich 2004: 179). Die Hyperbel wird meist durch Wiederholung generiert und ist die Basis für das Groteske (s. Belyj 1996: 245–263, Hansen-Löve 1997: 233–234, 236). 723 Zu Gogol’s Ästhetik des Details s. Nabokov 31961: 71, Koschmal 1982: 337 und Mann 1996: 250: „Gogol’ myslit podrobnosti – bytovye, istoričeskie, vremennye i t.d. – ne kak fon, a kak čast’ obraza“ (Gogol’ konzipiert Einzelheiten – alltäglicher, historischer, zeitlicher Natur usw. – nicht als Hintergrund, sondern als Teil des Bildes). Genau diese Details setzt Chagall um. 724 Jurij Tynjanov deckt in seiner formalistischen Studie Dostoevskij i Gogol’ (Dostoevskij und Gogol’) von 1921 Wort- und Sachmasken als Zentralverfahren in Gogol’s Erhabenheits- und Groteskediskurs auf (1969: 300– 371, bes. S. 311–322). Derartiges meint auch Vasilij Rozanov, wenn er von der wächsernen Sprache (voskovoj jazyk; 1970: 11) Gogol’s spricht, die „Wachsfigürchen“ (voskovye figurki; 1970: 13) hervorbringe. 725 Jurij Mann präzisiert Belyjs Charakterisierung von Gogol’s ambivalenter Schreibweise: Zwischen den Polen der Bestimmtheit und der Unbestimmtheit gewinnt sie ihre hohe Spannung. Aufgrund der Realisierung von Gogol’s Rhetorik entsteht – neben der Theatralisierung der Bilder – eine Parallele zu Mejerchol’ds legendärer Inszenierung von Gogol’s Revizor von 1926 (vgl. hierzu Belyj 1989: 9–28; zu Mejerchol’d als prägender Theaterfigur für Chagall s. Kap. 6).

Marc Chagall und Nikolaj Gogol’  | 297 ihn nicht.726) Vielmehr verfügt er über mehrere ‚visuelle Identitäten’. Chagall schöpft facettenreich das breite Spektrum radiertechnischer Möglichkeiten aus, um Čičikovs innere – von der Linie umrahmte – Leere, das – schraffierte – Nichts, das in ihm gähnt, zu fassen. Die zahlreichen Körper-Metamorphosen, die Čičikov in Chagalls Illustrationen unterläuft, geben seinem höchst wandelbaren Charakter Gestalt; im Text ist dies in Čičikovs Sprech-Mimikry, einer mannigfaltigen Stilisierung seiner Rede, eingefangen (vgl. Koschmal 1982: 342). Anhand der Metonymie, die der Illustration 58 zu Grunde liegt, wird die visuelle Realisierung von Gogol’s Rhetorik besonders augenfällig. Hyperbolisierungen, die in narrativem Nacheinander, in Figuren- oder Erzählerrede entstehen, verschiebt Chagall in die Gleichzeitigkeit der Illustration, vorrangig in alogische Größenverhältnisse oder, wie beim Po, in utrierte Körperformen.727 Gogol’s Sprachmasken tauscht Chagall in Bildmasken, vorrangig in metaphorisierte Körpermasken um. Chagall thematisiert in seinen Illustrationen nicht einfach einen Textinhalt, sondern realisiert auch die Textfaktur. Chagall durchbricht damit die für das 19. Jh. typische realistisch-sozialkritische Lesart der Mërtvye duši, die Gogol’s Poempoetik und deren theologisch-weltanschauliche Implikationen verfehlt.728 Die Illustrationen A.A. Agins und P.M. Boklevskijs aus dem 19. Jahrhundert stehen in dieser Tradition (Ästhetik der Wiederholung). Chagall ‚visualisiert‘ den Paradigmenwechsel in der Rezeption hin zum A- bzw. Pseudorealistischen und Grotesken. Der Ursprung für Chagalls Illustrationen zu den Mërtvye duši liegt in der Sprache. Chagalls Radierungen sind also nicht als bloße Transposition des Textinhalts zu sehen, sondern vielmehr als Transfiguration der Phänoebene des Poems, also deren sprachlicher Repräsentation, im Bild.729 Wie bereits bei früheren Illustrationen zu Perets, vor allem jedoch zu Dovid Hofshteyn ist für Chagall die Signans-Struktur entscheidend: Text-Signifiants und ihre denotativen wie konnotativen Bedeutungen werden in Bild-Signifiants überführt. Auch diese sind – über die Rückkoppelung an den entsprechenden Textinhalt hinaus – polysem. Sie rufen mehrere im Text – oder in 726 Ich danke dem Petersburger Autor Oleg Strižak für aufschlussreiche Hinweise hierzu. Umgekehrt lässt Chagall die Gelegenheit nicht aus, karnevalistisch auf die russische Kunst zu verweisen. In Die Treidler (Ill. 55/2) stellt er sich selbstironisch als solcher dar und parodiert so Il’ja Repins durch und durch realistisches Bild Wolgatreidler von 1878. Die realistische Gestaltung, wie sie Čičikov bei Agin erfährt, fließt ebenfalls auf parodistische Weise in Chagalls Illustrationen ein. 727 Ein Beispiel für die Hyperbolisierung der Text-Hyperbel durch alogische Größenverhältnisse ist Chagalls Illustration Pljuškin bietet etwas zu trinken an (Nr. 44). 728 Dies ist auch der einseitigen Zuordnung Gogol’s zur Natural’naja Škola (Natürlichen Schule) geschuldet (s. Vinogradov 1987). Der damalige Durchschnittsleser rezipiert die Mërtvye duši allenfalls als Satire. Seit dem russischen Symbolismus, insbesondere dank Andrej Belyj, findet Gogol’s grotesk-phantastische Ästhetik des Grotesken sowie seine Rhetorik der Null angemessene Beachtung. Zum Grotesken bei Gogol’ s. bes. Günther 1968, zur Nullrhetorik Hansen-Löve 1997: 183–303. Durch sein parodierendes Zitieren Agins und Repins setzt Chagall im visuellen Medium die von den Symbolisten eingenommene Gegenposition zu Gogol’ als Vertreter der Natürlichen Schule fort. 729 Zu diesen von Hansen-Löve eingeführten Intermedialitätskategorien s. Kap. 2. Auch der Chagall-Biograph Alexander Sidney betont für die Illustrationen, dass „das Gesagte durch das visuelle Medium verwandelt – und doch adäquat ausgedrückt wird“ (1984: 239). Chagall folgt also mit den Mitteln der Gravur Gogol’s Poetik, die Jurij Lotman in die „Ästhetik der Entgegenstellung“ (1972: 192) einreihen würde. Diese nutzt, anders als die inhaltsorientierte „Ästhetik der Identität“ (1972: 188), das „Modellierungspotenzial von Form und Inhalt“ (Koschmal 1982: 334; s. Lotman 1972: 169–198).

298  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte anderen Texten – verstreute Sinnkomplexe auf. Sie stellen intra- und intertextuelle Bezüge her. Gogol’ hatte laut seinem berühmten Brief an Puškin vom 7.10.1835 mit den Mërtvye duši „vsja Rus’“ (das ganze Russland; 1940 t. 10: 374–375) im Auge; Chagall holt (fast) den ganzen Gogol’ ins Bild. Die Intertextualität seiner spezifischen Intermedialität spielt über die Mërtvye duši hinaus auf andere fiktionale Texte (z. B. Nos, Šinel’, Revizor) und Metatexte (zum Komischen und eben zur pošlost’) an.730 Darüber hinaus generieren Chagalls Illustrationen aber auch – und das ist eine entscheidende zusätzliche Qualität – durch die spezifische bildkünstlerische Gestaltung eigene motivische oder ästhetische Äquivalenzen. Losgelöst vom Text bringen sie eine eigene Semantik, etwa der pošlost’, hervor. So wird durch den Einsatz runder Formen und deren Semantisierung zwischen Čičikov, den Beamten und der Stadt eine Äquivalenz hergestellt, die sie allesamt als Träger der pošlost’ enttarnt. Auch durch die aussagekräftige Darbietung des Hinterns treten einzelne Illustrationen in Beziehung zueinander, die über die offene und verdeckte Bildsemantik pošlost’ einfangen. Was Gogol’ nicht expressis verbis nennt, überzeichnet Chagall ‚expressis imaginibus’. Chagall ist dabei frei genug, über Gogol’s ‚ge­­zähmte‘ Literatursprache hinaus auf die inoffizielle, subversive Sprache des mat (Mutterfluch) zurückzugreifen, der auch in der Volksliteratur, z. B. in Bylinen, wiederkehrt.731 Die Bildhaftigkeit obszöner Termini generiert eine drastische Bildoberfläche. Diese ist nicht einfach Chagalls grenzenloser Phantasie geschuldet. Vielmehr schwingt in ihr der subtile (ethische) Subtext aus Gogol’s Poem mit.

Pošlost’ intermedial Was ist der – ästhetische und heuristische – Mehrwert einer Gogol’-Rezeption unter dem Gesichtspunkt der pošlost’, die neben dem Text noch die visuelle Seite, also Chagalls Radierungen, einbezieht? In welchem Verhältnis steht die bildkünstlerische pošlost’ zu jener des Textes? Der erste Teil der Mërtvye duši ist, so Gogol’ selbst, durch und durch pošlost’ (1952 Bd. 8: 293–295). Sie manifestiert sich dank der Meisterschaft, aber auch dank der Akribie des Autors auf mehreren Text- und Sinnebenen. Bei den Romanfiguren ist die quasilebendige Leblosigkeit ein wichtiges Indiz dafür.732 Wie Marionetten hängen sie an den Fäden einer zwischen Pathos und Groteske pendelnden Erzählerinstanz (vgl. Rozanov 1970: 13). In Chagalls drucktechnischer Modellierung der pošlost’ frappiert ebenfalls die paradoxale Verknüpfung aus typisiert-holzschnittartiger Figurengestaltung (Merkmal des Leblosen) und gestisch-mimischer Theatralität (Merkmal des Lebendigen). Sie generiert eine dem Text verwandte Pseudo-Lebendigkeit. Dieses Maskenhafte der Figuren ist wesentliches 730 Ausgenommen ist hier der metatextuelle religiöse Gogol’, vgl. seine zwischen 1845 und 1852 verfassten Razmyšlenija o božestvennoj liturgii (Betrachtungen über die göttliche Liturgie; dt. 1989). 731 Zum verbreitetsten Substandard des Russischen s. Flegon 1973 und Koester-Thoma 2002: 284f. 732 Diese – ästhetisch konstruierte – Ambivalenz findet hier eine ihrer Hauptursachen: „Die Ambivalenz und der hohe Grad der Unbestimmtheit der dargestellten Welt wird durch die beiden konträren Tendenzen der Materialisierung des Menschlichen und Geistigen und der Personifizierung des Unbelebten und Tierischen hervorgerufen.“ (Koschmal 1982: 350)

Marc Chagall und Nikolaj Gogol’  | 299 Attribut visueller pošlost’. Chagalls antimimetische (Körper-)Ästhetik, die aus dem reichen Fundus des Volkstheaters schöpft, erfasst im Kern Gogol’s desillusionierende Menschensicht: Die Eindimensionalität seiner anthropomorphen Bildpuppen – die Gestalten sind leer und ohne Tiefe – ist das Resultat einer differenzierten Lektüre eines Textes, in dem der homo exterior über kein Pendant im homo interior verfügt.733 So ähnlich sich die beiden Medien, der Text und die Illustrationen, in ihrem karikaturalgrotesken Offenlegen der pošlost’ in Mensch und Welt sind, in einem Punkt unterscheiden sie sich: Gogol’s Arche-Text hierzu birgt eine tragische Komponente, die in den oft (auto) reflexiven Erzählerdigressionen artikuliert wird.734 Die Möglichkeit einer Katharsis ist also kraft einer Narration gegeben, die Pathos und Komik, Hohes und Niedriges umfasst. In Chagalls künstlerischer Sicht hingegen dominiert das Komische, oft bis ins Groteske übersteigert. Sein Radierzyklus verschließt sich einer erhaben-tragischen Dimension. Chagalls Ästhetik des Grotesken entblößt das Böse, entlarvt – und verlacht es. Reinigende Funktion steckt – ganz im Sinne Gogol’s – in der Komik. Pošlost’ verfügt auch im Bild über eine ästhetische und moralische Dimension – die Analyse von Chagalls Ästhetik des Runden als Ort der Leere und des Nichts hat dies hoffentlich gezeigt. Ebenso wenig wie die pošlost’ in den Mërtvye duši ist Chagalls Variation rein ästhetischer Natur.735 Bild und Text zeigen über unterschiedliche Ästhetiken das ethische Desaster des banal Bösen. Die beiden Medien können sich dabei ergänzen, müssen es jedoch nicht. Chagall imaginiert zwangsweise erst im Kontakt mit dem Text seine Versionen pikturaler pošlost’. In ihrer ästhetischen Konkretisierung sind sie vom Text unabhängig. Auch ohne Gogol’s Prätext entfalten sie viele Facetten grotesker Komik. Sie sind  – mit viel hintergründigem Witz  – Teil der Lachkultur Russlands. Diese Autonomie im intermedialen Text-Bild-Bezug verdankt sich der monomedialen Tatsache, dass Chagall, nuancenreicher als in seinem übrigen Illustrierwerk, mit dem Furor des vom Text entflammten Experimentators, die Bandbreite drucktechnischer Verfahren nützt, um „jedem Bildgegenstand – ob Ding, Figur oder Idee – eine ihm allein eigene, adäquate Gestalt zu verleihen“ (Uthemann 1985: 44). Chagalls Radierungen zu Gogol’s Mërtvye duši dominiert kein übergeordnetes Prinzip wie etwa die karge Linie in Mein Leben oder die feine Strichelung in den Tanach-Illustrationen, so dass sie in ihrer künstlerischen Einheitlichkeit Spiegel des Textes würden. Gerade das Malerische in der Gravur  – Punkte, Flecken, flächige Roulette- oder Aquatinta-Gestaltung (ebd.) – trägt wesentlich zur druckästhetischen Vielfalt bei.736 733 Auch die vom Erzähler gelenkte, bewusst primitiv gestaltete Innenschau der Figuren erschließt nicht deren Tiefendimension (s. hierzu Mann 1996: 282–288). 734 Laut Zen’kovskij wurzelt dies in Gogol’s ästhetischer Anthropologie, die u. a. Schillers Ideal von der ästhetischen Erziehung des Menschen entspringt (2005: 167–173). Die Trauer ob der verfehlten Vollkommenheit des Menschen (s. S. 168) bewirkt Gogol’s Höhenflüge der Komik. 735 Zu einer primär ästhetischen Imagination des Bösen s. Markishs Pogromzyklus Di kupe (Kap. 8.1). 736 Pavel Florenskij lehnt genau dies als Verrat an der Graphik ab: „Sobald in einem graphischen Werk Punkte, Flecken, farbig ausgefüllte Flächen erscheinen, hat dieses Werk die graphische Aktivität der Weltauffassung, den Bewegungsaufbau seines Raums, die Geste der Willensäußerung schon verraten, d. h. malerische Elemente in sich aufgenommen“ (1997: 161).

300  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Dem Graphiker Chagall geht jedoch der Leser Chagall voraus: Gerade weil der Maler ein (geschultes) Ohr für Gogol’s Erzähl- und Schreibweise hat, sich auf das Spiel mit dem Stil einlässt, ermöglicht er dem betrachtenden Auge eine vom Text unabhängige Rezeption.737 Die Radierungen sind dadurch einer bloß illustrativen Funktion enthoben. Der intermediale Mehrwert von Chagalls Illustrationen zur pošlost’ liegt in der ethischen Kongruenz des ästhetisch Inkongruenten. Der Sieger in dieser Debatte ist die Kunst: Pošlost’ gewinnt als Verfremdung in Wort und Bild ihren Reiz.

737 Gogol’ selbst war ein begnadeter Vorleser, der einen Text erst durch den gelungenen Vortrag gutheißt, vgl. Gogol’ 1952 Bd. 8: 233–234. Bella wiederum liest ihrem Gatten die Mërtvye duši auf Russisch vor. Gogol’s „zvukopis’“ (Laut-Schrift) ist in der oralen Vermittlung entscheidend als Stimulans für Chagalls visuelle Imagination von Gogol’s Poem. Die letzte Tafel seiner Illustrations-Übersicht beschließt Chagall bezeichnenderweise mit einer Miniatur, die Gogol’ als Vorleser zeigt, während Chagall parallel malt (s. Abb. 107 in: Renn 1999: 226).

12 Von der Tora zur Toyre, vom Text zum Bild – Die Bindung Isaaks (Gen 22) bei Yehoyesh, Marc Chagall und Itsik Manger738

JEWS HAVE SIX SENSES Touch, taste, sight, smell, hearing ... memory. While Gentiles experience and process the world through the traditional senses, and use memory only as a second-order means of interpreting events, for Jews memory is no less primary than the prick of a pin, or its silver glimmer, or the taste of the blood it pulls from the finger. The Jew is pricked by a pin and remembers other pins. It is only by tracing the pinprick back to other pinpricks – when his mother tried to fix his sleeve while his arm was still in it, when his grandfather’s fingers fell asleep from stroking his great-grandfather’s damp forehead, when Abraham tested the knife point to be sure Isaac should feel no pain – that the Jew is able to know why it hurts. When a Jew encounters a pin, he asks: What does it remember like? Jonathan Safran Foer, Everything is illuminated, 2003, S. 198f.

Die „Bindung Isaaks“ aus Genesis 22 ist eine der schwierigsten und verstörendsten Stellen im Alten Testament. Dieses im wahrsten Sinne des Wortes fesselnde Thema geht als Blatt Nummer 10 unter dem Titel Le sacrifice d’Isaac in Chagalls Radierungen zur Bibel ein, die er zwischen 1931 und 1939 und dann von 1952 bis 1956 anfertigt.739 Der christlichen Tradition entsprechend, rückt dieser von Chagalls Tochter Ida vergebene Titel das Opfer in den Mittelpunkt. Anders verhält es sich im Judentum: Hier wird die Bindung, die Aqeda (jidd. akeyde[s]) – abgeleitet von der Wurzel „‫“יקד‬: „binden, fesseln“ – in erster Linie als Prüfung Abrahams gedeutet. Der prüfende Blick ruht also auf dem ‚Täter‘, weniger auf dem Opfer.740 Nicht nur theologische Verschiebungen verändern die semantische Aura der Illustration, sondern auch sprachliche. In Chagalls Fall ist dies eine Verschiebung vom Hebräischen zum Jiddischen. Der Künstler fertigt seine Illustrationen zum Alten Testament auf der Grundlage

738 Das Kapitel stellt die erweiterte und überarbeitete Fassung meines Beitrags für den Sammelband zur Tagung „Bibel und Literatur“ dar, die vom 21.–24. September 2008 in Krakau stattfand (2010: 235– 252). 739 Die lange Pause erklärt sich außer durch den Unfalltod von Chagalls Verleger Vollard natürlich durch den Zweiten Weltkrieg. Während Chagalls Exil in New York von 1941 bis 1948 bleiben gedruckte und noch ungedruckte Platten in Paris, die er nach seiner Rückkehr nach Paris von Vollards Erben zurückerhält. Dank Chagalls tatkräftiger Tochter Ida wird ein neuer Verleger, Tériade, gefunden. Ida ist es auch, die für die zweibändige Edition der 105 Blätter im Jahre 1956 die entsprechenden Bibelzitate auswählt (Chagall: 1956, Rosenfeld 1987: 11). Ursprünglich war das Projekt unter dem Titel Le livre des Prophètes (Das Buch der Propheten) ersonnen: In fünf Bänden sollte die Genesis, das Buch der Könige, das Buch der Propheten, das Hohelied und – sich sperrig in diese Reihe einordnend – die Apokalypse bebildert werden (Rosenfeld 1987: 11). 740 S. Mosès 2007: 58f. Zur Bindung Abrahams in Judentum, Christentum und Islam s. Greiner/Janowski/Lichtenberger 2007, zum spezifisch russischen Opferdiskurs, der angesichts Chagalls jüdisch-russischer Doppelidentität eine Rolle spielt, s. Grübel 2006: 1–82.

302  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte der jiddischen Übersetzung des Tanach durch Yehoash  – jiddisch Yehoyesh (Salomon [Shloyme] Blumgarten; 1872–1927) – an.741 Yehoyeshs Bibelübertragung und ihre poetische Spezifik spielt im Entstehungsprozess der Bibelillustrationen eine entscheidende Rolle. Welche Entwicklung nimmt nun das Motiv der Aqeda, der Bindung Isaaks, vom hebräischen Gründungstext über die jiddische Übertragung zur visuellen Realisierung Marc Chagalls? Eine adäquate Antwort erfordert außer dem Blick auf die tanachische jiddische Vorlage die Berücksichtigung der ikonographischen Tradition auch christlichen Ursprungs. An erster Stelle steht hier Rembrandt und die wohl als Auftragsarbeit entstandene erste Fassung seines Monumentalgemäldes Die Opferung Isaaks von 1635.742 Zugleich reicht sie weit in die spezifisch jüdische Tradition der Textauslegung hinein. Diese findet ihren Widerhall in der Tsenerene (Ze’enah u-Re’enah), einer in Osteuropa weit verbreiteten, volkstümlichen und mit vielen talmudisch-midraschischen Legenden bestückten Sammlung biblischer Geschichten in jiddischer Sprache speziell für Frauen.743 Chagall dürfte sie von Kindheit an gut bekannt  – und eine nicht zu unterschätzende Inspirationsquelle gewesen sein.

Zwei Biographien im Banne der Bibel: Marc Chagall und Yehoyesh Chagall ist 43 Jahre alt, als er im Jahre 1930 den Auftrag seines Verlegers Vollard annimmt, das Alte Testament zu illustrieren (Liebelt 1985: 137). Der Künstler wendet sich also erst in mittleren Jahren als Illustrator und Radierer dem Gründungstext des jüdischen Volkes zu. Doch gemäß seinen eigenen Worten begleitet ihn die Tora seit langem – und beeindruckt ihn in ihrem poetischen Potenzial: „Depuis ma première jeunesse, j’ai été captivé par la Bible. Il m’a toujours semblé et il me semble encore que c’est la plus grande source de poésie.“ (Chagall 1973: 9) Chagall lernt in Vitebsk und später während seiner Studienaufenthalte in Petersburg die russisch-orthodoxe Ikonentradition kennen, interessiert sich für Bildthemen und -figuren

741 Zu Chagalls Bibelillustrationen s. Rotermund 1970, Chagall 1981 und Rosensaft 1987. Im Unterschied zum intimer gehaltenen ersten Teil entscheidet sich Chagall beim zweiten Teil für eine dramatische Ausgestaltung: „In vielen Blättern bedient er sich des barocken Lichtillusionismus, Figuren und Landschaft werden durch kreisrunde Aureolen, Strahlenkränze und Lichtkegel akzentuiert und strukturiert.“ (Gassen/Holeczek 1985: 264) 742 Das Bild ist im Bestand der Sankt Petersburger Eremitage; Chagall dürfte damit also während seiner Petersburg-Aufenthalte in den 1910er Jahren vertraut geworden sein. Die zweite Fassung von 1936, an deren Erstellung auch Rembrandts Werkstatt beteiligt war, befindet sich in der Alten Pinakothek in München. 743 Der älteste erhaltene Druck stammt von 1622. Zur Tsenerene s. Erik 1979: 209–242, Neuberg 1999, Turniansky 2007 Bd. 21: 491–492 und Aptroot/Gruschka 2010: 72–75; Bei Falk Wiesemann finden sich Abbildungen zur Aqeda aus verschiedenen Tsenerene-Auflagen (2002: 38, 116, 126 und 130); der Isaak auf der Aqeda-Abbildung einer Silberplatte hat Ähnlichkeit mit Chagalls Figur (Wiesemann 2002: 62). Die älteste jüdische Darstellung ist das Bodenmosaik in Beth-Aleph aus dem 6. Jh. (Abb. in: Sed-Rajna 1997: 415).

Yehoyesh, Marc Chagall und Itsik Manger – Genesis 22  | 303 des Neuen Testaments.744 Angeregt wird Chagalls künstlerische Beschäftigung mit der byzantinisch-russisch-orthodoxen Bildtradition durch die Bewegung mir iskusstva (Welt der Kunst; s. Kap. 3), „den einen oder anderen historistisch gesonnenen Lehrer in St. Petersburg, vor allem wohl durch Nikolaj Rerich“ (Liebelt 1985: 137), durch Vrubel’s symbolistische und die primitivistische Auseinandersetzung Michail Larionovs oder Natal’ja Gončarovas mit der Ikone. Sie setzt sich während seines ersten, künstlerisch prägenden Pariser Aufent­ haltes 1910–1914 fort.745 1914 dann malt Chagall in seiner Heimatstadt Vitebsk unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges seine Serie der Judenporträts. In Der Jude in Hellrot (von 1914/15) glüht im Rot und Gelb das apokalyptische Feuer der Vernichtung und streitet mit dem verheißungsvollen „schwarzen Feuer auf weißem Feuer“ der Heiligen Schrift, mit Gen 12, das Chagall in Ausschnitten auf Hebräisch zitiert (s. Kap. 7). Der Jude in Hellrot von 1914/15 ruft den Bund, den Gott mit Abraham schließt, auf. Verheißung von Land und Nachkommenschaft verweist auf Gen 22. Hier wird Abraham auf die Probe gestellt, ob er Gott zuliebe seinen einzigen Sohn Isaak opfern würde. Das Gesicht des Juden ist alt wie die Geschichte seines Volkes. In der Erhabenheit seines Antlitzes ist die spätere Patriarchenfigur des Abraham aus Chagalls Illustrationen zur Tora bereits vorgezeichnet. Bis es hierzu kommt, kehrt die Tora in zahlreichen Bildern, Holzdrucken und Zeich­ nungen Chagalls wieder (s. Kap. 13). Neben die Darstellung der Torarolle, der materiellen Manifestation, der äußeren Hülle von Gottes Wort, tritt Chagalls Innenschau auf Gottes Wort, die Ausgestaltung des Bibelinhalts in Form der Radierungen. Sie sind Ergebnis einer sorgfältigen Lektüre und druckgraphischen Arbeit: Chagall fertigt teilweise bis zu 12 Vari­ anten eines Blattes an (Liebelt 1985: 146). Nach diesem Intermezzo der Gravur stattet Chagall seine biblisch inspirierten Werke mit einem festlichen, emotionalen Farbenspektrum aus. Die Virtuosität des Graphikers Chagall befruchtet die des begnadeten Koloristen und umgekehrt. 1960 wird die Radierfolge zum Alten Testament mit 16 weiteren Farblithographien und 12 monochromen Lithographien in der Zeitschrift Verve ediert (Rosenfeld 1987: 12).746 Neben kolorierten Radierungen, Gouachen, Lithographien, Holzdrucken und Wandbildern fasst Chagall religiöse Motive in Ölbildern, Tapisserien und Keramikplatten (Gassen/Holeczek 1985: 264). Siebzehn 744 Früh malt er die Heilige Familie, Golgotha, Die Auferweckung des Lazarus und byzantinische Madonnentypen „wie die ‚Erbarmende‘ (Eleusa), die ‚Milchspendende‘ (Galaktrophusa) oder die kosmisch zu verstehende ‚Schwangere‘ (Platytera)“ (Liebelt 1985: 137; s. auch ders. 1971: 51–83). 745 Vgl. Hommage à Apollinaire (1911), Adam und Eva (1912), Kain und Abel (1911) und natürlich Golgotha (1908, 1912, 1912–13 [kleine Fassung]. 746 Die Sammlung dieser Lithographien befindet sich heute im Chagall-Museum seiner Geburtsstadt Vitebsk (heute Belarus), das 1991 seine Pforten öffnete. Sie umfasst zwei Serien von Farblithographien, die Chagall 1956 und 1960 für die französische Zeitschrift Verve (Bd. X; Nr. 37 und 38) anfertigt. Mit den Lithographien von 1960 unterteilt er das Alte Testament gleichsam in Sequenzen. In jedem Blatt kommen Sujets aus den Büchern Genesis, Exodus, Könige, Jesaja, Ruth, Esther und Hiob zur Darstellung. Eine maximale Verallgemeinerung der Form und die Reduktion des Details auf ein Minimum erlaubt es Chagall, die handelnden Figuren in Großaufnahme zu zeigen. Gleichzeitig geht die Monumentalität der Form Hand in Hand mit einem festlichen, emotionalen Farbspektrum. Daneben stellen die monochromen Lithographien seine besondere Stärke im Umgang mit Schwarz und Weiß unter Beweis (Chmel’nickaja 2002: 7).

304  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte monumentale alttestamentarische Gemälde, die Chagall ursprünglich der Passionskapelle in Saint-Paul-de-Vence, seinem Alterswohnsitz, zugedacht hat, bilden den Grundstock für das 1973 in Nice eröffnete Musée de message biblique (s. Kap. 10). Isaaks Bindung ist – nun in Öl auf Leinwand – Bestandteil davon (Chagall 1973: 41). An den monumentalen Ölbildern, vor allem jedoch an den Glasfenstern wird eines deutlich: Im Spätwerk Chagalls hat sich die Farbe gegen die Zeichnung durchgesetzt (s. Aaron 2003: 121). Fasziniert von der Leuchtkraft mittelalterlicher Fenster, die Chagall 1952 in Chartres studiert, werden die Glasfenster für ihn zum Medium par excellence für „die Durchsichtigkeit der Farben, die Suche nach dem Licht, das Durchscheinen eines höheren Lichts, die Hinwendung zum Jenseitigen“ (ebd.).747 Chagalls Glas­fenster (zu Gott) synthetisieren Architektur, Farbe und Licht. Chagalls frühe Beschäftigung mit der Ikone, ihrerseits ein Fenster zu Gott, und seine späte Liebe zum Glas bilden den Rahmen für seine facettenreiche Darstellung religiöser Motive. 1872 kommt in Vierzbolavo (heute Virbaln, Litauen) Yehoyesh zur Welt. Im Cheder, der jüdischen Grundschule, lernt er die Tora und das Hebräische kennen – nicht wissend, dass ihn die Beschäftigung mit dem Gründungstext des Judentums bis an sein vorzeitiges Ende 1927 begleiten wird.748 Yehoyesh besucht kurzzeitig eine Jeschiwa. Zugleich wird er mit Autoren der Haskala vertraut. Noch während seiner Zeit im Zarenreich versucht er sich an der Übersetzung des 18. Psalms, die er zu Perets, dem großen Mentor der nachfolgenden jiddischen Schriftstellergeneration, nach Warschau bringt. Perets veröffentlicht sie gemeinsam mit Yehoyeshs hebräischen Versen (Reyzen 1928 Bd. 1: 1245). Auch nach seiner Emigration in die USA 1890 schreibt er hebräische Gedichte. Während eines Sanatorium-Aufenthaltes im Jahre 1904 regt sich in Yehoyesh erstmalig der Gedanke, die Tora ins Jiddische zu übertragen.749 Der Dichter, wie viele andere Schriftstellerkollegen dem Hebräischen und dem Jiddischen verbunden, übersetzt bis 1910 die Bücher Salomo, das Lied der Lieder (Shir ha-shirim) sowie die Bücher Ruth, Hiob und Jesaja. Dann vernichtet er sie wie zuvor seine hebräischen Gedichte  – zu viele „daytshmerizms“ scheinen enthalten.750 Yehoyesh ist ein kritischer Geist, der es sich auch bei seiner Bibelübertragung ins Jiddische nicht leicht machen wird. Im Januar 1914 – der Erste Weltkrieg ist noch in weiter Ferne – emigriert er mit Frau und Tochter nach Palästina, um im Sommer 747 S. hierzu Benjamin Harshavs Deutung der Fenster zu den Zwölf Stämmen Israels in der HadassahSynagoge, die Chagall zwischen 1959 und 1961 anfertigt (2006a: 237–247). 748 Zu Yehoyeshs Biographie s. Reyzen 1928 Bd. 1: 1244–1253, Zuckerman 2007: 337–343 und www. eilatgordinlevitan.com/warsaw/w_pages/warsaw_stories_bloomgarden.html; 5.3.2012. 749 Der an Tuberkulose erkrankte Yehoyesh verbringt sieben Jahre, von 1900 bis 1907, in einem Sanatorium in Denver (Colorado). Nach seiner Heilung unternimmt er 1908 eine ausgedehnte Reise durch die USA. Dann bricht eine kreative Schaffensphase im Dienste seiner Übersetzungsarbeit an, während der er sich auch rege am jüdischen Kulturleben in New York beteiligt und für führende jiddische Tageszeitungen und Zeitschriften schreibt. 750 Rozental, 1950, S. 65, und www.ibiblio.org/pub/academic/languages/yiddish/mendele/tmr02.020; 5.3.2012.

Yehoyesh, Marc Chagall und Itsik Manger – Genesis 22  | 305 1915 wieder nach New York zurückzukehren. Hier arbeitet er bis zu seinem Tod vor allem an einem Text: dem jiddischen Tanach. Als der jiddische Lyriker in den 1920er Jahren nach dem ausführlichen Studium von Septuaginta, aramäischem Targum Onqelos, Vulgata, Peschitta, also der christlichen Übersetzung der hebräischen Bibel ins Syrische, und dem Koran den gesamten Tanach ins Jiddische überträgt, entsteht ein Meisterwerk ersten Ranges.751 Es ist in eine Reihe zu stellen mit der King James Version (1604–1611), der Luther-Übersetzung (1521–1534), der Übertragung ins Deutsche durch den jüdischen Aufklärer Moses Mendelssohn (1780–1783) und derjenigen von Franz Rosenzweig und Martin Buber (1926–1938; Rozental 1950: 128). Als erste wissenschaftliche Tanach-Übersetzung ins Jiddische, in der der Bibeltext und exegetische Metatexte, kanonisierte Fassungen, Varianten und Kommentare zusammenfließen, verdient sie einen Ehrenplatz in der jiddischen Literatur.752 Die Beschäftigung mit den Kommentatoren des Mittelalters wie Ibn Ezra, Rambam (Maimonides) und Ramban (Nachmanides) schärft Yehoyeshs Sensibilität für das ungeheure Bedeutungsspektrum des hebräischen Bibelwortes (Rozental 1950: 68).753 Neben dem wichtigen didaktischen Anspruch der Lesbarkeit will der Dichter auch hohen ästhetischen Ansprüchen genügen. Poetik und Pädagogik zusammenzuführen, ist kein leichtes Unterfangen.754 Yehoyesh schöpft hierfür aus dem reichen Schatz jiddischer idiomatischer Wendungen, aus dem „Khumesh-taytsh“, also früheren Tora-Übertragungen ins Jiddische für den Cheder, dem Vokabular der „Melamdim“, der osteuropäischen Lehrer, – und aus der Tsenerene.755 751 Yehoyesh macht sich überdies mit der jüdischen wie nichtjüdischen Bibelforschung beispielsweise von Karl Marti und Wilhelm Nowack vertraut und integriert neueste Erkenntnisse der Semitistik; dies erklärt die gelegentliche Femdartigkeit der Übersetzung (Rozental 1950: 128). 752 Perets regt 1908 die Übersetzung des Tanach ins Jiddische als wesentlichen Beitrag zur ostjüdischen Kulturrenaissance an; Roskies 1995: 114. Er selbst ist jahrelang damit befasst (s. Perets 1948 Bd. 10). 753 Yehoyesh betätigt sich zeitgleich als Lexikologe: Mit seinem Physiologen aus dem Sanatorium, Karl D. Spivak, bereitet er ein jiddisch-aramäisch-hebräisches Wörterbuch vor, das ca. 4000 Wörter definiert (1911; 2. Auflage 1926, vgl. auch Yehoyesh/Kosover 1949). 754 Yehoyesh schreibt Shmuel Niger, einem der größten Kritiker jiddischer Literatur, am 18.8.1921: „efsher vil ikh iberhoypt shafn a zakh vos iz nisht meglekh. Nit shver iz tsu makhn a sheynem fray ibergezetstn tanakh un nisht zeyer shver iz oystsutaytshn dem tanakh visnshaftlekh genoy loyt di letste forshungen. Ober tsu kombinirn di beyde iz efsher iber mayne koykhes. [...] tsulib dem koved fun undzerer literatur hob ikh gevolt shafn a grintlekhe zakh, a bibl vos zol in ire oystaytshungen shteyn in eyn rang mit di beste un nayste fun ale leshoynes, un tsu der eygener tsayt vil ikh a sheynem tanakh, in a sheynem yidish, vos zol kenen farblaybn der klasisher hoyptshats fun der sphrakh far kumndike doyres. Genoyikayt, sheynkayt un lezevdikayt – di dray vil ikh dergreykhn.“ (Vielleicht will ich etwas Unmögliches schaffen. Es ist nicht schwer, einen schönen, frei übersetzten Tanach zu machen, und es ist nicht schwer, den Tanach den letzten Forschungen gemäß wissenschaftlich genau auszulegen. Aber beides zu kombinieren geht vielleicht über meine Kräfte. [...] zu Ehren unserer Literatur wollte ich eine gründliche Arbeit machen, eine Bibel, die in ihren Interpretationen auf einer Höhe mit den besten und neuesten aller Sprachen steht, und zugleich möchte ich einen schönen Tanach, in einem schönen Jiddisch, das als klassischer Hauptschatz der Sprache für kommende Generationen von Dauer sein soll. Genauigkeit, Schönheit und Lesbarkeit – diese drei will ich erreichen; zit. nach Rozental 1950: 60) 755 Zu den „taytsh-vertern“ (Übersetzungswörtern), die im Cheder zur Erklärung des hebräischen Bibeltextes herangezogen werden s. Aptroot/Gruschka 2010: 39–42.

306  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Der Übersetzer der hebräischen Bibel ist immer auch ihr Exeget, ihr „mefaresh“ (‫)מֿפרש‬. Neben die wortwörtliche, werktreue Übertragung, die später auch Martin Buber und Franz Rosenzweig anstreben werden (vgl. Rosenzweigs „Urbedeutung“), tritt zwangsweise die Paraphrasierung.756 Neben das Bewahren von Bedeutung tritt ihr Verlust. Beim Wechsel vom Hebräischen, der semitischen Sprachfamilie zugehörig, ins Jiddische, einer vornehmlich indoeuropäischen Fusionssprache, bedeutet die Entscheidung für ein Wort eine grundlegende interpretatorische Weichenstellung. Indem Yehoyesh Gen 22, 1 übersetzt mit: „Un es iz geven nokh di dozike gesheenishn, hot got gepruvt Avromen [...]“ (Und es geschah nach diesen Begebnissen, dass Gott Abraham prüfte [...]), entscheidet er sich beim bedeutungsmächtigen hebräischen „dabar“ (‫)רָבָד‬, das „Wort“ und „Ereignis“ zugleich bedeuten kann, für letzteres. Damit fällt der große talmudische Ausdeutungskomplex um die Bedeutung von „dabar“ als „Wort“ aus (s. Mosès 2007: 54f.). Die grundsätzliche Unterscheidung zwischen dem Gott der Strenge („ha-Elohim“) und dem Gott der Liebe – gegossen in das Tetragramm, das nie ausgesprochen werden darf, ist in der jiddischen Übertragung der Bindung Isaaks getilgt: Für beide Seinsweisen verwendet Yehoyesh „got“ (Gott).757 Gelöschte talmudisch-hebräische Spuren werden durch Deutungen kompensiert, die in neuem, jiddischem Gewand erscheinen. Yehoyesh favorisiert in der Übertragung der Textstelle eine – in der Oralität des Jiddischen – begründete Sprache, in der es ‚menschelt‘. Aus dem faszinierend erhabenen, doch distanziert wirkenden Bibelhebräisch wird ein volkstümlicher Ton.758 Gerade deshalb ist Yehoyeshs Bibelübertragung die ideale Vorlage für Chagall. Yehoyeshs Bibelsprache ist einfach und schlicht. Aus dem oralen, eine große Nähe zwischen Mensch und Gott herstellenden Rededuktus ragen hebräischstämmige Wörter wie „mizbeyekh“, der „Opferaltar“, oder Hebraismen wie die Ortsangabe „Moria“ und seine spätere Bezeichnung als „Adonaj-Jire“ (Gen 22, 14; wörtlich: „Gott wird sich sehen lassen“) wie Fremdkörper heraus. Sie erzeugen eine Gott wieder in die Fremdheit des Andersseins zurückwerfende Distanz. Den Duktus des Mündlichen, des Erzählenden zerschlagen sie nicht.

756 Vgl. hierzu Rozental 1950: 62–68. Zur Verdeutschung der hebräischen Bibel s. Martin Bubers Metareflexion, die auch Rosenzweigs Positionen berücksichtigt (1992: 1–44). 757 „Ha-Elohim“, eigentlich ein Plural (wörtl.: die Götter), verweist auf das Attribut der Strenge (hebr.: Midat ha-Din), das Tetragramm auf das der Liebe und der Güte (hebr.: Midat ha-Chessed; Mosès 2007: 57). 758 Er erinnert an Perets’ Folkstimlekhe geshikhtn (Volkstümlichen Geschichten, s. Kap. 6); die Übersetzung ist dabei näher am Deutschen als beispielsweise diejenige von Mendl Lefin Saratover (s. hierzu Gruschka 2007). Auf eine Detailanalyse zu Yehoyeshs Übersetzung von Gen 22 wird hier zugunsten des Vergleichs zwischen Chagall, Rembrandt und Manger verzichtet.

Yehoyesh, Marc Chagall und Itsik Manger – Genesis 22  | 307

Abrahams Prüfung in Marc Chagalls Radierung Die bildende Kunst ist primär ein Medium der Simultaneität (vgl. Lessings Laokoon). Dennoch bleibt durch den Aufbau der Radierung der Kernteil der biblischen Erzählung erhalten. Chagalls Illustration Die Opferung Isaaks (s. Abb. 66) entpuppt sich als bildkünstlerische Narration von Gen 22, 9–13. Diese Sukzessivität des Simultanen wird möglich dank der ‚Leserichtung‘ der Radierung von unten nach oben und – hier ist Chagall ganz jüdisch – in der mittleren Horizontale von rechts nach links: Im unteren Bilddrittel ist Isaak gebunden und auf den Altar gelegt (V. 9); in der Mitte sieht man Abraham, der das Messer zur Tötung bereithält (V. 10) und den Widder, der sich verheddert hat (V. 14); oben erscheint der Engel, der ihn zurückhält (V. 11–13). Abraham steht also nicht nur moralisch, sondern auch kompositorisch ‚im Kreuzfeuer‘: Er hat die Wahl, sich für seinen Sohn und damit gegen Gott zu entscheiden oder umgekehrt. Er steht zwischen Mensch und Gott, zwischen Isaak und dem Engel. Er ist das dunkle Zentrum zwischen dem Weiß der rettenden Gottespräsenz in Gestalt des Engels, die auf Isaak abstrahlt. Die Leserichtung von rechts nach links bringt die Erlösung: Mit der rechten Hand hält er den zu opfernden Sohn, in der linken die vermeintliche Tatwaffe; ganz links leuchtet weiß wie das ursprüngliche Opfer Isaak der Widder auf. Die Vertikale des Tätersubjekts kreuzt sich mit der Horizontalen der Opferobjekte. Der der jüdischen Leserichtung folgende Blick des Betrachters endet beim Tieropfer, das mit der Aqeda das Menschenopfer ablöst. Im direkten Vergleich mit der alttestamentarischen Vorlage fällt bei aller Texttreue eine deutliche Veränderung auf. Sie zieht eine erhebliche semantische und damit theologische Verschiebung nach sich: Anders als im Text ist Abrahams Blick nicht wie in Gen 22, 13 auf den Widder, sondern auf den Engel gerichtet. Hier, im Blick, ist die unmittelbare Begegnung zwischen Mensch und Gott präsent. Trotz der Verschiedenheit des Irdischen und des Himmlischen – im Bild manifest im Kontrast von Hell und Dunkel – ist durch den Blick das Trennende zwischen Himmel und Erde, zwischen Mensch und Gott aufgehoben. Mit Abrahams ‚Gottesschau‘, dem Sehen des Engels, antwortet Chagall auf Gottes Wort, das er im Text an den Erzvater richtet. Chagalls Radierung fungiert als Realisierung von Yehoyeshs Vorlage: Abraham befindet sich auf dem Berg Moria, der an sich schon die hebr. Wurzel „‫“ראה‬: „sehen“ enthält, „oyf dem barg“ (auf dem Berg), wo laut Yehoyesh „JHVH vert gezen“ (Gott geschaut wird).759 Moria wird hier als Visionsort bestätigt.760 Doch geht dies mit einem Perspektivenwechsel im Vergleich zum hebräischen Original einher: Im Bibelhebräischen betont die grammatikalische Form im Imperfekt Nif ’al die Perspektive Gottes: Gott wird sich sehen lassen; Yehoyesh übersetzt – wie auch Buber und Rosenzweig (s. V. 14) – passivisch: „Gott wird gesehen“. Die Passivkonstruktion setzt implizit ein sehendes Subjekt voraus, vertritt also sprachlich die Perspektive des Menschen. In Chagalls Radierung schaut Abraham den

759 Vgl. Gen 22, 14: „Abraham rief den Namen jenes Ortes: ER ersieht.“ (Ü: Buber/Rosenzweig) 760 S. auch R. Wischnitzer-Bernstein 1935: 20–22, Derrida 1993: 396f. und Mosès 2007: 65.

308  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Glanz Gottes in Gestalt des Engels. Ist dieses Schauen vielleicht das ‚Opfer‘ des verborgenen Gottes, das er als Gegenleistung zu Abrahams Opfer erbringt? Diese Änderung der Blickrichtung hat Chagalls Radierung mit Rembrandts Ölgemälde gemein. Dessen Opferung Isaaks von 1635 ist neben Rembrandts Radierungen zur Bibel ein wichtiges Präikon zur Chagall’schen Graphik (s. Abb. 67).761 Weitere Gemeinsamkeiten lassen auf eine intensive Auseinandersetzung Chagalls mit Rembrandts Meisterwerk schließen: In beiden Bildversionen erscheint Abraham als der Protagonist, wenngleich er bei Chagall stärker mit seinem Sohn verschmilzt, aus dem Bildzentrum nach unten rutscht. Die Bindung Abrahams an seinen Sohn Isaak während der Bindung ist bei Chagall ungemein größer als bei Rembrandt. Auch im Einsatz des Lichts, das die handlungstragenden Elemente hervorhebt, und teilweise in der Komposition folgt Chagall Rembrandt. Beide sind Meister der Gestik. Rembrandt verleiht „Leinwand für Leinwand [...] dem isolierten Teil eines Körpers oder einem Ensemble von Körpergliedern eine spezielle Kraft zu erzählen“, so der Kunsthistoriker John Berger (2001: 88). Diese Kraft der erzählenden Hände ist im Falle der Bibelillustrationen auch Chagall eigen.762 Doch finden sich zugleich deutliche ästhetisch-emotionale und semantisch-herme­ neutische Verschiebungen, die Chagalls Intention und seinen – (ost)jüdischen – Hintergrund erkennen lassen: 1. Chagalls Illustration und Rembrandts Vorgängerbild liegen unterschiedliche Zeitkonzeptionen zugrunde. Diese ziehen eine andersartige Emotionalität des Bildthemas nach sich. Rembrandts Darstellung fängt das Geschehen in einer Sekunde höchster Spannung ein. Sie ist von ungeheurer Dramatik, weil sie den einen, entscheidenden Augenblick einfängt, als der Engel die Ermordung des Sohnes verhindert.763 Der Akzent liegt auf der Dramatik der Handlung, zeitlich gesprochen auf der Sekunde zwischen Leben und Tod aus der Perspektive Isaaks, zwischen Gottesgehorsam und Erbarmen mit dem Sohn aus derjenigen Abrahams. Rembrandt erzeugt diese ungeheure emotionale Spannung durch die hochdramatische Sprache der Hände: Abraham verdeckt mit der linken Hand Isaaks Antlitz. Er biegt Isaaks Kopf zurück, so dass dessen Kehle – durch das helle Licht hervorgehoben – dem unmittelbar bevorstehenden tödlichen Stoß dargeboten ist. Dieses in bildkünstlerischen Darstellungen häufige Motiv der auf den Kopf des Sohnes gelegten Hand ist höchst paradox: Es ist zugleich Ausdruck äußerster Brutalität und größter väterlicher Fürsorge, dem Sohn den Anblick des Messers unmittelbar vor der Tat zu ersparen.764 Doch da packt der Engel Abraham mit seiner

761 Die Vorzeichnung ist abgebildet in Dekiert 2004: 56. In Rembrandts Radierung Abrahams Opfer von 1655 steht die Dramatik zugunsten einer anderen Bildaussage zurück: Hier berührt der Engel nicht nur Abraham, sondern auch Isaak (Graphik in Holland 1982: 86–87). 762 Ein beeindruckendes Beispiel hierfür stellt Blatt 11 (Abraham beweint Sarah) dar. 763 Hier besteht eine große Nähe zu Derridas Deutung, der immer wieder den Augenblick betont, in dem Abraham ganz auf sich zurückgeworfen die Tötungsabsicht ausführen will (1993: 392f. und 399). 764 Rembrandt greift in dramatischer Zuspitzung und Umdeutung „eine in der Tora häufiger beschriebene Gebärde des jüdischen Opferrituals“ auf, vgl. Ex 29, 10, Ex 20, 15 und Lev 1, 4; s. http://kirchensite. de/indexphp?myELEMENT=114641, 28.12.2010.

Yehoyesh, Marc Chagall und Itsik Manger – Genesis 22  | 309 Rechten am Arm, die Linke ist Einhalt gebietend erhoben. Vom plötzlichen Einschreiten überrascht, lässt Abraham das Messer fallen.765 Chagalls Illustration kann der Betrachter entspannter entgegentreten, obgleich in seiner Version Abraham die Entscheidung gegen die Tötung noch bevorsteht, während sie bei Rembrandt schon gefallen ist (das Messer fällt): Auf Rembrandts Ästhetik des Augenblicks antwortet Chagalls Ästhetik der Narration. Was dort in actu gleich einer Momentaufnahme inszeniert wird, entfaltet sich hier dank der Sukzessivität des Simultanen in processu. Die Dramatik der Handlung wird durch die Narrativität, den erzählenden Charakter der Radierung zurückgenommen.766 Stärker als die zeitliche Kategorie betont Chagall das Räumliche: Er entfaltet räumlich verschiedene Zeitsequenzen, denen man gemeinsam mit den beiden Leserichtungen, die das Bild anbietet, nämlich der vertikalen Richtung von unten nach oben und der horizontalen von rechts nach links, folgen kann. Dies hat Konsequenzen für den emotionalen Gehalt der Darbietung. Die äußere Handlung kommt weitaus ruhiger daher: Die Körper sind weniger gespannt. Die streng diagonale, dynamische Linienführung Rembrandts ist in Chagalls Abraham-Isaak-Gruppe abgeschwächt: Abrahams aufrechte Haltung und Isaaks Körper in der Horizontalen wirken statisch, fast starr. Das dramatische Pathos der Rembrandt’schen Heroen wird abgelöst vom ruhigen Vertrauen des einfachen Menschen, die Bewegtheit der Körpersprache von der Innerlichkeit der Figuren. Bei Chagall ist es nicht die packende Hand, die physische Präsenz des Engels, die das Wunder der Erlösung bewirkt, sondern allein das metaphysische Erscheinen und Erleben der Lichtgestalt, der sich Abraham erstaunt und vertrauensvoll zugleich zuwendet. Der Einbruch des Göttlichen ist weniger konkret-fleischlich-sinnlich (haptisch) als numinos-mystisch. Es ist nicht die Berührung, sondern allein der Blick, der das innere Drama Abrahams beendet, die Beziehung zwischen Mensch und Gott herstellt. Chagalls Abraham schaut einen Gottesboten, den Rembrandts Abraham körperlich spürt.767 2. In der Gestaltung des zu opfernden Isaak unterscheiden sich Chagall und Rembrandt erheblich: Rembrandt zeigt uns den kräftigen Körper eines Jugendlichen, von links nach rechts zum Vater hingebogen. Im Verein mit seines Vaters Hand, der ihm die Kehle freilegt, dominiert eine Zeichensprache der Gewalt. Ein gewaltiger, waltender Gott – Walter Benjamin spielt in Kritik der Gewalt (1921) mit der etymologischen Nähe dieser Begriffe – gebiert diese. Chagall präsentiert einen knabenhaften Körper. Talmudische Debatten über Isaaks

765 Durch die Berührungen ist die Gestalt Abrahams mit den beiden zentralen Handlungsmomenten verspannt: der Opferung des Sohnes und deren Verhinderung durch den Engel (s. http://kirchensite.de/ indexphp?myELEMENT=114641, 28.12.2010. 766 Hochdramatisch – Gott darf nicht geschaut werden – ist dank der dynamischen Gestik des Engels und Eliasʼ, die jeweils in der Armführung des anderen einen Widerhall findet, die Illustration Die Vision des Elia (Blatt 88). 767 Das Körperliche in Rembrandts Bild und das Erotische, das sich besonders aus der Gespanntheit Isaaks ableitet (und damit auch die Verbindung von Gewalt und Erotik), inspiriert Sutskever zu seinem Gedicht Akeydes Yitskhok (Die Opferung des Isaak) von 1969 aus dem Zyklus Tsaytike penemer (Reife Gesichter; 1970: 150).

310  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Alter, über das sich der Bibeltext ausschweigt, rühren ihn nicht.768 Er malt, angeleitet von der jiddischen Übertragung, ein „yingl“, einen Jungen mit weichen, fast weiblichen Linien. Chagalls Isaak liegt vergleichsweise ruhig auf der Schlachtstatt, ohne die innere Spannung, die Rembrandt durch die angewinkelten Beine und die Körperbiegung erzeugt. Die Beine hängen lose vom geschichteten Holz herab. Isaaks Kopf kommt anders als bei Rembrandt links zu liegen. Die gebogene Linienführung des Körpers führt nicht zu Abraham und der bevorstehenden Gewalttat hin, sondern eher weg. Diese Rembrandt entgegensetzte Figurenkomposition liegt in der ikonographischen Nähe zu Chagalls erster Bibelillustration Die Erschaffung des Menschen (Blatt 1, s. Abb. 68) begründet. Die Konzeption Isaaks in Haltung, Farbe und Zeichnung verweist unmittelbar auf diejenige des ersten Menschen. Der sich selbst gern zitierende Chagall stellt so den einzigen Sohn Abrahams in Relation zum ersten Menschen – der ohne jegliche Motivierung aus dem Originaltext von einem Engel herbeigetragen wird.769 Auch in der Tsenerene wird anlässlich der Opferung Isaaks Adams gedacht: „Avrom hot geboyt a mizbeyekh oyf dem ort, vo Odem horishn hot gemakht a mizbeyekh“ (Abraham errichtete eine Schlachtstatt an dem Ort, an dem der erste Mensch eine gemacht hatte; 1973 Bd. 1: 129–130). Der „odem horishn“ steht für das Menschsein vor der Teilung in Mann und Frau – und erklärt die Androgynie von Chagalls Isaak. Chagall überträgt die Parallele zwischen Abraham und dem ersten Menschen aus der Tsenerene in der Illustration auf diejenige zwischen dem ersten Menschen und Isaak. Beim ungeheuerlichen Thema des Menschenopfers erinnert uns Chagall an die Erschaffung des Menschen: Die ästhetische Identität zwischen Adam und Isaak wendet das höchst ambivalente Gottesbild zum Positiven hin: Gott, der die Opferung Isaaks fordert, ist gerade im Augenblick der Vernichtung seines Ebenbildes  – hier Isaaks  – sein Retter. Das zarte Geschlechtsteil, das sowohl Adam als auch Isaak ziert, ist weniger Altersindiz als dezenter Hinweis auf Gottes Gebot an den Menschen: „Seid fruchtbar und mehret euch!“ (Gen 1, 22 und 28; Gen 9, 1). Fortgesetzt wird dies in Gottes Verheißung der Nachkommenschaft des auserwählten Volkes, in seinem Bund mit Abraham.770 Isaaks Gesicht ist – wie der erste Mensch aus Chagalls Bibelradierung – nicht wie bei Rembrandt verdeckt, sondern dem Betrachter offen zugewandt. Nicht entzogen sind ihm Schmerz, Angst und Entsetzen, mit denen Rembrandts Isaak wohl gezeichnet sein würde. Chagall eröffnet uns ein Kindergesicht, ruhig im Ausdruck, rein in seiner Helligkeit. In der Radierung dominiert eine Mimik der Demut, einer stillen Ergebenheit, nicht die Gestik der Gewalt.

768 In der Tsenerene ist Isaak 37 Jahre alt (1973 Bd. 1: 127). 769 Zum Ursprung der Engelsgestalt in Chagalls Radierung s. Friedman 1983: 260–276. 770 Chagall baut noch eine weitere intertextuelle Referenz ein und stärkt so seine ‚visuelle Theologie‘: Sowohl der Engel als auch der Widder (ohne Hörner!) sind mit einem Strauch verbunden. Mit dem ‚Engel im Busch‘ holt Chagall Gottes Anwesenheit im brennenden Dornbusch vor Moses herein (Ex, 3). Auch in der Berufungsgeschichte des Moses antwortet dieser wie Abraham auf Gottes Ruf: „Hier bin ich!“ (Ex, 4). Ich danke Andreas Angerstorfer für diesen wichtigen Hinweis.

Yehoyesh, Marc Chagall und Itsik Manger – Genesis 22  | 311 Die Darstellung legt nahe, dass Isaak um sein Schicksal, um sein Auserwähltsein weiß, und sich – auf dass die Prüfung Abrahams gelinge – als würdiges Opfer erweisen will. Dies ist eine Deutung, die in der Exegese der Textstelle immer wieder diskutiert wird: Nahrung gibt ihr vor allem Isaaks Schweigen, nachdem Abraham auf dessen Frage nach dem Lamm in Gen 22, 7 „antwortet, ohne zu antworten“ (Derrida 1993: 302). Wiederum stützt auch die Tsenerene diese Lesart. Isaak – jiddisch Yitskhok – weist hier gar seinen Vater an, die Aqeda korrekt auszuführen: „Bind mir mayne hent un fis, kedey ikh zol mikh nisht kenen varfn, ven du vest mikh shekhtn, un zol nisht posl vern di shkhite“ (Binde mir meine Hände und Füße, damit ich mich nicht aufbäumen kann, wenn du mich schächtest, und die Schächtung [rituell] nicht untauglich sein soll; 1973 Bd. 1: 128).771 An Abraham und dem Schlachtmesser vorbei entsteht durch die korrespondierende Gesichtszeichnung Isaaks und des Engels eine eigenständige Verbindung: Je eine Gesichtshälfte liegt im Schatten, die andere ist lichterfüllt. Im Engel ist so die Doppelgesichtigkeit des grausamen und liebenden Gottes vergegenwärtigt. Auch auf Isaak liegt der Abglanz dieser göttlichen Dualität. Zugleich spiegelt es das Drama seiner Situation: Er erwartet die grausame Opferung, die ihm den Tod bringen wird. Zugleich will er ergeben das unterstützen, was ihn vernichten wird. Opfer und Selbstaufopferung fallen bei Isaak in eins. Die Ambivalenz des jüdischen Gottes, mit der Gen 22 die Protagonisten, aber auch den Leser konfrontiert, wird in der Illustration fortgesetzt. Sie spiegelt sich in Isaaks und des Engels Gesicht, aber auch im Antagonismus der Hände Abrahams. Dieser Antagonismus der Hände bezeugt auch die Ambivalenz von Abrahams Gefühlen, hin- und hergerissen zwischen Vaterliebe und Gottestreue.772 Seine linke Hand liegt auf Isaaks Knie. Diese Nähe schaffende Geste des Vaters, dessen, der mit seinem Sohne blutsverwandt ist, steht in scharfem Kontrast zur Distanz schaffenden Geste des Mörders, der das Blut seines Sohnes vergießen wird. Die eine Hand entscheidet sich für den Sohn, die andere für Gott. Erst in der erlösenden Hinwendung zum Göttlichen in Form des Blicks werden die Ambivalenz des jüdischen Gottes und die ambivalente Gotteserfahrung Abrahams aufgelöst. Zwischen den Polen von Gnade und Gewalt(igkeit) schlägt Rembrandt Gott der Gewalt(igkeit), Chagall ihn der Gnade zu. Beide Gottesbilder implizieren die Rettung. Doch gleicht der Wille Gottes bei Chagall weit mehr als bei Rembrandts rationalistisch durchkomponiertem Drama einem Wunder. Hier wird Fügung im doppelten Sinne visuell umgesetzt: als ein „sich fügen“ (Abrahams, Isaaks) und als – göttliche – Fügung (der Engel erscheint). Hinter dieser Akzentuierung des Wunderbaren des Geschehens und der Demut derer, denen das Wunder der Rettung widerfährt, steht die lange Tradition ostjüdischer Lebensund Glaubenserfahrung. Das Wunder als Einbruch des Göttlichen ins Alltägliche ist ein Kernelement chassidischen Glaubens – und ihrer säkular-ästhetischen Transformation, ob sie nun affirmiert (Perets) oder verlacht (Markish) wird. Demut und Gottergebenheit sind 771 Dieses Deutung geht zurück auf Midrasch Genesis Rabba §56, 8. 772 Auch Derrida spricht vom beiderseitigen Opfer Isaaks als auch Abrahams: „[...] es ist das Opfer beider, das dem-Anderen-den-Tod-Geben, indem man sich den Tod gibt, indem man sich abtötet, um Gott diesen Tod zur Opfergabe zu geben [...]“ (1993: 396).

312  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte gerade aufgrund der stets präsenten Gefahr von Verfolgung, Gewalt und Tod im anti­ semitischen Russland, mit der Chagall von Kindheit an konfrontiert wird, eine zutiefst osteuropäische Haltung. Nicht nur aufgrund der physiognomischen – äußeren – Zeichnung Abrahams nimmt Chagall sein Ostjudentum mit in die Illustration herein. Er tut es auch durch die emotionale – innere – Modellierung seiner Gestalten.

Antworten auf Abrahams Prüfung in Bild und Text: Marc Chagall und Itsik Manger Der Abgrund, der sich in Abraham angesichts der schwersten aller Prüfungen auftut, bewegt in der jüdischen wie christlichen Deutungstradition die Gemüter. Große jüdische Gelehrte aus früherer Zeit  – wie Ibn Ezra oder Raschi  – bemühen sich ebenso um Erklärungen. Emmanuel Lévinas versucht dies ebenso wie Jacques Derrida.773 In seinem packenden Essay Donner la mort (Den Tod geben) von 1992 (dt. 1993) entwickelt Derrida in Gefolgschaft von Kierkegaards Furcht und Zittern (1843) seine Sicht auf die ungeheuerliche Prüfung, die Gott Abraham unterzieht. Gott als der ganz Andere („tout autre“), der nicht Greifbare und Unbegreifliche, setzt Abraham einem grässlichen Paradoxon aus: Es äußert sich in einem zweifachen Geheimnis: zum einen „zwischen Gott und Abraham“ – niemand außer den beiden weiß von der Prüfung –, zum anderen „zwischen letzterem und den Seinen“ (Derrida 1993: 386). Abraham schweigt davon Sarah und Isaak gegenüber, dessen Frage nach dem „Lamm zur Darhöhung“ (Gen 22, 8) er unbeantwortet lässt. „Indem er das Geheimnis wahrt, verrät Abraham das Ethische.“ (ebd.) Was aus ethischer Sicht Mord ist, ist aus göttlicher Sicht Pflicht (Derrida 1993: 388). Die ethische Anforderung bindet uns – nach Kierkegaard – an unsere Nächsten. Wir sind verpflichtet, zu ihnen zu sprechen. Doch genau dies tut Abraham nicht. Dadurch begibt er sich in eine grenzenlose Einsamkeit. Er trägt so die Last einer unteilbaren Verantwortung, von der er erst im Augenblick des Tötens erlöst wird, in der schmerzhaften Erfahrung einer absoluten Liebe zu Gott und zum eigenen Sohn (Derrida 1993: 386–387 und 393). Interessanterweise haben Derridas philosophische Überlegungen zu Abrahams Qualen, die er aushalten muss, als er den Seinen gegenüber schweigt, ein literarisches Pendant. Ob Derrida es gekannt hat, ist bei dem Philosophen, der sich in vielen Sprachen bewegt hat, nicht auszuschließen. Der in Czernowitz geborene „Prinz der jiddischen Ballade“ Itsik Manger (1901–1969) veröffentlichte 1935 in Warschau seine Khumesh-lider (Fünfbuchlieder). Mit dem ergänzenden Titel Medresh Itsik (Die Auslegung Itziks) stellt er sich explizit in die Tradition der midraschisch-talmudischen Schriftauslegung. Mit den Mitteln der Poesie schreibt er die Exegese fort. Bibelgeschichte transformiert er in Balladenstoff. So übersetzt er in seinen Gedichten zu den Fünf Büchern Mose ungeniert – und Chagall nicht unähnlich – „die Erzväter und Erzmütter mit Witz und Ironie in volkstümliche Juden eines galizischen schtetls der Jahrhundertwende“ (Gal-Ed 2004: 290).

773 S. hierzu Lévinas 1973: 113 und Derrida 1993: 331–445, bes. 382–408.

Yehoyesh, Marc Chagall und Itsik Manger – Genesis 22  | 313 Die Auseinandersetzung mit der Aqeda darf hier selbstverständlich nicht fehlen. Doch fällt sie im Falle Mangers sehr eigenwillig aus. Ein Blick auf Mangers Gedicht Avrom ovinu sharft dos meser (Abraham unser Vater wetzt das Messer; 2004: 80–83) aus Khumesh-lider fördert eine verblüffende interpretatorische Nähe zu Chagalls Radierung zutage.774 Mangers lyrisches Kleinod ist wie Chagalls Illustration eine bereichernde künstlerische Antwort auf eine schwere theologische Frage. Abrahams Prüfung und nicht etwa die Erschaffung des Menschen bildet den Auftakt von Mangers lyrischer Pentateuch-Deutung. Zwei Gedichte, Di muter Sore hot a shver gemit (Der Mutter Sarah ist schwer ums Herz) und Avrom ovinu sharft dos meser (Abraham unser Vater schärft das Messer), bilden ein Gedichtdiptychon zur Aqeda (Manger 2004: 80–87). Im ersten Gedicht belauscht Sarah, wie eine Träne einen Schatten in der Diele fragt: „Iz take emes, az Avrom / vil makrev zayn mayn kind?“ (Ist’s wirklich wahr, / dass Awrum will opfern sein einziges Kind?; 2004: 80) Es kann dies nur der Schatten von „ha-elohim“ sein, der Abraham gerade die Prüfung aus Gen 22, 1–2 auseinandersetzt. Manger verwendet hier für „Opfer“ nicht den religiösen Begriff der „olah“, der „Darhöhung“ (von hebr.: ‫)עלה‬, sondern eine Form von „‫( “קרב‬karav; hebr.: nahen, sich nähern), von dem sich der weiter gefasste Opferbegriff „korbn“ (jidd.: ‫ )קרבן‬ableitet. Im zweiten Gedicht wechselt in der sechsten von insgesamt neun Strophen die Perspektive von Isaak, dem ganzen Stolz der Mutter, auf Abraham, den Vater und potenziellen Mörder. Die unendliche Bürde des Schweigens seinen Nächsten gegenüber  – Gottes unerhörter Befehl an den Erzvater ist einem Dritten nicht vermittelbar  – verhüllt Manger in der liedhaften Behaglichkeit jambischer Zeilen: [...] Nor vos iz mit Avromtshn haynt? Er zitst in hoyf aleyn un sharft fun zint nokh varemes dos meser oyf a shteyn. S’tsitert im di groe bord un er murmlt modne reyd: „Vilst mir tun a zbitke, got? Iz meyle, ikh bin greyt.“

774 Mangers Gedicht Akeydes Yitskhok (Die Opferung Isaaks) wird an dieser Stelle nicht zum Vergleich herangezogen. Hier werden, wie in Chagalls Gemälde Weiße Kreuzigung (1938), interreligiöse Fragen zum Verhältnis zwischen Judentum und Christentum aufgeworfen. Die Übersetzungen der zitierten Gedichte Mangers stammen von Efrat Gal-Ed (s. Manger 2004). Mit Lyesins Gedicht Die akeyde (Die Bindung), zu dem Chagall eine der Bibelillustration nahe, luftige Illustration erstellt, aus dem Zyklus Iber di tkumes (Über den Untiefen, 1923–1936) ließe sich die intertextuelle Kette jiddischer lyrischer Reflexionen zu Gen 22 fortsetzen (1938 Bd. 3: 195).

314  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte [...] Nur was ist heut mit Avromtshn? Er sitzt im Hof allein Und seit dem Abendbrot er schärft Das Messer auf dem Stein. Es zittert ihm der graue Bart, und er flüstert seltsame Worte: „Willst einen Streich mir spielen, Gott? Na, wenn schon, bin bereit.“ (Manger 2004:84–87)

Einmal ausgesprochen, werden diese Worte nicht doch noch von jemandem Anderem gehört als von Gott, dem vermeintlichen Adressaten? Ist es nur das lyrische Ich, das es an den Leser weitergibt, oder kommt Abrahams seltsame Rede, Mangers fiktive Antwort auf Gottes Prüfung, wie bereits Gottes schrecklicher Befehl aus Gen 22, 2 auch Sarah zu Ohren? Die ‚Erzählperspektive‘ im Gedicht ist ambivalent, keineswegs eindeutig nur dem lyrischen Ich zuzuschlagen – und wen oder was verkörpert das lyrische Ich? Abraham schweigt zwar den anderen gegenüber, doch spricht er, gefangen zwischen Gottesergebenheit und Familie, dem Absoluten und dem Relationalen, zu sich selbst. Sein Selbstgespräch ist zugleich Zwiesprache mit Gott. Dessen Prüfung bezeichnet er reichlich dialektal als „zbitke“, als (üblen) „Streich“. Schwingt darin ein Wissen mit, dass Gott die Erfüllung der Tat, also die Opferung seines Sohnes vielleicht gar nicht einfordert und ihn, Abraham, nur auf die Probe stellen will?775 Der Text liefert mehrere Hinweise dafür: In der Gedichtüberschrift wird Abraham als „Avrom ovinu“, „Abraham unser Vater“, tituliert. Im Gefolge von Sarahs Anrede Gottes als „got fun Avrom, / fun Yitskhok und fun Yankev“ (Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs) aus dem ersten Gedicht des gesamten Zyklus, die auch fester Bestandteil des Gebets ist, mit dem die jüdische Frau den Sabbat beschließt, wird die chronologische Zeit aufgehoben. In der Nennung des Gottes der Erzväter ebenso wie in der Ernennung Abrahams zum Urvater der Judenheit („Avrom ovinu“) ist das Wissen um die Erfüllung der Verheißung artikuliert, bevor die Tat, die genau diese auslöschen würde, auszuführen ist. Mangers Poesie führt Gottes Prüfung ad absurdum. Durch die Anreden an Gottvater und an den von Gott erwählten Vater aller Juden entsteht parallel zum sukzessiven Nacheinander der Handlung, nämlich der Prüfung Abrahams, eine Sinnlinie der Verheißung, die der Narration entgegensteht und sie unterläuft.776 775 Dies ist auch der Kern der midraschischen Analyse der Aqeda durch Lippman Bodoff (1993: 71–92). Zu Elie Wiesels Lesart der Aqeda, die wie die Hiobsgeschichte als Archetypus der Schoa verstanden wird, s. Young 1997: 175–177. 776 Manger steht hier in ganz in der Tradition des biblischen Prätextes: Auch hier stehen sich der Inhalt der Narration (Isaaks Bindung) und die Art der Narration (das Erzählen der Bindung) gegenüber. Stéphane Mosès zeigt dies in seiner narratologisch ausgerichteten Analyse von Gen 22 (2007: 65–72).

Yehoyesh, Marc Chagall und Itsik Manger – Genesis 22  | 315 Chagall und Manger liefern zwei künstlerische Antworten auf Abrahams Prüfung, mit denen sie – sicher zur vollen Zufriedenheit des Schöpfers – am Geheimnis der Aqeda weitermalen beziehungsweise – schreiben: 1.  Abraham ist ein Mann des Dialogs. Dank der ästhetischen Gestaltung Isaaks stellt Chagall einen unmittelbaren Bezug zwischen der Aqeda (Blatt 10) und der Erschaffung des Menschen (Blatt 1) her. Diese Interikonizität korrespondiert mit der innertextuellen Verknüpfung von Genesis 22 mit Genesis 3: Nach der Ursünde antwortet Adam auf Gottes Frage: „Wo bist du?“ durch seinen Entzug: „Deinen Schall habe ich im Garten gehört und fürchtete mich, weil ich nackt bin, und ich versteckte mich.“ (Gen 3,9–10; Ü: Buber/ Rosenzweig). Erst der Erzvater Abraham antwortet Gott auf sein „Wo bist du?“ am Anfang und am Ende der Opfererzählung mit: „Hier bin ich.“ (hebr.: hinneni). Mit Abraham ist ein Mann des Dialogs auf den Plan getreten – und laut Franz Rosenzweig ein wichtiger Schritt im Humanisierungsprozess vollzogen (1988: 196, s. auch Mosès 2007: 70f.). Itsik Manger setzt Abrahams Zwiesprache mit Gott im Gedicht fort. Unmittelbar nach Gottes Aufforderung aus Gen 22, 1–2 und damit vor der Bindung Isaaks zeigt er Abrahams Bereitschaft in Wort und Tat: Die Tatwaffe vorbereitend, nimmt er mit seiner Aussage „ikh bin greyt“ die Herausforderung an. Chagall inszeniert das Dialogische als Durchbrechen des Schweigens im beredten Blick, den Abraham, der Mörder, dem Engel zuwirft, nachdem dieser durch sein Erscheinen die Prüfung beendet hat. 2.  Abraham ist ein Mann der Menschlichkeit. Die hochkomplexe philosophische Ausdeutung der Aqeda eines Kierkegaard, Derrida oder Lévinas kann man einem Bild schwerlich abverlangen.777 Dennoch finden sich in Chagalls Radierung Spuren des tiefen Grabens zwischen Gottestreue und ethischer Pflicht dem Nächsten gegenüber. Eingewoben sind sie in die Ästhetik der Illustration: Die deutlichen Kontraste zwischen Hell und Dunkel, die Chagall durch ausgefeilte Bearbeitungen der Druckplatten erzielt (Liebelt 1985: 146f.), künden davon. Außer der Bildkomposition belegen dies die Bände sprechende Gestik sowie die Ausgestaltung Abrahams. Chagalls Abraham hat wenig mit dem hehren Erzvater eines Rembrandt oder gar der Tora gemein: Er scheint in seiner Einfachheit und Menschlichkeit ebenso dem Schtetl entsprungen wie Mangers „Avromtshl“. So ablehnend sich Chagall Mangers lyrischer Bearbeitung des Pentateuchs gegenüber gezeigt haben mag (s. Gal-Ed 2004: 290, s. auch 316), in der Volkstümlichkeit der Darstellung und in der Inszenierung des inneren Dramas besteht eine tiefe Nähe zwischen ihm und dem Dichter – nicht zuletzt dank der jiddischen Vorlage in Form von Yehoyeshs Übersetzung. Wie Manger nimmt auch Chagall einen Sprung vom Göttlich-Auratischen ins Menschlich-Subjektive vor. Bei aller einenden Vermenschlichung der biblischen Figuren gilt: Was Chagall malt, findet Manger nicht der Erwähnung wert. Die Bindung und Opferung Isaaks existiert bei Manger in der weißen Leere, die sein Gedicht Avrom ovinu sharft dos meser umgibt. Das Weiß um 777 Der tschechisch-deutsch-hebräische Autor Jiří Mordechaj Langer greift ebenfalls Kierkegaard auf. Langer deutet das Nichtausführen des Opferbefehls als eigentliche Opferung Abrahams. Für diesen Hinweis danke ich Kristina Kallert.

316  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte den geschriebenen Text herum bringt den biblischen Prätext zum Schwingen wie Chagalls bewusste Gegenüberstellung von Schwarz und Weiß. Manger ist radikal: Seine Deutung des Zentralereignisses der Aqeda besteht in seiner Auslassung. Als sei die Aqeda eine belanglose Episode, geht er im nächsten Gedicht Avrom ovinu bakumt a brif (Abraham unser Vater bekommt einen Brief) über zu Isaaks Heirat Rebekkas. Die sich darin paarenden Schmetterlinge sind wie Chagalls Isaak-Adam die Träger der biblischen Botschaft: Gott hält seinen Bund, der Abraham Nachkommenschaft verspricht. Diese jiddisch orientierte ‚Motivgeschichte‘ der Opferung Isaaks in Literatur und Malerei wirkt beruhigend. Mangers Gedicht und Chagalls Radierung geben eine eindeutige – und positive – Antwort auf das wohl größte menschliche und theologische Dilemma, das die hebräische Bibel mit der Bindung Isaaks bereithält: Gottes Verheißung erfüllt sich. Die Kraft der Bejahung beruht nicht auf der bloßen inhaltlichen Wiedergabe der Erzählung. Sie entfaltet sich mit voller Wucht in der Form. Verdankt sich dies in Chagalls Radierung vor allem der ikonographischen Nähe zum ersten Blatt Die Erschaffung des Menschen, so ist bei Manger die Metaposition des lyrischen Ich, die mit dem unselbständigen hebräischen Pronomen „nu“ (unser) die Zeit und die Logik der lyrischen Narration aufhebt. Zum Zeitpunkt der Prüfung kann Abraham ja noch nicht der Vater aller Juden sein. Doch bei Manger weiß Abraham – übrigens der erste (weil dialogische) Mensch in Mangers Auslegung, da er den Schöpfungsbericht in seinen Khumesh-lider auslässt – von Anfang an, dass es sich um eine Prüfung handelt. Zwar schärft er sein Messer, um Gottes Befehl nachzukommen, doch spricht die Geborgenheit, die Isaak im Sein erfährt, als seine Mutter ihm zur gleichen Zeit ein Schlaflied singt, Bände: Das Messer, mit dem Abraham seinen Sohn vom Leben trennen soll, ist nichts im Vergleich zur Melodie des Wiegenliedes, die die gesamte Erde, Gottes Schöpfung– und Isaaks Geborgenheit zu umfassen vermag: Un mitn meser in der hant shteyt Avrom un er hert vi s’nemt dos shtile viglid arum di gantse erd. Und mit dem Messer in der Hand Steht Avrom und hört, wie dieses stille Wiegenlied umfängt die ganze Erd. (2004: 86f.)

13  Zwei Leben für die yidishkayt – Yoysef Opatoshu und Marc Chagall

Am 8. November 1928 schreibt Marc Chagall aus Paris an Joseph (jidd: Yoysef ) Opatoshu (1886–1954), der von einer seiner Europareisen nach New York zurückgekehrt ist:778 [Russisch] Dorogoj Opatoshi, ne uspeli Vy uechat’ razseč’ kak Mojsej vodu, perejti kak Christos ee (kak chotite ...) i ja polučal ot Vas bibliju čudnuju čudnogo poėta [Jiddisch] Yehoyesh. [Russisch] Kakoe Vam poslat’ spasibo – sam ne znaju. Ne zabud’te čto ljubja Vas – ja ešče bolee zatrudnjajus’. [Jiddisch] ir zaynt a guter mentsh Opatoshe un dertsu der groyser yidisher shrayber (tsuzamen iz dos zeltn ...) un mikh fardrist vos ikh ze aykh do nit. Mayne „2 froyen“ grisn aykh hertslikh [sic!]. Ayer ergebener Marc Chagall (YIVO, reg. 436, folder 249) [Russisch] Mein lieber Opatoshi, Sie waren gerade weggefahren, spalteten wie Moses das Wasser, gingen wie Christus darüber (wie Sie möchten ...), da erhielt ich von Ihnen die wunderbare Bibel des wunderbaren Dichters [Jiddisch] ­Jehoyesh. [Russisch] Welche Dankesworte ich Ihnen übersenden soll – ich weiß es selbst nicht. Vergessen Sie nicht, dass mir dies, da ich Sie so gern habe, noch schwerer fällt. [Jiddisch] Sie sind ein guter Mensch, Opatoshe,779 und darüber hinaus ein großer jiddischer Autor (beides zusammen ist sehr selten), und mich verdrießt, dass ich Sie hier nicht sehe. Meine ‚zwei Frauen‘ grüßen Sie herzlich. Ihr ergebener [Französisch] Marc Chagall

Dieser Brief des weltberühmten Künstlers an den weit weniger bekannten jiddischen Autor und Kulturschaffenden Yoysef Opatoshu enthüllt in nur wenigen Zeilen Chagalls russischjüdisch-jiddisch-französische Mehrfachidentität (und Chagalls jiddische Schreibschwäche). Im Wechsel der Sprachzeichen vom Kyrillischen zum Jiddischen und dann zur französischen Signatur spiegelt sich seine multikulturelle Künstlerpersönlichkeit. Der Brief erhellt, wie Yehoyeshs jiddischer Tanach in Chagalls Hände gelangt. (Indirekt ist es also auch Opatoshu zu verdanken, dass Chagall seine Bibel-Illustrationen auf der jiddischen Vorlage schuf, s. Kap. 12).780 Zugleich zeigt er – neben Chagalls humorvollem Umgang mit der jüdisch778 Das Kapitel setzt das Nachwort zur Erstübersetzung von Opatoshus A tog in Regnsburg (Ein Tag in Regensburg, 1933) ins Deutsche (Koller 2008: 102–117) und den Katalogbeitrag zur Begleitausstellung Ein Tag im jüdischen Regensburg mit Joseph Opatoshu und Marc Chagall vom 15. Februar bis 14. Juni 2009 (Koller 2009: 11–28) fort. 779 Chagall spricht Opatoshu in vielen Briefen liebevoll als „Opatoshi“ oder wie hier mit dem Vokativ „Opatoshe“ an. 780 Gebeten um eine jiddische Bibel hat er schon früher in seinem jiddischsprachigen Umfeld (s. Wullschlager 2008: 325).

318  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte christlichen Religion – die ungeheure Bedeutung dieses jiddischsprachigen ‚Moses-Christus‘ für Marc Chagall. Chagall lernt Opatoshu wohl während eines Aufenthaltes in Paris 1925 kennen.781 In diesem Jahr hebt die umfangreiche, über achtzig Briefe umfassende Korrespondenz zwischen dem Maler und dem Schriftsteller an.782 Fast drei Jahrzehnte wird Opatoshu Marc Chagalls jüdisches Selbstverständnis entscheidend prägen. Aus Mexiko, von den High Falls (USA), aus Jerusalem, Venedig, Paris oder St. Paul-de-Vence erreichen Chagalls Briefe den in New York ansässigen Autor. Es sind wertvolle Dokumente zweier Leben für die jiddische Literatur, Kunst und Kultur, voll von Überlegungen zum Schicksal der Juden. Während Chagalls Exil in New York treffen sich die beiden häufig. Dorthin flieht Chagall  – auch dank einer eidesstattlichen Erklärung Opatoshus – mit seiner Familie 1941 aus Frankreich vor den Nazis, bis er 1947 zurückkehrt.783 Bella Chagalls Kindheits- und Jugenderinnerungen Brenendike likht (1945) und Di ershte bagegenish (1947) sind fester Bestandteil der jiddischen Literatur. Ohne Opatoshu wären sie vielleicht nie gedruckt worden.784 Auch Marc Chagall begleitet Opatoshu bei dessen literarischer – und künstlerischer Produktion.785 Opatoshu ist für den Maler – wie einst Bal-Makh­ shoves in Russland – der Mittelsmann für jiddische Literatur, aus der Chagall immer wieder Inspiration zu seinen Bildern schöpft. Er versorgt ihn mit Lesestoff, seien es nun eigene Bücher oder die seiner Schriftstellerkollegen. Er spricht Empfehlungen aus und gibt Chagall so manchen Schlüssel zur modernen jiddischen Lyrik und Prosa an die Hand.786 781 Anlässlich eines Treffens zwischen Perets Markish, Oyzer Varshavski und Chagall, bei dem auch Opatoshu anwesend ist, schreiben sie 1925 eine Postkarte an Opatoshus Gattin Adele (Harshav 2004: 333). 1922 reist Yoysef Opatoshu erstmalig seit seiner Emigration 1907 in die USA nach Europa und in sein Geburtsland Polen. Ob und wo es bereits in diesem Jahr zu einer Begegnung kommt, ist unklar. 782 Auch Bella Chagall und Virginia Haggard, die nach Bellas unvermitteltem Tod 1944 Chagalls zweite Frau wird, stehen in regem Briefkontakt mit den Opatoshus. 783 S. Harshav 2004: 477–505. Zu Opatoshus Mithilfe bei Chagalls Flucht s. bes. S. 486. Zu Chagalls New Yorker Exil s. Wullschlager 2008: 395–443. 784 Als Bella Chagall nach langem Zögern und nach unzähligen Aufforderungen seitens ihres Gatten und ihrer Tochter Ida endlich bereit ist, ihre in Jiddisch verfassten Erinnerungen zu veröffentlichen, organisiert man einen literarischen Abend. Bella soll vor dreißig geladenen Gästen – sie alle Autoren des linken wie des rechten Lagers – Auszüge aus ihren Memoiren lesen. Opatoshu führt den Vorsitz bei ihrer schriftstellerischen Feuertaufe. Unbestritten sind die literarischen Qualitäten Bellas, die wie ihr Mann von der russischen zur jiddischen Sprache wechselt. Doch sind die beiden literarischen Parteien zerstritten. Opatoshu kann – bei aller Anerkennung für Bellas Talent – die Kluft zwischen den sozial engagierten linken und den konservativen rechten Autoren nicht überbrücken (s. Rontsh 1967: 31–35). Zu einer Veröffentlichung kommt es glücklicherweise dann doch. 785 Als Opatoshu für eine weitere Ausgabe seiner von ihm veröffentlichten Zamlbikher (Almanache) an Chagall herantritt, sendet ihm dieser 1943 Entwürfe mehrerer bereits veröffentlichter jiddischer Gedichte zu; wie zahlreiche seiner Bilder sind sie seiner Heimat Vitebsk und seinen Eltern zugewandt, vgl. die Gedichte Der foter (Der Vater), Di muter (Die Mutter), Geburtland (Geburtsland) oder Di shtot di vayte (Die weit entfernte Stadt, 1967: 91–94; s. hierzu Kap. 4). 786 1929 bittet Chagall Opatoshu um eine Einschätzung des jiddischen Dichters Lyesin, dessen postume Ausgabe er illustrieren wird (Harshav 2004: 349; s. Kap. 8).

Marc Chagall und Yoysef Opatoshu  | 319 In einer Zeit der wachsenden Bedrohung der jüdischen Kultur – der von Oswald Spengler prophezeite Untergang des Abendlandes nimmt mit Hitlers Putschversuch 1923 seinen Lauf – trägt Opatoshu entscheidend zu Chagalls „yidishkayt“ bei. Beide stehen für eine kulturelle, nicht mehr primär religiös basierte ostjüdische Identität, die wesentlich an die jiddische Sprache gebunden ist und während der Kulturrenaissance zur Blüte gelangt (s. Einleitung).

Dem Jiddischen ein Denkmal setzen: Sprache und Identität Als Yoysef Opatoshu im Jahre 1922 auf dem Weg von Amerika nach Europa nachts an Deck der „Aquitania“ steht, sinnt er über die schwierige Begriffsbestimmung von „yidishkayt“ nach. Seine literarische Darstellung erinnert an den Schöpfungsbericht, doch ist es hier nicht Gottes Geist (hebr.: ruach elohim), der zwischen Himmel und Wasser schwebt, sondern ein Gedanke, von einer Generation der Opatoshus auf die nächste tradiert: Der tate mayner iz mit etlekhe un draysik yor krik geforn mit der driter klas oyfn zelbn yam. Do – inmitn yam – fuftsn hundert mayl fun Nyu-York, fuftsn hundert mayl fun Pariz, hot mayn tate a vorf geton a makhshove, vos er hot ibergenumen beyerushe fun zayn zeydn, fun elterzeydn – vos iz azoyns yidishkayt? Un di makhshove shvebt tsvishn himl un vaser. Far mir iz di makhshove a teyl fun der shif, fun di mentshn, vos oyf der shif, fun di arumike natur-koykhes. Un fun mir redn aroys der tate, der zeyde, doyres, doyres – vos iz yidishkayt? Un vemes yidishkayt? Di neviims? Dem Rambams, tsi Moyshe Hes un Yitskhok Leybush Perets? Un ikh zog – yidishkayt iz dos alts un nokh epes. dos ‚nokh epes‘ iz ober shver tsu definirn. (Opatoshu 1938a: 39f.) Mein Vater fuhr vor mehr als dreißig Jahren mit der dritten Klasse auf demselben Meer. Hier – inmitten des Meeres – fünfzehnhundert Meilen von New York und fünfzehnhundert Meilen von Paris entfernt, gebar mein Vater einen Gedanken, den er als Erbe von seinem Großvater und seinem Urgroßvater übernommen hatte – was ist das, Jüdischkeit? Und der Gedanke schwebt zwischen Himmel und Wasser. Für mich ist dieser Gedanke ein Teil des Schiffes, der Menschen, die sich auf dem Schiff befinden, den uns umgebenden Naturkräften. Und aus mir sprechen der Vater, der Großvater, Generationen und Generationen – was ist Jüdischkeit? Und wessen Jüdischkeit? Die der Propheten? Die Rambams, oder die von Moses Hess und von Yitskhok Leyb Perets? Und ich antworte: all das ist Jüdischkeit – und noch etwas anderes. Doch dieses ‚noch etwas anderes‘ ist schwer zu definieren.

Opatoshu durchmisst mit seiner Begriffsreflexion die tausendjährige Geschichte der Juden. „Yidishkayt“ setzt ein mit Gottes Wort, in dem sich der göttliche Logos inkarniert (1938a: 40). Gottes Wort begründet das Wesen des Judentums als Buchkultur; aus ihm gehen die christliche und moslemische Religion hervor (ebd.).787 Aufgrund der verschieden787 Ähnliche Positionen formuliert er in einem Interview mit Literarishe bleter vom 21. Oktober 1938 (1938b: 640–642).

320  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte artigen Exilsituationen der Juden hat der Begriff unterschiedliche weltanschaulich-kulturelle Ausprägungen erfahren. Dass es hier zu großen innerjüdischen Reibungen kommt, zeigt die Doppelbedeutung des Adjektivs „yidish“: Im Jiddischen bedeutet es sowohl „jüdisch“ als auch „jiddisch“. Das Adjektiv meint die Sprache ebenso wie die Ethnie oder die Religion. Man kann von „yidishkayt“ im weiteren Sinne als „Judentum“ sprechen. Im engeren Sinne meint sie eine in der jiddischen Sprache verankerte, spezifisch ostjüdische Identität. Es kann durchaus eine (unproblematische) Kongruenz der beiden Begriffe geben. Doch ist aber auch eine Inkongruenz möglich: „Jiddischkeit“ ist nicht gleich „Jüdischkeit“. Orthodoxe, dem Hebräischen anhängende Juden können Jiddisch als Sprache und als Identitätsmerkmal nicht akzeptieren. Der in Polen geborene, jiddisch schreibende Ostjude, der 1907 in die USA emigriert, ist sich dieser Komplexität bewusst: An talmudischen Denktraditionen geschult stellt er auf die Frage „Was ist ‚yidishkayt‘?“ die Gegenfrage: Wessen „yidishkayt“ ist gemeint, diejenige der Propheten oder die Rambams, diejenige von Moses Hess oder die von Perets? Mit den Propheten ruft Opatoshu die Jahrtausende alte Geschichte und Religion der Juden auf, Mytheme von Messianismus und Apokalypse. Er evoziert den zweiten Teil des Tanach, die Bücher der Propheten (neviim). Deren warnende und klagende Stimmen an das auserwählte Volk schwingen hier mit, Stimmen wider den Abfall vom Glauben, wider soziale und politische Ungerechtigkeit. Mit Rambam (Akronym für „Rabbi Moses ben Maimon“, 1135–1204), auch Maimonides genannt, erinnert Opatoshu an den großen spanisch-jüdischen Philosophen, Exegeten und Arzt, der, von Aristoteles beeinflusst, in seinem Hauptwerk More Nevuchim (Führer der Ungläubigen) die Geschichte des Judentums in der Synthese von Religion und Philosophie darstellt. Maimonides steht für das Goldene Zeitalter der Juden in Spanien bis zu ihrer Vertreibung 1492 im Zuge der Reconquista.788 Moses Hess (1812–1875) gilt als einer der Väter des Kommunismus – daher sein Spitzname „Kommunistenrabbi“ – und des Zionismus zugleich.789 Mit Yitskhok Leybush Perets fügt Opatoshu dem illustren Kreis einen Hauptvertreter der jiddischen Literatur und Hauptverfechter der auf dem Jiddischen begründeten Kulturautonomie zu Beginn des 20. Jahrhunderts hinzu (s. Einleitung und Kap. 6). Mit dieser verkappt als ,name dropping‘ daherkommenden Diachronie des Begriffs „yidishkayt“ macht Opatoshu auf dessen Historizität aufmerksam. Er steckt so das riesige Bedeutungsspektrum von „yidishkayt“ zwischen Religiösem und Weltlichem, zwischen Zionismus und Jiddischismus ab. Zugleich zeigt er, dass der Begriff der „Jüdischkeit“  – ähnlich der „Kultur“ oder der „Gesellschaft“ – ein Konstrukt ist. (Kinder der Postmoderne wissen um die – notwendige – Brüchigkeit dieser großen Begriffe gerade aus der Zeit des „nation building“.) Ob sich jedoch jiddische Kultur, also – von Opatoshu wie Chagall praktizierte – künstlerische, aber auch lebensweltliche Ausdrucksformen eines mit dem Jiddischen verbundenen Lebens, und Jiddischismus als Ideologie so deutlich voneinander trennen lassen, ist fraglich. Opatoshu wäre 788 Er ist zugleich der Verfasser der Mischne Tora (Wiederholung der Tora). Zu diesem bedeutenden Denker s. Ehrlich 2002: 52–71 und Hayoun 2004: 103–145. 789 Hess wird aufgrund seines national-jüdischen Gedankenguts in seinem Hauptwerk Rom und Jerusalem (1862) zum Vorläufer des Zionismus (Philo-Lexikon 1992: 291).

Marc Chagall und Yoysef Opatoshu  | 321 demnach ein toleranter Jiddischist. Eine künstlerisch gelebte jiddische Jüdischkeit ist für Opatoshu keine Tautologie, sondern eine Lebensaufgabe. Opatoshu ist in allen Organisationen tätig, die sich für die jüdisch-jiddische Kultur einsetzen. Er engagiert sich im Exekutivkomitee des Jiddischen Wissenschaftlichen Instituts YIVO und im Jiddischen Kulturverband IKUF, gegründet 1937 auf dem Ersten Weltkongress für jiddische Kultur in Paris.790 Er ist Mitglied im jiddischen Schriftstellerverband und im jiddischen P.E.N.-Club. Seit ihrer Gründung 1914 arbeitet der polnisch-jüdische Autor auch für die in New York herausgegebene jiddische Tageszeitung Der Tog (Der Tag). In der Alten und Neuen Welt macht er sich für jüngere jiddisch schreibende Autoren stark. Opatoshus Essays, seine Reden und seine umfangreiche Korrespondenz in Jiddisch, Polnisch, Russisch, Deutsch und Englisch mit Schriftstellerkollegen, Historikern, Linguisten und nicht zuletzt mit Marc Chagall zeugen von seinem unermüdlichen Einsatz für das Jiddische und für die jiddische Literatur.791 Als Kulturpolitiker, als Redner und Essayist, vor allem jedoch als Prosaautor ist Opatoshu ein Mentor der jiddischen Jüdischkeit.792 Anders als sein Bruder, der neben jiddischen auch hebräische Verse verfasst, anders als Perets, der viele seiner jiddisch verfassten Texte ins Hebräische übersetzt und umgekehrt, schreibt Opatoshu seine Werke ausschließlich auf Jiddisch. Die Klassiker der jiddischen Literatur, Mendele Moykher-Sforim, Sholem-Aleykhem und Perets, vollenden ihre Karriere, als die neue Schriftstellergeneration – Dovid Bergelson in Russland, Yitskhok Meyer Vaysenberg und Sholem Ash in Polen sowie Dovid Ignatov und Yoysef Opatoshu in Amerika – die literarische Bühne betreten (Krutikov 2001: 1). Neben Ash begründet Opatoshu den jiddischen historischen Roman.793 In Der letster oyfshtand (Der letzte Aufstand, postum erschienen 1955) führt Opatoshu den Leser zurück zu den Ereignissen des Bar-Kochba-Aufstandes unter Kaiser Hadrian im 2. Jahrhundert.794 In zahlreichen Erzählungen schildert er das bewegte Leben der osteuropäischen Juden bis in das 20. Jahrhundert hinein. 790 Der Ershter alveltlekher yidisher kultur-kongres (Erster Weltkongress für Jüdische/Jiddische Kultur) findet vom 17.–21. September 1937 in Paris statt. Unter Beteiligung von mehreren hundert Autoren, Künstlern, Musikern und Wissenschaftlern ist er „an impressive show of force of a waning culture, hovering on the brink of an abyss“ (Harshav 2004: 550). 791 Opatoshu steht in regem Briefkontakt mit dem Literaturhistoriker Maks Erik, dem Sprachwissenschaftler Nokhem Shtif oder dem Historiker und Geschichtsphilosophen Simon Dubnov. 792 1950 wird Opatoshu die bedeutendste US-amerikanische Auszeichnung für jiddische Literatur, der Literaturpreis der 1940 gegründeten Louis Lamed Foundation for the Advancement of Hebrew and Yiddish Literature verliehen – laut Chagall der ‚jiddische‘ Literaturnobelpreis, vgl. sein Gratulationsschreiben vom 24. Dezember 1944 (Harshav 2004: 550). 793 Opatoshu debütiert 1910 mit der Erzählung Oyf yener zayt brik (Auf jener Seite der Brücke), der 1912 der Roman fun a ferd-ganev (Roman eines Pferdediebs) – 1971 verfilmt nach dem Drehbuch seines Sohnes David – folgt. Zu der Zeit gehört er der Anfang des 20. Jahrhunderts sich formierenden jiddischen Literatengruppe Di yunge (Die Jungen) an. Nach einer anfangs stark sozial engagierten Literaturproduktion übt sich diese Schriftstellerverbindung, als deren talentiertester Prosaautor Opatoshu zählt, vor allem in tendenzfreier, impressionistischer Lyrik (s. Dinse/Liptzin 1978: 126–128, Wisse 1976: 265– 276 und Krutikov 2001: 144–146). Zu Opatoshu s. LNYL 1956 Bd. 1: 145–149, Reyzen 1928: 146– 151. 794 Der zweite Teil des zweibändigen Romans liegt auch in deutscher Sprache als Bar Kochba. Der letzte Aufstand (1985) vor, nicht aber der erste, Reb Akiva (Rabbi Akiba, 1948).

322  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Mit Fun Nyu-Yorker geto (Aus dem New Yorker Ghetto, 1914) wendet sich Opatoshu als einer der ersten jiddischen Autoren jüdischen Schicksalen in den USA zu. 1921 erscheint sein Hauptwerk In poylishe velder (In polnischen Wäldern). Hier stellt Opatoshu die „gesamte Vielfalt jüdischen Lebens in der nach-napoleonischen Generation“ (Dinse/Liptzin 1978: 129) in Polen, einschließlich des Verfalls eines traditions­gebundenen chassidischen Hauses, dar. In der historisierenden Darstellung der Juden ist er mit Julian Stryjkowski (vgl. Przybysz z Narbony [Der Fremde aus Narbonne], 1978) oder mit Lion Feuchtwanger – man denke an dessen Jud Süß (1925) – vergleichbar. Zwischen Reb Akiva und den polnischen Juden liegt die wichtige Periode der altjiddischen, im aschkenasischen Raum entstandenen Literatur.795 Auch hier konzeptualisiert er seine Vorstellung einer jiddischen Jüdischkeit.

A tog in Regnsburg (Ein Tag in Regensburg, 1933) – „yidishkayt“ in Text und Bild Opatoshus Muse ist Clio: Die Literarisierung geschichtlicher Ereignisse prägt auch seine Erzählung A tog in Regnsburg (Ein Tag in Regensburg) von 1933.796 Sie steht ganz unter dem Unstern des spätmittelalterlichen Antijudaismus der Stadt: Nach dem plötzlichen Tod Kaiser Maximilians I, der im Falle Regensburgs antijüdische Handlungen rigoros unterbunden hatte, nutzen am 21. Februar 1519 judenfeindliche Kräfte im Stadtrat das Machtvakuum: Binnen weniger Tage müssen knapp 600 Juden, ca. 500 ortsansässige Juden und 80 Talmudschüler, Regensburg verlassen. Das Ghetto wird samt Synagoge und Talmudschule dem Erdboden gleichgemacht, der jüdische Friedhof geschändet und zerstört. Albrecht Altdorfer, als Künstler und Begründer der Donauschule eine Figur von internationalem Rang, hatte in seiner Funktion als Baumeister der Stadt nicht unwesentlichen Anteil daran.797

795 Aschkenas (jidd. ashkenaz) meint zunächst den deutschsprachigen, nordfranzösischen und böhmischen Raum, in dem sich die jiddische Sprache im Mittelalter entwickelt; vom 13./14. Jh. an schließt der Begriff nach großen erzwungenen Migrationen der jüdischen Bevölkerung nach Polen-Litauen auch die mittelost- und osteuropäischen Juden ein (s. hierzu Aptroot/Gruschka 2010: 29–46). 796 Sie erscheint gemeinsam mit vier Prosaskizzen zum Grammatiker und Schriftsteller Elye Bokher (Elia Levita Bachur, 1469–1549) in einer limitierten Luxusausgabe von 100 Stück im New Yorker MalinoVerlag (s. Harshav 2003: 981). Im auf 1930 datierten Manuskript zur Erzählung fehlen das letzte Kapitel, an dessen Ende Flucht und Vertreibung stehen (s. YIVO r. 108, folder 5.10.14). Im Bann der politischen Entwicklungen Deutschlands ergänzt Opatoshu bis in das Jahr 1933 hinein den Text um sein unheilschwangeres Finale. 797 Von den Ritualmordprozessen 1476 an, in denen es aufgrund des Vorwurfs, christliche Kinder um jüdischer Rituale willen getötet zu haben, zu Verfolgungen kommt, ist es mit der friedvollen Koexistenz von Juden und Christen in der Freien Reichsstadt vorbei. Die Vertreibung von 1519 ist aber nicht nur das Ergebnis ideologischer Verirrungen, sondern vor allem Folge des wirtschaftlichen und politischen Niedergangs der Stadt. Zur Geschichte der Juden in Regensburg s. Raphael Straus (1932) und Wittmer (2001). Wesentlich für Opatoshus Kenntnisse um die Regensburger Austreibung dürfte Dubnovs zehnbändige Weltgeschichte des jüdischen Volkes (1925–1929) gewesen sein (s. Dubnow 1927 Bd. 6: 189f., 234–244).

Marc Chagall und Yoysef Opatoshu  | 323 A tog in Regnsburg ist ein Menetekel für die drohende Vernichtung der Juden, mit der die Erzählung an ihrem Ende vom Freudenfest in die historische Tragödie kippt. Denn die Fabel der Erzählung behandelt das Ende der innerjüdischen Fehden zwischen der im Mittelalter renommierten Regensburger und Wormser jüdischen Gemeinde.798 Eine Hochzeit, kühn arrangiert vom Regensburger Magnat Shmuel Belasser, soll der jahrzehntelangen Rivalität zwischen den beiden Gemeinden ein Ende setzen. Der Festakt bringt nicht nur das Leben in der Jeschiwa durcheinander – statt Tora und Talmud zu studieren, üben die Schüler ein Singspiel ein –, sondern zieht wie ein Magnet skurriles Bettlervolk und, von Musik und Gesang begleitet, Prager Spielleute an. Dem Gebot der Mildtätigkeit folgend, werden die erbärmlichen Gotteskreaturen ebenso aufgenommen wie die Prager Spaßmacher. In acht, stark szenischen Kapiteln entfaltet Opatoshu ein komisch-frivoles und buntes Genrebild „der gezamter yidisher freylekher oremkayt“ (der gesamten jüdischen fröhlichen Armut; Freylekh 1951: 91), bevor das letzte Kapitel den Blick auf eine tiefere, politische, die jüdische Identität bedrohende Dimension freigibt. Jossilman Rosheim (1476–1554), in Buch und Wirklichkeit Judenfürsprecher im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, übermittelt das dräuende Unheil der Vertreibung. Aus dem Hoch­ zeitsspiel wird ein Totentanz, entrichtet als Tribut an den judenfreundlichen „Kurfürsten“ – Opatoshu meint den späteren Kaiser Karl V. – für seine schützende Hand. Roza, die Prager Tänzerin und Protagonistin in A tog in Regnsburg, erfüllt, als weißer Todesengel verkleidet, gemeinsam mit ihrem Gefährten und Geliebten Fishl diese traurige Pflicht (s. 1933: 90–94).799 Die Vernichtung jüdischen Lebens in Regensburg ist trotz des Totentanzes unabwendbar, nicht aber die Rettung jüdisch-jiddischer Buchkultur. Gemeinsam mit dem ehemaligen Konkurrenten Leyb setzt Fishl, der Anführer der Prager Spielleute, sein Wanderleben im Dienste der Literatur fort. Weg von Aschkenas ziehen die beiden in den Süden, zu Ehren der großen Gestalten des Pentateuchs, die sie in ihren künftigen jiddisch verfassten Spielen besingen wollen (Opatoshu 1933: 95).800 Damit macht er die jiddische Literatur – die im Vergleich zur hebräischen Schrifttradition auf der Ebene der Erzählzeit (Mittelalter) und der erzählten Zeit kein Schattendasein mehr führt – unsterblich.801

798 Zur jüdischen Gemeinde Regensburgs als Drehscheibe jüdischer Gelehrsamkeit im Mittelalter s. Angerstorfer 2009: 9–26. 799 Das Motiv des Totentanzes (jidd.: „meysim-tants“ oder „toytn-tants“) ist im Text in einer frivolen Trinkszene vorweggenommen (1933: 54; dt. 2008: 48). Zu jiddischen Totentanzliedern s. Erik 1928: 172–174. 800 Mit Leyb könnte Leyb von Regensburg gemeint sein. Er war ein „shrayber“ (Schriftsteller), der religiöse Erbauungsliteratur für Frauen in jiddischer Sprachen verfasste. Leyb von Regensburg erstellt eine – laut Maks Erik – wenig gelungene Kopie des Shmuel-bukh (Shmuel-Buches), einer epischen Dichtung aus dem 16. Jh. (1928: 113). 801 1948, verfasst auf den Trümmern der ostjüdisch-jiddischen Kultur, stellt Opatoshu die jiddische Literatur in eine Reihe mit dem großen jüdischen (=hebräischen) Schrifttum: „Di yidishe literatur iz a vikhtiker teyl fun undzer natsyonaln fermegn, vos vet undz shtendik tsugebn koved, vi der tanakh git undz tsu, vi der talmud, vi di shpanishe goldene epokhe.“ (Die jiddische Literatur ist ein wichtiger Teil unseres nationalen Reichtums, der uns immer zur Ehre gereichen wird, ebenso wie der Tanach, der Talmud und das spanische goldene Zeitalter; S. 32.)

324  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Opatoshus Sensibilität für die historische Wandelbarkeit von „yidishkayt“ speist sich aus vielen Lektüren.802 An der Faktur seiner Texte geht beides, sein (Literatur-)Geschichtsbe­ wusst­sein und die sprachliche Ausformung von „yidishkayt“, nicht spurlos vorüber. In A tog in Regnsburg inszeniert Opatoshu das Jiddische in seiner ganzen ästhetischen Vielfalt. In das Standardjiddisch seiner Zeit schaltet er ältere Sprachstufen und -varietäten. Westjiddisch tritt neben Ostjiddisch, die „klal-shprakh“, also Standardjiddisch, neben lokal gefärbtes polnisches Jiddisch. Opatoshu bewegt sich sprachlich und poetisch oft jenseits gängiger Wörterbucheinträge.803 A tog in Regnsburg ist auf der Inhalts- und auf der Ausdrucksebene eine Hommage an das Jiddische und an die altjiddische Literatur. Durch die vordergründige Handlung hindurch schimmert ein großes Leitmotiv des Textes: die Adelung des Jiddischen als Literatursprache. Opatoshu, ein Schriftsteller mit Gelehrtenstatus, spinnt in A tog in Regnsburg ein dichtes Netz intertextueller Bezüge. Die Talmudstudenten erfreuen sich neben Sentenzen Rabbi Jehudas he-Chassid (des Frommen) auch an Texten nichtreligiöser Natur.804 Sie sind flammende Fürsprecher des Bove-Bukh (Das Buch Bowe), eines Höhepunkts altjiddischer Literatur, das die Abenteuer Prinz Boves und der schönen Druziana schildert. Verfasst wurde es von Elia Levita Bachur (1469–1549), der mit Mendele Moykher-Sforim als Gründervater der jiddischen Literatur genannt werden kann.805 Die Spielleute singen wunderbar deftiges jiddisches Liedgut. Sie rezitieren judendeutsche Werke, die häufig in altdeutschen Sagen wie die Texte um „Widuwilt“, den Helden der jiddischen Version der Artussage, Dietrich von Bern und Meister Hildebrand ihre Vorläufer haben.806 Opatoshus Diktum, „[...] yedes ayngefundevet vort iz a shtik kultur-geshikhte“ (jedes tief verankerte Wort ist ein Stück Kulturgeschichte; 1948: 31), lässt sich kaum besser illustrieren als durch die Erzählung selbst. Die intertextuellen Referenzen und Interferenzen regiert der Gedanke einer interkulturellen Genealogie: So wenig man die moderne jiddische Literatur von der altjiddischen abkoppeln kann, so wenig sind die altdeutsche und die altjiddische Literatur voneinander zu trennen.

802 Sein Bücherschrank war beredtes Zeugnis davon: Neben religiöser hebräischer Literatur findet sich eine Prachtausgabe des von Opatoshu geschätzten Elye Bokher, neben diesem altjiddischen Meister zeitgenössische jiddische Lyrik (Shulman 1933: 750–752). 803 Opatoshu stellt eigens ein Wörterbuch an das Ende von A tog in Regnsburg, in dem er seltene und/oder ältere Begriffe erläutert. In der Tat ist das jiddischsprachige Publikum in Amerika, so Opatoshus Enkel Dan, beim Erscheinen des Buches von der Fremdartigkeit der Sprache teilweise irritiert (Gespräch am 24.3.2009). 804 Rabbi Jehuda lehrt von 1195 bis 1217 in Regensburg; ihm ist wesentlich das mittelalterliche Zentralwerk Sefer Chasidim (Das Buch der Frommen) zuzuschreiben. Auch im Mayse-bukh sind ihm eine Vielzahl von Legenden gewidmet (s. 22004: 406–499). 805 Die Erstveröffentlichung des Bove-bukh wird um 1507 vermutet, der früheste erhaltene Druck stammt von 1541. Eine Hommage an Mendele baut Opatoshu durch dessen mittelalterlichen Doppelgänger in die Erzählung ein, der mit einem Bündel sakraler, aber auch weltlicher Bücher in Regensburg auftaucht, Männlein wie Weiblein zum Lesen verführen will (1933: 40–44). 806 Vgl. Achim Jaegers Studie zum westjiddischen Widuwilt (2000).

Marc Chagall und Yoysef Opatoshu  | 325 1936, drei Jahre nach A tog in Regnsburg, verteidigt Opatoshu auf der Metaebene sein Mameloshn als ideellen Wert (1937: 17–27). Jiddisch und nicht etwa die Sprache des jeweiligen Landes, in dem man wohnt, ist die adäquate Sprache, um das Jude-Sein in die richtige Form zu gießen. Geographie verblasst vor grenzüberschreitendem Geistesleben. Deshalb kann Opatoshu über Aschkenas als Ort jiddischer literarischer Produktion schreiben: „Ashkenaz“ hot oyfgehert tsu zayn a geografisher bagrif, s’iz gevorn an ideyisher, s’iz gevorn „yidishland“. (Opatoshu 1937: 23) „Aschkenas“ hörte auf, ein geographischer Begriff zu sein, es wurde ein ideeller Begriff, es wurde „Jiddisch-Land“.

Opatoshu wertet den geographischen Raum Aschkenas um zu einem kulturellen Raum. Hier haben das Jiddische, seine Literatur und die ideellen Werte, die darin gespeichert sind, Platz und Ausdruck gefunden. Opatoshu imaginiert aus der wechselvollen jiddischen Kultur- und Literaturgeschichte eine Kulturtopographie, in der literarische Denkmäler unterschiedlicher Epochen und Zeiten gleichzeitig existieren. Opatoshus Erzählung A tog in Regnsburg ziert in der New Yorker Ausgabe von 1933 ein Frontispiz von Marc Chagall (s.  Abb. 69).807 Kann auch dies Bild ein Plädoyer für das Jiddische oder gar für „yidishkayt“ sein? Selbst dann, wenn es auf den ersten Blick mit dem Inhalt der Erzählung nichts verbindet? Über die Illustrierarbeit zur jüdischen Bibel hinaus kehrt die Tora als Chagalls Lieblingssymbol für das Judentum in zahlreichen Bildern, Drucken, Gouachen und Zeichnungen wieder. Immer ist sie ein Hort des Trostes, wie im Holzdruck Jude mit Tora (1922/23) oder in der Radierung Mit der Tora über der Stadt (1924–25; Abb. in Kornfeld 1970: 78–79), mit der Chagall an eine Zeichnung zu Perets Der kuntsn-makher anknüpft (s. Kap. 6). Häufig hält sie – wie in der Gouache Jude mit Tora (1925, Abb. in Compton 1990: 102) und natürlich im berühmten Ölbild Einsamkeit (1933)  – eine von Chagalls zahlreichen Judengestalten nachdenklich im Arm. Für Opatoshus historischen, in seiner Monumentalität an Tolstojs Vojna i mir (Krieg und Frieden, 1868/69) erinnernden Roman Der letster oyfshtand setzt er Rabbi Akiva mit Gebetsmantel und Gebetsriemen ins Bild (s. Abb. 70). Ein Schofarhorn in der einen und eine Schriftrolle in der anderen Hand fliegt er majestätisch wie der Prophet Elia in den Himmel.808

807 Nicht allein in der Zeichnung schlagen sich die Bande zwischen Chagall und Opatoshu künstlerisch nieder: 1948 porträtiert Chagall seinen Freund in Croton Falls. 1952 eignet er ihm und dessen Frau Adele ein in Mischtechnik angefertigtes Selbstportrait an der Staffelei mit der jetzt französischen Inschrift „Pour les Opatoshu / amicalement“ zu (Abb. in Koller 2009: 18 und 19). 808 Zum Schofarhorn s. Kap. 8.2, Fußn. 498.

326  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte

Chagall: Illustration für Der letster oyfshtand, 1948. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Dass es sich um den großen Gelehrten und Märtyrer Akiva handelt, geht bereits aus Chagalls Widmung zum ersten Teil von Der letster oyfshtand mit dem Titel Reb Akiva hervor. Chagall schreibt hierzu: „Tsu Opatoshus zekhtsik yor – r’ Akiva – in undzer tsayt fun vidershtand un kdushe.“ (Zu Opatoshus sechzigstem Geburtstag: Reb Akiva in unserer Zeit des Widerstandes und der Heiligkeit.)809 Auch für das Frontispiz zu A tog in Regnsburg greift Chagall auf die Torarolle als Zentralsymbol des Judentums zurück. Anders als in den bisherigen und nachfolgenden Verwendungen erscheint sie hier übermannshoch. Ihr symbolischer, ja existenzieller Wert setzt wie so oft bei Chagall die Verpflichtung realen Proportionen gegenüber außer Kraft. In eine sanfte ländliche Umgebung platziert, ist mit weichen Strichen ein Jude zwischen Welt (das Schtetl) und Glaube (die Tora) eingebettet. Das dichte Schwarz lässt ihn mit der Tora ebenso zu einer Einheit werden wie der ‚weiße Schatten‘, der auf beide fällt, auf den Juden und auf des Juden Heilige Schrift. Die ländliche Kulisse ist – typisch für Chagall – eine Evokation der ostjüdischen Heimat, die ihn mit Opatoshu und das Frontispiz mit 809 Mit „kdushe“ wird ebenfalls ein Teil im Achtzehngebet (Amida; jidd: shimenesre) bezeichnet, der die Heiligkeit von Gottes Namen preist. Chagall setzt bei „kdushe“ die Vokalzeichen dem Jiddischen gemäß unter das Aleph und nicht, wie in der Widmung zu A tog in Regnsburg, in hebräischer Manier unter den vorausgehenden Konsonanten.

Marc Chagall und Yoysef Opatoshu  | 327 einigen Illustrationen zu Gogol’s Mërtvye duši verbindet (vgl. Ill. 1, 3, 40 und 41). Das jeg­ licher Zeit- und Ortsgebundenheit enthobene Wort Gottes bildet die Gegenkraft hierzu. Zugleich ist die Tora in der Umsetzung Chagalls mit den beiden Holzstäben, den „Ezej chajim“ (wörtl.: Lebensbäume), um die man die Schriftrollen wickelt und die aufgrund ihrer hebräischen Bezeichnung mit dem Baum des Lebens in Verbindung stehen, fest in der Erde verankert.810 Aus dem schwarzen Feld sticht der weiße Davidstern heraus. Ihn ziert der Gottesname „‫( “שדי‬schaddaj, von hebr. „‫“שדד‬/„schadad“: gewalttätig sein). Gott, der Gewaltige, ist die Stütze, die in der überlebensgroßen Tora vom Künstler wörtlich genommen wird. Beim Wort nimmt Chagall dadurch auch Yoysef Opatoshu. Zunächst scheint Chagalls Frontispiz mit der Erzählung wenig gemein zu haben. Ob die Zeichnung in Kenntnis von Opatoshus literarischer Vorlage entsteht, ist tatsächlich unklar. Chagall ist in Paris, während Opatoshu in New York an der Erzählung arbeitet: „Ikh vel farzukhn di teg tsu makhn dem yidn far aykh, ayer bukh“ (Ich will versuchen, dieser Tage den Juden für Sie, für Ihr Buch zu machen), schreibt er „Opatoshi“ am 26. Oktober 1931 (YIVO, r. 436, f. 249). Chagall mag den Text nicht gelesen haben; dessen Urheber und dessen in der yidishkayt verankerte geistige Haltung kennt er umso besser. Weiß man um Opatoshus unerschütterliche Überzeugung, Kultur auf den Logos, auf das göttliche wie das „produktive“ menschliche Wort zu bauen, wirkt die Zeichnung zu A tog in Regnsburg wie die ästhetische Umsetzung von Opatoshus Kulturprogramm (vgl. Opatoshu 1938a: 41 und 1938b: 641). Denn obgleich die mächtige Torarolle in ihrem kräftigen Schwarz den Bildaufbau dominiert, wirkt sie keineswegs bedrohlich. Vielmehr bietet die überlebenshohe Tora dem Juden mit den gesenkten Lidern, der mit einer Feder in der Hand in ein Buch schreibt, Schutz. Der Jude schreibt jiddisch (rechts ist ein „Shagal“ zu erkennen) und steht somit exemplarisch für den ostjüdischen Schriftsteller (Opatoshu?). Gottes Wort und das kreative – jiddische – Wort des Menschen, von denen zu reden Opatoshu nicht müde wird, sind nicht voneinander zu trennen. Was der Jude auch schreiben mag, er ist geborgen in der Schrift, geborgen in der Literatur. Dies ist ein hoffnungsvolles Motto, das sich guten Gewissens auch Opatoshus Erzählung voranstellen ließe. Chagall setzt auch in späteren Werken die Aussetzung der Größenverhältnisse fort: Die – französische und jiddisch signierte – Federzeichnung und Gouache Jude, der die Tora auf dem Rücken trägt (1931–1935), eine Collage von 1955 und die späte Radierung Die rote Tora von 1982 folgen derselben Ikonographie (s. Abb. 71 bis 73).811 In der Collage und in der späten Radierung, die das Motiv des an die Tora gelehnten, schreibenden Juden seitenverkehrt aufgreift, platziert Chagall beide Elemente auf einem Huhn oder Hahn. Für die Farbcollage verwendet Chagall seine Zeichnung zu A tog in Regnsburg. Grelles Rot verbindet sie mit dem Hahn, der als Symbol der Sühne eingesetzt wird (s. hierzu Kap. 5). Alle Variationen teilen mit dem Frontispiz zwei zentrale jüdische Gedanken: Die Juden werden aufgrund ihrer ständigen Exilsituation zum Gedächtnisvolk. Auf der Grundlage der Tora als Gründungstext der jüdischen Kultur wird eine Erinnerungskunst entwickelt, die auf 810 Zur Symbolik des „Ez chaim“ s. Wischnitzer-Bernstein 1935: 45–48. 811 Ich danke Wolfgang Maier-Preusker für diesen Hinweis.

328  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte der Trennung von Identität und Territorium beruht.812 Die Bibel wird für die Juden zum „portativen Heimland“ (Heinrich Heine). Im Titel zur Gouache Jude, der die Tora auf dem Rücken trägt klingt dies an. Opatoshu selbst hebt dies in einem Interview mit Literarishe bleter (Literarische Blätter) vom 21. Oktober 1938 hervor: Er sieht in der Hinwendung zum Logos, zum (göttlichen) Wort die für die drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam entscheidende Kulturleistung. Die Juden begründen so eine Kultur der Schrift, eine Kultur des Buches, das sie im Unterschied zu den Ägyptern mit ihren Sphinxen und Pyramiden überall mitnehmen können (1938b: 640–642). Neben dieser den Raum betreffenden Bedeutung birgt die Zeichnung eine weitere Konstante jüdischen Denkens, die zeitliche Dimension betreffend: In jüdischer Vorstellung hat der Mensch die Zukunft im Rücken. Paul Klee thematisiert dies in seinem Angelus Novus (1920) ebenso wie Walter Benjamin in seinen geschichtsphilosophischen Thesen (1980: 697f.). Die Zukunft in Form der göttlichen Verheißung steht in der Tora. Der Jude in Chagalls Frontispiz schreibt – im Wissen um die Vorsehung – für die Zukunft (der chronologischen Zeit) und – wie Opatoshu selbst – an der Unsterblichkeit des Judentums mit.

Buch versus Bild: jiddische yidishkayt in Zeiten ihrer Institutionalisierung Opatoshu und – wenn auch in geringerem Maße – Chagall denken das Jüdische nicht ohne das Jiddische. Doch nicht allein das Ineinander von Jüdischem und Jiddisch in beider Schaffen, auch metatheoretische Reflexionen zur Stellung der Kunst fördern verblüffende Übereinstimmungen des Autors mit dem Maler zutage. Sie berühren tief den Wesenskern der jüdischen Kunst. Wer die Geschichte des YIVO, des Yidishn visnshaftlekhn instituts (Jüdisches/Jiddisches Wissenschaftliches Institut) kennt, versteht Opatoshus unermüdlichen Einsatz für die jiddische Sprache und Literatur.813 Gegründet wird es – noch vor der Hebräischen Universität in Jerusalem (Schreiner 2003: 15) – 1925 in Berlin auf Anregung von Nokhem Shtif.814 Seinen Hauptsitz hat es in Vilnius, dem „Yerusholayim d’Lite“ (Jerusalem Litauens). Weitere Zentren befinden sich in Warschau und Berlin, Zweigstellen in Paris, Buenos Aires und New York. Ein Drittel des YIVO-Bestandes – der Rest fällt während des Zweiten Weltkrieges der Vernichtung anheim – kann auch dank der legendären ‚Papier-Brigade‘, einer Gruppe von zwanzig bis 812 S. hierzu Kap. 2, Fußn. 82. 813 Der Tübinger Hebraist Stephan Schreiner, der sich um die Erforschung des YIVO verdient gemacht hat, übersetzt das inhaltlich treffend mit Wissenschaft des Ostjudentums (2003: 13). 814 Neben Max Weinreich war Simon Dubnov Gründungsmitglied. Ehrenkuratoren waren u. a. Sigmund Freud und Albert Einstein. Das YIVO ist in vier Abteilungen aufgeteilt, in eine historische, eine ökonomisch-statistische, eine psychologische-pädagogische und – als größte Sektion – eine philologischethnologische (Niewöhner 2003: 10). Unmittelbarer Vorläufer ist das 1919 in Kiev von Elye Tsherikover gegründete Ostjüdische Historische Archiv. Es wird im Jahre 1921 nach Berlin transferiert (Bechtel 1999: 248). Sein Hauptziel ist es, die antijüdischen Pogrome zwischen 1917 und 1921 wissenschaftlich zu dokumentieren (Brenner 2000: 213). Das YIVO ist also indirekt ein Kind der Pogromforschung. Zu Nokhem Shtif s. Kap. 8.3.

Marc Chagall und Yoysef Opatoshu  | 329 vierzig jüdischen Zwangsarbeitern, darunter Avrom Sutskever, vor den Nazis und den Vollstreckern der Sowjet-Diktatur nach New York gerettet werden.815 Die Vernichtung des YIVO hätte eine ähnliche Katastrophe bedeutet wie der Verlust der Bibliothek Aby Warburgs. Die Sprache und die Publikationen des Instituts sind Jiddisch. Es ist durch und durch jiddischistisch (s. Estraikh 2004: 111–114). Der Terminus „wissenschaftlich“ unterstreicht die Ernsthaftigkeit dieses akademischen Vorhabens.816 Wie Opatoshu steht auch Chagall, wenngleich sporadisch, mit dem YIVO in Verbindung. Er, der noch während seiner Pariser Jahre zu seinen jiddischen Künstlerkollegen auf Distanz geht, die in La Ruche, dem Bienenstock der künstlerischen Avantgarde, jüdisch-modernistische Kunstprogramme diskutierten, verfolgt von den 1920er Jahren an, vielleicht unter dem Eindruck des russischen Kunstsammlers Ja.F. Kagan-Šabšaj, des Ethnographen und Autors An-Ski (s.  Kap. 6), eigener Museumsideen während seiner Vitebsker Zeit und des 1925 gegründeten YIVO die Idee eines Jüdischen Museums.817 Anlässlich der ersten YIVO-Konferenz, die 1929 in Vilnius stattfindet, schreibt Chagall einen Brief.818 Im Bewusstsein des hohen Stellenwertes, den kulturelle Institutionen für das über alle Herrenländer verstreute jüdische Volk darstellen, setzt er sich für die Einrichtung einer Kunstsektion innerhalb des YIVO ein. Er geht dabei auf das in der jüdischen religiösen Praxis begründete Gefälle zwischen Kunst und Literatur ein: Es gebe eine wissenschaftliche Einrichtung für jiddische Literatur, nicht aber für jüdische Kunst. Es gebe Fachleute für jiddische Literatur (man denke an Maks Erik oder Yisroel Tsinberg). Doch wo sind die Kunsthistoriker zur Erforschung der jüdischen Kunst? Chagall benennt für die jüdische Kunst selbst wie für deren wissenschaftliche Reflexion, für die Objekt- wie für die Metaebene eine Lücke. (Bis heute gibt es am YIVO keine Kunstsektion.) Chagall wiederholt seine Anregung, im YIVO eine Abteilung für Kunst einzubauen, um in diesem wissenschaftlichen Rahmen die (angebliche) Bilderfeindlichkeit des Judentums zu überwinden, anlässlich des zehnten Jahrestages der Gründung des YIVO in Vilnius (Chagall 1967: 115–118; engl. in Harshav 2003: 56–60). Dort wurde zwischenzeitlich tatsächlich ein wenn auch bescheidenes Museum für jüdische Kunst eingerichtet.819 815 Zur Geschichte des YIVO s. Fishman 1996, Brenner 2000: 213–214, Schreiner 2003: 13–23, Bertz 2008: 285–298 und Koller 2010: 178–182. 816 Stefan Zweigs Glückwunschschreiben ans YIVO anlässlich seines 13. Geburtstags, seiner ‚Bar Mizwa‘, ist in Bezug des darin anklingenden Zweifels vielsagend: „Eine wichtige Errungenschaft Ihres Instituts sehe ich darin, dass Sie die jiddische Sprache – anfangs eher eine Nutzsprache, aus der nur etliche große Schriftsteller eine dichterische Sprache gemacht haben – nun auch wissenschaftlich festigen und sie vorbereiten für den Aufbau einer jiddischen geistigen Kultur [...] Ich hoffe nur, dass das Jiddische das beste Mittel ist, die in unterschiedlichen Ländern zerstreuten Juden zusammenzuhalten.“ (zit. nach Schreiner 2003: 14) 817 Bereits während seiner Lehrtätigkeit in Vitebsk hat Chagall, von der Euphorie der Revolution und der rechtlich verbrieften Gleichberechtigung aller Minderheiten erfasst, eine jüdische Sektion für das geplante Kunstmuseum im Auge. Einige Jahre später schlägt er den beiden Zentren der säkularen jüdischen Kultur Tel Aviv und Vilnius ein Kunstmuseum vor (Harshav 2004: 351–352). 818 Englisch in: Harshav 2004: 352–353. 819 Später wird daraus das Kunstmuseum in Palästina. Auf Chagall wirkt es dilettantisch, eklektisch, nicht den didaktischen Ansprüchen genügend, s. Harshav 2003: 55.

330  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Chagall legt bezüglich der Vernachlässigung der Kunst am YIVO erneut den Finger in die Wunde: Es fehle an Theoretikern, Kunstsammlern und Autoren, welche die jüdische Kunst in denselben Rang erhoben hätten wie die Literatur. Vergleichskulturen sind ihm die französische und die russische: Man habe keinen Baudelaire, keinen Théophile Gautier und keinen Apollinaire für die Entwicklung eines spezifischen jüdischen Kunstgeschmacks. Man habe keinen der großen russischen Mäzene wie Morozov, Ščukin oder Djagilev, um jüdische Kunstschätze zusammenzutragen. Anders als in der russischen Kultur gebe es – Yitskhok Leybush Perets ausgenommen  – auch keinen fruchtbaren Dialog zwischen Kunst und Literatur (1967: 116). Chagall stößt dies womöglich auch deshalb so sehr auf, weil Bild und Sprache, Sprachmetapher und ihre visuelle Realisierung bei ihm so eng zusammenhängen: Ven di yidishe poezye, di yidishe literatur volt geven baheft mit andere kunsttsvaygn bikhlal un mit der plastisher kunst bifrat, volt es zi gemakht nokh raykher, volt es farshtarkt ir shvung say in gayst, say in stil. Ven mir nemen lemoshl di rusishe literatur, vi di farbindung Pushkins mit di psevdoklasiker fun zayn epokhe, Gogols mit Aleksander Ivanov, Tolstoys mit di ‚peredvizhnikes‘, Tshekhovs mit Levitanen oder in undzer literatur Perets un zayn fayner khush far dem modernizm fun zayn tsayt, veln mir, bin ikh zikher, oysgefinen, az di dozike farbindung hot ongefilt zeyer literarish shafn mit an intensiver plastisher aktualitet, mit a nayem kval fun ashires, mit a groyser frishkayt. Un derfar iz oykh zeyer shprakh almentshlekh, nit – etnografish, nor in reyn kinstlerishn zin. (ebd.) Wenn die jiddische Poesie, die jiddische Literatur mit anderen Kunstzweigen im Allgemeinen und mit der Kunst im Besonderen verknüpft wäre, wäre sie noch reicher, wäre ihr Schwung sowohl geistig als auch stilistisch noch größer. Wenn wir beispielsweise die russische Literatur heranziehen, so etwa die Verbindung zwischen Puškin und den Pseudoklassikern, zwischen Gogol’ und Alexander Ivanov, zwischen Tolstoj und den „Wandermalern“, zwischen Čechov und Levitan oder in unserer Literatur zwischen Perets und seinem feinem Gespür für die Moderne seiner Zeit, werden wir, da bin ich sicher, feststellen, dass diese Verbindung ihr literarisches Schaffen mit intensiver plastischer Aktualität füllte, mit einem neuen Quell an Reichtum, mit großer Frische. Und deshalb ist ihre Sprache auch universal, nicht ethnographisch, nur im rein künstlerischen Sinne angelegt.

Stellt man Chagalls Äußerungen neben Opatoshus ästhetische Positionen, zeichnet sich ein wunderliches Paradox ab. Dieses zeigt beider Einsatz für eine Jüdischkeit auf, die Jude-Sein und Jiddisch, Ethnie und Sprache, Tradition und Innovation zu integrieren vermag. Opatoshu betreibt in seinen literarischen und essayistischen Texten eine Logosaffirmation (s. o.). Ganz anders Marc Chagall: Seine Rede „pro arte“ am YIVO in Vilnius ist in Teilen auch Logoskritik. Die großartige Kulturleistung der Juden, der Tanach, bedeutet zugleich eine Abwertung der Bilder. Chagall berührt hier den besonderen und den besonders schwierigen Status der Bilder innerhalb der jüdischen, zunächst vorrangig religiös geprägten Kultur: „Lo ta‘ase lekha pesel“ (Du sollst Dir kein Bildnis machen; Ex 20, 4; 1967: 116f.). In Abgrenzung vom heidnischen Bilder- und Götzenkult spricht die jüdische Religion ein Bilderverbot aus, das wenn auch marginal selbst noch in Chagalls künstlerische Entwicklung hereinspielt (s. Kap. 4).

Marc Chagall und Yoysef Opatoshu  | 331 Diese Dominanz des Wortes innerhalb des Judentums, die Kunst im ganz wörtlichen Sinne nur am Rande des Textes zulässt, wird erst nach der jüdischen Aufklärung und während der weltlichen (bisweilen areligiösen) jüdischen Kulturrenaissance an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert aufgebrochen. Die Kunst wird autonom (von ihrer religiösen Funktion). In dieses Umfeld hinein wird Marc Chagall geboren. Die ungeheuren visuellen Leistungen der ostjüdischen Kunst auf der einen und die Wucht des Bilderverbots auf der anderen Seite bewegen ihn zu seiner Kritik am Logozentrismus, einer Kritik, die man vor allem von Jacques Derrida kennt. Chagall tritt hier in einem gewissen Sinne als Vorreiter des iconic turn auf, indem er nach langen Jahren der Vernachlässigung den visuellen Anteil in einzelnen Kulturen betont. Mutig tritt er in seiner Rede von 1935 vor den Vertretern des YIVO für die Gleichstellung von Schrift und Bild ein. Weiß er, dass er in Opatoshu, dem Fürsprecher des (jiddischen) Wortes, einen Mitstreiter hat? Opatoshu sieht – wie auch Chagall (1967: 116) – im Wort die Basis und das (Über-) Lebenselixier für die jüdische Kultur.820 Zugleich plädiert er für die Anerkennung der bildenden Kunst als Bestandteil der jüdischen Kultur: Un s’iz nit emes, az yidishkayt iz in tokh kegn kunst. Di tanoim, vos eyner fun zeyere ikrim iz geven – ‚ir zolt nisht makhn zikh keyn opbild‘ – di zelbe tanoim hobn oykh arayngenumen in tanakh arayn Shir-hashirim, Iev un Koyheles. Zey hobn di dray reyn-kinstlerishe verk kanonizirt. [...] (1938a: 41). Und es ist nicht wahr, dass Jüdischkeit grundsätzlich gegen die Kunst sei. Dieselben Tannaiten [jüdische Gesetzeslehrer, die bis ins 2. Jahrhundert hinein die Mischna verfassten – S. K.], deren Hauptanliegen es unter anderem war: Ihr sollt kein Abbild machen, haben das Lied der Lieder, das Buch Hiob und Kohelet in den Tanach aufgenommen. Sie haben diese drei rein künstlerischen Werke kanonisiert.

Der jiddische Autor schlägt, die Bildlichkeit und Ästhetik des Hohelieds, des Buches Hiobs und Kohelets anführend, also in dieselbe Kerbe wie der ‚jiddische‘ Maler. Soweit zur Metaebene: Opatoshu, der Verfechter des Wortes, unterstützt in Sachen Kunst den Kritiker des Wortes Chagall. Doch auch auf der ‚praktischen‘ Ebene der literarischen bzw. künstlerischen Produktion ergänzen sich Opatoshu und Chagall. Die beiden bilden dank der Tatsache, dass sie jiddisch denken, schreiben, malen, vielleicht jene Autor-Künstler-Verbindung, die Chagall in der russischen Kultur findet, in der jüdischen jedoch vermisst. Chagall ist ein Maler, der Sprache bebildert, dessen Bilder häufig aus dem Jiddischen geboren werden (s. Kap. 5). Opatoshu übersetzt die ungeheuren Möglichkeiten der Bildgenres in Sprache. Ob Panorama, Fresko oder Sittengemälde: Opatoshu ist ein Autor, der Bilder schreibt. 820 Diese Position vertritt er auch nach der Schoa. In Di ideye fun yidish un fun der yidisher literatur (Die Idee des Jiddischen und der jiddischen Literatur) von 1948 sagt er: „yidish und yidishe literatur hobn undz farpantsert fun untergang.“ (Jiddisch und die jiddische Literatur bewahrten uns vor dem Untergang; S. 32).

332  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Bei A tog in Regnsburg – vom großen Kritiker Nakhmen Mayzel als „nay maysterverk“ (neues Meisterwerk; 1933: 255–256) gefeiert – ziehen Rezensenten mehr als einmal den Vergleich mit der Malerei (Freylekh 1951: 96). Einer unter ihnen, Yankev Shatski, fühlt sich bei A tog in Regnsburg an die große holländische Maltradition erinnert: Es iz holendishe zhanr moleray, vu di masn stsenes zaynen fun dem shnit, vos Shordans bilder, un di eyntsike mentshlekhe portretn otemen mit der fleyshikayt fun a Rubens un di froyen geshtaltn mit der getseymter idealizatsye fun Rembrants froyen bilder. (Shatski 1933: 494–495) Es ist holländische Genremalerei, in der die Massenszenen von derselben Stärke sind wie auf Jordaensʼ Bilder und die einzigartigen Menschenporträts die Üppigkeit eines Rubens und die Frauengestalten die zurückhaltende Idealisierung der Rembrandt’schen Frauenbilder atmen.

Opatoshus Erzählung A tog in Regnsburg, die semantische Tiefendimension des Frontispizes und seiner Folgebilder bringt eine große Affinität zwischen Opatoshus Text und Chagalls Bild ans Licht. Sie hat ihren Ursprung nicht allein in Opatoshus Einfluss auf die persönliche und bildkünstlerische yidishkayt Chagalls. Sie fußt auch im Ästhetischen: Auf Chagalls häufige ‚Narrativisierung der Malerei‘ antwortet Opatoshus bild-affine Schreibtechnik. Opatoshu und Chagall tragen gerade in dieser Komplementarität zum Reichtum eines in der jiddischen Sprache begründeten jüdischen Selbstverständnisses bei.

14 „auctoritas“ wider Auschwitz: Marc Chagalls Widmungsgedicht Far di kinstler-kdoyshim (Für die Märtyrerkünstler, 1951)

[...] Mayne yidishe oygn trinken ale farbn. Mayne yidishe oygn, ofene, kukn fun di kvorim aroys un viln nisht shtarben. [...] Meine jüdischen Augen trinken alle Farben. Meine jüdischen Augen, offene, blicken aus den Gräbern heraus und wollen nicht sterben. Rayzl Zhikhlinski, Mayne yidishe oygn (Meine jüdischen Augen, 1947), 2003, S. 242.

In Der Fall Jerusalems (Radierung und Kaltnadel; Abb. 74), einer der letzten Illustrationen für die Bibel, schwebt in einer dramatischen Bildkomposition der Racheengel, die Fackel in der Hand, über dem brennenden Jerusalem. Aus der heiligen Stadt flüchten in einem langen Zug die Juden vor den Truppen Nebukadnezzars, um schließlich den Tod zu finden. Den Gottesboten ausgenommen, visualisiert Chagall textgetreu Jeremias’ Prophezeiung von der Zerstörung Jerusalems (Jeremias 52,1–30).821 Dem sachlichen Ton der Jeremias’schen Chronik der Vernichtung, ungewöhnlich nüchtern nach den Drohreden über die Völker (Jer 46,1–51,64), und der ruhigeren Gestaltung früherer Bibelradierungen antwortet Chagall mit hoher ästhetischer und emotionaler Dramatik. Das in erhobene Hände gekleidete Wehklagen der (in den Tod) Flüchtenden, das schwarze Feuer der Radierung – man fühlt sich an Mandel’štams Oxymoron der „schwarzen Sonne“ erinnert (s. Kap. 7) – und das furchtbare Antlitz des mit den Flammen verschmelzenden Engelskörpers versinnbildlichen eine aus den Fugen geratene Welt. Links vorne im Bild ist, gekrönt noch, doch wie sein Vorgänger Jojakim und der Stamm Juda von Gott verstoßen, König Zidkija zu sehen, rechts unten im Bild (nackte?) Leichen. Die Juden im linken unteren Bildeck wandern in ihren – historisch verbrieften, biblisch bezeugten – Untergang (die Statistik in Jeremias 52,30 nennt 4600 Personen). Die toten Juden im rechten unteren Bildeck lassen die Gedanken des Betrachters weiterwandern in eine – zur Zeit der Entstehung der Radierung und auch sonst – unvorstellbare 821 Als Pendant hierzu illustriert Chagall Jesajas Prophezeiung des Untergangs Babels (Jes 13, 22; Blatt 93; s. Gassen/Holeczek 1985: 264).

334  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Zukunft: Sie präfigurieren Berge nackter Leichen. Anders als der Geruch von Gas und verbranntem Menschenfleisch sind diese photographisch gebannten Zeugnisse der Schoa keiner Verflüchtigung (und damit auch keinem Zweifel) unterworfen.822 Mit dem Linolschnitt Pour la Tchécoslovaquie (1939; s. Abb. 75) reagiert Chagall in seltener Deutlichkeit auf das politische Tagesgeschehen. Am 1. Oktober 1938 rücken deutsche Truppen in das Sudetengebiet ein. Am 15. März 1939 verkündet Hitler auf dem Prager Hradschin die Errichtung des Reichsprotektorats Böhmen und Mähren unter Konstantin Freiherr von Neurath (Iggers 2004: 794f.). Tomáš Garigue Masaryks Traum vom friedlichen Zusammenleben der Tschechen und der Slowaken in einer autonomen Republik (nach fast vierhundert Jahren habsburgischer Fremdherrschaft) kippt in ein nationales Trauma, das im Münchner Abkommen vom 29./30.9.1938 seinen Anfang nimmt.823 Gerade dadurch, dass Chagall im schwarzen Bildraum seiner Unfähigkeit Ausdruck verleiht, sein Entsetzen in eine künstlerische Darstellung zu fassen, überwindet er sie: Nicht das (fast leere) Binnenbild wird zum Träger der Botschaft, sondern das ganze Bild, das Chagalls Versuch einer künstlerischen Reaktion auf die Geschichte (oder sein Scheitern) zeigt. Der Maler schwebt als Silhouette vor einer Staffelei; das Instrument seines Schaffens, der Pinsel, berührt die fiktive Leinwand, nicht aber Chagalls Blick.824 Der ist nach oben gewandt, auf den Bildraum jenseits der Binnen­ leinwand. Umgeben von einer Gedankenwolke, mit der Chagall die  – aufgebrochenen  – Gebietsgrenzen der ČSR wiederholt, verweisen die lateinischen Majuskeln „TCHE“ und „SL“ in ihrer unvollständigen Semantik und brüchigen Ästhetik auf den sich aufgelöst habenden Staat. Sie sind Spuren einer Staatsbezeichnung ohne realen (Geschichts-)Raum. Die geo­gra­ 822 Im Folgenden wird – Originalzitate ausgenommen – der in den 1950er Jahren in Israel aufgekommene Begriff der „Schoa“ verwendet, vgl. Young (1997: 141–146), Agamben (2003: 25–29) und Mosès 2008: 167f. James E. Young und Giorgio Agamben warnen vor der Auratisierung der Judenvernichtung durch den sakral geprägten Begriff „Holocaust“. Schoa ist im Unterschied zur wesentlich christlichen Bedeutungsgeschichte von „Holocaust“ der jüdischen Vorstellungen entspringende und daher adäquate Begriff. Young diskutiert den Begriff auch unter Berücksichtigung der bereits bei Jesaja und Zefanja verwendeten „shoa“ und des hebräischen „khurban“ beziehungsweise des jiddischen „khurbn“ (Zerstörung; s. hierzu Kap. 8.4). Der 2009 verstorbene jüdische Denker Stéphane Mosès, der den Begriff „Holocaust“ als „étiquette“ (2008: 167) ablehnt, erinnert an die Verwendung des Begriffs „Schoa“ in der Bibel im Sinne von „Sturm“, „Gewitter“ und „Verwüstung“: „Il est normal qu’un évènement de cet ordre-là – qui devait effacer toute possibilité d’avenir au peuple juif, l’éliminer de l’avenir même de l’humanité – soit désigné par un terme qui provient de la seule réponse collective que le judaïsme ait pu donner à ce qui est arrivé.“ (2008: 168) 823 Im Münchner Abkommen beschließen Chamberlain, Daladier, Mussolini und Hitler die Abtretung der deutschsprachigen Randgebiete der Tschechoslowakischen Republik (ČSR). Die ČSR, die sich von England und Frankreich verraten fühlt und keine Gegenwehr leisten kann, verknüpft das Münchner Abkommen mit dem „temno“ (wörtl.: Dunkel) als weiterem nationalen Trauma: In der Schlacht am Weißen Berg 1620 besiegen die Truppen des erzkatholischen Kaisers Ferdinand II. diejenigen des „Winterkönigs“ Friedrich V. von der Pfalz. Damit ist in Böhmen die Gegenreformation, die Unterdrückung des (protestantischen) tschechischen Adels und Volkes und erneut die habsburgische Fremdherrschaft eingeleitet (Williams 1997: 132–140). 824 Mit dem Inventar des von Chagall häufig praktizierten Autoportraits (s. Kap. 4 und 5) projiziert er hier sowohl seine Introspektion als auch die Deutung geschichtlicher Ereignisse in die Graphik. Wieder bedient er sich der Trias von Welt (Wirklichkeit), Malerei und Ich.

Marc Chagalls Poetisierung der Schoa  | 335 phische Silhouette des einst souveränen tschechoslowakischen Staatenraums schwebt als Menetekel des drohenden Unheils im Bild über dem Maler, in Wirklichkeit über Europa. Den Krieg hat Chagall in der Folge mit seinem individuellen Motivinventar ins Bild übersetzt (erinnert sei hier lediglich an Die gelbe Kreuzigung und Die Obsession, beide von 1943, vor allem aber an Der Krieg von 1964–1966). Zum Arsenal seiner Kriegsbilder zählen das brennende Schtetl (Vitebsk), ein Leiterwagen, der Ewige Jude mit Bart und Schildmütze, eine der russisch-orthodoxen Ikonentradition und der Renaissance geschuldete Mutter-KindDarstellung, tanachisch im Hagar-Motiv vorgeformt, sowie die Figur des in seinem Jude-Sein betonten Christus am Kreuz.825 Sie alle sind Chagalls Chiffren für die untergegangene ostjüdische Welt. Seine in Reaktion auf die Reichspogromnacht und vorausgehende Übergriffe entstandene Weiße Kreuzigung von 1938 ist eines der ersten (und berühmtesten) Bilder aus einer Serie, mit der er auf die antisemitische Gefahr in Europa reagiert.826 Nicht Hiob oder Isaak, sondern Jesus Christus wählt Chagall als Archetypus für die Judenvernichtung. In jüdischen Kreisen wird das kontrovers diskutiert.827 Neben seiner Doppelfunktion als Identifikationsfigur für Marc Chagall und in späteren Jahren als (überstrapazierte) Chiffre für jüdisches Leid übernimmt die Christus-Gestalt in seiner Kunst eine wichtige Vermittlerrolle.828 Ähnlich der den Madonnentypus aufrufenden Mutter-KindFigur soll sie dem christlichen Rezipienten die tödliche Bedrohung und das Martyrium der Juden nahebringen.829 825 Den jüdisch-christlichen Christus, der im Tallit ans Kreuz genagelt ist, wählt Chagall unter dem Eindruck von Pogromen im Jahre 1908 (Amishai-Maisels 2004: 125). Auch der symbolistische ChristusKult in Russland dürfte hier eine Rolle gespielt haben. 826 Kampf 1990: 84, Amishai-Maisels 1993: 182f. und 2004: 128. Die heraufziehende Katastrophe bearbeitet Chagall – zehn Jahre vor seiner berühmten Einsamkeit – bereits 1923, als er den erst 1947 vollendeten und in mehreren Ausführungen entworfenen Engelssturz in Angriff nimmt (Kampf 1990: 84, Amishai-Maisels 2004: 124–126). Das einzig statische und vertikale Objekt in der bewegten Komposition der Weißen Kreuzigung ist die Menora. Den Kerzenschein dieses jüdischen Zentralsymbols spiegelt er im Heiligenschein, der das Haupt Christi umgibt (Kampf 1990: 86). Die Protobilder zur Weißen Kreuzigung sind Chagalls Golgotha (1912) und Vision der Kreuzigung (1930), das in Reaktion auf antisemitische Ausschreitungen im Frühjahr 1930 entsteht. Chagall wird während eines Berlin-Besuchs deren Zeuge (Amishai-Maisels 2004: 126). Zur Weißen Kreuzigung s. auch Roskies 1985: 284–286, Hille 2005: 193–203, zu seinen Christus-Bildern im Kontext der Schoa s. Harshav 2006a: 213–235. Chagall entfaltet in Die Weiße Kreuzigung um das Bildzentrum herum wie in der Ikone Narreme. Statt der christlichen Heiligenvita ist es hier jedoch die Judenverfolgung. Damit ist ein interikonisches Band zu Ribaks Pogromserie und besonders zum Blatt Fünf geknüpft, das zwei an einen Pfosten genagelte Juden – im Tallit – zeigt. 827 Wilson 2007: 140; Harshav 2004: 330. Zahlreiche andere jüdische Künstler wie beispielsweise Emmanuel Mané-Katz, Graham Sutherland oder Abraham Rattner setzen die Jesus-Gestalt als Symbol für die Schoa ein (s. Amishai-Maisels 1993: 178–197). 828 Neben Chagalls früher Auto-Identifikation mit Christus, die er mit den russischen Symbolisten teilt (s. Kap. 3), haben mehrere Christus-Texte aus den 1920er und 1930er Jahren Einfluss auf Chagalls Jesus-Juden am Kreuz, so Max Hunterbergs The Crucified Jew (1927), Edmond Flegs Jesus, raconté par le Juif errant (1933) und Joseph Bonsirvens Les Juifs et Jésus (1937; s. Amishai-Maisels 2004: 182f.). 829 Amishai-Maisels 1993: 183. Zur Mutter-Kind-Figur, die die Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten aufruft, nachdem in der jüdischen Tradition Moses die Juden aus Ägypten herausgeführt hat, s. Ami­ shai-Maisels 1993: 24 und 2004: 129–131.

336  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Im Kontext anderer Künstler, die sich – als Lagerhäftlinge wie Boris Taslitzky, Arik Brauer und der 1944 umgekommene Felix Nussbaum oder als dem KZ glücklich Entronnene wie Jankel Adler, Jacques Lipchitz oder eben Chagall  – mit der Schoa auseinandersetzen, schreibt der Kunsthistoriker Avram Kampf:830 „[...] Chagall expressed, by symbols deeply embedded in the art of the Christian West, the tragic events of the Holocaust and some aspects of its profound religious and historical dimensions.“ (Kampf 1990: 87) Kampfs Hinweis auf die komplexe interreligiöse Verwobenheit von Chagalls Symbolik und teilweise auch Ästhetik ist uneingeschränkt zuzustimmen. (Wieder tritt der synthetisierende Kern seiner Kunst in Erscheinung.) Doch handelt es sich allein um visuelle Repräsentationen der Schoa? Oder stellen sie eher die (universale) Realität des Krieges dar? Beides ist zu bejahen. Beides ist gleich schwer zu beantworten.831 Welches Bild(motiv) der Schoa-Malerei zuzurechnen ist, lässt sich ebenso schwer eindeutig bestimmen wie die Frage, welcher Text (im engeren oder weiteren Sinne) als SchoaText gewertet wird. Die Definitionstoleranz der Kunst- oder Literaturgeschichtsschreibung der Frage gegenüber, welches bild- bzw. wortkünstlerische Artefakt die Schoa-Thematik aufgreift, bestimmt deren Umfang.832 Entscheidend ist die sprachliche Verfasstheit von Texten zur Schoa, ihre Poetik. Entscheidend ist im Gefolge von Edward James Young angesichts der Einzigartigkeit der historischen Tragödie jedoch auch die „Förderung eines kritischen Bewusstseins von der Sprache der Kritik und den Modellen, mit deren Hilfe wir sowohl die tatsächlichen historischen Ereignisse als auch deren Darstellung in den Texten der Schriftsteller interpretieren“ (1997: 295).833 830 Felix Nussbaum wurde 1944 mit seiner Frau Felka Plated nach Auschwitz deportiert. Arik Brauer (geb. 1929) überlebt das KZ. Er malt häufig kindliche Phantasien und Paradiesvorstellungen in der Tradition des Wiener Phantastischen Realismus. Auch Maryan S. Maryan, der verzerrte Mensch-Tier-Hybride malt, durchlebt als Kind ebenso wie Samuel Bak, ein tief philosophischer Maler, die Lagerhölle. Der Bildhauer Jacques Lipchitz, dessen David von 1933 in David und Goliath einen Goliath mit eingraviertem Hakenkreuz stranguliert, verlässt im selben Jahr wie Chagall Paris und emigriert 1941 in die USA (s. Kampf 1990: 94–105). 831 Die Dialektik von Jüdisch-Partikularem und Allgemeinmenschlich-Universalem spielt bereits bei Chagalls Juden in Rot, entstanden zu Beginn des Ersten Weltkrieges, eine Rolle (s. Kap. 7). 832 James E. Young unterscheidet fünf Kategorien der Schoa-Literatur: 1. während der Schoa verfasste Texte, 2. solche, die danach entstehen, 3. Schoa-Texte als Teil einer allgemeineren „Literatur der Gräuel“, 4. jüdische Reaktionen auf die Schoa oder 5. „etwas ganz Eigenständiges, keinem Kontinuum Zugehöriges“ (1997: 295). Diese Kategorien sind auch auf Werke der bildenden Kunst übertragbar. Unter dem Gesichtspunkt der Zeugenschaft wird es besonders kompliziert, den Status der Schoa-Texte zu klassifizieren. Hier wird die PseudoObjektivität der Historiographie oft nicht erkannt oder die Authentizität des während der Schoa Erlebten in fiktionalen Texten in Zweifel gezogen. Exemplarisch sei hier auf die Diskussionen in Dresden (1997), Young (1997) und Agamben (2003) verwiesen. Ziva Amishai-Maisel stellt sich bezüglich der bildkünstlerischen Auseinandersetzung mit der Schoa die Frage, auf welche Weise sie im Spannungsfeld von objektiver Beschreibung und subjektiver Interpretation visualisiert werden kann (zu Chagall s. v. a. 1993: 19–25 und 182–185). Andere wichtige Medien wie Theater und Film sind in der vorliegenden Betrachtung ausgespart. 833 Young bezieht sich hier auf Derridas Essay Weiße Mythologie (1988: 205–258). Derrida warnt hier generell vor der ‚Metaphernfalle‘. Die Projektion von sprachlich (und eben metaphorisch) erfassten Erkenntnissen auf Texte ist unter Umständen schwer zu unterscheiden von denjenigen Schlussfolgerungen, die man tatsächlich aus einem Text ableitet (Young 1997: 295f.). Young plädiert im Zusammenhang mit Schoa-Texten für Bedeutungsvielfalt und den ethischen Imperativ, dass Deutungen dieser Texte „Leben ermöglichen“ (1997: 298).

Marc Chagalls Poetisierung der Schoa  | 337 Chagall operiert in Bildern, die den Zweiten Weltkrieg (und die Schoa) thematisieren, vornehmlich mit Motiven, die ihren Ursprung im Ersten Weltkrieg, in Vertreibung und Pogromen haben. Sein Unbewusstes spült verdrängte Bilder von Flüchtlingsmassen und in Flammen aufgehenden jüdischen Häusern an die Oberfläche, die er damals, 1914 bis 1918, nicht in seine Kriegsbilder aufnimmt (s. Kap. 7). Unter den realen Gegenstücken zu seinen Kriegsboten und -verwundeten ereignen sich in dieser Zeit Horrorszenarien der Zerstörung, deren visuelle Aufarbeitung er – zeitlich verzögert und in großer räumlicher Distanz zur Heimat – mit derjenigen zum Zweiten Weltkrieg und zur Schoa verquickt.834 Der Archetypus des Ewigen Juden oder Frauen auf der Flucht, die Chagall realiter oder künstlerisch durch die Pogrombilder Maurycy Minkowskis oder Samuel Hirszenbergs prägen und via die Literatur Dovid Hofshteyns und Lyesins in seine Illustrationen eingehen, kehren in Chagalls Werken zum Zweiten Weltkrieg wieder.835 Die Leiter, die in Chagalls Illustration zu Walts den Jakobstraum evozierendem Al teyre avdi Yankev (Fürchte nicht meinen Diener Jakob, 1938 Bd. 2: 285f.) Engel emporsteigen, findet sich auch in der Weißen Kreuzigung.836 Der Leiterwagen aus der ersten Illustration zu Hofshteyns Troyer steht auch in Der Krieg für den Weg ins Ungewisse. Der Gekreuzigte in Der Märtyrer (1940–1941) ist in seinem Jude-Sein noch zusätzlich symbolisch aufgeladen, kennt man Liliens Widmungsbild für die Opfer von Kišinëv (Amishai-Maisels 1993: 183; s. Kap. 8.4). Die Motivwahl mag in Bezug auf die Lagerrealität inadäquat sein, nicht aber in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg und die dem Lager vorausgehende Vertreibung. Die ikonographische Kontinuität zwischen Chagalls Bildern zum Ersten und zum Zweiten Weltkrieg spiegelt die historische Kontinuität der Judenvernichtung wider. Deren Kulmination Auschwitz kann oder will Chagall visuell nicht begegnen. Das Konzentrationslager, die Rampe oder die Gleise, die ins Lager führen, sind diejenigen Darstellungs- und Bewältigungsversuche, die literarisch und visuell – vor allem in der Photographie – den „Mythos Auschwitz“ (Imre Kertész) begründen.837 Diese (für die Repräsentation und Erklärung der Schoa zentralen) Archetypen gehen in Chagalls Ikonographie nicht 834 Chagall, der nie richtig Englisch lernt, rezipiert wohl die jüdische Presse, vgl. Chagalls Brief an Opatoshu vom 29.7.1941 (Harshav 2004: 512f.). 835 Womöglich nehmen osteuropäische Schtetl-Juden in der Tat die Deportationen und Vernichtung jüdischen Lebens während der Schoa „zunächst noch als niederträchtigen, aber vergleichsweise begrenzten Pogrom wahr“ (Young 1997: 154). 836 S. auch Amishai-Maisels 1993: 21. Das Gedicht entstammt dem Zyklus Fun undzere blutike teg (Aus unseren blutigen Tagen, 1938 Bd. 2: 283–324). 837 S. Kertész 2003: 42–52. Mediale Hauptträger der Informationen zur Auslöschung der Juden in den Gaskammern ist die Kriegsberichterstattung und -photographie. (s. Bredekamp 2004: 55), vgl. die Photographie von Lee Miller vom 30.4.1945 Aussortierung (Rampe in Auschwitz; Klarsfeld o. J.) oder Stanisław Muchas Photo-Ikone 1942. Tatort Auschwitz, das das Tor von Auschwitz und die Gleise, die darauf zuführen, im Schnee zeigt. Horst Bredekamp schreibt hierzu: „Es trieb den industrialisierten Massenmord dadurch auf eine symbolische Spitze, dass es ihn mit der Sphäre des Warenumschlages und der schneebedeckten Kälte der Gleise verband.“ ( 2004: 58) Auch Chagall gestaltet sein Verfolgungsszenarium in der Weißen Kreuzigung (visionär) mit dieser Farbe. Eis, Kälte und Schnee sind ebenfalls wichtige Topoi in Sutskevers Lyrik zur Schoa (s. Kap. 15).

338  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte ein. Andere, dem Ersten Weltkrieg entsprungene Kriegsarchetypen schieben sich bei ihm darüber.838 Warum? Hat dies seinen Grund in der generellen Unbeschreibbarkeit des Geschehenen, die jede Äußerung zu Auschwitz zu einem Paradox und gerade deshalb zu einer lebensnotwendigen Handlung macht?839 Liegt es an der – mehr als verständlichen – ‚Unfähigkeit‘ Chagalls, Auschwitz mit seiner figürlichen Ästhetik Ausdruck zu verleihen? (Chagall wehrt sich in seiner Rede „Art After the Holocaust“ von 1947 wie in früheren Jahren vehement gegen rein abstrakte Malerei; Harshav 2003: 109–113.) Kommt darin Chagalls Schuldgefühl des Überlebenden zum Ausdruck, Paul Celans Verstummen und Stammeln vergleichbar? Möglicherweise steht eine an den gängigen Motiven orientierte Darstellung der Schoa bei Chagall im Schatten zweier persönlicher Dramen: Vitebsk kommt während des Marsches auf Moskau im Sommer 1941 unter deutsche Besatzung, das dortige jüdische Leben mit seinen ca. 70 Synagogen wird ausgelöscht. Im Juni 1944 erobert die Rote Armee Chagalls Heimatstadt zurück; während des Kampfes wird sie fast vollständig zerstört.840 Bellas unerwarteter Tod in Folge einer falsch behandelten Virusinfektion am 2.9.1944 stürzt Chagall in eine schwere Krise (Meyer 21968: 465–468). Vitebsk und Bella, die beiden Hauptquellen seines Schaffens, leben als Zentralmotive in seinen Bildern fort. Sie stehen dort für etwas, das es realiter nicht mehr gibt. Zugleich blockieren sie eine neue Bildsprache zu Krieg und Judenvernichtung, fungieren – will man es positiv formulieren – als deren Stellvertreter. Chagalls private Metaphern drängen die  – mimetischeren  – offiziellen Metaphern der Schoa (Lager, Leichenberge, Gleise, das Tor von Auschwitz und – mehr und mehr – der Muselmann [s. Agamben 2003]) in den Hintergrund. Letztendlich erscheint dies doch als schwache Ikonographie, führt man sich vor Augen, dass Hitlers „organisierte Barbarei“ (Hannah Arendt) den Genozid an den Juden zum Ziel hatte. Es fällt Chagall sichtlich schwer, die Schoa visuell wahrhaben zu wollen.

838 Der Rückgriff auf frühere Archetypen zur Darstellung der Katastrophe ist ein gängiges Verfahren in der Literatur zur Schoa (Young 1997: 139–189 und 299). Einer umfassenden Erkenntnis der Geschehnisse ist dies manchmal abträglich, weil Juden wie Nichtjuden „den Holocaust lediglich als Fortsetzung des traditionellen Antisemitismus begriffen“ (Young 1997: 154). 839 Zum Topos der (vermeintlichen) Unsagbarkeit s. Dresden 1997: 78, 153 und 258–261 und Agamben 2003: 137. Agamben warnt davor, Auschwitz durch den Unsagbarkeitstopos von der Sprache abzukoppeln; hierdurch würde man den Intentionen des Nazismus zuarbeiten. Stéphane Mosès wiederum legitimiert „l’innommable“ als logische Folge des Undenkbaren („l’impensable“; 2008: 167) – und folgt hier Hannah Arendts Worten zur Banalität des Bösen, „vor der das Wort versagt und an der das Denken scheitert“ (42009: 371). 840 Zu Vitebsk s. Zeltser (2008 Bd. 2: 1979–1980). Die Zerstörung Vitebsks beschäftigt die Chagalls sehr, vgl. Marc und Bella Chagalls Brief vom 29. Juli 1941 aus New Preston (Connecticut) an Joseph Opatoshu (YIVO reg. 436, f. 350; engl. in Harshav 2004: 512–513, allerdings ohne Bellas Zusatz). Chagall hält das Ende Vitebsks in der Gouache Gekreuzigte Juden in Vitebsk (1944) und in dem Widmungstext Tsu mayn shtot Vitebsk (An meine Stadt) fest, erschienen am 15.2.1944 in der vierzehntägig erscheinenden Eynigkayt (Einigkeit; Nachdruck in Rontsh 1967: 278–281). Unmittelbar nach Kriegsende leben weniger als 200 Menschen in Vitebsk (Auskunft von Arkadij Šul’man, jüdisch-weißrussischer Publizist).

Marc Chagalls Poetisierung der Schoa  | 339

Sagen, was sich nicht zeigen lässt – Marc Chagalls Far die kinstler-kdoyshim (Für die Märtyrerkünstler) 1951 erscheint in Paris in jiddischer Sprache der Almanach Undzere farpaynikte kinstler (Unsere zu Tode gequälten Künstler). Der von Hersh Fenster herausgegebene Gedenkband erinnert an 84 jüdische, in Frankreich lebende jüdische Künstler, die während der Nazidiktatur ums Leben kommen.841 Außer ihren Kurzbiographen sind einzelne Werke abgebildet. Ein Anhang nennt 138 jüdische Künstler aus Polen, aus der Tschechoslowakei und aus Ungarn, die während des Krieges in Paris leben und dort umkommen (s. auch Harshav 2003: 113). Die Sammlung enthält einen Widmungstext Marc Chagalls: Das in Handschrift veröffentlichte Poem Far di kinstler-kdoyshim (Für die Märtyrerkünstler; 1951: o. S.) ist seine intensivste – sprachliche – Auseinandersetzung mit der Schoa.842 Mit den Mitteln der Lyrik kreiert Chagall Bilder, die er malerisch umgeht. Mit den Möglichkeiten der jiddischen Sprache konfrontiert sich das lyrische Ich mit dem Schauen der Schoa. In fünf Strophen überwindet es die Gräuel des Geschehenen und imaginär Gesehenen durch die versprachlichte Vision ihrer Tilgung. Mit der dreimaligen anaphorischen Wiederholung der Fragepartikel „tsi“ (übersetzbar als „etwa“) setzt die rückblickende und rückhaltlose Selbsterforschung eines – wie sich später herausstellen wird – künstlerischen lyrischen Ich ein. Dieses „Ich“ überlebt die Schoa, während seine Kollegen (vor allem diejenigen, denen der Band gewidmet ist) ins Gas gehen müssen: Tsi hob ikh zey alemen gekent? Tsi bin ikh geven in zeyer atelye? Tsi hob ikh gezen zeyer kunst fun noent tsi fun vaytn?843 Kannte ich sie etwa alle? War ich in ihren Ateliers? Sah ich ihre Kunst von nahe oder fern? (Z. 1–3)

Statt zu schweigen, wie es die Logik gebietet, antworten die Toten in der ersten Srophe dem unschuldig Schuldig-Gewordenen mit einer Gegenfrage: „Vu bistu geven?“ (Wo warst du?; Z. 8). Im Dialog mit den Toten, denen das stark autobiographische lyrische Ich eine Stimme verleiht, fällt seine Antwort knapp aus, mündet ins Verstummen. Der Abbruch der Rede enthält die ganze Wucht der Schuld des lyrischen Ich: „ikh bin antlofn ...“ (Ich bin geflohen ...; Z. 9)844 841 Darunter befinden sich beispielsweise Chaïm Soutine, Henri Epstein, Rahel Szalit-Marcus und der Bildhauer Moyshe Kogan. 842 S. auch Frankenstein 2006: 126; engl. Übersetzung in Harshav 2003: 113–115. 843 Das letzte „tsi“ in diesem Abschnitt übernimmt eine andere grammatische Funktion als die homophone Fragepartikel, nämlich eine konjunktivische. 844 Für Giorgio Agamben ist für die Überlebenden wie für die Henker nach Auschwitz das hegelianische Konzept einer tragischen Koppelung des unschuldig Schuldig-Seins in der Ethik nicht mehr annehmbar (2003: 83–86).

340  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte In der Folgestrophe imaginiert das lyrische Ich die Künstler-Märtyrer beim Gang in den Tod. Er trennt das die Schoa reflektierende „ikh“ (ich) und die die Schoa erleidenden „zey“ (sie). Die Scheidewand des real Erlebten überwindet das lyrische Subjekt dank der Imagination von deren Imagination, sei es nun ihre Erinnerung an die Kindheit, an die erste Liebe oder an unerfüllte Hoffnungen, seien es ihre unerfüllten Bilderträume: Der – längst vergangene  – Kindheitstraum von „a hele tsukunft“ (einer hellen Zukunft ; Z. 20) der Künstler wird jedoch durch die Allmacht der – vergegenwärtigten – Vernichtung annulliert. Im imaginierten Moment der Vergasung schlüpft Chagall in die Köpfe der Opfer.845 Hier durchläuft er deren kurzes Leben, das gelebte und das nicht mehr zu lebende. Mit dieser Kontrastierung der Zeiten erinnert Chagall nicht nur daran, dass menschliches Leben, sondern auch Künstlertum vernichtet wird. Seine Trias der Negation von Leben und Schaffen – die Bilder der Künstler-Opfer sind „nit-dermolt“ (ungemalt, Z. 13), ihre Jahre „nit-derlebt“ (ungelebt, Z. 14), ihre Träume „nit-dershlofene“ (ungeträumt, Z. 17) – steht in scharfem Kontrast zum „gan-eydn“ (das Paradies, Z. 24), das einst das Leben den nunmehr Toten zu versprechen schien. Der Tenor des gegenwärtigen Todesmarsches und des verunmöglichten Schaffens setzt sich in der dritten Strophe fort. Ins Herz des Poems platziert das lyrische Ich die Ungeheuerlichkeit der KZ-Krematorien: Di brider fun Izraels, Pisaro un Modilyani, brider undzere – es firt zey mit shtrik di zin fun Direr, Kranakh un Holbayn – tsum toyt in di krematoryes. Die Brüder Israëls, Pissarros und Modiglianis, unsere Brüder – es führen sie an Stricken die Söhne Dürers, Cranachs und Holbeins – zum Tod in die Krematorien. (Z. 29–32)

Die Kunst ist in Chagalls (naiv?) idealistischem Weltbild immer das einende Prinzip, in ihrer Größe und Kraft nur der Liebe gleich (vgl. Harshav 2003: 107). Mit der Schoa ist sie von innen heraus zerstört durch das, was ein deutscher Künstlerspross einem jüdischen Kollegen antut. Die „Brüder Israëls, Pissarros und Modiglianis“ – Chagall wählt interessanterweise assimilierte jüdische Maler der Moderne – stehen ebenso metonymisch für die getöteten jüdischen Künstler und generell für die vernichteten Juden wie die „Söhne Dürers, Cranachs und Holbeins“ für die Deutschen. Täter und Opfer verbindet die Kunst. Getrennt sind sie durch die Verwandtschaftsbeziehung – und die Zeit. Hitlers Schergen, der nationalen Zugehörigkeit nach Söhne der großen deutschen Meister der Renaissance, entreißen der Kunst 845 Der Kopf ist für Chagall der Ort der Selbst- und Kunstrealisierung. Dort, im Sitz der Imagination, findet er Zugang zu seinen Künstler-Brüdern, die er als Überlebender anders nicht mehr erreichen kann.

Marc Chagalls Poetisierung der Schoa  | 341 zeitgenössische jüdische, vielleicht assimilierte Maler, die mit ihrem Schaffen ihren Beitrag zur modernen jüdischen, deutschen, holländischen, französischen usw. Kunst und damit zur Weltkultur geleistet haben und weiter geleistet hätten. Die Perversion der Schoa ist für Chagall auch die Perversion des deutschen Geistes. Die ungezählten Verbrechen der Nazis gegen die Menschlichkeit sind im Falle seiner 84 jüdischen Kollegen für Chagall auch ein Verbrechen gegen die Kunst. Die daraus resultierende Ohnmacht, die das lyrische Ich in die Lexik und Poetik der dritten und vierten Strophe hereinnimmt, ist nicht verwunderlich. Erneut kehrt eine dreimalige Anapher wieder, diesmal in Form der – nun nur noch rhetorisch gestellten – Frage danach, wie man angesichts der Schoa weinen kann (Z. 33–37).846 Auch die dreimalige Wiederholung von „men“ (man; Z. 34, 36 und 39), mit der die Antwort auf diese Fragen eingeleitet wird, verstärkt die Verzweiflung des lyrischen Ich: Im Wissen um das Feuer in den Krematorien hat es keine Tränen mehr. Das biblische Tal der Tränen weicht in Chagalls Poem der Wüste.847 Chagalls Wiederholungsfiguren sind die letzten Ordnungshüter in einer ins Chaos gestürzten Welt. In der dritten und vierten Strophe thematisiert das lyrische Ich – erneut dreimalig – den Akt des Sehens („ikh ze“ / „ich sehe“; Z. 27, 43 und 45). Chagall erblickt schreibend – als weitere Variation seines piktoralen Schreibens – Leitmythen der Schoa, die in seine Bilder keinen Eingang finden: Rauch und Gas, Haare und Zähne, Kleider- und Stiefelberge, Asche und menschliche Überreste (Z. 49–50). Am Ende der vierten Strophe erfolgt ein Wechsel der Semantik und Perspektive. Er bedeutet zugleich einen Wandel von der Schoa in die Soteriologie. Das lyrische Ich wechselt vom Sehen zum Stehen (Z. 47, 52; mit dem abschließenden „ikh shtey oyf“ [ich stehe auf; Z. 64] ist erneut eine Wiederholungstrias gegeben) – und plötzlich geraten die Dinge in Bewegung. Auf die Schreckensbilder der Schoa, unverrückbar in ihrer Endgültigkeit wie der Tod, den sie repräsentieren, folgen zwei lebendig gewordene Figuren, die Chagalls Bildern entsteigen. Die Schoa kann Chagalls Schaffensursprung nicht erschüttern, die Grenze zwischen Fiktion und Realität zu durchbrechen: Was in biblischer Vorzeit David und Moses für das jüdische Volk tun, wiederholen ihre Chagall’schen Doppelgänger nun für die Vernichteten und für den malenden und schreibenden Überlebenden: David „vil mir / helfn veynen un oysshpiln kaptilekh tilim (will mir / weinen helfen und Kapitel spielen aus den Psalmen; Z. 54f ). Moses heißt die Toten „ruik lign / bis vanen er vet nokh a mol oyskritsn / naye lukhes far a nayer velt.“ (in Ruhe zu liegen / bis er noch einmal einritzen wird / neue Gesetzestafeln für eine neue Welt; Z. 58–60) Die massenhafte „Fabrikation von Leichen“ (Heidegger), die Chagall durch das literarisch inszenierte Sehen vergegenwärtigt, löst das lyrische Ich ab durch die Vision einer erneuten Schöpfung.848 Auf das Massaker am jüdischen Kollektiv folgt sein individueller Messianismus. 846 Z. 33: „Vi ken ikh, vi zol ikh fargisn trern?“ (Wie kann ich, wie soll ich Tränen vergießen?) und Z. 37: „vi ken ikh veynen [...]“ (Wie kann ich weinen [...]). In Rayzl Zhikhlinskis Widmungsgedicht an die Opfer ihrer Heimatstadt Gombin Ikh vil nokh amol do geyn ibern groz (Ich will noch einmal hier übers Gras gehen, 1946) fällt eine Träne ins Wasser und (zer)stört dessen Ruhe (2003: 236–241). 847 Die Wüste (jidd.: midber) ist auch in Hofshteyns Troyer ein Schlüsselbegriff (s. Kap. 8.2). 848 Der treffende, von Hannah Arendt aufgegriffene Begriff macht den in seiner Haltung zum National­ sozialismus nicht eindeutigen Philosophen zitierwürdig (vgl. hierzu Agamben 2003: 62–67).

342  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Der Leitbegriff „nay“  – er erscheint viermal (Z. 60, 63 und 64)  – strukturiert Chagalls verbales Bild einer neuen Welt (der Verheißung), in der die irdische Zeit (der Schoa) aufgehoben ist. Der jüdische Gott gibt nicht auf (oder ist es Moses, der nicht aufgibt?): Da die ersten Zehn Gebote die Schoa nicht verhindern konnten, wird mit weiteren Gesetzestafeln eine neue Ethik etabliert.849 Die Schreckensvision der Opfer der Schoa, ihrer toten Körper, die untrennbar mit Feuer, Asche und Rauch assoziiert sind, wird vom Wasser der neuen Sintflut fortgespült. Am Ende des Poems verabschiedet sich das lyrische Ich von den Opfern (und von der historischen Zeit), um im neuen Tempel, dem wiederhergestellten salo­ monischen Tempel der ewigen Gottesherrschaft, eine Kerze „far ayer bild“ (vor eurem Bild; Z. 67) anzuzünden.850 In Chagalls poetischem Endzeitentwurf ist nicht nur das himmlische Jerusalem errichtet; in ihm sind all die Bilder erschaffen, die er zu Gedichtbeginn, in der chronologischen Zeit (der Schoa), nicht gesehen hat oder – weil noch nicht erschaffen – nicht hat sehen können.851 Jetzt, da das lyrische Ich die Bilder der 84 Märtyrer-Künstler schauen kann, ist auch die Mauer zwischen ihm, dem Überlebenden, und den Verstorbenen eingerissen: Am Ende spricht er von „aykh“ (euch, Z. 64) und „ayer“ (euer; Z. 67). In dieser personalen Ich-Euch-Beziehung lässt es das distanzierende Personalpronomen „zey“ des Poembeginns hinter sich.

Chagalls Poetik der Visualität Chagalls im vers libre gestaltetes Poem ist durch ästhetische Verfahren organisiert, wie sie auch in seinen Bildern zu finden sind: durch Wiederholung und Kontrast. Wie der Künstler in einem Bild Farbtöne wiederholt, wählt er in seiner Lyrik Wiederholungsfiguren (Anaphern, syntaktische Parallelismen, lexikalische Wiederholungen).852 Wie die Farben, Formen und Linien seiner Malerei rhythmisieren diese den Text. Wie Kontraste (beispielsweise komplementäre Farbkontraste) Chagalls Bilder strukturieren und in ihrem Bedeutungsgehalt steigern, tun dies auch semantische Oppositionen im Poem (ikh – zey / ich – sie; fayer – mabl / Feuer – Sintflut, toyt-beder – gan-eydn / Todesbäder – Paradies).

849 In dieser erlösenden Funktion tritt Moses in Exodus (1952–1966) gemeinsam mit Jesus am Kreuz auf. Hoffnungsvolles Gelb verbindet die beiden Figuren der göttlichen Botschaft, die nicht Tod, sondern Liebe predigen (Abb. in Heuberger/Grütters 2004: 146). Chagall zeigt in seinem Schaffen nach dem Zweiten Weltkrieg unzählige Male Moses, wie er die (neuen?) Gesetzestafeln erhält. Chagall, der sich in Ma vie durch das Stottern als weiterer Moses inszeniert, sieht auch die Gabe des Malens – parallel zur Gabe der Gebote an Moses – als Teil des göttlichen Heilsplans. Wie Moses durch die Gebote wird er die Welt durch seine Bilder erlösen, so sein pathetischer Selbstentwurf. In Ergänzung zu seiner Christus-Stilisierung zeigt sich auch hier, wie sehr Chagall vom Erlösungsgedanken durchdrungen ist. 850 Die Präposition „far“ kann im Jiddischen auch „für“ heißen; im Gedichtkontext ist eher die Bedeutung „vor“ anzunehmen, ohne die andere auszuschalten. 851 Die Mehrdeutigkeit des Gedichts lässt offen, ob es sich um bereits gemalte Bilder handelt oder um die, die die Künstler noch malen woll(t)en. 852 Der Gattung Lyrik eignende Wiederholungsmöglichkeiten wie Reim, Metrik und lautliche Äquivalenzen spielen allerdings kaum eine Rolle.

Marc Chagalls Poetisierung der Schoa  | 343 Ähnlich Chagalls Selbstbildnissen ist auch in Far di kinstler-kdoyshim das Sehen (des Unvorstellbaren) in den Rang einer Leitkategorie erhoben (s. Kap. 4 und 5): Es bildet – als Grundlage der gemeinsamen Profession  – das Bindeglied zwischen dem überlebenden Subjekt und den in der nazistischen Vernichtungsmaschinerie zum Objekt degradierten Toten.853 Die (visionäre) Visualität des Gedichts birgt die für die jüdische Kultur typische zyklische Zeitvorstellung. Mir ihr hebt das lyrische Ich das Zeitliche und das Unsagbare im Ewigen auf. Chagalls Poetik der Visualität ist die Entsprechung seiner Kunst; seine Kunst entspricht seiner Poetik: Mit seinem pikturalen Schreiben evoziert er im Medium der Literatur Bilder (und damit Simultaneität); in seiner bildkünstlerischen Ästhetik überschreitet er die Visualität des Bildes hin zu einer darin enthaltenen Narration. Wie Chagalls Autobiographie Ma vie ist Far di kinstler-kdoyshim ein Depot eigener und fremder Bilder. Es sind dies die Bilder seiner jüdischen Künstlerkollegen, die der deutschen Maler, derer die Nazis nicht würdig sind, und die Bilder aus den KZs, unhintergehbare Zeugnisse der Schoa. Anders als viele andere Gedichte, die poetisch der Schoa habhaft zu werden versuchen, ist Chagalls Poem arm an Metaphern, aber reich an konkreten Bildern. Zwischen die Imaginierung einer Vergangenheit der Opfer und die Imaginierung ihrer – ewigen – Zukunft tritt das reale Bild von Auschwitz. Wann genau und auf welche (mediale) Weise Chagall von der Massenvernichtung der Juden durch die Nazis erfuhr, ist schwer zu sagen.854 Der Schock angesichts der Photographien, die im Frühjahr 1945 in der angloamerikanischen (und jiddischen?) Presse den Beweis für das Unvorstellbare erbringen, mag Chagall in die vordergründig unannehmbare Koppelung von Poetik und Perversion getrieben haben. Angesichts der Zeugenschaft dokumentarischer Aufnahmen, gegen die bildkünstlerische ‚fiktionale‘ Bilder – man denke an die Zeichnungen Boris Taslitzkys oder Paul Goyards – zunächst zu verlieren scheinen, verschlägt es Chagall die Sprache seiner Malerei.855 Die ‚Photoikonen‘ der Schoa, nämlich Aufnahmen anlässlich der Befreiung des KZ Bergen-Belsen, die Leichenhaufen, abgemagerte Häftlinge oder die Rampe zeigen, werden Präikone zu Chagalls Versprachlichung des (vermeintlich) Unaussprechlichen. Chagall bedient sich nicht der universellen Sprache der Malerei, sondern seines – fast ausgelöschten  – mame-loshn. Mehr als alles Andere vermag sie eine Nähe herzustellen zwischen dem Künstler-Überlebenden und den Künstler-Opfern. Wie jedes niedergelegte 853 Vgl. Stéphane Mosès’ Begriff der „chosification“ (2008: 170). 854 Die ersten Hinweise stammen von seiner Tochter Ida, die gemeinsam mit ihrem Mann Michail Rapoport Ende 1941 den sicheren Hafen Amerika erreicht: „Ida brought terrible news from some Navemare passengers who had been released from concentration camps.“ (Wullschlager 2008: 400). 855 Zur Hegemonie der Photographie s. Bredekamp 2004: 55. Horst Bredekamp weist generell auf das gleichermaßen reagierende wie gestaltende Verhältnis von Bildern zur Wirklichkeit hin (S. 29). Tatsächlich wird ihr Authentizitätsanspruch bezüglich der Lagerrealität schon früh hinterfragt: „Hannah Arendt hat schon kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bemerkt, dass alle Fotos und Wochenschaufilme aus den Konzentrationslagern insofern in die Irre führen, als sie diese Lager im Augenblick des Einmarschs der alliierten Soldaten zeigen.“ (Sontag: 2003: 97f.). Die Zeichnungen von Lagerinsassen kommen dem näher. Auch scheinen diejenigen Aufnahmen, „die im April und Mai 1945 von anonymen Berichterstattern und Militärfotografen in Bergen-Belsen, Buchenwald und Dachau auf­ genommen wurden, [...] mehr Gültigkeit zu besitzen als die ‚besseren‘ Bilder, die zwei gefeierte Berufsfotografinnen, Margaret Bourke-White und Lee Miller, damals gemacht haben.“ (Sontag 2005: 90)

344  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte jüdische Wort (in welcher Sprache auch immer), wie jedes jiddische Gedicht von Avrom Sutskever, Leyzer Aykhenrand, Reyzl Zhikhlinski oder Yitskhok Katsenelson ist Chagalls Poem eine deutliche Entkräftung der „two Holocausts“ (Benjamin Harshav): Auch Far di kinstler-kdoyshim unterläuft die intendierte Vernichtung der Judenheit und ihrer Kultur.

Visionen schreiben: Von Moses, David und der hebräischen Wurzel „‫“קדש‬ Chagall schweigt in der Malerei zur Realität der Krematorien und Gaskammern. Mit seinem Poem kompensiert er diese ikonische Leerstelle. Seine Entscheidung für die (bild-affine) Literatur eröffnet ihm die Koppelung von Ästhetik und Ethik. Sie ermöglicht auch diejenige von Eschatologie und Etymologie, die er im visuellen (bei ihm literatur-affinen) Medium nicht hätte realisieren können. Chagalls Widmungsgedicht trägt bereits im Titel eine der wirkmächtigsten Wurzeln des Bibelhebräischen, die Radix „‫“קדש‬, in sich: Die Künstler-Opfer der Schoa sind „Märtyrer“ (jidd.: ‫קדושים‬/kdoyshim, Sg.: koydesh), weil sie – wie viele ihrer Vorläufer auch – durch ihren Tod Gottes Namen heiligen. Die Bezeichnung evoziert die lange Reihe derjenigen Juden, die mit dem „kidusch-ha-schem“, der Heiligung von Gottes Namen, eines Märtyrertodes starben (s. Kap. 8.2 und 9.1). Für Chagall ist die religiös-theologische und für das Judentum zentrale Vorstellung des Martyriums essenziell – und erklärt seine häufige Verwendung der Christusfigur als visuellem Stellvertreter für jüdisches Leid durch die Schoa.856 Auge in Auge mit der Schoa und ihren Leitbildern spricht das lyrische Ich das Totengebet der Juden: „Ikh shtey in midber far kupes shtivl, / kleyder, ash un mist un murml oys mayn kadish.“ (Ich stehe in der Wüste vor Schuhhaufen / Kleidern, Asche und Überresten / und murmele mein Kaddisch vor mich hin; Z. 49–51).857 Das Kaddisch (jidd.: ‫ )קדיש‬nimmt, abhängig von seinem Ort in der Liturgie oder als Totengebet, eine andere Form an. In beiden Fällen ist es eine Heiligung, eine Ode an Gott, so inadäquat menschliches Sprechen über Gott auch sein mag (s. de Vries 102006: 306–310). Chagall spricht sein Kaddisch für die ermordeten Künstler. Er betet für den Seelenfrieden der Toten, geleitet sie so vor den höchsten Thron (de Vries 102006: 309). Zugleich bezeugt er als Überlebender (vor Gott), dass er ihren Tod akzeptiert. Der vom Joch der Schuld Gepeinigte söhnt sich so mit seinem Schicksal aus.

856 Auch in Opatoshus Roman Der letster oyfshtand spielt der „kidusch-ha-schem“ eine wichtige Rolle (s. Kap. 13). Agamben ist im Gefolge vieler Überlebender die vordergründige Verwendung des Begriffs „Märtyrer“ suspekt. Erst in seiner etymologischen Rückführung auf die griechische Bedeutung „Zeuge“, die als weiteren etymologischen Rest das Moment des Erinnerns impliziert, und die durch eine Lektüre Tertullians gewonnene Erkenntnis, ein Martyrium bedeute – wie im Lager – einen sinnlosen Tod, sei er im Kontext der Schoa zulässig (2003: 23–25). 857 Das Kaddisch ruft nicht nur den religiösen Kontext auf, sondern ebenso  – wie die „kupes shtifl“ (Z. 49) – intertextuell Perets Markishs Pogrompoem Di kupe (Der Haufen, 1922; s. Kap. 8.1). Anders als bei Markish wird es hier nicht subversiv unterlaufen.

Marc Chagalls Poetisierung der Schoa  | 345 Chagall erfüllt mit dem Kaddisch in Far di kinstler-kdoyshim an seinen Brüdern dieselbe Pflicht wie jeder gläubige Jude an seinen Eltern. Als sprechendes, überlebt habendes Subjekt übernimmt er die Verantwortung, mit den Mitteln des Poems, das die reale Tradition des Totengebets und die imaginierten Biographien der Toten (Strophe 2) vereint, die Individualität und Würde der Opfer wider die Massenvernichtung zu behaupten. Die Evokation des Kaddisch verliert im Kontext des Poems nichts von seiner Kraft, „das weitere Überleben der Moral in der menschlichen Gesellschaft“ zu garantieren (de Vries 10 2006: 307). Chagalls Totengebet ist, eingebunden in die Textästhetik, ein religiöser und ethischer Akt. Seine Essenz besteht in der Bekräftigung der Endzeit: „Sein Reich erstehe!“ (ebd.) Hinter dem grausamen Lebensende eines jeden Märtyrer-Künstlers steht die Ewigkeit. Chagall bekräftigt dies durch seine dichterische Vision vom Neuen Tempel: Er setzt damit in seiner eigenwilligen Imagination nicht nur die Vision Ezechiels (oder deren Exegese) fort.858 Ezechiel erzählt von Gottes Glorie (Ez 43, 1–12), die in den Tempel einziehen wird, Chagall von den Bildern der Märtyrer-Künstler, derer er dort huldigen wird. Mit „beys-hamigdesh“ (‫המקדש‬-‫בית‬/Tempel) schließt Chagall das triadische Wiederholungsschema und die dreimalige Variation der Wurzel „‫ “קדש‬ab: Nur der Tempel in Jerusalem verdient im Jiddischen und Hebräischen diese Bezeichnung. 859 Mit der strukturellen Hermetik von Chagalls Gedicht geht die etymologische Hermeneutik zu „‫“קדש‬ einher. Sie umfasst die Sinndimension des Märtyrertums, des Kaddisch und jüdischer Endzeitvorstellungen. Auf den Tiefpunkt der Menschheitsgeschichte, der literarisch und visuell nur approximativ nachbildbar ist, antwortet der Maler Chagall mit einer lyrisch vermittelten Bildgenese (des Neuen Tempels und der verstorbenen Maler). Die Mehrfachspiegelung von Wort und Bild, die Chagall in Far di kinstler-kdoyshim vornimmt, ermöglicht eine affirmative Imagination, ohne angesichts der Schoa naiv zu wirken, und hüllt das ins Wort, was tatsächlich unvorstellbar ist, nämlich den Ort Gottes am Ende der Zeiten. Jedes Kaddisch enthält den Hinweis auf Zion (de Vries 102006: 309). König David, der im Gedicht das literarische Alter Ego des Künstlers tröstet, in Chagalls Bildern häufig neben Christus und Moses als dritte religiöse Identifikationsfigur auftritt, spielt und singt womöglich Psalm 147, 2: „ER erbaut Jerusalem auf!“ (Ü: Buber/Rosenzweig) Im prophe­ tischen Prätext Ezechiels wird David, der König von Juda und Israel, der die Bundeslade nach Jerusalem bringen lässt, von Gott als Hirte über die Auserwählten eingesetzt, die in Zion einziehen dürfen (Ez 34, 25; 37, 24–28). Mit diesen zentralen jüdischen Heilsgedanken beschließt Chagall sein Poem. Las Chagall, mit der jiddischen Literatur tief verbunden, (jiddische) Holocaustliteratur? Yitskhok Katsenelsons Lid funem oysgehargetn yidishn folk (Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk, verf. 1944), Tsvi Kolits’ Yosl Rakovers vendung tsu got (Josl Rakovers Wendung zu Gott, 858 S. Ez 40,1–44,3. Der Prophet Ezechiel folgt während seiner Entrückung einem Deuteengel und schaut den genau beschriebenen Tempel, das ihn umgebende Areal und das neu verteilte Land, s. hierzu auch Liss 2005: 230 und 282. 859 Er bezeichnet zugleich, wie „shul“ und „beys-medresh“, die Synagoge.

346  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte 1946)?860 Avrom Sutskevers Tagebücher aus dem Wilnaer Ghetto und dessen Gedichte zur Schoa kannte er gewiss.861 Chagalls Ikonographie der Radierung Der Fall Jerusalems hätte sehr gut ihre – von der Realität brutal bestätigte – wortkünstlerische Ergänzung finden können. Doch in Far di kinstler-kdoyshim besingt Chagall das neu errichtete Jerusalem. Er tut dies als Autor. In dieser Funktion der „auctoritas“ ist er gemäß der etymologischen Überlegungen Agambens (2003: 129–150) in die Zeugenschaft der Schoa eingebunden, die den Überlebenden und den Muselmann, den Mangel der Beschreibbarkeit der Schoa und deren Gültigkeit verbindet.862 Chagall übernimmt als jiddischschreibender Autor die Verantwortung des Überlebenden, sich zur Schoa zu äußern. Hierdurch kommt seine jüdisch-jiddische Identität zum Ausdruck. Hierdurch bezeugt er das Fortbestehen seiner Muttersprache. Wie einst während des Ersten Weltkrieges verschiebt Chagall die Darstellung und Reflexion von Gewalt in die Schrift (vgl. Kap. 7). Dank des narrativen Potenzials des Poems – Sam Dresden konstatiert generell den auffällig erzählenden Charakter der Schoa-Lyrik (1997: 23) – öffnet sich Chagalls Gedicht zu Ehren der Künstler-Opfer der Schoa jüdischen messianischen Vorstellungen. Den gekreuzigten Christus im Tallit aus zahlreichen seiner (Kriegs-)Bilder tauscht er ein gegen Moses, den JHVH als Werkzeug auserkoren hat, die Juden aus dem babylonischen Exil ins Land der Patriarchen zu führen. Nicht den vom Christentum als Davids Nachfolger gehandelten Jesus evoziert er, sondern David selbst.863 David verkörpert gerade deshalb für Chagall die Verheißung, weil er ein großer Sänger ist. Die betonte Vertikale seiner bildkünstlerischen Darstellungen, die Bibelblätter Davids Trauerlied (Nr. 66) und David wird König (Nr. 67) oder das Ölbild König David, 1951 (Abb. in: Guerman/ Forestier 2004: 118) verbindet ihn mit der Vertikalität des Poem-Endes: David steigt herab zum lyrischen Ich, das später selbst aufstehen wird. Hier kehrt das Schweben als Grundkonstante von Chagalls Kunst, Welt- und Selbstempfinden wieder. Hier ist das Tor zur bildkünstlerischen Reflexion der Schoa: Nicht nur Rabbi Akiva in Chagalls Widmungsbild zu Opatoshus Der letster oyfshtand entschwebt dem Propheten Ezechiel gleich der Vernichtung, auch Anne Frank in Chagalls Frontispiz zu ihrem Tagebuch tut dies – lächelnd und mit einer Friedenstaube im Rücken (1958). Die fliegende Anne Frank ist Chagalls Antwort auf seinen Fall Jerusalems, das er interikonisch zitiert und mit einer unerschütterlichen Zuversicht zugleich unterwandert.

860 Weitere wichtige jiddische Referenztexte sind die Schoa-Erzählungen Korbones (Opfer) von Der Nister (verfasst 1948) Markishs Milkhome (Krieg, 1948) oder Itsik Fefers Gedicht Ikh bin a yid! (Ich bin Jude!, s. Jendrusch 2002: 13). 861 Sutskevers Lider fun geto (Gedichte aus dem Ghetto), seine Aufzeichnungen Vilner geto. 1941–1944 (Das Ghetto in Vilnius. 1941–1944) und Fun Vilner geto (Aus dem Ghetto in Vilnius) erschienen 1946. Im Brief vom 6.1.1949 bedankt sich Chagall bei Sutskever für den Erhalt von dessen Gedichtband Geheymshtot (Geheimstadt, 1948; Harshav 2004: 664f.). 862 „Die Autorität des Zeugen besteht darin, dass er einzig im Namen eines Nicht-sagen-Könnens sprechen kann, d. h. darin, dass er Subjekt ist.“ (Agamben 2003: 138) 863 In Chagalls Gedicht Yankevs leyter (Jakobs Leiter, 1941) spielt Jakob ebenfalls eine tragende Rolle (1967: 97f.).

Marc Chagalls Poetisierung der Schoa  | 347 Hinter Chagalls sprachlicher Schau des Grauens und des Heils in Far di kinstler-kdoyshim muss sich keine Teleologie verbergen. Chagalls Entscheidung, den Künstler-Opfern der Schoa ein jiddisches Poem zu widmen, kann den etho-poetischen Möglichkeiten der Mehrdeutigkeit geschuldet sein. Im Sinne Agambens lässt sich auch von Chagalls subjektivem Sprechen zur Schoa sagen, dass es „kein Ziel, aber einen Rest“ hat (2003: 139). Auch in seinem dichterischen Versuch, zur Schoa eine Haltung einzunehmen, gibt es „eine irreduzible Kluft, in der jeder Terminus den Platz des Rests einnehmen, Zeugnis ablegen kann“ (ebd.). Chagalls Poem will nicht mehr und nicht weniger als das Sein (auch der Toten) anerkennen. Sein Entwurf einer neuen Ethik (getragen von der Zyklizität des Poems, das mit der Kunst der ermordeten Künstler beginnt und endet), ist von der historischen Realität keineswegs abgekoppelt. Die neue Welt, die sich erneut auf Moses Empfang der Gesetzestafeln stützen wird, ist natürlich ein Appell an alle Überlebenden, sich auch daran zu halten. In dieser Anbindung an die Historie birgt Chagalls Poem Agambens Philosophem des „Rests“: „Wirklich geschichtlich ist das, was die Zeit nicht in Richtung der Zukunft oder einfach auf die Vergangenheit hin erfüllt, sondern in der Überschreitung eines Mittleren. Das messianische Reich ist weder zukünftig (das Millenium) noch vergangen (das Goldene Zeitalter): es ist eine restliche Zeit.“ (2003: 139, s. auch S. 143)

15  Epilog: Ein Leben für die Metapher – Marc Chagall und Avrom Sutskever

Es vakst tsvishn undz a vant, a barg farshotener mit groz un kvorim, tseteylt hot undz di hant, vos shaft di bilder un di sforim. Es wächst zwischen uns eine Wand, ein verborgener Berg mit Gras und Gräbern, geteilt hat uns die Hand, die Bilder schafft und Bücher. Marc Chagall, Lisbon farn opfor (Lissabon vor der Abfahrt 1941; 1967, S. 97) S’kushn zikh farbn. Dayn pendzl – aleyn: a homunkulus ibern milkhveg fun layvnt, kapoyer dos kepl. Farben küssen sich. Dein Pinsel – er selbst ein Homunkulus über der Milchstraße der Leinwand, mit dem Kopf nach unten. Sutskever, Abraham, Shagalisher gortn (Chagalls Garten; 1963 Bd. 2, S. 357).

Aleksandr Blok, Blaise Cendrars, Yoysef Opatoshu – „at every stage in his career Chagall identified with contemporary writers rather than with artists, tapping into literary experimentation to help find his way through modernism [...].“ (Wullschlager 2008: 64) In einer Studie zum intermedial-interkulturellen Marc Chagall darf Abraham (Avrom) Sutskever (1913–2010) nicht fehlen, auch wenn dieses zentrale Kapitel in Chagalls reichen intermedialen Wechselbezügen zur jiddischen Literatur hier nur als Epilog auf den am 20. Januar 2010 verstorbenen Dichter aufscheinen kann. Sutskever ist der bedeutendste jiddische Schriftsteller und „einer der größten Dichter des 20. Jahrhunderts überhaupt“ (Valencia 2009: 19).864 Sutskever ist der letzte „tsviling-bruder“ (Zwillingsbruder), so der Titel einer Gedichtsammlung von 1986, im Reigen der Wahlverwandtschaften zwischen dem Maler und den Dichtern. 864 Sutskever verschafft den in alle Welt verstreuten jiddischen Schriftstellern auch als Herausgeber eine Stimme: Von 1949 bis 1995 erscheint zwei bis viermal pro Jahr Di goldene keyt (Die goldene Kette), „unbestritten das bedeutendste jiddische Organ der Nachkriegszeit“ (Valencia 2009: 47). Der Titel, der Perets’ gleichnamiges Drama evoziert, setzt dessen Vorstellung von der Kette, die das Judentum und natürlich auch die jiddische Literatur intertextuell verbindet, um, „di keyt, vos tsit zikh fun Avromoviynu biz dem hayntikn tog“ (die Kette, die sich von Abraham, unserem Vater, bis zu heutigen Tag erstreckt; Perets 1947 Bd. 8:8).

350  | Epilog Chagall und Sutskevers Bekanntschaft währt über ein halbes Jahrhundert (sie begegnen sich das erste Mal 1935 in Vilnius; Valencia 2009: 47). Sutskever besucht seinen MalerFreund fast jährlich in Frankreich (ebd.). Chagall ist während seiner Israel-Besuche Gast bei Sutskever in Tel Aviv.865 An Chagalls von Selbst- und Fremdstilisierung überfrachteter Beziehung zum Jiddischen, an dessen yidishkayt, hat Sutskever(s Dichtung) wesentlichen Anteil.866 Beide erreichen ein biblisches Alter. Der eine kann nicht ohne den Pinsel, der andere nicht ohne das dichterische Wort leben. Was dem einen Vitebsk, ist dem anderen Vilnius – oder Sibirien, wo Sutskever seine Kindheit verbringt. Beider Schaffen speist sich aus dem Erinnerungsschatz der ersten Jahre. Beider Werk ist theoriearm, autobiographisch, das Ich im Ineinander von Welt und Kreativität betrachtend, etho-ästhetisch. Chagall und Sutskever sind auch durch die Intermedialität ihrer Werke verbunden. Chagall überführt den Stoff in Malerei, aus dem Dichtung ist. Sutskever schreibt in Farben. 867 Chagall porträtiert Sutskever (Abb. in: Sutskever 1968: 5), Sutskever besingt Chagall.868 Nach Sutskevers erster, „romantisch-ästhetischer“ Schaffensperiode (Valencia 2009: 61), die pantheistisches Naturerleben und den Inzikhisten nahe Ich-Suche umspannt, öffnet sich seine Dichtung während der Kriegszeit dem Relationalen: Das Verhältnis des lyrischen Subjekts zum (absoluten) dichterischen Wort wird zum Movens und Kern seines Schaffens. (Man könnte hier eine Linie ziehen zu Chagalls Bedürfnis, im Selbstbildnis die Möglichkeiten seiner Kunst auszuloten – und sie und sich mit messianischen Zügen zu versehen.) Sutskever, erst im Vilnaer Ghetto, dann unter Partisanen, öffnet hier – mit Sprachbildern, die wohl selbst dem Tod den Atem nehmen – seine Dichtung auf eine sozial-ethische Dimension hin. Seine Metaphern werden  – als vielleicht wirkungsvollstes Aufbegehren gegen den Massenmord – immer kühner. Nach Auschwitz Gedichte zu schreiben ist für ihn möglich, weil durch ihn die Toten sprechen. Was Sutskever in einem Gedicht über Rokhl Korn schreibt, 865 Chagalls reger Briefwechsel mit Sutskever lässt sich nachlesen bei Harshav 2004. In den 1950er Jahren äußert Chagall Sutskever gegenüber sein Unbehagen, als Jude im christlichen Frankreich wie ein Fremder zu leben (s. Amishai-Maisels 1993: 22). Zu Chagall über Sutskever s. Sutskever 1953: 64f. und Chagall 2003: 123–126. 866 Chagalls Beziehung zum Jiddischen wird nach Vitebsk deutlich intensiviert, natürlich auch dank seiner Begegnung mit der jiddischen Intelligenz in Moskau, Malachovka, Kaunas und später dann in Berlin und Paris. Einen zweiten Schub erfährt sie anlässlich Chagalls Palästinareise 1930, dann im New Yorker Exil, das wesentlich durch die Freundschaft mit Yoysef Opatoshu geprägt ist. 867 Chagall sticht die Visualität von Sutskevers Lyrik ins Auge: „S’iz a kinstler-poezye oykh farn oyg un nit bloyz an intelekt-poezye.“ (Es ist eine Künstler-Dichtung auch fürs Auge und nicht nur intellektuelle Poesie; 1953: 64). Exemplarisch sei auf die Bedeutung der Farbe Grün in Chagalls Malerei und Sutskevers Texte hingewiesen, vgl. Griner akvaryum (Grünes Aquarium, 1975), Nito di grine oygpor fun lang-lang-lang ... (Es ist nicht mehr, das grüne Augenpaar von anno dazumal ...; 1986: 40) oder Farvandlung (Verwandlung): Hier „kaut eine einzige Kuh an einer grünen Wolke“ (bloyz an eyntsike beheyme koyt a grinem volkn; 1990: 62). Zur Sutskevers Prosa im Kontext der Schoa s. Roskies 1995: 307–344. 868 Vgl. die Widmungsgedichte Shagalisher gortn (Chagalls Garten, 1963 Bd. 2: 357), Shagalishe verter (Chagalls Worte; 1968: 27–30 oder Dermonung vegn a shpatsir mit Mark Shagal ... (Erinnerungen an einen Spaziergang mit Marc Chagall ...; 1986: 118) sowie die Hommagen in Prosa Di farb vos loykht vi a shtern: Mark Shagal (Die Farbe, die wie ein Stern leuchtet: Marc Chagall, 1993: 235–267), Magye fun yungshaft. Mark Shagal  – tsu zayne finf un nayntsik (Magie der Jugend. Marc Chagall  – zu seinem 95. Geburtstag, 1993: 268–271) und Der goen fun pashtes (Der Gaon der Einfachheit, 1993: 272–274).

Marc Chagall und Avrom Sutskever  | 351 gilt genauso gut für seine Verse: sie „gantsn beyner“ (machen Gebeine ganz), aus ihnen „zunikn aroys gezangike eyn-sofn“ (strahlen sonnenhaft heraus Gesangs-Unendlichlichkeiten; 1968: 24).869 Auschwitz verbindet Chagall und Sutskever (beide kreisen um die Schoa, ohne meta­ physisch klein beizugeben).870 Auschwitz trennt sie: Was Chagall aus der Ferne verfolgt, ist für Sutskever gelebte Realität. Die Bilder, die Sutskever dafür in der Dichtkunst findet, sind deshalb authentisch, atemberaubend  – und für Chagall in ihrer bejahenden Kraft und Schönheit anziehend. Ähnlich Chagall entwickelt Sutskever in der Wortkunst ein Symbolarium, das seine Texte untereinander verbindet. In beider Werk gehen die Leitmetaphern immer neue Verbindungen ein. In Sutskevers Lyrik berühren sich die Extreme: Eis und Schnee – Sutskevers Bilder des Todes, aber auch des Poetischen, das in Sutskever in Sibirien geboren wird (vgl. Cummy 2007: 305) – entfalten ihre volle metaphorische Kraft durch das Feuer, aus und für Erez Israel geboren. (Sutskevers erster in Israel entstandener Gedichtzyklus heißt In fayer-vogn [Im Feuerwagen], 1952). Die Fiedel, die von Sutskevers Vater ebenso wenig zu trennen ist wie die Heringe von demjenigen Chagalls, wächst in den Bildern des ‚Vitebsker Kindes‘ aus dem Konkreten ins Symbolisch-Mythische hinaus. Sutskevers und Chagalls (Bilder-)Sprache ist die Spannung zwischen realer Konkretheit und Mythisierung gemeinsam. Hier wie da scheint das Ewige im Zeitlichen auf. In Sutskevers Sammlung Di fidlroyz (Die Fiedelrose, 1974) vollzieht die Geige die Metamorphose vom konkreten Instrument (der Musik) zum vielschichtig mit der Rose verquickten Symbol (der Dichtung). Wie bereits das von Farben, Klängen und Neologismen durchsetzte Poem Sibir (Sibirien, 1952) illustriert Chagall auch diesen Band.871 Er ist empfänglich für die Metaphern(hybride) und deren Bedeutungsdimensionen, mit denen Sutskevers Dichtung die Realität weit hinter sich lässt, ohne sie verraten.872 Auf die Zyklen Dos eyntsike fentster (Das einzige Fenster), Ful der milgroym (Voll ist der Granatapfel), Alef-beys fun tsvey un tsvantsik fligl (Alphabet der zweiundzwanzig Flügel) in Di fidlroyz folgt abschließend Dornbeymlekh (Dornensträucher). Diese Dornensträucher nehmen durch fünf Gedichte hindurch den Weg vom Konkreten – das lyrische Subjekt passiert auf den Spuren von Moses und Elias dorniges Gestrüpp – hin zur Metapher (vgl. „dorndiker alef-beys“/„Dornenalphabet“; 1974: 106). Die Metapher wiederum dehnt sich aus zum (jüdischen) Weltbild (vgl. hierzu Link 1981: 215). Sutskevers „oysyes-porkhes“ (aufgeblühte Buchstaben; Sutskever 1974: 106) am Sinai implizieren ebenso wie seine „hisgales“ (Offen­ barung; S. 107) den Empfang der Gesetzestafeln, seine Vision des „dor-hamidber“ (Wüstengeschlechts; S. 108) die Geschichte des jüdischen Volkes von der Erschaffung der 869 Der Zentralbegriff der jüdischen Mystik „en-sof“ (das höchste Letzte) steht für Gott. 870 Zu Sutskevers Nachkriegslyrik s. Valencia 2004: 217–239. 871 Die intermediale Text-Bild-Beziehung zwischen diesen beiden Gedichtzyklen und Chagalls Illustrationen ist in einer eigenständigen Studie zu beleuchten. Hier könnte auch die Illustrationsarbeit anderer Künstler einfließen, etwa diejenige Yosl Bergners (geb. 1920), der beispielsweise zu Sutskevers Fun alte un naye ksav-yadn (Von alten und neuen Handschriften, 1982) Zeichnungen beisteuert. 872 Deutsche Teilübersetzung in: Sutzkever 2009: 183–197 (ÜS: Peter Comans). Die Sammlung wurde von Ruth Whitman ins Englische übertragen (1990).

352  | Epilog Welt (S. 106) bis zum Tag des „din-toyre“ (Gerichts; S. 108). Der physische Raum und seine Vegetation beinhalten in Sutskevers Geopoetik – erinnerte – Geschichte(n), wenn man ihn wie die Seiten eines Buches zu lesen weiß. (Nicht umsonst schreibt Ruth Wisse über Sutskever, er sei in erster Linie ein Leser; 1990: 29.) Beim Gestrüpp verknüpft das lyrische Ich seine Biographie mit der jüdischen Historie und Religion. Der Tanach ist als Narrem, aber auch graphisch präsent: Schon im ersten Gedicht ist im „shvartsn fayer“ (schwarzen Feuer; 1974: 105) die kabbalistische Vorstellung von der Heiligen Schrift gegenwärtig. Die Natur ist – dank der Metapher – Gottes Schöpfung und Gottes Schrift. Doch liest das lyrische Ich nicht nur Gottes Wort, sondern hört es in der „shtilkayt fun a trer“ (Stille einer Träne; 1974: 107). Die Dornensträucher erzählen in Sutskevers zeiten­ umspannendem Erinnerungstext natürlich vom brennenden Dornbusch, aus dem einst Gott zu Moses sprach (Ex 3; S. 108). Zugleich erhebt das lyrische Ich dank ihrer seine „gas-kol“ (Gassenstimme; S. 108), um stellvertretend für alle Juden zu sprechen.873 Im Chronotop des Dornengestrüpps sind die Stimmen aller Verstorbenen „fun groz“ (aus Gras; ebd.) gegenwärtig wie die Zeit(en) im Raum. Diese Schau des lyrischen Ich, gefasst in sieben- und achthebige Jamben, die im Kreuzreim dem vollendeten Rhythmus der Natur, dem Wechsel von Tag und Nacht antworten, schließt mit Elias Auffahrt in den Himmel im Feuerwagen am Berg Karmel eine der größten tanachischen Visionen mit ein (s. S. 109; vgl. 2 Kön 2, 1–18).874 Das Dunkel der Höhle, in der sich im ersten Gedicht der Prophet der biblischen Vorlage getreu vor König Ahab verbirgt (vgl. 1 Kön 17–2 Kön, 2), weicht dem Licht (der Himmelfahrt) aus dem fünften und letzten (die Fünf als Zahl des Propheten kehrt hier wieder, vgl. Kap. 6). Die gottgegebene und gottergebene Aufwärtsbewegung und Aufhebung der Zeiten verbindet den Dichter Sutskever mit dem Propheten. Die Aufwärtsbewegung sowie das Ineinander von Schrift und Natur kehrt auch in Chagalls luftiger Skizze wieder, die der Maler Sutskevers Text an die Seite stellt (s. Abb. 76). Chagalls Dornbüsche formen sich zum Berg, von dem aus ein Flügelwesen (der Dichter? der Maler? der Prophet?) emporschwebt. Im Gedicht ist das lyrische Ich „oyg oyf oyg mit shtilkayt“ (Auge in Auge mit der Stille; 1974: 107). In der Illustration erhebt sich die Engelsgestalt im Angesicht von Gottes Schöpfung, von Gottes Finsternis, der angedeuteten Schwärze, und seinem Licht, dem Mond, das durchaus Gottes Säuseln zu Elias evoziert. Sutskever, ein „feniks-mentsh“ (Phönix-Mensch), wie er in seinem Widmungsgedicht an den jüdischen Künstler und Illustrator Yosl Bergner schreibt (1986: 121), kreiert in seiner Lyrik ‚Phönix-Worte‘, die Paul Ricœurs Plädoyer für die métaphore vive alle Ehre machen. In Kenntnis seiner Leitmetaphern erklärt sich auch Chagalls geflügeltes Wesen, das der Maler als visuelle Metapher für den kunstnahen Dichter einsetzt. Sutskevers Muse ist die Taube. Sie wird „während seiner sibirischen Kindheit aus der Feder eines Engelflügels geboren“

873 Sutskever erinnert durch diese Metapher konkret an die Straßen von Vilnius, mit dem „fayertants bay der Vilye“ (Feuertanz bei der Wilia [Neris; S. K.]; ebd.) an die dortige Judenvernichtung. 874 Vgl. auch Sutskevers Gedicht Tsvayg mit letste karshn (Zweig mit letzten Kirschen, 1970: 90) von 1968.

Marc Chagall und Avrom Sutskever  | 353 (Valencia 2009: 59), wie er in seiner Ode tsu di toyb (Ode an die Taube, 1954) schreibt.875 Ihr Nest ist ein Bogen Papier. Ihm schreibt das lyrische Ich sein Antlitz ein. Mit Worten baut es den zerstörten Tempel wieder auf.876 Diesen ethischen Gestus, den Brüchen, Rissen und Wunden der (historischen Zeit) eine – vom Glanz seiner Metaphern umstrahlte – ästhetisch vermittelte, durchaus metaphorisch zu verstehende Ganzheit entgegenzusetzen, teilt Avrom Sutskever mit dem Künstler. Auch Marc Chagall schreibt und malt mit am Neuen Tempel.

875 S. Sutskever 1963 Bd. 2: 165–174. Chagall scheint bei der Illustration Sutskevers berühmte Ode im Auge zu haben, in der Sutskever mit dem Motiv der Dornen und des Mondes operiert. Die Flügel sind als „bloye midber-fligl“ (blaue Wüstenflügel; 1974: 108) in den Dornbeymlekh präsent. 876 „Taybele, bistu di zelbe, di fligl nit gro, iz dos meglekh? / Zol ikh do boyen mayn templ, vi ikh hob geboyt im tog-geglekh? / Zol ikh mayn tsoyberdik lempl tsegroyen oyf s’nay un tsebloyen? / – boyen un boyen dem templ, mit zunikn seykhl im boyen!“ (Taube, stets bist du dieselbe, die Flügel nie grau, ist das möglich? / Soll ich hier bauen den Tempel, ihn bauen wie einst, Tag für Tag? / Soll ich es tun, meine magische Lampe ergrauen erneut und erblauen?“ / Bauen den Tempel und bauen, mit Sonnenvernunft ihn erbauen!“; Sutskever 1963 Bd. 2: 174; ÜS: Peter Comans).

Danksagung

Die vorliegende Monographie stellt das wichtigste Ergebnis meines Dilthey-Fellowships „Ostjudentum in Literatur und Malerei: Marc Chagall“ dar. Der VolkswagenStiftung, die mich mit diesem Forschungsprojekt in die Förderlinie „Pro Geisteswissenschaften“ aufnahm, bin ich für die finanzielle Förderung und hervorragende Betreuung vor allem durch Frau Dr. Gudrun Tegeder zutiefst verpflichtet. Ich danke für das in mich gesetzte Vertrauen, dieses ambitionierte, zwischen Slavistik, Jiddistik und Bildwissenschaft angesiedelte Forschungsabenteuer durchzuführen. Mein Grenzgängertum zwischen den Disziplinen ließ mich methodisch und inhaltlich in neue, faszinierende ‚kulturelle Gewässer‘ aufbrechen. Mit vielen Institutionen und Forschern der Slavistik, Jiddistik, der Judaistik und der Kunstgeschichte im In- und Ausland konnte ich in einen für mich wichtigen und bereichernden Dialog treten. So danke ich an dieser Stelle herzlich für sach- und fachkundige Auskünfte, Anmerkungen und Anregungen: Andreas Angerstorfer, wissenschaftlicher Angestellter der Katholischen Theologie der Universität Regensburg (†) Chris Dagleish, bibliothekarisches Faktotum der Universitätsbibliothek Regensburg Marina Dmitrieva, Kunsthistorikerin am GWZO Leipzig Carl Ehrlich, Professor für Hebräische Bibel und Biblische Archäologie an der York University in Toronto Armin Eidherr, Professor für Jiddistik, Jüdische Kulturgeschichte und Neuere deutsche Literatur an der Universität Salzburg und Übersetzer aus dem Jiddischen Nathalie Hazan-Brunet vom Musée d’art et d’histoire du Judaïsme in Paris Ernst Hansack, Professor für slavische Sprachwissenschaft an der Universität Regensburg Benjamin Harshav, Professor für Slavische Sprachen und Literaturen an der Yale University, New Haven Ljudmila Chmel’nickaja, Direktorin des Marc-Chagall-Museums in Vitebsk Rahel Feilchenfeldt für wertvolle Auskünfte zu ihrem Schwiegervater Walther Feilchenfeldt Akvile Grigoraviciute, Bibliothekarin der Litauischen Nationalbibliothek in Vilnius, Litauen Kenneth Hanshew, Irina Markov und allen anderen TeilnehmerInnen am Forschungskolloquium von Walter Koschmal Rachel Haiberger von der Universitätsbibliothek „Johann Christian Senckenberg“ Frankfurt a. M. Kristina Kallert, Lektorin für Tschechisch an der Universität Regensburg und Übersetzerin aus dem Tschechischen Olga Litvak, Professorin für Jüdische Geschichte an der Clark University Yitskhok Niborski vom INALCO und der „bibliothèque MEDEM“ Paris, einem großer Lehrer und dem Gedächtnis der jiddischen Sprache und Literatur Dan Opatoshu aus Los Angeles Ayala Oppenheimer vom Museum Ein Harod, Israel

356  | Danksagung Wolfgang Preusker-Maier, Kunsthistoriker in Wien Yudis Rapoport aus Tel-Aviv und Annie Carlotti aus Paris für wichtige Recherchehilfen Annette Weber, Professorin für Jüdische Kunst an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg Annette Werberger vom Slavischen Seminar Tübingen Evita Wiecki, Lektorin für Jiddisch an der LMU München Nils Wiesenberg und allen TeilnehmerInnen am Magistranden- und Doktorandenkolloquiums am Institut für Kunstgeschichte der Universität Regensburg den Mitarbeitern am YIVO, New York, für wertvolle Unterstützung bei meinen Recherchen Julia Wisokomorni für das Schema zu Kubistische Landschaft meinen Studierenden besonders der forschungsorientierten Seminare zu Marc Chagall zwischen Literatur und Malerei sowie zu den Avantgarde-Kulturen in Vitebsk. Ich danke für intensiven und fruchtbaren fachlichen Austausch besonders Kirill Dmitriev von der University of St Andrews, School of Modern Languages, Schottland, und Verena Lepper vom Pergamon-Museum Berlin, beide Mitglieder der „AG Minderheiten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ der Jungen Akademie Diane Mehlich, Doktorandin am Institut für Slavistik und Koordinatorin des Elitestudiengangs „Osteuropastudien“ Gennady Estraikh, Rauch Associate Professor für Jiddische Studien und Associate Professor für Hebräische und Jüdische Studien an der New York University und Mikhail Krutikov, Professer für Slavische und Jüdische Studien an der Universität Ann Arbor, Michigan. Mein inniger Dank gilt meinem ehemaligem Habilitationsmentorat, bestehend aus Prof. Dr. Hans-Christoph Dittscheid vom Institut für Kunstgeschichte der Universität Regensburg, Prof. Dr. Aage A. Hansen-Löve vom Institut für Slavistik der LMU München und Prof. Dr. Walter Koschmal vom Institut für Slavistik der Universität Regensburg. Dank ihrer engagierten, aus dem Kern des jeweiligen Faches und Forschungsschwerpunktes kommenden methodischen und inhaltlichen Begleitung war die Abfassung der Arbeit zu keinem Zeitpunkt gefährdet. Gerade der intensive fachliche Austausch mit Walter Koschmal ist kaum mit etwas aufzuwiegen (außer mit ebenso guten Forschungsarbeiten). Was meine Hilfskräfte anbelangt, war mir das Schicksal mehr als hold: Witalij Schmidt und Annelie Bachmaier sind nicht nur gute Seelen, sondern auch ganz helle Köpfe. Mein besonderer Dank geht an Holger Nath für seine wertvollen Auskünfte, Recherchen und aufmerksamen Korrekturen in der Endphase der Drucklegung. Ich danke von Herzen allen Freunden und Verwandten, bei denen Hannah und Lea während des Abfassens der Arbeit in besten Händen waren, meiner Mutter Margareta, meiner Schwester Alexandra, meiner Schwiegermutter Ingrid, Margret und Andreas Döberl sowie Brigitte Elberfeld. Holger Schenk hat technische Hilfestellungen, Petra Huber wichtige Re-Lektüren geleistet. Anneliese Lehner hat mir in den vergangenen vier Jahren zu jedem Zeitpunkt in

Danksagung  | 357 ihrem schönen Haus ein inspirierendes Refugium bereitgestellt, um gelegentlich in Ruhe über die Thematik nachlesen und -denken zu können. Meine gedankliche Reise zog für mich als Slavistin zunächst ungewöhnliche Reiserouten nach sich: Für den Osten ging es auch in den Westen, zu Fragen über russisch-jüdische Wunderkinder der ostjüdischen Kulturrenaissance fuhr ich nach Paris und New York, Tel Aviv, Jerusalem, Ein Harod, Vilnius und Vitebsk. Meine Familie hat mich überallhin begleitet. Dafür danke ich unseren beiden Kindern – und Rainer, dem Unersetzlichen. So konnte ich bleiben, was ich am liebsten bin: Mutter und Wissenschaftlerin. Regensburg, im August 2012

Literaturverzeichnis

A shpigl oyf a shteyn. Antologye. poezye un proze fun letste farshnitene yidishe shraybers in Ratnfarband. Herausgegeben von Khone Shmeruk und Benjamin Harshav. Yerusholayim 21987. [Shmeruk/Harshav 21987] Aaron, Nikolaj. Marc Chagall. Reinbek bei Hamburg 2003. Aberbach, David. Realism, caricature, and bias. The fiction of Mendele Mocher Sefarim. London 1993. Abramsky, Chimen. „Yiddish Book Illustrations in Russia. 1916–1923“. In: Apter-Gabriel, Ruth. Tradition and Revolution. The Jewish Renaissance in Russian Avant-garde Art. Jerusalem 21988. S. 61–70. Achmatova, Anna. Izbrannoe. Moskva 1993. Aczel, Richard. „Intertextualität“. In: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Herausgegeben von Ulrich Pfisterer. Stuttgart 2003. S. 287–289. Adler, Yankel. „Der veg fun yidishn kinstler“. In: Yisokher Ber Ribak. Paris 1937. S. 43–46. Agamben, Giorgio. Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Frankfurt a. M. 2003. Agnon, Samuel. „Der Eingang zur Höhle oder die Geschichte von der Ziege“. Jüdischer Almanach auf das Jahr 5688 (1928). S. 208–211. Ajgi, Gennadij. Sobranie sočinenij v 7-i tomach. Bd. 2. Zimnie kuteži. Moskva 2009. Aleksandra Ėkster. Cvetovye ritmy. / Alexandra Exter. Farbrhythmen. Sankt-Peterburg 2001. [Ėkster 2001] Allerhand, Jacob. „Jiddisch – Metamorphose einer Sprache“. In: Allerhand, Jacob/Magris, Claudio (Hrsg.). Studien zur Literatur der Juden in Osteuropa. Eisenstadt 1977. S. 7–81. Amishai-Maisel, Ziva. „Chagall’s Jewish ,in-jokes’“. Journal of Jewish Art 5. 1978. S. 76–93. Amishai-Maisels, Ziva. „The Jewish Jesus“. Journal of Jewish Art 9. 1982. S. 85–104. Amishai-Maisels, Ziva. „Chagall and the Jewish Revival: Center or Periphery“. In: Apter-Gabriel, Ruth (Hg.). Tradition and Revolution. The Jewish Renaissance in Russian Avant-Garde Art 1912–1928. Jerusalem 21988. S. 71–100. Amishai-Maisels, Ziva. „Innenseiter, Außenseiter. Moderne jüdische Künstler im Portrait“. In: Nachama, Andreas/Schoeps, Julius H./Voolen, Edward van. Jüdische Lebenswelten. Essays. Frankfurt am Main 1991. S. 165–184. Amishai-Maisels, Ziva. Depiction and Interpretation. The Influence of the Holocaust on the Visual Arts. Oxford/New York/Seoul/Tokyo 1993. Amishai-Maisels, Ziva. „The Jewish Awakening: A Search for National Identity“. In: Goodman Tumarkin, Susan (Hg.). Russian Jewish Artists in a Century of Change. Munich/New York 1995. S. 54–70. Amishai-Maisels, Ziva. „Der jüdische Jesus“. In: Golinski, Hans Günter/Hiekisch-Picard, Sepp (Hg.). Das Recht des Bildes. Heidelberg 2003. S. 223–237. Amishai-Maisels, Ziva. „Chagall und der Holocaust“. In: Heuberger, Georg/Grütters, Monika (Hg.). Verehrt – Verfemt. Chagall und Deutschland. München/Berlin/London/New York 2004. S. 124– 146.

360  | Literaturverzeichnis Andrew, Joe. „Babel’s My first Goose“. In: Andrew, Joe (u. a.) (ed.). The Structural Analysis of Russian Narrative Fiction. Keele 1984. S. 64–81. [Andrew 1984a] Andrew, Joe. „’Spoil the purest of ladies’. Male & Female in Isaac Babel’s Konarmija“. Essays in Poetics 14 (2), 1984. S. 1–27. [Andrew 1984b] Angerstorfer, Andreas. „Regensburg als Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit im Mittelalter“. In: Brenner, Michael/Höpfinger, Renate (Hg.). Die Juden in der Oberpfalz. München 2009. S. 9–26. An-Ski, Shloyme. „Der yidisher folks-gayst un zayn shafn“. In: Ders. Gezamlte shriftn. Warschau 1925, Bd. 15. S. 15–28. Apčinskaja, N.V. „Posleslovie“. In: Šagal, Mark. Moja žizn’. Moskva 1994. S. 179–197. Apter-Gabriel, Ruth (Hg.). Tradition and Revolution. The Jewish Renaissance in Russian Avant-Garde Art 1912–1928. Jerusalem 1987/21988. Apter-Gabriel, Ruth. „,Un passé qu renaît, un futur qu s‘évanouit‘. Les sources de l’art populaire dans le nouvel art juif russe“. In: Hazan-Brunet, Nathalie (Hg.). Futur antérieur. L’avant-garde et le livre yiddish (1914–1939). Paris 2009. S. 52–73. Aptroot, Marion/Gruschka, Roland. Jiddisch. Geschichte und Kultur einer Weltsprache. München 2010. Arendt, Hannah [1963]. Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München 4 2009. (Aus dem Amerikanischen von Brigitte Granzow.) Arminjon, Victor. Pouchkine et Pierre le Grand. Paris 1971. (= Etudes russes; 4) Aronson, Boris. Mark Šagal. Berlin 1923. (dt. Aronson, Boris. Marc Chagall. Berlin 1924.) Aronson, Boris. „Contemporary Jewish Graphics“. In: Apter-Gabriel Ruth. (Hg.). Tradition and Revolution: The Jewish Renaissance in Russian Avant-Garde Art 1912–1928. Jerusalem 1987. S. 235–238. Arp, Hans/El Lissitzky. Die Kunstismen / Les Ismes d’art / The Isms of art. Erlenbach-Zürich, München, Leipzig 1925. Assmann, Jan. Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992. Assmann, Aleida. Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 2003. Astro, Alan. „Oser Varszawski (Oyzer Varshavski)“. In: Dictionary of Literary Biography. Vol. 333. Writers in Yiddish. Edited by Joseph Sherman. Detroit/NewYork/San Francisco/New Haven/ Waterville/London/Munich 2007. S. 323–331. Baal-Teshuva, Jacob. Marc Chagall. Hongkong/Köln/London/Los Angeles/Madrid/Paris 2008. Babel, Isaak. Geschichten aus Odessa. Darmstadt 1962. (Aus dem Russischen von Dmitrij Umanski) Babel, Isaak. Tagebuch 1920. Berlin 1990. (Aus dem Russischen von Peter Urban) Babel’, Isaak Ė. „Istorija moej golubjatni“. In: Ders. Sočinenija. V 2-ch tomach. Tom vtoroj. Moskva 1996. S. 161–171. Babel’, Isaak Ė. Odesskie rasskazy. Odessa 2001. Babel’, Isaak Ė. Konarmija. Sankt-Peterburg 2002. Babel’, Isaak Ė. Sobranie sočinenij v 4-ch tomach. Moskva 2006. Der babylonische Talmud. Neu übertragen durch Lazarus Goldschmidt. 13 Bde. Darmstadt 1996. [bT]

Literaturverzeichnis  | 361 Bachmann-Medick, Doris. „Kulturanthropologie“. In: Nünning, Ansgar/Nünning, Vera (Hrsg.). Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stuttgart/ Weimar 2003. S. 86–107. Bachmann-Medick, Doris. Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg 2006. Bachtin, Michail. Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt a. M. 1979. Bachtin, Michail M. Tvorčestvo Fransua Rable i narodnaja kul’tura srednevekov’ja i renessansa. Orange/Düsseldorf 1986. Bachtin, Michail. Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt a. M. 1987. Bachtin, Michail. Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt a. M. 1996. Baker, Zachary M., „Kletskin, Boris Arkadevich“. In: Hundert, Gershon D. (Hg.). The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. 2 Bde. New Haven/London 2008. Bd. 1. S. 905–906. Bal-Makhshoves. „Sholem-Aleykhem“. In: Ders. Geklibene verk. Nyu-York 1953. S. 172–190. [BalMakhshoves 1953a] Bal-Makhshoves. „Dovid Hofshteyn, Leyb Kvitko, Perets Markish“. In: Ders. Geklibene Verk. NyuYork 1953. S. 302–307. [Bal-Makhshoves 1953b] Bal-Makhshoves. „Dray lirishe poetn“. In: Ders. Geklibene verk. Nyu-York 1953. S. 302–306. Bataille, Georges. „Die Souveränität“. In: Ders. Die psychologische Struktur des Faschismus. Die Souveränität. München 1978. S. 45–86. Bätschmann, Oskar. Einführung in die kunstgeschichtliche Hermeneutik. Darmstadt 1984. Baudrillard, Jean. Die Agonie des Realen. Berlin 1978. Bechtel, Delphine. Der Nister’s work. 1907–1919. Study of a Yiddish symbolist. Frankfurt/M. Berne. 1990. Bechtel, Delphine. „L‘œuvre de Leyb Kvitko à Hambourg: entre politique, science-fiction et espionnage“. In: Baumgarten, Jean/Bunis, David (Hg.). Mélanges du centre de recherche français de Jérusalem. Paris 1999. S. 247–271. Bechtel, Delphine. La Renaissance culturelle juive. Europa centrale et orientale 1897–1930. Paris 2002. Beizer, Mikhail. The Jews of St. Petersburg. Excursions through a Noble Past. Philadelphia/New York 1989. Belaja, Galina A./Dobrenko, Evgenij/Esaulov, Ivan. Konarmija Isaaka Babelja. Moskva 1993. Belinskij, Vissarion G. „Pochoždenija Čičikova, ili Mërtvye duši“. In: Ders. Polnoe sobranie sočinenij. Bd. 6. Stat’i i recenzii 1842–1843. Moskva 1955. S. 209–222. Bellinger, Gerhard J. Knaurs Lexikon der Mythologie. Augsburg 2000. Belting, Hans. Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München 2001. Belting, Hans (Hg.). Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch. München 2007. Belyj, Andrej. „Gogol’ i Mejerchol’d“. In: Gogol’ i Mejerchol’d. Sbornik. Moskva 1927. S. 9–38. Belyj, Andrej 1996. Masterstvo Gogolja. Moskau. Ben-Chanan, Yaacov. Jüdische Identität – heute. Drei Essays. Kassel 1992. Benjamin, Walter. „Über die Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen“. In: Ders. Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2. Frankfurt a. M. 1966. S. 9–26. Benjamin, Walter. „Über den Begriff der Geschichte“. In: Ders. Gesammelte Schriften. I/2. Werkausgabe Bd. 2. Frankfurt a. M. 1980. S. 691–704.

362  | Literaturverzeichnis Berg, Nicolas. Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher. Göttingen 2008. Berg Nicolas. „Was bedeuten Marc Chagalls ‚Fliegende Menschen‘? Bemerkungen zur Metaphorik des ‚schwebenden Judentums‘“. In: Schmeitzner, Mike/Wiedemann, Heinrich (Hg.). Mut zur Freiheit. Ein Leben voller Projekte. Festschrift zum 80. Geburtstag von Wolfgang Marcus. Berlin 2007. S. 433–440. Berger, John. Gegen die Abwertung der Welt. München/Wien 2003. (Aus dem Englischen von Hans Jürgen Balmes) Berger John. (1971), „Dürer. ein Bild des Künstlers“. In: Ders. Das Kunstwerk. Über das Lesen von Bildern. Berlin 52005. S. 15–26. (Aus dem Englischen von Kyra Stromberg) Bernshteyn, Ignats. Yidishe shprikhverter und redensarten. Varshe 1908. Bertz, Inka. ‚Eine neue Kunst für ein altes Volk‘. Die jüdische Renaissance in Berlin 1900–1924. Berlin 1991. Bertz, Inka, Die Bibliothek des YIVO. Von Wilna nach New York. In: Bertz, Inka/Dorrmann, Michael (Hg.). Raub und Restitution. Kulturgut aus jüdischem Besitz von 1933 bis heute. Göttingen 2008. S. 285–288 und 297–298. Bialik, Khaim Nakhman. „The City of Slaughter“. Prooftexts 25 1/2. 2005. S. 8–29. (Übersetzung von A. M. Klein) Bialik, Khayim Nakhman. Fun tsar un tsorn. Berlin 1922. Binevič, Evgenij. „Karikaturisty o Mejerchol’de – režissëre imperatorskich teatrov“. In: Fel’dman, Oleg M. (Hg.). Mejerchol’dovskij sbornik, vypusk vtoroj. Mejerchol’d i drugie. Dokumenty i materialy. Moskva 2000. S. 208–227. Birnholz, Alan C. „El Lissitzky and the Jewish Tradition“. Studio International 186 (959). 1973. S. 130–136. Bloch, Chaim. Chassidische Geschichten. Wiesbaden 1996. Blok, Aleksandr. A [1906]. „Kraski i slova“. In: Ders. Polnoe sobranie sočinenij v 20-i tomach. Moskva 2003. S. 15–18. Bochow, Jörg. Das Theater Meyerholds und die Biomechanik. Berlin 1997. [Bochow 1997a] Bochow, Jörg. Das Theater Meyerholds und die Biomechanik. Video [Bochow 1997b] Bodoff, Lippman. „The Real Test of the Akedah: Blind Obedience Versus Moral Choice“. In: Judaism. A Quarterly Journal. 42 (1). 1993. S. 71–92. Boeckh, Katrin/Völkl, Ekkehard. Ukraine. Von der Roten zur Orangenen Revolution. Regensburg 2007. Boehm, Gottfried, „Mnemosyne. Zur Kategorie des erinnernden Sehens“. In: Boehm, Gottfried/ Stierle, Karlheinz/Winter, Gundolf (Hg.). Modernität und Tradition. Festschrift für Max Imdahl zum 60. Geburtstag. München 1985. S. 37–57. Boehm, Gottfried. „Die Wiederkehr der Bilder“. In: Ders. (Hg.). Was ist ein Bild? München 1994. S. 11–38. Boehm, Gottfried. Der blinde Spiegel. Anmerkungen zum Selbstbildnis im 20. Jahrhundert. In: Herzog Anton Ulrich-Museum (Hg.). Ansichten vom Ich (Katalog), Braunschweig 1997. S. 25–33. Boehm, Gottfried. „Botschaften ohne Worte. Vom Sprachcharakter der bildenden Kunst“. In: Panagl, Oswald/Goebl, Hans/Brix, Emil. Der Mensch und seine Sprache(n). Wien/Köln/Weimar 2001. S. 253–271. (= Wissenschaft – Bildung – Politik; 5) Boehm, Gottfried, „Gegen den Strich. Über die Arbeit mit Schrift und Bild“. In: Neumann, Gerhard/ Öhlschläger, Claudia (Hrsg.). Inszenierungen in Schrift und Bild. Bielefeld 2004. S. 109–123.

Literaturverzeichnis  | 363 Boehm, Gottfried. „Jenseits der Sprache? Anmerkungen zur Logik der Bilder“. In: Ders. Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens. Berlin 2007. S. 34–53. [Boehm 2007a] Boehm, Gottfried. „Unbestimmtheit. Zur Logik des Bildes“. In: Ders. Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens. Berlin 2007. S. 199–212. [Boehm 2007b] Boehm, Gottfried/Bredekamp, Horst (Hrsg.). Ikonologie der Gegenwart. München 2009. Bohrer, Karl-Heinz. Imaginationen des Bösen. Zur Begründung einer ästhetischen Kategorie. ­München/Wien 2004. Bol’šaja ėnciklopedija v 62-ch tomach. Glavnyj red. S. A. Kondratov. Moskva 2006. [BĖ 2006] Borenstein, Eliot. Men without Women. Masculinity and Revolution in Russian Fiction, 1917–1929. Durham/London 2000. Bowlt, John E. Moscow and St. Petersburg in Russia’s Silver Age. London 2008. Bowlt, John E./Drutt, Matthew. Amazonen der Avantgarde. Alexandra Exter, Natalja Gontschwarowa, Ljubow Popowa, Olga Rosanowa, Warwara Stepanowa und Nadeschda Udalzowa. Ostfildern-Ruit 1999. Boyarin, Daniel/Boyarin, Jonathan (Hg.). Jews and Other Differences. The New Jewish Cultural Studies. Minnesota 1997. Bozo, Dominique. „Vorwort“. In: Marc Chagall. Arbeiten auf Papier. Hannover 1985. S. 21–22. Bredekamp, Horst. „Bildwissenschaft.“ In: Pfisterer, Ulrich (Hg.). Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen. Methoden. Begriffe. Stuttgart/Weimar 2003. S. 56–58. [Bredekamp 2003a] Bredekamp, Horst. „A Neglected Tradition? Art History as Bildwissenschaft“. Critical Inquiry, 29.3 (2003 Spring). S. 418–428. [Bredekamp 2003b] Bredekamp, Horst. „Bildakte als Zeugnis und Urteil“. In: Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. Herausgegeben von Monika Flacke. Deutsches Historisches Museum. 2 Bde. Bd. 1. Mainz 2004. S. 29–66. Bredekamp, Horst. Das technische Bild. Kompendium zu einer Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder. Berlin 2008. Bredekamp, Horst (Hg.). Bildendes Sehen. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Berlin 2009. Brenner, Michael. Jüdische Kultur in der Weimarer Republik. München 2000. Breton, André. Le surréalisme et la peinture. Paris 1965. Breuer, Gerda/Wagemann, Ines. Ludwig Meidner. Zeichner, Maler, Literat. 1884–1966. Bd. 2. Stuttgart 1991. Brieger, Lothar/Lilien, E.M. Eine künstlerische Entwicklung um die Jahrhundertwende. Berlin/Wien 1922. Browning, Gary L. „Russian Ornamental Prose“. Slavic & East European Journal 23 (1979). S. 346–352. Brugger, Ingried/Stooss, Toni. Im Bann der Moderne. Picasso, Chagall, Jawlensky. Meisterwerke aus der Sammlung Karl und Jürg Im Obersteg. Wien 2003. Buber, Martin. „Jüdische Renaissance“. Ost und West 1 (1901) S. 7–10. Buber, Martin (Hg.). Jüdische Künstler. Berlin 1903. Buber, Martin. Schriften zum Chassidismus. Bd. 3. Heidelberg/München 1963. Buber, Martin. „Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift“. In: Die fünf Bücher der Weisung. Bd. 1. 1992. S. 1–44. (Aus dem Hebräischen von Martin Buber und Franz Rosenzweig) [im Anhang] Buber, Martin. Die Erzählungen der Chassidim. Zürich 121996. Budnickij, Oleg V (Hg.). Evrei i russkaja revoljucija. Materialy i issledovanija. Moskva/Ierusalim 1999.

364  | Literaturverzeichnis Budnickij, Oleg V. Rossijskie evrei meždu krasnymi i belymi 1917–1920. Moskva 2005. Bullock, Philip Ross. „The Cruel Art of Beauty. Walter Pater and the Uncanny Aestheticism of Isaak Babel’s Red Cavalry“. Modern Language Review 104 (2). 2009. S. 499–529. Burljuk, David/Kručenych, Aleksandr/Majakovskij, Vladimir/Chlebnikov, Viktor (Velimir). „Poščečina obščestvennomu vkusu“. In: Terechina, V.N./Zimenkov, A.P.: Russkij Futurizm. Stichi. Stat’i. Vospominanija. Sankt-Peterburg 2009. S. 69–70. Calvocoressi, Peter. Who’s who in der Bibel. München 142005. Caravaggio. Originale und Kopien im Spiegel der Forschung. Hrsg. von Harten, Jürgen/Martin, ­Jean-Hubert. Stuttgart 2006. (Ausstell.kat.) Carden, Patricia. The Art of Isaac Babel. Cornwell 1972. Cavanagh, Clare. The Poetics of Jewishness: Mandelstam, Dante and the ‚honorable Calling of Jew‘. Slavic & Eastern European Journal 35 (3). 1991. S. 317–348. Cavanagh, Clare. Osip Mandelstam and the Modernist Creation of Tradition. Princeton 1995. Chagall, Marc. Ma vie. Paris 1931. Chagall, Marc. Bible. 2 Bände. Paris 1956. Chagall, Marc. Mein Leben. Stuttgart 1959. Chagall, Marc. Poèmes. Génève 1975. Chagall, Marc/Provoyeur, Pierre (réd.). Le message biblique. Paris 1983. Chapman, Perry H. Rembrandt’s Self-Portraits. A Study in Seventeenth Century Identity. Princeton 1990. Chardžiev, N. „Poezija i živopis’“. In: K istorii russkogo avangarda. Michail Matjušin: Russkie kubofuturisty. Stockholm 1976. S. 8–84. Chlebnikov, Velimir V. Sobranie sočinenij v 6-i tomach. Bd. 2. Stichotvorenija 1917–1922. Moskva 2001. Chmel’nickaja, L./Stepanec, Ju. Mark Šagal i Biblija. Vitebsk 2002. [Chagall 2002] Čistjakov, V.A. Predstavlenija o doroge v zagrobnyj mir v russkich pochoronnych pričitanijach XIX– XX veka. In: Sokolova, V.K. (Hg.). Obrjady i obrjadovyj fol’klor. Moskva 1982. S. 114–127. Clayton, Douglas J. Pierrot in Petrograd. The Commedia dell’Arte/,Balagan‘ in Twentieth-Century Russian Theatre and Drama. Montreal u. a. 1994. Cogniat, Raymond. J. Ribak. Paris 1934. Cohen, Nathan. „Moment, Der“. In: Hundert, Gershon D. (Hg.). The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. 2 Bde. New Haven/London 2008. Bd. 2. S. 1193–1194. Cohen, Richard I. Jewish Icons. Art and Society in Modern Europe. Berkeley/Los Angeles/London 1998. Compton, Susan. Marc Chagall. Mein Leben – Mein Traum. Berlin und Paris 1922–1940. München 1990. Conrad, Christofer. „Pictor in fabula. Chagalls lithographisches Werk“. In: Chagall, Marc. Die Lithographien. La collection Sorlier, hrsg. von Ulrike Gauss. Ostfildern-Ruit 1998. S. 37–53. Corbineau-Hoffmann, Angelika. „Die Bewaffnung der Worte. Aspekte der Sprachgewalt in moderner Lyrik.“ In: Dies. (Hg.). Gewalt der Sprache – Sprache der Gewalt. Beispiele aus philologischer Sicht. Hildesheim/Zürich/New York 2000. S. 191–228. Cormack, Robin/Vassilaki, Maria (Hg.). Byzantium 330–1453. Katalog zur Ausstellung in der Royal Academy of Arts, London, 25. Oktober 2008 bis 22. März 2009. London 2008. Kat.-Nr. 50; Abb. S. 100.

Literaturverzeichnis  | 365 Coulmas, Florian. „Theorie der Schriftgeschichte“. In: Günther, Hartmut/Ludwig, Otto (Hg.). Schrift und Schriftlichkeit. Writing and Its Use. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler ­Forschung. An Interdisciplinary Handbook of International Research. Berlin/New York 1994. 256–264. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; 10.1) Cummy, Justin Daniel. „Avrom Sutskever“. In: Dictionary of Literary Biography. Vol. 333. Writers in Yiddish. Edited by Joseph Sherman. Detroit/New York/San Francisco/New Haven/Waterville/ London/Munich 2007. S. 303–313. Dan, Joseph. Jewish Mysticism and Jewish Ethics. Seattle/London 1986. Darian, Veronika. „Erlesene Bilder – Repräsentationen in Zeiten souveräner Macht“. In: Zenck, Martin/Becker, Tim/Woebs, Raphael (Hg.). Gewaltdarstellung und Darstellungsgewalt in den Künsten und Medien. Berlin 2007. S. 171–182. Dauber, Jeremy. „Nahman of Bratslav (Nakhmen Bratslaver)“. In: Dictionary of Literary Biography. Vol. 333. Writers in Yiddish. Edited by Joseph Sherman. Detroit/NewYork/San Francisco/New Haven/Waterville/London /Munich 2007. 203–210. De Vries, S. Ph. Jüdische Riten und Symbole. Reinbek bei Hamburg 102006. Dekiert, Marcus. Rembrandt. Die Opferung Isaaks. München 2004. Demisch, Heinz. Vision und Mythos in der modernen Kunst. Stuttgart 1959. Der jüdische Witz. Lexikon des Humors. Herausgegeben und eingeleitet von Salcia Landmann. Olten/ Freiburg i. B. 1960. [Landmann 1960] Der yidisher khurbn in Ukrayne: Materyaln und dokumentn. Redagirt un baarbet fun Leon Khazanovitsh. Berlin 1920. Derrida, Jacques. Grammatologie. Frankfurt a. M. 1974. Derrida, Jacques. „Weiße Mythologie“. In: Ders. Randgänge der Philosophie. Hrsg. von Peter Engelmann. Wien 1988. S. 205–258. Derrida, Jacques. „Den Tod geben“. In: Haverkamp, Anselm (Hg.). Derrida – Benjamin, Gewalt und Gerechtigkeit. Frankfurt am Main 1993. S. 331–445. Derrida, Jacques. Dissemination. Wien 1995. Derrida, Jacques. „Die Sprache der Anderen oder Die Prothese der Einsprachigkeit“. In: Haverkamp, Anselm (Hg.). Die Sprache der Anderen. Frankfurt a. M. 1997. S. 15–41 . [Derrida 1997a] Derrida, Jacques. Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen. München 1997. (Aus dem Französischen von Andreas Knop und Michael Wetzel) [Derrida 1997b] Derrida, Jacques. Dem Archiv verschrieben. Berlin 1997. [Derrida 1997c] Derrida, Jacques. Die Einsprachigkeit des Anderen oder die ursprüngliche Prothese. München 2003. (Aus dem Französischen von Michael Wetzel) Die Schrift. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Stuttgart 1992. Dinse, Helmut/Liptzin, Sol. Einführung in die jiddische Literatur. Stuttgart 1978. Dmitrieva, Marina. „Dekorationen des Augenblicks im Massentheater der Revolution. Petrograd, Kiew und Witebsk 1918–1920“. In: Bartetzky, Arnold/Dmitrieva, Marina/Troebst, Stefan (Hg.). Neue Staaten – neue Bilder? Visuelle Kultur im Dienst staatlicher Selbstdarstellung in Zentralund Osteuropa seit 1918. Köln/Weimar/Wien 2005. S. 117–131. (= Visuelle Geschichtskultur; 1) Dmitrieva, Marina. „Kunstdiskurs in der jüdischen Presse der Zwischenkriegszeit in Warschau, Kiew und Berlin“. In: Marten-Finnis, Susanne/Winkler, Markus (Hg.). Die jüdische Presse im euro­

366  | Literaturverzeichnis päischen Kontext 1686–1990. Bremen 2006. S. 247–265. (= Presse und Geschichte – Neue Beiträge; 21). Dmitrieva, Marina. „From Ethnography to Aesthetics. Theoretical Inheritance of Kultur-Lige and Jewish Artistic Discourse.“ In: Kultur-Lige. Artistic Avant-Garde of the 1910s and the 1920s. Kiev 2007. S. 48–61. Dmitrieva, Marina. „Spuren des Transits. Jüdische Künstler aus Osteuropa in Berlin“. Osteuropa 58. 8–10 (2008). S. 233–246. Dobrianowa-Bauer, Snejanka. „Als Chagall das Fliegen lernte“. In: Als Chagall das Fliegen lernte. Von der Ikone zur Avantgarde. Frankfurt a. M. 2004. S. 100–111. Dobrushin, Yekhezkl. Dray dikhter. In: Oyfgang 1. 1919. S. 71–97. Dobzynski, Charles. „Peretz Markish au carrefour da la modernité“. In: Markish, Peretz. Le monceau et autres poèmes. Paris 2000. S. 9–23. (Aus dem Jiddischen übersetzt von Charles Dobzynski) Dohrn, Verena. Reise nach Galizien. Grenzlandschaften des alten Europa. Frankfurt a. M. 1993. Döring, Thomas/Gatenbröcker, Silke/Nahrwald, Regine (Hg.). Ansichten vom Ich. 100 ausgewählte Blätter der Sammlung „Künstler sehen sich selbst – Graphische Selbstbildnisse des 20. Jahrhundert“ im Kupferstichkabinett des Herzog Anton Ulrich-Museums. Braunschweig 1997. „Dos pekele“. Ost und West 8–9. 1907. S. 563–564. Dostoevskaja, Anna Grigor’evna. Vospominanija. Moskva 1971. Dostoevskij, Fedor M. Polnoe sobranie sočinenij v 30-i tomach. Bd. 6. Prestuplenie i nakazanie. Leningrad 1973. Dostoevskij, Fedor M. Polnoe sobranie sočinenij v 30-i tomach. Bd. 14 und 15. Brat’ja Karamazovy. Leningrad 1976. Dresden, Sam. Holocaust und Literatur. Frankfurt a. M. 1997. Dubnov, Simon. Kniga žizni. Vospominanija i razmyšlenija. Materialy dlja istorii moego vremeni. 3 Bde. Hg. von Viktor L. Kel’ner. Sankt-Peterburg 1998. Dubnow, Simon. Weltgeschichte des jüdischen Volkes. 10 Bde. Berlin 1929. [Dubnov 1929] Dubnow, Simon. Geschichte des Chassidismus. In zwei Bänden. Berlin 1931. [Dubnov 1931] Dubnow, Simon. Buch des Lebens. Erinnerungen und Gedanken. Materialien zur Geschichte meiner Zeit. Bd. 3: 1922–1933. Herausgegeben von Verena Dohrn. Aus dem Russischen von Vera Bischitzky. Leipzig 2005. [Dubnov 2005] Dutli, Ralph. Mandelstam. Meine Zeit, mein Tier. Eine Biographie. Zürich 22003. Eagleton, Terry. Einführung in die Literaturtheorie. Stuttgart 1988. (= Sammlung Metzler; 246) Eagleton, Terry. Was ist Kultur? Eine Einführung. München 2001. Eberlein, Johann Konrad. „Inhalt und Gehalt. Die ikonographisch-ikonologische Methode“. In: Belting, Hans (Hg.). Kunstgeschichte. Eine Einführung. Berlin 51996. S. 169–191. Eco, Umberto. Das offene Kunstwerk. Frankfurt a. M. 1987. Efross, Abram/Tugendhold, Jakov. Die Kunst Marc Chagalls. Potsdam 1921. (russ.: Iskusstvo Marka Šagala. Moskva 1918) [Ėfros/Tugendchol’d 1921] Ehrlich, Ernst Ludwig. „Moses Maimonides“. In: Ders. Judentum verstehen. Frankfurt a. M. 2002. S. 52–71. Ehrmann, Daniel. Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch. Eine Sammlung von Sagen, Legenden, Allegorien und Fabeln. Wiesbaden 2004.

Literaturverzeichnis  | 367 Encyclopaedia Judaica. 22 Bde. Jerusalem ²2006. Ėjchenbaum, Boris [1917]. „Kak sdelana Šinel’ Gogolja / Wie Gogol’s Mantel gemacht ist“. In: Striedter, Jurij/Stempel, Wolf-Dieter/Paulmann, Inge (Hg.). Texte der russischen Formalisten. Bd. 1. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München 1969. 123–159. Elagin, Jurij B. Vsevolod Mejerchol’d. Temnyj genij. Moskva 1998. Elkins, James. On Pictures and the Words That Fail Them. Cambridge 1998. Elkins, James. The Domain of Images. Ithaca/London 1999. Ėrenburg, Il’ja [1966]. Ljudi, gody, žizn’. Vospominanija v trech tomach. Moskva 1990. (dt. Menschen, Jahre, Leben. München 1962/1965) Erik, Maks. Di geshikhte fun der yidisher literatur fun di eltste tsaytn biz der haskole-tkufe. Nyu-York 1928. Estraikh, Gennady. „The Kharkiv Yiddish Literary World, 1920s-Mid–1930s“. East European Jewish affairs 32. 2002. S. 70–88. Estraikh, Gennady. „The Vilna Yiddishist Quest for Modernity“. In: Dmitrieva, Marina/Petersen, Heidemarie. Jüdische Kultur(en) im Neuen Europa. Wilna 1918–1930. Wiesbaden 2004. S. 101– 116. (= Jüdische Kultur. Studien zur Geistesgeschichte, Religion und Literatur; 13) Estraikh, Gennady. In Harness. Yiddish Writers’ Romance with Communism. Syracuse, NY 2005. Estraikh, Gennady. „Nokhem Shtif“. In: Hundert, Gershon D. (Hg.). The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. 2 Bde. New Haven/London 2008. Bd. 2. S. 1740–1741. Estraikh, Gennady. „Shtrom“. In: Hundert, Gershon D. (Hg.). The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. 2 Bde. New Haven/London 2008. Bd. 2. S. 1741–1742. Estraikh, Gennady. „The Kultur-Lige“. In: Makaryk, Irena R./Tkacz, Virlana (Hg.). Modernism in Kyiv: Jubilant Experimentation. Toronto 2010. S. 197–217. Ėtkind, Mark G. Natan Al’tman. Moskva 1971. Fedorov-Davydov, Aleksej A. Michail Aleksandrovič Vrubel’. Moskva 1968. Feilchenfeldt, Rahel E./Brandis, Marus. Paul Cassirer Verlag. Berlin 1898–1933. Eine kommentierte Bibliographie. München 22005. S. 101–105. Fel’dman, Oleg M. (Hg.). „K istorii Studii V.Ė. Mejerchol’da. 1913/1914 i 1914/1915. Svod dokumentov“. In: Ders. Mejerchol’dovskij sbornik, vypusk vtoroj. Mejerchol’d i drugie. Dokumenty i materialy. Moskva 2000. S. 352–444. Fishman, David E. Embers Plucked from the Fire: The Rescue of Jewish Cultural Treasures in Vilna/ Shaytlekh aroysgerisn fun fayer: dos oprateven yidishe kultur-oytsres in Vilne. New York 1996. Fishman, Joshua A. „Czernowitz Conference“. In: Hundert, Gershon D. (Hg.). The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. 2 Bde. New Haven/London 2008. Bd. 1. S. 384–385. Flaker, Aleksandar. Glossarium der russischen Avantgarde. Graz 1980. Fleg, Edmond. Jesus, raconté par le Juif errant. Paris 1933. Flegon, A. Za predelami russkich slovarej. London 1973. Florenskij, Pavel. „Analyse der Räumlichkeit und der Zeit in Werken der bildenden Kunst“. In: Ders. Raum und Zeit. Berlin 1997. S. 97–248. (Herausgegeben und übersetzt von Olga Radetzkaja und Ulrich Werner) Florenskij, Pavel. „Obratnaja perspektiva“. In: Ders. Sočinenija v 4-ch tomach. T. 3 (1). Moskva 1999. S. 46–103.

368  | Literaturverzeichnis Flusser, Vilém. Krise der Linearität. [Vortrag im Kunstmuseum Bern, 20. März 1988]. Bern 1988. Foer, Jonathan Safran. Everything is illuminated. New York 2003. Foucault, Michel. Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a. M. 1996. (Frz. Les mots et les choses, 1966) Frankel, Jonathan [1981]. Prophecy and Politics: Socialism, Nationalism, and the Russian Jews, 1862– 1917. Cambridge 22003. Frankenstein, Ruben. „Marc Chagall als jiddischer Dichter“. In: Freiburger Universitätsblätter 2006, 172. S. 109–132. Freylekh, Yud. Yoysef Opatoshus shafung-veg. Toronto 1951. Fried, Erich. Gründe. Gedichte. Berlin 132005. Friedberg, Maurice. „Yiddish Folklore Motifs in Isaac Babel’s Konarmija“. In: Terras, Victor (Hg.). American Contributions to the 8th International Congress of Slavists in Zagreb. Sept. 3–9, 1978. Columbus/Oh. 1978. S. 192–203. Frieden, Ken. Classic Yiddish Fiction. Abramovitsh, Sholem Aleichem, & Peretz. New York 1995. Friedman, Mira. Icon Painting and Russian Popular Art as Sources of some Works by Chagall. Journal of Jewish Art 5. 1978. S. 94–107. Friedman, Mira. „Metamorphoses in Chagall – The Creation of Man“. In: Sleptzoff, Lola. Norms and variations in Art. Essays in honor of Moshe Barasch. Jerusalem 1983. S. 260–276. Friedman, Mira. Prophet Elijah’s Ascension in the Works of Chagall. In: Journal of Jewish Art 10 (1984). S. 102–113. Frühwald, Wolfgang. Wie viel Wissen brauchen wir? Berlin 2007. Fuks, Khayem-Leyb. „Yehoyesh“. In: Leksikon fun der nayer yidisher literatur. Bd. 4. Nyu-York 1961. S. 201–208. Fuks, Leo/Fuks, Renate. „Yiddish Publishing Activities in the Weimar Republic 1920–1933“. In: LBIYearbook 33. 1988. S. 417–434. Gadamer, Hans-Georg. „Bildkunst und Wortkunst“. In: Gottfried Boehm (Hg.). Was ist ein Bild? München 1994. S. 190–104. Gal-Ed, Efrat. Das Buch der jüdischen Jahresfeste. Frankfurt a. M./Leipzig 2001. Gal-Ed, Efrat. „Nachwort/Nokhvort“. In: Manger, Itsik, Dunkelgold. Gedichte jiddisch und deutsch. Frankfurt a. M. 2004. S. 309–329. Galley, Susanne. Der Gerechte ist das Fundament der Welt. Jüdische Heiligenlegenden aus dem Umfeld des Chassidismus. Wiesbaden 2003. (= Jüdische Kultur. Studien zur Geistesgeschichte, Religion und Literatur; 11) Gamer, Elisabeth-Christine. „Überlegungen zur Interikonizität. Malewitsch, Duchamp, Warhol und die Mona Lisa“. In: Karin Herrmann, Sandra Hübenthal (Hg.). Intertextualität. Perspektiven auf ein interdisziplinäres Arbeitsfeld. Aachen 2007. S. 127–148. Gassen, Richard W./Holeczek, Bernhard (Hg.). Apokalypse. Ein Prinzip Hoffnung? Ernst Bloch zum 100. Geburtstag. Heidelberg 1985. Gelshorn, Julia. „Interikonizität“. Kritische Berichte (Mythen der Kunstwissenschaft) 35 (3). 2007. S. 53–58. Gemoll, Wilhelm. Griechisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch. München 91991. Genette, Gérard. Palimpseste. Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a. M. 21996. George, Waldemar. Larionov. Paris 1966.

Literaturverzeichnis  | 369 Gerigk, Horst-Jürgen. „Nikolaj Gogol’. Mërtvye duši – Die toten Seelen“. In: Zelinsky, Bodo (Hg.). Der russische Roman. Köln/Weimar/Wien 2007. S. 117–138. Gesenius, Wilhelm. Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch. Berlin/Göttingen/Heidelberg 17 1962. Ginzberg, Louis. The Legends of the Jews. Philadelphia 1954–1968. 6 Bde. Gladkov, Aleksandr K. Mejerchol’d v dvuch tomach. Moskva 1990. Glau, Angelika. Jüdisches Selbstverständnis im Wandel. Jiddische Literatur zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Wiesbaden 1999. Gofštejn, David. Izbrannye stichotvorenija. Ierusalim 1997. Gogol, Nikolai. Die toten Seelen. Ein Poem. Leipzig 2009. (Aus dem Russischen übersetzt von Wolfgang Kasack) Gogol’, Nikolaj V. Polnoe sobranie sočinenij. V 14-ch tomach. Moskva 1937–1952. Gogol’, Nikolaj V. Betrachtungen über die Göttliche Liturgie. Würzburg 1989. Gombrich, Ernst H. Meditationen über ein Steckenpferd. Von den Wurzeln und Grenzen der Kunst. Frankfurt a. M. 1978. Gontcharova. Larionov. Paris 1963. (Ausst.kat.) Goodman Tumarkin, Susan (Hg.). The Emergence of Jewish Artists in Nineteenth-Century Europe. New York 2001. Goodman-Thau, Eveline. Erbe und Erneuerung. Kulturphilosophie aus den Quellen des Judentums. Wien 2004. Gordeev, A.A. Istorija kazačestva. Moskva 2006. Gowing, Lawrence. Die Gemäldesammlung des Louvre. Köln 1988. Goya. Das druckgraphische Werk. Hrsg. von Sánchez, Pérez E./Gallégo, Julián. München/New York 1995. Graphik in Holland. Esaias und Jan van de Velde, Rembrandt, Ostade und ihr Kreis. Radierung, ­Kupferstich, Schabkunst. Staatliche Graphische Sammlung München. Hrsg. v. K. Renger u. D. Schmidt. München 1982. Greenbaum, Avraham. „Newspapers and Periodicals“. Hundert, Gershon D. (Hg.). The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. 2 Bde. New Haven/London 2008. Bd. 2. S. 1260–1268. Greiner, Bernhard/Janowski, Bernd/Lichtenberger, Hermann (Hg.) Opfere deinen Sohn! Zur Bindung Abrahams in Judentum, Christentum und Islam. Tübingen 2007. Grimminger, Rolf. „Terror in der Kunst. Über Nationalsozialismus und Moderne“. In: 25 Jahre für eine neue Geisteswissenschaft. Hrsg. von der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld. Bielefeld 1998. 49–63. (Erstabdruck in: Merkur 52(1). 1998. S. 116–127) Grimminger, Rolf. „Der Tod des Aristoteles. Über das Tragische und die Ästhetik der Gewalt“. In: Ders. (Hg.). Kunst – Macht – Gewalt. Der ästhetische Ort der Aggressivität. München 2000. S. 9–23. Groys, Boris. Das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. München/Wien 1992. Groys, Boris. „Who Killed the Dead Souls“. In: Spieker, Sven (Hg.). Gogol. Exploring Absence. Negativity in 19th-century Russian literature. Bloomington/Ind. 1999. S. 139–146. Grözinger, Karl E. „Jüdische Mystik. Eine Einführung in die Geisteswelt des Chassidismus“. In: Ev. Akad. Baden (Hrsg.). Der Chassidismus. Leben zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Karlsruhe 1996. S. 26–51.

370  | Literaturverzeichnis Grözinger, Karl E. Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov. Schivche ha-Bescht. Teil II. Jiddisch mit deutscher Übersetzung. Wiesbaden 1997. (= Jüdische Kultur. Studien zur Geistesgeschichte, Religion und Literatur; 2) Grözinger, Karl. E. „Sprache und Idenität – Das Hebräische und die Juden“. In: Ders. (Hg.). Sprache und Identität im Judentum. Wiesbaden 1998. S. 75–90. Grübel, Rainer. „Gabe und Opfer. Axiologische Perspektiven in der russischen Kultur der Moderne“. In: Grübel, Rainer/Kohler, Gun-Britt. Gabe und Opfer in der russischen Literatur und Kultur der Moderne. Oldenburg 2006. S. 1–82. Grunwald, M. „Jüdische Volkskunst“. In: Das Zelt 1924 (2). S. 51–54. Gruschka, Roland. Übersetzungswissenschaftliche Aspekte von Mendel Lefin Satanowers Bibelübersetzungen. Hamburg 2007. (jidische schtudies, 14) Günther, Hans. Das Groteske bei Gogol’. Formen und Funktionen. München 1968. Guercio, Antonio del. Russische Avantgarde von Marc Chagall bis Kasimir Malewitsch. Herrsching 1988. Guerman, Mikhail/Forestier, Sylvie. Marc Chagall. Leben und Werk. London 2004. Güse, Ernst-Gerhard. „Die Radierungen zu Mein Leben“. In: Ders. (Hg.) Marc Chagall. Druckgraphik. München 1985. S. 11–35. Güse, Ernst-Gerhard. „Einzelblätter – Lithographien, Holzschnitte und Radierungen aus den Jahren 1922–1945“. In: Ders. (Hg.). Marc Chagall. Druckgraphik. Stuttgart 1985. S. 229–233. Guri, Yoysef. Oyfn shpits tsung. 500 yidishe shprikhverter. Yerusholayim 2006. Gutmann, Joseph. Buchmalerei in hebräischen Handschriften. München 1978. Haftmann, Werner. Marc Chagall. Köln 1988. Hansen-Löve, Aage A. Der russische Formalismus. Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung. Wien 1978. Hansen-Löve, Aage A. „Intermedialität und Intertextualität. Probleme der Korrelation von Wort- und Bildkunst – Am Beispiel der russischen Moderne“. In: Schmid, Wolf/Stempel, Wolf-Dieter. Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur Intertextualität. Wien 1982. S. 291–361. (= Wiener Slawistischer Almanach; Sonderband 11) Hansen-Löve, Aage A. Der russische Symbolismus. System und Entfaltung der poetischen Motive. 1. Band: Diabolischer Symbolismus. Wien 1989. (= Veröffentlichung der Kommission für Literaturwissenschaft; 7) Hansen-Löve, Aage A. Konzepte des Nichts im Kunstdenken der russischen Dichter des Absurden. Poetica 26. 1994. S. 308–373. Hansen-Löve, Aage A. „Intertextualität“. In: Recklefs, Uflert (Hg.). Fischer Lexikon Literatur. 3 Bde. Frankfurt a. M. 1996. S. 794–809. Hansen-Löve, Aage A. „,Gogol’’. Zur Poetik der Null- und Leerstelle“. Wiener Slawistischer Almanach 39. 1997. S. 183–303. Hansen-Löve, Aage. „Vom Pinsel zur Feder und zurück“. In: Malevič, Kazimir. Gott ist nicht gestürzt! Schriften zu Kunst, Kirche, Fabrik. Herausgegeben und kommentiert von Aage A. Hansen-Löve. München/Wien 2004. S. 7–40. Hansen-Löve, Aage. „Wie ‚faktura‘ zeigt. Einige Erinnerungen an einen Begriffsmythos der russischen Avantgarde“. In: Henning, Anke/Obermayr, Brigitte/Witte, Georg (Hg.). F(r)aktur. Gestörte

Literaturverzeichnis  | 371 ästhetische Präsenz in Avantgarde und Spätavantgarde. Wien/München 2006. S. 17–96. (= Wiener Slawistischer Almanach; Sonderband 63. Unterreihe Intermedialität Bd. 3) Hansen-Löve, Aage A. „Zum medialen Ort des Verbalen – mit Rückblicken auf russische Medienlandschaften“. In: Paech, Joachim/Schröter, Jens (Hg.). Intermedialität analog/digital. Theorien  – Methoden – Analysen. München 2008. S. 155–179. Harms, Wolfgang (Hg.). Text und Bild, Bild und Text. DFG-Symposion. Stuttgart 1990. Harshav, Benjamin. The Meaning of Yiddish. Berkeley 1990. Harshav, Benjamin. „The Role of Language in Modern Art: On Texts and Subtexts in Chagall’s ­Paintings“. Modernism/Modernity 1 (2). 1992. S. 51–87. [Harshav 1992] Harshav, Benjamin. „Chagall. Postmodernism and Fictional Worlds in Painting“. In: Ders. Marc ­Chagall and the Jewish Theater. New York 1992. S. 15–204. [Harshav 1992a] Harshav, Benjamin. Hebräisch. Sprache in Zeiten der Revolution. Frankfurt am Main 1995. (Aus dem Englischen übersetzt von Christian Wiese) Harshav, Benjamin. Marc Chagall on Art and Culture. Stanford 2003. Harshav, Benjamin. Marc Chagall and His Times. A documentary narrative. Stanford 2004. Harshav, Benjamin. Marc Chagall and the Lost Jewish World. The Nature of his Art and Iconography. New York 2006. [Harshav 2006a] Harshav, Benjamin. „Die Wandgemälde Marc Chagalls für das Jüdische Kammertheater in Moskau“. In: Benesch, Evelyn/Brugger, Ingried (Hg.). Marc Chagall. Meisterwerke 1908–1922. Wien 2006. S. 108–153. [Harshav 2006b] Harshav, Benjamin. The Moscow Yiddish Theater. Art on Stage in the Time of Revolution. New Haven/London 2008. Haumann, Heiko. Geschichte der Ostjuden. München 51999. Haustein, Lydia. Global Icons. Globale Bildinszenierung und kulturelle Identität. Göttingen 2008. Haverkamp, Anselm. „Zwischen den Sprachen. Einleitung“. In: Ders (Hg.). Die Sprache der Anderen. Frankfurt a. M. 1997. S. 7–12. Hayoun, Maurice-Ruben. Geschichte der jüdischen Philosophie. Darmstadt 2004. Hazan-Brunet, Natalie (Hg.) L’avant-garde et le livre yiddish (1914–1939). Paris 2009. Ausstellungskatalog. Heftrich, Urs. Gogol’s Schuld und Sühne. Versuch einer Deutung des Romans Die toten Seelen. Stuttgart 2004. Heimann-Jelinek, Felicitas. „Zum Stereotyp des biblischen Bilderverbots“. In: Golinski, Hans Günter/ Hiekisch-Picard, Sepp (Hg.). Das Recht des Bildes. Heidelberg 2004. 53–64. Heinz-Mohr, Gerd. Lexikon der Symbole. Bilder und Zeichen der christlichen Kunst. München 1998. Herlth, Jens. „Alexander Agin. Nikolaj Gogol, Die toten Seelen“. In: Zelinsky, Bodo (Hg.). Russische Buchillustration. Köln/Weimar/Wien 2009. S. 142–152. (= Literarische Bilderwelten. Internationale Buchgraphik in Europa und Übersee; 9) Herrmann, Karin/Hübenthal, Sandra (Hg.). Intertextualität. Perspektiven auf ein interdisziplinäres Arbeitsfeld. Aachen 2007. Heyd, Milly. „Selbstporträts. Zur Frage der jüdischen Identität“. In: Golinski, Hans Günter/HiekischPicard, Sepp (Hg.). Das Recht des Bildes. Jüdische Perspektiven in der modernen Kunst. Heidelberg 2003. S. 86–99. Hille, Karoline. Marc Chagall und das deutsche Publikum. Köln/Weimar/Wien 2005.

372  | Literaturverzeichnis Hirner, Réné. „Emigration und Identität“. In: Chagall, Marc. Illustrationen zu Nikolai Gogols Die toten Seelen (5. Juni bis 15. August. Städtische Galerie Villingen-Schwetzingen). Villingen-Schwetzingen1999. S. 9–21. Hoffman, Matthew. From Rebel to Rabbi. Reclaiming Jesus and the Making of Modern Jewish ­Culture. Stanford 2007. Hoffman, Stefani/Mendelsohn, Ezra. The Revolution of 1905 and Russia’s Jews. Philadelphia 2008. Hofshteyn, Dovid/Shagal, Mark. Troyer. Kiev 1922. Hofshteyn, Dovid. Lider un poemes. 2 Bde. Tel-Aviv 1977. Hofštejn, Dovid/Sluckij, Valerij. Izbrannye stichotvorenija. Ierusalim 1997. Holländer, Hans. „Literatur, Malerei und Graphik. Wechselwirkungen, Funktionen und Konkurrenzen“. In: Zima, Peter V. (Hg.). Literatur intermedial. Musik – Malerei – Photographie – Film. Darmstadt 1995. S. 129–170. Holthusen, J. Das Erzählen bei Isaak Babel’ und bei Boris Pil’njak. In: Ders. Rußland in Vers und Prosa. Vorträge zur russischen Literatur des 19. u. 20. Jahrhunderts. München 1973. S. 112–138. (= Slavistische Beiträge; 69) Horowitz, Sara R. „The Rhetoric of Embodied Memory in ,The City of Slaughter‘“. Prooftexts 25 (1, 2). 2005. S. 73–85. Horstkotte, Silke/Leonhard, Karin (Hg.): Lesen ist wie Sehen. Intermediale Zitate zwischen Bild und Text. Köln/Weimar/Wien 2006. Hruzman, Zinovii. „Lev Kvitko“. In: Slovo ï čas 1.1990. S. 43–46. Hülsen-Esch, Andrea von/Aptroot, Marion (Hg.). Jüdische Illustratoren aus Osteuropa in Berlin und Paris. Düsseldorf 2008. (In Zusammenarbeit mit Inna Goudz, Kathrin Beßen und Stephanie ­Winter) Hunterberg, Max. The crucified Jew. Who crucified Jesus? New York 1927. Iggers, Wilma. „Tschechoslowakei/Tschechien. Das verlorene Paradies“. In: Mythen der Nationen. 1945  – Arena der Erinnerungen. Herausgegeben von Monika Flacke. Deutsches Historisches Museum. 2 Bde. Main 2004. S. 773–798. Ingarden, Roman. Untersuchungen zur Ontologie der Kunst. Tübingen 1962. Ingarden, Roman. Das literarische Kunstwerk. Tübingen 41972. Ingold, Felix Philipp. Der große Bruch. Russland im Epochenjahr 1913. Kultur – Gesellschaft – Politik. München 2000. Ingold, Felix Philipp. „Der Autor im Bild“. In: Ders. Im Namen des Autors. Arbeiten für die Kunst und Literatur. München 2004. S. 243–263. Iser, Wolfgang [1976]. Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München 1994. Ivanov, Vladislav V. GOSET. Politika i iskusstvo 1919–1928. Moskva 2007. Jachnow, Helmut. „Die sowjetischen Erfahrungen und Modelle der Alphabetisierung“. In: Günter, Hartmut/Ludwig, Otto (Hg.). Schrift und Schriftlichkeit/Writing and its Use. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung/An Interdisciplinary Handbook of International Research. 2 Bde. New York 1994. 2. Bd. S. 803–813. Jaeger, Achim. Ein jüdischer Artusritter. Studien zum jüdisch-deutschen ‚Widuwilt‘ (‚Artushof‘) und zum ‚Wigalois‘ des Wirnt von Gravenberc. Tübingen 2000. (= Conditio Judaica; 32)

Literaturverzeichnis  | 373 Jakobson, Roman. „On Linguistic Aspects of Translation“. In: Ders. Selected Writings. Bd. 2. Word and Language. The Hague/Paris 1971. S. 260–266. [Jakobson 1971a] Jakobson, Roman. „On the Relation between Visual and Auditory Signs“. In: Ders. Selected Writings. Bd. 2. Word and Language. The Hague/Paris 1971. 338–344. [Jakobson 1971b] Jakobson, Roman. Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Frankfurt a. M. 1979. Jendrusch, Andrej. Spiegelglas auf Stein: Jiddische Literatur unter Stalin: Berlin 2001. Jendrusch, Andrej (Hg.). Unter Emigranten. Jiddische Literatur aus Berlin. Berlin 2003. Jessenin, Sergej. Gedichte russisch-deutsch. Leipzig 1988. [Esenin 1988] Jilge, Wilfried. „Zwischen Integration und Diskriminierung (1855–1917)“. In: Kotowski, Elke-Vera (Hg.). Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa. Darmstadt 2001. S. 186–195. [Jilge 2001a] Jilge, Wilfried. „Sowjetunion und Postsozialismus. Von der Februarrevolution bis zum Tod Stalins (1917–1939)“. In: Kotowski, Elke-Vera (Hg.). Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa. Darmstadt 2001. S. 195–206. [Jilge 2001b] Jüdische Miniaturen aus sechs Jahrhunderten. Einführungstext und Bilderläuterungen von Paul Johannes Müller. Wiesbaden 1988. Jürgens-Kirchhoff, Annegret. Schreckensbilder. Krieg und Kunst im 20. Jahrhundert. Berlin 1993. Junkerjürgen, Ralf. Haarfarben. Eine Kulturgeschichte in Europa seit der Antike. Köln 2009. Kafitz, Viviane. Sprachartistische Lyrik. Gemälde und Skulpturengedichte des russischen Symbolismus. Köln/Weimar/Wien 2008. Kamenski, Alexander. Chagall. Die russischen Jahre 1907–1922. Stuttgart 1989. (Aus dem Franzö­ sischen von Bettina Witsch-Aldor) Kammer, Gerlinde/Schulzki, Ingo (Hg.). Das Motiv der Gewalt in Isaak Babel’s Konarmija“. In: Mannheimer Beiträge zur slavischen Philologie. Mannheim 1978. S. 111–141. Kampf, Avram. „In Quest of the Jewish Style in the Era of the Russian Revolution“. Journal of Jewish art 5. 1978. S. 48–75. Kampf, Avram. „The Holocaust“. In: Ders. From Chagall to Kitaj. New York u. a. 1990. Jewish Experience in 20th Century Art. S. 83–114. Kampf, Avram. From Chagall to Kitaj. Jewish Experience in 20th Century Art. New York/ Westport 1990. Kappeler, Andreas. Kleine Geschichte der Ukraine. München 1994. Kasack, Wolfgang. Christus in der russischen Literatur. Ein Gang durch ihre Geschichte von den Anfängen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2000. Katz, Dovid. Words on Fire. The Unfinished Story of Yiddish. New York 2004. Kazovskij, Gilel I. „Evrejskoe iskusstvo v Rossii.1900–1948. Ėtapy istorii“. In: Zimenko, Vladislav Mstislavovič/Polevoj, Vladimir Mihajlovič/Butkevič, O.V. (red.). Sovetskoe iskusstvoznanie 27. Sbornik statej I publikacij. Moskva 1991. S. 228–254. Kazovsky, Hillel. Masterpieces of Jewish Art. Artists from Vitebsk. Yehuda Pen and his pupils. Moscow 1992 / Kazovskij, Gilel. Šedevry evrejskogo iskusstva. Chudožniki Vitebska. Ieguda Pėn i ego učeniki. Moskva 1992. (englisch-russische Ausgabe) Kazovsky, Hillel. „Jewish Art between yidishkayt and Civilization“. In: Estraikh, Gennady/Krutikov, Mikhail (Hg.). The Shtetl. Image and Reality. Papers of the Second Mendel Friedman Interna­ tional Conference on Yiddish. Oxford 2000. S. 80–90. (= Studies in Yiddish; 2) Kazovsky, Hillel. The Artists of the Kultur-Lige/Chudožniki Kul’tur-Ligi. Jerusalem/Moskva 2003.

374  | Literaturverzeichnis Kazovsky, Hillel (ed.), Kul’tur-Liga. Chudožnij Avangard 1910–1920-ch rokiv/Kultur-Lige. Artistic Avant-Garde of the 1910s and the 1920s. Kyiv 2007. Kazovsky, Hillel (Grigory). „C’était l’époque où l’on a commencé à illustrer les livres juifs“. In: Futur antérieur. L’avant-garde et le livre yiddish (1914–1939). Herausgegeben von Natalie Hazan-Brunet. Paris 2009. S. 32–51. Keil, Rolf-Dietrich. Puschkin: Ein Dichterleben. Biographie. Frankfurt a. M. 2001. Kenig, Leo. „Mark Shagal un Sholem-Aleykhem. Etyud.“ In: Ders. Shrayber un verk. Etyudn un shtrikhn. Vilne 1929. S. 27–31. Kenig, Leo. „Ribak un di yidishe kunst“. In: Yisokher Ber Ribak. Paris 1937. S. 47–51. Kertész, Imre. „Die Unvergänglichkeit der Lager“. In: Ders. Die exilierte Sprache. Essays und Reden. Frankfurt a. M. 2003. S. 42–52. Kiel, Mark. „Vox Populi, Vox Dei. The Centrality of Peretz in Jewish Fokloristics“. Polin 7. 1992. S. 88–120. Kindlers Lexikon der Kunst. 5 Bde. Berlin 1981. Kindlers Malerei Lexikon. 6 Bde. Zürich 1965. [KML 1965] Kirshenblatt-Gimblett, Barbara/Karp, Jonathan (Hg.). „Introduction“. In: Dies. The Art of Being Jewish in Modern Times. Philadelphia/Pennsylvania 2008. S. 1–19. Klarsfeld, Serge (Hg.). The Auschwitz Album. Lili Jacob’s Album. New York o. J. Klünner, Lothar. „Nachwort“. In: Chagall, Marc. Mein Leben. Stuttgart 1950. Koester-Thoma, Zoja (Hg.). Russische Umgangssprache. Phonetik, Morphologie, Syntax, Wortbildung, Wortstellung, Lexik, Nomination. Blankenfelde b. Berlin 1995. Koester-Thoma, Soia. Die Lexik der russischen Umgangssprache. Forschungsgeschichte und Darstellung. Blankenfelde b. Berlin 1996. Kolatch, Alfred J. Jüdische Welt verstehen. Sechshundert Fragen und Antworten. Wiesbaden 2005. Koller, Sabine. Das Gedächtnis des Theaters. Stanislavskij, Mejerchol’d und das russische Gegenwartstheater Lev Dodins und Anatolij Vasil’evs. Tübingen 2005. (= Mainzer Forschungen zu Drama und Theater; Bd. 31) Koller, Sabine. „Wenn aus Sprachbildern sprechende Bilder werden – Marc Chagall, ein jiddischer Maler“. In: Blick in die Wissenschaft. Forschungsmagazin der Universität Regensburg 19. Regensburg 2007. S. 41–48. Koller, Sabine. „Nachwort“. In: Opatoshu, Joseph. Ein Tag in Regensburg. Passau 2008. S. 103–117. Koller, Sabine. „Civil servants in a circle – Chagall’s ,poshlust‘ reading the Dead Souls“. In: Birzer, S./ Finkelstein, M./Mendoza, I. (Hrsg.). Proceedings of the Second International „Perspectives on Slavistics“ Conference 2006 (Universität Regensburg, September 21–24). München 2009. S. 260– 269. (= Sammelbände – Sborniki, herausgegeben von P. Rehder und I. Smirnov; Bd. 36) Koller, Sabine. „Das Leiden im Angesicht der Kinder – Marc Chagall illustriert Dovid Hofshteyns Gedichtzyklus ,Troyer‘ (1922)“. Wiener Slawistischer Almanach 64. 2009. S. 34–73. Koller, Sabine. „,The Air Outside is Bloody‘: Leyb Kvitko and His Pogrom Cycle 1919“. In: Estraikh, Gennady/Krutikov, Mikhail (Hg.). Yiddish in Weimar Berlin. New York 2010. S. 198–224. Koller, Sabine. „YIVO, New York. Die untergegangene Welt des Ostjudentums“. In: Schmundt, ­Hilmar/Vec, Miloš/Westphal, Hildegard (Hrsg.). Mekkas der Moderne. Pilgerstätten der Wissensgesellschaft. Köln/Weimar/Wien 2010. S. 178–182. Kornfeld, Eberhard W. Verzeichnis der Kupferstiche, Radierungen und Holzschnitte von Marc ­Chagall. Bd. 1. Werke 1922–1966. Bern 1970.

Literaturverzeichnis  | 375 Koschmal, Walter. „Modell oder Wirklichkeit? Die Entgrenzung der Objektwelt in Gogol’s Mërtvye duši“. Russian Literature 11. 1982. S. 333–360. Koschmal, Walter. Der russische Volksbilderbogen. Von der Religion zum Theater. München 1989. (= Slavistische Beiträge; Bd. 251). Kot, Wiesław. Julian Stryjkowski. Poznań 1997. Kovalenko, G.F. Aleksandra Ėkster. Put’ chudoznika. Chudoznik i vremja. Moskva 1993. Kowtun, Jewgenij F. Sangesi. Die russische Avantgarde. Chlebnikow und seine Maler. Zürich 1993. Kravets, Jessica. „Gravur auf dem Schädel des Universums. Zur russischen Buchillustration der frühen Avantgarde – Budetljanstwo und Futurismus“. In: Zelinsky, Bodo (Hg.). Russische Buchillustration. Köln/Weimar/Wien 2009. S. 29–35. (= Literarische Bilderwelten. Internationale Buchgraphik in Europa und Übersee; Bd.9) Krieger, Verena. Von der Ikone zur Utopie. Kunstkonzepte der Russischen Avantgarde. Köln/Weimar/ Wien 1998. Kristeva, Julia. „Wort, Dialog und Roman bei Bachtin“. In: Ihwe, J. (Hg.). Literaturwissenschaft und Linguistik. Bd. 3. Frankfurt a. M. 1972. S. 345–375. Kritter, Ulrich von. „Das jüdische Buch. Illustration und Typographie“. In: Kritter, Ulrich von/MillerBrombacher, Jeanne A. Literarische Bilderwelten des 20. Jahrhunderts. Teil II. Jüdische und jiddische Literatur. Bad Homburg vor der Höhe 1993. S. 9–11. Kruglov, Vladimir F./Petrova, Evgenija N. Marc Chagall. Musée National d’Art Moderne, Centre Georges Pompidoi, Paris. Bad Breisig 2005. [Kruglov/Petrova Ausst.kat. MC 2005] Krumm, Reinhard. Isaak Babel. Schreiben unter Stalin: Eine Biographie. Norderstedt ²2006. Krutikov, Mikhail. „Berdichev in Russian Jewish Literary Imagination: From Israel Aksenfeld to Friedrich Gorenshtein“. In: Estraikh, Gennady/Krutikov, Mikhail (Hg.). The Shtetl: Image and Reality. Papers of the Second Mendel Friedman International Conference on Yiddish. Oxford 2000. S. 91–114. (= Studies in Yiddish; 2) Krutikov, Mikhail. Yiddish Fiction and the Crisis of Modernity, 1905–1914. Stanford 2001. Krutikov, Mikhail. „1919 god – revoljucija v evrejskoj poėzii“. In: Budnickij, Oleg V. (Hg.). Mirovoj krizis 1914–1920 godov i sud’ba vostočnoevropejskogo evrejstva. Moskva 2005. S. 318–341. Krutikov, Mikhail. From Kabbalah to Class Struggle. Expressionism, Marxism, and Yiddish Literature in the Life and Work of Meir Wiener. Stanford 2011. Krutschanski, J. Die Judenpogrome in Russland. II. Teil. Köln/Leipzig 1910. Krysteva, Denka N. Tema Petra I v tvorčestve A.S. Puškina. Leningrad 1985. (Avtoreferat na soiskanie učenoj stepeni kandidata filologičeskich nauk) Kučerenko, V.N./Cholodova, I.P. (Hg.). Ju. M. Pėn. Minsk 2006. Kühn-Ludewig, Maria. Jiddische Bücher aus Berlin (1918–1936). Titel, Personen, Verlage. Nümbrecht 22008. Kunstgeschichte. Eine Einführung. Hrsg. von Hans Belting u. a. Berlin 51996. [Belting 51996] Kurts, Aaron. Mark Shagal. Poeme. Nyu-York 1947. Kvitko, Leyb. 1919. Berlin 1923. Lacan, Jacques [1949]. „Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud“. In: Ders. Schriften II. Olten 31991. S. 15–55. Lachmann, Renate. „Zwei Konzepte der Textbedeutung bei Jurij Lotman“. Russian Literature 5. 1977. S. 1–36.

376  | Literaturverzeichnis Lachmann, Renate. Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt a. M. 1990. Lachmann, Renate. Erzählte Phantastik. Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte. Frankfurt a. M. 2002. Langer, Susanne K. Philosophie auf neuem Wege. Frankfurt a. M. 41992. Lapide, Pinchas. „Von der Heiligung des Alltags und der Erneuerung des Bewährten. Der Chassidismus als zum Lebensweg gewordene Mystik“. In: Der Chassidismus. Leben zwischen Hoffnung und Verzweiflung, Ev. Akad. Baden (Hrsg.). Karlsruhe 1996. S. 9–25. Lauer, Reinhard. Geschichte der russischen Literatur. Von 1700 bis zur Gegenwart. München 2000. Le Foll, Claire. L’école artistique de Vitebsk (1897–1923). Eveil et rayonnement autour de Pen, ­Chagall et Malévitch. Paris 2002. Leach, Robert. Stanislavsky and Meyerhold. Bern 2003. Leek, Peter. Russische Malerei 18.–20. Jahrhundert. Parkstone 1999. Lehmann, Jörg. „Gogol’s ‚Pošlye duši‘“. Wiener Slawistischer Almanach 39. 1997. S. 57–84. Lejeune, Philippe. Le pacte autobiographique. Paris 1975. Lejeune, Philippe. Signes de vie. Le pacte autobiographique 2. Paris 2005. Lekmanov, Oleg/Sverdlov, Michail. Sergej Esenin. Moskva 2007. Leksikon fun der nayer yidisher literatur. 8 Bde. Nyu-York 1956–1981.[LNYL 1956–1981] Leksikon fun der yidisher literatur, poezye un filologye. Herausgegeben von Zalmen Reyzen. Bd. 1–4. Vilne 1926–1929. [Reyzen 1926–1929] Lénéman, Léon. Un enfant juif de Vitebsk – Marc Chagall. Paris 1983. Lenhart, Markus Helmut. Du sollst Dir ein Bild machen. Jüdische Kunst in Theorie und Praxis von David Kaufmann bis zur Kultur-Lige. Innsbruck/Wien/Bozen 2009. (Schriften des Centrums für Jüdische Studien; 15) Lermontov, Michail Ju. Sočinenija v 2-ch tomach. Moskva 1988–90. Lévinas, Emmanuel. Noms propres. Montpellier 1973. Levine, Glenn S. „Yiddish Publishing in Berlin and the Crisis in Eastern European Jewish Culture 1919–1924“. Leo Baeck Institue Yearbook 42. 1997. S. 85–108. Lexikon der Kunst. Architektur, bildende Kunst, angewandte Kunst, Industrieformgestaltung, Kunsttheorie. 7 Bde. Leipzig 2004. Lichatschew, D.S/Wagner, G.K./Wsdornow,G./Skrynnikow, R.G. Russland. Seele. Kultur. Geshichte. Augsburg 1996. Liebelt, Udo. „Visuelle Revolution und Russische Revolution bei Marc Chagall“. In: Tank, Kurt Lothar (Hg.). Proteste. Proteste. Proteste. Dokumentation, Analyse, Kritk. Eckart-Jahrbuch 1968. Witten/Berlin 1968. S. 134–154. Liebelt, Udo. Marc Chagall und die Kunst der Ikonen. theologisch-ikonologische Untersuchung des Auftretens russisch-orthodoxer Bildelemente im Frühwerk Marc Chagalls. Marburg/Lahn 1971. Liebelt, Udo. „Anmerkungen zum jüdischen Erbe und zur Bibel von Marc Chagall“. In: Güse, ErnstGerhard (Hg.). Marc Chagall. Druckgraphik. Stuttgart 1985. S. 137–153. Link, Jürgen. „Das lyrische Gedicht als Paradigma des überstrukturierten Textes“. In: Brackert, Helmut/Bückroth, Jörg (Hg.). Literaturwissenschaft: Grundkurs 1. München 1981. S. 192–219. Liss, Hanna. Tanach. Lehrbuch der jüdischen Bibel. Heidelberg 2005. (= Schriften der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg; Bd. 8)

Literaturverzeichnis  | 377 Litvak, Olga. „Art Criticism for the Blind: New Approaches to the Life and Work of Marc Chagall“. Ars Judaica 3. 2007. S. 101–110. Litvak, Olga. „Khave and Her Sisters. Sholem-Aleichem and the Lost Girls of 1905“. Jewish Social Studies. History, Culture, and Society 15 (3). 2009. S. 1–38. Longhi, Roberto. Caravaggio. Basel 1993. Loos, Sigrun. „Einführung“. In: Marc Chagall. Die 96 Radierungen zu Die toten Seelen von Nikolaj Gogol. Salzburg 1991. S. 5–17. Lotman, Jurij M. „Das Problem des künstlerischen Raums in Gogol’s Prosa“. In: Lotman, Jurij M. Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur. Kronberg/Ts. 1974. S. 200–272. Lotman, Jurij M. Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik. München 1972. (= Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste. Texte und Abhandlungen; Bd.14) Lotman, Jurij M. Puškin: Biografija pisatelja. Stat’i i zametki 1960–1990. Sankt Peterburg 1995. Lotman, Jurij M.. Struktura chudožestvennogo teksta. In: Ders. Ob iskusstve. Moskva 1998. S. 13–285. (dt. Die Struktur des künstlerischen Textes. Frankfurt a. M. 1973) (= edition suhrkamp; Bd.582) Lotman, Jurij M. Semiosfera. Sankt-Peterburg 2001. Lotman, Ju.M./Uspenskij, B.A.. „Mythos – Name – Kultur“. In: Eimermacher, Karl (Hg.). Semiotica Sovietica 2. Sowjetische Arbeiten der Moskauer und Tartuer Schule zu sekundären modellbildenden Zeichensystemen (1962–1973). Aachen 1986. S. 881–907. (= Aachener Studien zur Semiotik und Kommunikationsforschung; Bd. 5.2) Lüthy, Michael. „Vom Raum in der Fläche des Modernismus“. In: Henning, Anke/Obermayr, Brigitte/Witte, Georg (Hg.). F(r)aktur. Gestörte ästhetische Präsenz in Avantgarde und Spätavantgarde. Wien/München 2006. S. 149–178. (= Wiener Slawistischer Almanach; Sonderband 63. Unterreihe Intermedialität Bd. 3) Luplow, Carol. „Isaak Babel’ and the Jewish Tradition. The Childhood Stories“. Russian Literature 15. 1984. S. 225–277. Lyesin, Avrom [Avrom Valt]. Lider un poemen in dray bender. Nyu-York 1938. Maar, Christa/Burda, Hubert (Hg.). Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder. Köln 2004. Das Ma’assebuch. Altjiddische Erzählkunst. Vollständige Ausgabe. Ins Hochdeutsche übertragen, kommentiert und herausgegeben von Ulf Diederichs. München 22004. Maar, Christa/Burda, Hubert (Hg.). Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder. Köln 2004. Magall, Miriam. Kleine Geschichte der jüdischen Kunst. Wiesbaden 2005. Magonet, Jonathan. Einführung ins Judentum. Berlin 2003. Maier-Preusker, École de Paris – 150 Werke aus privaten Sammlungen. Kat. Nr. 21. Wien 2005. Majakovskij, Vladimir. Polnoe sobranie sočinenij v 13-i tomach. Moskva 1955–61. Makašina T.S. „Il’in den’ i Il’ja-prorok v narodnych predstavlenijach i fol’klore vostočnych slavjan“. In: Sokolova V.K. (Hg.). Obrjady i obrjadovyj fol’klor. Moskva 1982. S. 83–101. Malevič, Kazimir. Gott ist nicht gestürzt! Schriften zu Kunst, Kirche, Fabrik. Herausgegeben und kommentiert von Aage A. Hansen-Löve. München/Wien 2004. Malevič, Kazimir. Sobranie sočinenij v pjati tomach. Moskva 2000–2004. Herausgegeben von Aleksandra S. Šatskich.

378  | Literaturverzeichnis Malewitsch und sein Einfluss. Ostfildern 2008. Ausst.kat. [Malevič 2008] Malewitsch, Kasimir. Die gegenstandslose Welt. Mainz/Berlin 1980 [1927]. (Übersetzung von Alexander von Riesen) [Malevič 1980] Mandel, Gabriele. Gezeichnete Schöpfung. Eine Einführung in das hebräische Alphabet und die ­Mystik der Buchstaben. Wiesbaden 2003. Mandel’štam, Osip. Sobranie sočinenij v dvuch tomach. Tom vtoroj. Stichotvorenija. Proza. New York 1966. Mandel’štam, Osip. Tristia. Gedichte 1916–1925. Zürich 1993. Aus dem Russischen übertragen und herausgegeben von Ralph Dutli. (Zweisprachige Ausgabe) Mandel’štam, Osip. Der Stein: Frühe Gedichte 1908–1915. Zürich 22000. Aus dem Russischen übertragen und herausgegeben von Ralph Dutli. (Zweisprachige Ausgabe) Mane-Kats, E. „Bleter zikhroynes“. In: Yisokher Ber Ribak. Paris 1937. S. 61–65. [Mané-Katz 1937] Manger, Itsik. Dunkelgold. Gedichte jiddisch und deutsch. Frankfurt a. M. 2004. Aus dem Jiddischen von Efrat Gol-Ed. Mann, Barbara. „Jewish Imagism and ,the Mosaic Negative‘“. Jewish Studies Quarterly 11 (3). 2004. S. 282–291. Mann, Barbara. „Visions of Jewish Modernism“.Modernism/Modernity 13 (4). 2006. S. 673–699. Mann, Jurij V. Poėtika Gogolja. Variacii k teme. Moskva 1996. Mantovan, Daniela. Der Nister and his symbolist short stories (1913–1929). Patterns of imagination. Ann Arbor, MI 1993. Marc Chagall. Das graphische Werk. Einleitung und Auswahl Franz Meyer. Stuttgart 1957. Marc Chagall. Druckgraphische Folgen 1922–1966. Ausstellungskatalog und Bestandsverzeichnis Sprengel Museum. Hannover 1981. [Chagall 1981] Marc Chagall. Arbeiten auf Papier. Hannover 1985. [Chagall 1985] Marc Chagall. Die Lithographien. La collection Sorlier, hrsg. von Ulrike Gauss. Ostfildern-Ruit 1998, S. 37–53. [Chagall 1998] Marc Chagall. Illustrationen zu Nikolai Gogols Die toten Seelen (5. Juni bis 15. August. Städtische Galerie Villingen-Schwenningen). Villingen-Schwenningen 1999. [Chagall 1999] Marc Chagall. Meisterwerke 1908–1922. Wien 2006. Herausgegeben von Evelyn Benesch und Ingried Brugger. [Benesch/Brugger 2006] Marc Chagall. Der Maler am Fenster. München 2008. [Chagall 2008] Marcadé, Jean-Claude. „Das Russische im Werk von Chagall“. In: Marc Chagall. Arbeiten auf Papier. Hannover 1985. S. 53–71. Maritain, Raissa. Chagall ou l’orage enchanté. Genève/Paris 1948. Markiš, Simon. Babel’ i drugie. Moskva/Ierusalim 21997. Markish, Perets. Di kupe. Varshe 1921. Markish, Peretz. Le monceau et autres poèmes. Paris 2000. (Aus dem Jiddischen von Charles Dobzynski) Markschies, Christoph/Zachhuber, Johannes. Die Welt als Bild. Interdisziplinäre Beiträge zur Visua­ lität von Weltbildern. Berlin/New York 2008. Marten-Finnis, Susanne/Valencia, Heather. Sprachinseln. Jiddische Publizistik in London, Vilna und Berlin 1880–1930. Köln/Weimar/Berlin 1999. (= Lebenswelten osteuropäischer Juden; Bd. 4). Martens, G. „Was ist ein Text? Ansätze zur Bestimmung eines Leitbegriffs der Textphilologie“. Poetica 21. 1989. S. 1–25.

Literaturverzeichnis  | 379 Martinez, Matias/Scheffel, Michael. Einführung in die Erzähltheorie. München 42003. Mayzel, Nakhmen. „Opatoshus maysterverk (vegn A tog in Regensburg)“. Literarishe bleter. Ilustrirte vokhenshrift far literatur, teater un kunst 467. 1933. S. 255–256. Meidler-Waks, Sigalit. „Die Progromserie von Issachar Ber Ryback“. In: Berlin Transit. Jüdische ­Migranten aus Osteuropa in den 1920er Jahren. Berlin/Göttingen 2012. S. 37–41. Ausstellungs­ katalog. Mendele Moykher-Sforim. Ale verk. Naynter band. Masoes Binyomen ha-shlishi. Varshe 1928. Mendele. Die Fahrten Benjamins des Dritten. Roman. Olten 21983. (Aus dem Jiddischen von Efraim Frisch) Mendelsohn, Ezra. Painting a People: Maurycy Gottlieb and Jewish Art. Hanover (New Haven) 2002. Merežkovskij, Dmitrij S. Gogol’. Tvorčestvo, žizn’ i religija. Sankt-Peterburg 1909. Merleau-Ponty, Maurice. „Le Langage indirect et les Voix du Silence“. In: Ders. Signes. Paris 1960. S. 49–104. Merleau-Ponty, Maurice [1964]. Le visible et l’invisible. Paris 1971. Merleau-Ponty, Maurice. Das Auge und der Geist. Hamburg 1984. Herausgegeben und übersetzt von Hans Werner Arndt. (= Philosophische Bibliothek; Bd. 357) Merleau-Ponty, Maurice. Das Sichtbare und das Unsichtbare. München 1986. Metzger, Rainer. „Ich, das Dorf und die Welt. Überlegungen zur Gedächtniskunst Marc Chagalls“. In: Benesch, Evelyn/Brugger, Ingried (Hg.). Marc Chagall. Meisterwerke 1908–1922. Wien 2006. S. 13–21. Meyer, Franz. [„Einleitung“]. In: Marc Chagall. Das graphische Werk. Einleitung und Auswahl Franz Meyer. Stuttgart 1957. S. V–XXXIX. Meyer, Franz. Marc Chagall. Köln 21968. Meyer, Michael A. Jewish Identity in the Modern World. Seattle/London 1991. Michajlova, Alla A. (Hg.). Mejerchol’d i chudožniki, Moskva 1995. Michalak, Irmina. „Żydowscy malarze i rzeźbiarze w Łodzie 1880–1939/Jewish Painters and Sculptors in Łódź“. In: Machejek, Andrzej (Hg.). Żydzi Łódzcy/The Jews of Łódź. Łódź 2004. S. 52–68. Milner, Iris. „In the City of Slaughter: the Hidden Voice of the Pogrom Victimes“. Prooftexts 25 (1, 2). 2005. S. 60–72. Miłosz, Czesław. Geschichte der polnischen Literatur. Köln 1981. Minjajlo, Nadejda. „,Lubok von heute‘ – Auf der Suche nach dem ‚kollektiven Stil‘“. In: Bauer, Snejanka (Hg.). Als Chagall das Fliegen lernte. Von der Ikone zur Avantgarde. Frankfurt a. M. 2004. S. 54–65. Miron, Dan. A Traveler Disguised. A Study in the Rise of Modern Yiddish Fiction in the Nineteenth Century. New York 1973. Miron, Dan. The Image of the Shtetl and Other Studies of Modern Jewish Literary Imagination. ­Syracuse/New York 2000. Miron, Dan. „Sholem Aleichem“. In: Hundert, Gershon D. (Hg.). The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. 2 Bde. New Haven/London 2008. Bd. 2. S. 1719–1724. Miron, Dan. From Continuity to Contiguity. Toward a New Jewish Literary Thinking. Stanford 2010. Miron, Dan. The Prophetic Mode in Modern Hebrew Poetry an Other Essays on Modern Hebrew Literature. London 2010. Mitchell, W.J.T. „Was ist ein Bild?“. In: Bohn, Volker (Hg.). Bildlichkeit. Frankfurt a. M. 1990. 17–68. Mitchell, W.J.T. Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation. Chicago/London 1994.

380  | Literaturverzeichnis Mlotek, Eleanor/Mlotek, Joseph. Songs of Generations: New Pearls of Yiddish Song. New York 1998. Mosès, Stéphane. „Die Opferung Isaaks in der jüdischen Tradition“. In: Greiner, Bernhard/Janowski, Bernd/Lichtenberger, Hermann (Hrsg.). Opfere Deinen Sohn. Das ‚Isaak-Opfer‘ in Judentum, Christentum und Islam. Tübingen 2007. S. 51–72. Mosès, Stéphane. Un retour au judaïsme. Entretiens avec Victor Malka. Paris 2008. Moskovich, Wolf. „Kishinev“. In: Hundert, Gershon D. (Hg.). The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. 2 Bde. New Haven/London 2008. Bd. 1. S. 900–902. Moss, Kenneth. „Yitskhok Leybush Perets“, In: Dictionary of Literary Biography. Vol. 333. Writers in Yiddish. Edited by Joseph Sherman. Detroit/New York/San Francisco/New Haven/Waterville/­ London/Munich 2007. S. 228–239. Moss, Kenneth. Jewish Renaissance in the Russian Revolution. Harvard 2009. Mukařovský, Jan. „Das Wesen der bildenden Künste“. In: Ders. Schriften zur Ästhetik, Kunsttheorie und Poetik. Herausgegeben und übersetzt von Holger Siegel. Tübingen. 1986. (= Kodikas/Code Supplement; Bd.12) Mukařovský, Jan. Kapitel aus der Poetik. Frankfurt a. M. 1967. Mukařovský, Jan. Kapitel aus der Ästhetik. Frankfurt a. M. 21974. Mukdoyni, A. „Bagegenishn mit Ribakn“. In: Yisokher Ber Ribak. Paris 1937. S. 66–71. Murašov, Jurij. „Orthographie und Karneval. Nikolaj Gogol’s schizoides Schriftverständnis“. Wiener Slawistischer Almanach 39. 1997. S. 85–105. Musée National Message Biblique Marc Chagall. Nice 1973. [Chagall 1973] Nabokov, Vladimir. Nikolai Gogol. New York 31961. Nabokov, Vladimir. Nikolaj Gogol’. Reinbek bei Hamburg 1990. „Nach dem Pogrom (Jüdisches Volkslied aus Russland)“. Ost und West 9–12. 1914. S. 665. Neuberg, Simon. Pragmatische Aspekte der jiddischen Sprachgeschichte am Beispiel der Zenerene. Hamburg 1999. Niborski, Yitskhok. Verterbukh fun loshn-koydesh-shtamike verter in yidish. Paris 1999. (Unter Mitwirkung von Shimen Nayberg) Niewöhner, Friedrich. Die Rückkehr aus der fremden Sprache. Die vergessene Geschichte des Jüdischen Wissenschaftlichen Instituts in Wilna“. In: Dohrn, Verena (Hrsg.). Wissenschaft des ­Ost­judentums. Vorträge, gehalten in der der Niedersächsischen Landesbibliothek anlässlich der Eröffnung der Ausstellung zum 75jährigen Bestehen des YIVO-Instituts. Hameln 2003. S. 10–12. Niger, Shmuel. Mendele Moykher-Sforim. Nyu-York 1928. Niger, Shmuel. I. L. Perets. Zayn leben, zayn firndike perzenlikhkayt und yidishe shriftn, zayn virkung. Buenos-Ayres 1952. Niger, Shmuel. „Leyb Kvitko“. In: Ders. Yidishe shrayber in Sovyet-Rusland. Nyu-York 1958. S. 41–48. Nigg, Walter. „Marc Chagall“. In: Ders. Maler des Ewigen. Band 2. Moderne Ikonen. Zürich 1961. S. 385–432. Noll, Thomas. „Ikonographie/Ikonologie“. In: Pfisterer, Ulrich (Hg.). Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe. Stuttgart/Weimar 2003. S. 151–155. Novershtern, Avraham. Kesem hadimdumim. Apokalipsa umeshikhiyut besifrut yidish. Yerushalayim 2003. (hebr.; Die Verlockung des Zwielichts. Apokalypse und Messianismus in der jiddischen Literatur)

Literaturverzeichnis  | 381 Nünning, Ansgar/Nünning, Vera. „Kulturwissenschaften. Eine multiperspektivische Einführung in einen interdisziplinären Diskussionszusammenhang.“ In: Dies. Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stuttgart/Weimar 2003. S. 1–18. Olin, Margaret. The Nation without Art. Examining Modern Discourses on Jewish Art. Nebraska 2002. Onasch, Konrad. Ikonen. Berlin 1961. Opatoshu, Yoysef [Joseph]. YIVO, reg. 436, f. 248–250. Opatoshu, Yoysef [Joseph]. A tog in Regnsburg. Nyu-York 1933. (dt. Ein Tag in Regensburg, 2008) Opatoshu, Yoysef [Joseph]. „Vos iz yidishkayt?“ In: Ders. Yidish un yidishkayt. Eseyen. Toronto 1948. S. 35–43. [Opatoshu 1938a] [Opatoshu, Yoysef.] „A geshprekh mit Yoysef Opatoshu“. Literarishe bleter. Ilustrirte vokhenshrift far literatur, teater un kunst Nr. 750–751. 1938. S. 640–642. [Opatoshu 1938b] Opatoshu, Yoysef [Joseph]. „Yidish“. In: Ders. Yidish un yidishkayt. Eseyen. Toronto 1948. S. 17–27. [Opatoshu 1936] Opatoshu, Yoysef. Der letster oyfshtand. Roman in tsvey bikher. Band 1: Reb Akiva. Nyu York 1948; Band 2: Bar Kokhba. Historisher roman. Nyu York 1955. Opatoshu, Yoysef [Joseph]. „Di ideye fun yidish un fun der yiddisher literatur“. In: Ders. Yidish un yidishkayt. Eseyen. Toronto 1948. S. 29–34. [Opatoshu 1948] Opatoshu, Joseph. Bar Kochba. Der letzte Aufstand. Stuttgart 1985. (Aus dem Jiddischen von Emanuel Hacken) Ort, Claus-Michael. „Kulturbegriffe und Kulturtheorien“. In: Nünning, Ansgar/Nünning, Vera (Hrsg.). Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stuttgart/Weimar 2003. S. 19–38. Oy-Marra, Elisabeth. „Bildstrategien von Schrecken und Erlösung. Der geschundene Körper christ­ licher Märtyrer in der Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts“. In: Zenck, Martin/Becker, Tim/ Woebs, Raphael (Hg.). Gewaltdarstellung und Darstellungsgewalt in den Künsten und Medien. Berlin 2007. S. 249–273. Pacławski, Jan. Powieści i eseje Juliana Stryjkowskiego. Kielce 1999. S. 77–103. Paech, Joachim. „Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figuration“. In: Helbig. Jörg (Hg.). Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Berlin 1998. S. 14–30. Paech, Joachim/Schröter, Jens. Intermedialität – Analog /Digital. Theorien, Methoden, Analysen. München 2008. Panofsky, Erwin [1932]. „Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst“. In: Kaemmerling, Ekkehard (Hg.). Bildende Kunst als Zeichensystem 1. Ikonographie und Ikonologie. Theorien, Entwicklung, Probleme. Bd. 1. Köln 31984. S. 185–206. ­[Panofsky 31984a] Panofsky, Erwin [1939/1955]. „Ikonographie und Ikonologie.“ In: Kaemmerling, Ekkehard (Hg.). Bildende Kunst als Zeichensystem 1. Ikonographie und Ikonologie. Theorien, Entwicklung, ­Probleme. Bd. 1. Köln 31984. S. 207–225. [Panofsky 31984b] Panofsky, Erwin. Perspective as symbolic form. New York 1994.

382  | Literaturverzeichnis Panofsky, Erwin. „Rembrandt und das Judentum“. In: Ders. Deutschsprachige Aufsätze. Herausgegeben von Karen Michesl und Martin Warnke. Bd. 2. Berlin 1998. 971–1006. (= Studien aus dem Warburg-Haus; Bd.1) Paustovskij, Konstantin G. [1966]. „Neskol’ko slov o Babele“. In: Ders. Sobranie sočinenij v 8-i tomach. T. 7. Literaturnye portrety. Očerki. Zametki. Moskva 1970. S. 153–160. Paustovskij, Konstantin. Vremja bol’šich ožidanij. Moskva 2002. Perets, Yitskhok Leybush. Ale verk. 11 Bde. Nyu-York 1947. Peters, Jochen-Ulrich. Tendenz und Verfremdung. Studien zum Funktionswandel des russischen satirischen Romans im 19. und 20. Jahrhundert. Bern 2000. (= Slavica Helvetica; Bd.66) Pfister, Manfred. „The Dialogue of Text and Image. Antoni Tapies and Anselm Kiefer.“ In: Dirscherl, Klaus (Hg.). Bild und Text im Dialog. Passau 1993. S. 321–343. Philo-Lexikon. Handbuch des jüdischen Wissens. Frankfurt a. M. 1992. Platt, Kevin M.F. „Pushkin’s History of Peter the Great. Interpretation by Triangulation“. In: Ryfa, Juras T. Collected Essays in Honor of the Bicentennial of Alexander Pushkin’s Birth. New York/ Queenston (Ontario) 2000. S. 141–163. Podryatshik, L. „A vort vegn Dovid Hofshteyn“. Yidishe kultur 49 (9). 1987. S. 34–37. Podryatshik, L. „A vort vegn Dovid Hofshteyn“. Yidishe kultur 50 (4). 1988. S. 20–23. Poljakov, Vladimir. Knigi russkogo kubofuturizma. Moskva 1998. Puškin, Aleksandr S. „O proze“. In: Polnoe sobranie socinenij. T. 11. Kritika i publicistika 1918–1835. Leningrad 1949. S. 18–19. Puškin, Aleksandr S. Sočinenija v 3-ch tomach. Moskva 1985–1986. Rajewsky, Irina O. Intermedialität. Tübingen [u. a.] 2002. (= UTB; Bd. 2261) Read, H. „Meidner“. In: Kindler Malerei-Lexikon. Zürich 1967. S. 370–371. Reallexikon zur Byzantinischen Kunst. Hg. von Klaus Wessel und Marcell Restle. Stuttgart 1966– 2008. 7 Bde [A-N]. [Wessel/Restle 1978] Reichle, Ingeborg/Siegel, Steffen/Spelten, Achim. „Die Familienähnlichkeit der Bilder“. In: Dies. Verwandte Bilder. Die Fragen der Bildwissenschaft. Berlin 2007. S. 7–11. Reichle, Ingeborg/Siegel, Steffen/Spelten, Achim. Verwandte Bilder. Die Fragen der Bildwissenschaft. Berlin 2007. Reifenscheid, Beate: Chagall und die Bühne. Bielefeld: Kerber Verlag 1996. Remenik, Hersh. Shtaplen. Portretn fun yidishe shrayber. Moskve 1982. Renner, Rolf G. „Intermedialität“. In: Kimmich, Dorothee/Renner, Rolf Günter/Stiegler, Bernd. Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart 2008. 423–431. Reyzen, Zalmen. „Yoysef Opatoshu“. In: Ders. Leksikon fun der yidisher literatur, poezye un filologye. Vilne 1928. Bd. 1. S. 145–151. Ribak, Sonye. „Zayn lebns-veg“. In: Yisokher Ber Ribak. Paris 1937. S. 7–28. [Ribak 1937] Ribak, Yisakhar/Aronson, Boris. „Di vegn fun der yiddisher moleray“. Oyfgang 1. 1919. S. 99–124. Richter, Horst. Geschichte der Malerei im 20. Jahrhundert. Stile und Künstler. Köln 91993. Ricœur, Paul. Die lebendige Metapher. München 1986. (La métaphore vive, 1975. Aus dem Franzö­ sischen von R. Rochlitz) Rippl, Gabriele. Beschreibungs-Kunst. Zur intermedialen Poetik angloamerikanischer Ikontexte (1880– 2000). München 2005. (= Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste; Bd. 110)

Literaturverzeichnis  | 383 Roditi, Edouard. „Marc Chagall“. Dialoge über Kunst. Frankfurt am Main 1973. S. 33–55. Rontsh, Yitskhok. Lebn un verk fun M. Shagal. Nyu-York 1967. Rosen, Aaron. Imagining Jewish Art. Encounters with the Masters in Chagall, Guston, and Kitaj. Oxford 2009. Rosen, Valeska von. „Offenes Kunstwerk“. In: Pfisterer, Ulrich (Hg.). Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe. Stuttgart/Weimar 2003. S. 256–258. Rosensaft, Jean Bloch. Chagall and the Bible. New York 1987. Rosenzweig, Franz [1921]. Der Stern der Erlösung. Frankfurt a. M. 1988. Roskies, David G. Against the Apokalypse. Harvard 1984. Roskies, David G. „S. Ansky and the Pardigm of Return“. In: Wertheimer, Jack (Hg.). The Uses of Tradition. Jewish Continuity in the Modern Era. New York/Cambridge, Mass. 1992. S. 242–260. Roskies, David. A Bridge of Longing. The Lost Art of Yiddish Storytelling. Cambridge, Mass. 1995. Rossijskaja Evrejskaja Ėnciklopedija. Hrsg. Herman Branover. Moskva 1994–2007. [REĖ; akt. 6 Bde.] Rotermund, Hans Martin. Marc Chagall und die Bibel. Lahr 1970. Rothschild Fritz A.. „Leben zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Abraham Heschel als Interpret des Chassidismus“. In: Ev. Akad. Baden (Hrsg.). Der Chassidismus. Leben zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Karlsruhe 1996. S. 89–106. Rozanov, Vasilij V. [1891]. O Gogole. Letchworth 1970. Rozental, Yehude. „Yehoyeshs tanakh-iberzetsung (an analitishe oysforshung)“. YIVO-bleter 34. 1950. S. 59–128. Rudnickij, Konstantin L. Mejerchol’d. Moskva 1981. Sabin, Stefana. „Nennt mich nicht einen Phantasten. Chagalls literarische Autobiografie und seine Radierungen zu Mein Leben“. In: Chagall und Deutschland. Verehrt – verfemt. Herausgegeben von Georg Heuberger und Monika Grütters. München/Berlin/London/New York 2004. S. 90–92. Sachs-Hombach, Klaus (Hg.). Bildwissenschaften. Disziplinen, Themen, Methoden. Frankfurt a. M. 2005. Sachs-Hombach, Klaus (Hg.). Bildtheorien – Anthropologische und kulturelle Grundlagen des Visualistic Turn. Frankfurt a. M. 2009. Safran, Gabriella. „Rapoport, Shloyme Zaynvl“. In: Hundert, Gershon D. (Hg.). The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. 2 Bde. New Haven/London 2008. Bd. 2. S. 1518–1520. Safran, Gabriella/Zipperstein, Steven (Hg.). The Worlds of S. An-sky. A Russian Jewish Intellecutal at the Turn of the Century. Stanford 2005. Šagal, Mark. Moja žizn’. Moskva 1994. [Chagall 1994] Šagal, Mark. Moj mir. Pervaja avtobiografija Šagala. Vospominanija. Interv’ju. Moskva 2009. [Chagall 2009] Samet, Moshe Shraga. „Emden, Jacob“. In: Encyklopaedia Judaica. Jerusalem 22006. Bd. 6. S. 392– 394. Šatskich, Aleksandra. Gogolevskij mir glazami Marka Šagala. Vitebsk 1999. Šatskich, Aleksandra. „‘Blagosloven bud’, moj Vitebsk‘. Ierusalim kak proobraz šagalovskogo Goroda“. In: Mejlach, M.B./Sarab’janov, D.V. Poėzija i živopis’. Sbornik trudov v pamjati N.I. Chardžieva. Moskva 2000. S. 260–268. Šatskich, Aleksandra. Vitebsk. Žizn’ iskusstva 1917–1922. Moskva 2001.

384  | Literaturverzeichnis Schahadat, Schamma. „Intertextualität. Lektüre  – Text  – Intertext“. In: Pechlivano, Miltos et. al. (Hg.). Einführung in die Literaturwissenschaft. Stuttgart/Weimar 1995. S. 366–377. Schahadat, Schamma. „Roždenie, tvorenie, preobraženie. Das Theater als Modell für Lebenskunst in der russischen Moderne“. Balagan. Slavisches Drama, Theater und Kino 4 (2). 1998. S. 3–39. Schahadat, Schamma. Lebenskunst – Kunstleben. Žiznetvorčestvo v russkoj kuľture XVIII–XX vv. München 1998. Schahadat, Schamma. Das Leben zur Kunst machen. Lebenskunst in Russland vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. München 2004. Scheiner, Jens J. Vom Gelben Flicken zum Judenstern? Genese und Applikation von Judenabzeichen im Islam und christlichen Europa (849–1941). Frankfurt a. M u. a. 2004. Schlögel, Karl. „Berlin: ‚Stiefmutter unter den russischen Städten“’. In: Ders. (Hg.). Der große Exodus. Die russische Emigration und ihre Zentren 1917 bis 1941. München 1994. S. 234–259. Schmid, Wolf. „Die narrativen Ebenen ‚Geschehen‘, ‚Geschichte‘, ‚Erzählung‘ und ‚Präsentation‘ der Erzählung“. Wiener Slavistischer Almanach 9. 1982. S. 83–110. Schmid, Wolf. „Das nicht erzählte Ereignis in Isaak Babel’s ‚Übergang über den Zbruc‘“. In: Ders. Ornamentales Erzählen in der russischen Moderne. Frankfurt a. M. 1992. S. 135–154. Schmid, Wolf. Ornamentales Erzählen in der russischen Moderne. Frankfurt a. M. 1992. Schmidt, Angelika. „Apokalypse und Krieg.“ In: Breuer, Gerda/Wagemann, Ines. Ludwig Meidner. Zeichner, Maler, Literat. 1884–1966. Bd. 1. Stuttgart 1991. S. 84–95. Schmidt, Angelika. „Apokalypse und Krieg.“ In: Breuer, Gerda/Wagemann, Ines. Ludwig Meidner. Zeichner, Maler, Literat. 1884–1966. Bd. 2. Stuttgart 1991. S. 124. Schmied, Wieland. Marc Chagall. Die großen graphischen Zyklen. Salzburg 1976. Schneider, Jörg. Religion in der Krise. Die bildenden Künstler Ludwig Meidner, Max Beckmann und Otto Dix meistern ihre Erfahrung des Ersten Weltkrieges. Gütersloh 2005. Schneider, Lisa. Red Cavalry. Babel’s Theater of War. Ann Arbor 1986. Schneider, Pierre. Marc Chagall − Fast ein Jahrhundert. Stuttgart 1995. Schnitzler, Günter. Intermedialität. Studien zur Wechselwirkung zwischen den Künsten. Festschrift für Peter Andraschke zum 65. Geburtstag. Freiburg i. Br. 2004. (= Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae; Bd. 126) Schoell-Glass, Charlotte. „Text und Bild“. In: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Herausgegeben von Ulrich Pfisterer. Stuttgart 2003. S. 348–351. Schoeps, Julius (Hg.). Neues Lexikon des Judentums. Gütersloh 1992. Scholem Alejchem. Tewje, der Milchmann. Zürich 2002. Aus dem Jiddischen übersetzt und mit einem Nachwort von Armin Eidherr. Scholem, Gershom. Die jüdische Mystik und ihre Hauptströmungen. Frankfurt a. M. 1980. Schreiner, Stephan. „Wissenschaft des Judentums“. In: Dohrn, Verena (Hg.). Wissenschaft des Ost­ judentums. Vorträge, gehalten in der der Niedersächsischen Landesbibliothek anlässlich der Eröffnung der Ausstellung zum 75jährigen Bestehen des YIVO-Instituts. Hameln 2003. S. 13–22. Schulte, Jörg. Eine Poetik der Offenbarung. Isaak Babel’. Bruno Schulz. Danilo Kiš. Wiesbaden 2006. (= Jüdische Kultur. Studien zur Geistesgeschichte, Religion und Literatur; Bd. 12) Schulze, Theodor. „Untersuchung zur Selbstkonstitution durch Bilder und Geschichten am Beispiel des jungen Marc Chagall“. In: Fröhlich, Volker/Stenger, Ursula. Das Unsichtbare sichtbar machen. Weinheim/München 2003. S. 103–124.

Literaturverzeichnis  | 385 Schwartz, Howard. Tree of Souls. The Mythology of Judaism. Oxford/New York 2004. Sed Rajna, Gabriella. Die jüdische Kunst. Freiburg/Basel/Wien 1997. Seel, Martin. Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt a. M. 2003. Seghers, Anna. Jude und Judentum im Werke Rembrandts. Leipzig 1983. Shagal, Bella. Brenendike likht. Nyu-York 1946. (dt. Chagall, Bella. Brennende Lichter. Reinbek bei Hamburg 232003.) [Chagall 232003] Shagal, Bella. Di ershte bagegenish. Nyu-York 1947. (dt. Chagall, Bella. Die erste Begegnung. Reinbek bei Hamburg 1973. ÜS. Theodora von der Mühll und Bella Adler.) [Chagall 1973] Shagal, Mark. Eygns. [Typoskript; YIVO, Reg. 108, f. 83.4] Shagal, Mark. [o. T.]. In: Yisokher Ber Ribak. Paris 1937. S. 83. [Chagall 1937] Shagal, Mark. „Mayn vayte heym (oytobiografishe poeme)“. Literarishe bleter 9 (720). 1938. S. 149– 151. [Chagall 1938] Shagal, Mark. „Far di kinstler-kdoyshim“. In: Undzere farpaynikte kinstler. Hrsg. von Hersh Fenster Paris 1951. o. S. Shagal, Mark. „A. Sutskever der poet un mentsh“. In: Sutskever, Avrom. Fun dray veltn. Buenos-Ayres 1953. S. 64–65. Shagal, Mark. „Fun mayn liderbukh“. Di goldene keyt 60. 1967. S. 91–105. [Chagall 1967] Shagal, Mark. „Bletlekh“. Di goldene keyt 60. 1967. S. 106–108. [Chagall 1967] Shagal, Mark. „Tsum tsentn yortsayt fun Y. L. Perets“. Di goldene keyt 60. 1967. S. 113–114. ­[Chagall 1967] Shagal, Mark (1936). „A rede in Vilne (oyfn alveltlekhn tsuzamenfor fun yidishn visnshaftlekhn institut, 14tn oygust 1935)“. Di goldene keyt 60. 1967. S. 115–118. [Chagall 1967] Shagal, Mark. „Es kumt di tsayt“. In: Rontsh, Yitskhok. Di velt fun Mark Shagal. Los-Andzheles 1967. S. 232–241. [Rontsh 1967] Shatski, Yankev, „A tog in Regensburg un Elye Bokher“ fun Y. Opatoshu.“ Di tsukunft. August 1933. S. 493–496. Shatskich, Alexandra. „When and where was Marc Chagall born?“. In: Vitali, Christoph (Hg.). Marc Chagall. The Russian Years 1906–1922. Frankfurt a. M. 1991. S. 21–22. [Šatskich 1991a] Shatskikh, Alexandra. „Marc Chagall and the Theatre“. In: Vitali, Christoph (Hg.). Marc Chagall. The Russian Years 1906–1922. Frankfurt a. M. 1991. S. 76–88. [Šatskich 1991b] Shatskikh, Alexandra [Šatskich, Aleksandra]. Vitebsk. The Life of Art, 1917–1922. New Haven 2007. (Aus dem Russischen übersetzt.) Sherman, Joseph. „Leib Kvitko (Leyb Kvitko)“. In: Dictionary of Literary Biography. Vol. 333. Writers in Yiddish. Edited by Joseph Sherman. Detroit/NewYork/San Francisco/New Haven/Waterville/ London /Munich 2007. S. 130–137. Sherman, Joseph/Estraikh, Gennady/Finkin, Jordan/Shneer, David (Hg.). A Captive of the Dawn. The Life and Work of Peretz Markish (1895–1952). London 2011. (Studies in Yiddish; 9) Shmeruk, Khone. „Araynfir“. In: A shpigl oyf a shteyn. Antologye. poezye un proze fun letste farshnitene yidishe shraybers in Ratn-farband. Herausgegeben von Khone Shmeruk und Benjamin Harshav. Yerusholayim 21987. S. 17–42. Shmeruk, Khone. „Hebrew-Yiddish-Polish. A trilingual Jewish Culture“. In: Gutman Y. et. al. The Jews of Poland between two Wars. Hanover 1989. S. 285–311. Shneer, David. Yiddish and the Creation of Soviet Jewish Culture 1918–1930. Cambridge 2004.

386  | Literaturverzeichnis Sholem-Aleykhem. Ale verk. Bd. 3. Mayses un fantazyes. Nyu-York 1923. Sholem-Aleykhem. Ale verk. Bd. 3. Menakhem-Mendl. Gants Tevye der milkhiker. Buenos-Ayres 1953. Shulman, Elye. „A bazukh bay Y. Opatoshu“. Literarishe bleter. Ilustrirte vokhenshrift far literatur, teater un kunst 498. 1933. S. 750–752. Shvarts, Karl. [o. T.]. In: Yisokher Ber Ribak. Paris 1937. S. 35–39. Sicher, Efraim. „Art as Metaphor, Epiphany, and Aesthetic Statement. The Short Stories of Isaak Babel‘“. In: Modern Language Review 77 (1982). S. 387–396. Sicher, Efraim. „The Jewishness of Babel“. In: Miller, Jack (Hg.). Jews in Soviet Culture. London u. a. 1984. Sicher, Eraim. Style and Structure in the Prose of Isaak Babel’. Columbus. Ohio 1986. Sicher, Efraim. „Text, Intertext, Context. Babel, Bialik and others“. In: Freidin, Gregory (Hg.). The Enigma of Isaac Babel. Biography, History, Context. Stanford 2009. Sidney, Alexander. Marc Chagall. Eine Biographie. München 1984. Singer, Isaac Bashevis. Nobel Lecture. London 1978. Sitarz, Magdalena. „Sholem Ash“. In: Writers in Yiddish. Dictionary of Literary Biography. Vol. 333. Writers in Yiddish. Edited by Joseph Sherman. Detroit/NewYork/San Francisco/New Haven/ Waterville/London /Munich 2007. S. 8–18. Šklovskij V. „I. Babel’ (Kritičeskij romans)“. Lef 2. 1924. S. 152–155. Šklovskij V. „Iskusstvo kak priem / Kunst als Verfahren“. In: Striedter, Jurij/Stempel, Wolf-Dieter/ Paulmann, Inge (Hg.). Texte der russischen Formalisten. Bd. 1. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München 1969. S. 2–35. Slezkine, Yuri. Das jüdische Jahrhundert. Göttingen 2006. Slovar’ russkogo jazyka. Hrsg. von S.I. Ožegov. Moskva 1991. Sontag, Susan. Das Leiden anderer betrachten. Frankfurt a. M. 2005. (Aus dem Englischen von ­Reinhard Kaiser; engl. Regarding the Pain of Others, 2003). Soussloff, Catherine M. Jewish Identity in Modern Art History. Berkeley/London 1999. Spiegelglas auf Stein. Jiddische Literatur unter Stalin. Herausgegeben von Andrej Jendrusch. Berlin 2002. Spira, Andrew. Russian Avant-garde Art and the Icon Painting Tradition. Aldershot u. a. 2008. Stangé-Zhirovova, Nadia. „Quelques considérations sur le culte de la Terre-Mère chez les Slaves ­orientaux“. Slavica Gandensia 13. 1983. S. 423–428. Steinberg, Theodore L. Mendele Mocher Seforim. Boston 1977. Stiegler, Bernd. „Literatur und Medientheorie“. In: Kimmich, Dorothee/Renner, Rolf Günter/Stiegler, Bernd. Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart 2008. S. 415–423. Stierle, Karlheinz. „Werk und Intertextualität“. In: Schmid, Wolf/Stempel, Wolf-Dieter (Hg.). Dialog der Texte. Wien 1983. S. 7–26. (= Wiener Slawistischer Almanach; Sonderband 11) Stiftung Frieder Burda (Hg.). Chagall in neuem Licht. Baden-Baden 2006. [Chagall 2006] Stine, Peter. „Isaac Babel and Violence“. Modern Fiction Studies 30 (2). 1984. S. 237–255. Stökl, Günther. Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 1962. Stooss, Toni. „Marc Chagall. Die Porträts“. In: Brugger, Ingried/Stooss, Toni (Hg.). Im Bann der Moderne. Picasso, Chagall, Jawlensky. Meisterwerke aus der Sammlung Karl und Jürg Im Obersteg. Wien 2003. S. 63–70. Straus, Raphael. Die Judengemeinde Regensburg im ausgehenden Mittelalter, Heidelberg 1932.

Literaturverzeichnis  | 387 Stryjkowski, Julian. Głosy w ciemności. Warszawa 1956. Stryjkowski, Julian. Austeria. Warszawa 1979. Stryjkowski, Julian. Echo. Warszawa 1988. Stryjkowski, Julian/Szewc, Piotr. Ocalony na Wschodzie. Z Julianem Stryjkowskim rozmawia Piotr Szewc. Montricher 1991. Stutshkov, Nokhem. Der oytser fun der yidisher shprakh. Nyu-York 1950. Suchich, Igor. „O zvezdach, krovi, ljudjach i lošadjach (1923–1925). Konarmija I. Babelja.“ Zvezda 12. 1999. S. 222–232. Suchich, Igor’. „Obožžennye solncem“ In: Babel’, Isaak Ė. Sobranie socinenij v 4-ch tomach. T. 1. Moskva 2006. S. 8–31. Susman, Margarete. Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes. Freiburg i. Br. 1968. Sutskever, Avrom. Poetishe verk. 2 Bd. Tel-Aviv 1963. Sutskever, Avrom. Firkantike oysyes un mofsim. Tel-Aviv 1968. Sutskever, Avrom. Tsaytike penemer. Tel-Aviv 1970. Sutskever, Avrom. Di fidl-royz. Tel-Aviv 1974. Sutskever, Avrom. Fun alte un naye ksav-yadn. Tel-Aviv 1982. Sutskever, Avrom. Tsviling-bruder. Tel-Aviv 1986. Sutskever, Avrom. The Fiddle Rose. Poems 1970–1972. Detroit 1990. (Jidd.-engl. Ausgabe. Aus dem Jiddischen von Ruth Withman) Sutskever, Avrom. Baym leyenen penemer. Dertseylungen, dermonungen, eseyen. Yerusholayim 1993. Sutzkever, Abraham. Geh über Wörter wie über ein Minenfeld. Lyrik und Prosa. Frankfurt/New York 2009. Szajkowski, Zosa (Hg.). An Illustrated Sourcebook of Russian Antisemitism 1881–1978. 2 Bde. New York 1980. Szymaniak, Karolina. Warszawska awangarda jidysz. Antologia tekstów. Gdańsk 2005. Tanakh. Nyu-York 1938. (Aus dem Hebräischen ins Jiddische übersetzt von Yehoyesh) N.M. Tarabukin o V.Ė. Mejerchol’de. Herausgegeben von Oleg M. Fel’dman und V.A. Ščerbakov, Moskva 1998. [Tarabukin 1998] Taranovsky, Kiril. „The Black-Yellow Light“. In: Ders. Essays on Mandel’stam. Cambridge 1976. S. 48–67. (= Harvard Slavic Studies; Bd. 6) Tassova, Elena. Form und Aussage im malerischen Werk Marc Chagalls. Köln 1985. Thun, Nyota. Majakowski. Maler und Dichter. Studien zur Werkbiographie 1912–1922. Tübingen/ Basel 1993. Titzmann, Michael. „Theoretisch-methodologische Probleme einer Semiotik der Text-Bild-Relationen“. In: Harms, W. (Hg.). Text und Bild, Bild und Text. Stuttgart 1990. S. 368–384. Todorov, Tzvetan. Introduction à la littérature fantastique. Paris 1970. Told [Feiwel, Berthold]. Die Judenmassacres in Kischinew von Told. Mit einem weiheblatt von E.M. Lilien und illustrationen. Berlin 1903. Tolkovyj slovar’ russkogo jazyka. Hrsg. von B.M. Volin und D.N. Ušakov. Moskva 1939. [Volin/ Ušakov 1939] Trepp, Leo. Die Juden. Volk, Geschichte, Religion. Wiesbaden 2006. Tsenerene, 2 Bände. Nyu-York 1973.

388  | Literaturverzeichnis Tsharni, Danyel. „Mit farakshnte akslen“. In: Yisokher Ber Ribak. Paris 1937. S. 72–76. Tsherikover, Elye. „Di folks-kunst un ir yoyresh“. In: Yisokher Ber Ribak. Paris 1937. S. 52–58. Tugendchol’d, Jakov. Problema voiny v mirovom iskusstve. Moskva 1916. Turgenev, Ivan. S. „Gamlet i Don Kichote“. In: Ders. Sobranie sočinenij v 12-ch tomach. Bd. 11. Moskva 1956. S. 168–187. Turniansky, Chava. „Tsena-Urena“. In: Michael Berenbaum, Fred Skolnik (Hg.). Encyclopaedia Judaica 2nd ed. Detroit 2007. Bd. 20. S. 491–492. Tynjanov, Jurij. „Dostoevskij i Gogol’ /Dostoevskij und Gogol’“. In: Striedter, Jurij/Stempel, WolfDieter/Paulmann, Inge (Hg.). Texte der russischen Formalisten. Bd. 1. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München 1969. München. S. 300–371. Tynjanov, Jurij N. [1922]. „Illjustracii“. In: Ders. Poėtika. Istorija literatury. Kino. Moskva 1977. S. 310–318. Tynjanov, Jurij N. „Illustrationen“. In: Ders. Poetik. Ausgewählte Essays. Leipzig/Weimar 1982. S. 184–195. Ueding, Gerd (Hg.). „Text“. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 9. St-Z. Tübingen 2009. S. 489–509. Undzere farpaynikte kinstler. Hrsg. von Hersh Fenster. Paris 1951. Urban, Peter. „Editorische Notiz“. In: Babel, Isaak. Tagebuch 1920. Berlin 1990. S. 179–189. Urban, Peter. „Nachwort“. In: Babel, Isaak. Die Reiterarmee. Berlin 1994. S. 287–317. Uspenskij, Boris A. Poetik der Komposition. Struktur des künstlerischen Textes und Typologie der Kompositionsform. Frankfurt a. M. 1975. Uspenskij, Boris. „Zur Semiotik der Ikone“. In: Eimermacher, Karl (Hg.). Semiotica Sovietica I. Aachen 1986. Bd. 2. S. 755–795. Uspenskij, Boris A. Semiotika iskusstva. Moskva 1995. Uthemann, Ernest W. 1985. „Die Illustrationen zu Die toten Seelen von Nikolai Gogol“. In: Marc Chagall. Druckgraphik. Herausgegeben von Ernst-Gerhard Güse. Stuttgart. S. 37–44. Vajskopf, Michail. Sjužet Gogolja. Morfologija. Ideologija. Kontekst. Moskva 22002. Valencia, Heather. „Yiddish Writers in Berlin 1920–1936“. In: Timms, Edward/Hammel, Andrea (Hg.). The German-Jewish Dilemma from the Enlightenment to the Shoah. Lewiston/Quinston/ Lampeter 1999. S. 193–207. Valencia, Heather. „‘Farvandlen vel ikh toyt in leben‘: Transformations of the Holocaust in the PostWar Poetry of Abraham Sutzkever“. In: Sherman, Joseph (Hg.): Yiddish after the Holocaust. Oxford 2004. S. 217–239. Valencia, Heather. „Sutzkevers Leben und Lyrik“. In: Sutzkever, Abraham. Geh über Wörter wie über ein Minenfeld. Lyrik und Prosa. Frankfurt/New York 2009. S. 19–70. Vandier-Nicolas, Nicole. Chinesische Malerei und Tradition der Gelehrten. Würzburg 1983. Varga, Péter. „Deutsch, jiddisch, hebräisch, ungarisch oder ...? Sprache und Identität des osteuropäischen Judentums“. In: Mádl, Antal/Motzan, Peter (Hg.). Schriftsteller zwischen (zwei) Sprachen und Kulturen. München 1999. S. 135–143. Varshavski, Oyzer. L’Arrière-Montparnasse. Nouvelles; gouaches; aquarelles et dessins de l’auteur. Paris 1992.

Literaturverzeichnis  | 389 Veidlinger, Jeffrey. The Moscow State Yiddish Theater. Jewish Culture on the Soviet Stage. Bloomington u. a. 2000. Vinogradov, V.V. Gogol and the Natural School. Ann Arbor, MI 1987. Vinokur, Val. The trace of Judaism. Dostoevsky, Babel, Mandelstam, Levinas. Evanston/Ill. 2008. Vishnitser-Bernshteyn, Rokhl. [o. T.]. In: Yisokher Ber Ribak. Paris 1937. S. 40–42. [WischnitzerBernstein 1937] Vitali, Christoph (Hg.). Marc Chagall. The Russian Years 1906–1922. Frankfurt a. M. 1991. Vlasova, Marina. Russkie sueverija. Sankt-Peterburg 1998. Vogl, Joseph. „Kafkas Babel“. Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 26. 1994. S. 374–384. Vorndung, Klaus. „,Überall stinkt es nach Leichen.‘ Über die ästhetische Ambivalenz apokalyptischer Visionen“. In: Gendolla, Peter/Zelle, Carsten. Schönheit und Schrecken. Entsetzen, Gewalt und Tod in alten und neuen Medien. Heidelberg 1990. S. 129–144. (= Reihe Siegen. Beiträge zu Literatur-, Sprach- und Medienwissenschaft; Bd. 72) Voznesenskij, Andrej. Sobranie sočinenij. T. 2. Moskva 1984. Walter, Ingo F./Metzger, Rainer. Marc Chagall. 1887–1885. Malerei als Poesie. Köln 1987. Weber, Annette. „,Womöglich gefällt mir das Zeug!‘ – Chagall in Deutschland und sein Publikum von 1933 bis heute“. In: Chagall und Deutschland. Verehrt  – verfemt. Herausgegeben von Georg ­Heuberger und Monika Grütters. München/Berlin/London/New York 2004. S. 50– 63. Weber, Annette. „Marc Chagall“. In: Stiftung im Obersteg (Hrsg.). Die Sammlung Im Obersteg im Kunstmuseum Basel. Basel 2004. S. 106–119. (Katalog zur Ausstellung «Die Sammlung Im Obersteg. Picasso, Chagall, Jawlensky, Soutine» im Kunstmuseum Basel vom 14. Februar–2. Mai 2004.) [2004a] Weber, Annette. „Sich ein Bild machen. Aufgaben und Ziele jüdischer Kunst- und Kulturgeschichte“. In: Mussaf. Magazin der Hochschule für Jüdische Studien 2 2006. S. 7–9. Weigel, Sigrid. Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis ­Benjamin. München 2004. Weiner, Richard. Kreuzungen des Lebens. München 2005. Weinreb, Friedrich. Der göttliche Bauplan der Welt. Der Sinn der Bibel nach der ältesten jüdischen Überlieferung. Zürich 62005. Weinreich, Max. History of the Yiddish Language, Chicago 1982 (Erstpublikation auf Jiddisch als Geshikhte fun der yidisher shprakh, Nyu York 1973, 4 Bde.) Weinreich, Max. History of the Yiddish Language. New Haven 2008. Weitzmann, K. Die Ikone. 6. bis 14. Jahrhundert. München 1978. Werberger, Annette. „Grenzgänge, Zwischenwelten, Dritte – Der jüdische Schriftsteller und Ethnograph S. Anskij“. Transversal. Zeitschrift des Centrums für jüdische Studien (Jenseits des Natio­ nalen) 1. 2004. S. 62–79. Werner, Alfred, „Issachar ber Ryback“. In: Encyclopaedia Judaica, Bd. 17 (Ra-Sam). Jerusalem 22006. S. 601. Wertheimer, Jürgen (Hrsg.). Ästhetik der Gewalt. Ihre Darstellung in Literatur und Kunst. Frankfurt a. M. 1986.

390  | Literaturverzeichnis Wetering, Ernst van de. „Rembrandt als suchender Künstler“. In: Gemäldegalerie Staatliche Museen zu Berlin (Hg.). Rembrandt. Genie auf der Suche. Köln 2006. 65–103. (Ausstellungskatalog) [Rembrandt 2006] Wetzel, Michael. „,Ein Auge zuviel‘. Derridas Urszenen des Ästhetischen“. In: Derrida, Jacques. Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen. München 1997. S. 129–155. Wiesel, Eli. Chassidische Feier. Geschichten und Legenden. Freiburg i. Br./Basel/Wien 1988. Wiesemann, Falk. „kommt heraus und schaut“ – Jüdische und christliche Illustrationen zur Bibel in alter Zeit. Essen 2002. Williams, Kieran. „National Myths in the New Czech Liberalism“. In: Hosking, Geoffrey/Schöpflin, George (Hg.). Myths and Nationhood. London 1997. S. 132–140. Wilson, Jonathan. Marc Chagall. New York 2007. Wischnitzer-Bernstein, Rahel. Symbole und Gestalten der jüdischen Kunst. Berlin-Schöneberg 1935. Wisse, Ruth. The Schlemiel as Modern Hero. Chicago 1971. Wisse, Ruth. „Di Yunge and the Problem of Jewish Aestheticism“. In: Jewish Social Studies 38, 1976 (3–4). S. 265–276. Wisse, Ruth. I. L. Peretz and the Making of Modern Jewish Culture. Seattle 1991. Wisse, Ruth. „Yitskhok Leyb Perets“. In: Hundert, Gershon D. (Hg.). The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. 2 Bde. New Haven/London 2008. Bd. 2. S. 1339–1342. With, Karl. Marc Chagall. Leipzig 1923. (= Junge Kunst; Bd. 35) Wittmer, Siegfried. Jüdisches Leben in Regensburg. Vom frühen Mittelalter bis 1519. Regensburg 2001. Wolf, Werner, „Intermedialität“. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen  – Grundbegriffe. Herausgegeben von Ansgar Nünning. Stuttgart/Weimar 22001. S. 284– 285. Wolf, Werner, „Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik. Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie“. In: Nünning, Vera/Nünning, Ansgar (Hg.). Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier 2002. S. 22–104. (= WVGT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium; 5) Wolfram, Gernot. Birg mich – Interkultureller Dialog und jüdische Identität bei Paul Celan und ­Chajim N. Bialik. Frankfurt am Main [u. a.]. Lang 2006. (Begegnung: Jüdische Studien; 3) Wolitz, Seth L. „The Kiev-Gruppe (1918–1920) Debate. The Function of Literature“. Studies in American Jewish literature 4. 1978. S. 97–106. Wolitz, Seth L. „A Yiddish Modernist Dirge: Di kupe of Perets Markish“. Modern Jewish Studies Annual 6. 1987. S. 56–72. Wolitz, Seth L. „Chagall’s Last Soviet Performance: The Graphics for Troyer“. Journal of Jewish Art 21/22. 1995. S. 95–115. Wolitz, Seth L. „Troyer – Hofshteyn’s Fellow-Traveler Dirge“. Slavic Almanach: The South African Yearbook for Slavic, Central and East European Studies 4 (4–5). 1997. S. 11–129. Wolitz, Seth L. „Ribak, Yisakhar Ber“. In: Hundert, Gershon D. (Hg.). The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. 2 Bde. New Haven/London 2008. Bd. 2. S. 1640–1642. Wright, Christopher. Rembrandt. München 2000. (bes. S. 314–337) (Aus dem Englischen von Annemarie Seling.) Wullschlager, Jackie. Chagall. A biography. New York 2008.

Literaturverzeichnis  | 391 Yehoyesh/Kosover, Mordkhe [1927]. Heores tsum tanakh: leksikon fun meforshim un perushim. NyuYork 1949. Young, James E. Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation. Frankfurt a. M. 1997. Yudovin, Sh./Malkin: M. Yidisher folks-ornament. Ershte heft./Evrejskij narodnyj ornament. Pervaja tetrad’. Vitebsk 2005. (Nachdruck der Erstausgabe von 1920, hrsg. von Arkadij Šul’man) Zanthier, Agnieszka von. Julian Stryjkowski und Edgar Hilsenrath. Zur Identität jüdischer Schriftsteller nach 1945. Essen 2000. (= Literaturwissenschaft in der Blauen Eule; Bd. 31) Zeira, Asher. „Sholem-Aleichem and Lev Tolstoy“. Yiddish 10. 1996. S. 110–114. Zelenin, Dmitrij K. Russische (Ostslavische) Volkskunde. Berlin/Leipzig 1927. Zelinsky, Bodo. „Marc Chagall. Nikolaj Gogol, Die toten Seelen“. In: Zelinsky, Bodo (Hg.). Russische Buchillustration. Köln/Weimar/Wien 2009. S. 153–168. (= Literarische Bilderwelten. Internationale Buchgraphik in Europa und Übersee; Bd. 9) Zelinsky, Bodo. Russische Buchillustration. Köln/Weimar/Wien 2009. (= Literarische Bilderwelten; Bd. 9) Zeltser, Arkadij. „Jewish Artists of Vitebsk in the Interwar Period. Between the National and the ­Universal“. Jews in Russia and Eastern Europe 1 (50). 2003. S. 77–108. Zen’kovskij, Vasilij V. Russkie mysliteli i Evropa. Moskva ²2005. Zibawi, Mahmoud. Die Ikone. Bedeutung und Geschichte. Düsseldorf 2003. Ziegler, Gudrun. Alexander S. Puschkin. In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei ­Hamburg 1979. Zhikhlinski, Reyzl [Zychlinski, Rajzel]. Di lider / Die Gedichte. 1928–1991. Jiddisch und Deutsch. Herausgegeben und übertragen von Hubert Witt. Frankfurt a. M. 2003. Zieliński, Konrad. „Relations between Jew, Poles and Russians at the beginning of World War I (1914– 1915)“. Pinkas. Annual of the Culture and History of East European Jewry 2. 2008. S. 105–119. Zima, Peter V. (Hg.). Literatur intermedial. Musik – Malerei – Photographie – Film. Darmstadt 1995. Žolkovskij, A.K. „Meždu Dostoevskim i Russo“. In: Žolkovskij, A.K./Jampol’skij, M.B. Babel’/Babel. Moskva 1994. S. 89–123. Žolkovskij, Aleksandr. K. „Roman s gonorarom. K teme Babel’ i Šolom-Alejchem“. In: Moskovič, V./ Švarcband, V. et. al. Oh Jerusalem. Piza-Ierusalim 1999. S. 255–278. (zuerst erschienen in: Literaturnoe obozrenie 264. 1997. S. 43–54.) Zuckerman, Marvin S. „Yehoash“. In: Writers in Yiddish. Dictionary of Literary Biography. Vol. 333. Writers in Yiddish. Edited by Joseph Sherman. Detroit/NewYork/San Francisco/New Haven/ Waterville/London /Munich 2007. S. 337–343. Zuschlag, Christoph. „Auf dem Weg zu einer Theorie der Interikonizität“. In: Horstkotte, Silke/Leonhard, Karin (Hrsg.). Lesen ist wie Sehen. Intermediale Zitate in Bild und Text. Köln (u. a.). Böhlau Verlag 2006. S. 89–99. Zweig, Arnold [1920]. Das ostjüdische Antlitz zu zweiundfünfzig Zeichnungen von Hermann Struck. Wiesbaden 1988.

392  | Literaturverzeichnis

Internetquellen http.//de.academic.ru/dic.nsf/dewiki/610317; 5.3.2012 http://en.academic.ru/dic.nsf/enwiki/196635; 5.3.2012 http://www.comite-ryback.org/Biography.php; 5.3.2012 http://www.eleven.co.il/article/13251/; 5.3.2012 http://www.fritz-thyssen-stiftung.de/foerderung/foerderungsbereiche/querschnittbereich-bild-undbildlichkeit/; 05.03.2012 http://kirchensite.de/indexphp?myELEMENT=114641, 28.12.2010. http://www.ogoniok.com/inside/hystory/; 5.3.2010 http.//www.rulex.ru/01160745.htm; 5.3.2012 http.//www.rulex.ru/01180277.htm; 5.3.2012 http.//rutube.ru/tracks/430154.html?v=32da63a1de8a5c058fe9d378c7981733&bmstart=0; 5.3.2012 http.//www.shtetlinks.jewishgen.org/lyakhovichi/Mukdonybio.htm; 5.3.2012 http.//www.theorie-der-medien.de/text_detail.php?nr=12; 5.3.2012 http://www.uni-trier.de/index.php?id=998; 19.2.2012 http://www.vekperevoda.com/1855/ellice.htm; 5.3.2012 http://www.vekperevoda.com/1855/lamble.htm; 5.3.2012 http://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%9A%D0%B0%D1%86%D0%B0%D0%BF; 6.3.2012 http://yiddish.haifa.ac.il/tmr/tmr09/tmr09005.htm; 5.3.2012 http://www.yiddishweb.com/dubletn/iberzetsungen.htm; 5.3.2012 http://www.museumeinharod.org.il/english/; 5.3.2012 www.feb-web.ru/feb/litenc/encyclop/lea/lea–4761.htm; 5.3.2012 www.chagall.vitebsk.by; 5.3.2012 www.eilatgordinlevitan.com/warsaw/w_pages/warsaw_stories_bloomgarden.html; 5.3.2012 www.ibiblio.org/pub/academic/languages/yiddish/mendele/tmr02.020; 5.3.2012 www.iconicturn.de; 5.3.2012 www.slovopedia.com/2/209/259320.html; 5.3.2012 www.thecjm.org; 5.3.2012 www.wzo.org.il/en/resources/view.asp?id_1388; 1.10.2010

Abbildungsverzeichnis Für sämtliche Werke Chagalls: © VG Bild-Kunst, Bonn 2012

Abbildungen im Text S. 96: Marc Chagall: Russland, den Eseln und anderen, 1911. Musée National d’Art Moderne, Paris. Aus: Kamenski: Chagall. Die russischen Jahre 1907–1922. Stuttgart 1989. S. 88. S. 134: Marc Chagall: Verwundeter Soldat, 1914. Tretjakov-Galerie, Moskau. Aus: Kamenski, A. Chagall. Die russischen Jahre 1907–1922. Stuttgart 1989. S. 197. S. 136: Marc Chagall: Der Zeitungsverkäufer, 1914. Musée National d’Art Moderne, Paris. Aus: Kamenski, A. Chagall. Die russischen Jahre 1907–1922. Stuttgart 1989. S. 183. S. 138: Marc Chagall: Skizze für Der Zeitungsverkäufer, 1914. Musée National d’Art Moderne, Paris. Aus: Kamenski, A. Chagall. Die russischen Jahre 1907–1922. Stuttgart 1989. S. 203. S. 175: Marc Chagall: Illustration zu Troyer von Dovid Hofshteyn, 1922, Xa (YIVO, New York). Aus: Harshav, B. 2006. Marc Chagall and the Lost Jewish World. The Nature of Chagall’s Art and Iconography. New York. S. 126. S. 176: Marc Chagall: Illustration zu Troyer von Dovid Hofshteyn, 1922, XIVa. YIVO, New York. Aus: Harshav, B. 2006. Marc Chagall and the Lost Jewish World. The Nature of Chagall’s Art and Iconography. New York. S. 127. S. 176: Marc Chagall: Mann mit Gewehr. Illustration zu Troyer von Dovid Hofshteyn, 1920, XVIa. Musée National d’Art Moderne, Paris. Aus: Kamenski, A. 1989. Chagall. Die russischen Jahre 1907–1922. Stuttgart. S. 288. S. 177: Marc Chagall: Das Dorf setzt sich in Bewegung, 1920. Illustration zu Troyer von Dovid Hofshteyn, 1922, XXa. Musée National d’Art Moderne, Paris. Aus: Kamenski, A. 1989. Chagall. Die russischen Jahre 1907–1922. Stuttgart. S. 277. S. 184: Marc Chagall: Ale far der tsayt farshnitene. Illustration zu Troyer von Dovid Hofshteyn, 1919. Musée National d’Art Moderne, Paris. Aus: Kamenski, A. 1989. Chagall. Die russischen Jahre 1907–1922. Stuttgart 1989. S. 261. S. 217: Marc Chagall: Originalentwurf des Titelblatts zu Iskusstvo Marka Šagala (Die Kunst Marc Chagalls) von Abram Ėfros und Jakov Tugendchol’d, 1918. Privatsammlung, Paris. Aus: Hazan-Brunet (Hg.). Futur Antérieur. L’avant-garde et le livre yiddish (1914–1939). Paris 2009. S. 101. S. 326: Marc Chagall: Illustration zu Der letster oyfshtand von Yoysef Opatoshu, 1948. Aus: Opatoshu, Yoysef. Der letster oyfshtand. Roman in tsvay bikher. Band 1: Reb Akive. Nyu-York 1948. o. S.

Abbildungen auf Tafeln Abb. 1: Marc Chagall: Der Jude in Rot, 1914. Kunstmuseum Basel. Aus: Brugger/Stooss (Hrsg.). Im Bann der Moderne. Wien 2003. S. 71. Abb. 2: Marc Chagall: Kubistische Landschaft, 1918. Musée National d’Art Moderne, Paris. Aus: Kamenski, A. Chagall. Die russischen Jahre 1907–1922. Stuttgart: 1989. S. 325.

394  | Abbildungsverzeichnis Abb. 3: Schema zu Marc Chagall: Kubistische Landschaft, 1918. Abb. 4: Kazimir Malevič: Kuh und Geige, 1913. Staatliches Russisches Museum, St. Petersburg. Aus: Kowtun, Jewgenij F. Sangesi. Die russische Avantgarde. Chlebnikow und seine Maler. Zürich 1993. S. 27. Abb. 5: Kazimir Malevič: Ausschnitt der Umschlagseite von O novych sistemach v iskusstve (Über die neuen Kunstsysteme), 1919. Aus: Šatskich, A. Vitebsk. Žizn‘ iskusstva 1917–1922. Moskva 2001, S. 54. Abb. 6: Pablo Picasso: Die Violine (Jolie Eva), 1912. Stuttgart, Staatsgalerie. Aus: Martini, Alberto. Picasso und der Kubismus. Galerie der klassischen Moderne. Malerei des 19. und 20. Jahrhunderts. Herrsching 1988. Tafel 28. Abb. 7: Marc Chagall: Selbstbildnis mit Farbpalette, 1917. Privatsammlung. Aus: Guerman, Mikhail/ Forestier, Sylvie (Hrsg.). Marc Chagall. Leben und Werk. Singapur 2004. S. 26. Abb. 8: Marc Chagall: Selbstbildnis, 1918. Musée National d’Art Moderne, Paris. Aus: Kamenski, A. Chagall. Die russischen Jahre 1907–1922. Stuttgart: 1989. S. 289. Abb. 9: Kazimir Malevič: Suprematistische Komposition, 1915. Museum Ludwig, Köln. Aus: Drutt, Matthew. W. Kazimir Malevich: Suprematism. New York 2003. S. 149. Abb. 10: Marc Chagall: Liebe auf der Bühne, 1920. Staatliche Tretjakov-Galerie, Moskau, Inv. Nr. ж–525. Aus: Benesch/Brugger (Hrsg.). Marc Chagall. Meisterwerke 1908–1922. Wien 2006. S. 141, Tafel 77. Abb. 11: Schema: Hebräische Buchstaben in: Marc Chagall: Liebe auf der Bühne, 1920. Staatliche Tretjakov-Galerie, Moskau, Inv. Nr. ж–525. Aus: Benesch/Brugger (Hrsg.). Marc Chagall. Meisterwerke 1908–1922. Wien 2006. S.140. Abb. 12: Marc Chagall: Der Maler an der Staffelei, 1914. Musée National d’Art Moderne, Paris. Aus: Kamenski, A. Chagall. Die russischen Jahre 1907–1922. Stuttgart 1989. S. 150. Abb. 13: Marc Chagall: An der Staffelei, 1922/23. Illustration zu Mein Leben, Blatt 18. Aus: Kornfeld, Eberhard W. Verzeichnis der Kupferstiche, Radierungen und Holzschnitte von Marc Chagall. Band I: Werke 1922–1966. Bern 1970. S. 45. Abb. 14: Marc Chagall: Mann mit zurückgeworfenem Kopf, 1918. Staatliche Tretjakov-Galerie, Moskau. Aus: Benesch/Brugger (Hrsg.). Marc Chagall. Meisterwerke 1908–1922. Wien 2006. S. 105, Tafel 68. Abb. 15: Marc Chagall: Selbstbildnis mit Palette, 1918. Centre Pompidou, Paris, Musée national d’art moderne, Centre de création industrielle. Aus: Benesch/Brugger (Hrsg.). Marc Chagall. Meisterwerke 1908–1922. Wien 2006. S. 104, Tafel 67. Abb. 16: Marc Chagall: Marc Chagall: Selbstportrait. Illustration zu Mein Leben, Blatt 17. 1922. Aus: Kornfeld, Eberhard W. Verzeichnis der Kupferstiche, Radierungen und Holzschnitte von Marc Chagall. Band I: Werke 1922–1966. Bern 1970. Abb. 17: Hermann Struck: Frauenportrait, 1920. Aus: Zweig, Arnold. Das ostjüdische Antlitz. Wiesbaden 1988. S. 128. Abb. 18: Marc Chagall: Selbstbildnis mit Haus im Gesicht, 1922/23. Aus: Kornfeld, Eberhard W. Verzeichnis der Kupferstiche, Radierungen und Holzschnitte von Marc Chagall. Band I: Werke 1922–1966. Bern 1970. S. 68–69. Abb. 19: Marc Chagall: Selbstportrait mit dem Haus, um 1926. Aus: Kornfeld, Eberhard W. Verzeichnis der Kupferstiche, Radierungen und Holzschnitte von Marc Chagall. Band I: Werke 1922– 1966. Bern 1970. S. 154–155.

Abbildungsverzeichnis  | 395 Abb. 20: Marc Chagall: Selbstbildnis mit dem verzierten Hut, 1928. The Tel Aviv Museum of Art. Aus: Compton, Susan. Marc Chagall. Mein Leben – Mein Traum. Berlin und Paris 1922–1940. München 1990. S. 206. Abb. 21: Marc Chagall: Selbstbildnis mit Grimasse, 1924/1925. Aus: Kornfeld, Eberhard W. Verzeichnis der Kupferstiche, Radierungen und Holzschnitte von Marc Chagall. Band I: Werke 1922– 1966. Bern 1970. S. 94–95. Abb. 22: Marc Chagall: Titelblatt zu Der kuntsn-makher (Der Zauberkünstler) von Y.L. Perets, 1915– 1916. Musée National d’art moderne/Centre Georges-Pompidou, Paris. Aus: Hazan-Brunet, Natalie. Futur Antérieur. L’avant-garde et le livre yiddish (1914–1939). Paris 2009. S.102. Abb. 23: Marc Chagall: Der Prophet Elias. Illustration zu Der kuntsn-makher (Der Zauberkünstler) von Y.L. Perets. Musée National d’art moderne/Centre Georges-Pompidou, Paris. Aus: Hazan-Brunet, Natalie. Futur Antérieur. L’avant-garde et le livre yiddish (1914–1939). Paris 2009. S.102. Abb. 24: Marc Chagall: Illustration zu Der kuntsn-makher (Der Zauberkünstler) von Y.L. Perets. Musée National d’art moderne/Centre Georges-Pompidou, Paris. Aus: Hazan-Brunet, Natalie. Futur Antérieur. L’avant-garde et le livre yiddish (1914–1939). Paris 2009. S.102. Abb. 25: Anon.: Paschal’nyj užin (Das Pessachmahl. Lubok), 2. Hälfte des 19. Jhs., Ukraine. Staatliches Ethnographisches Museum, St. Petersburg (cat. no. 6396–50). Aus: An-Ski, S. Semyon AnSky – The Jewish artistic heritage. An album. Moskow 1994. S. 78, Abb. 34. Abb. 26: Boris Grigor’ev: Porträt des Regisseurs Vsevolod Mejerchol’d, 1916. Staatliches Russische Museum, St. Petersburg. Aus: Bowlt, John. Moskau & St. Petersburg. Kunst, Leben und Kultur in Russland 1900–1920. Wien 2008, S. 294. Abb. 27: David Burljuk, Kazan’ 1914. Aus: Lekmanov, Oleg/Sverdlov, Michail. Sergej Esenin. Biografija. Sankt-Peterburg 2007. S. 312. Abb. 28: Vladimir Majakovskij, Kazan’ 1914. Aus: Kowtun, Jewgenij F. Sangesi. Die russische Avantgarde. Chlebnikow und seine Maler. Zürich 1993. S.22. Abb. 29: Anatolij Mariengof, 1910er Jahre. Aus: Lekmanov, Oleg/Sverdlov, Michail. Sergej Esenin. Biografija. Sankt-Peterburg 2007. S. 186. Abb. 30: Aleksandr Blok, Sankt Petersburg, 1907. Aus: Blok, Aleksandr A. Polnoe sobranie sočinenij i pisem v dvadcati tomach. Tom 7: Proza (1903–1907). Moskva: Nauka 2003. o.S. Abb. 31: Marc Chagall: Der Jude in Hellrot, 1914/15. Staatliches Russisches Museum, St. Petersburg, Inv. Nr. ЖБ–1708. Aus: Benesch/Brugger (Hrsg.). Marc Chagall. Meisterwerke 1908–1922. Wien 2006. S. 93, Tafel 57. Abb. 32: Marc Chagall: Der Greis, 1914. Musée National d’Art Moderne, Paris. Aus: Kamenski, A. Chagall. Die russischen Jahre 1907–1922. Stuttgart 1989. S. 349. Abb. 33: Marc Chagall: Der Krieg, 1914. Lunačarskij-Museum, Krasnodar. Aus: Kamenski, A. Chagall. Die russischen Jahre 1907–1922. Stuttgart 1989. S. 368. Abb. 34: Marc Chagall: Titelseite zu Troyer von Dovid Hofshteyn, 1922 (1919), Musée National d’Art Moderne, Paris. Aus: Kamenski, A. Chagall. Die russischen Jahre 1907–1922. Stuttgart. 1989. S. 256. Abb. 35: Ephraim Moses Lilien: Für die Märtyrer von Kišinëv. Weiheblatt zu Sbornik von Maksim Gor’kij, 1903. Aus: Brieger, Lothar: E.M. Lilien. Eine künstlerische Entwicklung um die Jahrhundertwende. Mit 226 Abbildungen nach Radierungen und Zeichnungen des Künstlers. Berlin/ Wien 1922. S. 137.

396  | Abbildungsverzeichnis Abb. 36: Joseph Tshaykov: Umschlag zu Di kupe (Der Haufen) von Perets Markish, 1922 Paris, MAHJ, inv. 2000.16.475. Aus: Hazan-Brunet, Natalie. Futur Antérieur. L’avant-garde et le livre yiddish (1914–1939). Paris 2009. S. 170 u. 260. Abb. 37: Ėl’ Lisickij: Klinom krasnym bej belych! (Mit dem roten Keil schlage die Weißen!), 1919/20. Aus: Wolter, Bettina-Martine/Schwenk, Bernhart. Die Große Utopie. Die russische Avantgarde 1915–1932. Frankfurt: Schirn Kunsthalle 1992. O. S., Abb. 124. Abb. 38: Joseph Tshaykov: Umschlag zu 1919 von Leyb Kvitko, 1923 Paris, MAHJ, inv. 2000.16.481. Aus: Hazan-Brunet, Natalie. Futur Antérieur. L’avant-garde et le livre yiddish (1914–1939). Paris 2009. S. 170. Abb. 39: Yisokher Ber Ribak: Bild aus Pogromserie, 1919. Aus: Berlin Transit. Jüdische Migranten aus Osteuropa in den 1920er Jahren. Berlin/Göttingen 2012. (Ausstellungskatalog) Abb. 40: Der Heilige Vasilij (Jurodivyj), um 1600. Staatliche Tret’jakov-Galerie, Moskau. Aus: Zibawi, Mahmoud. Die Ikone. Bedeutung und Geschichte. Düsseldorf 2003. Abb. 11. Abb. 41: Ikone. Novgorod, 15. Jh. Staatliche Tret’jakov-Galerie, Moskau. Aus: Onasch, Konrad. ­Ikonen. Gütersloh 1961. Abb. 26. Abb. 42: Caravaggio: Die Geißelung Christi, 1607. Musée des Beaux Arts, Rouen. Aus: Longhi, Roberto. Caravaggio. Basel/Dresden 1993. Tafel 98. Abb. 43: Ėl’ Lisickij: Iz gekumen der malekh-hamoves un geshokhtn dem shoykhet/Da kam der Todesengel und tötete den Schächter. Illustration zu Khad Gadya (Das Zicklein), 1919. Musée d’art et d’histoire du Judaïsme, Paris. Aus: Hazan-Brunet, Natalie. Futur Antérieur. L’avant-garde et le livre yiddish (1914–1939). Paris 2009. S. 133. Abb. 44: Yisokher Ber Ribak: Bild aus Pogromserie, 1922 [1919]. Aus: Berlin Transit. Jüdische Migranten aus Osteuropa in den 1920er Jahren. Berlin/Göttingen 2012. (Ausstellungskatalog) Abb. 45: Ėl’ Lisickij: Signet des Yidish farlag, 1917. Musée d’art et d’histoire du Judaïsme, Paris. In: Aus: Hazan-Brunet, Natalie: Futur Antérieur. L’avant-garde et le livre yiddish (1914–1939). Paris 2009. S. 64. Abb. 46: Yisokher Ber Ribak: Bild aus Pogromserie, 1919. Aus: Berlin Transit. Jüdische Migranten aus Osteuropa in den 1920er Jahren. Berlin/Göttingen 2012. (Ausstellungskatalog) Abb. 47: Natan Al’tman: Tauben. Evrejskaja grafika (Jüdische Graphik), 1923. Musée d’art et d’histoire du Judaïsme, Paris. Aus: Hazan-Brunet, Natalie. Futur Antérieur. L’avant-garde et le livre yiddish (1914–1939). Paris 2009. S. 89. Abb. 48: Marc Chagall: Das Vertragsbüro. Illustration zu Mërtyve duši (Die toten Seelen) von Nikolaj Gogol’, Blatt 58. 1923–1925. Digitale Vorlage des Marc-Chagall-Museums, Vitebsk, Belarus. Abb. 49: Marc Chagall: An der Stadtgrenze. Illustration zu Mërtyve duši (Die toten Seelen) von Nikolaj Gogol’, Blatt 47. 1923–1925. Digitale Vorlage des Marc-Chagall-Museums, Vitebsk, Belarus. Abb. 50: Marc Chagall: Der Laternenwächter. Illustration zu Mërtyve duši (Die toten Seelen) von Nikolaj Gogol’, Blatt 65. 1923–1925. Digitale Vorlage des Marc-Chagall-Museums, Vitebsk, Belarus. Abb. 51: Marc Chagall: Čičikov auf dem Bett. Illustration zu Mërtyve duši (Die toten Seelen) von Nikolaj Gogol’, Blatt 16. 1923–1925. Digitale Vorlage des Marc-Chagall-Museums, Vitebsk, Belarus. Abb. 52: Marc Chagall: Das Erklären des Wegs. Illustration zu Mërtyve duši (Die toten Seelen) von Nikolaj Gogol’, Blatt 19. 1923–1925. Digitale Vorlage des Marc-Chagall-Museums, Vitebsk, Belarus.

Abbildungsverzeichnis  | 397 Abb. 53: Marc Chagall: Gevatter Mitjaj und Gevatter Minjaj. Illustration zu Mërtyve duši (Die toten Seelen) von Nikolaj Gogol’, Blatt 29. 1923–1925. Digitale Vorlage des Marc-Chagall-Museums, Vitebsk, Belarus. Abb. 54: Marc Chagall: Unser Held hält sich bereit. Illustration für Mërtyve duši (Die toten Seelen) von Nikolaj Gogol’, Blatt 77. 1923–1925. Digitale Vorlage des Marc-Chagall-Museums, Vitebsk, Belarus. Abb. 55: Marc Chagall: Čičikov rasiert sich. Illustration zu Mërtyve duši (Die toten Seelen) von Nikolaj Gogol’, Blatt 75. 1923–1925. Digitale Vorlage des Marc-Chagall-Museums, Vitebsk, Belarus. Abb. 56: Marc Chagall: Die Opferung Isaaks. Illustration zur Bibel. Blatt 10, 1931–1939. Aus: Güse, Ernst-Gerhard (Hrsg.): Marc Chagall. Druckgraphik. Stuttgart 1985. S. 158. Abb. 57: Rembrandt: Die Opferung Isaaks, 1635. Eremitage, St. Petersburg. Aus: Loewinson-Lessing, V. (Hrsg.). Rembrandt Harmensz van Rijn, Paintings from soviet museums. Leningrad 1975. Tafel 10. Abb. 58: Marc Chagall: Die Erschaffung des Menschen. Illustration zur Bibel. Blatt 1, 1931–1939. Aus: Güse, Ernst-Gerhard (Hrsg.). Marc Chagall. Druckgraphik. Stuttgart 198. S. 154. Abb. 59: Marc Chagall: Frontispiz zu A tog in Regnsburg von Joseph Opatoshu, 1933. Digitale Vorlage der Universitätsbibliothek „Johann Christian Senckenberg“ Frankfurt a. M. Abb. 60: Marc Chagall: Jude, der die Tora auf dem Rücken trägt, 1931–1935. Musée National d’Art Moderne. Aus: Heuberger, Georg/Grütters, Monika (Hg.). Chagall und Deutschland. Verehrt – verfemt. München/Berlin/London/New York 2004. S. 135. Abb. 61: Marc Chagall: Collage Hahn, Tora-Rolle und betender Jude, 1955. Privatsammlung. Aus: Maier-Preusker, Wolfgang. École de Paris – 150 Werke aus privaten Sammlungen. Wien 2005. Kat. Nr. 21. Abb. 62: Marc Chagall: Die rote Tora, 1982. Digitale Vorlage des Marc-Chagall-Museums, Vitebsk, Belarus. Abb. 63: Marc Chagall: Der Fall Jerusalems. Illustration zur Bibel. Blatt 101, 1952–1956. Sammlung Sprengel, Hannover. Aus: Marc Chagall. Druckgraphische Folgen 1922–1966. Ausstellungskatalog und Bestandsverzeichnis Sprengel Museum. Hannover 1981. S. 214. Abb. 64: Marc Chagall: Pour la Tchécoslovaquie, 1939. Aus: Kornfeld, Eberhard W. Verzeichnis der Kupferstiche, Radierungen und Holzschnitte von Marc Chagall. Band I: Werke 1922–1966. Bern 1970. S. 178–179. Abb. 65: Marc Chagall: Dornbeymlekh. Illustration zu Di fidlroyz (Die Fiedelrose) von Avrom Sutskever, [o. J.] Aus: Sutskever, Avrom. Di fidlroyz, Tel-Aviv 1974. S. 103.

Personenverzeichnis

Abel (bibl.) 303 Aberbach, David 144 Abraham (bibl.) 115, 141–143, 174, 186, 230, 247, 301, 303, 306–316, 349 Abram (s. Abraham) Abramovitsh, Sholem Yankev (s. Mendele) Achaschverosch (s. Ahasver) Acher, Martin (Birnbaum, Nathan) 108 Achmatova, Anna 131f. Adam (bibl.) 61, 156, 214, 303, 310, 315f. Adler, Jankel 210, 212, 336 Agamben, Giorgio 334, 336, 338f., 344, 346, 347 Agin, Aleksandr 286, 297 Agnon, Shmuel Yosef 19, 81 Ahab, König (bibl.) 352 Ahasuerus (s. Ahasver) Ahasver 138, 151f., 154 Ajgi, Gennadij 86 Akiva, Rabbi 78, 205, 321f., 325f., 346 Al’tman, Natan 43, 133, 135, 206, 210, 220 Al’ving, Arsenij 162 Aleksandr I. 227 Altdorfer, Albert 322 Amishai-Maisels, Ziva 13, 141, 173, 294 Amos (bibl.) 236 Andreev, Leonid 125 An-Ski (Rapoport, Shloyme Zaynvl) 81, 94, 113, 115, 120, 127f., 152, 208, 239, 329 Antokol’skij, Mark 53f., 82 Apollinaire, Guillaume 12, 32, 34, 45, 55, 61f., 86, 114 Aqiba s. Akiva Arendt, Hannah 338, 341, 343 Aristoteles 23, 320 Aronson, Boris 10, 13, 37, 82, 88, 118, 189, 206, 209 Arp, Hans 65 Ash, Sholem 107, 153, 159, 321

Assmann, Aleida 75 Aykhenrand, Leyzer 344 Babel’, Fen’ja 222, 224, 239 Babel’, Ženja 246 Babel’, Isaak 18f., 112, 127, 142, 149f., 191f., 222–248, 283 Bachtin, Michail 20, 27, 29, 32, 295 Bokher, Elye (Bachur, Elia Levita) 322, 324 Bacon, Francis 183 Bak, Samuel 336 Bakst, Léon (Rozenberg, Lev) 56, 61, 85, 125 Bal-Makhshoves (Izidor Elyashev) 13, 16, 107, 111, 165, 190, 197, 318 Bal Schem Tov (BeSchT) 80f., 111, 114, 119f. Bar-Kochba, Simon 321 Barash, Asher 159 Bartholomäus (Hl.) 218 Bataille, Georges 212 Baudelaire, Charles 61, 162–164, 330 Baudrillard, Jean 244 Beckmann, Max 34, 134f. Bednyj, Demjan 107 Belasser, Shmuel 323 Belinskij, Vissarion 283 Belting, Hans 22, 29 Belyj, Andrej 86, 285f., 289, 295–297 Benjamin bar Jona von Tudela 145 Benjamin, Joseph Israel 145 Benjamin, Walter 21, 181, 212, 244, 309, 328 Benois, Leontij 56, 88, 125 Bergelson, Dovid 12, 42, 44, 100, 107, 159, 167, 188, 199, 210, 239f., 245, 321 Berger, John 37, 65, 71, 244, 308 Bergner, Yosl 351f. Berlewi, Henryk 115, 204 Bernshteyn, Ignats 94 Bhabha, Homi 35, 59

400  | Personenverzeichnis Bialik, Chaim Nachman 18, 100, 111, 154–164, 167f., 186, 201–204 Birnbaum, Nathan (s. Acher) 108, 203 Birnholz, Alan 220 Blok, Aleksandr 34, 67, 86, 99, 124f., 131, 349 Blumenberg, Hans 21, 23 Blumgarten, Salomon (s. Yehoyesh) Bodoff, Lippman 314 Boehm, Gottfried 9, 22–26, 29, 35f., 65, 68, 86 Bogomazov, Aleksandr 208 Bohrer, Karl-Heinz 163 Boklevskij, Pëtr 286, 297 Bonsirven, Joseph 335 Bosch, Hieronymus 290 Bovshover, Yoysef 161 Branduardi, Angelo 79 Braque, Georges 35, 90, 92 Brauer, Arik 336 Bredekamp, Horst 22f., 337, 343 Brenner, Joseph Chaim 152 Breton, André 9, 95 Brjusov, Valerij 86 Broderson, Moyshe 174 Bruegel d. Ä., Pieter 57, 95 Bruk, Jan 44 Buber, Martin 10, 16, 217, 305f. Budënnyj, Semën 230 Budko, Joseph 49 Burljuk, David 124, 131 Byron, George Gordon 197 Čaadaev, Pëtr 290 Cahan, Abraham (Avrom Kahan) 245 Čajkov, Iosif (s. Tshaykov) 37 Čajkovskij, Petr I. 197 Calderón de la Barca, Pedro 60 Callot, Jacques 207 Camus, Albert 161 Canudo, Ricciotto 12 Caravaggio, Michelangelo Merisi da 50, 218f. Carden, Patricia 226, 236 Cassirer, Ernst 30, 94 Čašnik, Il’ja 43

Čechov, Anton 330 Celan, Paul 155, 338 Cendrars, Blaise 12, 34, 44, 62, 67f., 86, 88, 295, 349 Cendrars, Miriam 67 Cervantes, Miguel de 144 Cézanne, Paul 25, 56–58, 65, 70, 75f., 84, 137 Chagall, Bella 12, 14, 17, 45–48, 52f., 59, 61, 68, 76f., 85, 92, 96, 100–103, 107, 120, 122, 125, 132, 141, 300, 318, 338 Chagall, David 53 Chagall, Ida 42f., 47, 52, 76, 100f., 285, 301, 318, 343 Chagall, Zina 132 Chamberlain, Neville 334 Chamisso, Adelbert von 107 Chardin, Jean Siméon 57, 61 Chlebnikov, Velimir (Viktor V.) 29, 34f., 131 Chmel’nickaja, Ljudmila 43 Christus (bibl.) 56, 67f., 85, 110, 135, 152f., 155, 160, 169, 198, 207, 213, 216- 219, 234, 236f., 245, 293, 317f., 335, 342, 344–346 Cimabue 53, 57 Ciperson, Lev 91 Čirikov, Evgenij 159 Čistjakov, Pavel 56 Cogniat, Raymond 210 Cohen, Hermann 30 Cohen, Richard 207 Comenius 291 Conrad, Joseph 227 Corbineau-Hoffmann, Angelika 172 Corot, Jean-Baptiste Camille 55 Courbet, Gustave 57f. Cranach, Lucas 340 Crommelynck, Fernand 126 Da Vinci, Leonardo 22f., 50, 58 Daladier, Èdouard 334 Daniel (bibl.) 205 Dante Alighieri 284, 289 Darian, Veronika 28, 212, 243

Personenverzeichnis  | 401 David 82, 142, 144, 202, 235f., 336, 341, 344–­ 346 Delaunay, Robert 10, 55, 71, 75 Delaunay, Sonja (Terk) 55, 62 Denikin, Anton 159 Derrida, Jacques 23, 25f., 29, 65, 70f., 75, 88, 166, 210, 245, 308, 311f., 315, 331, 336 Dietrich von Bern 324 Dine, Jim 82 Djagilev, Sergej P. 56, 330 Dmitrieva, Marina 87 Dobrushin, Yekhezkl 41, 44, 160, 189f., 208 Dobyčina, Nadežda 108 Dobzynski, Charles 160 Doré, Gustave 151 Dostoevskij, Fëdor 105, 152, 201, 207, 231, 233, 244 Dubnov, Simon 155, 188, 224f., 321f., 328 Dürer, Albrecht 102, 340 Eco, Umberto 26 Ėfros, Abram bzw. Anatolij 10, 13, 89, 98, 133, 217 Eichendorff, Joseph Freiherr von 12 Eidherr, Armin 108 Einstein, Albert 107, 247, 328 Ėjchenbaum, Boris 35 Ėkster, Aleksandra 55f., 208 El Greco 57, 67, 84 Eli. Hohepriester (bibl.) 235 Elias (bibl.) 105, 109f., 116, 119–127,157, 230, 247, 309, 325, 351f. Eliasberg, Alexander 203 Elijahu (s. Elias) Elimelech, Rabbi von Lezaisk 105, 119 Eliot, T.S. 159 Elkins, James 23f. Éluard, Paul 34, 86 Elyashev, Yisroel (s. Bal-Makhshoves) Emden, Ja’akov 170 Engel, Joel 44 Epstein, Henri 339

Ėrenburg, Il’ja 114, 150, 159f., 169, 204 Erik, Maks 321, 323 Ermolaeva, Vera 57, 91 Ernst, Max 34 Esenin, Sergej 107, 124, 167f., 172, 198, 200 Ester (bibl.) 154, 238, 303 Estraikh, Gennady 162, 200 Eva (bibl.) 61, 214, 303 Evreinov, Nikolaj 35, 126, Evtuševskij, Vasilij 229 Ezechiel (bibl.) 41, 174, 245, 345f. Ėllis (Lev Kobylinskij) 162 Éluard, Paul 34, 86 Falconet, Étienne-Maurice 233, 236 Fantin-Latour, Henri 70 Fefer, Itsik 14, 17, 245, 248, 346 Feilchenfeldt, Rahel 46 Feilchenfeldt, Walther 46f., 49 Feiwel, Berthold 155, 203, 205 Feldman, D. 240 Ferdinand II. 334 Filonov, Pavel 34 Fleg, Edmond 335 Florenskij, Pavel 299 Flusser, Vilém 25, 166 Foucault, Michel 27–29, 35, 88 Fouquet, Jean 57f. Frank, Anne 346 Franko, Ivan 200 Franz Ferdinand 139 Freud, Sigmund 107, 328 Fried, Erich 3 Frieden, Ken 112 Friedrich V. von der Pfalz 334 Frug, Shimen 151 Gadamer, Hans-Georg 23, 28, 36 Gal-Ed, Efrat 313 Gauguin, Paul 42 Gautier, Théophile 330 Gavris, Ivan T. 91 Geertz, Clifford 30

402  | Personenverzeichnis Gelshorn, Julia 27 Genette, Gérard 33, 89, 111 Georgij (Hl.) 211, 216 Géricault, Antoine-Jean 207 Giacometti, Alberto 75 Gincburg, Il’ja 53, 108 Ginsberg, Ascher (Ahad Ha-Am) 155 Ginzberg, Louis 120 Giotto 53, 57, 61, 248 Glants-Leyeles, Aaron 161 Glatshteyn, Yankev 161 Gleizes, Albert 44 Goebbels, Joseph 142 Goethe, Johann Wolfgang von 192 Gogh, Vincent van 57 Gogol’, Nikolaj V. 18–20, 29, 38, 48, 70, 115, 135, 145, 147, 174, 180, 201, 231f., 244, 248, 283–300, 327, 330 Goldberg, Grigorij 107 Goliath (bibl.) 235f., 336 Goll, Claire 283 Goll, Ivan 170, 283, 285 Golovin, Aleksandr 125 Gombrich, Hans Ernst 9 Gončarova, Natal’ja 5, 68, 133, 303 Gor’kij, Maksim 155, 204f., 230 Gordin, Jakob 159 Goya, Francisco de 207, 211, 214 Goyard, Paul 343 Granovskij, Aleksej 43, 93, 126 Gregor IX. (Papst) 142 Grigor’ev, Boris 123f., 127 Grimminger, Rolf 243 Grinberg, Uri Tsvi 47, 153 Gris, Juan 35, 56 Gronfeyn, Evgenija 240 Gropper, William 152 Gros, Jean-Antoine 207 Grosz, George 132, 173 Groys, Boris 90 Guro, Elena 34 Guri, Yoysef 94 Guston, Philip 16

Ha-Am, Ahad (s. Ginsberg) 155 Hadrian 321 Haggard, Virginia 248, 318 Halkin, Hillel 15, 19 Halle, Fannina 46 Haman (bibl.) 154 Hansen-Löve, Aage 20, 33f., 36, 50, 90, 285, 297 Harshav, Benjamin 10–14, 42, 45–48, 68, 90f., 103, 107f., 165, 175f., 304, 344, 350 Haustein, Lydia 22f. Heftrich, Urs 285, 289, 291 Heidegger, Martin 26, 75, 341 Heine, Heinrich 107, 121, 328 Hertz, Joseph 170 Herz, J. 78 Herzl, Theodor 151 Hess, Moses 319f. Heyd, Milly 82 Hille, Karoline 46, 50, 80 Hiob (Iev) 12, 95, 132, 153, 168, 170f., 187, 303, 304, 314, 331, 335 Hirszenberg, Samuel 141, 151–153, 206, 337 Hitler, Adolf 246, 319, 334, 338, 340 Hölderlin, Friedrich 12 Hoffmann, E.T.A. 124 Hofshteyn, Dovid 12, 14, 18, 42–44, 47, 150, 154, 159, 164–187, 189f., 194–196, 201–205, 208, 239, 245, 247, 297, 337, 341 Holbein, Hans (d. J.) 152, 340 Horaz 25 Hugo, Victor 197 Hunterberg, Max 335 Husserl, Edmund 26 Huysmans, Joris-Karl 163 Ibn Ezra 305, 312 Iev (s. Hiob; bibl.) 170f., 331 Ignatov, Dovid 321 Ingarden, Roman 26 Ingold, Felix Philipp 35 Isaak (bibl.) 141, 160, 174, 236, 301–304, 306–316, 335

Personenverzeichnis  | 403 Ismael (bibl.) 141 Israëls, Jozef 54, 82, 140, 141, 153, 340 Ivanov, Alexander 330 Ivanov, Vjačeslav 107, 248 Jaccottet, Philippe 48 Jaeckel, Willy 132 Jakob (bibl.) 141, 235, 291, 314, 337, 346 Jakobson, Roman 9, 23, 26, 28, 31 Jehuda he-Chassid 324 Jendrusch, Andrej 189 Jeremias (bibl.) 147, 160, 164, 169, 245, 333 Jerobeam (bibl.) 144 Jesaja (bibl.) 114, 245, 303f., 333, 334 Jizchak, Rabbi Jakob 119 Johannes der Täufer 218 Johannes (Abt) 291 Jojakim (bibl.) 333 Jonas (bibl.) 235 Jordaens, Jacob 332 Joseph (bibl.) 219 Joyce, James 226 Judenič, Nikolaj 230 Judin, Lev 91 Judovin, Salomon 208, 213, 219f. Junkerjürgen, Ralf 53 Kabiščer-Jakerson, Elena 60 Kafka, Franz 288 Kagan-Šabšaj, Jakov 329 Kahan, Avrom (s. Cahan) Kahanovitsh, Pinkhes (s. Nister) Kain (bibl.) 303 Kamenski, Alexander (Kamenskij, Aleksandr) 9, 133, 136, 141 Kampf, Avram 336 Kandinskij, Vasilij 34, 90 Kapel, Aleksandr (s. Mukdoyni) Karp, Jonathan 16, 38 Katsenelson, Yitskhok 344f. Kazovskij, Hillel 206f., 215 Kenig, Leo 13, 88, 118, 210 Kertész, Imre 227, 337

Kharik, Izi 14, 17 Kiel, Mark 111 Kierkegaard, Sören 312, 315 Kirchner, Ernst Ludwig 102, 132 Kirshenblatt-Gimblett, Barbara 16, 38 Kitaj, Ronald Brooks 16 Kittler, Friedrich 24 Klee, Paul 34, 328 Kleeblatt, Norman 152 Klein, A.M. 156 Kleine, Ane 95 Kletskin, Boris 106, 108 Kljunkov, Ivan 90 Klünner, Lothar 48 Kobylinskij, Lev (s. Ėllis) Kogan, Moyshe 339 Kogan, Nina 57 Kohelet (bibl.) 331 Kokoschka, Oskar 170, 214 Kolits, Tsvi 345 Končalovskij, Pëtr 132 Korn, Rokhl 350 Korolenko, Vladimir 149, 155 Korzeniowski, Apollo 227 Kristeva, Julia 27, 32 Kručenych, Aleksej 90, 131, 177 Krutikov, Mikhail 29, 50, 145, 166, 238 Kugl, Moyshe-Tsvi 211 Kulbak, Moyshe 188 Kustodiev, Boris 56 Kvitko, Leyb 12, 18, 79, 100, 150, 156, 158f., 164, 168, 188–191, 193–200, 202–206, 208, 219, 228, 231f., 245, 247 La Fontaine, Jean de 20, 38, 283 Lacan, Jacques 25 Lachmann, Renate 33 Langer, Jiří Mordechaj 315 Langer, Susanne 23 Larionov, Michail 35, 53, 55, 68, 84, 132f., 303 Lassaigne, Jacques 138 Lazarus (bibl.) 303 Le Goff, Jacques 36

404  | Personenverzeichnis Le-Dantiu, Michail 132 Lehmann, Jörg 285 Lejeune, Philippe 42, 224 Lenin, Vladimir 79,107, 246f. Lermontov, Michail 126, 198 Lessing, Gotthold, Ephraim 23, 25, 31f., 70, 307 Lénéman, Léon 13 Leśmian, Bolesław 245 Levi Yitskhok ben Meir (Berdičev) 114 Lévinas, Emmanuel 312, 315 Levitan, Isaak 330 Levita, Elye 322, 324 Leyb von Regensburg 323 Li Xiang 215 Liebelt, Udo 142 Liebermann, Max 54, 85 Lilien, Ephraim Moses 204f., 337 Lipchitz, Jacques 336 Lisickij, Ėl (Eliezer) 37, 43, 54f., 65, 79, 104, 174, 204, 208–210, 219f. Litvak, Olga 11, 48 Litvakov, Moyshe 189 Longus 20 Lorca, Federico García 158 Lotman, Jurij 25, 28–30, 60, 72, 108, 297 Lukas (bibl.) 67 Lunačarskij, Anatolij 76 Luria 119, 158 Lyesin, Avrom (Avrom Valt) 14, 17, 47, 154, 247, 313, 318, 337 Maeterlinck, Maurice 125 Maillol, Aristide 53 Maimon, Moses (Moyshe) 152 Maimon, Mose ben (Rambam; s. Maimonides) Maimonides 127, 246, 305, 319f. Majakovskij, Vladimir 34f., 62, 68, 76, 86, 95, 107, 124, 131, 161, 171, 176, 199, 215 Malevič, Kazimir 17f., 20f., 34f., 43, 51, 54f., 57f., 67f., 70, 84, 90–93, 132f., 166, 173, 177, 181, 204, 215 Malkin, Mark (Maynvl) 208

Mallarmé 35 Mandel’štam, Nadežda 169 Mandel’štam, Osip 131, 139, 142f., 150, 169, 245, 333 Mané-Katz, Emmanuel 208, 210, 335 Manger, Itsik 239, 301, 306, 312–316 Manievič, Abraham 153 Mann, Jurij 296 Maria (bibl.) 53, 58, 219 Margolin, Miryam 219 Mariengof, Anatolij 124 Marinetti,Tommaso 32, 131 Markish, Perets 12, 18, 42f., 47, 100, 150, 155–165, 168, 171, 174, 189, 191, 201, 203–206, 208, 239, 245, 247, 299, 311, 318, 344, 346 Markiš, Simon 225 Maršak, Samuil 166, 223 Marti, Karl 305 Maryan, Maryan S. (Pinchas Burstein) 336 Masaccio (Tommaso di Ser Cassai) 61 Masaryk, Tomáš Garigue 334 Matejko, Jan 151 Matisse, Henri 56, 70 Matjušin, Michail 34 Matthäus (bibl.) 51 Maupassant, Guy de 231, 244 Maximilian I. 322 Mayzel, Nakhmen 208, 332 Mayzl, Gitl 240 Mazepa, Ivan 197, 231 Mazin 98 Mazover, David 204 Meidner, Ludwig 82, 132, 135, 148, 214f. Meister Hildebrand 324 Mejerchol’d, Vsevolod 35, 76, 99, 123–127, 296 Mendele (Moykher-Sforim; Abramovitsh, Sholem Yankev) 12, 16, 18, 21, 58, 104, 106, 111, 143–147, 152, 239, 284, 321, 324 Mendelssohn, Moses 15, 305 Merežkovskij, Dmitrij 285, 289 Merleau-Ponty, Maurice 24, 26, 28, 35, 64f., 69–76

Personenverzeichnis  | 405 Metzger, Rainer 75, 78 Metzinger, Jean 10, 56 Meyer, Franz 12, 46, 75, 88, 284 Meyrink, Gustav 175 Michelangelo 50 Mikhoels, Salomon (Shloyme) 43, 240 Miller, Lee 337, 343 Miller, Henry 9 Minkowski, Maurycy 152f., 337 Mitchell, W.J.T. 23 Modigliani, Amadeo 248, 340 Monet, Claude 24 Morales, Luis de 60 Morozov, Ivan 330 Moses (bibl.) 12, 36, 51, 53, 119, 143, 229f., 237, 310, 312, 317f., 335, 341f., 344–347, 351f. Mucha, Stanisław 337 Mukařovský, Jan 23 Mukdoyni, Aleksandr (Aleksandr Kapel) 210 Munch, Edvard 157, 183 Muromec, Il’ja 233 Mussolini, Benito 334 Nabokov, Vladimir 285f., 289- 291, 294, Nachman ben Simcha von Bratzlav (Nakhmen Braslever) 79–81 Nachmanides (Ramban) 305 Nebukadnezzar 333 Nemirov, Moshe (s. Bialik) 156 Neurath, Konstantin Freiherr von 344 Niborski, Yitskhok 122 Nietzsche, Friedrich 214 Niger, Shmuel 47, 107, 109, 111f., 190, 199, 305 Nikolaj (Hl.) 216, 227 Nikolaj I. 224, 227, 231f. Nikolaj II. 227, 232 Nister, Der (Pinkhes Kahanovitsh) 12, 14, 16f., 44, 78, 81, 107f., 117f., 135, 181, 188, 199, 210, 239, 346 Nomberg, Hersh Dovid 107 Nossig, Alfred 151

Novalis 12 Novershtern, Avraham 19 Nowack, Wilhelm 305 Nünning, Ansgar 20 Nünning, Vera 20 Nussbaum, Felix 336 Opatoshu, Adele 318, 325 Opatoshu, Joseph (Yoysef ) 13f., 17f., 20, 34, 70, 107, 227, 317–332, 337f., 344, 346, 349f. Oppenheim, Moritz Daniel 82 Oyslender, Nokhem 162 Paech, Joachim 27, 30 Panofsky, Erwin 20, 26, 29f., 68, 77 Panov, A.A. 162 Pasternak, Boris 107, 152 Pasternak, Leonid 141, 152f. Pater, Walter 242 Paulhan, Jean 47 Paustovskij, Konstantin 232, 242 Pechstein, Max 132 Pen, Jehuda (Pėn, Jurij) 17, 55f., 58, 60f., 63, 76, 82f., 135, 137, 140f., 152, 208 Perets, Yitskhok Leybush 12, 14, 16–18, 38, 42, 78–81, 104–121, 123f., 126f., 147, 175, 178, 181, 204, 297, 304–306, 311, 319, 320f., 325, 330, 349 Peter der Große 223, 231f., 292 Petljura, Simon 159, 188 Petrov-Vodkin, Kuz’ma 132 Pfister, Manfred 32–34, 50 Picasso, Pablo 34f., 44f., 56, 84, 90f., 248 Piero della Francesca 61 Pilichowski, Leon 152f. Pinsker, Leo 155, 159 Pissarro, Camille 340 Plated, Felka 336 Platon 22f. Pletnëv, Pëtr 284 Poe, Edgar Allen 163 Pollaiuolo, Antonio 57 Popova. Ljubov’ 126

406  | Personenverzeichnis Pound, Ezra 161 Prjanišnikov, Ilarion 216 Propp, Vladimir 119 Pucykovič, Feofil 229 Puškin, Aleksandr 12, 106, 197, 223, 230–233, 244, 285, 291, 294, 298, 330 Rabelais 296 Rabinovitsh, Shloyme Yankev (s. Sholem-Aleykhem) Rabinowitz, Yakov 159 Raffael 61 Rajewsky, Irina 27, 30, 32–34 Rambam (s. Maimonides) Ramban (s. Nachmanides) Rapoport, Michail 343 Rapoport, Nathan 152 Rapoport, Shloyme Zaynvl (s. An-Ski) Raschi 171, 312 Rattner, Abraham 335 Ravitsh, Meylekh 47 Ravnitski, Yehoshua 155f. Rebekka 141, 316 Rehabeam 144 Reichle, Ingeborg 27 Reiling, Netty (s. Seghers) Rembrandt, Harmenszoon van Rijn 57f., 62, 67f., 84, 101–103, 141f., 302, 306, 308–311, 315, 332 Remenik, Hersh 195, 199 Renoir, Pierre-Auguste 209 Repin, Il’ja 9, 216, 297 Rerich, Nikolaj (Rërich) 56, 216, 303 Reyzen, Avrom 107, 165 Ribak, Sonya 208, 212 Ribak, Yisokher Ber 10, 17–19, 37, 43, 54, 82, 88, 100, 135, 153, 156, 159, 189, 201, 205–221, 240–245, 247, 335 Ricœur, Paul 9, 70, 352 Rippl, Gabriele 23, 31f., 36 Roditi, Edouard 47, 94 Röll, Walter 107 Rontsh, Yitskhok 13, 86, 338

Rosen, Aaron 16 Rosental, Eliezer David 160 Rosenzweig, Franz 30, 305–307, 315 Rosheim, Jossilman 323 Roskies, David 107f., 112, 158, 161 Roth, Joseph 170 Rousseau, Jean-Jacques 231 Rozanov, Vasilij 296 Rozenberg, Lev (s. Bakst) Rozenfeld, Moris 161 Rubens, Peter Paul 68, 332 Ruth 303f. Ryleev, Kondratij 197 Sabin, Stefana 41f., 49 Sachs, Nelly 170 Sachs-Hombach, Klaus 22, 30 Shagal, Mark (Chagall, Marc) 41, 61, 88, 90, 210, 327 Shagal, Yekhezkl Zaher 41 Shagal, Feyge-Ite 41, 61 Šagal, Mark (Chagall, Marc) 41, 43, 82, 89f., 92 Salmon, André 46 Salomo 144, 247, 304 Saltykov-Ščedrin, Mikhail 145 Shapiro, Lamed 159 Sara (bibl.) 115, 230, 308, 312–314 Shatski, Yankev 332 Šatskich, Aleksandra 20, 68, 284, 289 Saul (bibl.) 82, 236 Saussure, Ferdinand de 27, 72 Savčenko, Jakov 167 Schmid, Wolf 26, 222, 226 Schönberg, Arnold 34, 82 Schreiner, Stephan 328 Schröter, Jens 30 Schulte, Jörg 229 Schulz, Bruno 34, 245 Schulz-Buschhaus, Ulrich 131 Schulze, Theodor 65 Schwob, Réné 34 Seel, Martin 212 Šefner, Vadim 294

Personenverzeichnis  | 407 Segal, Moyshe (Chagall, Marc) 14, 41, 89 Segal, Yitskhok Ayzik 84, 89 Seghers, Anna (Netty Reiling) 68 Sicher, Efraim 226, 235, 240 Sidney, Alexander 297 Siegel, Steffen 27 Signorelli, Luca 57 Simmel, Georg 68 Singer, Isaac Bashevis 16, 155 Šklovskij, Viktor 72 Slezkine, Yuri 245 Sluckij, Valerij 166 Shmeruk, Khone 104, 112, 165, 171 Smirnovskij, Petr 229 Smolin, Dmitrij 283 Shneyerson, Rabbi Yoysef Yitskhok (Schneersohn) 12 Sholem-Aleykhem (Sholem Yankev Rabinovitsh) 12f., 16, 18f., 38, 44, 78, 88f., 95, 97, 104, 106, 111, 127, 143–149, 155, 167f., 186, 199, 227, 239, 284, 321 Sontag, Susan 207f., 244 Sorlier, Charles 12 Soutine, Chaïm 62, 68, 82, 210, 214, 339 Soyer, Moyshe 37 Spelten, Achim 27 Spengler, Oswald 319 Spinoza, Baruch 114 Spivak, Karl 305 Stalin, Iosif 165–167, 232, 246–248 Stanislavskij 125f. Stasov, Vladimir 82 Stein, Gertrude 34 Shterenberg, David (Šterenberg) 43, 76 Stierle, Karlheinz 26 Shtif, Nokhem 105, 109, 321, 328 Stramm, August 134 Strižak, Oleg 297 Struck, Hermann 49, 100–102, 283 Stryjkowski, Julian 78, 80, 115, 123,140, 143, 149, 151, 227, 230, 245, 322 Ščukin, Sergej 330 Surikov, Vasilij 9

Susman, Margarete 170 Sutherland, Graham 335 Sutskever, Avraham (Avrom) 13f., 17, 34, 309, 329, 337, 344, 346, 349–353 Šul’man, Arkadij 84, 338 Shvarts, Karl 207, 209f. Shvartsman, Osher 167 Sweeney, James Johnson 11 Syrkin, Maksimil’jan 107 Szalit-Marcus, Rahel 339 Tairov, Aleksandr 25, 208 Tarabukin, Nikolaj 126 Taslitzky, Boris 336, 343 Tasseva, Olga 75 Tatlin, Vladimir 34, 68, 84, 204 Tériade (Stratis Eleftheriadis) 283, 301 Terk, Sonja (s. Delaunay) Tertullian 344 Tilburg, Janis (Ivan) 70 Tintoretto, Jacopo 57, 84 Tizian 67 Tobias (bibl.) 235 Tobit (bibl.) 235 Tolstoj, Lev 131, 155, 223, 229, 231, 244, 325, 330 Trunk, Yekhiel 239 Tsaytlin, Hilel 160 Tsharni, Danil 14, 17, 207, 210 Tshaykov, Yoysef 37, 135, 204–206, 209 Tsherikover, Elye 210, 221, 328 Tugendchol’d, Jakov (Yankev) 10, 13, 28, 60, 98, 135, 207, 214f., 284 Turgenev, Ivan 144, 225 Tynjanov, Jurij 29, 31, 296 Udal’cova, Nadežda 56 Umanskij, Dmitrij 223 Urban, Peter 239 Uspenskij, Boris 31, 60 Valéry, Paul 69 Valt, Avrom (s. Lyesin)

408  | Personenverzeichnis Varshavski, Mark 187 Varshavski, Oyzer 47, 50, 163, 318 Vasilij (Hl.) 216 Vaysenberg, Yitskhok Meyer 107, 321 Velázques 27 Venturi, Lionello 11 Verhaeren, Émile 162 Verlaine, Paul 61, 163 Veronese, Paolo 61 Vinaver, Maksim 61, 107f. Vollard, Ambroise 283, 301f. Voltaire 55 Voznesenskij, Andrej 86 Vrubel’, Michail 84–86, 303 Warburg, Aby 29f., 329 Weber, Annette 38, 118, 138, 140, 189 Weiner, Richard 135 Weinreb, Friedrich 123 Weinreich, Beatrice Silverman 119 Weinreich, Max 83, 328 Werner, Alfred 214 Wertheimer, Jürgen 240 Whitman, Ruth 351 Whitman, Walt 162 Widuwilt 324 Wiesel, Elie 36, 113, 314 Wiesemann, Falk 302 Winz, Leo 151

Wischnitzer-Bernstein, Rahel 54, 214 Wisse, Ruth 120, 352 Witkiewicz, Stanisław 34 Wittgenstein, Ludwig 23, 29 Wolf, Werner 32 Wolfskehl, Karl 170 Wolitz, Seth 14, 159–161, 173f., 185, 188, 203 Wullschlager, Jackie 46 Xerxes s. Ahasver 154, 238 Yakerson, Dovid 219 Yehoash s. Yehoyesh Yehoyesh (Solomon [Shloyme] Blumgarten) 18, 107, 122, 302, 304–307, 315, 317 Young, James E. 334, 336 Zaloscer, Hilde 157 Zefanja 334 Zelenin, Dmitrij 229 Zen’kovskij, Vasilij 299 Žabotinskij, Vladimir (Zev) 156 Zhikhlinski, Rayzl 333, 341, 344 Zieliński, Konrad 144 Zima, Peter 27, 31, 33 Zlocisti, Theodor 203 Zuperman, Lazar 91 Zweig, Arnold 100f. Zweig, Stefan 329

Isabel Wünsche

Kunst & Leben Michail Matjuschin und die Russische Avantgarde in St. Petersburg (Studien zur Kunst, Band 23)

Michail Matjuschin (1861-1934), der vor allem als Komponist bekannt ­geworden ist, war nicht nur ein erfolgreicher Musiker, sondern auch ein einflussreicher Maler und Kunsttheoretiker. Als Mitbegründer des Bundes der Jugend bildete er mit Jelena Guro ab 1910 den Mittelpunkt der Avantgarde in St. Petersburg; er entwickelte seine Ideen in engem Austausch mit Nikolai ­ ktoberrevolution Kulbin, Pawel Filonow und Kasimir Malewitsch. Nach der O gründete Matjuschin das Studio für Räumlichen Realismus und leitete die Abteilung für Organische Kultur am Leningrader Institut für Künstlerische Kultur. In den 1930er Jahren beschäftige er sich vor allem mit farbtheoretischen Überlegungen und ihrer praktischen An­wendung in Kunst, Architektur und Design. Die vorliegende Monographie ist die erste Gesamtdarstellung seines vielfältigen künstlerischen und ­theoretischen Schaffens. 2012. 258 S. Mit 35 s/w-Abb. und 17 farb. Abb. Gb. 170 x 240 mm. ISBN 978-3-412-20730-4

böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

SUSANNE MARTEN-FINNIS

DER FEUERVOGEL ALS KUNSTZEITSCHRIFT ZAR PTICA: RUSSISCHE BILDWELTEN IN BERLIN 1921–1926

In der Presselandschaft des Russischen Berlin war sie so bekannt wie das Ballett Strawinskys und die mythische Figur östlicher Folklore, die russische Künstler als Symbol unerreichbarer Schönheit feierten. Dieser Vorstellung entsprang die Idee zum Feuervogel als Kunstzeitschrift, die mit ihren aufwändigen Farbtafeln als Meisterwerk russischer Buchkunst gilt. Dennoch fand Žar ptica, wie sie auf Russisch heißt, in der Forschungsliteratur bisher nur marginale Erwähnung. Die Gründe dafür werden nun offen gelegt. In einer umfangreichen Dokumentation enthüllt Susanne Marten-Finnis die Geschichte eines einzigartigen Zeitschriftenprojektes, das wie kein anderes die kaleidoskopische Vielfalt und Internationalität eines Schauplatzes vermittelt, der für kurze Zeit Zentrum russischer Kreativität war. 2012. 221 S. 16 FARB. ABB. BR. 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-78766-2

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

WOLFGANG STEPHAN KISSEL

ČECHOVS KOSMOS THEATER, RAUM UND ZEIT (BAUSTEINE ZUR SLAVISCHEN PHILOLOGIE UND KULTURGESCHICHTE. REIHE A: SLAVISTISCHE FORSCHUNGEN, BAND 75)

Anton Čechovs Dramen und Einakter werden heute auf den Bühnen der ganzen Welt gespielt. Diese Monographie deutet sie als moderne Variante des

„theatrum mundi“, als Spiel vom Werden und Vergehen der Welt. Im Zeitalter von Naturwissenschaft und Evolutionslehre bleibt Gottes Platz in diesem Spiel leer, doch die fehlbaren Menschen können nicht an seine Stelle treten. Das neue Zentrum wird gebildet vom Kosmos, der Raum und Zeit hervorbringt. Auf seiner Bühne spielen keine Helden oder Protagonisten, sondern eine Menschengruppe, angesiedelt an der Grenze von Natur und Kultur, die im Chronotopos „Haus mit Garten“ konkrete Gestalt annimmt. Die Gruppe überlebt durch gemeinsame Arbeit, auch wenn die Ergebnisse der Arbeit von Verfall und Verlust bedroht sind. So entsteht ein Welttheater mit starken sozialen Akzenten, das keine Sicherheit, keine letzte Wahrheit mehr kennt. 2012. VI, 284 S. GB. 150 X 230 MM | ISBN 978-3-412-20870-7

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

9  Pogromgewalt in Text und Bild: Isaak Babel’ und Yisokher Ber Ribak 9.1 Yisokher Ber Ribaks Pogrombilder (1919/20) – Schreckensvisionen eines Erschrockenen „Die Ikonographie des Leidens hat eine lange Geschichte“ – mit dieser Feststellung ruft Susan Sontag in ihrem Essay Regarding the Pain of Others (2003) die abendländische Tradition auf, von der Passion Christi und christlicher Märtyrer über die Kriegsphotographie bis zur multimedialen Kriegsberichterstattung der heutigen Zeit das Auge des Betrachters mit Gewalt und Schmerz zu konfrontieren (dt. 2005: 49). Die Gefahr der aktuellen Kriegsdarstellung in Film und Fernsehen, an deren manipulierbarer und manipulierter Oberfläche Mitgefühl und Anteilnahme abrutschen, tritt im Vergleich zur Malerei und Graphik der vorausgehenden Jahrhunderte umso deutlicher hervor. Der heutige Betrachter kämpft ob der platten dokumentarischen Nähe zum Kriegsgeschehen gegen die Indifferenz (und verliert meistens). Auch Francisco de Goya führt mit seinem Radierzyklus Los desastres de la guerra (Die Schrecken des Krieges, ca. 1810–1820) „dicht an den Schrecken heran“ (Sontag 2005: 53).564 Die Folge jedoch sei, so Sontag, ein Schock, ein beim Betrachter empfundener Schmerz (ebd.). Dem dokumentarischen und totalen Kamerablick steht das jeder Atmosphäre entkleidete, auf kriegerische Gräueltaten und apodiktisches Anklagen der Gewalt gerichtete Schwarz und Weiß der Goya’schen Graphik entgegen. Für die amerikanische Intellektuelle scheint deshalb „Goyas Kunst [...], wie die Dostojewskis, einen Wendepunkt in der Geschichte des moralischen Empfindens und des Kummers zu markieren – genauso tief, genauso neuartig, genauso fordernd.“ (S. 54) Was Goya für die christliche Maltradition der Gewalt, ist Yisokher Ber Ribak für die jüdische. Seine Pogrom-Serie von 1919/20 erreicht  – wenn auch in einer völlig anderen Technik  – eine ähnliche ästhetische und ethische Dimension wie der Spanier.565 Ribak markiert einen Höhepunkt in der Ikonographie des Pogroms, die eine umfängliche Unterabteilung der „Ikonographie des Leidens“ bildet.566 564 Goyas Zyklus umfasst 82 Grafiken (Abb. in: Sánchez/Gallégo 1995) und setzt Jacques Callots Les misères et les malheurs de la guerre von 1633 fort (2005: 52). In der schonungslosen Darstellung der brutalen Kriegsrealität auf der iberischen Halbinsel in den Jahren zu Beginn des 19. Jh. stellt er einen drastischen Kontrast zu anderen, die napoleonischen Kriege verherrlichenden Bilder von Antoine-Jean Gros oder Jean Géricault dar (s. hierzu Tugendchol’d 1916: 111–141). 565 Zu Entstehungszeit und -ort der Pogrombilder, die als Reaktion auf das Pogrom in Elizavetgrad im Jahre 1919 entstehen (Ribak 1937: 9), existieren unterschiedliche Angaben. Hillel Kazovskij datiert die Bilder auf 1919 (2003: 236–237, s. auch http://www.shtetlinks.jewishgen.org/lyakhovichi/Mukdonybio.htm; 5.3.2012), Karl Shvarts nennt Moskau 1920 (1937: 36, s. auch Tsharni 1937: 74). S. hierzu auch Meidler-Waks 2012: 37–41. 566 Die Pogromliteratur erfährt mehr und mehr eine angemessene wissenschaftliche Betrachtung (vgl. Roskies 1984). Für die Pogromkunst bleibt sie ein Desiderat. Cohens Kapitel „Images of Jewish Fate: at a Crossroads“ (1998: 220–255) bildet hier die rühmliche Ausnahme. Es endet allerdings im Realismus.

208  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Susan Sontag stellt mit ihrem Essay die essentielle ethische Frage, was der Anblick eines leidenden Menschen beim Betrachter auslöst. Um eine Antwort darauf zu finden, reflektiert sie auch die (ästhetische) Geformtheit dieses den leidenden Menschen präsentierenden Materials. Diese Verschränkung von ästhetischer Umformung von Gewalterfahrung und ethischem Appell bildet den Kern einer exemplarischen Analyse eines Bildes aus Ribaks Pogromserie.

Ribak und seine Pogromserie von 1919/20 Yisokher Ber Ribak, geboren am 2. Februar 1897 im ehemaligen Ansiedlungsgürtel in Elizavetgrad (heute Ukraine), studiert in Kiev und Petersburg Malerei. Sein Lebensweg kreuzt sich mit den großen Pogromdichtern Perets Markish, Leyb Kvitko und Dovid Hofshteyn sowie den Kritikern Yekhezkl Dobrushin und Nakhmen Mayzel, als er Anfang 1918 die Kunst-Sektion der Kiever Kultur-Lige mitbegründet.567 Er soll einer ihrer wichtigsten praktischen, aber auch kunsttheoretischen Vertreter werden. Als Schüler Aleksandra Ėksters, einer der einflussreichsten russischen Avantgarde-Künstlerinnen der Zeit, trägt er wesentlich zur Blüte der jüdisch-russisch-ukrainischen Malerei bei.568 Mit der jüdischen Folklore ist er ­bestens vertraut. Wie andere jüdischstämmige Avantgardisten nimmt er die Kunsttradi­tionen in sich auf, als er 1915 und 1916 zunächst alleine, dann gemeinsam mit Lisickij anlässlich der von An-Ski organisierten ethnographischen Expeditionen in die heutige Belarus und Ukraine reist und Friedhöfe und Holzsynagogen inspiziert. Virtuos integriert er sie in seinen kubistischen Malstil.569 Einen der Grabsteine schleppt er eines Tages gar in sein Kiever ­Atelier (Wischnitzer-Bernstein 1937: 40). Ribaks Herz schlägt für die Erschaffung einer originären und originellen modernen jüdischen Kunst. Scheu, still und introvertiert, begrüßt er zunächst die Revolution.570 Voll 567 Zur Kultur-Lige s. bes. Kap. 8.2. In dieser Zeit arbeitet Ribak u. a. auch für das jüdische Theater und gibt Kindern Zeichenunterricht (Ribak 1937: 15–18). 568 Ribak besucht 1913–1914 das Atelier Aleksandra Ėksters und Aleksandr Bogomazovs (Hazan-Brunet 2009: 244). Aleksandra Ėkster zählt vor allem aufgrund ihrer kubistischen Gemälde und Bühnenbilder für Aleksandr Tairovs Kamernyj teatr (Kammertheater) zu den herausragenden Vertreterinnen der russischen Avantgarde (vgl. Kovalenko 1993, Bowlt/Drutt 1999, bes. S. 131–153 und Ėkster 2001). Ribaks Künstlerkollege Emmanuel Mané-Katz (1894–1962), der wie Chagall ästhetisch vor allem in Paris geprägt wird, ohne die jüdische Thematik (er malt vor allem Musikanten) aufzugeben, erinnert sich an die gemeinsame Kiever Zeit (1937: 66f.). 569 Diese Fähigkeit zu synthetisieren ist bei ihm stärker ausgeprägt als etwa bei Salomon (Shloyme) Judovin, der primär als Dokumentator der jüdischen Volkskunst agiert. Gemeinsam mit Mark (Maynvil) Malkin gibt er 1920 Der yidisher folks-ornament (Das jüdische Volksornament), ein Album mit Drucken jüdischer Grabsteine, Misrachim und anderen Kultgegenständen, in Vitebsk heraus, wo er für Chagalls Kunstschule und die dortige Y.L.Perets-Gesellschaft aktiv ist (Hazan-Brunet 2009: 246). Judovin, wie Marc Chagall ein Schüler Jurij Pens, betätigt sich von den 1920er Jahren an konsequent in der Graphik. 570 Ribak konnte – so seine Witwe Sonya – erst mit sechs Jahren sprechen. Dieser Umstand ist ein Grund für seine große Schüchternheit und Introvertiertheit. Sonya Ribak sieht darin auch einen Hauptfaktor für Ribaks phänomenales visuelles Gedächtnis (1937: 10).

Yisokher Ber Ribak – Schreckensvisionen eines Erschrockenen  | 209 Idealismus widmet er sich – wie Lisickij und Tshaykov – innerhalb der Kultur-Lige der nun befreiten jüdischen Kunst. Gemeinsam mit seinem Kiever Künstlerkollegen Boris Aronson formuliert er 1919 in Di vegn fun der yidisher moleray (Die Wege der jüdischen Malerei) das ästhetische Credo der jüdischen Kunstrenaissance: Die jüdische Kunst entfaltet sich als Synthese der bisherigen ästhetischen Tradition (der Volkskunst) und den Leistungen der europäisch-russischen Avantgarde.571 In direkter Umsetzung dieser Theorie kombiniert er in seiner Pogromserie virtuos jüdische Volkskunst mit der christlichen  – westeuropäischkatholischen und russisch-orthodoxen – visuellen Hochkultur. Enttäuscht und erschüttert vom politischen Chaos der Bürgerkriegsjahre, geht Ribak 1920 zunächst nach Moskau, wo er wie Marc Chagall für die dortige Filiale der Kultur-Lige und für das GosET aktiv ist. 1921 dann bricht er nach Berlin auf. Bis 1924 bleibt er in der Stadt, die ihm neben vielen anderen ostjüdischen und osteuropäischen Intellektuellen Zuflucht bietet.572 Ribaks Biographie verzeichnet für die Jahre 1925 und 1926 ein Zwischenspiel in Sowjetrussland, wo er u. a. erneut Bühnenbilder für das jüdische Theater, diesmal in Char’kov, entwirft.573 Von 1926 bis zu seinem frühen Tod 1935 lebt Ribak in Paris, auch in den 1920er Jahren ein Kunstmekka der Avantgarde und Auffangbecken osteuropäischer Intelligenzler und Lebenskünstler. Dort intoniert er Zartes, Lyrisches, wird eine Art jüdischer Renoir.574 Leise Melancholie durchzieht seine Porträts jüdischer Männer und Frauen. Idyllische Ruhe senkt sich über die Bilder eines hochsensiblen Malers, der in seiner Heimat Schreckliches gesehen hat.575 Ribak hält bis zu seinem frühen Tod an jüdischen Themen fest.576 Nicht nur deshalb ist sein Name, dessen Werk in Deutschland der angemessenen Würdigung durch eine breitere Öffentlichkeit harrt, neben denjenigen Marc Chagalls zu setzen. Die jiddische Fachwelt 571 S. Kap. 1 und 8.3. Zu Ribaks kunsttheoretischem Beitrag zur Herausbildung der ostjüdischen Kunst s. Dmitrieva 2007: 48–61. 572 In der pulsierenden Berliner jüdisch-jiddisch-russischen Kunst- und Emigrantenszene betätigt er sich als Mitglied der Berliner Secession und der Novembergruppe (Hazan-Brunet 2009: 243). In der dort herausgegebenen Kunstzeitschrift Rimon/Milgroym (Granatapfel) finden sich neben Chagall auch Abdrucke von Ribak. Zu einer Publikation von Ribaks Pogrombildern kommt es nicht: „Mir hobn nit gehat dem mut ot di bilder tsu farefentlekhn.“ (Uns fehlte der Mut, die Bilder zu veröffentlichen; Wischnitzer-Bernstein 1937: 41). Zu Rimon/Milgroym s. Kap. 3. 573 Ein weiteres künstlerisches Produkt seiner Reise in die UdSSR ist der Zyklus Oyf di yidishe felder fun Ukrayne (Auf den jüdischen Felder der Ukraine) von 1926. 574 Er vollzieht einen Stilwandel hin zu einer „peinture expressioniste colorée dans le style d’École de Paris“ (Hazan-Brunet 2009: 243). Ribaks erster Versuch, nach Paris aufzubrechen, scheitert. Er wird wie Chagall vom Ersten Weltkrieg überrascht und an der Grenze abgewiesen (Ribak 1937: 14). 575 Wischnitzer-Bernstein (1937: 41) und Karl Shvarts (1937: 37) heben hervor, dass die Pogromschrecken von 1919, deren Zeuge Ribak wird, ihn wie Albträume verfolgen. Vielleicht nimmt Ribak die bildkünstlerische Zeugenschaft des Pogroms auf sich, um die schrecklichen Bilder in seinem Gedächtnis wenn nicht auszulöschen, so doch wenigstens medial zu bannen (vgl. Ribak 1937: 9 und Shvarts 1937: 36). 576 Neben der Malerei zählen hierzu seine Keramikfiguren für das Musée de Sèvres, die in den letzten Lebensjahren entstehen. Zu Ribaks Biographie S. Cogniat 1934, Ribak 1937: 7–28, Wolitz 2008: 1640–1642, Goodman 1995: 218–219, Hazan-Brunet 2009: 242–243 und http://www.comiteryback.org/Biography.php; 5.3.2012).

210  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild feiert Ribak als „yoyresh un sheliekh“ (Erbe und Bote) der jüdischen Volkskunst (Tsherikover 1937: 57), als „zweiten Chagall“ (tsveyter Shagal; Mukdoyni 1937: 66).577 Ribak ist deshalb eine Zentralfigur der ostjüdischen Kulturrenaissance, weil er  – vielleicht mehr als die bekannteren Chaïm Soutine, Emmanuel Mané-Katz, Natan Al’tman, Lisickij und Marc Chagall – aufgrund seiner Themenwahl und avantgardistischen Integration der jüdischen Volkskunst der ‚jüdischste‘ unter diesen Künstlern ist.578 Der aktuell dürftige Forschungsstand zu diesem herausragenden Maler zeigt im Unterschied zur großen Wertschätzung durch das intellektuelle Umfeld seiner Zeit einmal mehr, dass das Gedächtnis einer jeden Kultur, hier der ostjüdischen, der Dialektik des Erinnerns und Vergessen unterworfen ist.579 So nimmt es nicht wunder, dass Ribaks Pogromserie, die für das Verständnis seiner künstlerischen Gesamtentwicklung zentral ist, im Archiv des Mishkan l’Omanut, des Kunstmuseums in Ein Harod, Israel, darauf wartet, aus dem Speicher- ins Funktionsgedächntis übernommen zu werden.580 Für das Weiterleben von Ribaks Pogrombildern im kulturellen Gedächtnis sind die verantwortlich, die sich – wie Jacques Derrida – dem Archiv verschreiben werden: „Die Frage des Archivs ist nicht eine Frage der Vergangenheit, nach einem Begriff von Vergangenheit, über den wir ‚bereits‘ verfügten, ‚einen archivierbaren Begriff des Archivs’. Es ist eine Frage von Zukunft, die Frage der Zukunft selbst, die Frage einer Antwort, eines 577 Aleksandr Mukdoyni (eigtl. Aleksandr Kapel; 1878–1958), ursprünglich der erste in der Zunft der jiddisch schreibenden Theaterkritiker, hebt in seinem wichtigen Nekrolog auf Ribak (1937: 66–71) dessen Rückbesinnung auf die traditionelle jüdische Volkskunst hervor. Zu Mukdoyni s. http://www. shtetlinks.jewishgen.org/lyakhovichi/Mukdonybio.htm;5.3.2012. 578 Ribak 1937: 8 und Mané-Katz 1937: 63. Karl Shvarts und Aleksandr Mukdoyni weisen auf grundlegende Unterschiede zwischen dem wesentlich stärker an der westeuropäischen Kunst orientierten, ludistischen Chagall und dem auch künstlerisch und weltanschaulich auf das Jüdische gerichteten, ernsten Ribak hin (Shvarts 1937: 38, Mukdoyni 1937: 66). Auch Leo Kenig (1937: 47–51) und Jankel Adler (1937: 45) unterstreichen die stark jüdische Komponente seiner Kunst. Diese lässt sich nicht nur am Sujet festmachen (Adler betont Ribaks Verbundenheit mit dem Chassidismus; S. 43), sondern in hohem Maße auch an der Faktur – und hindert Ribak daran, in der einsetzenden Nivellierung des Sozialismus aufzugehen (Tsharni 1937: 74). 579 Der von Raymond Cogniat 1934 auf Französisch herausgegebene Katalog, der 1937 erschienene jiddische Gedenkband sowie zwei israelische Ausstellungskataloge von 1950 und 1993 nehmen sich vergleichsweise mager aus neben der Tatsache, dass die führenden jiddischen Kiever Autoren Der Nister und Dovid Bergelson Ribak als „ihren Maler“ (zeyer moler) anerkannten (Mukdoyni 1937: 67). Elye Tsherikover (1881–1943), Historiker und Gründungsmitglied des YIVO, schreibt in seinem Nekrolog: „Es iz an iberiker bavayz fun undzer kulturlozigkayt, vos ot der oytser, Ribaks grafik fun yidisher folkskunst, iz tsum veynikstn bakant un iz nokh biz itst nit aroysgegebn gevorn.“ (Es ist ein weiterer Beweis unserer Kulturlosigkeit, dass dieser Schatz, Ribaks Graphik zur jüdischen Volkskunst, am wenigsten bekannt und bis jetzt noch nicht ediert worden ist; 1937: 58; Lisickijs und Al’tmans Zeichnungen sind in der Tat veröffentlicht.) Dasselbe gilt leider auch für Ribaks Pogromserie. 580 Das Mishkan l’Omanut ist das erste nach der Staatsgründung Israels eröffnete Museum mit einer großartigen Architektur (s. http://www.museumeinharod.org.il/english/; 5.3.2012). Anlässlich eines IsraelAufenthaltes im Dezember 2009 konnte ich die acht Bilder der Pogromserie, 2012 in der Ausstellung Berlin Transit im Jüdischen Museum Berlin gezeigt wurden, einsehen und bin Ayala Oppenheimer zu besonderem Dank verpflichtet. Andere wichtige Werke aus Ribaks Kiever Zeit befinden sich im RibakMuseum Bat Yam (Israel), darunter Alef-beyt (Alphabet, 1919), Alter Jude (1919) und besonders Die alte Synagoge (1917); Abb. s. Kazovskij 2003: 235, 239 und 240.

Yisokher Ber Ribak – Schreckensvisionen eines Erschrockenen  | 211 Versprechens und einer Verantwortung für morgen. Wenn wir wissen wollen, was das Archiv bedeutet haben wird, so werden wir es nur in zukünftigen Zeiten wissen.“ (1997c: 58) Neun kleinformatige Werke in Mischtechnik (Bleistift, Tusche, Aquarellfarbe) ergeben zusammen einen Bilderreigen des Bösen.581 Im Unterschied zu früheren – zumeist realis­ tischen  – Pogrombildern, die allesamt post festum die Juden als Betroffene fokussieren (s. Kap. 7), nimmt Ribak die Täter in actu in die Darstellung auf. Von einer Ausnahme abgesehen, sind säbelrasselnde ukrainische Kosaken und Zivilisten als Pogromakteure am Bildgeschehen beteiligt.582 Von ihren Rossen herab attackieren sie jüdische Männer, Frauen und Kinder. Im Rausch der Zerstörung machen sie weder vor dem säkularen jüdischen Leben, dem Zuhause der Juden, noch vor der Religion halt: Sie schänden Frauen und Tora, setzen Häuser und Synagogen in Brand. Ribak zeigt selbst ein jüdisches Kind im Mutterleib, das vom Säbel durchbohrt wird; eine Brust der Mutter ist brutal durchgeschnitten. Das Rot des herausströmenden Bluts  – Ribak malt es ebenso wie das Feuer, das um brennende Synagogen züngelt, – verbindet das Bild mit der Darstellung einer rothaarigen Mutter, an deren Brust ein Säugling (vielleicht zum letzten Mal?) trinkt, bevor der links im Bild gezeigte Kosak ‚seines Amtes walten‘ wird.583 581 Die Blätter haben eine Größe von ca. 80 x 110 cm. Sie zeigen im Einzelnen einen erdolchten Juden mit Tora-Rolle vor einer brennenden Holzsynagoge (Blatt 1) und Juden, die sich vergeblich auf ein Schiff flüchten (Blatt 2). Im dritten Bild des Zyklus sind drei von einem Säbel gleichzeitig durchbohrte Juden zu sehen, über ihnen schwebt eine erstochene Frau mit einem Fötus im Bauch. Blatt vier zeigt ein gefesseltes Ehepaar, Blatt fünf zwei an einen Baumstamm festgenagelte Juden mit Talit, Kippa und Gebetkapseln. Ebenfalls im Gebetsumhang stellt ein Jude sich schützend vor einen jüdischen Heiligenschrein (Blatt 6; Ribak könnte hier Moyshe-Tsvi Kugl im Sinn haben, der während des Pogroms in Kišinëv bei der Verteidigung der Tora gestorben sein soll; Roskies 1984: 280). Das siebte Blatt präsentiert dem Betrachter ein jüdisches Ehepaar inmitten einer Pogromszenerie, Blatt acht panoramaartig ein Pogrom in einem Schtetl. Auf dem neunten und letzten Blatt wird eine stillende Mutter von einem Pogrom überrascht. (Die Übersicht folgt der Reihenfolge des Museums.) 582 Die Darstellung der Täter erinnert an den Kosaken Mamaj, eine beliebte Figur der ukrainischen Volkskunst, die in der Regel mit dünnem, langem Schnurrbart, Bandura, Pfeife, Waffen und gesatteltem Pferd dargestellt wird (s. Abb. Kappeler 1994 [Titelblatt]). Weitere Indizien für ukrainische Kosaken sind der Säbel; statt im typischen Kosakenmantel sind die Täter meist in ukrainischer Tracht oder im weiß bestickten Hemd abgebildet. Die hohen Kosakenmützen weichen einer Legierung aus Pelzhut und Zipfelmütze, wie man sie aus dem Puppentheater kennt (im ostslav. Raum als „balagan“ oder „vertep“ bezeichnet). Zur Geschichte der Kosaken s. Gordeev 2006 (mit. Abb.). In der Ikonographie der pogromlüsternen, asiatisch anmutenden Reiter schwingt der türkmongolische Ursprung der Kosaken mit, die sich in der „ukraina“, der Steppengrenze, niederließen und mehr und mehr ostslavisch geprägt werden (s. hierzu Kappeler 1994: 54–71). Die Täter sind als Zentralmotiv der Pogromserie mit zahlreichen interikonischen Bezugnahmen aufgeladen. Neben Bezügen zur asiatischen Kunst (s. Fußn. 593) weckt ihre Darstellung im fünften Bild des Zyklus Assoziationen mit dem heiligen Georgij zu Pferde, der mit seiner Lanze den Drachen tötet, und mit den berittenen ‚Gottesstreitern‘ in der russischen Ikone Flor i Lavr (Florus und Laurus, Moskauer Schule, 16. Jh.): Im unteren Drittel der Ikone sind drei ‚heilige Pferdehirten‘ dargestellt (s. Onasch 1961: 118, 394); ‚kappadokische Drillinge‘ werden als Pferdefänger und -bändiger „bereits im Bericht ihres Martyriums hervorgehoben“ (ebd.). 583 Goya zeigt in den Radierungen Estragos de la guerra (Verwüstungen des Krieges) und Cruel lástima! (Grausames Elend!) aus den Desastres de la guerra tote Kinder, in Ni por esas (Auch diese) eine fast nackte Säuglingsleiche und eine Frau (die Mutter?), die von einem Soldaten weggeschleppt wird; Abb. in Sánchez/Gallégo 1995: 98.

212  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Ribaks durchkomponierte und -stilisierte Dokumente sind pervers im Inhalt und naiv in der Form. Die brutale Realität der erlebten Pogrome kleidet er in kindliche Phantastik.584 In den Bildern sind ikonographische Raffiniertheit und Primitivimus spannungsvoll miteinander gekoppelt. Der Schrecken der Bilder wächst durch den Schrecken der Perspektivlosigkeit. Ribaks frühere kubistische Kompositionen, allen voran Die alte Synagoge von 1917 setzen, wenn auch in technisch versierter Brechung, die Tradition der Zentralperspektive fort.585 Seine Pogrombilder verweigern sich einer – Orientierung stiftenden – Perspektivierung. Die Absurdität des Mordens fordert eine Ästhetik ein, die in ihrer primitiv-zweidimensionalen Gestaltung das reale Empfinden dieser Absurdität ins Bild übersetzt. Wer ihr Zeuge wird, schlüpft in die Bilder. Von innen heraus, aus der umgekehrten Perspektive, erzählt Ribak, was ihm die Sicherheit, aus einer (fixen) Perspektive des wahrnehmenden Subjekts Sinn zu setzen, geraubt hat. Ribaks Pogromaquarelle ragen in ihrer Ästhetik und Faktur aus seinem Oeuvre heraus. Der hohe Grad der Stilisierung seiner Gewaltdarstellungen betrifft Raumkomposition und Figurengestaltung gleichermaßen. Die kindlich-primitivistische Figurendarstellung weicht die Grenze zwischen Mensch und Marionette auf. Die stereotyp-puppenhafte Darstellung der Täter (ukrainische Kosaken mit Säbeln, schmalen Schnurrbärten, dunkler Mütze und Pferd) und der Opfer (chassidische Juden mit dichten Bärten, Kaftan, Kippa oder Streimel) enttarnt die entindividualisierende Dimension des Massenmordes im Pogromjahr 1919. Zugleich verhindert sie irreführende Analogieschlüsse zwischen Bild- und Lebenswirklichkeit. Zwischen das erlebte Pogrom und seine spätere ästhetische Evokation hat sich eine Erschütterung geschoben, die jenseits ausgetretener realistischer, Wirklichkeit reproduzierender Pfade das, was Ribak der Welt entfremdet hat, verfremdet. In der antimimetischen Wirkkraft der Bilder entfalten sich Bedeutungen, welche die Sinnlosigkeit des tatsächlich Geschehenen ins Artefakt übersetzen. Veronika Darian hat zur Erhellung der Visualisierung von Macht und Gewalt eine triadische Verknüpfung vorgeschlagen (2007: 171–182). Neben die Darstellung von Gewalt im Bild (Achse der Semantik) und ihre mediale Ausformung (Achse der Syntaktik) kommt die Instrumentalisierung eines Bildes durch eine Machtinstanz (Achse der Pragmatik) ins Spiel. Im dialektischen Zusammenspiel dieser drei Komponenten, der Präsentation von Gewalt, der Repräsentanz einer außerhalb des Bildes existierenden Macht (die Pogromisten stehen stellvertretend für das russische Imperium und später für die junge Sowjetmacht) und der Repräsenz von Gewalt durch die ästhetische Wirkmacht des Bildes kommt im Falle Ribaks Letzterem besondere Bedeutung zu.586 584 Vgl. hierzu die treffende Beschreibung bei Roskies 1984: 281–283. Ribaks Gattin betont seine kindliche Wahrnehmung, die ihn durchaus mit Chagall verbindet (Ribak 1937: 10). Mit Jankel Adler lässt sich auch eine Verbindung zu den phantastischen Wandmalereien der Synagogen herstellen (1937: 44). 585 Auf diesem Bild, einer Hymne auf die (jüdische) Volkskunst, ist in kubistischer Verfremdung eine für Osteuropa typische Holzsynagoge aus Dobrovna zu sehen (s. hierzu Kampf 1978: 55). Die Perspektive von unten herauf, die wuchtige und unruhige kubistische Geometrisierung des Bethauses und der getürmten Wolken lassen, verstärkt durch die düstere Farbgebung, die apokalyptische Zeitenwende erahnen, die 1917 für die Juden heraufzieht. 586 Die Macht des Bildes ist auf die rein ästhetische, von allen außerästhetischen Funktionalisierungen abgekoppelte Potenz des Mediums gemünzt. Darian stützt sich hier besonders auf Georges Batailles Die Souveränität (1978: 45–86), Walter Benjamins Über die Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen (1966: 9–26) und Martin Seels Ästhetik des Erscheinens (2003): „Will sie Gewalt zum Ereignis machen, muss die Kunst sich zum Ereignis machen.“ (S. 304; s. Darian 2007: 173 und 179)

Yisokher Ber Ribak – Schreckensvisionen eines Erschrockenen  | 213

Mit den Augen des Kindes – eine exemplarische Bildanalyse zur Endgültigkeit des Todes und zur Unabgeschlossenheit der Bildbedeutung Ribaks Pogrombilder bergen angesichts der dargestellten Gewalt einen ethisch vertretbaren Tabubruch: Im vierten Bild seiner Pogromserie beispielsweise konfrontiert er den Betrachter mit einem nackten jüdischen Paar (s. Abb. 48). Eine Frau mit schlaffen Brüsten und ihr Mann, die Kippa auf dem Haupt und eine Hand vor dem Geschlecht, stehen gefesselt im Zentrum des Bildes. An die Mutter – wie in anderen Darstellungen Chagalls ist eines ihrer Augen geöffnet, das andere geschlossen – klammert sich ein dunkel gekleidetes, bleichgesichtiges Kind. Die Familie, der Nukleus ostjüdischen Lebens, ist umgeben von einer wulstartigen, rötlichen Umrandung. Über diese formale Grenze hinweg blickt das Kind (Ribak selbst?), ein Auge weiß und leer aufgerissen, zurück – dies ist durchaus auch zeitlich zu verstehen – auf eine Gruppe von Personen in der rechten oberen Bildecke. Bauern mit Äxten, Schaufeln und Mistgabeln sind zum Pogrom bereit. Der wütende Mob hat den Segen der Kirche: Ein Pope im Ornat hält ein leuchtend weißes Kreuz in der Hand, das farblich in eine Äquivalenzbeziehung zu den weißen Äxten, den Tatwaffen, tritt; die russisch-orthodoxe Kirche im Hintergrund ist nicht wie bei Chagall Bestandteil eines Schtetl-Symbolariums, sondern Symbol für die antijüdische Haltung der Kirche.587 Das Weiß von Kreuz und Äxten aus dem semantischen Raum der Pogromtäter kehrt im linken unteren Bildviertel, dem semantischen Ort der Pogromopfer wieder. Außer den verkohlten Ruinen jüdischer Häuser – dieses Bildmotiv wird auch bei Judovin in den 1920er Jahren verwenden (s.  Kazovskij 1992: o. S.)  – und einem durchbohrten Kind ist eine schwarze Figur mit grellweißen Füßen zu sehen.588 Ob es sich hierbei um die aus dem Steinofen entschwindende Seele eines Toten handelt oder um einen vom Steinkamin erschlagenen Juden selbst (die Logik von Bildthema und -struktur hier ist ambivalent), ist nicht zu entscheiden. Den Bildaufbau dominiert eine doppelte Dialektik: Der Statik in der Bildmitte steht die Dynamik an den Rändern entgegen, dem Kreis (mit dem bedrohten jüdischen Leben im Zentrum) die Diagonale: Die eine Diagonale verbindet Pogromisten und den Schauplatz des Pogroms, die andere, vom linken oberen zum rechten unteren Bildeck zu ziehen, eine Farbfläche der Finsternis, in der die gespenstische Stille des von Tod und Zerstörung heimgesuchten Schtetls nachhallt. Beide zusammen legen sich wie ein Kreuz der Auslöschung über die jüdische Kleinfamilie. Drei winzige Häuschen befinden sich als metonymische Platzhalter für das Schtetl innerhalb der wulstähnlichen Banderole. Der in der Auflösung begriffene Davidstern steht ebenfalls für die Vernichtung jüdischen Lebens. Der Kontrast (warmer und kalter Farbtöne, gemischter und reiner Farben, runder und gerader Linien etc.) tritt als Zentralverfahren des Bildes auf. Er organisiert Bildsemantik und -ästhetik: Im Kontrast zwischen figuralem und leerem Raum treffen auch die beiden 587 Der kirchlich geschürte Antisemitismus hat eine lange Tradition, angefangen mit dem Vorwurf, die Juden seien Christusmörder, verübten Ritualmorde, schändeten Hostien. 588 Der symbolische Einsatz von Farben (z. B. Weiß oder Rot), der Täter, Tatwaffe und Opfer aneinander bindet, ist auch in anderen Bildern der Serie ein zentrales Verfahren.

214  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Nichtfarben Schwarz und kaltes Weiß als Extrempunkte der durchweg warmen Farbskala zusammen. Sie bilden in ihrer ästhetischen Spannung diejenige zwischen Leben und Tod ab. Auch die „eloquentia corporis“ (Darian 2007: 175) speist sich aus dem Gegensatz: Den Juden  – in ihrer Nacktheit traurige Evokationen von Adam und Eva  – sind die Hände gebunden, die Gojim recken Waffen in die Höhe. Wie bei Goya, der ebenfalls ungeschönt nackte Leichen zeigt, ist das Bild auf Schockwirkung angelegt. Der ästhetische Schock hat hier eine ethische Dimension: Nackte Juden sind auch ihrer Würde entkleidete Juden.

Ribaks Pogromästhetik zwischen Immanenz und kultureller Implikation In enger Anlehnung an jüdische Propheten und Nietzsches Untergangsszenarien entstehen zwischen 1912 und 1916 Ludwig Meidners so genannte Apokalyptische Landschaften.589 Mit seinen „expressionistisch-gebrochenen und verzerrten Katastrophendarstellungen“ (Schmidt in: Breuer/Wagemann 1991 Bd. 2: 124) bringt der deutsche Expressionismus Europa, aber auch Russland beherrschende Vorstellungen vom Weltende zum Ausdruck (s. Kap. 7). Ribak rezipiert möglicherweise erste Werke des Expressionismus, ist jedoch weit weniger expressiv als Meidner.590 Vielleicht liest er Jakov Tugendchol’ds Monographie Problema voiny v mirovom iskusstve (Das Problem des Krieges in der Weltkunst, Moskva, 1916), die mitten im Kriegsgeschehen die Jahrtausende alte künstlerische Auseinandersetzung damit vor Augen führt. Anders als der ebenfalls jüdischstämmige Meidner, der wie Chagall dem Weltkrieg einen Spiegel vorhält, haben Ribaks Pogrombilder nichts Urbanes.591 Ribak inszeniert eine ausschließlich ostjüdische Schtetl-Realität. Trotz ihrer unterschiedlichen Topographien ähneln sich Meidners Kriegs- und Ribaks Pogromapokalypsen in der Farbgebung. Meidners Jüngster Tag (1916; Breuer/Wagemann 1991 Bd. 2: Abb. 147) beispielsweise prägt, wenn auch mit einem pastosen, rasenden Farbauftrag in der Gattung Ölbild, der Meidner mit Kokoschka oder Soutine verbindet (Read 1967: 370–371), eine ähnliche Farbtonalität: Wie bei Ribak nehmen warme Brauntöne das Entsetzen von Krieg und Pogromen in sich auf. Braun ist eine wichtige Farbe des Kubismus, die bei Meidner und Ribak jenseits aller analytischen Funktionalisierungen Stimmträger der Verzweiflung wird. Braun ist ebenso eine zentrale Farbe der frühen Kunst. Hier haftet sie weniger am Farbauftrag als am Trägermedium der Farbe: Ikone und Lubok (s. hierzu Kap. 6) entfalten wie der chinesische Holzschnitt, an den sich Wischnitzer-Bernstein beim Betrachten von Ribaks Bildern erinnert fühlt (1937: 41), ihre Bildaussage auf Holz; die frühe chinesische Malerei, das ägyptische Totenbuch und natürlich jüdische Handschriften sind, angefangen von der Tora, auf Pergament fixiert. Ribak, der seine Pogromszenen auf einen pergamentähnlichen Untergrund aufträgt, spielt auch 589 S. hierzu Schmidt in: Breuer/Wagemann 1991 Bd. 1: 84–95 und Bd. 2: 124. Sie umfassen neben Ölbildern, die Untergangsvisionen in Stadtansichten und unberührte Landschaften hineinprojizieren, auch expressionistisch verzerrte Zeichnungen (s. Breuer/Wagemann 1991 Bd. 2: Abb. 127–141). 590 Auf den Einfluss des Expressionismus auf Ribak weist Werner (22006: 601) hin. 591 Meidner geht es in seinen apokalyptischen Visionen auch um die „Vergegenwärtigung der Großstadtsituation“ (Schmidt in Breuer/Wagemann 1991 Bd. 2: 124) als einem Ursprung des Untergangsgefühls.

Yisokher Ber Ribak – Schreckensvisionen eines Erschrockenen  | 215 durch die zurückgenommene, warme Farbigkeit seiner kleinen Skala an Brauntönen mit der Archaik und Assoziativkraft des Materials. Zugleich evoziert das Braun den Ort der Pogrome. Ostjüdisches Leben spielte sich in Holzhäusern und -synagogen, vor hölzernen Zäunen und verwitterten Grabsteinen ab. An Sukkot, dem Laubhüttenfest, stellt man bunt bemalte Holzhütten auf; rituelle Gegenstände aus Holz begleiten die Juden durch das jüdische liturgische Jahr. Im Monat Elul (August/September) betet man an keyer oves (jidd. für „Grab der Väter“) an den vom Wetter gezeichneten, ornamentierten Grabsteinen der Vorväter.592 Bei aller expressionistischen Verfremdung gibt Ludwig Meidner in seinen apokalyptischen Visionen eine Konstante nie auf: Der ontologische Raum, der das Sein vertikal in einem Oben und Unten und horizontal in öden Gegenden verankert, garantiert die Bildordnung. Der Himmel mag blutgefärbt sein wie in der Apokalyptischen Landschaft von 1915 (Breuer/ Wagemann 1991 Bd. 2: Abb. 141), doch ist er als das den Bildraum logisch organisierende Element vorhanden. Bei Ribak befinden sich die Pogromopfer in einem aperspektivischen Raum. Vor diesem Hintergrund wirken die gezeichneten Figuren wie Marionetten. Die reine Bedingtheit des perspektivlosen Raums lässt keine ontologische Verankerung zu. Als Gegenentwurf zur expressionistisch verzerrten Tiefendimensionen, die das Prinzip der Zentralperspektive nicht aufgibt, speist sich Ribaks Wucht der primitiv-aperspektivischen Zweidimensionalität aus verschiedenen ikonographischen Traditionen, die der Künstler der Kultur-Lige in seine Pogromaquarelle integriert. Diese zweidimensionale Flächigkeit ver­ bindet die assyrische, babylonisch-ägyptische und die chinesische Kunst, aber auch die ostslavische Ikonen- und Lubok-Tradition mit der jüdischen Volkskunst.593 Ribaks Pogrombilder orientieren sich formalkompositorisch stark an Ikone und Lubok.594 Der Künstler nützt die satirisch-sarkastische Überzeichnung beispielsweise der politischen Lubki, um das Kosakentreiben und ihren Ehrenkodex zu entlarven.595 Er verzichtet – wie auch die primitive Malerei – auf eine natürliche Lichtquelle und operiert mit der umgekehrten 592 Auch in seinen den Pogrombildern vorausgehenden Ölbildern arbeitet Ribak häufig mit dunklen Grauund Braunabstufungen. 593 Hillel Kazovskij nennt die babylonische, assyrische und ägyptische Kunst als Referenzkünste für Ribaks Pogrombilder (2003: 66). Ribaks Bilder ähneln ägyptischen und hellenischen Kriegsabbildungen in der Aperspektivik, unterscheiden sich jedoch grundsätzlich in der Anordnung der Krieger: Ist diese in der frühen Kunst als Ausdruck einer kriegerischen Logik und deren Heroisierung logisch-sukzessiv organisiert, so unterstreicht Ribak durch die verzerrte und disproportionierte Darbietung das Chaotische, Unwillkürliche der Pogrome. Auch teilen Ribaks Kosakenkörper in Nichts den Kult des Athletischen, wie er für die frühe Kunst charakteristisch ist (s. Tugendchol’d 1916: 59). Auch über die Gestaltung der Reiter und ihrer Pferde besteht eine Ähnlichkeit zu chinesischen Holzschnitten, vgl. den Reiter auf einem Wandgemälde im Grab von Li Xiang (711; Abb. in: Vandier-Nicolas 1983: 72f.). 594 S. hierzu Tsherikover 1937: 57 und Wischnitzer-Bernstein 1937: 41. Eine seltene Integration von irdischer Gewalt ins russisch-orthodoxe Heiligenbild stellt Pokorenie Soloveckogo monastyrja (Die Unterwerfung des Soloveckij-Klosters) aus dem 17. Jh. dar (Schwarz-Weiß-Abb. in: Tugendchol’d 1916: 141). Sie erzählt mit abgebildeten Kanonen, aus denen unzählige Kugeln auf das Solovecker Kloster abgefeuert werden, und teilweise nackten Gehenkten von dessen Bezwingung. 595 Auch Kazimir Malevič und Vladimir Majakovskij greifen in ihren primitivistischen Karikaturen zum Ersten Weltkrieg auf diese Formensprache zurück (s. die Abb. in: Bowlt 2008: 357f. und Minjajlo 2004: 54–65).

216  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Perspektive.596 Nach dem Prinzip der Synsemie ergeben die Rahmenbilder, hier konkret die Pogromepisoden in den beiden Bildecken, ähnlich der Heiligendarstellung mit Vita eine Narration.597 Wie in der Ikone ist die Größe der Figuren symbolisch zu verstehen (Uspenskij 1986: 759). (Dies ist ein auch von Chagall häufig verwendetes Verfahren; vgl. Kamenski 1989: 177).598 Mit den Mitteln der Ikone inszeniert Ribak eine jüdische Anti-Ikone: Christliche Insignien wie das Kreuz oder – als Ikone in der Ikone – das Heiligenbild der Madonna oranta sind in der berühmten Ikone Bitva Susdal’cev s Novgorodcami (Schlacht der Susdaler gegen die Novgoroder, 15. Jh.; s. Onasch 1961: Abb. 41) positiv eingesetzt für einen innerchristlichen Glaubenskrieg.599 Ribak wertet das Kreuz, das im Ornat des Popen vervielfacht ist, im Kontext des Pogrombildes um zu einem Fetisch der antijüdischen Verfolgung seitens einer Religion, die aus dem Judentum hervorging. Der Davidstern und das Kreuz ergänzen sich hier zu einem Doppelsymbol, das die Kontinuität von Judentum und Christentum sowie deren interreligiösen Konflikt gleichermaßen evoziert. In Ribaks Bildzentrum stehen keine christlichen Heiligen, sondern nackte Juden. Nackt auf einer Ikone abgebildet zu sein ist dem Gottesnarren Vasilij oder Christus während seiner Theophanie vorbehalten (s. Abb. 49).600 Für die gezeigten Juden bedeutet es den Abstieg in die Hölle. Das wulstähnliche Band, das die jüdische Familie einschließt, ist in seiner Symbolfunktion ambivalent. Es weckt Assoziationen zu Marc Chagalls Skizze Der Maler mit dem umgedrehten Kopf (1915; s. Abb. 50). In diesem Entwurf zur ersten Monographie über den Künstler setzt Chagall das für ihn zentrale Schtetl-Motiv in eine Traumwolke (s. hierzu Kap. 1). Das von Chagall imaginierte Schtetl ist hier noch intakt. Bei Ribak mutiert das Ornament der jüdischen Kulturrenaissance, die in Chagalls Phantasien ihren prominentesten Ausdruck findet, zur ‚Grabeinfassung‘ der ostjüdischen Kultur. Durch die interpikturale Spannung zu Ikonen von Christi Geburt (russ.: Roždestvo Christovo), die das Geburtsgeschehen in einer Felsenhöhle lokalisieren und dadurch ebenfalls einen Blick ins Innere der Erde ermöglichen, wird dies noch schmerzlicher bewusst (s. Abb. 51).601 Ribaks Pogrombild ist als Inversion dieses Ikonentyps lesbar.

596 Zu diesem Zentralverfahren der Ikone s. Florenskij 1994: 46–103 und Uspenskij 1986: 755–795. 597 Als Beispiel hierfür sei Ikonen des Heiligen Georgij oder des Heiligen Nikolaj erinnert, den Ribak durch das Ornat des Priesters rechts oben im Bild zitiert (s. Abb. in Lichatschew 1996: Farbtafel VI, 6 und Onasch 1961: 70). 598 Zu Interferenzen zwischen Chagall und der Ikone s. bes. Liebelt 1971 und Spira 2008: 127–129. 599 Erwähnt sei hier auch das Prozessionsbild des Wandermalers Ilarion Prjanišnikov von 1893 oder Il’ja Repins Kreuzprozession im Gouvernement Kursk (1880–1883; Abb. in Leek 1999: 78f.) und Rerichs monumentales Schlachtenbild Pokorenie Kazani (Die Unterwerfung Kazans; Abb in: Tugendchol’d 1916: 158). 600 Vgl. auch die zentralrussische Ikone Die Theophanie oder die Taufe Christi aus dem 18. Jh. (Zibawi 2003: Abb. 10). 601 S. hierzu weiterhin die Ikonen in Onasch 1961: 32 und 55 sowie Liebelt 1971: 66.

Yisokher Ber Ribak – Schreckensvisionen eines Erschrockenen  | 217

Marc Chagall: Originalentwurf des Titelblatts zu Iskusstvo Marka Šagala (Die Kunst Marc Chagalls) von Abram Ėfros und Jakov Tugendchol’d. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Die Höhle, auch auf mittelalterlichen westlichen Weihnachtsdarstellungen zu finden, steht hier symbolisch für den Leib der Gottesmutter.602 Bei Ribak symbolisiert das Erdinnere den Schoß der heidnisch hochverehrten Mutter Erde wohl als letzte Ruhestätte der jüdischen Familie (als Metonymie für das Judentum). Was im Falle der Ikone den Beginn des christlichen Monotheismus markiert, bedeutet im Falle Ribaks das Ende des jüdischen. Ribak zeigt in seiner Pogromen geschuldeten Anti-Ikone keine christlichen Heiligen, sondern jüdische Helden, die den „kidusch-ha-schem“ (hebr.: ‫)קדוש השם‬, den Märtyrertod sterben.603 In einer wichtigen Eigenreferenz auf das erste Bild des Pogromzyklus, das eine brennende Holzsynagoge zeigt, ruft Ribak die jüdische Märtyrerthematik auf: Ein ukrainischer Kosake hält in der einen Hand eine Flasche, in der anderen eine Lanze, mit der er ein jüdisches Kind durchbohrt hat (s. Abb. 54). Das ermordete Kind ist von einer weißen Wulst umgeben; in sie hinein ist die vieldeutige hebräische Wurzel „‫( “קדש‬kadosch: „heilig“, „Opfer“) hineingeschrieben.604 Diese Darstellung wiederum assoziiert eine byzantinische Miniatur von Christi-Märtyrertod aus dem Chludov-Psalter (9. Jh.), die den Erlöser in einer Aureole zeigt (Abb. in: Cormack/Vassilaki 2008: 100). 602 Die Ikone betont so den mariologischen Zusammenhang (Onasch 1961: 358). 603 Zum „kidusch-ha-schem“ s. Kap. 8.4. 604 S. auch Kap. 12 und 14. Die Wurzel „‫ “קדש‬bedeutet u. s. „heilig“, „geheiligt“, „heiligen“ (s. hierzu Gesenius 171962: 702–704). Martin Buber betont für das Substantiv „kodesch“ die Dynamik des Begriffs, der „zunächst einen Vorgang, den der Heiligung, des Heiligens und des Geheiligtwerdens, später erst auch das Heiligtum bezeichnet“ (1992: 20).

218  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Dasselbe Ornament und mit ihm der religiöse Komplex des jüdischen Märtyrertodes kehrt im hier behandelten Bild wieder. Doch nicht nur deshalb ist es berechtigt, im Falle der jüdischen Familie von Märtyrern zu sprechen: Das jüdische Paar steht in deutlicher ikonographischer Nähe zu christlichen Martyriums- und Märtyrerdarstellungen.605 Ribak erteilt durch den Rückgriff auf nichtperspektivische Maltraditionen der christlichabendländischen Kunst eine Absage; eben diese zitiert er ironisch in der Figurendarstellung im Zentrum des Pogrombildes. Das Judenpaar ist kraft seiner hypertrophiert-stilisierten Darbietung (Nacktheit, Körperhaltung, Fesselung, Mimik und symbolische Augengestaltung) zum Märtyrerpaar überhöht. Auch wenn der Malduktus ein ganz und gar anderer ist, sich antimimetische Stilisierung und mimetische Emotionalität gegenüberstehen, ist das assoziative Potenzial von Ribaks Bild frappierend, mit der er christlich-barocke Märtyrerdarstellungen eines Caravaggio evoziert (s. Abb. 52). Caravaggio, in dessen Märtyrerbildern Erotik, Heiliges und Gewalt in einem in der Kunstgeschichte nicht wiederholten Spannungsverhältnis stehen, inszeniert in theatralisierten Hell-Dunkel-Kontrasten den nackten Körper des gepeinigten Christus oder geschundenen Heiligen.606 Das Faszinosum des schönen Körpers in der Geißelung Christi verdrängt den Schmerz der Geißelung. Der in Licht getauchte Körper – die Schatten erhöhen die Magie des Heiligen – ist durch die Logik der Handlung (Fesselung) im Kontext des Martyriums verankert – und glorifiziert.607 Ribak entwirft eine andere eloquentia corporis als Caravaggio. Deren Pathos und erotischen Subtext lässt er ebenso weg wie die Kausallogik der perspektivischen Märtyrerhandlung. Ribaks Schock der ästhetischen Verfremdung steht Caravaggios Schock der ästhetischen 605 Ribak, der als junger Maler christliche Kirchen ausmalt und für seine Christus-Darstellungen geschätzt wird (Ribak 1937: 14), rekurriert auch in anderen Pogrombildern darauf. Diese Malerfahrung könnte die märtyrerhaften Judendarstellungen in den Pogrombildern beeinflusst haben. Ein Jude im Tallit, der zum Schutz der Torarollen seine Hände ausbreitet, gemahnt ebenfalls an den Gekreuzigten. In einer anderen Darstellung sind Juden – wieder im Gebetsmantel – wie Märtyrer an einen Pfahl genagelt und gefesselt. Auch in der Körpersprache dieser stilisierten Figuren schwingen Darstellungstechniken christlicher Märtyrerbilder v. a. des Barock mit. 606 Das homoerotische Moment in Caravaggios körperbetonten Darstellungen christlicher oder antiker Mythen findet sich ebenso in Bildern zu Johannes dem Täufer, dem heiligen Bartholomäus oder dem schlafenden Cupido (Longhi 1993: 91, 99 und 101). 607 Dies trifft auch auf die wesentlich dynamischere Geißelung Christi zu (Abb. in Longhi 1993: 98). Auch hier sieht man einen fast nackten gefesselten Heiligenkörper, um dessen Lenden ein Tuch geschlungen ist. Auch im Martyrium der vier Gekrönten (Kat. 2006: 78) zeigt Caravaggio halbnackte und gefesselte Männer. Die hellenische Büste am Boden bildet wie die christlichen Insignien in Ribaks Pogrombild den ideologischen Gegenspieler ab. Auch durch den Einsatz von Farben leiten sich Vergleichsparameter zwischen Ribak und Caravaggio ab: Caravaggio operiert häufig mit dem Kontrast von Körperfarbe und Weiß bzw. Rot, Weiß – vgl. das rote Tuch in Johannes der Täufer oder das grelle Weiß in Die Kreuzigung des Heiligen Petrus (Kat. 2006: 169). Die Signal- und Symbolfunktion von Rot und Weiß prägt auch Ribaks Pogrombilder. Ihre semantische Funktionalisierung ist jedoch eine andere: Sie profiliert die Täter-Opfer-Dialektik. Der Einsatz von Weiß und Rot unterstreicht dabei ohne übertriebene Betroffenheit den Opferstatus der Märtyrerjuden jenseits einer christlichen Affirmation des Märtyrertodes, der durch den Erlösungsgedanken auch ästhetisch heroisiert wird (s. hierzu Oy-Marra 2007: 249–273, s. bes. S. 250).

Yisokher Ber Ribak – Schreckensvisionen eines Erschrockenen  | 219 Mimesis entgegen. Das Hier und Jetzt der christlichen Gewaltrepräsentation weicht der zeitlichen und räumlichen Unsicherheit der an der russischen Ikone geschulten primitivstilisierten Gewaltgestaltung. Wir wissen nicht, in welchem konkreten Sinnzusammenhang die einzelnen Bildelemente von Ribaks Pogrombild zueinander treten, welche sukzessive Abfolge des Geschehens anzusetzen ist. Die gezeigten Judenkörper lenken nicht das Begehren des Betrachters auf sich. Viel eher verweisen sie in ihrer antimimetisch-primitivistischen Stilisiertheit auf die erlebte und gesehene Gewalt, auf Ohnmacht und Scham. Caravaggios Körper folgen einem Diskurs der Erhabenheit, die Körper Ribaks demjenigen der Erniedrigung. Ribaks Judeneltern mit Kind (als Umkehrung der christlichen Familie mit Maria, Joseph und Jesus) sind durch das rote Band in einen ambivalenten Bildraum eingeschlossen wie die drei chaldäischen Jünglinge in den Feuerofen (Dan 3). Dass ihnen anders als den drei Märtyrern, die für den jüdischen Gott zu sterben bereit sind, eine wundersame Rettung zu Teil wird, ist unwahrscheinlich. Im linken unteren Bildrand bellt ein dunkler Hund. Ist er wie seine herumstreunenden Artgenossen in Leyb Kvitkos Pogromzyklus 1919 die letzte noch lebende Kreatur in der Szenerie der Verwüstung, wie sie in diesem Bildteil geboten wird? Oder bellt er – die Grenze zwischen ihm und der Bildmitte alogisch überschreitend – seinen Besitzern hinterher, bevor diese symbolisch für das gesamte jüdische Leben in der Erde verschwinden?608 Ribaks Hund evoziert die zahlreichen Tierabbildungen der jüdischen Volkskunst. Salomon Judovins Kopie einer Grabsteinplastik (1912–1914) beispielsweise zeigt einen Löwen, dessen Zunge, Gesichts- und Körperform Ähnlichkeiten zu Ribaks Hund aufweist (Hazan-Brunet 2009: 79, Kat.nr. 217).609 Erneut bindet Ribak durch die ästhetische Gestaltung jüdische Lebenswelt und Volkskunst aneinander. Ebenso wie Ribaks Illustrationen zu Margolin und sein Zyklus Shtetl, mayn khorever heym, a gedekhenish (Schtetl, mein zerstörtes Zuhause, ein Andenken) von 1923 weisen einige Pogrombilder eine bildinterne Rahmung auf. Große Wölbungen in dicken schwarzen Linien geben den aperspektivisch-amimetischen Darstellungen eine – der Logik des Kindes folgende? – Struktur. Wichtige Vorläufer für dieses effektvolle rahmende Prinzip sind Lisickijs Illustra­ tionen zu Khad Gadya (s. hierzu Kap. 6); Lisickijs vom Todesengel überwältigter Schächter ist mit seinem üppigen Bart der Prototyp für Ribaks von Pogromen heimgesuchte Juden

608 Vgl. die talmudische Sequenz aus Baba Kama, 60: „Wenn die Hunde heulen, so ist es ein Zeichen, dass der Todesengel in den Ort gekommen ist“ (Zit. nach Ehrmann 2004: 247). Auch im Titelblatt und in einer Illustration zu Miryam Margolins Mayselekh far kleyninke kinderlekh (Geschichten für kleine Kinder, um 1922) zeigt Ribak einen solchen Hund; Abb. in Hazan-Brunet 2009: 150f.). Die Pogromisten kehren ebenfalls wieder. Ribak bildet sie in vier mit Meydele un ganovim (Mädchen und Dieben) betitelten Blättern ab (Hazan-Brunet 2009: 152). Der Hund als treuer Begleiter des Menschen ist ebenfalls ein Topos der christlichen (mittelalterlichen) Ikonographie (vgl. Heinz-Mohr 1998: 149–151). 609 Dovid Yakersons spätere Kopie von 1940 stellt spiegelverkehrt denselben Löwen dar (Kazovskij 1992: o. S., Hazan-Brunet 2009: 59, Abb. 44).

220  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild (s. Abb. 53 und 54).610 Auch um das Signet des Yidish farlag (Jüdischer Verlag), in dessen Zentrum über einem Grabstein und einem Schtetl segnende Priesterhände erhoben sind, setzt Lisickij einen Rahmen (Abb. 55). Dieser ästhetische Segensakt hier wortkünstlerischer Produkte gilt ebenso für die bildnerische ostjüdische Avantgarde, die aus der jüdischen Volkskunst herauswächst.611 Pate könnten jüdische Grabsteine gestanden haben, die häufig auf dieses kompositorische Rahmenprinzip zurückgreifen.612 Das – todgeweihte – jüdische Brautpaar aus Ribaks siebtem Blatt ziert ein Vogel, der, ein Glöckchen im Schnabel, eigentlich vom Paradies künden sollte. Ribak nimmt hier deutlich Bezug auf Salomon Judovin  – und auf Natan Al’tman. Al’tman kopiert anlässlich einer Expedition 1913 ebenso wie Judovin Grabsteinmotive und -ornamente. Später formt er sie kubistisch um (vgl. Apter-Gabriel 2009: 54). Diese rhythmische Strichführung verbindet Ribak, Al’tman und Lisickij in der ästhetischen Weiterentwicklung der zunächst ethno­ graphisch ausgerichteten Ikonographie (Abb. 56 und 57). Ribaks interikonische Bezüge in seinen Pogrombildern enden alle auf dem Friedhof. Im Rekurs auf die letzte Ruhestätte der Pogromopfer, auf die „matseyves“ (jidd. Grabmäler) am Friedhof, ist der Endpunkt des gesamten Bildgeschehens in der Pogromserie markiert. „Friedhof“ mag auf Jiddisch „beys-oylem“, „Haus der Ewigkeit“, oder „dos gute-ort“, der gute Ort, heißen: Am Ende aller Bilder der Serie steht der Tod. Doch übernehmen Ribaks Pogrombilder wie die „matseyves“ eine doppelte Aufgabe: Sie bezeugen den Tod (durch Pogrome) und bewahren das Gedächtnis an die Toten. Ribak speichert in seiner Pogromserie auf der Inhaltsebene die Erinnerung an das ostjüdische Schtetl und dessen Vernichtung. Zugleich enthält sie auf der formal-kompositorischen Ebene Anklänge an die ostjüdische Volkskunst (Grabmäler und -ornamentik, Lubok) und deren ästhetische Transformation. Die Interikonizität mit Lisickij, Al’tman und Judovin kommt nicht von ungefähr: Alle vier heben während ihrer Expeditionen die Schätze der jüdischen Volkskunst. Alle vier bringen aus deren Ornament, Abstraktion und Flächigkeit die jüdische Avantgardekunst hervor. (Zu recht fragt man: Wo bleibt Chagall hier? Anhand der jüdischen Volkskunst, die Chagall durchaus, jedoch heterogener und aus einer größeren Distanz heraus rezipiert, zeigt sich seine  – durch frühe Kontakte mit der vor allem französischen Avantgarde bedingte  – Andersheit innerhalb der ostjüdischen Kunstentwicklung.)

610 In der ersten Fassung von 1917 ist, wie Alan Birnholz herausgearbeitet hat, der Todesengel im Sterben begriffen, in der zweiten Fassung ist er tot, d. h. durch die Revolution überwunden (Kampf 1990: 37). Ribaks spannungsreiche Auseinandersetzung in seiner Pogrom-Serie mit Lisickijs zweiter Gestaltung der traditionellen Seder-Erzählung, in die er subtil seine Verherrlichung der Revolution einschreibt, kann hier nur angedeutet werden. 611 Für das Titelblatt zu einer Broschüre des Yidisher folks-farlag (Jüdischer Volksverlag, 1919) setzt Lisickij erneut Volksornamentik als kubistisch gestaltete Rahmung um eine Schtetl-Kulisse ein (s. Hazan-Brunet 2009: 131, Abb. 60). 612 Grabsteine mit ähnlich rahmenden Konturen zeichnet Judovin ab (Abb. in Hazan-Brunet 2009: 78f. und Yudovin 2005; Nachdruck der Erstausgabe von 1920). Der Grabstein von Staro-Konstantinov von 1849 aus Yidisher folks-ornament (2005: 10; s. auch Hazan-Brunet 2009: 82 unten) oder Judovins Ornamentskizze aus Orša (Abb. in Hazan-Brunet 2009: 78, Nr. 234) sind hier besonders hervorzuheben.

Yisokher Ber Ribak – Schreckensvisionen eines Erschrockenen  | 221 Ribak, der „yoyresh“ (Erbe; Elye Tsherikover) der jüdischen Volkskunst, weist auf die „yerushe“, das kulturelle Erbe zurück, das er angetreten hat. Er holt die ostjüdische Kunst mit in seine Bilder herein und schafft so ein mächtiges Gegengewicht zu den nichtjüdischen interikonischen Bezügen – und zum Tod, den er zumindest ästhetisch überwindet. Neben der Ikone und anderen Formen der christlichen – auch volkstümlichen – Kunst (Lubok!) birgt gerade die jüdische Volkskunst den Schlüssel zu Ribaks Ästhetik. Seine Pogromserie ist ein komplexer Balanceakt zwischen Eigenem und Fremdem. Ästhetisch ist sie interkulturell. Intentional ist sie durch und durch jüdisch.

9.2 Ein Pogrom in Prosa – Isaak Babel’s Istorija moej golubjatni (Geschichte meines Taubenschlags, 1925) Babel’s Miniaturen aus Konarmija (Die Reiterarmee, 1923–1926) sind Sternstunden der Weltliteratur. Ihre wahre Größe erschließt sich erst in ihrer Zusammenschau. Geeint sind sie durch den mit autobiographischen Zügen ausgestatteten Erzähler Ljutov, der seine moralische Niederlage durch ästhetische Höhenflüge zu kompensieren versucht. 613 Der innere Zusammenhalt ist auf der Ebene der meist homodiegetischen Erzählungen durch das Figurenpersonal, durch gemeinsame Spannungsfelder wie Leben und Tod, Feigheit und Mut, Ekel und irrationale Faszination für Gewalt, intellektueller Pazifismus und kosakische Aggression gewährleistet. Auf der Ebene der Präsentation bindet ein sorgfältig gesponnenes Netz motivischer, lexikalischer und rhetorischer Äquivalenzen die 34 Erzählungen zu einem Zyklus zusammen.614 Der Erzähler bewegt sich in einer Metaphernsprache, die die Zerstörung der Welt wiedergutmachen zu wollen scheint.615 Babel’s Hang zur Zyklenbildung kennzeichnet auch seine odessitischen Erzählungen von 1926.616 Die erstmals am 18., 19. und 20. Mai 1925 in der Abendausgabe der Leningrader Krasnaja gazeta (Rote Zeitung) erschienene Erzählung Istorija moej golubjatni (Geschichte ­meines Taubenschlags) ist von Babel’ als Anfang eines weiteren, stark autobiographischen Zyklus – mit Pervaja ljubov’ (Erste Liebe) als Fortsetzung – gedacht.617 Bis zuletzt arbeitet Babel’ daran. Das Manuskript will er im Herbst 1939 einem Verlag vorlegen (Babel’ 1996: 307).

613 Vorgeformt sind sie teilweise in Babel’s Tagebuch von 1920 (2006 Bd. 2: 222–334). Bereits die Namensgebung von Babel’s fiktionalem alter ego Kirill Vasilievič Ljutov, abgeleitet von russ. „ljutyj“ (wütend, rasend), weist auf den zentralen inneren Grundkonflikt hin: Gewalt ist abstoßend und faszinierend zugleich. So ist auch die Erzählinstanz ambivalent. Ljutov ist kriegerischer Pazifist und Mörder wider Willen. Zur Konarmija s. insbesondere Belaja/Dobrenko/Esaulov 1993. 614 Schmid führt dies exemplarisch anhand der ersten Erzählung Perechod čerez Zbruč (Die Überschreitung des Zbruč) durch (1992: 135–154). 615 S. Babel’ 2006 Bd. 2: 43–194. Der Zyklus endet mit Syn Rabbi (Der Sohn des Rabbi). Argamak, Poceluj (Der Kuss), Griščuk und Ich bylo devjat’ (Sie waren neun) stehen ihm nahe (Urban 1994: 298–301). 616 Sie umfassen Korol’ (Der König), Kak ėto delalos’ v Odesse (Wie es in Odessa gemacht wurde), Otec (Der Vater) und Ljubka Kazak (Babel’ 2006 Bd. 1: 60–100). 617 Der gesamte Zyklus ist abgedruckt in Babel’ 2006 Bd. 4: 151–258, s. hierzu Luplow 1984: 225–277. In seinem Brief vom 14. Oktober 1931 schreibt Babel’ aus Molodënovo an seine Schwester Fen’ja: „Ja tam [in der Zeitschrift Molodaja gvardija – S. K.] debjutiroval posle neskol’kich let molčanija malen’kim otryvkom iz knigi, kotoraja budet ob’’edinena obščim zaglaviem ‚Istorija moej golubjatni‘. (Nach einigen Jahren des Schweigens debütierte ich dort mit einem Ausschnitt aus einem Buch, das durch den gemeinsamen Titel ‚Geschichte meines Taubenschlags‘ geeint sein wird; Babel’ 2006 Bd. 4: 297) Die Erzählung erscheint 1931 in Molodaja gvardija (Die junge Garde) unter dem Titel Probuždenie (Erwachen); ihr folgen im selben Jahr in der zehnten Ausgabe von Novyj Mir (Neue Welt) Gapa Gužva und – in deutlicher Anspielung auf Dostoevksijs Zapiski iz podpolja (Aufzeichnungen aus einem Kellerloch, 1864) – V podvale (Im Keller; Babel’ 2006 Bd. 4: 599).

Isaak Babel’ – Ein Pogrom in Prosa  | 223 Dazu kommt es nicht mehr: Babel’ wird am 15. Mai desselben Jahres vom NKVD verhaftet und in der Nacht vom 26. auf den 27. Januar 1940 erschossen.618 Seine baldige Verhaftung ahnend, erfüllt sich Babel’ noch zwei Träume: Im September 1938 fährt er nach Jasnaja Poljana, dem Sommersitz L.N. Tolstojs, steht ergriffen in dessen Arbeitszimmer. Zuvor verbringt er den Sommer in der Schriftstellersiedlung Peredelkino nahe Moskau. Dort hält er eine Kuh, Hühner – und drei Taubenpärchen in einem Taubenschlag ... (Krumm 22006: 182–184) Ihr Gurren mag ihn bei der Überarbeitung seiner Istorija moej golubjatni begleitet haben.

Beim Erzählen Kind sein – Zur Ästhetik in Istorija moej golubjatni In der pseudo-autobiographischen, in Nikolaev (von 1861 an dem Gouvernement Cherson zugehörig) spielenden Kurzprosa blickt der autodiegetische Erzähler zurück auf seinen Kindheitstraum, einen eigenen Taubenschlag zu besitzen.619 Nach erfolgreicher Aufnahme ins russische Gymnasium soll dieser Wunsch in Erfüllung gehen. Der erste Versuch scheitert nicht an der damals üblichen Fünfprozentklausel für Juden, welche die Zugangsberechtigung zu russischen Bildungsstätten regelt, sondern an der erfolgreichen Bestechung des jüdischen Getreidehändlers Chariton Ėfrussi, der seinem Sohn den Zugang zu höherer Schulbildung erkauft. Die Erzählung widmet sich ausführlich der Aufnahmeprüfung, die als „rite de passage“ inszeniert wird. Den ‚Fetisch‘ Puškin in einer Art Ekstase rezitierend, stellt der jüdische Knabe seine historischen Kenntnisse zu Peter dem Großen und damit sein russisch-nationalpatriotisches Potenzial unter Beweis.620 Die Familie feiert im Anschluss gebührend den Übertritt. In Form eines Aushangs in der Schule vom 20. September 1905 ist er offiziell verbürgt. Einen Monat später, am Sonntag, den 20. Oktober 1905, macht sich der kleine Junge auf den Weg zum Ochotnickij-Markt (von russ. „ochota“: Jagd), um Tauben zu erstehen. Er kauft drei prächtige Pärchen. Mit den sechs Friedensboten im Gepäck wird er – wie sein Großonkel Šojl – Opfer eines Pogroms. Er gerät in die Hände des Krüppels Makarenko, der, vor dem Hintergrund anderer Gewaltexzesse gegen Juden, dem kleinen Babel’ eine der Tauben ins Gesicht schlägt. Die von Makarenko zerquetschte Taube wird zur Präfiguration seines Großonkels, den er, selbst heil zu Hause angelangt, tot im Hof vorfindet.

618 Möglicher Grund für die Verhaftung ist ein geplanter Schauprozess gegen Literaten (s.  Krumm 2 2006: 187–198). 619 Babel’ verbringt seine Kindheit in Nikolaev. Zur Hafenstadt am Schwarzen Meer s. REĖ 2007 Bd. 6: 48–50. Eine deutsche Übersetzung stammt von Dmitrij Umanskij (Babel 1962: 78–90). „tales“ (Babel’ 1996: 165) – jiddisch für „talit“, den jüdischen Gebetmantel – ist dort fälschlicherweise mit „Gebetbuch“ übertragen. 620 Der wie Chagall in Vitebsk geborene Kinderbuchautor und Übersetzer Samuil Maršak (1887–1964) wurde in einer realen Prüfung demselben Stoff unterzogen und rezitiert aus Puškins Poltava (zit. nach Slezkine 2006: 143f.).

224  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Der von Lejeune geforderte „autobiographische Pakt“, der Erzähler, Autor und Protago­nist aneinanderbindet, mag zunächst als Gattungskriterium für die Erzählung verführerisch sein (s. hierzu Kap. 3). Die ausgeprägte Ästhetisierung des Textes und die Fiktionalisierung historischer Ereignisse unterlaufen jedoch bewusst den Authentizitätsanspruch autobio­graphischen Schreibens. Babel’ koppelt Fiktionalität – Lejeunes „pacte romanesque“ (1975: 27) – und autobiographische Nichtfiktionalität. Das Spiel mit der (historischen) ‚Wahrheit‘ und mit unterschiedlichen Erfahrungswerten des Erzählers und Protagonisten machen die Erzählung in ihrer Gattungszuordnung ebenso ambivalent wie das Weltempfin­den des vordergründig autodiegetischen Erzählers.621 Istorija moej golubjatni ist weniger eine fiktionalisierte Autobiographie denn eine teilweise autobiographisch motivierte Erzählung (s. Carden 1972: 154, Suchich 2006 Bd. 1: 21).622 Das ideologische und ästhetische Potenzial der narrativen Fiktion wird zum Vehikel für Babel’s Auseinandersetzung mit antijüdischer Gewalt, wie er sie real miterleben muss. Nach dem Petersburger „Blutsonntag“ im Januar 1905 und politischen Reformen, die als Reaktion auf einen landesweiten Generalstreik und Unruhen den Juden mehr Rechte bringen, heizt auch das verletzte Nationalgefühl als Folge des verlorenen Russisch-Japanischen Krieges die antisemitische Stimmung im Land an. Am 17. (30.) Oktober 1905 wird ein Zarenmanifest bekannt gegeben, das auch der jüdischen Minderheit Freiheitsrechte, Wahlrecht und die Duma als gesetzgebendes Organ garantiert.623 „Čërnye sotni“ (Schwarze Hundertschaften), anarchische Terroreinheiten, reagieren mit von der Regierung geduldeten Pogromen, die neben Odessa auch Nikolaev erfassen.624 Auch in Nikolaev, das nach der Aussiedlung unter Nikolaj I. seit 1859 wieder als Ansiedlungsort für Juden zugelassen wird, werden am 18. Oktober 1905 die zugestandenen Rechte gefeiert (REĖ 2007 Bd. 6: 48). Tags darauf finden sich russische Nationalisten zu einer Prozession zusammen. Mit dem Bild des Zaren ziehen sie durch die Straßen und feiern einen Gottesdienst. Als dann ein Schuss aus der zarentreuen Menge fällt und Polizeibeamte auf unbeteiligte Zuschauer des Umzugs schießen, beginnt der Pogrom. Jüdische Häuser werden zerstört, Menschen verletzt, einige sogar getötet. Wie so oft vollziehen sich die

621 Diese Ambivalenz kennzeichnet auch Konarmija und stellt eine Konstante in Babel’s Schreiben dar. 622 Die Familie Babel’ besaß während ihrer Zeit in Nikolaev, an der Mündung des südlichen Bug gelegen, tatsächlich einen Taubenschlag (Krumm 22006: 9). Vom Pogrom in Nikolaev war sie nicht betroffen (Carden 1972: 154). Im oben erwähnten Brief an seine Schwester Fen’ja vom 14. Oktober 1931 schreibt Babel’ über Istorija moej golubjatni: „Sjužety vse iz detskoj pory, no privrano, konečno, mnogoe i peremeneno, – kogda knižka budet okončena, togda stanet jasno, dlja čego mne vse to bylo nužno.“ (Die Sujets stammen alle aus der Kinderzeit, doch ist vieles natürlich hinzugedichtet und verändert; wenn das Büchlein vollendet sein wird, dann wird deutlich werden, wozu ich das alles gebraucht habe.“ (Babel’ 2006 Bd. 4: 297; s. auch Krumm 22006: 216) 623 Dubnov 1920 Bd. 10: 395. Weiterhin gewährt das Manifest „den Untertanen des russischen Autokrators ohne Unterschied des Standes die Grundrechte freier Bürger: Unverletzbarkeit der Person, Freiheit des Gewissens, der Rede, der Versammlung und der Korporation.“ (Stökl 1962: 600; s. Babel 1962: 87) 624 Laut Dubnov finden mehr als 300 Juden den Tod; über 4000 jüdische Haushalte sind wirtschaftlich ruiniert (1929 Bd. 10: 396).

Isaak Babel’ – Ein Pogrom in Prosa  | 225 Ausschreitungen gegen Juden „unter offenbarem Schutz und tätiger Beihilfe der dortigen Polizeibeamten“ und der Kosaken (Krutschanski 1910 Bd.2: 149–154, hier S. 149).625 Babel’ schreibt nicht Geschichte, sondern Geschichten: Der tatsächliche Pogrom in Nikolaev im Oktober 1905 und die ihm zugrundeliegenden historischen Umbrüche dienen – ähnlich seiner Konarmija – als Folie für die subjektive Transformation im Bewusstsein des intra- und autodiegetischen Erzählers. Mehrfach nimmt er, bei aller Ähnlichkeit mit dem tatsächlichen Ablauf, im Dienste der Fiktion eine Geschichtsklitterung der damaligen Ereignisse vor: Babel’ ist zum Zeitpunkt des Pogroms elf Jahre, in der Erzählung wahlweise neun oder zehn Jahre alt (Babel’ 1996: 161 und 171).626 ‚Seinen‘ Pogrom lässt er am 20. und nicht, wie real geschehen, am 19. Oktober stattfinden. Das subjektive Wissen um den Pogrom, die „oral history“, wonach – laut Kuz’ma – Šojl das einzige Todesopfer sei (Babel’ 1996: 167), steht der Historiographie, die von mehreren Getöteten spricht, entgegen. Hier bereits zeichnet sich das Spannungsfeld zwischen der erlebten und der erzählten Geschichte ab. Die subjektiverlebte und – historiographisch gesehen – bisweilen ‚falsche Wahrheit‘ tritt gegen historische Fakten an, die in ihrer objektivierten Darstellung dem Erlebten den Tod geben. Das Einzelschicksal Babel’s unterwandert die große Historie, das individuelle Sehen und Fühlen des Kindes die allgemeingültig-abstrakte Beschreibung. Diese Spannung zwischen der erlebten und der erzählten Geschichte prägt auch die homodiegetische Erzählinstanz: Sie vereint zwei Identitäten, die des unwissenden Kindes, das den Augenblick erlebt, und des wissenden Erwachsenen, der im Rückblick erzählt (vgl. auch Carden 1972: 168–172, Sicher 1986: 90). Erzählperspektivisch meint dies den Wechsel von der internen Fokalisierung hin zur Nullfokalisierung. Die Unwissenheit des Kindes (aktoriale Perspektive) kontrastiert mit dem Wissen dessen, der seine kindliche Unschuld verloren hat (auktoriale Perspektive).627 Der Modus der Kindesperspektive mündet häufig in den Dialog und damit in die Unmittelbarkeit der Rede (der junge Babel’ ist während der Prüfung mit Pjatnickij, während des Pogroms mit Makarenko und später mit Kuz’ma im Gespräch). Das erwachsene ErzählerIch überblickt aus der (zeitlichen) Distanz das Geschehen. Hier, im Modus der Distanz, 625 Dies bestätigt immer wieder auch Dubnov im zehnten Band seiner Weltgeschichte. Zur rechtlichpolitischen Stellung der Juden s. Jilge 2001a: 186–195 und 2001b: 195–206, Haumann 51999: 77–88 und 190f., Budnickij 1999 und Slezkine 2006: 121–207. Zum Schwellenjahr 1905 s. besonders Hoffman/Mendelsohn 2008. 626 Aus der Turgenev assoziierenden Folgeerzählung Pervaja ljubov’ (Erste Liebe; 2006 Bd. 1: 165–174) erfährt man, dass der Ich-Erzähler neun Jahre alt ist. Das Pogromgeschehen aus Istorija moej golubjatni dient hier als Hintergrundhandlung für das romantische Liebeserleben des Knaben, der, entflammt für Galina Apollonovna Rubcova, erste innere Eifersuchtsdramen erlebt. Auch in Konarmija operiert Babel’ wohl bewusst mit faktischen Fehlern (s. Krumm 22006: 63). 627 Simon Markiš siedelt den Erzähler in einer „sovsem neevrejskij mir“ (gänzlich nichtjüdischen Welt) an, von der aus er auf die jüdische Vergangenheit blickt (21997: 22). Dass das Jüdische hier nur als Hintergrund (fon) für das Prosageschehen fungiere, in der Darstellung der universellen Tragödie aufgehe (ebd.), ist zu hinterfragen. Vielmehr scheint sich gerade durch die ästhetisch-symbolische Aktualisierung des Jüdischen in der Erzählung Babel’s persönliche Tragödie (seiner russisch-jüdischen Gespaltenheit) mit der universellen zu verbinden.

226  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild öffnet sich die Erzählung lyrischen Verfahren. Die Nähe der Erzählung zu Drama und Dialog ist um die Nähe zur lyrischen Gattung ergänzt; die auktorial gesteuerte Deskription ist mit zahlreichen lexikalischen, phonetischen und motivischen Äquivalenzen durchsetzt.628 Diese phonetisch-lexikalische Überstrukturierung des narrativen Erzählflusses stärkt die Kohärenz der Darstellung nicht nur semantisch, sondern auch rhythmisch. Mit der Ästhetik der (lexikalischen) Wiederholung übernimmt Babel’ das Prinzip der Lyrik in die Prosa (s. auch Sicher 1986: 38). Damit knüpft er an die Poetik der Konarmija an. Babel’s ornamentales Erzählen ist allerdings zugunsten der Handlung abgeschwächt.629 Dies hat in der restringierten Perspektive des Kindes seinen Ursprung. Die lineare Narration des  – jüdischen  – Kindes mit dem Spracharsenal des Virtuosen der ornamentalen  – russischen – Prosa zu verknüpfen, bildet die spezifische ästhetische Strategie der Istorija moej golubjatni. Diese Koppelung führt im Vergleich zur Konarmija zu einer ästhetischen Verschiebung: Prägt den Erzählzyklus Konarmija wesentlich ein komplexes Metaphernsystem, so ist es in Istorija moej golubjatni ein Symbolsystem. Die Intention in Perechod čerez Zbruč und Istorija moej golubjatni ist jedoch die gleiche: In beiden Erzählungen steht die Joyce’sche Epiphanie im Zentrum.630 Der Tod des Vaters in der Überschreitungserzählung und der Tod des Großonkels in der Taubengeschichte verweist auf den großen Makel des ostjüdischen Daseins: Es ist untrennbar mit Gewalt verknüpft.631 Die kindliche Perspektive des Protagonisten auf eine Welt, in der man als Jude fremd ist – „ja šel po čužoj ulice“ (ich ging eine fremde Straße entlang; 1996: 170), sagt er – vermag dies zunächst 628 Zur Rhythmisierung von Babel’s Prosa durch Wiederholungen s. auch Sicher 1986: 34–37. Phonetische Äquivalenzen stützen die Emotionalität des Inhalts: „[...] Skvoz’ bagrovuju slepotu, skvoz’ svobodu, ovladevšuju mnoju, ja videl tol’ko staroe, sklonennoe lico Pjatnickogo s poserebrennoj borodoj.“ (Durch die purpurne Blindheit, durch die Freiheit, die sich meiner bemächtigte, hindurch sah ich einzig Pjatnickijs altes, geneigtes Gesicht mit seinem Silberbart; 1996: 162) Bei den syllabischen Wiederholungen sei hier im Zusammenhang mit der Gewaltthematik die häufige Verwendung des Präfixes „raz/ras“ (zer-, auseinander-) verwiesen (s. 1996: 170). Die lexikalischen Äquivalenzen reichen vom Wiederholen eines Wortes oder – wie auch in Konarmija – ganzer Satzteile: „My mesjac privykali k penalu [...]; my mesjac privykali k ščastlivoj žizni [...]“ (Einen Monat gewöhnten wir uns an den Federkasten [...]; einen Monat gewöhnten wir uns an das glückliche Leben [...]) bis hin zur Wiederholung des für die Erzählung zentralen Satzes: „Mir moj byl mal i užasen (Meine Welt war klein und schrecklich; 1996: 166–167). 629 Zu Babel’s ornamentaler Prosa s. Holthusen (1973: 112–138), Browning (1979: 346–352) und Schmid (1992: 135–154). 630 Wolf Schmid macht den Zusammenhang von Ästhetik und Epiphanie zur Grundlage seiner Analyse. Den Zusammenhang von Ästhetik und Epiphanie „in the Joycean sense of the spiritual revelation of the essence of a character or object“ arbeitet zuerst Efraim Sicher auf der Folie von Babel’s Kunstkonzeptionen heraus (1982: 387–396; hier S. 395); vor allem die Entautomatisierung des Bekannten durch Verfremdung spielt hier eine große Rolle (Sicher 1982: 389 und 1986: 90–93). Patricia Carden (1972: 152–178) schreibt von Babel’s Zyklus Istorija moej golubjatni als einer „journey of understanding“ (S. 177): „The understanding of desire that illuminates violence in The Story of My Dovecot is used to reveal the nature of passion in First Love, the nature of truth in In the Basement, the nature of art in Di Grasso.“ (S. 172) 631 Das Babel’s Prosa dominierende Thema der Gewalt wird vor allem von der US-amerikanischen Forschung in Bezug auf Konarmija behandelt, vgl. neben Kammer/Schulzki 1978 in Auswahl Andrew 1984a und 1984b, Stine 1984: 237–255, Schneider 1986 und Borenstein 2000: 73–124.

Isaak Babel’ – Ein Pogrom in Prosa  | 227 nicht zu erkennen. Erst Babel’s Ästhetik der Verfremdung – vermittelt aus der Position des Erzählers – bringt dies auf der Signifikandenebene dem Leser zu Bewusstsein.632 Die Epiphanie steckt in der Textpoetik – und generiert sie zugleich: Die in der Diskrepanz zwischen der kindlichen und der erwachsenen Erzählerperspektive latente Erkenntnis der Gewalt wird in Figuren der Wiederholung manifest. Ob lautlich, syllabisch, lexikalisch oder syntaktisch, Wiederholungen sind das kompositorische Leitprinzip der Erzählung. Der unbewusste Aufschub der Erkenntnis bewirkt die ständige sprachliche Wiederkehr des Verdrängten.633

Symbolische Präfigurationen des Todes Der Protagonist der Erzählung, der junge Babel’, sieht über die Schulter des Hausmeisters Kuz’ma hinweg seinen brutal ermordeten Großonkel Šojl. Was auf der Ebene der Erzählung mit der Erkenntnis des Todes endet, ist auf der Ebene ihrer Präsentation durch ein komplexes Symbolsystem lexikalischer und motivischer Äquivalenzen präfiguriert. In Perechod čerez Zbruč führen primär auf metapherngestützte Äquivalenzen in ihrer sukzessiven Abfolge zur Erkenntnis des Todes. In Istorija moej golubjatni folgt dieselbe Erkenntnis aus mehreren, simultan geschalteten lexikalisch-motivischen Äquivalenzen. Sie entfalten sich um den Ortsnamen, den Getreidehändler Chariton, das Motiv des Holzes und um die Zahl Fünf (russ.: pjat’). Ihr Einsatz macht sie zu symbolischen Vorboten des Todes; als solche offenbaren sie sich jedoch erst in Kenntnis von Šojls Tod, also in einer rückwärts gerichteten Lektüre. Diese Symbolik von Babel’s „Poetik der Offenbarung“ (Schulte 2006) reicht dabei tief in die jüdische und russische Kultur hinein. Nikolaev: Der Ortsname Nikolaev ruft den für die russische Orthodoxie wichtigen Heiligen und Schutzpatron Russlands Nikolaj, aber auch die extrem judenfeindliche Zeit der Zaren Nikolaj I und II auf. Die Judenpolitik Nikolajs I. mündet in empfindliche Eingriffe in die religiöse und kulturelle Autonomie; zugleich nehmen die militärischen Pflichten dem Russischen Reich gegenüber zu (Haumann 51999: 83–84). Unter Nikolaj II. fegen schreckliche Pogrome durch den Ansiedlungsrayon  – und damit auch durch Nikolaev. Šojl soll gesehen haben, wie Soldaten Nikolajs I. polnische Adlige des Januaraufstandes (poln.: powstanie styczniowe) gegen die russische Fremdherrschaft Aleksandrs I. erschossen (Babel’ 1996: 165).634 632 Vgl. hierzu Sicher 1986: 90–93. In der Koppelung von kindlichem Bewusstsein und Gewalt schreibt Babel’ an einem wichtigen Narrativ, das Sholem-Aleykhem vorformt (vgl. beispielsweise Motl Peyse dem khazns / Motl Peyse, der Kantorssohn, 1907/1916) und Julian Stryjkowski in Głosy w ciemności (Stimmen in der Finsternis, 1946) oder Imre Kertész in Roman eines Schicksallosen (1975) fortsetzen. 633 Ich danke Kenneth Hanshew für diese Anregung. 634 Der Wahrheitsgehalt von Šojls Geschichten wird vom Erzähler angezweifelt. In der Tat widersprechen sich auch hier Erzählung und Fakten: Der polnische Aufstand fand 1863 und nicht, wie es die Erzählinstanz von Šojl weiß, 1861 statt (in diesem Jahre kam es zu Massendemonstrationen). Die Soldaten unterstanden Aleksandr I. und nicht Nikolaj I., dessen Regentschaft 1855 mit seinem Tod endete. Das Revolutions­ komitee des polnischen Aufstandes gruppierte sich um den Vater des englischen Schriftstellers Joseph Conrad, Apollo Korzeniowski (Miłosz 1981: 169). Yoysef Opatoshu zeigt in seinem Opus magnum In poylishe velder (1921) die Beteiligung der polnischen Juden am Befreiungsversuch vom zaristischen Joch.

228  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Holz: Die Ironie des Schicksals will es, dass auch Chariton Ėfrussis Familie Opfer des Pogroms wird. Der Ich-Erzähler beobachtet einen „mužik“, der mit einem Holzhammer (derevjannym molotom; Babel’ 1996: 170) die Fensterrahmen von Charitons Haus zertrümmert: „Vsja ulica byla napolnena chrustom, treskom, peniem razletavšegosja dereva.“ (Die gesamte Straße war erfüllt vom Bersten, Krachen, Singen des nach allen Seiten davonfliegenden Holzes; ebd.). Den Käfig, der die Tauben des autodiegetischen Erzählers beherbergen soll, hat der todgeweihte Šojl aus einer Holzkiste gefertigt (S. 167); der tote Šojl wird von Kuz’ma mit Holzspänen (opilki) bedeckt (S. 171). Über das Semem „Holz“ ist auch der Junge mit dem die Juden bedrohenden Tod verbunden: Als Kuz’ma ihn nach dessen Flucht vor den pogromščiki erblickt, sagt er: „Veter tebja nosit, kak durnuju ščepku“ (Der Wind verweht dich, wie einen dämlichen Holzspan; ebd.) Der grausam zugerichtete, noch ungewaschene Šojl gilt – im jüdischen wie im ostslavischheidnischen Kontext – als unrein (jidd: treyf ).635 Für unreine (oder lebenden Personen als gefährlich geltende) Tote wird nach altslavischem Brauch eine Bestattung ohne Grab angewandt (Zelenin 1927: 327). Sie werden als „založnye“ bezeichnet, als „Zugedeckte“, da man sie – anstatt einer Erdbestattung – an der Oberfläche der Erde mit Ästen und Holz bedeckt (ebd.). Auf diese Weise wird der Zorn der „Mutter Erde“ (mat’ zemlja) auf den unreinen Leichnam nicht heraufbeschworen.636 Dass der alte Hausmeister Kuz’ma Šojl mit Sägespänen bedeckt, könnte auf seine Verwurzelung im ostslavischen Volksglauben hindeuten. Der von orthodoxen Russen getötete Jude – Kuz’ma bezeichnet sie abwertend als „kacapy“ – findet im ostslavischen heidnischen Bestattungsritual seine Ruhe, bevor man ihm  – hoffentlich  – die jüdische rituelle Totenwaschung, Ankleidung mit Tachrichim (Totengewändern) und Bestattung angedeihen lässt.637 Char(it)on: Der eine handelt mit Getreide, der andere mit Totentransporten: Der Getreidehändler Chariton Ėfrussi erkauft seinem Sohn mit 500 Rubeln den Platz im Gymnasium, der – dem geistigen Kapital nach – eigentlich dem Ich-Erzähler zustünde. Der Name Chariton ruft den Fährmann Charon aus der griechischen Mythologie auf, der die Schatten der Toten über drei Flüsse in den Hades bringt. „Damit sie den Fährlohn bezahlen können, legte man den Ver635 Im Jiddischen gibt es eigens das Femininum „misemeshune“ für die Tatsache, eines unnatürlichen Todes zu sterben; Kvitko gebraucht es in seinem Pogromzyklus 1919 (1923: 22–24). 636 Andernfalls würde der Tote zu einem Wiedergänger, würden die Menschen von der „Mutter Erde“ durch Frost und Kälte bestraft (Zelenin 1927: 328). 637 Zum abwertenden „kacap“ im Unterschied zu „moskal’“ s. http://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%9A%D 0%B0%D1%86%D0%B0%D0%BF; 6.3.2012. Etymologisch geht das Wort auf ukr.: „kak cap“ (wie ein Ziegenbock) zurück, da dem rasierten Ukrainer der bärtige Russe wie ein Ziegenbock erschien. Das Lied Nach dem Pogrom beginnt mit den Zeilen: „di vilde katsapes / mit ire lapes / zey hobn undz ale fardorbn [...]“ (Die wilden Russen / Mit ihren Tatzen / Sie haben uns alle verdorben [...]; Ost und West 1914 H. 9–12: 665. Zu den jüdischen Sterberitualen s. Trepp 2006: 386–390 und de Vries 102006: 272–330.

Isaak Babel’ – Ein Pogrom in Prosa  | 229 storbenen eine Münze (Obolos) unter die Zunge.“ (Bellinger 2000: 96) Im russischen Volksglauben legt man, um die Überfahrt ins Reich des Todes zu gewährleisten, den Toten Kupfermünzen auf die Augen.638 So verfährt der Hausmeister Kuz’ma am Ende der Erzählung mit dem toten Šojl. Pjat’ (fünf ): Von seinem sechsten Lebensjahr an – der Zahlenwert sechs wird im Judentum durch den Buchstaben „vov“ ausgedrückt – unterweist der Vater den Sohn in den verschiedensten Wissenschaften (Babel’ 1996: 161). Die kabbalistische Gematria (Zahlenkombinatorik) wird kaum darunter gewesen sein. Im Taubenschlag könnten dank Šojls Ausstattung zwölf Paar Tauben Platz finden (man denke an die zwölf Stämme Israels; S. 167); gegen zwölf Uhr verkündet ein Mann „v valjanych sapogach“ (in Filzstiefeln; 168) Šojls Tod. Von vierzig Jungen können nur zwei Juden aufs Gymnasium übertreten (1996: 161; Moses weilte vierzig Tage in der Wüste).639 Auch die Fünf und ihre Symbolik spielen in Istorija moej golubjatni eine wichtige Rolle.640 Die Übertrittsklausel beschränkt den Gymnasialzugang von jüdischen Schülern auf fünf Prozent (S. 161); dies umgeht Ėfrussi durch 500 Rubel Schmiergeld (ebd.). Der junge Babel’ erreicht in beiden Prüfungen, die ihn dem Übertritt und dem Taubenschlag entgegenbringen, die Höchstnote „Pjat’“ (S. 161 und 162).641 Der Lehrer, der anlässlich der zweiten Prüfung dem Ich-Erzähler den Weg in die Bildung und damit potenzielle Freiheit ebnet, heißt „Pjatnickij“ (‚Fünfner‘; S. 162).642 Die Kupfermünzen, die Kuz’ma auf Šojls Augen legt, der dem Jungen den Taubenschlag baute, heißen „pjataki“ (Fünfkopekenstücke; S. 171). 638 Der Volkskundler Dmitrij Zelenin schreibt hierzu: „Nach neueren Deutungen soll es das Zahlgeld für die Überfahrt über den feurigen Fluss oder für den Platz im Jenseits sein, zur Bezahlung der zu Lebzeiten nicht bezahlten Schulden“ (1927: 323). Hier ist Einfluss der griechischen Mythologie spürbar. 639 Den Zahlenwert Vierzig drückt der Mutterbuchstabe „mem“ aus, dem neben dem „reysh“ und dem „shin“ eine besondere kabbalistisch-schöpferische Funktion zukommt. Wie bei der Zwölf tritt auch hier die Vervielfachung auf: Die Zwölf kehrt in der Vierundzwanzig, die Vier auch in der Achtzig wieder (S. 163). 640 Jörg Schulte zeigt die Wiederkehr dieser Zahl in anderen Babel’-Texten auf, ohne jedoch auf ihren symbolischen Mehrwert einzugehen (2006: 93–94). 641 Im deutschen Text von 1966 wird „pjat’“ im Sinne einer Übersetzung ins deutsche Schulsystem als „Eins“ übertragen. Dadurch geht ein wichtiges Element im numerischen Äquivalenzsystem um das semantische Feld „Tod“ verloren. 642 Der kleine Babel’ bereitet sich mit der Grammatik Smirnovskijs, dem Rechenbuch Evtuševskijs und dem Geschichtsbuch von Pucykovič auf die Prüfung vor (S. 162). Diese heilige Trias an Lehrbüchern, die dem kleinen Babel’ die Höchstnote einbringt, lässt sich tatsächlich belegen: Der Russischlehrer Petr V. Smirnovskij (1846-??) verfasste mehrere Schulbücher zur russischen Sprache und Literatur, darunter 1884 ein Učebnik russkoj grammatiki (Lehrbuch der russischen Grammatik; http://www.rulex. ru/01180277.htm; 5.3.2012). Vasilij A. Evtuševskij (1836–1888), dessen Methode jedoch bei Lev Tolstoj wenig Anklang fand, veröffentlichte mehrere Lehrwerke zur Arithmetik (BĖ 2006 Bd. 16: 342). Feofil F. Pucykovič (1846–1899) verfasste eine Kratkaja russkaja istorija. So mnogimi portretami i drugimi risunkami (Eine kleine Geschichte Russlands. Mit vielen Porträts und anderen Zeichnungen), die allerdings erst 1914 in Sankt Petersburg erschienen sein soll (http://www.rulex.ru/01160745.htm; 5.3.2012).

230  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Im ostslavischen Aberglauben wird einem Toten bis zu seiner Bestattung die Fähigkeit zu riechen, zu hören und zu sehen zugesprochen (Vlasova 1998: 393). Zudem kommt mit dem Toten der Tod selbst ins Haus. Das Schließen oder Bedecken der Augen wendet die Gefahr ab, dass noch andere Familienmitglieder sterben (Vlasova 1998: 396f.). In slavischheidnischer Vorstellung entschwindet die Seele des Toten durch die offenen Augen, würden diese nicht bedeckt, oder könnte gar wiederkehren.643 Auch im Judentum schließt man die Augen eines Toten oder bedeckt sie mit Scherben. Kuz’ma will mit den kupfernen Fünfern die Wiederkehr des geschändeten Šojl abwenden. Mit der Fünf assoziiert man im Judentum aber auch den Chumesch, das Fünfbuch (die Fünf Bücher Mose). Das „hey“, das den Zahlenwert Fünf verkörpert, kommt zweimal im Tetragramm vor. Dieser Buchstabe begründet die Namensänderung von Abram zu Abraham sowie von Sarai zu Sarah (Gen 17, 5) und symbolisiert den Bund mit Gott (Weinreb 62005: 101). Die Fünf steht auch für messianische Heilserwartungen, erinnert man sich des fünften Bechers, der bei der SederFeier dem Propheten Elias bereitgestellt wird (s. Kap. 6). Die Zahl vereint den Tod und das Göttliche auf sich.

Auge in Auge mit der Gewalt: Babel’s intertextueller Dialog mit der russischen Literatur A.S. Puškins Stancionnyj smotritel’ (Der Stationsvorsteher/Der Postmeister, 1836) endet mit einem Fünfkopekenstück („pjatačok“; 1986 Bd. 3: 84). Der intra- und homodiegetische Erzähler belohnt damit einen Jungen, der ihn zum Grab des vor Gram gestorbenen Postmeisters führt, dem der Husar Minskij die Tochter Dunja entführt hat. Er wiederholt damit Dunjas Geste, die eben jenem Jungen einen „pjatak serebrom“ (silbernes Fünfkopekenstück; ebd.) überlässt.644 Das Fünfkopekenstück ist nicht das einzige intertextuelle Element, das Babel’s Erzählung mit Puškin verbindet. Puškin ist nicht der einzige russische Dichter, auf den Babel’ sich in Istorija moej golubjatni bezieht. Gewidmet ist die Erzählung Maksim Gor’kij, der Babel’ „otpravil v ljudi“ (unter die Menschen geschickt hat; Babel’ 2001: 11). „Unter die Menschen“ heißt in Babel’s Fall auch: „Unter Tiere“. Denn einen Teil dieser Zeit verbringt er in der Nordarmee, die gegen Judenič, den Anführer der Weißen, kämpft, und in der Ersten Reiterarmee unter Budënnyj. Dort wird er Zeuge lustvollen Tötens und leidvollen Sterbens, wird er mit grausamen Übergriffen auf Juden konfrontiert.

643 S. hierzu Trepp 2006: 387 und de Vries 102006: 296. In Stryjkowskis Austeria bemüht sich der Schankwirt Tag inmitten der Unruhen des Ersten Weltkrieges, der ermordeten Asia die jüdischen Sterberituale angedeihen zu lassen. 644 Die Entführung Dunjas durch den Husaren Minskij in Stancionnyj smotritel’ (Der Stationsaufseher, anderer Titel: Der Postmeister, 1836) hat ihren Vorläufer in Karamzins sentimentaler Erzählung Bednjaja Liza (Die arme Lisa; 1792). In Puškins Metel’ (Der Sturm), ebenfalls aus den Povesti pokojnogo Ivan Petroviča Belkina (Die Erzählungen des verstorbenen Ivan Petrovič Belkins, veröffentlicht 1831) lädt der Vater der Heldin Marija Gavrilovna häufig „poigrat’ v pjati kopeek v boston“ (um fünf Kopeken Boston zu spielen; 1986 Bd. 3: 59).

Isaak Babel’ – Ein Pogrom in Prosa  | 231 Neben diese manifeste Intertextualität tritt der latente Bezug zu Puškin, aber auch zu Dostoevskij.645 Mit mehrfachen Intertextualitätsbezügen schreibt Babel’ weiter am „Konzept der Filiation“ als Topos in der russischen Literatur (vgl. Lachmann 1990: 291). Die Filiation ist aber eine der Revolte des Sohnes gegen die Väter oder die des südrussischen, der lichtdurchfluteten Stadt Odessa entstammenden Babel’s gegen den übermächtigen nordrussischen literarischen Diskurs. Dieser entstammt dem düsteren, phantasmagorischen Petersburg, das aus Babel’s großen ukrainischen Vorbild Gogol’ einen Schatten macht (vgl. Vinokur 2008: 60). Babel’, der sich Maupassant und Tolstoj zum literarischen Vorbild erkor, tritt in seinem 1916 verfassten ‚Manifest‘ Odessa als „literaturnyj Messija“ (literarischer Messias; Babel’ 2001: 20) gegen Dostoevskijs Messianismus an.646 Seine Heilsfunktion sucht er in Istorija moej golubjatni mit der ästhetischen Transformation der Prätexte Puškins und Dostoevskijs zu erfüllen. Diese intertextuelle Umwertung funktionalisiert er für seine Ästhetik der Epiphanie des russischen Antisemitismus. Die Intertextualität mit Puškin ist in Istorija moej golubjatni eng mit dem Motiv des Wahnsinns verknüpft.647 Kernthema der zweiten Aufnahmeprüfung ist Peter der Große. Wie von Sinnen rezitiert der kleine Babel’ Puškins Gedichte zu Peter dem Großen, schreit sie wie in einer grotesken Inversion klassischer Gedichtdarbietungen hinaus (Babel’ 1996: 162). Puškin setzt sich in den zwei großen Poemen Poltava (1829) und Mednyj vsadnik (Der eherne Reiter, 1833) mit Peter dem Großen auseinander.648 In Poltava ‚besingt‘ er dessen Sieg über den Schwedenkönig Karl XII. im Jahre 1709. Der eigentliche Held des Poems ist jedoch der ukrainische Held Mazepa, der ukrainische Unabhängigkeitsbestrebungen vertritt.649 Während Babel’s Gedichtrezitation wirbeln die Gesichter der Prüfer vor seinen Augen durcheinander „kak karty iz novoj kolody“ (wie die Karten eines neuen Stapels; Babel’ 1996: 162). Keiner der beiden Prüfer unterbricht das wahnsinnige Stammeln des Jungen („... nikto ne preryval bezumnogo moego bormotan’ja“; ebd.). Der Vergleich mit dem Kartenspiel und das Motiv des Wahnsinns stellen einen unmittelbaren Bezug zu Puškins 645 Diese für Babel’ zunächst ungewöhnliche Bezugnahme tritt neben seine offiziellen Bezugsautoren Maupassant und Tolstoj, der wie später Babel’ bemüht war, „den Beginn von Anna Karenina ganz am konzisen Stil der Erzählungen Puškins auszurichten“ (Lachmann 1990: 291). Zu intertextuellen Referenzen zwischen Babel’, Rousseau und Dostoevskij s. Žolkovskij 1994: 89–123, zu Babel’ und Dostoevskij s. auch Vinokur 2008: 60–62. 646 Babel’ signiert diesen Text mit „Bab-Ėl’“, was sich mit „Tor zu Gott“ (von hebr. „bab“: Tor, Pforte) übersetzen ließe, und charakterisiert Odessa als messianische und jüdische Stadt zugleich (Vinokur 2008: 60–62). 647 Der Wahnsinn durchzieht – besonders als Bestandteil der Familienbeschreibung – die gesamte Erzählung. Der Großvater des Ich-Erzählers wurde verrückt, ebenso sind Onkel Lev, der Bruder des Vaters, und Onkel Simon als wahnsinnig charakterisiert (S. 163f.) 648 Hinzu kommen die Stansy (Stanzen, 1826). Puškins intensive Auseinandersetzung mit Peter setzt sich im narrativen Text Arap Petra Velikogo (Der Mohr Peters des Großen, 1827/28) fort und mündet in die auf Geheiß Nikolaj I. hin 1832 begonnene, metafiktionale Istorija Petra (Geschichte Peters des Großen), an der Puškin bis zu seinem Tod arbeitet; s. hierzu Lotman 1995: 293–299, Arminjon 1971, Krysteva 1985 und Platt 2000: 141–163). 649 Im Abschlussgedicht von Kvitkos Pogromzyklus 1919 taucht der Held erneut auf (s. Kap. 8.3). Inwieweit Babel’ die zeitgenössische jiddische Literatur und damit auch Kvitkos Pogromlyrik rezipiert hat, bleibt eine spannende Frage.

232  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Erzählung Pikovaja dama (Pik Dame, 1834) und deren Protagonisten German her. Die deklamatorische Ekstase des Puškin rezitierenden Judenjungen wiederum ruft die Ekstase chassidischen Betens auf: Ihr Ziel ist die „Kavana“ (jidd.: kavone), das Anhängen an Gott. Der kleine Babel’ aber kommt von Puškin nicht mehr los, ist von ihm geradezu besessen. Diese Besessenheit des jüdischen Babel’ vom (nord)russischen Dichtergenie Puškin führt zur Diabolisierung der jüdischen Ethnie, hier pejorativ als „židki“ bezeichnet: „Kakaja nacija [..] židki vaši, v nich d’javol sidit.“ (Was für eine Nation [...] eure Juden, sie tragen den Teufel in sich; 1996: 162) Was verbirgt sich hinter dieser Intertextualität mit Puškin? Babel’ inszeniert sich durch den Einbau des Wahnsinns motivisch, aber auch ästhetisch als Nachfolger Puškins: 650 Dessen Credo: „Točnost’ i kratkost’ – vot pervye dostoinstva prozy“ (Genauigkeit und Kürze, das zeichnet Prosa vor allem aus) in seinem Fragment O proze (Über Prosa, 1822; 1949 Bd. 11: 18–19) gilt auch für Babel’s Erzähltechnik.651 Wie Puškin poetisiert Babel’ durch die Übernahme lyrischer Verfahren (der Wiederholung usw.) seine Erzählprosa und erweitert dadurch erheblich deren Semantik (vgl. Lauer 2000: 198). Meint dieses aus intertextuellen Bezügen zu Puškin geknüpfte Symbolsystem auf der biographischen Ebene Babel’s Auseinandersetzung mit Stalin mit? Auf beängstigende Weise ruft es Parallelen zwischen Babel’s Situation unter Stalin und derjenigen Puškins unter Nikolaj I auf. Wie Puškin, der die Oppression durch Nikolaj I und die Einschränkung seiner (dichterischen) Freiheit durch Zensur und Demütigungen in die Zeit Peters des Großen zurück- und in Evgenijs Wahnsinn hineinprojiziert, weicht Babel’ auf die Ereignisse unter Nikolaj II und den Wahnsinn seiner Vorfahren aus.652 Ein letzter intertextueller Faden zu Puškin führt direkt zu einem Gewaltakt und damit zur Epiphanie und Hauptintention der Babel’schen Erzählung hin. Er steht im Kontext einer sich jüdischer und christlicher Muster bedienenden Apokalypse. Als der junge Babel’ in die Hände Makarenkos gerät, stürzt er, mit ihm übers Gesicht laufendem Taubengedärm, zu Boden.653 In die Mutter Erde hinein hörend, verebbt das Tosen des wütenden Pogroms allmählich im Bewusstsein des Ich-Erzählers und führt eine fast mystische Vereinigung zwischen dem jüdischen Knaben und der ‚russischen‘ Erde herbei. (Psychoanalytisch gesprochen, kehrt der jüdische Same in den Mutterschoß, in die „mat’ syraja zemlja“, zurück):

650 In einem nächsten Schritt der Filiation ist man bei Gogol’s Zapiski sumasšedšego (Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen; 1842) angelangt. 651 Konstatin Paustovskij erinnert sich, dass jedes überflüssige Wort in einem Text Babel’ körperliche Schmerzen verursacht habe (1970: 158). 652 Zu Puškins schwierigen Lebens- und Arbeitsbedingungen unter Nikolaj I besonders in seinen letzten Jahren s. Ziegler 1979: 119–132, 138–143 sowie Keil 2001: 387–423. 653 Makarenko begleitet seinen tätlichen Angriff mit einem Fluch auf das jüdische Volk: „Semja ichnee razorit’ nado“ (Ihren Samen muss man ausrotten; 1996: 170). Er bedeutet die Umkehrung von Gottes Aufforderung: „Seid fruchtbar und mehret euch!“, die Leyb Kvitko in seinem Pogrompoem 1919 als Hoffnungsschimmer nach erfolgten Pogromen zitiert (1923: 98).

Isaak Babel’ – Ein Pogrom in Prosa  | 233 Gde-to daleko po nej [zemlej; S. K.] ezdila beda na bol’šoj lošadi, no šum kopyt slabel, propadal, i tišina, gor’kaja tišina, poražajuščaja inogda detej v nesčast’e, istrebila vdrug granicu meždu moim telom i nikuda ne dvigavšejsja zemlej. (1996: 170) Irgendwo weit entfernt ritt das Unheil auf einem großen Pferd über sie [die Erde], doch verebbte das Geräusch der Hufe, verlor sich, und Stille, bittere Stille, die manchmal Kinder im Unglück tief beeindruckt, zerstörte plötzlich die Grenze zwischen meinem Körper und der Erde, die sich nirgendwohin bewegt hatte.

Das Donnern der Hufe ist die letzte (Laut-)Spur, die vom apokalyptischen Reiter in der Erzählung bleibt. Sie geht einher mit der Textspur, die direkt zu Puškins Poem Mednyj vsadnik und der apokalyptischen Inszenierung von Falconets Reiterstandbild führt, das dem hilflosen Evgenij hinterherjagt. Anders als Evgenij jedoch kommt der Ich-Erzähler hier zur Ruhe, bevor er „v ubranstve okrovavlennych per’ev“ (im Ornat blutbespritzter Federn; 1996: 170) den Heimweg antritt. Mit dieser Abweichung von der Vorlage wechselt Babel’ das intertextuelle Bezugssystem. Die unfreiwillige ‚Umarmung‘ der Erde, die einen Höhepunkt der Erzählung darstellt, erinnert neben Il’ja Muromec, der Kraft aus der russischen Erde schöpft, an zwei der berühmtesten – freiwilligen – Berührungen mit der Mutter Erde der russischen Literatur: In Prestuplenie i nakazanie (Verbrechen und Strafe, 1866) küsst Raskol’nikov an einem Kreuzweg am Heumarkt (Sennaja ploščad’) in Petersburg die Erde, um sein Vergehen, die Ermordung der Wucherin, zu sühnen.654 In Brat’ja Karamazovy (Die Brüder Karamazov; 1879/80) fällt Aleša „slabym junošej“ (als schwacher Jüngling; 1976 Bd. 14: 328) zur Erde, um „tverdym na vsju žizn’ borcom“ (als fürs gesamte Leben gefestigter Kämpfer; ebd.) wiederaufzustehen. Diese innere Wandlung findet parallel zu Jesu Verwandlung von Wasser zu Wein anlässlich der Hochzeit zu Kanaan – dies der Kontext von Alešas Proskinese – statt. Aleša wird nach diesem Initiationsritus zu einem anderen Menschen, um dann  – wie der Schriftsteller Babel’ – „prebyvat’ v miru“ (in der Welt zu leben; ebd.). Des Ich-Erzählers parodistische ‚Proskinese‘ aus der Istorija moej golubjatni ist ebenfalls Teil eines Initiationsritus: Am Ende der Erzählung weiß der Ich-Erzähler um die Bedrohung des Judentums durch die russischorthodoxe Kultur, für die Dostoevskij steht. Seine Tränen sind, anders als bei Aleša, keine „slezy radosti tvoej“ (Tränen deiner Freude; ebd.), sondern Tränen der Verzweiflung, wie er sie nie wieder empfunden habe (Babel’ 1996: 170). Die Geborgenheit durch die russische Erde ist zweifelhaft: Sie riecht nach Blumen – und nach Grab („Zemlja pachla [...] mogiloj, cvetami“; 1996: 170). Šojls Tod ist damit lexikalisch vorweggenommen.655 654 Raskol’nikov, der vor seinem Kniefall noch sein letztes Fünfkopekenstück los wird (!), bittet auf diese Weise auch die Erde um Vergebung, da er sich auch gegen sie versündigte (1973 Bd. 6: 405). In beiden Fällen finden sich Spuren des heidnischen Kultes um die „mat’ syraja zemlja“ (Mutter Erde; s. StangéZhirovova 1983: 423–428). Auch Dunja wirft sich in Stancionnyj smotritel’ am Grabe ihres Vaters zu Boden (Puškin 1986 Bd. 3: 84). 655 Babel’ setzt damit die Ambivalenz der Erde aus Konarmija fort; dort fungiert „seroj“ (feucht) als Leitbegriff.

234  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Die höchste intertextuelle Dichte platziert Babel’ an den Höhepunkt der Erzählung, nicht aber an den Höhepunkt der Epiphanie.656 Diese ist erst vollzogen, wenn der IchErzähler von der befreienden Blindheit des Nicht-Sehen-Könnens, während der er vom Tode seines Großonkels nur gehört hat, überwechselt in das begreifende Sehen des Toten selbst.

Von Tauben und Fischen – Babel’s intertextueller Dialog mit der Bibel Das unwissende erlebende Ich und das wissende erzählende Ich markieren die kognitiven Eckpunkte der conditio judaica angesichts von (staatlichem) Terror und Antisemitismus. In der Epiphanie der Gewalt gegen Juden kreuzen sich diese beiden Erzählperspektiven. Eingeleitet wird sie mit der Taube. Die Taube tritt in der jüdischen Bibel während der Sintflut in Erscheinung: Nachdem der Rabe nicht zurückgekehrt ist, kündet eine Taube mit einem Ölzweig im Schnabel Noah von ihrem Versiegen (Gen 7, 27–8,22).657 In der christlichen Tradition ist sie Symbol des Heiligen Geistes und damit fester Bestandteil der Ikonographie Jesu. Babel’ verkehrt die alt- wie neutestamentarische Eschatologie der Taube in eine Apokalypse: Die Taube ist in der Erzählung nicht spirituelles Symbol, sondern konkreter Körper. Ihre ursprüngliche Friedenssymbolik wird in ein drastisches Gewaltbild umgewertet: Wie die Gedärme platzen die Friedensträume, die man gemeinhin mit der Taube in Verbindung bringt. Das Taubengedärm und -blut, das dem Jungen über das Gesicht rinnt, fungiert als Realisierung der eingeschränkten Erzählperspektive des kleinen Babel’. Die buchstäbliche Blindheit – „vnutrennosti razdavlennoj pticy [...] stekali s moego viska [...] oslepljaja menja“ (die Innereinen des zerquetschten Vogels rannen mir die Schläfe hinunter [...] machten mich blind; S. 170)  – und die Unkenntnis des jüdischen Kindes, was Pogromakte und -ursachen anbelangt, fallen in eins. Der biblische Prätext um Noah und die Sintflut assoziiert das Element Wasser – und Fische. Die Kulmination der Gewalterkenntnis wird mit genau diesen Tieren – einschließlich ihres hohen Symbolwerts in der jüdischen Kultur – verknüpft. Wie Marc Chagalls Vater verkauft Šojl in Istorija moej golubjatni Fische; zwei Fische, in der jüdischen Kultursemantik Symbole des Lebens und der Fruchtbarkeit (s.  Wischnitzer-Bernstein 1935: 134), im christlichen Kontext Symbole des Lebens in Christu, bringen ihm den Tod:

656 Der Höhepunkt der Erzählung wird narratologisch gesehen noch dadurch gestützt, dass in der Handhabung der Zeit von der Raffung zur Dehnung übergegangen wird. Nach dem chronologischen Vorlauf der Ereignisse vom 20. Oktober 1905 folgt das detailliert geschilderte Weltempfinden des kleinen Jungen im Dreck. 657 Von dieser Episode im Tanach leitet sich die Friedenssymbolik der Taube, die vom göttlichen Frieden kündet, ab. Daneben erscheint die Taube als Sühne- und Brandopfer (Lev 5, 7–11), u. a. als Opfertier anlässlich der Beschneidung des Erstgeborenen (Lev 12). An die Brandopferfunktion knüpft die Stelle aus dem Johannes-Evangelium an, als Jesus die Taubenhändler aus dem Tempel vertreibt (Joh 2, 16). Zur Taube in anderen Erzählungen Babel’s s. Schulte 2006: 94f..

Isaak Babel’ – Ein Pogrom in Prosa  | 235 Ich bylo dva sudaka vsunuty v deda: odin v prorechu štanov, drugoj v rot, i chot’ ded byl mertv, no odin sudak žil ešče i sodrogalsja. (Babel’ 1996: 171) Zwei Zander steckten im Großvater: einer im Hosenschlitz, der andere im Mund, und obgleich der Großonkel tot war, lebte der eine Zander noch und zitterte.

Nicht Jonas steckt im Bauch des Fisches (Buch Jona 2, 1–11), sondern der Fisch im Rachen Šojls. Die lautliche Nähe zwischen „sudak“ (Hecht) und „sud“ (Gericht), der als „strašnyj sud“ (Jüngstes Gericht) auf die Endzeit hinweist, ist eine weitere Inversion, die Babel’ im Zusammenhang mit der biblischen Fischsymbolik vornimmt. Fisch und Vogel spielen im Buch Tobit eine wichtige Rolle. Auch dieser Prätext bleibt von Babel’s (apokalyptischen) Kippfiguren nicht verschont. Das Buch Tobit ist eine Geschichte von Vögeln, die die Blindheit bringen, und Fischen, die diese heilen. Der wohltätige Tobit erblindet, nachdem er einen erdrosselten Juden begraben hat, am Kot von Sperlingen (Tobit 2, 6–10). Der Fisch, der zunächst dessen Sohn Tobias verschlingen will, wird zum Heilmittel. Statt der Innereien des Fisches – genauer statt Herz, Leber und Galle (Tobit 6, 1–5) –, die Tobits Blindheit heilen (Tobit 11, 8–15), wird der kleine Babel’ ‚blind‘ wegen der über die Augen rinnenden Innereien des Vogels.658 Der Fisch, dessen Galle Blindheit heilen könnte, wird in Istorija moej golubjatni nicht wie im Prätext getötet, sondern überlebt, zur Todes,waffe‘ instrumentalisiert, sein Opfer. Am Ende der Narration steht nicht die Selbstoffenbarung des Engels Rafael (hebr.: für „Gott heilt“!), sondern die Offenbarung des Todes. Babel’s Ironie im Umgang mit göttlicher Rettung ist grausam. Dabei hat alles so gut angefangen: Der kleine Babel’ wird als David gefeiert, der über Goliath (den zaristischen Unterdrücker) siegt (1996: 166; S. 1 Buch der Könige, 17). Der betrunkene Repetitor des Ich-Erzählers, „Monsieur Liberman“, feiert in die chassidische Exstase hinein – das Fest, von chassidischen Gesängen und Tänzen, aber auch von Alkohol begleitet, hat etwas Dionysisches – den intellektuellen Sieg des Jungen über die Russen.659 In der geheiligten Sprache Hebräisch besingt er den Sieg eines Volkes, das kraft seines Verstandes „pobedit vragov, okruživšich nas i žduščich našej krovi“ (die Feinde besiegt, die uns umgeben und auf unser Blut warten; 1996: 166). Das komische Pathos des ‚lieben Mannes‘ – oder Mann des Buches, will man die lateinische Bedeutung in „Liberman“ nicht ausschließen – in diesem Karneval der Sprachen (jiddische Gebetsmelodien, hebräischer Trinkspruch, den der

658 Zur Blindheit der alttestamentarischen Väterfiguren Tobit und Jakob sowie des Hohepriesters Eli, die eine große Treue zum Glauben verbürgt, s. Derrida 1997: 27–37. 659 Sicher (1986: 92) deutet das Fest als „rite de passage“, dem als eigentliche Initiation der Eintritt des Jungen in die Welt der Gewalt folgt, als ihn Makarenko mit der Taube schlägt. Tatsächlich erinnert Babel’ bei der Beschreibung des Festes auch an Pessach: Den Übertritt ins Gymnasium korreliert er so mit dem Überschreitungsfest. Initiationsriten von der Unschuld in die Schuld (des Tötens) beschäftigen Babel’ auch in Moj pervyj gus’ (Meine erste Gans) und in Smert’ Dolgousova (Dolgousovs Tod) der Konarmija; ebd.).

236  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild französisierte „Liberman“ mit einem „Vivat!“ beendet; ebd.) paart sich mit der Komik der Hypertrophierung. Später wird aus dem Vergleich um David und Goliath bittere Wahrheit.660 Dem Freudenfest folgt dann in der Erzählung die Totenklage, gemäß dem Wort des Propheten Amos: „Eure Feste sollen sich in Trauer verwandeln und alle eure Freudenlieder in Totenklage“ (Amos 8, 10, s. auch Tobit 2, 6). Der einzige, der in der Erzählung außer Liberman noch weint, ist der kleine Babel’, von Makarenko geschlagen, gedemütigt und mit dem Fluch der Ausrottung behaftet (S. 170).661 Der einst gefeierte Puškinrezitator, der hierdurch von Babel’ durchaus ironisch konstruiert in die Nähe des großen Sängers und Psalmenverfassers David rückt, ist dem Mob ebenso hilflos ausgesetzt wie Evgenij aus Mednyj vsadnik Falconets Reiterdenkmal. Die Erzählung wechselt vom Siegerdiskurs um David, der Goliath bezwingt, zu einem anderen wichtigen Paar der jüdischen Heiligen Schrift, zu David und Saul. Saul ist der hebräische ‚Namensvetter‘ von jidd.: „Shoyel“, der als Lügenbaron mit seinen „pobasen’ki“ (Histörchen; 1996: 165) zur komischen Reminiszenz der literarisch tätigen Davidfigur wird. Dieser Saul, von Samuel zum ersten König über alle Stämme Israels gesalbt, wird von Gott verworfen – er tötet nicht genügend Amalekiter (s. 1 Sam 15). Auch Šojl aus der Erzählung hat sich nur als Zaungast am polnischen Aufstand gegen die Russen beteiligt, und selbst das ist nicht gewiss (Babel’ 1996: 165).662 Der alttestamentarische Saul stirbt durch das eigene Schwert (1 Sam 31). Der Saul der Babel’schen Erzählung – die biblische Vorlage bagatellisierend – stirbt durch seine Fische.663 Ein weiteres, für den jüdisch-christlichen Dialog wichtiges Narrativ wird ebenfalls unterlaufen: David, der christlich als Präfiguration Jesu (jüdisch als Präfiguration des Messias) gelesen wird, trifft in Istorija moej golubjatni auf Makarenko, den Krüppel, der sich zum Gottessohn stilisiert:664 Menja, što l’, bog syskal, – skazal on bezžiznenno, – ja vam, što l’, syn čelovečeskij ... (1996: 169) Hat mich denn Gott auserwählt ...,“ sagte er leblos. „Bin ich denn Gottes Sohn für euch, he? 660 Die Allegorie um König David ist Teil von Babel’s Drama Zakat (Sonnenuntergang, 1926–1928), das auf einer gleichnamigen, 1913 verfassten Erzählung beruht. Sie betont die Unvermeidlichkeit eines historischen und sozialen Wandels. Arye-Leyb erzählt von Davids Aufstieg, seinem Ruhms und der Eroberung Bat-Schebas, der Frau des Hethiters Urija (s. Sicher 1986: 171f.). 661 Šojl wiederum muss sterben, weil er die Russen mit Flüchen überhäuft (1996: 171). Für Kuz’ma ist dies ein heroischer Akt (Carden 1972: 170f.). 662 In die Folgegeschichte Pervaja ljubov’ (2006 Bd. 1: 165–17) karnevalisiert Babel’ auch die Bindung Isaaks (Gen 22; s. Kap. 12). Der Ich-Erzähler, der auch Isaak heißt (!), schluchzt „izvivajuščim klubkom“ (wie ein zuckender Knäuel, S. 174) ob der hoffnungslosen Liebe: „S pyaljuščimi ščekami mat’ tesnila Galinu k vychodu, potom ona kinulas’ ko mne i sunula šal’ mne v rot, čtoby podavit’ moj ston.“ (Mit glühenden Wangen drängte meine Mutter Galina zum Ausgang, dann stürzte sie zu mir und stopfte mir den Schal in den Mund, um mein Stöhnen zu unterdrücken; ebd.) 663 Für Patricia Carden ist Šojls Tod ein Akt der Selbstverwirklichung: „Shoyl’s death is the moment of realization of his fantasies, when he becomes fully himself by acting out his illusion of heroism“ (1972: 169). 664 Die theologische Linie [des Heils], die von David zu Jesu gezogen wird, rührt u. a. von Betlehem als beider Geburtsort.

Isaak Babel’ – Ein Pogrom in Prosa  | 237 Jesus heilte einst einen Aussätzigen (Luk 5, 12–16). Diesem trägt er auf, als Beweis seiner Heilung das Reinigungsopfer darzubringen, wie es Gott Moses befahl (s. Leviticus 14): Zu diesem Ritus gehören zwei Vögel, von denen der eine zu schlachten und der andere, nachdem er ins Blut des anderen Vogels getaucht wurde, freizulassen ist (Lev 14, 4–7). Der lepröse Makarenko (s. Babel’ 1996: 169) kehrt dies grausam um (Sicher 1986: 92). Ausgerechnet der Aussätzige besprengt den Juden mit Vogelblut. Ausgerechnet der ‚Sohn Gottes‘ ermordet Babel’s (Friedens-)Taube. Ordnung in diese verkehrte Welt bringt schließlich Kuz’ma, seinem etymologischen Ursprung „cosmos“ (gr. für „Schöpfung, Ordnung, Schönheit“) alle Ehre machend – mit einem heidnischen Brauch! Der Namensvetter des christlichen Heiligen und Märtyrers mag, ostslavischem Volksglauben entsprechend, den Tod als neue Seinsweise in einem anderen ‚Haus‘ dem späteren Grab verstehen. Ein ostslavisches Klagelied verortet das „feuchte Gräblein“ (syraja mogiločka) im gelben Sand.665 Gelb kommt dem jungen Ich-Erzähler auch die Gasse vor, in der Makarenko die Taube zerquetscht und Šojls Tod vorweggenommen wird (Babel’ 1996: 169). Šojls Tod, Schlusspunkt einer verkehrten Welt, in der sämtliche jüdische Heilsvor­ stellungen unterlaufen werden, vollendet das apokalyptische Empfinden und die Erkenntnis der konkreten Gewalt. Babel’ ergänzt die positive Symbolik der Fische (Repräsentanten des Lebens) um ihr Gegenteil. In der jüdischen Vorstellungswelt ist der Fisch auch Sternbild der Endzeit (Wischnitzer-Bernstein 1925: 134). Babel’ spielt mit den Fischen eine letzte verborgene Sinnlinie seiner apokalyptischen Inszenierung ein. Mit ihr diskreditiert er die Zeit als letzte Bastion der ortlosen, mit Exil geschlagenen Juden. Biblisch vorgeformte Eschatologie enttarnt er als Illusion. In Istorija moej golubjatni, die bereits im Titel Erzählen und Zeitlichkeit in den Vordergrund rückt, ist das Pogromgeschehen den Fakten entsprechend im Oktober angesiedelt. Auf der Ebene der Präsentation kehren jedoch zwei weitere Monate wieder, die im jüdischen Kalender traditionsgemäß mit Tod und Vernichtung in Verbindung stehen: Nachdem sich um die Mittagszeit die Nachricht vom Pogrom und vom Tode Šojls verbreitet, ergreift der Vogelhändler Ivan Nikodymič die Flucht. Ein Pfau sitzt ihm dabei auf der Schulter „kak solnce na syrom osennem nebe, on sidel, kak sidit ijul’ na rozovom beregu reki, raskalennyj ijul’ v dlinnoj cholodnoj trave.“ (wie die Sonne auf einem feuchten Herbstnebel, er sitzt so, wie der Juli am rosafarbenen Flussufer, der überhitzte Juli im langen kühlen Gras; Babel’ 1996: 168) Die ästhetische Verzahnung der Formulierung durch die mehrmalige Wiederholung des stimmlosen „s“ (solnce na syrom osennem nebe, on sidel, kak sidit ...) evoziert wie der anthropomorphisierende Vergleich mit der Sonne und dem Monat Juli die Hitze des Mordens aus Konarmija.666 Der Juli, der aufgrund der zweifachen Nennung ebenso 665 „Ne ubojsja, lebed’ belaja, / Ty syroj-to da mogiločki, / Bol’šoj da zemli-materi, / Pesočku da želtogo. / Živi da obživajsja / Bole vse na veki dolgie.“ (Fürchte dich nicht, weißer Schwan / Du, das Grab das feuchte, / die Mutter Erde, die große. / Lebe, ja lebe / lange, lange Jahre; Čistjakov 1982: 115f.). In derartigen Klageliedern (ru.: pričitanija) wird der Tote häufig als „golubuška“ (Täubchen) angesprochen (s. Čistjakov 1982: 116, 117 und 121). Über die Vögel, hier metaphorisch gebraucht, und die Farbe, entsteht also eine Äquivalenz zwischen Klagelied und Babel’s Kurzprosa. 666 Die Erzählungen, sofern sie von Ljutov-Babel’ datiert sind, spielen von Juli bis September 1920.

238  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild herausragt wie durch den das Heiße und das Kalte gegenüberstellenden Vergleich, korrespondiert mit dem Monat Av des jüdischen Kalenders. Am neunten dieses Monats, dem Tischa be-Aw, gedenken die Juden der Zerstörung des Ersten und des Zweiten Tempels in Jerusalems. Der Tischa be-Aw ist ein Tag der Trauer und Symbol der Zerstörung (s. hierzu Gal-Ed 2001: 91–103). Nicht umsonst evoziert diese Beschreibung des Vogelhändlers mit Pfau den Erfinder der Vierten Internationalen Gedali aus Konarmija, der – mit Hut und Vogelfeder geschmückt – das Wesen der sozialistischen ‚Heilsgeschichte‘ erklärt: Die russische Revolution ist von der (polnischen) Konterrevolution nicht zu unterschieden. Beide enden tödlich (Babel’ 2002: 25–28). Die Fische sind das Sternbild für den jüdischen Monat Adar (entspricht Februar/März). In den Adar fällt Purim, das Fest, an dem die Rolle Ester (hebr.: Megillat Ester) verlesen und – wie im Purim-Spiel vergegenwärtigt – die Rettung der Juden, die der persische König Xerxes vernichten wollte, durch die tapfere Frau gefeiert wird. In Istorija moej golubjatni gibt es keine Ester, die die Juden vor dem Pogrom zu schützen vermag. Das zyklisch wiederkehrende Sternbild der Fische, in dem jedes Jahr aufs Neue Esters Heilstat und Gottes Schutz gedacht wird, verblasst vor der zeitgleichen Symbolik der Endzeit. Die Verschränkung der mythischen und der historischen Zeit, die Mikhail Krutikov für die jiddische Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts zugunsten der historischen Dimension konstatiert (2001: 115), gilt auch für Babel’. Dass die Erzählung mit dem Wort „pogrom“ (1996: 171) schließt – das Wort wird hier überhaupt zum ersten Mal genannt –, markiert die Übermacht der Gewalt (der Historie). Hoffnung auf Erlösung, wie sie aus der mythischen Zeit überliefert ist, bleibt da keine. Zwar können sich die Eltern vor dem Pogrom flüchten und bei Nachbarn verstecken, doch bedeutet dies allenfalls die Fortsetzung von Gewalt – und von Erzählen (es folgt Pervaja ljubov’). Die Epiphanie der Gewalt in Istorija moej golubjatni ist vollzogen. Doch die Türen in die Ewigkeit sind zugeschlagen.

9.3 Der Barbarei trotzen: Yisokher Ber Ribak und Isaak Babel’ im Vergleich Anders als An-Ski, der wahlweise in jiddischer oder russischer Sprache schreibt, entscheidet sich Babel’ für das Russische als Literatursprache. Dennoch entfernt er sich nie ganz vom Jiddischen (Sicher 1984: 177).667 Russisch und Jiddisch stehen bei ihm poetisch in einer Verbindung: Jiddische Begriffe finden sich in Babel’s Tagebuch (Urban 1990: 184), Motive der jiddischen Folklore in Konarmija (s. Friedberg 1978: 192–203).668 Talmudische Erzählelemente und bibelhebräische Untertöne (Wiederholungen, Rhythmus, syntaktische Anschlüsse mit „i“/„und“ und „togda“/„dann“), mit denen Babel’s Texte angereichert sind, eignen auch dem Jiddischen (Sicher 1984: 175). Sie strukturieren Babel’s ornamentale Prosa mit. Babel’ begegnet Mendele Moykher-Sforim, dem ‚zeydn‘ (Großvater) der jiddischen Literatur, bis zu dessen Tod 1917 mehrmals; 1918 erschien Šabos-Nachamu (Shabes-Nakhmu), eine Adaptation einer jiddischen Legende über den ostjüdischen Spaßmacher Hershele Ostropoler.669 Den legendenumrankten Narren greift er in seiner Erzählung Rabbi aus Konarmija wieder auf und vermittelt so – laut Sicher (1984: 169) – dem russischen Leser seinen jüdischen Humor und den Einfluss der jiddischen Literatur auf sein Schaffen. In den 1920er Jahren übersetzt Babel’ Sholem-Aleykhem ins Russische.670 Er erstellt die Untertitel für die Stummfilmadaption von Sholem-Aleykhems Menakhem-Mendl (russ. Titel: Evrejskoe sčast’e [Jüdisches Glück], 1925). 1926 erscheint ein Drehbuch auf der Grundlage von SholemAleykhems Blondzhende shtern (Vagabundensterne, 1912; Sicher 1984: 168). Umgekehrt werden Babel’s Kurzgeschichten, die sich thematisch mit Texten seiner jiddisch schreibenden Zeitgenossen Bergelson, Der Nister, Markish oder Hofshteyn berühren, unter dem Titel Dertseylungen (Erzählungen) 1925 von der Kiever Kultur-Lige

667 Vielen ostjüdischen Autoren vergleichbar ist auch Babel’ im Kontext der Triglossie von Russisch, Jiddisch und – wenn auch in geringerem Maße – Hebräisch zu sehen (Sicher 1984: 167). Wie im Falle Chagalls redeten die (Groß-)Eltern zu Hause Jiddisch miteinander (s. Markiš 21997: 12 und Krumm 2 2006: 11–12). Die Sprache der Öffentlichkeit und des Alltags war Russisch, die Sprache der Religion das Hebräische. 668 In seinem Brief vom 2. April 1928 an F.A. Babel’ schreibt er von „a jid, a šiker“ (einem Juden, einem Trinker; 2006 Bd. 4: 211). 669 Sicher in: Freidin 2009: 197. Der „Sabbat des Trostes“ meint den ersten Sabbat nach dem 9. Aw, benannt nach den ersten Worten des Wochenabschnitts (hebr. Haftara): „Tröstet, tröstet mein Volk [...]!“ (Jes. 40, 1). Babel’ plant zu diesem ostjüdischen „Till Eulenspiegel“ (Peter Urban), der auch Itsik Manger oder Yekhiel Trunk literarisch inspiriert, einen Erzählzyklus (Lauer 2000: 646). Zu Hershele Ostropoler s. EJ 2006 Bd. 12: 1516 und http://de.academic.ru/dic.nsf/dewiki/610317; 5.3.2012 (die Angaben zu Trunk sind hier fehlerhaft). 670 1926–1927 erscheint eine zweibändige, von Babel’ herausgegebene Ausgabe von Sholem-Aleykhems Werken in der Übersetzung von S. Gecht. 1936 beauftragt ihn der Sowjetverlag Akademija (Akademie) mit der – nicht zustande gekommenen – Edition von Sholem-Aleykhems Gesamtwerk, den er in den letzten Lebensjahren wieder mit großer Begeisterung liest (Sicher 1984: 179, Krumm 22006: 177). Zu intertextuellen Bezügen zwischen Sholem-Aleykhem und Babel’ s. Žolkovskij 1999: 255–278.

240  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild ediert (Sicher 1984: 173).671 Babel’ ist – wie Marc Chagall – mit Mikhoels befreundet; die Bekanntschaft mit Dovid Bergelson bringt gegenseitiges übersetzerisches Engagement mit sich.672 Babel’s erste Frau Evgenija Gronfeyn, eine Künstlerin mit westeuropäischer Ausrichtung (s. Sicher 1984: 169), könnte das Bindeglied zu Ribak als Künstlervertreter der Kultur-Lige gewesen sein. Doch unabhängig davon, ob sich die beiden persönlich begegneten oder nicht, besteht zwischen Babel’s Pogromtext Istorija moej golubjatni und Ribaks Pogrombild eine tiefe Verwandtschaft. Den Text und das Bild zweier Juden  – Babel’s „ja ne vybral sebe nacional’nosti [...] Ja evrej, žid“ (ich habe mir die Nationalität nicht ausgesucht [...] Ich bin Jude; Paustovskij 2002: 165) gilt ebenso gut für Ribak – verbinden thematisch-motivische, aber auch ästhetische Äquivalenzen. Beider Bewältigungsversuche von Pogromen unterlaufen die „Normen des Adäquaten“ (Wertheimer 1986: 11) mittels eines ästhetischen Schocks. Die (kindliche oder Kindlichkeit fingierende) Naivität des Blicks, aus denen Ribaks Pogrombild und Babel’s Pogromtext geboren sind, kollidiert mit individuellen und kollektivkulturellen Mechanismen, Wahrnehmung und Leben am (Mittel-)Maß der Normalität jenseits von Gewalt auszurichten.673 Ribak und Babel’ zeigen Täter wie Opfer. Im Zentrum des Bild- und des Textgeschehens steht jeweils ein jüdisches Kind und seine Familie. Die Täter tauchen, wenn auch nur ­peripher, bei Ribak im rechten Bildeck, bei Babel’ als Kulisse zur Epiphanie des jungen ­Ich-Erzählers auf. Babel’s Beschreibung eines Zuges der Pogromisten wirkt wie die Übersetzung von Ribaks aufgebrachtem Mob aus dem Bild in die Literatur. Beide Darstellungen eint die Charakterisierung als Prozession, die im Namen des Allerhöchsten und/oder des Zaren der Gewalt huldigt: Bei Babel’ demoliert ein Bauer das Haus Ėfrussis, „poka na ulice ne pokazalsja krestnyj chod, šedsij ot dumy. Stariki s krasennymi borodami nesli v rukach rasčesannogo carja, chorugvi s grobovymi ugodnikami metalis’ nad krestnym chodom, vosplamennye staruchi leteli vpered.“ (bis auf der Straße, von der Duma kommend, ein Kreuzzug erschien. Alte mit gefärbten Bärten trugen das Bild des frisierten Zaren, über dem Zug flatterten Kirchenfahnen mit Heiligenbildern [wörtl: Gerechten der Gräber], fanatische alte Weiber stürmten voraus; 1996: 171). Ribak korreliert Kreuz und Beil; zum Kreuzzug gesellt sich bei Babel’ der Bauer hinzu, den Hammer an die Brust gedrückt (ebd.). Beide inszenieren die Aggressoren mit Insignien der (religiösen und/oder weltlichen) Macht und primitiven

671 Sicher schreibt hierzu: „There is no indication that this is a translation and Babel may have had a hand in this Yiddish publication of his stories. D. Feldman’s translation appeared the same year in Kharkov, followed by Gitl Mayzl’s in the Warsaw Literarishe bleter.“ (1984: 180) 672 Babel’ übersetzt Bergelsons Erzählung Dzhiro-Dzhiro (Giro-Giro, 1930) ins Russische, Bergelson Babel’s Drama Vozchod solnca (Der Sonnenaufgang, 1928) ins Jiddische; die geplante Aufführung im GosET kommt nie zustande (Sicher 1984: 173). Auch in hebräischer Sprache erscheinen Erzählungen Babel’s, so für die Sammlung Bereshit (Im Anfang; Luplow 1984: 256). 673 Jürgen Wertheimer betont im Hinblick auf eine methodisch auszulotende Ästhetik der Gewalt deren Dialektik zwischen der Repräsentanz des öffentlichen Bewusstseins und der provokativen Dissonanz, die eine Gewaltdarstellung im Bewusstsein erzeugt (1986: 11).

Yisokher Ber Ribak und Isaak Babel’  | 241 Tatwaffen, die die ebenso primitiven Beweggründe der antisemitischen Pogromisten bloßlegen.674 Ribaks Pogrombild und Babel’s Istorija moej golubjatni koppeln Gewalt und Sehen aneinander. Die motivische Äquivalenz reicht hier über die Inhaltsebene hinaus in den medial verschiedenen ästhetischen Ausdruck hinein. An dieser Stelle weiten sich beide Artefakte zu einer Metareflexion: Ribaks bild- und Babel’s wortkünstlerische Fiktio­nali­ sierungen von Gewalt bergen kunsttheoretische Aporien zu deren Darstellbarkeit. Absolute Unmittelbarkeit ist dem realen Gewaltgeschehen vorbehalten: „[...] das Authentische [der Gewalt – S. K.] ist prinzipiell vorsprachlich, nicht mehr darstellbar, jenseits der Zeichen und selbst noch der Bilder“ (s. Grimminger 2000: 22). Nach dem Verhallen des Pogromdonners bleibt Ribak und Babel’ nichts anderes übrig, als die reale Pogromgewalt als das Bereits-Gewesene und damit Abwesende mit einer medialen Vergegenwärtigung einzuholen. Ribak, Augenzeuge eines Pogroms, übersetzt in die Unmöglichkeit der authentischen Gewaltdarstellung den Blick, mit dem er dem tatsächlichen Pogrom einst folgen musste. (Auch Babel’ soll Zeuge mindestens eines Pogroms gewesen sein; Krumm 2 2006: 18.) Das jüdische Kind auf Ribaks Bild wendet sich zum Pogromzug um. Doch ersetzt den wahrnehmenden Sehapparat das Weiß leerer Augenhöhlen. Die übliche Widerspiegelung des im rechten Bildeck evozierten Pogromgeschehens im Auge des Betrachtenden ist ausgesetzt. Das hat jedoch keineswegs semantische Leere zur Folge. Der leere Blick des Kindes – ein Blick der Trauer, weiß wie die Gewänder der Juden an Jom Kippur, die ja Totengewänder sind – ist vielmehr erfüllt von der Dialektik von Sehen und Nicht-Sehen, von Nicht-Sehen-Können (im Sinne von Nicht-Ertragen-Können) und SehenMüssen.675 Der zurückgewandte Blick bezeugt die Unabwendbarkeit des Geschehens ebenso wie die Unmöglichkeit einer mimetischen Repräsentation. In diesem Blick und der ihn umgebenden Bildgestaltung entäußert sich zugleich das unbedingte Bedürfnis, die Pogromgewalt zu zeigen. Ribaks Elemente des verfremdenden Verweisens (Primitivismus, Zweidimensionalität, Alogik des Raumes und der Proportionen) legen eine ästhetische Folie auf die reale Gewalt, die dank ihrer antimimetischen Stilistik das Bild auf eine ethische Reflexion der Pogrome und ihrer visuellen Repräsentanz hin entgrenzt. Seine Ästhetik ‚stört‘ das habitualisierte Wahrnehmen und Hinnehmen von Pogromen, die im Ostjudentum fast zum Alltag gehörten. Der externe Betrachter ist nicht nur mit dem Pogrombild, sondern auch mit dem bildimmanenten Blick des Kindes konfrontiert. Dieses doppelte Sehen holt den Rezipienten ins Bild herein und nah an die Opfer (das bedrohte Judentum) heran. Die Augen der Juden im Bild werden zu Fixpunkten, von denen aus das synsemisch und polysem dargebotene Gewaltgeschehen erschlossen wird. Die Simultaneität der Bildrezeption ist um die narrativen Verfahren der Ikone ergänzt. Die mediale Unmittelbarkeit der Gewaltdarstellung wird von 674 Interessanterweise unterwandern beide Artefakte den (zumindest bis zum Zweiten Weltkrieg gültigen) Topos von der ausschließlichen Zuordnung von Gewalt und Töten zur Männerwelt (vgl. Virginia Woolfs Drei Guineen, zit. bei Sontag 2005: 9–13). Auf Ribaks Bild ist parallel zu Babel’s Beschreibung eine am Pogrom beteiligte Frau zu sehen. 675 Vielleicht ist der Blick zurück auch Ausdruck des tatsächlich nicht Sehen-Könnens eines Erblindeten, der die Aggression und Gewalt der pogromščiki sehr wohl aber hört?

242  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild der logisch-sukzessiven Decodierung der einzelnen Bildgeschichten unterwandert. Welches Bildgeschehen folgt welchem? Die offen gehaltene Abfolge der Episoden ohne Anfang und ohne Ende heißt in die Realität übersetzt: Ein Pogrom kann sich jederzeit wiederholen. Die Entblößung der Juden und des Tötens ist deshalb so drastisch, weil der enthemmte Tötungs­ trieb der Täter, der die ostjüdische Kultur ins Chaos reißt, von der ästhetischen Ordnung (einer kindlichen Wahrnehmung) gerahmt wird, die auf die gängige zentralperspektivische Deutungshoheit (der Erwachsenen?) verzichtet. Die Ambivalenz einer (Erwachsenen-)Perspektive, die verstehen will, und einer kindlichen, die Gewalt gegen Juden (noch) nicht verstehen kann, prägt auch Babel’s Text. Die Epiphanie der Pogromgewalt gelingt in Istorija moej golubjatni durch die Wissensdifferenz zweier Sichtweisen, der kindlichen Perspektive des Protagonisten und derjenigen des ‚älteren‘ Erzählers (und Alter Egos des jungen Juden). Letzterer blickt aus der Distanz auf das Gewaltgeschehen. Zugleich schlüpft er in die Innenwelt des kindlichen Ich. Mit dieser Doppelperspektive, der auktorialen Außen- und der personalen Innenschau (Extradiegesis und Intradiegesis), die ein literarischer Text dem Rezipienten bieten kann, wird der Dialog zwischen der Erzählung und seinem Leser stimuliert. Ähnlich der Doppelung des Blicks in Ribaks Bild wird durch die (zeitliche) Doppelperspektive in Babel’s Erzählung die Reflexion von Pogromgewalt angestoßen. Das Sehen von Gewalt und seine Einschränkung macht Istorija moej golubjatni zum literarischen Doppelgänger des Ribak’schen Bildes.676 So wie Ribak das (visuell) zeigt, was das Kind – tatsächliche Blindheit hin oder her – nicht sehen kann, enthüllt Babel’s Erzähler in Istorija moej golubjatni mit literarischen Mitteln, was der Protagonist nicht sehen will. Zur Blindheit, mit der der junge Babel’ durch das Taubengedärm geschlagen ist, kommt nämlich sein gewolltes Blind-Sein hinzu: Golubinaja nežnaja kiška polzla po moemu lbu, i ja zakryval poslednij nezaleplennyj glaz, čtoby ne videt’ mira, rasstilavšegosja peredo mnoj. [...] Ja zakryl glaza, čtoby ne videt’ ego. (1996: 170) 676 Auch Babel’s Einsatz der Farben Weiß, Rot und Gelb stützt dieses Doppelgängertum: Nach der vorübergehenden Erblindung des Jungen und ersten Konfrontation mit dem Tod taucht Weiß als – jüdische und slavische – Farbe des Todes und der Trauer im Text auf (1996: 170). Wie viele von Ribaks ukrainischen Kosaken zu Pferde setzt Babel’ Rot für die Täterseite ein: Ein ethnisch nicht spezifizierter „vodovoz“ (Wasserträger) geht mit rotem Gesicht herum (S. 167), das Gesicht Makarenkos ist „iz krasnogo žira“ (aus rotem Fett; S. 168), ein pogromlüsterner Bauer „podnjal krasnuju vozžu“ (hob die roten Zügel; S. 169). Auch Gelb als Farbe des Judentums kommt zum Einsatz. Das Gesicht des Taubenverkäufers ist gelb (S. 167). Die „pustynnyj pereulok“ (wüste Gasse), in der Makarenko und das Pogrom wüten, ist „utoptannyj želtoj zemlej“ (von gelber Erde zerstampft; ebd.); Gelb wird weiterhin mit wüster Ödnis korreliert: „Želtyj pereulok snova ostalsja želt i pustynen.“ (Die gelbe Gasse blieb erneut gelb und öd; S. 169) Auch in Konarmija steht das Gelb des Judentums dem „fleshy reds and crimsons of the violent, sexual Cossacks“ gegenüber (Sicher 1986: 86). Paustovskij nennt als generelles Charakteristikum von Babel’s Schreibweise ihre Visualität: „Ja byl poražen tem obstojatel’stvom, čto slova u Babelja, odinakovye so slovami klassikov, so slovami drugich pisatelej, byli bolee plotnymi, bolee zrimymi i živopisnymi“ (Der Umstand, dass Babel’s Worte, obgleich identisch mit den Worten der Klassiker, denjenigen anderer Autoren, plastischer, sichtbarer und malerischer waren, verblüffte mich; 1970: 157f.). Über Babel’s ekphrastisches Schreiben in Konarmija und Walter Paters Einfluss auf Babel’s Ästhetizismus s. Bullock 2009: 499–529.

Yisokher Ber Ribak und Isaak Babel’  | 243 Weiches Taubengedärm rann mir die Stirn herab, und ich schloss das andere, nicht verklebte Auge, um die Welt nicht zu sehen, die sich vor mir auflöste. [...] Ich schloss die Augen, um sie nicht sehen zu müssen.

Hier, im Augenblick der gewollten Blindheit, setzt die Sukzessivität der literarischen Narration zugunsten einer emotionalen Unmittelbarkeit aus, wie sie gemeinhin dem (eher) simultanen Bild eigen ist. Die Pogromhandlung wird durch einen Sinneswechsel vom Visuellen zum Auditiven ausgesetzt. Vor der archaischen Lust des Tötens, die sich während der (von Babel’ und Ribak vergegenwärtigten) Pogrome ihren Weg bahnt, suchen beide Darstellungen Schutz bei der – archaischen – Mutter Erde. Babel’s junger Protagonist erlebt, geborgen in der Feuchtigkeit der Erde, eine prälogisch-mythische Vereinigung mit ihr. Auch der kleine Junge in Ribaks Bild wird in den Schoß der Erde aufgenommen, die in ihrer Funktion als Ort des Todes (Grab) oder des (Über-)Lebens ambivalent bleibt. Babel’s Jungen umfängt die „uspokoitel’naja nemota“ (beruhigende Stille; 1996: 170) der Erde. Doch der Hufschlag des apokalyptischen Reiters macht die Erde zu einem ebenso ambivalenten Ort wie in Ribaks Bild. Die von den Pogromen gestörte jüdische Ordnung der Dinge betrifft Zeit und Raum. Babel’ und Ribak führen bei ihrer wort- und bildkünstlerischen Darstellung von Gewalt den Rückzug ins Erleben herbei. Die erniedrigte Kreatur, die wir sehen beziehungsweise lesen, misst mit ihrem ambivalenten Blick den – gemalten beziehungsweise geschriebenen – schmalen Grat, der Leben und Tod voneinander trennt. Ribaks Bild fängt dies auch mit der Darstellung der gefesselten Juden ein, deren eines Auge offen und deren anderes geschlossen ist (s. Kap. 7 und 8.4). Šojl aus Babel’s Istorija moej golubjatni hat diese Schwelle in den Tod überschritten, nicht aber der junge Protagonist. Er, der neben dem geschlossenen, verklebten Auge auch das noch offene schließt, um der todbringenden Realität zu entrinnen, soll die Augen des Toten schließen, die, obgleich offen, das Leben nicht mehr schauen. Die sprachlich verankerte Semantik des Bildmotivs mit einem offenen und einem geschlossenen Auge und das literarisch gestaltete unauslöschliche Bild des kleinen Babel’, dem Taubengedärm über ein Auge rinnt, mündet in dieselbe Epiphanie: kein Ostjudentum ohne antijüdische Ausschreitungen. Die Darstellungsmöglichkeiten von Pogrom und Gewalt sind bei aller inhaltlichen und formalästhetischen Nähe zwischen Ribaks Bild und Babel’s Text aufgrund ihrer grundsätz­ lichen medialen Differenz natürlich verschieden. 677 Ribaks Judenkörper und -gesichter frappieren durch ihre stilisierte Deformation (auch durch Verflachung), der Körper des toten Šojl im Text durch die schonungslos plastisch-realistische Beschreibung: Seine Brust ist eingedrückt, der Bart ausgerissen; seine Beine, „položennye vroz’, byli grjazny, lilovy, mertvy“ (die verdreht dalagen, waren schmutzig, lila, tot; 1996: 171). Babel’ erreicht durch seinen an 677 Dies zieht konsequenterweise eine Differenz der Rezeption nach sich, wie Veronika Darian unter Berücksichtigung Rolf Grimmingers betont: „Es handelt sich bei der bildlichen Darstellung von Gewalt mit Grimminger um ‚öffentlich besichtigte‘, theatralisch zu nennende Schreckensbilder im Gegensatz zur ‚privat gelesenen Hinrichtung‘ in Form eines Textes.“ (Darian 2007: 175) Mir scheint der Unterschied eher in den medial verschiedenen Techniken zu liegen, mit denen Gewalt codiert und anschließend decodiert wird. Ein Gewaltbild kann auch intim in einem Museumsarchiv betrachtet, ein Gewalttext in einer öffentlichen Lesung rezipiert werden.

244  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild den literarischen Vorbildern Maupassant, Tolstoj und Gogol’ geschulten, grotesk überformten Realismus eine hypertrophierte Mimesis des Toten, die im Verein mit der verfremdenden Perspektive des Kindes ihre volle Wirkung entfaltet. Sie zieht eine Imagination nach sich, die als Folge der mittelbar-literarischen Stringenz das unmittelbar Abwesende des Todes vergegenwärtigt. Ribak spielt gerade durch die übertrieben arealistische und apsychologische Darstellung das reale Pogromgeschehen in den Vordergrund. Ribaks Darstellungen sind so stark ästhetisiert, dass man hier – im Unterschied zu den Photographien, mit denen Susan Sontag sich befasst – die Wirklichkeit nicht vor ihrer Aufhebung in einem visuell-medialen Simulacrum verteidigen muss.678 Was leistet Ribaks Bild, was Babel’s Text in Bezug auf Gewalt? Die heuristische Komplementarität beider Artefakte ist da am Bedeutungsvollsten, wo ungeachtet der medialen Divergenzen kulturelle Konvergenzen in beider Pogromästhetik auftauchen. Babel’s Istorija moej golubjatni vereint die innertextliche naive Perspektive des erlebenden Ich mit der Virtuosität der intertextuellen Referenzen. Ribaks Bild kombiniert eine naive Malweise mit subtilen interikonischen Referenzen auf verschiedene künstlerische Traditionen. Babel’ führt mit der Evokation Puškins und Dostoevskijs, Ribak durch die Übernahme bildästhetischer Verfahren aus Ikone und Lubok einen Dialog mit der russischen Kultur. Aus dem interikonischen und intertextuellen Gewebe, in das Ribaks Bild und Babel’s Text eingebunden sind, sprechen zwei kluge wie verletzliche Urhebersubjekte. Wie im Falle Chagalls und vieler im Zusammenhang mit seinen Bildern behandelten Texte sind Intertextualität respektive Interpikturalität hier Vehikel der Interkulturalität. Babel’s und Ribaks ästhetische Überschreitungen in genuin russische Artefakte hinein, mit denen sie die Kreativität kultureller Heterogenität hochhalten, sind eine Gegenreaktion auf die gewaltsamen Ausschreitungen gegen Juden, hinter denen das (unbewusste und destruktive) Bedürfnis nach kultureller Homogenität steht. Ihre ästhetisch vermittelte Gewalt Ribaks und Babel’s als „Repräsentation von Unmittelbarem“ (Grimminger 2000: 21) birgt kulturelle Implikationen, die ideologisch bedingte Zurückweisungen der (ost)jüdischen Kultur desavouieren. Beide Artefakte verbindet die Entlarvung von Gewalt als dem Anderen der Kultur. Sie beide bestätigen Walter Benjamins großes Wort: „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein“ (1980: 696).

678 vgl. Jean Baudrillards Agonie des Realen (1978) und John Bergers Gegen die Abwertung der Welt (2001).

10 In der Schrift getrennt, in der Schrift geeint – Marc Chagall und Isaak Babel’

Bevor Dovid Hofshteyn wie seine Schriftstellerkollegen Perets Markish, Leyb Kvitko, Itsik Fefer oder Dovid Bergelson am 12.8.1952 in der Ljubjanka der Hinrichtung entgegengeht, hat er allabendlich „Psalmen der Trauer ob der Zerstörung des Tempels in Jerusalem“ auf den Lippen (Jendrusch 2001: 14; vgl. Ps 79). Zwölf Jahre zuvor, am 27.1.1940, wird Isaak Babel’ im selben Gefängnis als vermeintlicher Spion hingerichtet. Welche Dichter- oder Prophetenworte ihm in seinen letzten Stunden in den Sinn kamen, wissen wir nicht. Während seiner Zeit als Kriegskorrespondent in der Ersten Reiterarmee erinnert er sich an Ezechiel, Jesaja und an die Klagelieder des Jeremias (Dohrn 1993: 98, Babel 2006 Bd. 2: 336, 338f.). Marc Chagall, wie Ribak, Leyb Kvitko, Dovid Hofshteyn, Perets Markish, Isaak Babel’ und viele andere ein Kind der ostjüdischen Renaissance, schafft mit den Worten der Propheten im Ohr innige, ihr Wehklagen und Mitleid betonende Illustrationen zum Tanach. Chagalls Propheten scheinen auch das Leid seiner ostjüdischen Brüder zu betrauern, von deren tragischem Schicksal er zum Zeitpunkt der Arbeit an den Radierungen vielleicht gar nichts weiß. Jacques Derrida, in Algerien geboren und jüdischer Abstammung, reflektiert in Die Einsprachigkeit des Anderen oder die Prothese des Ursprungs (2003, s. Kap. 2) sein ambivalentes Verhältnis zu seiner Muttersprache, die ihm von der Kolonialmacht Frankreich aufgezwungen wurde: „Ich habe nur eine Sprache, und die ist nicht die meinige.“ (2003: 11) Zugleich zeigt er, dass man niemals nur eine Sprache spricht. Auch das Russische ist vielen Ostjuden, obgleich sie es aktiv beherrschen, die Sprache des Anderen. Die russische Sprache, der sie sich im Zuge der jüdischen Emanzipation im 19. und 20. Jh. entgegenlesen und -schreiben, kann zugleich das Tor zur Freiheit sein.679 Diese für die ostjüdische Intelligenz charakteristische Mehrfachidentität und Mehrsprachigkeit ist des einen Fluch, des anderen Heil: Chagall bricht vom jiddischen Elternhaus in Vitebsk ins russische Petrograd und von da in den Kosmopolitismus der Bildsprache auf. Babel’ beginnt im jüdischen Odessa seinen Siegeszug in die russische Literatur, ja in die Weltliteratur.680 Babel’ und Chagall verbindet die komisch-lakonische Verherrlichung jüdischen Lebens, der Sinn für Frivolitäten und Erotik, für Clownerien und überzeichnete Theatralik (s. Sicher 1982: 396). Pan Apolek aus Babel’s gleichnamiger Erzählung der Konarmija malt vielleicht Gemälde von der Art, aus der Chagall Inspiration für seine Christusbilder bezieht (ebd.). Der grüne Mond über blauem Gras in Berestečko, Babel’s Symbol für den Umsturz der alten Welt (ebd.), ruft unweigerlich 679 S. Slezkine 2006: 141–147, bes. S. 146: „Wenn die russische Welt für Sprache, Wissen, Freiheit und Licht stand, so repräsentierte die jüdische Welt Schweigen, Unwissenheit, Knechtschaft und Dunkelheit.“ Slezkine geht besonders auf Babel’, Abraham Cahan (Avrom Kahan) und Osip Mandel’štam ein. Für Julian Stryjkowski, Bruno Schulz oder Bolesław Leśmian übernimmt das Polnische die Funktion der (ästhetischen) Befreiung. 680 „Babel was acclaimed as the first Jewish writer to write from within Russian literature and to give the Jewish milieu color and depth.“ (Sicher 1984: 178)

246  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Chagalls Vom Monde (Das russische Dorf) von 1911 auf, das fest zu dessen Revolution der Kunst gehört (Abb. in: Baal-Teshuva 2008: 70). Babel’s eindeutige Entscheidung für das Russische als Literatursprache kann das innere Drama seiner (kulturellen) Identität nicht abwenden. Der Riss, der nach der Revolution die russische Gesellschaft spaltet, geht auch durch ihn.681 Ihm stehen alle Möglichkeiten der russischen Sprache zur Verfügung, um seine jüdischen Gestalten unsterblich zu machen. Doch darf Benja Krik im Film ebenso wenig leben wie sein im Grunde unpolitischer Schöpfer (s. Krumm 22006: 131, 140). Babel’ bleibt angesichts der Politisierung der Literatur nur die innere Emigration. Im potenziellen Exil in Paris überwältigt ihn seine Liebe zu Russland, das seine jüdischen Typen und Themen nicht haben will (Krumm 22006: 102, 106). Marc Chagall ist der glücklichere von beiden: Zwar lebt er in der Emigration und sehnt sich sein Leben lang zurück nach Vitebsk und Russland, doch realisiert er in der Pariser Fremde die ostjüdische Thematik und damit seine jüdische Identität, die Babel’ unter Stalin sein Leben kosten wird. Chagall liest Jiddisch, schreibt Jiddisch, illustriert weiter jiddische Texte und reichert seine Bilder mit dieser Sprache an, die unzählige Juden während des Stalin-Terrors und Hitlers organisiertem Massenmord beim Gang in den Tod auf den Lippen haben. Babel’s Drama der geistigen und kulturellen Zugehörigkeit ist auch ein Drama der Schrift. Kein Text vermag dies besser zu illustrieren als Syn Rabbi (Der Sohn des Rabbi), mit dem Konarmija schließt. (Am Anfang steht der Tod des jüdischen Vaters in Perechod čerez Zbruč. Es bleibt also nur die Mutter. In Babel’s Welt räumt diese vor der Revolution das Feld, die bekanntlich ihre Kinder frisst.) Il’ja Braclavskij, der Sohn des Rabbi Motalė Braclavskij aus Žitomir, stirbt im Zug der Politabteilung der Ersten Reiterarmee. Ljutov, Kriegsberichterstatter und Babel’s fiktives Alter Ego, liebkost in Konarmija mit metaphernreichen Sprachbildern Ruinen jüdischer Kultur – und in der letzten Erzählung den sterbenden Körper Il’jas: Zdes’ vse bylo svaleno vmeste – mandaty agitatory i pamjatki evrejskogo poėta. Portrety Lenina i Majmonida ležali rjadom. Uzlovatoe železo leninskogo čerepa i tusklyj šelk portretov Majmonida. Prjad’ ženskich volos byla založena v knižku postanovlenij Šestogo s’’ezda partii, i na poljach kommunističeskich listovok tesnilis’ krivye stroki drevneevrejskich stichov. Pečal’nym i skupym doždem padali oni na menja – stranicy Pesni pesnej i revol’vernyje patrony. (2002: 113) Hier lag nun alles durcheinander – die Mandate des Agitators und die Merkbücher des jüdischen Dichters. Die Porträts von Lenin und von Maimonides lagen nebeneinander. Das knorrige Eisen des Leninschen Schädels und die stumpfe Seide der Porträts des Maimonides. Die Haarlocke einer Frau lag gepresst in der Broschüre mit den Beschlüssen des sechsten Parteikongresses, und auf den Rändern kommunistischer Flugblätter drängten sich die schrägen Zeilen althebräischer Verse. Als ein trauriger und dünner Regen fielen sie auf mich hernieder – die Seiten des Lieds der Lieder und die Revolverpatronen. (ÜS: Peter Urban)

Lenin, der Anführer der proletarischen und atheistischen Weltrevolution, die das Paradies auf Erden will und dafür unzählige Tote in Kauf nimmt, und Mose ben Maimon, der größte 681 Er geht auch durch seine Ehe. Babel’s Frau Ženja steht dem neuen System, das ihre Eltern systematisch ihres Besitzes beraubt, fern. 1925 emigriert sie nach Paris (Krumm 22006: 94).

Marc Chagall und Isaak Babel’  | 247 jüdische Philosoph des Mittelalters, der die Unsterblichkeit der Seele beschwört (s. Kap. 13), treten nebeneinander. Das Hohelied der Lieder, vor dem man ob der Schönheit und Unentschlüsselbarkeit der Bilder erschauert, wird mit dem harten, gestanzten Stil kommunistischer Parolen gepaart. Der dichtende Prinz, ein Nachfolger Salomos, jetzt in einem gebrochenen Körper gefangen, wird erdrückt von der vollbusigen Üppigkeit sowjetischer Tippsen. Hebräische und kyrillische Schriftzeichen bringen den großen Widerstreit an die (Text-) Oberfläche, der Ljutov, der russisch erzählt, mit Il’ja verbindet, der hebräische Verse liest und zugleich die Religion seines Vaters, des letzten Vertreters der chassidischen Dynastie in Žitomir, verraten hat. (Chagalls Zeitungsverkäufer fällt einem hier ein; s. Kap. 7.) Beide sind hin- und hergerissen zwischen den Identitäten – und den Verpflichtungen, die man ihnen entgegenbringt. Elija und Ljutov dienen nicht mehr der Tora („studiert sie bei Tag und bei Nacht!“) und heiligen nicht mehr dem Sabbat, aber im Herzen sind sie immer noch Juden (Auch Elias’ russifizierter Name Il’ja ändert daran nichts.) Sie tauschen die Braut Israels, den Sabbat, gegen die Revolution, Lenins Reden gegen den Dekalog. Sie treten dem Bund der sozialistischen Brüder bei und aus dem heiligen Bund zwischen Gott und Israel aus. Sie folgen der Internationale, die Blut fordert, und nicht dem unverrückbaren „Lo tirzach“ (Nicht töten wirst du) aus dem Dekalog (jidd.: aseres ha-dibres; Ex 20, 13). Doch so sehr diese beiden jüdischen Häretiker auch ihrer neuen ‚Religion’, dem Kommunismus, huldigen, so wenig vermögen sie ihr Jude-Sein gänzlich abzustreifen. Il’ja braucht die jüdischen Verse ebenso wie Ljutov die in Russisch verfassten Elegien auf die untergehende jüdische Welt.682 Marc Chagall entscheidet sich nach den prägenden künstlerischen und menschlichen Erfahrungen in Russland während der Schwellenphase 1917–1922 für den Erzvater Abraham, ohne der ‚Mutter Revolution‘ ganz den Rücken zu kehren.683 Trotz der vielen Amalgamierungen und Transformationsprozesse, die Chagall nun als internationaler, als ‚französischer‘ Maler ästhetisch durchläuft, bleibt die hebräische Schrift, die Hebräisches wie Jiddisches gleichermaßen fasst, als Vermächtnis in seinen Bildern erhalten. Ihre Koexistenz mit der Kyrillica bezeugt das Miteinander der ihnen zugrunde liegenden Kulturen (zumindest in Chagalls Vorstellungswelt). Ungeachtet des Abgrundes, auf den die Welt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zusteuert, tanzen Buchstaben als sinnenfrohe Botschafter einer interkulturellen Ästhetik durch seine Bilder. Chagall rettet dorthin auch durch die Schrift Bruchstücke der ostjüdischen Welt, für die zahlreiche Juden während der Pogrome und die behandelten Autoren Markish, Hofshteyn, Kvitko und Babel’ unter Stalin ihr Leben lassen. (Auch Ribak bleibt in seinem Schaffen in Frankreich der jüdischen Thematik bis zu seinem Tode treu.) 682 In dieser Gespaltenheit sind Il’ja und Ljutov geeint. So endet denn der gesamte Zyklus auch mit dem Wort „brat“ (Bruder; Suchich 1999: 231). 683 Chagall ist besonders während des Zweiten Weltkrieges und der ersten Jahre danach sozialistischem Ideengut verbunden. In Amerika ist er beispielsweise Mitglied im Komitee jüdischer Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler, dem Albert Einstein als Ehrenpräsident vorsteht und das sich als Pendant zum Antifaschistischen Komitee der Sowjetunion verstehen lässt (s. Harshav 2003: 88). In seiner Illustration zu Lyesins Gedicht Di pionirn (Die Pioniere, 1922) hält er sich selbst im Bild fest als derjenige, der die Fahne mit dem angedeuteten sozialistischen Slogan „Da zdra[vstvuet revoljucija!]“ (Es leb[e die Revolution!]) trägt (Lyesin 1938 Bd. 1: 109f.; Abb. gegenüber).

248  |  Pogrome, Krieg und Tod in Text und Bild Chagalls Einsatz der Schriftzeichen steht synekdochisch für das kultursynthetische Potenzial seiner Kunst. Sie mag ein Grund dafür sein, dass Chagall im 20. Jahrhundert als wichtigster Künstler des interreligiösen Dialogs wahrgenommen wird.684 In seinem Schaffen verbindet sich das Jüdische mit dem Christlich-Abendländischen, das ethnisch Partikulare mit dem ästhetisch Universalen. Jüdische, russische und westeuropäische Elemente ergeben in seinem Schaffen eine kulturelle Polyphonie, die kulturelle Differenz nie tilgt. Chagall kann, anders als Babel’, auch schriftstellerisch das Jiddische pflegen, weil es im Unterschied zum Russischen nicht von den sozialistischen Machthabern verraten (und deformiert) wird. Anders als Babel’, der Schriftsteller, kann Chagall, der Maler, im Sinne einer universalen humanitas und „Kultur als Zivilisiertheit“ (Eagleton 2001: 56) agieren. Sie ist der Ort der ästhetischen Freiheit. Während Babel’ Stalin in die Falle geht, wird Chagall ideologisch nie aufgerieben. Auch die großen geistigen Strömungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Juden untereinander trennen (Zionismus, Kommunismus, jüdisch-christliche Ehtik), vermag er in sein ästhetisch geleitetes Weltbild zu integrieren.685 Wie Babel’ nützt Chagall den ästhetischen Raum – in seinem Fall denjenigen des Bildes –, um die Gegensätze zu vereinbaren. Auch Chagall liebt die Kontraste (und die Tabubrüche, die dadurch möglich sind), ob nun im eigenen Bild oder in Ausstellungen, „vu lebn a bild fun an altn primitiv fun mitlalter vi Dzhoto kon hengen a Pikaso [...] un lebn undzer modi­ liani kon hengen a bizantinishe ‚ikone‘“ (wo neben einem Bild eines alten Primitiven des Mittelalters wie Giotto ein Picasso [...] und neben unserem Modigliani eine ‚byzantinische‘ Ikone hängen kann; Chagall 1967: 235). Babel’s Erzähler spricht in einem Atemzug „o zvezdach i o trippere“ (vom Tripper und von den Sternen), wie Šklovskij einst pointiert konstatierte (1924: 153). In Chagalls Bildern finden wir die Herzen hebenden Engel und Männer mit heruntergelassenen Hosen. Chagalls kyrillische „pivnaja“ (Trinkstube) beispielsweise aus Nächtliche Szene von 1910 (Abb. in Kamenski 1989: 94) gehört ebenso zu seinen Bildinschriften wie der  – viel häufigere  – hebräische Gottesname JHWH (‫)יהוה‬. Babel’ und Chagall sind also nicht nur in ihrer Mehrsprachigkeit (Russisch, Jiddisch, Französisch und Hebräisch), sondern auch im kraftvollen Einsatz der Schriftzeichen geeint. Beide schöpfen für ihr wort- oder bildkünstlerisches Werk aus der russischen und der ostjüdisch-jiddischen Literatur und Kultur. Beide haben, was Komik, Karneval und Groteske anbelangt, in Gogol’ ein gemeinsames Vorbild. 684 Chagall hat gemeinsam mit Virginia Haggard „eine Art Tempel entworfen, in dem die monotheistischen Religionen zu einer mystischen Weltanschauung zusammengefasst werden sollten.“ (Aaron 2003: 120) Verwirklicht wird diese Idee im Musée National Message biblique Marc Chagall in Nice: In ihr klingt das an der orthodoxen Idee der „sobornost’“ (Gemeinschaftlichkeit/Kommunion) geschulte Konzept vom „chram iskusstva“ (Tempel der Kunst) an. Der russische Symbolist Vjačeslav Ivanov entwickelt es um 1910, also zu der Zeit, als Chagall in Petersburg mit der symbolistischen Bewegung in Kontakt kommt (s. hierzu Schahadat 1998: 3–39). In seinen Bildern für sein Musée Message biblique kehrt die Mythopoetik Vitebsks wider (Harshav 2004: 805). Chagalls Versuch, räumlich und zeitlich Disparates, Vitebsk und Jerusalem, das Irdische und das Himmlische zu verbinden, ist Ausdruck einer (ästhetischen, weniger ideologischen) Kulturutopie (vgl. Apčinskja 1994: 194). 685 Vgl. beispielsweise Chagalls Rede von 1944 anlässlich einer Feierlichkeit zu Ehren des jiddischen Dichters Itsik Fefer (Abdruck in: Harshav 2003: 95–100).

Farbbildteil  | 249

1 Marc Chagall: Der Jude in Rot, 1914. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

250  | Farbbildtteil

2 Marc Chagall: Kubistische Landschaft, 1918. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Farbbildteil  | 251

3 Schema zu Marc Chagall: Kubistische Landschaft, 1918.

4 Kazimir Malevič: Kuh und Geige, 1913.

5 Kazimir Malevič: Zeichnung für Über die neuen Systeme in der Kunst, 1919.

6 Pablo Picasso: Die Violine (Jolie Eva), 1912.

© Succession Picasso/VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

252  | Farbbildtteil

7 Marc Chagall: Selbstbildnis mit Farbpalette, 1917. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Farbbildteil  | 253 8 Marc Chagall: Selbstbildnis, 1918. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

9 Kazimir Malevič: Suprematistische Komposition, 1915.

254  | Farbbildtteil 10 Marc Chagall: Liebe auf der ­Bühne, 1920. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

11 Schema mit hebräischen Buch­ staben zu Marc Chagall: Liebe auf der Bühne, 1920.

Farbbildteil  | 255 12 Marc Chagall: Der Maler an der Staffelei, 1914. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

13 Marc Chagall: An der Staffelei. Illustration 18 für Mein Leben, 1922/1923. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

256  | Farbbildtteil 14 Marc Chagall: Mann mit zurückgeworfenem Kopf, 1918. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

15 Marc Chagall: Selbstbildnis mit Palette, 1918. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Farbbildteil  | 257 16 Marc Chagall: Selbstportrait. Illustration 17 für Mein Leben, 1922. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

17 Hermann Struck: Frauenportrait, 1920.

258  | Farbbildtteil 18 Marc Chagall: Selbstbildnis mit Haus im Gesicht, 1922/1923. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

19 Marc Chagall: Selbstportrait mit dem Haus, um 1926. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Farbbildteil  | 259 20 Marc Chagall: Selbstbildnis mit dem verzierten Hut, 1928. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

21 Marc Chagall: Selbstbildnis mit Grimasse, 1924/1925. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

260  | Farbbildtteil

22 Marc Chagall: Titelblatt für Der Zauberkünstler von Y. L. Perets, 1915/1916. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Farbbildteil  | 261

23 Marc Chagall: Der Prophet Elias. Illustration für Der Zauberkünstler von Y. L. Perets, 1915/1916. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

262  | Farbbildtteil 24 Marc Chagall: Illustration für Der Zauberkünstler von Y. L. Perets, 1915/1916. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

25 Anonym: Das Pessachmahl. Lubok, 2. Hälfte des 19. Jh.

26 Boris Grigor’ev: Vsevolod Mejerchol’d, 1916.

Farbbildteil  | 263

Vladimir Majakovskij. Photographie, 1914.

27 David Burljuk. Photographie, 1914

30 Aleksandr Blok. Photographie, 1907.

29 Anatolij Mariengof. Photographie, 1910er Jahre.

264  | Farbbildtteil

31 Marc Chagall: Der Jude in Hellrot, 1914/15. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Farbbildteil  | 265 32 Marc Chagall: Der Greis, 1914. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

33 Marc Chagall: Der Krieg, 1914. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

266  | Farbbildtteil

34 Marc Chagall: Illustration für Trauer von Dovid Hofshteyn, 1922 [1919]. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Farbbildteil  | 267

35 Ephraim Moses Lilien: Für die Märtyrer von Kišinëv, 1903.

268  | Farbbildtteil 36 Joseph Tshaykov: Umschlag für Der Haufen, 1922.

37 Lazar’ (Leyzer) Lisi-ckij: Mit dem roten Keil schlage die Weißen, 1919/1920.

Farbbildteil  | 269

38 Joseph Tshaykov: Umschlag für 1919, 1923.

270  | Farbbildtteil

39: Ysokher Ber Ribak: Bild aus Pogromserie, um 1920.

40 Ikone Der Heilige Vasilij (Jurodivyj), um 1600.

Farbbildteil  | 271 41 Ikone Christi Geburt, 15. Jh.

42 Caravaggio: Die Geißelung Christi, 1607.

272  | Farbbildtteil 43 Lazar’ (Leyzer) Lisickij: Illustration für Ein Zick­lein, 1919.

44 Ysokher Ber Ribak: Bild aus Pogrom­serie, um 1920.

Farbbildteil  | 273

45 Lazar’ (Leyzer) Lisickij: Emblem für Yidish farlag, 1917.

46 Ysokher Ber Ribak: Bild aus Pogromserie, um 1920.

47 Natan Al’tman, Tauben aus: Jüdische Graphik, 1923.

274  | Farbbildtteil

48 Marc Chagall. Das Vertragsbüro. Illustration 58 für Die toten Seelen von Nikolaj Gogol’, 1923–1925. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Farbbildteil  | 275

49 Marc Chagall. An der Stadtgrenze. Illustration 47 für Die toten Seelen von Nikolaj Gogol’, 1923–1925. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

50 Marc Chagall: Der Laternenwächter. Illustration 65 für Die toten Seelen von Nikolaj Gogol’, 1923–1925. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

276  | Farbbildtteil

51 Marc Chagall. Čičikov auf dem Bett. Illustra­ tion 16 für Die toten Seelen von Nikolaj Gogol’, 1923–1925. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

52 Marc Chagall. Das Erklären des Weges. Illustration 19 für Die toten Seelen von Nikolaj Gogol’, 1923–1925. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

53 Marc Chagall. Gevatter Mitjaj und Gevatter Minjaj. Illustration 29 für Die toten Seelen von Nikolaj Gogol’, 1923–1925. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Farbbildteil  | 277 54 Marc Chagall. Unser Held hält sich bereit. Illustration 77 für Die toten Seelen von Nikolaj Gogol’, 1923–1925. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

55 Marc Chagall. Čičikov rasiert sich. Illustration 75 für Die toten Seelen von Nikolaj Gogol’, 1923–1925. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

278  | Farbbildtteil

56 Marc Chagall. Die Opferung Isaaks. Illustration 10 für die Bibel, 1931–1939. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

58 Marc Chagall. Die Erschaffung des Menschen. Illustration 1 für die Bibel, 1931–1939. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

57 Rembrandt: Die Opferung Isaaks, 1635.

Farbbildteil  | 279

59 Marc Chagall. Frontispiz für Ein Tag in Regensburg von Joseph Opatoshu, 1933. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

61 Marc Chagall: Collage Hahn, Thora-Rolle und betender Jude, 1955. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

60 Marc Chagall: Jude, der die Thora auf dem Rücken trägt, 1931–1935. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

62 Marc Chagall: Die rote Thora, 1982. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

280  | Farbbildtteil

63 Marc Chagall. Der Fall Jerusalems. Illustration 101 für die Bibel, 1952–1956. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

65 Marc Chagall. Dornensträucher. Illustration für Die Fiedelrose von Avrom Sutskever, 1974. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

64 Marc Chagall: Pour la Tchécoslovaquie, 1939. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

11 Marc Chagalls „poshlust“ beim Lesen von Gogol’s Mërtvye duši (Die toten Seelen, 1842)686

Zdes’ russkij duch, zdes’ Rus’ju pachnet. Hier riecht es nach dem russischen Geist, nach der Rus’. Vissarion Belinskij, Pochoždenija Čičikova, ili Mërtvye duši, 1955 (1842), S. 219.

Pošlost’ – eine Kategorie auch der Text-Bild-Beziehung? Während Isaak Babel’ in Sowjetrussland seine Konarmija kunstvoll durchgestaltet, arbeitet Marc Chagall in Frankreich 1923 bis 1925 an den Illustrationen zu Nikolaj Gogol’s Mërtvye duši (Die toten Seelen, Text publiziert 1842), die seinen Ruhm als Illustrator von Weltliteratur mitbegründen. Von Hermann Struck in Berlin in die Geheimnisse der Radierung eingeweiht, wendet sich Chagall in dieser für ihn neuen Gattung danach Claire und Ivan Golls Poèmes d’amour (1925), den Sept péchés capitaux (1926), La Fontaines Fables (1930) und der Bibel (1931–1952) zu (s. Kap. 12).687 Technisch bedeutet dies einen Aufbruch in neue Welten, inhaltlich im Falle Gogol’s, der Bibel und weiterer Illustrationen jiddischer Lyrik eine Rückbesinnung auf die Heimat, die Chagalls gesamtes weiteres Schaffen prägen wird. Der Gravurakt wird zur Gedächtnishandlung. Chagall setzt sich seit 1917 intensiv mit Gogol’ auseinander.688 1919 entwirft er Bühnenbilder zu Gogol’s Dramen Igroki (Die Spieler, 1832–1837) und Ženit’ba (Die Heirat, 1833; Meyer 2 1968: 289; Abb. 294), 1920–1921 grotesk-satirische Bühnenbilder für das Vitebsker Teresvat (Teatr revoljucionnoj satiry/Theater der Revolutionssatire); darunter finden sich 1921 Bühnenbildentwürfe zum nicht realisierten Projekt Tovarišč Chlestakov (Genosse Chlestakov) von D. Smolin, das Gogol’s Hauptfigur aus dem Revizor (Der Revisor, 1836) in die Sowjetzeit

686 Das Kapitel stellt die erweiterte Fassung des auf Englisch erschienenen Aufsatzes „Civil servants in a circle – Chagall’s ,poshlust’ reading the Dead Souls“ dar (2009: 260–269). Aus Gogol’s Poem wird im Folgenden nach der Polnoe sobranie sočinenij (Gesamtausgabe), Bd. 6, zitiert. 687 Nach seinem Erstlingswerk zur Autobiographie (s. Kap. 3) eröffnet sich ihm hier ein weites Experimentierfeld. In gedruckter Form erscheinen Chagalls Illustrationen zu den Mërtvye duši 1948, also im Jahr seiner Rückkehr nach Frankreich, bei Tériade (Chagalls bisheriger Verleger Ambroise Vollard kommt 1939 bei einem Autounfall ums Leben). Zu Chagalls Illustrationen zu Gogol’ s. Uthemann 1985: 37–74, Loos 1991: 5–17 und Hirner 1999: 9–21. Zu La Fontaines Fabeln erstellt Chagall zunächst 1926–1927 Gouachen, bevor er in die Gravur überwechselt. Sie werden 1952 ebenfalls bei Tériade herausgegeben. Ein ähnliches Procedere wendet Chagall auch für die Bibel an: Seine Radierungen hierzu bereitet er durch 39 Gouachen vor (Gassen/Holeczek 1985: 264). 688 Vgl. seine Hommage à Gogol (1917).

284  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte versetzt.689 Den in seinen Anfängen ukrainischen Schriftsteller und den ostjüdischen Maler eint das Phantastische, Groteske und Unlogische (s. Marcadé 1985: 63).690 Chagalls Sinn für Komik und Groteske mag bereits an der Lektüre Sholem-Aleykhems oder Mendeles geschult worden sein. Mendeles Kitser masoes Binyomen ha-shlishi (Die Fahrten Benjamins des Drittens, 1878) enthalten wie Gogol’s Mërtvye duši Elemente des Schelmen- und Abenteuerromans (Binyomen ist dabei eher ein Schelm wider Willen).691 Doch nicht nur Don Quijote klingt hier an. Beide Texte stehen in der Tradition des Reiseromans. Gogol’ überhöht die Gattung mit lyrischen Digressionen zum Poem, Mendele unterhöhlt sie als parodistische Kontra­ faktur großer jüdischer Reisender des 13. und 19. Jhs. (s. Kap. 7). Beide Texte figurieren als beißende Satire auf die russische respektive ostjüdische Gesellschaft. Doch ­während Gogol’s Held Čičikov in seiner Gerissenheit kaum zu überbieten ist, ist Binyomen in seiner Einfalt unerreicht. Im Kontext seiner kulturellen Mehrfachidentität nehmen Chagalls Illustrationen zum ersten Teil von Gogol’s Mërtvye duši eine Sonderstellung ein. Sie sind ästhetisch den Gravuren zu Chagalls vielfach auf russischem Boden spielender Autobiographie verwandt, dem einzigen russischen Text, den der in dieser Literatur beschlagene Chagall mit Illustrationen versieht. Er stattet ihn mit 96 Radierungen aus. Die Bebilderungen zu den elf Kapiteln fasst er zusätzlich auf elf Tafeln zusammen. Hier wiederholt der Künstler en miniature sein graphisches Panoptikum zu Gogol’s opus magnum. Chagalls graphische Ausgestaltung entkräftet Gogol’s Vorbehalte jeglicher Illustration gegenüber, die er im Brief an P.A. Pletnev äußert.692 Handelt es sich hierbei um eine kongeniale Entsprechung? Kann bei einem Vergleich von Text und Bild davon überhaupt die

689 Šatskich 2001: 184–186 und 1991: 76–88. Die Aufführungen am Teresvat sind tief in der russischen volkstümlichen Lachkultur verankert und ein wichtiges Experimentierfeld Chagalls, das sich sowohl auf seine spätere Arbeit am GosET als auch auf seine Gogol’-Illustrationen ausgewirkt hat (ebd.). Die Figurinen und Bewegungsstudien sind als Vorstufe zu den Poemfiguren zu verstehen (s.  Meyer 21968: Abb. 318–322). Die Illustration 46 Streit zwischen Pljuškin und Mavra ist klar von Chagalls Bühnenbildentwürfen inspiriert, s. Uthemann 1985: 39 und Aleksandra Šatskichs wichtigen Beitrag Gogolevskij mir glazami Marka Šagala (Gogol’s Welt mit den Augen Marc Chagalls, 1999). Franz Meyer betont generell das Theatralische der Illustrationen (1957: XVI). Jakob Tugendchol’d weist in der ersten Chagall-Monographie bei der Darstellung von Tieren auf die Nähe zwischen Gogol’ und Chagall hin (1921: 26). 690 Zu Gogol’s „nefantastičeskaja fantastika“ (unphantastischen Phantastik; Mann 1996: 258) der späteren Petersburg-Texte s. Lachmann 2002: 238–269. 691 Zu Gogol’s Mërtvye duši als Schelmenroman s. Koschmal 1982: 333–360 und Peters 2000: 65–100. Ein weiterer wichtiger Bezugspunkt von weltliterarischem Rang ist Dantes Divina Commedia, s. Šatskich 1999 und Heftrich 2004: 32. Zum Roman allgemein s. Vajskopf 2002: 490–574 und Gerigk 2007: 117–138. 692 Am 20. März 1946 schreibt Gogol’ aus Rom: „Ja – vrag vsjakich politipažej i modnych vydumok. Tovar dolžen prodavat’sja licom i nečego ego podslaščivat’ ėtim konditerstvom. Možno bylo by dopustit’ izlišestvo ėtich rodov tol’ko v takom slučae, kogda ono sliškom chudožestvenno. No chudožnikovgeniev dlja takogo dela ne najdëš’“ (Ich bin Feind jeglicher Polytypagen [Holzdrucke; frz. polytypages] und moderner Einfälle. Eine Ware muss unverhüllt verkauft und nicht mit dieser Konditoreikunst überzuckert werden. Derartigem Schnickschnack könnte man nur in dem Fall stattgeben, wenn er extrem künstlerisch wäre. Doch dafür findet sich kein Künstlergenie; Gogol’ 1952 Bd. 14: 45).

Marc Chagall und Nikolaj Gogol’  | 285 Rede sein?693 Die Kategorie der pošlost’ (Gemeinheit, Niedrigkeit, Plattheit) ist ein Motor für Gogol’s wortkünstlerisches Schaffen. Lässt sie sich auf Chagalls Illustrationskunst übertragen? Bereits die definitorischen Versuche, der pošlost’ in Gogol’s Medium, dem literarischen Text, habhaft zu werden, machen das (problematische) Spektrum des Begriffs deutlich.694 Als grundlegend ist Gogol’s eigene Sicht anzusehen, wie er sie in den Vybrannye mesta iz perepiski z druz’jami (Ausgewählte Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden, 1847) äußert: Pošlost’, für Puškin Faszinosum, für Gogol’ Fluch (Hansen-Löve 1997: 285) ist in den „ničtožnye ljudi [...] v nich sobrany čerty ot tech, kotorye sčitajut sebja lučše drugich“ (nichtigen Menschen [...] in ihnen sind Züge derer versammelt, die sich besser als andere wähnen; 1952 Bd. 8: 292). Vor allem das unwillkürlich aufgenommene, Habitus gewordene und unscheinbare Böse bildet – so zeigt Urs Heftrich es auf – den Kern von Gogol’s pošlost’ (2004: 32–38). Für einen Vergleich von pošlost’-Konzepten in Text und Bild sind zwei Momente von besonderer Bedeutung: 1. Bei der pošlost’ handelt es sich um eine ästhetische und ethische Kategorie zugleich (vgl. Nabokov 31961: 63, Lehmann 1997: 58, Heftrich 2004: 34–35 und Zen’kovskij 2005: 163–176). 2. Puškin ist das Lachen während der Lektüre der Mërtvye duši zwar vergangen (s. 1952 Bd. 8: 294), doch hängt Gogol’s pošlost’ eng mit dem Komischen (und dessen kathartischer Wirkung) zusammen.695 In Teatral’nyj raz-ezd (1842–43) legt Gogol’ seine idealistische Sicht des Lachens dem „Avtor p’esy“ (Autor des Stücks), seinem fiktiven alter ego, in den Mund: Net, smech značitel’nej i glubže, čem dumajut [...] tot smech [...], bez pronicajuščej sily kotorogo meloč’ i pustota žizni ne ispugala by tak čeloveka. Prezrennoe i ničtožnoe, mimo kotorogo on ravnodušno prochodit vsjakij den’, ne vozroslo by pered nim v takoj strašnoj, počti kar[r]ikaturnoj sile [...] (Gogol’ 1949 Bd. 5: 169; Hervorh. S. K.) 693 Eine Inkongruenz der beiden Medien bleibt, so abstrakt-semiotisch man sie auch fassen möchte, immer bestehen. 694 Generell überwiegt das Merkmal des Platten, Banalen, Faden und Flachen, vgl. Rozanov (1970 [1891]) und Hansen-Löve 1997: 227). Nabokov legt überdies den Akzent auf den Schein, das Gefälschte und Pseudohafte (Lehmann 1997: 58). Hansen-Löve bestimmt in Fortsetzung von D.S. Merežkovskij und Andrej Belyj pošlost’ als Mittelmaß, das sich in unmittelbarer Nähe zur Mittelposition des Nichts befindet (1997: 226–229). Lehmann stellt die unterschiedlichen denotativ-konnotativen Extensionen der pošlost’ zusammen (1997: 58f.). Komplementär zu dieser synchronen Klassifizierung ist die Begriffsgeschichte bei Heftrich (2004) aufschlussreich. Der Begriff stellt Übersetzer vor unlösbare Probleme. 695 Anders als Puškin lacht Chagall aus vollem Halse, so Ivan Goll: „Man kann zu ihm kommen, wann man will: Marc sitzt da, wie ein Schuster, und klopft auf seine Kupferplatten, ein redlicher Handwerker Gottes. Seine Frau, die seiner Kunst beisteht wie eine Schwester dem Fieber des Kranken, liest ihm das Kapitel vor. Sie lachen immerfort. Ida, die siebenjährige Tochter, springt vom Klavier herzu und will die Geschichte auch hören, und nun werden die phantastischen Situationen unter Gelächter von einer seltsamen Familie neu gestaltet, mit dem ganzen Humor und der ganzen Tragik Russlands. Und der Vater, das verrückteste Kind unter den dreien, schneidet Grimassen, streckt seiner Tochter die Zunge heraus, pufft seine Frau, rauft sich die Haare in die Stirn – und zeichnet dabei ...“ (zit. nach Schmied 1976: 17).

286  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Nein, das Lachen ist bedeutender und tiefer, als man denkt [...] jenes Lachen, [...] ohne dessen durchstrahlende Kraft das Kleine und Leere des Lebens den Menschen so erschrecken würden. Das Verächtliche und Gemeine, woran er gleichmütig jeden Tag vorübergeht, würden ohne dieses Lachen vor ihm nicht in solch furchtbarer, fast karikaturaler Kraft anwachsen [...]

Es ist hier nicht der Ort, sämtliche Ausprägungen der pošlost’ in Text und Bild aufzulisten.696 Vielmehr stehen einzelne (Form-)Elemente und Aspekte dieser ethoästhetischen Metakategorie im Mittelpunkt, die einer Charakterisierung von Chagalls Illustrationen dienlich sind – und zugleich einen direkten Text-Bild-Vergleich ermöglichen. Es sind dies menschliche und (erzähl-)technische Ausprägungen des Runden. Sie spielen in den Mërtvye duši eine zentrale Rolle. Makrostukturell beispielsweise fungiert der Kreis als Figur der Handlung (Heftrich 2004: 109–113); mikrostrukturell taucht das Runde – als Ausdruck von Gogol’s Genophobie – als grotesk-hysterisch kreisender Dialog der Frauen im siebten Kapitel, als Zirkulieren der Vokale bei Kifa Mokievič und Mokij Kifovič oder als Symbol auf: Das Rad von Čičikovs Kutsche nimmt die Kreisstruktur der Mërtvye duši gleichsam vorweg (Andrej Belyj). Vor allem jedoch tritt das (inhaltsleere) Runde als körperliches Charakteristikum des fülligen Erz-pošljak Čičikov auf (Belyj 1996: 101f., Hansen-Löve 1997: 195). Dieser „curiously physical side of Gogol’s genius“ (Nabokov 31961: 3) Rechnung tragend, steht für die Text- und Bildanalyse der Körper im Vordergrund. „The belly is the belle of his stories, the nose is their beau“, so Nabokov über Gogol’s Texte (ebd.). Dass man den Gogol’schen Präferenzen für Nase und Bauch Chagalls offensichtliche Lust am menschlichen Hinterteil an die Seite stellen muss, wird die folgende Analyse zeigen. Chagall macht das Runde als Figur der pošlost’ im Bild zugleich zum Ort der pošlost’ selbst. Die Auswertung des Text-Bild-Bezugs im Lichte der pošlost’ legt ein Paradox offen: Chagall wahrt sowohl in Bezug auf den Inhalt als auch auf die sprachliche Präsentation die Treue zum Text. Trotz dieser doppelt dienenden Funktion gegenüber der literarischen Vorlage sind die Illustrationen – gerade im Vergleich mit den früheren Illustrationsversuchen A.A. Agins (1817–1875) oder P.M. Boklevskijs (1816–1897) – in hohem Maße ästhetisch autonom.697 Im Kontext der weit radikaleren russischen futuristischen Buchkunst hingegen wirken sie, da eben auch semantisch-inhaltlich an den Text angebunden, vergleichsweise konservativ: Chagall illustriert, nachdem er sich das formal-künstlerische Instrumentarium der europäischen wie russischen historischen Avantgarde angeeignet hat, einen Klassiker, der andere ästhetische Bedingungen stellt als der futuristische zaum’.

696 Dies könnte unternommen werden anhand der Einzelfiguren als Hypostasierungen der pošlost’, den pošljaki (Petruška), ihren weiblichen Pendants, den pošljački wie beispielsweise die „prosto prijatnaja dama“ (die einfach angenehme Dame) und die „prijatnaja dama vo vsech otnošenijach“ (die in jeder Hinsicht angenehme Dame, s. Ill. 66), den Gutsbesitzern und – allen voran – Čičikov selbst (vgl. Nabokov 31963: 70). Das Metamorphotische, das auch Chagalls Illustrationen prägt, bietet hier reiches Material. Auch eine Klassifizierung verschiedener Ausprägungen der pošlost’ wie Tiere/Tierhaftes, Körperteile, Figuren- oder Erzählerrede käme als Analysekriterium in Frage. 697 Zu Agins Illustrationsarbeit s. Herlth 2009: 142–152.

Marc Chagall und Nikolaj Gogol’  | 287

Piktorale pošlost’ im Kreis – Chagalls Illustrationen Nr. 47, 58 und 65 Im siebten Kapitel, nach Gogol’s berühmter Digression über das bittere Los des Schriftstellers, der in seinem Schaffen das Mittelmaß als diabolische Variante der pošlost’ ins Recht setzt, begibt sich Čičikov zum Kreisgericht, um den Ankauf der toten Seelen zu legalisieren. Dort lernt er die russische Gerichtsbarkeit kennen: Geroi naši videli mnogo bumagi, i černovoj i beloj, naklonivšiesja golovy, širokie zatylki, fraki, sertuki gubernskogo pokroja i daže prosto kakuju-to svetlo-seruju kurtku, otdelivšujusja ves’ma rezko, kotoraja, svorotiv golovu nabok i položiv eë počti na samuju bumagu, vypisyvala bojko i zamašisto kakoj-nibud’ protokol ob ottjagan’e zemli ili opiske imenija, zachvačennogo kakim-nibud’ mirnym pomeščikom, pokojno doživajuščim vek svoj pod sudom, naživšim sebe i detej i vnukov pod ego pokrovom, da slyšalis’ uryvkami korotkie vyraženija, proiznosimye chriplym golosom: „Odolžite, Fedosej Fedoseevič, del’ce za № 368!“  – „Vy vsegda kuda-nibud’ zataskaete probku s kazënnoj černil’nicy!“ Inogda golos bolee veličavyj, bez somnenija odnogo iz načal’nikov, razdavalsja povelitel’no: [...] Šum ot per’ev byl bol’šoj i pochodil na to, kak budto by neskol’ko teleg s chvorostom proezžali les, zavalennyj na četvert’ aršina issochšimi list’jami. (Gogol’ 1951 Bd. 6: 141f.). Unsere Helden sahen viel Papier für Entwürfe und Reinschriften, gebeugte Köpfe, breite Stiernacken, Fräcke, Röcke im Stil des Gouvernements und sogar eine einfache hellgraue Jacke, die sich krass von den anderen abhob und die, den Kopf zur Seite gewandt und fast bis auf das Papier gebeugt, flott und schwungvoll irgendein Protokoll abschrieb, vielleicht über die Einziehung von Land oder über die Beschlagnahme eines Gutes, das sich irgendein friedlicher Gutsbesitzer angeeignet hatte, der, während das Gerichtsverfahren noch schwebt, in aller Ruhe sein Leben beschließt und sich unter seinem Schutz Kinder und Enkelkinder zugelegt hat. Ab und an hörte man kurze Ausrufe, die eine heisere Stimme wie abgehackt ruckartig hervorbrachte: ‚Fedossei Fedossejewitsch, darf ich Sie einmal um die Akte Nr. 368 bitten!‘ – ‚Sie verbummeln immer wieder den Stöpsel vom amtlichen Tintenfass!‘ Manchmal ertönte befehlend eine machtvolle Stimme, zweifellos von einem Vorgesetzten [...] Das Rauschen der Federn war gewaltig, als ob einige mit Reisig beladene Wagen durch einen Wald fahren, dessen Boden hoch mit trockenem Laub bedeckt ist. (Gogol’ 2009: 191; Ü: Wolfgang Kasack)

Gogol’ evoziert bei der auktorialen Beschreibung des Kanzleizimmers einen „pošloe mesto“ (Ort der banalen Niedertracht): Das groteske – und erotisch aufgeladene – Sinnbild der ­Themis, die ihre Gäste in „negliže“ (Negligé; 1975: 131) und „chalat“ (Schlafrock; ebd.), ja schmutzig empfängt, lässt karnevalistisch das Hohe (Justitia) ins Niedrige (Acedia = Trägheit als eine der sieben Wurzelsünden) kippen (Heftrich 2004: 108). Das Wirken der Kanzleibeamten, der Priester im ‚Tempel der Themis‘ fasst Gogol’ mittels der rhetorischen Figur der Metonymie, die dem Leser noch vom Beginn seines Nevskij prospekt (Der Nevskij Prospekt, 1835) vertraut ist. Einzelne Körperteile bzw. Kleidungsstücke stehen stellvertretend für die ganze Person. Unmerklich geht Gogol’ bei seiner metonymischen Darstellung vom Menschlichen (Kopf, Nacken) zum Dinglichen (Frack, Gehrock) über. Wie so oft wird die Grenze zwischen Mensch und Ding aufgehoben. Über die Stilgroteske ist die Entmenschlichung des Verwaltungsapparats dem Text eingeschrieben.

288  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Dieser visuell organisierten Metonymie tritt eine auditive an die Seite: Dissoziiert von einem konkreten Sprecher ertönen Stimmen. Der Eindruck eines gewaltigen, anonymen Beamtenapparats entsteht, in dem mechanistisch über das Los zu bloßen Nummern redu­zierter Menschen entschieden wird.698 (Gerade in der Ausgestaltung des unbeseelten Beamtentums scheint Kafkas Roman Das Schloss vorweggenommen.) Neben dieser visuellen und auditiven Metonymie der (Mit-)Täter wird auch ein ambivalenter Opfer-Begriff entfaltet: ‚Dank‘ des gigantischen Verwaltungsaufwands der Jurisprudenz  – offen gelegt im hyper­bolisch-grotesken Vergleich des Rauschens der Schreibfedern mit Reisig­wagen, die durch hohes Laub fahren – bleibt so mancher rechtsbrüchiger Gutsbesitzer vor derselben verschont. Die Auflistung der rhetorischen Mittel (Metapher, Metonymie, Vergleich) bringt es ans Licht: Die ‚Banalität des Bösen‘ versteckt Gogol’ in der Phänoebene des Textes. Wie nun geht sie in Chagalls Illustrationen ein? In der Radierung Das Vertragsbüro (Ill. 58; Abb. 48) ist ein klar abgezirkelter Kreis zu sehen. Den Kreis füllen Menschenköpfe, meist im Profil. Der Blick der Gestalten ist überwiegend gesenkt, die Nasen – jede von ihnen ein Prachtexemplar – weisen mehrheitlich auf die Tätigkeit, die synekdochisch dargestellte Gerichtsbeamte ausführen: Sie schreiben (allesamt mit der linken Hand!), mal auf abgebildeten, mal auf imaginären Tischen. Diese Armee der Schreiberlinge in der linken Kreishälfte wird von einem beleibten Beamten beherrscht – auch hier kehrt das Runde als Hauptmotiv der Mërtvye duši wieder. In der klassischen Pose des Vorgesetzten, des Dompteurs in der Manege, steht dieser rechts im Kreis, an einer – wieder imaginären – Türschwelle (zum nächsten Vorgesetzten?). Chagall überträgt mit erstaunlichem Gespür für Gogol’s Komposition und Schreibweise den narrativ-sukzessiv entfalteten Teufelskreis zirkulierender Akten ins Bild. Texttreu setzt er an bei Gogol’s Metonymien: Die Stimme als Synekdoche für den ganzen Beamten wird zu einem en face gezeichneten Kopf ohne Körper, der dem Betrachter eine Aktennummer zuzurufen scheint. Auch das Verfahren der visuellen metonymischen Präsentation der Beamten überführt Chagall in ein Bild. Doch verknüpft er es subtil mit Gogol’s favorisiertem Körperteil, der Nase – und ruft damit den großen Komplex von Gogol’s ‚Nasologie‘ auf.699 Die Art und Weise des Schreibens der Textvorlage („bojko i zamašisto“) projiziert Chagall auf die Schreibenden: Zufriedenheit zeichnet sich auf ihren Gesichtern ab. Die graphomanen Kanzleibeamten evozieren Akakij Akakievič Bašmačkin aus Gogol’s Šinel’ (Der Mantel, 1842), den jeder Schnörkel in Verzückung bringt. (Im Text wird der intertextuelle Bezug zu

698 Vgl. auch die vielfach bereits bemerkte häufige Verwendung von Unbestimmtheitspartikeln wie „kakojnibud’“ (irgendjemand) oder „kuda-nibud’“ (irgendwohin). 699 Zur Nase in Gogol’s Schaffen und insbesondere in den Mërtvye duši s. Belyj 1996: 104f., Hansen-Löve 1997: 206–212. Bezüglich Chagalls ‚Nasologie‘ sei an dieser Stelle lediglich auf die Ill. 5, 39, 47, 65, 75 und 87 verwiesen (s. auch Šatskich 1999).

Marc Chagall und Nikolaj Gogol’  | 289 Šinel’ über „Fedosej Fedoseevič“, also über die wiederkehrende Wiederholungsfigur im Namen, hergestellt.)700 Die administrative Begeisterung der Beamten wird kraft der ästhetischen Gestaltung (Metonymie, Wiederholungsfigur) als künstlich, pseudohaft entlarvt. (Nabokovs Betonung des Falschen, des Scheins [„ložnoe“] schimmert hier auf ). Der übertriebene Diensteifer, von Chagall bild-, von Gogol’ wortkünstlerisch eingefangen, tötet alles Menschliche, verstanden als Einheit von Körper, Geist und Seele, ab. Er reduziert den Menschen zum eindimensionalen Erfüllungsgehilfen, zu leeren Beamten-Hybriden (Šatskich 1999). Einer von ihnen ist gar mit dem Tisch verwachsen, eine grauenvoll hybride bildkünstlerische „figura fikcii“, die Andrej Belyj als Kerntrope der Mërtvye duši erkannt hat, nicht Ding, nicht Mensch. Wie Čičikov ist auch er die wandelnde Unbestimmtheit, „ne bol’še edinicy, ne men’še nulja“ (nicht mehr als eins, nicht weniger als Null; 1996: 94). Der blutleere, seelenlose Bürokrat verdient keine ganzheitliche Darstellung. So kommt es bei Chagall zu dem seltenen, vielleicht sogar einzigartigen Fall einer Zerstückelung des Menschen – nicht einmal in seinen Bildern zur Schoa greift er auf das drastische Mittel fragmentierter Körperteile zurück. Für Gogol’s Schaffen ist es konstitutiv – und immer Indiz für das Teuflische.701 Chagall kombiniert diese Variante, pošlost’ ästhetisch zu fassen, mit der Figur des Kreises. Über die Polyvalenz in den Mërtvye duši hinaus ist der Kreis hier aufgrund einer weiteren intertextuellen Referenz mit dem Teufel korreliert: Der Kreis dient – so Aleksandra Šatskich (1999) – als Allegorie, der in seiner Konkretheit Dantes Höllenkreis parodiert. Ausgerechnet an dieser Stelle, im Zusammenhang mit einer staatlichen Einrichtung, ruft Gogol’ den Autor der Divina Commedia ins Gedächtnis: Einer der Kollegienregistratoren, der Čičikov und Manilov zum Vorsitzenden geleitet, weist ihnen wie einst Vergil Dante den Weg (Gogol’ 1951 Bd. 6: 144; Šatskich 1999, vgl. auch Heftrich 2004: 188).702 Dieses Voranschreiten in der Beamtenhölle fasst Chagall in einer Figur des Nichts: An der Schwelle zum Vorsitzenden ist die Kreislinie durchbrochen. Hinter der geschäftigen Beamtenmaschinerie, die, als käme sie aus dem Nichts, auf der Leere der weißen Fläche auf Papier kratzt, ist wiederum gähnende Leere. Keinerlei kausallogisch-perspektivische Darstellung verankert sie in einer wie auch immer gearteten Bildrealität. Die Schreib- und Redeakte der Beamten sind in dieser hermetischen Hölle reiner Selbstzweck. Hinter der geometrischen Figur des Kreises steckt eine Raumsemantik des Nichts. 700 Die Beschreibung von Akakijs Arbeitseifer trifft auch auf Chagalls Akakij-Duplikate zu, die sich als bildkünstlerische Wiederholungsfiguren im Beamtenkosmos ad libitum zu vervielfältigen scheinen: „Kakoj-nibud’ pomoščnik stolonačal’nika prjamo soval emu pod nos (!) bumagu, ne skazav daže ‚perepišite‘, ili ‚vot interesnoe, chorošen’koe del’ce’, ili čto-nibud’ prijatnoe, kak upotrebljaetsja v blagovospitannych službach. [...] On bral i tut že pristraivalsja pisat’ ee.“ (1938 Bd. 3: 143; Irgendein Gehilfe des Tischvorstands schob ihm einfach ein Schriftstück unter die Nase (!), ohne auch nur: „Schreiben Sie es ab!“ oder: „Das ist eine ganz interessante, schöne Sache!“ oder sonst irgendetwas Angenehmes zu sagen, wie es unter wohlerzogenen Beamten üblich ist. [...] Er nahm es und schickte sich sofort an, es abzuschreiben; Hervorh. S. K.) Zu Gogol’s schizoidem Schriftverständnis s. Murašov 1997: 85–105. 701 S. Gogol’ 1951 Bd. 6: 134, Nabokov 31961: 73, Lotman 1974: 250 und Hansen-Löve 1997: 195; s. auch die grundlegende Deutung des Symbolisten D.S. Merežkovskij 1909. 702 Urs Heftrich deutet die Episode am Kreisgericht als Kontrafaktur des Jüngsten Gerichts (2004: 186–190).

290  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Der Kreis taucht als rahmendes Prinzip in zwei weiteren Illustrationen auf, in An der Stadtgrenze (Ill. 47) und Der Laternenwächter (Ill. 65; s. Abb. 49 und 50). In beiden Fällen fungiert er als Verkörperung eines formlosen Null-Raumes.703 Im Text wie im Bild indiziert er das Teuflische. An der Stadtgrenze markiert das Ende von Čičikovs Reise zu den fünf Gutsbesitzern (s. Gogol’ 1951 Bd. 6: 130f.). Die Illustration dient gleichermaßen als ‚Bühnenbild‘ des nächsten Romanschauplatzes: Wie in einem Theater gibt der Illustrator den Blick auf die von Details überquellende Kulisse der Stadt NN frei. Zugleich ist die Tiefendimension der Massenszene – angedeutet durch den Weg, den Čičikovs Trojka befährt – ebenso grotesk zurückgenommen wie die ‚Bühnenrampe‘ in Form der unteren Linie, die den Kreis zu einem Halbkreis verkürzt: zwei Figuren des Bildes – eine davon ist Čičikov – tauchen auch jenseits der Rampe auf, wie in Ill. 58 gleichsam dem Nichts entsprungen. Die Zentralperspektive wird durch die unverhältnismäßige Verkleinerung von Häusern, Bäumen und Figuren parodiert.704 Der extradiegetische Erzähler beschreibt an der entsprechenden Textstelle die Stadt NN bei Einbruch der Dämmerung in gewohnter Manier zwischen Bestimmtem und Unbestimmtem. Das Zwielicht ruft zwielichtige Gestalten auf den Plan. Neben potenziellen Kunden sind grotesk inszenierte Prostituierte, Zwitterwesen zwischen Mensch und Tier – dem Aussehen und ihren Bewegungen nach gemahnen sie an Fledermäuse – als weibliche Variationen der pošlost’, als „pošljački“ (Vladimir Nabokov), vertreten.705 Die für Gogol’ typische Fallhöhe des Hohen – der Erzähler erinnert an Schillers Don Carlos (S. 131) – ins Niedrige, das ‚Rotlichtmilieu‘ der Großstadt (Petersburg) nach dem Karnevalsprinzip generiert einen Ort vulgärer pošlost’. Chagall holt die hinter der Scheinidylle der Gouvernementsstadt im Subtext verborgene pošlost’ in ihrer ordinären, mit sexuellen Konnotationen aufgeladenen Variante mit drastischen Konkretisierungen an die Bildoberfläche: Links im Bild ist ein Soldat (mit Rucksack und Militärmütze, aber ohne Hosen!) zu sehen, der dem Betrachter ungeniert den Allerwertesten zeigt und uriniert.706 Analog zum karnevalistischen Betonen der unteren Körperhälfte und der Geschlechtsorgane dieses Bilddetails weist eine der gestiefelten ‚Damen‘ mit dem Zeigefinger auf ihren Schoß; die in die gleiche Richtung gehaltene Peitsche des Kutschers und die Blickrichtung seines Pferdes lassen an sexuellen Implikationen keinen Zweifel aufkommen. Inmitten dieses bunt-frivolen Treibens à la Hieronymus Bosch steht der Wachposten am Schlagbaum. Die im Text erwähnte groteske Deformation des Körpers – der Schnurrbart des einer Nase baren Wächters scheint an der Stirn zu hängen (S. 130) – kehrt in der Radierung

703 Vgl. die lange philosophische Tradition, die angefangen mit Pëtr Čaadaev, Russland als „zero space“ (Groys 1999: 143) wahrnimmt. 704 Erneut finden sich in Chagalls Ikonographie Verfahren der Ikonenmalerei. Die übereinander angeordneten Häuser auf der linken Bildseite sind im Kontext der umgekehrten Perspektive zu verstehen (s. auch Kap. 5 und 9.1). 705 Ähnlich dem Textausschnitt zu Illustration 58 kehrt die Kombination des Visuellen und des Auditiven als Strukturprinzip wieder. 706 Chagall verwendet dieses Tabuthema mehrfach, vgl. Kap. 4.

Marc Chagall und Nikolaj Gogol’  | 291 wieder.707 Nur betont das fehlende Riechorgan, das freudianisch gesprochen das männliche Geschlechtsteil aufruft (Bachtin 1996: 15) oder wenigstens, so Nabokov, „something peculiarly and grotesquely masculine“ (31961: 5) ist, die Ohnmacht der Obrigkeit angesichts der „poshlust“ (Nabokov) der Stadt. Dass Chagall hier zweimal die Leiter ins Bild setzt, ruft die mit dem Erlösungsgedanken aufgeladene Dichotomie des Kreises und der für Gogol’ positiv konnotierten, vertikal aufsteigenden Linie (der Himmelsleiter) auf.708 In der Radierung Nr. 65 widmet sich Chagall einem winzigen Detail der Gogol’schen Vorlage: Ein Wachposten findet auf seinem Kragen ein kleines Tierchen, „i, podošed k fonarju, kaznil ego tut že u sebja na nogte“ (trat an eine Straßenlaterne heran und richtete es sofort zwischen seinen Fingernägeln hin; 1951 Bd. 6: 177). Der Kontext dieser Nebensächlichkeit – bei dem massakrierten Tier handelt es sich, wie Nabokov uns aufklärt, um einen Floh (31961: 94) – ist für das weitere Romangeschehen zentral: Korobočka fährt, nachdem Nozdrëv Čičikov auf dem Ball als Aufkäufer toter Seelen diskreditiert hat, nächtens in die Stadt und trägt wesentlich zu Čičikovs Fall bei. Die Ankunft der Korobočka geht auch in den Bildinhalt ein: In der rechten Bildhälfte ist die runde (!) Kutsche von Čičikovs „zur Nemesis gewordene[n] Muse“ (Heftrich 2004: 95) zu sehen. Doch kehrt Chagall die Prioritäten, die der Erzähler setzt, um: Das Wesentliche der Erzählsequenz (die Ankunft der Korobočka) erscheint verkleinert an der Bildperipherie; das Unwesentliche (der Nachtwärter gibt einem Ungeziefer den Rest), das sich laut Erzähler „na drugom konce goroda“ (am andern Ende der Stadt; S. 165) ereignet und der grotesken Überzeichnung von Korobočkas Ankunft dient, bildet das Zentrum des Bildes. Der Kreis, in den das Bildthema gefasst ist, parallelisiert – ähnlich dem Text (vgl. das Zwielicht) – Čičikovs und Korobočkas Ankunft in der Stadt. Welche Intention (im Sinne der pošlost’) steht dahinter? Chagall visualisiert hier Gogol’s von Puškin gerühmte Fähigkeit, das unscheinbare Böse einzufangen, das im Kleinen, Nebensächlichen aufschimmert.709 Der Hüter der Ordnung kümmert sich nur um das 707 Unweigerlich ist man hier an Gogol’s Petersburger Erzählung Nos (Die Nase, 1836) erinnert, in der der Kollegienassessor Kovalëv seiner Nase verlustig geht. 708 Vgl. die Erzählerdigression zur Korobočka: „[…] da točno li Korobočka stoit tak nizko na bekonečnoj lestnice čelovečeskogo soveršenstvovanija?“ (s. 53; […] steht denn die Korobočka wirklich so niedrig auf der unendlichen Leiter der menschlichen Vervollkommnung?). Heftrich bringt Čičikovs Reise mit Comenius’ Labyrinth der Welt in Verbindung. Comenius fasst dieses in seinem Frontispiz von 1631 als kreisförmige Stadt (s. Heftrich 2004: 112; Abb. 8); auch im Hinblick auf diese Darstellung frappiert Chagalls Wahl, die Stadt in einen Kreis zu fassen. Die Himmelsleiter als Ausweg aus dem circulus vitiosus der menschlichen Verfehlungen spielt für Gogol’ eine wichtige Rolle. Jakobs Traum bei Bet El (Gen 28, 12) ist die Grundlage für die Klimas toi paradeíson (Aufstieg ins Paradies) des Abtes Johannes vom Katharinenkloster am Sinai (7. Jh.), die wiederum in der byzantinischen Ikonentradition als Die Himmelsleiter des Heiligen Klimakos ihren Niederschlag findet (Sinai, zweite Hälfte des 12. Jh.; s. Wessel/ Restle 1978 Bd. 3: 2–14; Weitzmann 1978: 88f., Abb. 25). 709 „[…] ešče ne u odnogo pisatelja ne bylo ėtogo dara vystavljat’ tak jarko pošlost’ žizni, umet’ očertit’ v takoj sile pošlost’ pošlogo čeloveka, čtoby vsja ta meloč’, kotoraja uskol’zaet ot glaz, mel’knula by krupno v glaza vsem.“ ( […] noch kein Schriftsteller hatte eine solche Gabe, die Banalität des Lebens so klar herauszustellen, die Banalität des banalen Menschen mit solcher Kraft abzubilden, dass all das Kleine, das sonst dem Auge entgeht, allen groß ins Auge springt; Gogol’ 1952 Bd. 8:292; Ü: Urs Hefrich, 2004: 34).

292  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte (Unbedeutende), was im Lichte der Laterne zu sehen ist – so lautet die Kernaussage der Radierung. Dräuendes Unheil kann sich, ist man lediglich mit Kleinigkeiten befasst, ungehindert einschleichen. Hierfür wählt Chagall eine andere Technik: Statt der sonst dominierenden Linie arbeitet er stärker mit Schraffuren. Der höhere Schwarzanteil indiziert Nacht, Unheimliches. Die Radierung weckt nicht nur deshalb oder wegen der Weite des Platzes Assoziationen mit Gogol’s Šinel’ (Der Mantel).710 Die intertextuelle Bild-TextReferenz entsteht in erster Linie über die pošlost’ des Wächters, die auch in ihrer wesentlich dämonischeren Ausprägung im Šinel’ eine wichtige Rolle spielt.

Körper-pošlost’: „The belly is the belle of Gogol’s stories“ Der Hintern darf als würdiger Gegenpart zur viel besprochenen Nase nicht zu kurz kommen. (Man entkommt ihr ohnehin nicht, erinnert man sich der Illustration Das Vertragsbüro.) Dass er in Chagalls Radierzyklus in nicht unerheblichem Maße zum Träger von pošlost’ im Allgemeinen und derjenigen Čičikovs im Besonderen avanciert, demonstrieren die Illustrationen Čičikov auf dem Bett (Nr. 16), Das Erklären des Wegs (Nr. 19), Gevatter Mitjaj und Gevatter Minjaj (Nr. 29), Čičikov rasiert sich (Nr. 75) und Unser Held hält sich bereit (Nr. 77; s. Abb. 51 bis 55). Im Poemkontext zu Čičikov auf dem Bett (Nr. 16) feilscht Čičikov mit der Kollegien­rats­ witwe Korobočka (dt.: Schächtelchen) um verstorbene Leibeigene, die noch in den Steuerlisten geführt werden, und bleibt über Nacht. Chagall greift aus der entsprechenden Textstelle den Augenblick heraus, als Čičikov das ihm bereitete Bett besteigt (Gogol’ 1951 Bd. 6: 47). Dabei löst er sich von der hyperbolischen Erzählerdescriptio des Bettes. Er visualisiert das, was Gogol’ unverblümt beschreibt: Čičikov ist nackt.711 Chagall interessiert hier weniger die Kohärenz mit der Romanhandlung als die Betonung der (Figuren-)Stimmung. Čičikov ist hundemüde, kleidet sich eilig aus und schläft, nachdem er das mächtige Bett bestiegen hat, sofort ein. (Bei Chagall landen die Kleider, die im Text von der Haushälterin entgegengenommen werden, auf einem Schemel.) Der große Verführer hat einen verbal-sexuellen Vorstoß der alten ‚Schachtel‘ abgewehrt. Sie würde ihm auf Wunsch 710 Akakij Akakievič befindet sich auf einem unendlich weiten, öden Platz, einer „strašnaja pustynja“ (schrecklichen Wüste; 1938 Bd. 3: 161), als ihm sein Mantel gestohlen wird. Der Wächter, dessen Häuschen „kazalas’ stojavšeju na kraju sveta“ (am Ende des Welt zu stehen schien; ebd.), beteuert – in ambivalenter Weise das Diabolische Petersburgs erzeugend –, „čto on ne vidal ničego, čto videl, kak ostanovili ego sredi ploščadi kakie-to dva čeloveka […]“ (dass er nichts gesehen habe, dass er gesehen habe, wie ihn in der Mitte des Platzes irgendwelche zwei Menschen anhielten […]; S. 162). Chagall, mit der Reißbrettstadt Peters des Großen ebenfalls bestens vertraut, stellt wie bereits in der Radierung Nr. 58, eine Verbindung zwischen Gogol’s fiktionalisierter Teufelsstadt Petersburg und der fiktiven Stadt NN her. 711 Im Text heißt es: „Čičikov [...] skinul s sebja soveršenno vse“ (S. 48; Čičikov [...] hatte sich komplett alles ausgezogen). Das dunkle Hemdchen, das Chagall Čičikov in der Radierung ‚anzieht’, lässt die runde Nacktheit der unteren Körperhälfte umso deutlicher hervortreten.

Marc Chagall und Nikolaj Gogol’  | 293 wie einst ihrem Verstorbenen die Fersen kitzeln. Čičikov hingegen möchte sich und seinen Allerwertesten ins gemachte Nest setzen – und ruhen (S. 47). Über die konkrete, sexuell aufgeladene Romansituation hinaus offenbart die Illustration den parasitären Charakter von Čičikovs Existenz (vgl. auch Hansen-Löve 1997: 228).712 Der Hintern des gesellschaftlichen Schmarotzers und feist-glatten Betrügers versinnbildlicht dies als visuelle Alternative zum Sprachbild, dass sich der ohnehin korpulente Held „wie ein Kringel“ zusammenrollt (svernuvšis’ [...] krendelem; ebd.). Die sexuell konnotierte pošlost’ wird in der Illustration Nr. 19 Das Erklären des Wegs aufgegriffen. Pelageja, die im Text elfjährige Magd der Korobočka, soll Čičikov am Morgen nach der bequem verbrachten Nacht den Weg zeigen (Gogol’ 1951 Bd. 6: 58f.). Im Bild verschiebt Chagall den Akzent vom Schmutzigen auf das Erotisch-Sexuelle: Durch das getupfte (!) Kleid schimmern die vollen Rundungen von Pelagejas Po hindurch. Die weiße Hand Pelagejas packt Čičikovs Kutscher Selifan am Arm; dieser hält sinnigerweise eine Peitsche in die Höhe, die auf den Pferdehintern deutet (vgl. Ill. 47). Der Frauen- und der Männerkörper verschmelzen in der Darstellung zu einer Einheit. Die Art, in der Chagall das dralle, barfüßige Mädchen präsentiert, als es den Wagen besteigt, stellt ganz offensichtlich einen Bezug zu Čičikovs Zu-Bett-Gehen aus Ill. 16 her. Als Anlass für diese weitere bildkünstlerische Sexualisierung der Situation mag das Motiv der Entführung gedient haben, das Korobočka im Gespräch mit Čičikov erwähnt.713 Die Radierung Gevatter Mitjaj und Gevatter Minjaj (Nr. 29) bezieht sich auf die sinnlosen, von roher Gewalt geprägten Versuche einiger Bauern, Čičikovs Pferde, die sich mit denjenigen einer anderen Kutsche verheddert haben, zu befreien. In einem grotesken Rotationsprinzip (Kreis!) setzen sich Mitjaj und Minjaj – die für Gogol’ so wichtige rhetorische Wiederholungsfigur ist in diesem Figurendoppel personifiziert – abwechselnd auf Čičikovs Pferde. Die Pferde sind von deren Traktieren schließlich ganz erschöpft (Gogol’ 1951 Bd. 1: 84). Chagall zeigt den massigen Minjaj in einer häufiger gewählten Perspektive von oben. Dem Pferd verdreht es angesichts des Gewichts die Augen. Die Radierung dominiert das riesige, schwarz schraffierte Hinterteil des Bauern. Chagall verschiebt die groteske Texthyperbel um 712 Schon vorher, in der Begegnung zwischen Čičikov und Nozdrev bezeichnet der Gutsbesitzer seinen Schwager als „fetjuk“ (Weiberheld): Gogol’ weist in einer eigenhändigen Fußnote auf den anstößigen, weil das männliche Geschlechtsteil assoziierenden Charakter des dem russischen „Ф“ zugrundeliegenden griechischen Buchstaben „Θ“ hin (Gogol’ 1951 Bd. 6: 77). 713 „Požaluj, ja tebe dam devčonku; ona u menja znaet dorogu, tol’ko ty smotri! Ne zavezi ee, u menja uže odnu zavezli kupcy.“ (Dann gebe ich dir am besten ein Mädchen mit; sie kennt den Weg, aber pass auf! Entführ sie mir nicht, eine haben mir schon die Kaufleute entführt“; 1951 Bd. 6: 58) Der Hintern als weibliches sekundäres Geschlechtsmerkmal kehrt noch einmal – diesmal dezent verhüllt – wieder, als der Erzähler sich Čičikovs Vorgeschichte widmet. Hier bereits strebt der Betrüger nach dem Schein, um eine gute Partie zu machen – und nicht etwa nach dem Sein in Form wahrer Liebe: In der Illustration In der Kirche (Nr. 82) ist unterhalb eines nur mit einem Leintuch um die Lenden bedeckten Christus eine rundliche Frauengestalt von hinten dargestellt. Der wohl Betenden – fleht sie Gott um Rettung oder um die Erfüllung ihrer Liebe an? – stellt sich ein herausgeputzter Čičikov entgegen. Befrackt und in galanter Pose – als Indiz hierfür hypertrophiert Chagall wie in der Radierung Čičikov rasiert sich (Nr. 75) den Hintern – buhlt der wieder rundliche Čičikov mit dem starren und schmalen Christus um ihre Aufmerksamkeit.

294  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Minjajs Bauch, der so groß wie ein Riesensamovar ist, mit dem man für einen ganzen Markt „sbiten’“ (eine Art Punsch) kochen kann (ebd.), auf dessen Hinterteil. Die erhobene Hand mit der Peitsche zeigt nicht nur den konkreten Akt roher Gewaltausübung. Sie bildet in Verbindung mit dem tumben Gesichtsausdruck des Bauern, der entgegen den Regeln der Anatomie dem Betrachter zugewandt ist, und dem auf einer Vertikalachse liegenden Hintern eine Metapher für die Dummheit des Menschen, der sich eigentlich auf würdige Art und Weise die Natur Untertan machen sollte. Der Ursprung für die erneute Fokussierung auf den Hintern liegt in der russischen Sprache: Das Russische kennt den obszön-oxymoralen Ausdruck „dumat’ žopoj“ (mit dem Arsch denken) für dummes, fehlerhaftes Verhalten.714 Chagall dringt über die rhetorisch virtuos gestaltete Textoberfläche zum eigentlichen Gehalt der Digression vor. Was Gogol’ stilgrotesk verhüllt, nämlich die der Kreatur Leid zufügende Dummheit des ‚homo sapiens’, enthüllt Chagall, indem er einen sprechenden Ausdruck aus den niederen russischen Sprachschichten visualisiert. In der Passage zu Unser Held hält sich bereit (Nr. 77) rüstet Čičikov nach der Demontage seiner Person in der Stadt zum Aufbruch, zumal sich ein höherer Beamte, allegorisch gedeutet ein potenzieller Richter seiner Schandtaten, ankündigt (Gogol’ 1951 Bd. 6: 215). Für Čičikov ist es an der Zeit, seine Haut zu retten. Die Radierung zeigt Čičikov von hinten. Die krude Schraffur des Hinterteils stellt eine formale Äquivalenz zu Selifans Kutscherrock und zum hastig gepackten Koffer – beides Symbole für die Reise – her. Čičikovs im Vergleich zu den anderen Darstellungen äußerst voluminöse, gebückte Gestalt verdeckt fast vollständig den Kopf. (Das Runde wird durch die geraden Linien der Zimmergestaltung – Holzbohlen, Tür- und Bilderrahmen u. Ä. – betont). Ähnlich wie bei Gevatter Mitjaj und Gevatter Minjaj liegt der Illustration Nr. 77 die visuelle Realisierung eines Sprachbildes zugrunde. Die Periphrase „Videt’ žopu“ ([jemandes] Arsch sehen) verwendet man für einen Menschen, der sich heimlich davonmacht.715 Chagall belebt hier – übrigens nicht zum ersten Mal – eine tote Metapher, also ein Sprachbild, das in Folge seiner Habitualisierung nicht mehr als solches wahrgenommen wird.716 Wieder bildet ein Hinterteil das Bildzentrum. Chagall ‚karnevalisiert‘ hier die Bildgattung des Porträts, das üblicherweise durch die Darstellung des Gesichts das Wesen des Menschen einfängt. Aber sagt nicht Nabokov, dass Čičikovs Hintern dessen wahres Gesicht sei (31961: 71)? Was Nabokov in Bezug auf den Erz-pošljak formuliert, gilt im Jiddischen 714 Flegon 1973: 111. Eine Variante findet sich beim russischen Dichter Vadim Sergeevič Šefner (1915– 2002): „Nado ne zadnicej, a golovoj dumat’“ (Nicht mit dem Hintern, mit dem Kopf muss man denken; zit. nach Flegon 1973: 118). 715 S. Flegon 1973: 111. Auch Puškin, der Begründer der russischen Literatursprache, greift auf vulgäre Register des Russischen zurück: „Francuzov videli togda my mnogich žopu, Da i tvoju, govennyj kapitan!“ (Wir sahen damals den Arsch vieler Franzosen, auch deinen, du Scheißkapitän; zit. nach Flegon 1973: 111). 716 Chagalls Illustrationen zu Gogol’s Mërtvye duši bestätigen die Vermutung Ziva Amishai-Maisels, das Verfahren der Visualisierung der Rede könnte außer dem Jiddischen auch das Russische betreffen (1978: 93).

Marc Chagall und Nikolaj Gogol’  | 295 generell: Der „tokhes“, eigentlich der Allerwerteste, meint auch das „zweite Gesicht“ eines Menschen (Landmann 1960: 407). Chagall, der Ostjude, überträgt seinen in der Sprache verankerten Humor ins Bild. Chagall, der Avantgardist aus der Peripherie, tritt mit dem anarchischen und ambivalenten Lachen des Karnevals der ernsten (= vor allem mimetischen) Rezeption Gogol’s (aus dem hochkulturell orientierten und autoritär-monosemischen Zentrum der russischen Kultur) entgegen – und kommt dadurch Gogol’ näher als manch anderer.717 Eine Kunstgeschichte des Hinterns ist noch nicht geschrieben. Chagalls Illustrationen gebührte hier ein würdiger Platz. Stellt er in der Radierung Nr. 47 noch eine leicht zu übersehende Episode dar, so avanciert er in den behandelten Radierungen Chagalls zu deren ‚Held’.718 Chagalls Inszenierung von Čičikovs Hintern ist dabei mehr als nur ein komisches Element der Radierungen. Chagall entblößt Čičikovs wahres Wesen im wörtlichen, vor allem aber im übertragenen Sinne. Čičikov ist eitel: In der Ill. 75 Čičikov rasiert sich macht der grotesk große schwarze Hintern im Verein mit der stolz geschwellten Brust und dem übertrieben eiförmigen Gesicht aus der Radierung eine Art Programmbild zur „kruglota“ (Rundheit) als – äußerem – Leitmotiv von Čičikovs pošlost’.719 Čičikov haftet etwas (diabolisch) Parasitäres und Vulgäres (Ill. 16) an.720 Und: Der Aufkäufer toter Seelen ist feige (Ill. 77). Alles in allem legt Chagall durch das obszön ausgestellte Körperteil Čičikovs instinktgeleitete Natur bloß. Er trifft damit den Kern von Gogol’s Figurenkonzeption: Solange der „červ’“ (Wurm; vgl. Nabokov 31961: 74, Belyj 1996: 106) an ihm nagt, dieser ungeläuterte Teil seiner Person, in dem der Teufel steckt, bleibt Čičikov in der pošlost’ gefangen. Was Gogol’ stilgrotesk umschreibt, nämlich die physisch sich als rund manifestierende pošlost’ der deformierten Menschenseele, fasst Chagall in der Radierung im grotesk deformierten Körper. Michail Bachtin, wie Chagall zeitweilig währender der Vitebsker Kulturrenaissance in der Gouvernements-Stadt aktiv (s.  Šatskich 2001: 204–228), zeigt im Zuge seiner 717 Chagalls Dichter-Freund Cendrars ‚hört‘ aus Chagalls Bildern sexuelle Untertöne ‚heraus‘ und überträgt dies wiederum in sein Widmungsgedicht (dt. in Baal-Teshuva 2008: 46). 718 Gerade der Schwarz-Weiß-Kontrast in der Ill. 16 macht dies deutlich. Der Hintern taucht auch in anderen Illustrationen Chagalls auf, z. B. in Die Geschichte von Kamal Ez-Zaman und der Frau des Juweliers, einer Farblithographie zu den Erzählungen aus 1001 Nacht (1948), oder in Chagalls Grafik Avec du bleu, du rouge, du jaune (1968) zu eigenen, auf Französisch verfassten Gedichten. Letztere wiederholt die Darstellung aus Ill. 29. 719 S. Nabokov 1944: 74. In der entsprechenden Textvorlage taucht das Merkmal des Runden nicht auf (Gogol’ 1961 Bd. 6: 211); Gogol’ betont vielmehr den stacheligen Bart des angeschlagenen Avanturisten, während Chagall diesen in der Pose des Gewinners zeigt. Mit dem runden Kinn realisiert Chagall hier Čičikovs Eigencharakterisierung, sein Kinn sei „sovsem kruglyj“ (kugelrund; S. 135). Belyj deutet Čičikovs Rundheit als Resultat der Unbestimmtheit, Gogol’s Zentralverfahren (s. Belyj 1996: 101f.). 720 Zu Čičikov als Vertreter des schmarotzenden Bösen, das allein keine Existenzgrundlage hat s. HansenLöve 1997: 228f. Ebenfalls in die Reihe der Illustrierung vulgärer pošlost’ ist Čičikov triumphiert im Hemd (Nr. 52) aufzunehmen. Zurück in seiner Unterkunft nach den erfolgreich verlaufenen Gutsbesitzerbesuchern lüpft Čičikov in Chagalls Deutung im Tanz sein Hemd und gibt den Blick auf seine vom Künstler angedeuteten Genitalien frei. Wie in Čičikov auf dem Bett liegen im Hintergrund dessen Kleider auf einem Schemel.

296  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Rabelais-Studien die groteske Gestalt des Leibes auf (1986: 329–399, 1996: 15–23). In ästhetischer mehr als in weltanschaulicher Hinsicht trägt Čičikovs Körper bei Chagall groteske Züge.721 Čičikovs Nase und Hintern bestimmen in mehr oder weniger starker Überzeichnung Chagalls künstlerische Logik: Anders als beim klassisch oder realistisch wohl proportionierten Körper, der als Einheit wahrgenommen wird, hyperbolisiert Chagall einzelne Körperteile. Dadurch werden sie gerade in ihrem metaphorischen Mehrwert erfahrbar (vgl. Bachtin 1996: 19). Chagalls Körperdarstellungen kartographieren Gogol’s pošlost’ aus dem Poem. Das Bindeglied zwischen dem karnevalesk-grotesken Körper, der absichtlich antinormativ Tabuisiertes ausspielt und die Energien des Unbewussten aktiviert (s. Bachtin 1986; dt. 1987), und Chagalls individueller Umsetzung in den Illustrationen bildet die Sprache.

Die Entstehung der Illustration aus der russischen Sprache Gogol’s Figuren (nicht nur) in den Mërtvye duši, seine „pošljaki“ und „pošljački“, sind bekanntermaßen untrennbar mit seiner Rhetorik verbunden. Sie werden aus einer grotesken Metapher geboren oder entspringen einer Hyperbel.722 Gogol’s pošlost’, das unscheinbar daherkommende Böse, steckt also im – stilistischen – Detail.723 Was leer, form- und substanzlos ist, bedarf derartiger Sprachmasken (Jurij Tynjanov).724 Chagall, ein Meister assoziativen Kunstschaffens, folgt der ambivalenten und assoziativen Schreibweise in Gogol’s Poem (s.  hierzu Mann 1996: 242–276). Er übersetzt ästhetische Verfahren des Grotesken, wie sie im Text verwendet werden, in die Gravur. Gogol’s Protagonist Čičikov, Paradebeispiel für die „figura fikcii“, wird nie individualistisch-realistisch dargestellt.725 (Überhaupt kümmert Chagall historische Genauigkeit wenig; Bärte, die Mode und die Kleiderordnung des 19. Jh., in der sich die Rängetabelle widerspiegelt, interessieren 721 M. E. spielt der kosmische und universale Gehalt des grotesken Leibes bei Chagall eine untergeordnete Rolle. 722 Zu Gogol’s anthropomorphisierenden Metaphern, die die Grenze zwischen Mensch und Ding aufheben, s. Nabokov 31961: 77–82. Die personifizierte Hyperbel schlechthin ist Nozdrev (vgl. Heftrich 2004: 179). Die Hyperbel wird meist durch Wiederholung generiert und ist die Basis für das Groteske (s. Belyj 1996: 245–263, Hansen-Löve 1997: 233–234, 236). 723 Zu Gogol’s Ästhetik des Details s. Nabokov 31961: 71, Koschmal 1982: 337 und Mann 1996: 250: „Gogol’ myslit podrobnosti – bytovye, istoričeskie, vremennye i t.d. – ne kak fon, a kak čast’ obraza“ (Gogol’ konzipiert Einzelheiten – alltäglicher, historischer, zeitlicher Natur usw. – nicht als Hintergrund, sondern als Teil des Bildes). Genau diese Details setzt Chagall um. 724 Jurij Tynjanov deckt in seiner formalistischen Studie Dostoevskij i Gogol’ (Dostoevskij und Gogol’) von 1921 Wort- und Sachmasken als Zentralverfahren in Gogol’s Erhabenheits- und Groteskediskurs auf (1969: 300– 371, bes. S. 311–322). Derartiges meint auch Vasilij Rozanov, wenn er von der wächsernen Sprache (voskovoj jazyk; 1970: 11) Gogol’s spricht, die „Wachsfigürchen“ (voskovye figurki; 1970: 13) hervorbringe. 725 Jurij Mann präzisiert Belyjs Charakterisierung von Gogol’s ambivalenter Schreibweise: Zwischen den Polen der Bestimmtheit und der Unbestimmtheit gewinnt sie ihre hohe Spannung. Aufgrund der Realisierung von Gogol’s Rhetorik entsteht – neben der Theatralisierung der Bilder – eine Parallele zu Mejerchol’ds legendärer Inszenierung von Gogol’s Revizor von 1926 (vgl. hierzu Belyj 1989: 9–28; zu Mejerchol’d als prägender Theaterfigur für Chagall s. Kap. 6).

Marc Chagall und Nikolaj Gogol’  | 297 ihn nicht.726) Vielmehr verfügt er über mehrere ‚visuelle Identitäten’. Chagall schöpft facettenreich das breite Spektrum radiertechnischer Möglichkeiten aus, um Čičikovs innere – von der Linie umrahmte – Leere, das – schraffierte – Nichts, das in ihm gähnt, zu fassen. Die zahlreichen Körper-Metamorphosen, die Čičikov in Chagalls Illustrationen unterläuft, geben seinem höchst wandelbaren Charakter Gestalt; im Text ist dies in Čičikovs Sprech-Mimikry, einer mannigfaltigen Stilisierung seiner Rede, eingefangen (vgl. Koschmal 1982: 342). Anhand der Metonymie, die der Illustration 58 zu Grunde liegt, wird die visuelle Realisierung von Gogol’s Rhetorik besonders augenfällig. Hyperbolisierungen, die in narrativem Nacheinander, in Figuren- oder Erzählerrede entstehen, verschiebt Chagall in die Gleichzeitigkeit der Illustration, vorrangig in alogische Größenverhältnisse oder, wie beim Po, in utrierte Körperformen.727 Gogol’s Sprachmasken tauscht Chagall in Bildmasken, vorrangig in metaphorisierte Körpermasken um. Chagall thematisiert in seinen Illustrationen nicht einfach einen Textinhalt, sondern realisiert auch die Textfaktur. Chagall durchbricht damit die für das 19. Jh. typische realistisch-sozialkritische Lesart der Mërtvye duši, die Gogol’s Poempoetik und deren theologisch-weltanschauliche Implikationen verfehlt.728 Die Illustrationen A.A. Agins und P.M. Boklevskijs aus dem 19. Jahrhundert stehen in dieser Tradition (Ästhetik der Wiederholung). Chagall ‚visualisiert‘ den Paradigmenwechsel in der Rezeption hin zum A- bzw. Pseudorealistischen und Grotesken. Der Ursprung für Chagalls Illustrationen zu den Mërtvye duši liegt in der Sprache. Chagalls Radierungen sind also nicht als bloße Transposition des Textinhalts zu sehen, sondern vielmehr als Transfiguration der Phänoebene des Poems, also deren sprachlicher Repräsentation, im Bild.729 Wie bereits bei früheren Illustrationen zu Perets, vor allem jedoch zu Dovid Hofshteyn ist für Chagall die Signans-Struktur entscheidend: Text-Signifiants und ihre denotativen wie konnotativen Bedeutungen werden in Bild-Signifiants überführt. Auch diese sind – über die Rückkoppelung an den entsprechenden Textinhalt hinaus – polysem. Sie rufen mehrere im Text – oder in 726 Ich danke dem Petersburger Autor Oleg Strižak für aufschlussreiche Hinweise hierzu. Umgekehrt lässt Chagall die Gelegenheit nicht aus, karnevalistisch auf die russische Kunst zu verweisen. In Die Treidler (Ill. 55/2) stellt er sich selbstironisch als solcher dar und parodiert so Il’ja Repins durch und durch realistisches Bild Wolgatreidler von 1878. Die realistische Gestaltung, wie sie Čičikov bei Agin erfährt, fließt ebenfalls auf parodistische Weise in Chagalls Illustrationen ein. 727 Ein Beispiel für die Hyperbolisierung der Text-Hyperbel durch alogische Größenverhältnisse ist Chagalls Illustration Pljuškin bietet etwas zu trinken an (Nr. 44). 728 Dies ist auch der einseitigen Zuordnung Gogol’s zur Natural’naja Škola (Natürlichen Schule) geschuldet (s. Vinogradov 1987). Der damalige Durchschnittsleser rezipiert die Mërtvye duši allenfalls als Satire. Seit dem russischen Symbolismus, insbesondere dank Andrej Belyj, findet Gogol’s grotesk-phantastische Ästhetik des Grotesken sowie seine Rhetorik der Null angemessene Beachtung. Zum Grotesken bei Gogol’ s. bes. Günther 1968, zur Nullrhetorik Hansen-Löve 1997: 183–303. Durch sein parodierendes Zitieren Agins und Repins setzt Chagall im visuellen Medium die von den Symbolisten eingenommene Gegenposition zu Gogol’ als Vertreter der Natürlichen Schule fort. 729 Zu diesen von Hansen-Löve eingeführten Intermedialitätskategorien s. Kap. 2. Auch der Chagall-Biograph Alexander Sidney betont für die Illustrationen, dass „das Gesagte durch das visuelle Medium verwandelt – und doch adäquat ausgedrückt wird“ (1984: 239). Chagall folgt also mit den Mitteln der Gravur Gogol’s Poetik, die Jurij Lotman in die „Ästhetik der Entgegenstellung“ (1972: 192) einreihen würde. Diese nutzt, anders als die inhaltsorientierte „Ästhetik der Identität“ (1972: 188), das „Modellierungspotenzial von Form und Inhalt“ (Koschmal 1982: 334; s. Lotman 1972: 169–198).

298  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte anderen Texten – verstreute Sinnkomplexe auf. Sie stellen intra- und intertextuelle Bezüge her. Gogol’ hatte laut seinem berühmten Brief an Puškin vom 7.10.1835 mit den Mërtvye duši „vsja Rus’“ (das ganze Russland; 1940 t. 10: 374–375) im Auge; Chagall holt (fast) den ganzen Gogol’ ins Bild. Die Intertextualität seiner spezifischen Intermedialität spielt über die Mërtvye duši hinaus auf andere fiktionale Texte (z. B. Nos, Šinel’, Revizor) und Metatexte (zum Komischen und eben zur pošlost’) an.730 Darüber hinaus generieren Chagalls Illustrationen aber auch – und das ist eine entscheidende zusätzliche Qualität – durch die spezifische bildkünstlerische Gestaltung eigene motivische oder ästhetische Äquivalenzen. Losgelöst vom Text bringen sie eine eigene Semantik, etwa der pošlost’, hervor. So wird durch den Einsatz runder Formen und deren Semantisierung zwischen Čičikov, den Beamten und der Stadt eine Äquivalenz hergestellt, die sie allesamt als Träger der pošlost’ enttarnt. Auch durch die aussagekräftige Darbietung des Hinterns treten einzelne Illustrationen in Beziehung zueinander, die über die offene und verdeckte Bildsemantik pošlost’ einfangen. Was Gogol’ nicht expressis verbis nennt, überzeichnet Chagall ‚expressis imaginibus’. Chagall ist dabei frei genug, über Gogol’s ‚ge­­zähmte‘ Literatursprache hinaus auf die inoffizielle, subversive Sprache des mat (Mutterfluch) zurückzugreifen, der auch in der Volksliteratur, z. B. in Bylinen, wiederkehrt.731 Die Bildhaftigkeit obszöner Termini generiert eine drastische Bildoberfläche. Diese ist nicht einfach Chagalls grenzenloser Phantasie geschuldet. Vielmehr schwingt in ihr der subtile (ethische) Subtext aus Gogol’s Poem mit.

Pošlost’ intermedial Was ist der – ästhetische und heuristische – Mehrwert einer Gogol’-Rezeption unter dem Gesichtspunkt der pošlost’, die neben dem Text noch die visuelle Seite, also Chagalls Radierungen, einbezieht? In welchem Verhältnis steht die bildkünstlerische pošlost’ zu jener des Textes? Der erste Teil der Mërtvye duši ist, so Gogol’ selbst, durch und durch pošlost’ (1952 Bd. 8: 293–295). Sie manifestiert sich dank der Meisterschaft, aber auch dank der Akribie des Autors auf mehreren Text- und Sinnebenen. Bei den Romanfiguren ist die quasilebendige Leblosigkeit ein wichtiges Indiz dafür.732 Wie Marionetten hängen sie an den Fäden einer zwischen Pathos und Groteske pendelnden Erzählerinstanz (vgl. Rozanov 1970: 13). In Chagalls drucktechnischer Modellierung der pošlost’ frappiert ebenfalls die paradoxale Verknüpfung aus typisiert-holzschnittartiger Figurengestaltung (Merkmal des Leblosen) und gestisch-mimischer Theatralität (Merkmal des Lebendigen). Sie generiert eine dem Text verwandte Pseudo-Lebendigkeit. Dieses Maskenhafte der Figuren ist wesentliches 730 Ausgenommen ist hier der metatextuelle religiöse Gogol’, vgl. seine zwischen 1845 und 1852 verfassten Razmyšlenija o božestvennoj liturgii (Betrachtungen über die göttliche Liturgie; dt. 1989). 731 Zum verbreitetsten Substandard des Russischen s. Flegon 1973 und Koester-Thoma 2002: 284f. 732 Diese – ästhetisch konstruierte – Ambivalenz findet hier eine ihrer Hauptursachen: „Die Ambivalenz und der hohe Grad der Unbestimmtheit der dargestellten Welt wird durch die beiden konträren Tendenzen der Materialisierung des Menschlichen und Geistigen und der Personifizierung des Unbelebten und Tierischen hervorgerufen.“ (Koschmal 1982: 350)

Marc Chagall und Nikolaj Gogol’  | 299 Attribut visueller pošlost’. Chagalls antimimetische (Körper-)Ästhetik, die aus dem reichen Fundus des Volkstheaters schöpft, erfasst im Kern Gogol’s desillusionierende Menschensicht: Die Eindimensionalität seiner anthropomorphen Bildpuppen – die Gestalten sind leer und ohne Tiefe – ist das Resultat einer differenzierten Lektüre eines Textes, in dem der homo exterior über kein Pendant im homo interior verfügt.733 So ähnlich sich die beiden Medien, der Text und die Illustrationen, in ihrem karikaturalgrotesken Offenlegen der pošlost’ in Mensch und Welt sind, in einem Punkt unterscheiden sie sich: Gogol’s Arche-Text hierzu birgt eine tragische Komponente, die in den oft (auto) reflexiven Erzählerdigressionen artikuliert wird.734 Die Möglichkeit einer Katharsis ist also kraft einer Narration gegeben, die Pathos und Komik, Hohes und Niedriges umfasst. In Chagalls künstlerischer Sicht hingegen dominiert das Komische, oft bis ins Groteske übersteigert. Sein Radierzyklus verschließt sich einer erhaben-tragischen Dimension. Chagalls Ästhetik des Grotesken entblößt das Böse, entlarvt – und verlacht es. Reinigende Funktion steckt – ganz im Sinne Gogol’s – in der Komik. Pošlost’ verfügt auch im Bild über eine ästhetische und moralische Dimension – die Analyse von Chagalls Ästhetik des Runden als Ort der Leere und des Nichts hat dies hoffentlich gezeigt. Ebenso wenig wie die pošlost’ in den Mërtvye duši ist Chagalls Variation rein ästhetischer Natur.735 Bild und Text zeigen über unterschiedliche Ästhetiken das ethische Desaster des banal Bösen. Die beiden Medien können sich dabei ergänzen, müssen es jedoch nicht. Chagall imaginiert zwangsweise erst im Kontakt mit dem Text seine Versionen pikturaler pošlost’. In ihrer ästhetischen Konkretisierung sind sie vom Text unabhängig. Auch ohne Gogol’s Prätext entfalten sie viele Facetten grotesker Komik. Sie sind  – mit viel hintergründigem Witz  – Teil der Lachkultur Russlands. Diese Autonomie im intermedialen Text-Bild-Bezug verdankt sich der monomedialen Tatsache, dass Chagall, nuancenreicher als in seinem übrigen Illustrierwerk, mit dem Furor des vom Text entflammten Experimentators, die Bandbreite drucktechnischer Verfahren nützt, um „jedem Bildgegenstand – ob Ding, Figur oder Idee – eine ihm allein eigene, adäquate Gestalt zu verleihen“ (Uthemann 1985: 44). Chagalls Radierungen zu Gogol’s Mërtvye duši dominiert kein übergeordnetes Prinzip wie etwa die karge Linie in Mein Leben oder die feine Strichelung in den Tanach-Illustrationen, so dass sie in ihrer künstlerischen Einheitlichkeit Spiegel des Textes würden. Gerade das Malerische in der Gravur  – Punkte, Flecken, flächige Roulette- oder Aquatinta-Gestaltung (ebd.) – trägt wesentlich zur druckästhetischen Vielfalt bei.736 733 Auch die vom Erzähler gelenkte, bewusst primitiv gestaltete Innenschau der Figuren erschließt nicht deren Tiefendimension (s. hierzu Mann 1996: 282–288). 734 Laut Zen’kovskij wurzelt dies in Gogol’s ästhetischer Anthropologie, die u. a. Schillers Ideal von der ästhetischen Erziehung des Menschen entspringt (2005: 167–173). Die Trauer ob der verfehlten Vollkommenheit des Menschen (s. S. 168) bewirkt Gogol’s Höhenflüge der Komik. 735 Zu einer primär ästhetischen Imagination des Bösen s. Markishs Pogromzyklus Di kupe (Kap. 8.1). 736 Pavel Florenskij lehnt genau dies als Verrat an der Graphik ab: „Sobald in einem graphischen Werk Punkte, Flecken, farbig ausgefüllte Flächen erscheinen, hat dieses Werk die graphische Aktivität der Weltauffassung, den Bewegungsaufbau seines Raums, die Geste der Willensäußerung schon verraten, d. h. malerische Elemente in sich aufgenommen“ (1997: 161).

300  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Dem Graphiker Chagall geht jedoch der Leser Chagall voraus: Gerade weil der Maler ein (geschultes) Ohr für Gogol’s Erzähl- und Schreibweise hat, sich auf das Spiel mit dem Stil einlässt, ermöglicht er dem betrachtenden Auge eine vom Text unabhängige Rezeption.737 Die Radierungen sind dadurch einer bloß illustrativen Funktion enthoben. Der intermediale Mehrwert von Chagalls Illustrationen zur pošlost’ liegt in der ethischen Kongruenz des ästhetisch Inkongruenten. Der Sieger in dieser Debatte ist die Kunst: Pošlost’ gewinnt als Verfremdung in Wort und Bild ihren Reiz.

737 Gogol’ selbst war ein begnadeter Vorleser, der einen Text erst durch den gelungenen Vortrag gutheißt, vgl. Gogol’ 1952 Bd. 8: 233–234. Bella wiederum liest ihrem Gatten die Mërtvye duši auf Russisch vor. Gogol’s „zvukopis’“ (Laut-Schrift) ist in der oralen Vermittlung entscheidend als Stimulans für Chagalls visuelle Imagination von Gogol’s Poem. Die letzte Tafel seiner Illustrations-Übersicht beschließt Chagall bezeichnenderweise mit einer Miniatur, die Gogol’ als Vorleser zeigt, während Chagall parallel malt (s. Abb. 107 in: Renn 1999: 226).

12 Von der Tora zur Toyre, vom Text zum Bild – Die Bindung Isaaks (Gen 22) bei Yehoyesh, Marc Chagall und Itsik Manger738

JEWS HAVE SIX SENSES Touch, taste, sight, smell, hearing ... memory. While Gentiles experience and process the world through the traditional senses, and use memory only as a second-order means of interpreting events, for Jews memory is no less primary than the prick of a pin, or its silver glimmer, or the taste of the blood it pulls from the finger. The Jew is pricked by a pin and remembers other pins. It is only by tracing the pinprick back to other pinpricks – when his mother tried to fix his sleeve while his arm was still in it, when his grandfather’s fingers fell asleep from stroking his great-grandfather’s damp forehead, when Abraham tested the knife point to be sure Isaac should feel no pain – that the Jew is able to know why it hurts. When a Jew encounters a pin, he asks: What does it remember like? Jonathan Safran Foer, Everything is illuminated, 2003, S. 198f.

Die „Bindung Isaaks“ aus Genesis 22 ist eine der schwierigsten und verstörendsten Stellen im Alten Testament. Dieses im wahrsten Sinne des Wortes fesselnde Thema geht als Blatt Nummer 10 unter dem Titel Le sacrifice d’Isaac in Chagalls Radierungen zur Bibel ein, die er zwischen 1931 und 1939 und dann von 1952 bis 1956 anfertigt.739 Der christlichen Tradition entsprechend, rückt dieser von Chagalls Tochter Ida vergebene Titel das Opfer in den Mittelpunkt. Anders verhält es sich im Judentum: Hier wird die Bindung, die Aqeda (jidd. akeyde[s]) – abgeleitet von der Wurzel „‫“יקד‬: „binden, fesseln“ – in erster Linie als Prüfung Abrahams gedeutet. Der prüfende Blick ruht also auf dem ‚Täter‘, weniger auf dem Opfer.740 Nicht nur theologische Verschiebungen verändern die semantische Aura der Illustration, sondern auch sprachliche. In Chagalls Fall ist dies eine Verschiebung vom Hebräischen zum Jiddischen. Der Künstler fertigt seine Illustrationen zum Alten Testament auf der Grundlage

738 Das Kapitel stellt die erweiterte und überarbeitete Fassung meines Beitrags für den Sammelband zur Tagung „Bibel und Literatur“ dar, die vom 21.–24. September 2008 in Krakau stattfand (2010: 235– 252). 739 Die lange Pause erklärt sich außer durch den Unfalltod von Chagalls Verleger Vollard natürlich durch den Zweiten Weltkrieg. Während Chagalls Exil in New York von 1941 bis 1948 bleiben gedruckte und noch ungedruckte Platten in Paris, die er nach seiner Rückkehr nach Paris von Vollards Erben zurückerhält. Dank Chagalls tatkräftiger Tochter Ida wird ein neuer Verleger, Tériade, gefunden. Ida ist es auch, die für die zweibändige Edition der 105 Blätter im Jahre 1956 die entsprechenden Bibelzitate auswählt (Chagall: 1956, Rosenfeld 1987: 11). Ursprünglich war das Projekt unter dem Titel Le livre des Prophètes (Das Buch der Propheten) ersonnen: In fünf Bänden sollte die Genesis, das Buch der Könige, das Buch der Propheten, das Hohelied und – sich sperrig in diese Reihe einordnend – die Apokalypse bebildert werden (Rosenfeld 1987: 11). 740 S. Mosès 2007: 58f. Zur Bindung Abrahams in Judentum, Christentum und Islam s. Greiner/Janowski/Lichtenberger 2007, zum spezifisch russischen Opferdiskurs, der angesichts Chagalls jüdisch-russischer Doppelidentität eine Rolle spielt, s. Grübel 2006: 1–82.

302  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte der jiddischen Übersetzung des Tanach durch Yehoash  – jiddisch Yehoyesh (Salomon [Shloyme] Blumgarten; 1872–1927) – an.741 Yehoyeshs Bibelübertragung und ihre poetische Spezifik spielt im Entstehungsprozess der Bibelillustrationen eine entscheidende Rolle. Welche Entwicklung nimmt nun das Motiv der Aqeda, der Bindung Isaaks, vom hebräischen Gründungstext über die jiddische Übertragung zur visuellen Realisierung Marc Chagalls? Eine adäquate Antwort erfordert außer dem Blick auf die tanachische jiddische Vorlage die Berücksichtigung der ikonographischen Tradition auch christlichen Ursprungs. An erster Stelle steht hier Rembrandt und die wohl als Auftragsarbeit entstandene erste Fassung seines Monumentalgemäldes Die Opferung Isaaks von 1635.742 Zugleich reicht sie weit in die spezifisch jüdische Tradition der Textauslegung hinein. Diese findet ihren Widerhall in der Tsenerene (Ze’enah u-Re’enah), einer in Osteuropa weit verbreiteten, volkstümlichen und mit vielen talmudisch-midraschischen Legenden bestückten Sammlung biblischer Geschichten in jiddischer Sprache speziell für Frauen.743 Chagall dürfte sie von Kindheit an gut bekannt  – und eine nicht zu unterschätzende Inspirationsquelle gewesen sein.

Zwei Biographien im Banne der Bibel: Marc Chagall und Yehoyesh Chagall ist 43 Jahre alt, als er im Jahre 1930 den Auftrag seines Verlegers Vollard annimmt, das Alte Testament zu illustrieren (Liebelt 1985: 137). Der Künstler wendet sich also erst in mittleren Jahren als Illustrator und Radierer dem Gründungstext des jüdischen Volkes zu. Doch gemäß seinen eigenen Worten begleitet ihn die Tora seit langem – und beeindruckt ihn in ihrem poetischen Potenzial: „Depuis ma première jeunesse, j’ai été captivé par la Bible. Il m’a toujours semblé et il me semble encore que c’est la plus grande source de poésie.“ (Chagall 1973: 9) Chagall lernt in Vitebsk und später während seiner Studienaufenthalte in Petersburg die russisch-orthodoxe Ikonentradition kennen, interessiert sich für Bildthemen und -figuren

741 Zu Chagalls Bibelillustrationen s. Rotermund 1970, Chagall 1981 und Rosensaft 1987. Im Unterschied zum intimer gehaltenen ersten Teil entscheidet sich Chagall beim zweiten Teil für eine dramatische Ausgestaltung: „In vielen Blättern bedient er sich des barocken Lichtillusionismus, Figuren und Landschaft werden durch kreisrunde Aureolen, Strahlenkränze und Lichtkegel akzentuiert und strukturiert.“ (Gassen/Holeczek 1985: 264) 742 Das Bild ist im Bestand der Sankt Petersburger Eremitage; Chagall dürfte damit also während seiner Petersburg-Aufenthalte in den 1910er Jahren vertraut geworden sein. Die zweite Fassung von 1936, an deren Erstellung auch Rembrandts Werkstatt beteiligt war, befindet sich in der Alten Pinakothek in München. 743 Der älteste erhaltene Druck stammt von 1622. Zur Tsenerene s. Erik 1979: 209–242, Neuberg 1999, Turniansky 2007 Bd. 21: 491–492 und Aptroot/Gruschka 2010: 72–75; Bei Falk Wiesemann finden sich Abbildungen zur Aqeda aus verschiedenen Tsenerene-Auflagen (2002: 38, 116, 126 und 130); der Isaak auf der Aqeda-Abbildung einer Silberplatte hat Ähnlichkeit mit Chagalls Figur (Wiesemann 2002: 62). Die älteste jüdische Darstellung ist das Bodenmosaik in Beth-Aleph aus dem 6. Jh. (Abb. in: Sed-Rajna 1997: 415).

Yehoyesh, Marc Chagall und Itsik Manger – Genesis 22  | 303 des Neuen Testaments.744 Angeregt wird Chagalls künstlerische Beschäftigung mit der byzantinisch-russisch-orthodoxen Bildtradition durch die Bewegung mir iskusstva (Welt der Kunst; s. Kap. 3), „den einen oder anderen historistisch gesonnenen Lehrer in St. Petersburg, vor allem wohl durch Nikolaj Rerich“ (Liebelt 1985: 137), durch Vrubel’s symbolistische und die primitivistische Auseinandersetzung Michail Larionovs oder Natal’ja Gončarovas mit der Ikone. Sie setzt sich während seines ersten, künstlerisch prägenden Pariser Aufent­ haltes 1910–1914 fort.745 1914 dann malt Chagall in seiner Heimatstadt Vitebsk unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges seine Serie der Judenporträts. In Der Jude in Hellrot (von 1914/15) glüht im Rot und Gelb das apokalyptische Feuer der Vernichtung und streitet mit dem verheißungsvollen „schwarzen Feuer auf weißem Feuer“ der Heiligen Schrift, mit Gen 12, das Chagall in Ausschnitten auf Hebräisch zitiert (s. Kap. 7). Der Jude in Hellrot von 1914/15 ruft den Bund, den Gott mit Abraham schließt, auf. Verheißung von Land und Nachkommenschaft verweist auf Gen 22. Hier wird Abraham auf die Probe gestellt, ob er Gott zuliebe seinen einzigen Sohn Isaak opfern würde. Das Gesicht des Juden ist alt wie die Geschichte seines Volkes. In der Erhabenheit seines Antlitzes ist die spätere Patriarchenfigur des Abraham aus Chagalls Illustrationen zur Tora bereits vorgezeichnet. Bis es hierzu kommt, kehrt die Tora in zahlreichen Bildern, Holzdrucken und Zeich­ nungen Chagalls wieder (s. Kap. 13). Neben die Darstellung der Torarolle, der materiellen Manifestation, der äußeren Hülle von Gottes Wort, tritt Chagalls Innenschau auf Gottes Wort, die Ausgestaltung des Bibelinhalts in Form der Radierungen. Sie sind Ergebnis einer sorgfältigen Lektüre und druckgraphischen Arbeit: Chagall fertigt teilweise bis zu 12 Vari­ anten eines Blattes an (Liebelt 1985: 146). Nach diesem Intermezzo der Gravur stattet Chagall seine biblisch inspirierten Werke mit einem festlichen, emotionalen Farbenspektrum aus. Die Virtuosität des Graphikers Chagall befruchtet die des begnadeten Koloristen und umgekehrt. 1960 wird die Radierfolge zum Alten Testament mit 16 weiteren Farblithographien und 12 monochromen Lithographien in der Zeitschrift Verve ediert (Rosenfeld 1987: 12).746 Neben kolorierten Radierungen, Gouachen, Lithographien, Holzdrucken und Wandbildern fasst Chagall religiöse Motive in Ölbildern, Tapisserien und Keramikplatten (Gassen/Holeczek 1985: 264). Siebzehn 744 Früh malt er die Heilige Familie, Golgotha, Die Auferweckung des Lazarus und byzantinische Madonnentypen „wie die ‚Erbarmende‘ (Eleusa), die ‚Milchspendende‘ (Galaktrophusa) oder die kosmisch zu verstehende ‚Schwangere‘ (Platytera)“ (Liebelt 1985: 137; s. auch ders. 1971: 51–83). 745 Vgl. Hommage à Apollinaire (1911), Adam und Eva (1912), Kain und Abel (1911) und natürlich Golgotha (1908, 1912, 1912–13 [kleine Fassung]. 746 Die Sammlung dieser Lithographien befindet sich heute im Chagall-Museum seiner Geburtsstadt Vitebsk (heute Belarus), das 1991 seine Pforten öffnete. Sie umfasst zwei Serien von Farblithographien, die Chagall 1956 und 1960 für die französische Zeitschrift Verve (Bd. X; Nr. 37 und 38) anfertigt. Mit den Lithographien von 1960 unterteilt er das Alte Testament gleichsam in Sequenzen. In jedem Blatt kommen Sujets aus den Büchern Genesis, Exodus, Könige, Jesaja, Ruth, Esther und Hiob zur Darstellung. Eine maximale Verallgemeinerung der Form und die Reduktion des Details auf ein Minimum erlaubt es Chagall, die handelnden Figuren in Großaufnahme zu zeigen. Gleichzeitig geht die Monumentalität der Form Hand in Hand mit einem festlichen, emotionalen Farbspektrum. Daneben stellen die monochromen Lithographien seine besondere Stärke im Umgang mit Schwarz und Weiß unter Beweis (Chmel’nickaja 2002: 7).

304  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte monumentale alttestamentarische Gemälde, die Chagall ursprünglich der Passionskapelle in Saint-Paul-de-Vence, seinem Alterswohnsitz, zugedacht hat, bilden den Grundstock für das 1973 in Nice eröffnete Musée de message biblique (s. Kap. 10). Isaaks Bindung ist – nun in Öl auf Leinwand – Bestandteil davon (Chagall 1973: 41). An den monumentalen Ölbildern, vor allem jedoch an den Glasfenstern wird eines deutlich: Im Spätwerk Chagalls hat sich die Farbe gegen die Zeichnung durchgesetzt (s. Aaron 2003: 121). Fasziniert von der Leuchtkraft mittelalterlicher Fenster, die Chagall 1952 in Chartres studiert, werden die Glasfenster für ihn zum Medium par excellence für „die Durchsichtigkeit der Farben, die Suche nach dem Licht, das Durchscheinen eines höheren Lichts, die Hinwendung zum Jenseitigen“ (ebd.).747 Chagalls Glas­fenster (zu Gott) synthetisieren Architektur, Farbe und Licht. Chagalls frühe Beschäftigung mit der Ikone, ihrerseits ein Fenster zu Gott, und seine späte Liebe zum Glas bilden den Rahmen für seine facettenreiche Darstellung religiöser Motive. 1872 kommt in Vierzbolavo (heute Virbaln, Litauen) Yehoyesh zur Welt. Im Cheder, der jüdischen Grundschule, lernt er die Tora und das Hebräische kennen – nicht wissend, dass ihn die Beschäftigung mit dem Gründungstext des Judentums bis an sein vorzeitiges Ende 1927 begleiten wird.748 Yehoyesh besucht kurzzeitig eine Jeschiwa. Zugleich wird er mit Autoren der Haskala vertraut. Noch während seiner Zeit im Zarenreich versucht er sich an der Übersetzung des 18. Psalms, die er zu Perets, dem großen Mentor der nachfolgenden jiddischen Schriftstellergeneration, nach Warschau bringt. Perets veröffentlicht sie gemeinsam mit Yehoyeshs hebräischen Versen (Reyzen 1928 Bd. 1: 1245). Auch nach seiner Emigration in die USA 1890 schreibt er hebräische Gedichte. Während eines Sanatorium-Aufenthaltes im Jahre 1904 regt sich in Yehoyesh erstmalig der Gedanke, die Tora ins Jiddische zu übertragen.749 Der Dichter, wie viele andere Schriftstellerkollegen dem Hebräischen und dem Jiddischen verbunden, übersetzt bis 1910 die Bücher Salomo, das Lied der Lieder (Shir ha-shirim) sowie die Bücher Ruth, Hiob und Jesaja. Dann vernichtet er sie wie zuvor seine hebräischen Gedichte  – zu viele „daytshmerizms“ scheinen enthalten.750 Yehoyesh ist ein kritischer Geist, der es sich auch bei seiner Bibelübertragung ins Jiddische nicht leicht machen wird. Im Januar 1914 – der Erste Weltkrieg ist noch in weiter Ferne – emigriert er mit Frau und Tochter nach Palästina, um im Sommer 747 S. hierzu Benjamin Harshavs Deutung der Fenster zu den Zwölf Stämmen Israels in der HadassahSynagoge, die Chagall zwischen 1959 und 1961 anfertigt (2006a: 237–247). 748 Zu Yehoyeshs Biographie s. Reyzen 1928 Bd. 1: 1244–1253, Zuckerman 2007: 337–343 und www. eilatgordinlevitan.com/warsaw/w_pages/warsaw_stories_bloomgarden.html; 5.3.2012. 749 Der an Tuberkulose erkrankte Yehoyesh verbringt sieben Jahre, von 1900 bis 1907, in einem Sanatorium in Denver (Colorado). Nach seiner Heilung unternimmt er 1908 eine ausgedehnte Reise durch die USA. Dann bricht eine kreative Schaffensphase im Dienste seiner Übersetzungsarbeit an, während der er sich auch rege am jüdischen Kulturleben in New York beteiligt und für führende jiddische Tageszeitungen und Zeitschriften schreibt. 750 Rozental, 1950, S. 65, und www.ibiblio.org/pub/academic/languages/yiddish/mendele/tmr02.020; 5.3.2012.

Yehoyesh, Marc Chagall und Itsik Manger – Genesis 22  | 305 1915 wieder nach New York zurückzukehren. Hier arbeitet er bis zu seinem Tod vor allem an einem Text: dem jiddischen Tanach. Als der jiddische Lyriker in den 1920er Jahren nach dem ausführlichen Studium von Septuaginta, aramäischem Targum Onqelos, Vulgata, Peschitta, also der christlichen Übersetzung der hebräischen Bibel ins Syrische, und dem Koran den gesamten Tanach ins Jiddische überträgt, entsteht ein Meisterwerk ersten Ranges.751 Es ist in eine Reihe zu stellen mit der King James Version (1604–1611), der Luther-Übersetzung (1521–1534), der Übertragung ins Deutsche durch den jüdischen Aufklärer Moses Mendelssohn (1780–1783) und derjenigen von Franz Rosenzweig und Martin Buber (1926–1938; Rozental 1950: 128). Als erste wissenschaftliche Tanach-Übersetzung ins Jiddische, in der der Bibeltext und exegetische Metatexte, kanonisierte Fassungen, Varianten und Kommentare zusammenfließen, verdient sie einen Ehrenplatz in der jiddischen Literatur.752 Die Beschäftigung mit den Kommentatoren des Mittelalters wie Ibn Ezra, Rambam (Maimonides) und Ramban (Nachmanides) schärft Yehoyeshs Sensibilität für das ungeheure Bedeutungsspektrum des hebräischen Bibelwortes (Rozental 1950: 68).753 Neben dem wichtigen didaktischen Anspruch der Lesbarkeit will der Dichter auch hohen ästhetischen Ansprüchen genügen. Poetik und Pädagogik zusammenzuführen, ist kein leichtes Unterfangen.754 Yehoyesh schöpft hierfür aus dem reichen Schatz jiddischer idiomatischer Wendungen, aus dem „Khumesh-taytsh“, also früheren Tora-Übertragungen ins Jiddische für den Cheder, dem Vokabular der „Melamdim“, der osteuropäischen Lehrer, – und aus der Tsenerene.755 751 Yehoyesh macht sich überdies mit der jüdischen wie nichtjüdischen Bibelforschung beispielsweise von Karl Marti und Wilhelm Nowack vertraut und integriert neueste Erkenntnisse der Semitistik; dies erklärt die gelegentliche Femdartigkeit der Übersetzung (Rozental 1950: 128). 752 Perets regt 1908 die Übersetzung des Tanach ins Jiddische als wesentlichen Beitrag zur ostjüdischen Kulturrenaissance an; Roskies 1995: 114. Er selbst ist jahrelang damit befasst (s. Perets 1948 Bd. 10). 753 Yehoyesh betätigt sich zeitgleich als Lexikologe: Mit seinem Physiologen aus dem Sanatorium, Karl D. Spivak, bereitet er ein jiddisch-aramäisch-hebräisches Wörterbuch vor, das ca. 4000 Wörter definiert (1911; 2. Auflage 1926, vgl. auch Yehoyesh/Kosover 1949). 754 Yehoyesh schreibt Shmuel Niger, einem der größten Kritiker jiddischer Literatur, am 18.8.1921: „efsher vil ikh iberhoypt shafn a zakh vos iz nisht meglekh. Nit shver iz tsu makhn a sheynem fray ibergezetstn tanakh un nisht zeyer shver iz oystsutaytshn dem tanakh visnshaftlekh genoy loyt di letste forshungen. Ober tsu kombinirn di beyde iz efsher iber mayne koykhes. [...] tsulib dem koved fun undzerer literatur hob ikh gevolt shafn a grintlekhe zakh, a bibl vos zol in ire oystaytshungen shteyn in eyn rang mit di beste un nayste fun ale leshoynes, un tsu der eygener tsayt vil ikh a sheynem tanakh, in a sheynem yidish, vos zol kenen farblaybn der klasisher hoyptshats fun der sphrakh far kumndike doyres. Genoyikayt, sheynkayt un lezevdikayt – di dray vil ikh dergreykhn.“ (Vielleicht will ich etwas Unmögliches schaffen. Es ist nicht schwer, einen schönen, frei übersetzten Tanach zu machen, und es ist nicht schwer, den Tanach den letzten Forschungen gemäß wissenschaftlich genau auszulegen. Aber beides zu kombinieren geht vielleicht über meine Kräfte. [...] zu Ehren unserer Literatur wollte ich eine gründliche Arbeit machen, eine Bibel, die in ihren Interpretationen auf einer Höhe mit den besten und neuesten aller Sprachen steht, und zugleich möchte ich einen schönen Tanach, in einem schönen Jiddisch, das als klassischer Hauptschatz der Sprache für kommende Generationen von Dauer sein soll. Genauigkeit, Schönheit und Lesbarkeit – diese drei will ich erreichen; zit. nach Rozental 1950: 60) 755 Zu den „taytsh-vertern“ (Übersetzungswörtern), die im Cheder zur Erklärung des hebräischen Bibeltextes herangezogen werden s. Aptroot/Gruschka 2010: 39–42.

306  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Der Übersetzer der hebräischen Bibel ist immer auch ihr Exeget, ihr „mefaresh“ (‫)מֿפרש‬. Neben die wortwörtliche, werktreue Übertragung, die später auch Martin Buber und Franz Rosenzweig anstreben werden (vgl. Rosenzweigs „Urbedeutung“), tritt zwangsweise die Paraphrasierung.756 Neben das Bewahren von Bedeutung tritt ihr Verlust. Beim Wechsel vom Hebräischen, der semitischen Sprachfamilie zugehörig, ins Jiddische, einer vornehmlich indoeuropäischen Fusionssprache, bedeutet die Entscheidung für ein Wort eine grundlegende interpretatorische Weichenstellung. Indem Yehoyesh Gen 22, 1 übersetzt mit: „Un es iz geven nokh di dozike gesheenishn, hot got gepruvt Avromen [...]“ (Und es geschah nach diesen Begebnissen, dass Gott Abraham prüfte [...]), entscheidet er sich beim bedeutungsmächtigen hebräischen „dabar“ (‫)רָבָד‬, das „Wort“ und „Ereignis“ zugleich bedeuten kann, für letzteres. Damit fällt der große talmudische Ausdeutungskomplex um die Bedeutung von „dabar“ als „Wort“ aus (s. Mosès 2007: 54f.). Die grundsätzliche Unterscheidung zwischen dem Gott der Strenge („ha-Elohim“) und dem Gott der Liebe – gegossen in das Tetragramm, das nie ausgesprochen werden darf, ist in der jiddischen Übertragung der Bindung Isaaks getilgt: Für beide Seinsweisen verwendet Yehoyesh „got“ (Gott).757 Gelöschte talmudisch-hebräische Spuren werden durch Deutungen kompensiert, die in neuem, jiddischem Gewand erscheinen. Yehoyesh favorisiert in der Übertragung der Textstelle eine – in der Oralität des Jiddischen – begründete Sprache, in der es ‚menschelt‘. Aus dem faszinierend erhabenen, doch distanziert wirkenden Bibelhebräisch wird ein volkstümlicher Ton.758 Gerade deshalb ist Yehoyeshs Bibelübertragung die ideale Vorlage für Chagall. Yehoyeshs Bibelsprache ist einfach und schlicht. Aus dem oralen, eine große Nähe zwischen Mensch und Gott herstellenden Rededuktus ragen hebräischstämmige Wörter wie „mizbeyekh“, der „Opferaltar“, oder Hebraismen wie die Ortsangabe „Moria“ und seine spätere Bezeichnung als „Adonaj-Jire“ (Gen 22, 14; wörtlich: „Gott wird sich sehen lassen“) wie Fremdkörper heraus. Sie erzeugen eine Gott wieder in die Fremdheit des Andersseins zurückwerfende Distanz. Den Duktus des Mündlichen, des Erzählenden zerschlagen sie nicht.

756 Vgl. hierzu Rozental 1950: 62–68. Zur Verdeutschung der hebräischen Bibel s. Martin Bubers Metareflexion, die auch Rosenzweigs Positionen berücksichtigt (1992: 1–44). 757 „Ha-Elohim“, eigentlich ein Plural (wörtl.: die Götter), verweist auf das Attribut der Strenge (hebr.: Midat ha-Din), das Tetragramm auf das der Liebe und der Güte (hebr.: Midat ha-Chessed; Mosès 2007: 57). 758 Er erinnert an Perets’ Folkstimlekhe geshikhtn (Volkstümlichen Geschichten, s. Kap. 6); die Übersetzung ist dabei näher am Deutschen als beispielsweise diejenige von Mendl Lefin Saratover (s. hierzu Gruschka 2007). Auf eine Detailanalyse zu Yehoyeshs Übersetzung von Gen 22 wird hier zugunsten des Vergleichs zwischen Chagall, Rembrandt und Manger verzichtet.

Yehoyesh, Marc Chagall und Itsik Manger – Genesis 22  | 307

Abrahams Prüfung in Marc Chagalls Radierung Die bildende Kunst ist primär ein Medium der Simultaneität (vgl. Lessings Laokoon). Dennoch bleibt durch den Aufbau der Radierung der Kernteil der biblischen Erzählung erhalten. Chagalls Illustration Die Opferung Isaaks (s. Abb. 66) entpuppt sich als bildkünstlerische Narration von Gen 22, 9–13. Diese Sukzessivität des Simultanen wird möglich dank der ‚Leserichtung‘ der Radierung von unten nach oben und – hier ist Chagall ganz jüdisch – in der mittleren Horizontale von rechts nach links: Im unteren Bilddrittel ist Isaak gebunden und auf den Altar gelegt (V. 9); in der Mitte sieht man Abraham, der das Messer zur Tötung bereithält (V. 10) und den Widder, der sich verheddert hat (V. 14); oben erscheint der Engel, der ihn zurückhält (V. 11–13). Abraham steht also nicht nur moralisch, sondern auch kompositorisch ‚im Kreuzfeuer‘: Er hat die Wahl, sich für seinen Sohn und damit gegen Gott zu entscheiden oder umgekehrt. Er steht zwischen Mensch und Gott, zwischen Isaak und dem Engel. Er ist das dunkle Zentrum zwischen dem Weiß der rettenden Gottespräsenz in Gestalt des Engels, die auf Isaak abstrahlt. Die Leserichtung von rechts nach links bringt die Erlösung: Mit der rechten Hand hält er den zu opfernden Sohn, in der linken die vermeintliche Tatwaffe; ganz links leuchtet weiß wie das ursprüngliche Opfer Isaak der Widder auf. Die Vertikale des Tätersubjekts kreuzt sich mit der Horizontalen der Opferobjekte. Der der jüdischen Leserichtung folgende Blick des Betrachters endet beim Tieropfer, das mit der Aqeda das Menschenopfer ablöst. Im direkten Vergleich mit der alttestamentarischen Vorlage fällt bei aller Texttreue eine deutliche Veränderung auf. Sie zieht eine erhebliche semantische und damit theologische Verschiebung nach sich: Anders als im Text ist Abrahams Blick nicht wie in Gen 22, 13 auf den Widder, sondern auf den Engel gerichtet. Hier, im Blick, ist die unmittelbare Begegnung zwischen Mensch und Gott präsent. Trotz der Verschiedenheit des Irdischen und des Himmlischen – im Bild manifest im Kontrast von Hell und Dunkel – ist durch den Blick das Trennende zwischen Himmel und Erde, zwischen Mensch und Gott aufgehoben. Mit Abrahams ‚Gottesschau‘, dem Sehen des Engels, antwortet Chagall auf Gottes Wort, das er im Text an den Erzvater richtet. Chagalls Radierung fungiert als Realisierung von Yehoyeshs Vorlage: Abraham befindet sich auf dem Berg Moria, der an sich schon die hebr. Wurzel „‫“ראה‬: „sehen“ enthält, „oyf dem barg“ (auf dem Berg), wo laut Yehoyesh „JHVH vert gezen“ (Gott geschaut wird).759 Moria wird hier als Visionsort bestätigt.760 Doch geht dies mit einem Perspektivenwechsel im Vergleich zum hebräischen Original einher: Im Bibelhebräischen betont die grammatikalische Form im Imperfekt Nif ’al die Perspektive Gottes: Gott wird sich sehen lassen; Yehoyesh übersetzt – wie auch Buber und Rosenzweig (s. V. 14) – passivisch: „Gott wird gesehen“. Die Passivkonstruktion setzt implizit ein sehendes Subjekt voraus, vertritt also sprachlich die Perspektive des Menschen. In Chagalls Radierung schaut Abraham den

759 Vgl. Gen 22, 14: „Abraham rief den Namen jenes Ortes: ER ersieht.“ (Ü: Buber/Rosenzweig) 760 S. auch R. Wischnitzer-Bernstein 1935: 20–22, Derrida 1993: 396f. und Mosès 2007: 65.

308  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Glanz Gottes in Gestalt des Engels. Ist dieses Schauen vielleicht das ‚Opfer‘ des verborgenen Gottes, das er als Gegenleistung zu Abrahams Opfer erbringt? Diese Änderung der Blickrichtung hat Chagalls Radierung mit Rembrandts Ölgemälde gemein. Dessen Opferung Isaaks von 1635 ist neben Rembrandts Radierungen zur Bibel ein wichtiges Präikon zur Chagall’schen Graphik (s. Abb. 67).761 Weitere Gemeinsamkeiten lassen auf eine intensive Auseinandersetzung Chagalls mit Rembrandts Meisterwerk schließen: In beiden Bildversionen erscheint Abraham als der Protagonist, wenngleich er bei Chagall stärker mit seinem Sohn verschmilzt, aus dem Bildzentrum nach unten rutscht. Die Bindung Abrahams an seinen Sohn Isaak während der Bindung ist bei Chagall ungemein größer als bei Rembrandt. Auch im Einsatz des Lichts, das die handlungstragenden Elemente hervorhebt, und teilweise in der Komposition folgt Chagall Rembrandt. Beide sind Meister der Gestik. Rembrandt verleiht „Leinwand für Leinwand [...] dem isolierten Teil eines Körpers oder einem Ensemble von Körpergliedern eine spezielle Kraft zu erzählen“, so der Kunsthistoriker John Berger (2001: 88). Diese Kraft der erzählenden Hände ist im Falle der Bibelillustrationen auch Chagall eigen.762 Doch finden sich zugleich deutliche ästhetisch-emotionale und semantisch-herme­ neutische Verschiebungen, die Chagalls Intention und seinen – (ost)jüdischen – Hintergrund erkennen lassen: 1. Chagalls Illustration und Rembrandts Vorgängerbild liegen unterschiedliche Zeitkonzeptionen zugrunde. Diese ziehen eine andersartige Emotionalität des Bildthemas nach sich. Rembrandts Darstellung fängt das Geschehen in einer Sekunde höchster Spannung ein. Sie ist von ungeheurer Dramatik, weil sie den einen, entscheidenden Augenblick einfängt, als der Engel die Ermordung des Sohnes verhindert.763 Der Akzent liegt auf der Dramatik der Handlung, zeitlich gesprochen auf der Sekunde zwischen Leben und Tod aus der Perspektive Isaaks, zwischen Gottesgehorsam und Erbarmen mit dem Sohn aus derjenigen Abrahams. Rembrandt erzeugt diese ungeheure emotionale Spannung durch die hochdramatische Sprache der Hände: Abraham verdeckt mit der linken Hand Isaaks Antlitz. Er biegt Isaaks Kopf zurück, so dass dessen Kehle – durch das helle Licht hervorgehoben – dem unmittelbar bevorstehenden tödlichen Stoß dargeboten ist. Dieses in bildkünstlerischen Darstellungen häufige Motiv der auf den Kopf des Sohnes gelegten Hand ist höchst paradox: Es ist zugleich Ausdruck äußerster Brutalität und größter väterlicher Fürsorge, dem Sohn den Anblick des Messers unmittelbar vor der Tat zu ersparen.764 Doch da packt der Engel Abraham mit seiner

761 Die Vorzeichnung ist abgebildet in Dekiert 2004: 56. In Rembrandts Radierung Abrahams Opfer von 1655 steht die Dramatik zugunsten einer anderen Bildaussage zurück: Hier berührt der Engel nicht nur Abraham, sondern auch Isaak (Graphik in Holland 1982: 86–87). 762 Ein beeindruckendes Beispiel hierfür stellt Blatt 11 (Abraham beweint Sarah) dar. 763 Hier besteht eine große Nähe zu Derridas Deutung, der immer wieder den Augenblick betont, in dem Abraham ganz auf sich zurückgeworfen die Tötungsabsicht ausführen will (1993: 392f. und 399). 764 Rembrandt greift in dramatischer Zuspitzung und Umdeutung „eine in der Tora häufiger beschriebene Gebärde des jüdischen Opferrituals“ auf, vgl. Ex 29, 10, Ex 20, 15 und Lev 1, 4; s. http://kirchensite. de/indexphp?myELEMENT=114641, 28.12.2010.

Yehoyesh, Marc Chagall und Itsik Manger – Genesis 22  | 309 Rechten am Arm, die Linke ist Einhalt gebietend erhoben. Vom plötzlichen Einschreiten überrascht, lässt Abraham das Messer fallen.765 Chagalls Illustration kann der Betrachter entspannter entgegentreten, obgleich in seiner Version Abraham die Entscheidung gegen die Tötung noch bevorsteht, während sie bei Rembrandt schon gefallen ist (das Messer fällt): Auf Rembrandts Ästhetik des Augenblicks antwortet Chagalls Ästhetik der Narration. Was dort in actu gleich einer Momentaufnahme inszeniert wird, entfaltet sich hier dank der Sukzessivität des Simultanen in processu. Die Dramatik der Handlung wird durch die Narrativität, den erzählenden Charakter der Radierung zurückgenommen.766 Stärker als die zeitliche Kategorie betont Chagall das Räumliche: Er entfaltet räumlich verschiedene Zeitsequenzen, denen man gemeinsam mit den beiden Leserichtungen, die das Bild anbietet, nämlich der vertikalen Richtung von unten nach oben und der horizontalen von rechts nach links, folgen kann. Dies hat Konsequenzen für den emotionalen Gehalt der Darbietung. Die äußere Handlung kommt weitaus ruhiger daher: Die Körper sind weniger gespannt. Die streng diagonale, dynamische Linienführung Rembrandts ist in Chagalls Abraham-Isaak-Gruppe abgeschwächt: Abrahams aufrechte Haltung und Isaaks Körper in der Horizontalen wirken statisch, fast starr. Das dramatische Pathos der Rembrandt’schen Heroen wird abgelöst vom ruhigen Vertrauen des einfachen Menschen, die Bewegtheit der Körpersprache von der Innerlichkeit der Figuren. Bei Chagall ist es nicht die packende Hand, die physische Präsenz des Engels, die das Wunder der Erlösung bewirkt, sondern allein das metaphysische Erscheinen und Erleben der Lichtgestalt, der sich Abraham erstaunt und vertrauensvoll zugleich zuwendet. Der Einbruch des Göttlichen ist weniger konkret-fleischlich-sinnlich (haptisch) als numinos-mystisch. Es ist nicht die Berührung, sondern allein der Blick, der das innere Drama Abrahams beendet, die Beziehung zwischen Mensch und Gott herstellt. Chagalls Abraham schaut einen Gottesboten, den Rembrandts Abraham körperlich spürt.767 2. In der Gestaltung des zu opfernden Isaak unterscheiden sich Chagall und Rembrandt erheblich: Rembrandt zeigt uns den kräftigen Körper eines Jugendlichen, von links nach rechts zum Vater hingebogen. Im Verein mit seines Vaters Hand, der ihm die Kehle freilegt, dominiert eine Zeichensprache der Gewalt. Ein gewaltiger, waltender Gott – Walter Benjamin spielt in Kritik der Gewalt (1921) mit der etymologischen Nähe dieser Begriffe – gebiert diese. Chagall präsentiert einen knabenhaften Körper. Talmudische Debatten über Isaaks

765 Durch die Berührungen ist die Gestalt Abrahams mit den beiden zentralen Handlungsmomenten verspannt: der Opferung des Sohnes und deren Verhinderung durch den Engel (s. http://kirchensite.de/ indexphp?myELEMENT=114641, 28.12.2010. 766 Hochdramatisch – Gott darf nicht geschaut werden – ist dank der dynamischen Gestik des Engels und Eliasʼ, die jeweils in der Armführung des anderen einen Widerhall findet, die Illustration Die Vision des Elia (Blatt 88). 767 Das Körperliche in Rembrandts Bild und das Erotische, das sich besonders aus der Gespanntheit Isaaks ableitet (und damit auch die Verbindung von Gewalt und Erotik), inspiriert Sutskever zu seinem Gedicht Akeydes Yitskhok (Die Opferung des Isaak) von 1969 aus dem Zyklus Tsaytike penemer (Reife Gesichter; 1970: 150).

310  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Alter, über das sich der Bibeltext ausschweigt, rühren ihn nicht.768 Er malt, angeleitet von der jiddischen Übertragung, ein „yingl“, einen Jungen mit weichen, fast weiblichen Linien. Chagalls Isaak liegt vergleichsweise ruhig auf der Schlachtstatt, ohne die innere Spannung, die Rembrandt durch die angewinkelten Beine und die Körperbiegung erzeugt. Die Beine hängen lose vom geschichteten Holz herab. Isaaks Kopf kommt anders als bei Rembrandt links zu liegen. Die gebogene Linienführung des Körpers führt nicht zu Abraham und der bevorstehenden Gewalttat hin, sondern eher weg. Diese Rembrandt entgegensetzte Figurenkomposition liegt in der ikonographischen Nähe zu Chagalls erster Bibelillustration Die Erschaffung des Menschen (Blatt 1, s. Abb. 68) begründet. Die Konzeption Isaaks in Haltung, Farbe und Zeichnung verweist unmittelbar auf diejenige des ersten Menschen. Der sich selbst gern zitierende Chagall stellt so den einzigen Sohn Abrahams in Relation zum ersten Menschen – der ohne jegliche Motivierung aus dem Originaltext von einem Engel herbeigetragen wird.769 Auch in der Tsenerene wird anlässlich der Opferung Isaaks Adams gedacht: „Avrom hot geboyt a mizbeyekh oyf dem ort, vo Odem horishn hot gemakht a mizbeyekh“ (Abraham errichtete eine Schlachtstatt an dem Ort, an dem der erste Mensch eine gemacht hatte; 1973 Bd. 1: 129–130). Der „odem horishn“ steht für das Menschsein vor der Teilung in Mann und Frau – und erklärt die Androgynie von Chagalls Isaak. Chagall überträgt die Parallele zwischen Abraham und dem ersten Menschen aus der Tsenerene in der Illustration auf diejenige zwischen dem ersten Menschen und Isaak. Beim ungeheuerlichen Thema des Menschenopfers erinnert uns Chagall an die Erschaffung des Menschen: Die ästhetische Identität zwischen Adam und Isaak wendet das höchst ambivalente Gottesbild zum Positiven hin: Gott, der die Opferung Isaaks fordert, ist gerade im Augenblick der Vernichtung seines Ebenbildes  – hier Isaaks  – sein Retter. Das zarte Geschlechtsteil, das sowohl Adam als auch Isaak ziert, ist weniger Altersindiz als dezenter Hinweis auf Gottes Gebot an den Menschen: „Seid fruchtbar und mehret euch!“ (Gen 1, 22 und 28; Gen 9, 1). Fortgesetzt wird dies in Gottes Verheißung der Nachkommenschaft des auserwählten Volkes, in seinem Bund mit Abraham.770 Isaaks Gesicht ist – wie der erste Mensch aus Chagalls Bibelradierung – nicht wie bei Rembrandt verdeckt, sondern dem Betrachter offen zugewandt. Nicht entzogen sind ihm Schmerz, Angst und Entsetzen, mit denen Rembrandts Isaak wohl gezeichnet sein würde. Chagall eröffnet uns ein Kindergesicht, ruhig im Ausdruck, rein in seiner Helligkeit. In der Radierung dominiert eine Mimik der Demut, einer stillen Ergebenheit, nicht die Gestik der Gewalt.

768 In der Tsenerene ist Isaak 37 Jahre alt (1973 Bd. 1: 127). 769 Zum Ursprung der Engelsgestalt in Chagalls Radierung s. Friedman 1983: 260–276. 770 Chagall baut noch eine weitere intertextuelle Referenz ein und stärkt so seine ‚visuelle Theologie‘: Sowohl der Engel als auch der Widder (ohne Hörner!) sind mit einem Strauch verbunden. Mit dem ‚Engel im Busch‘ holt Chagall Gottes Anwesenheit im brennenden Dornbusch vor Moses herein (Ex, 3). Auch in der Berufungsgeschichte des Moses antwortet dieser wie Abraham auf Gottes Ruf: „Hier bin ich!“ (Ex, 4). Ich danke Andreas Angerstorfer für diesen wichtigen Hinweis.

Yehoyesh, Marc Chagall und Itsik Manger – Genesis 22  | 311 Die Darstellung legt nahe, dass Isaak um sein Schicksal, um sein Auserwähltsein weiß, und sich – auf dass die Prüfung Abrahams gelinge – als würdiges Opfer erweisen will. Dies ist eine Deutung, die in der Exegese der Textstelle immer wieder diskutiert wird: Nahrung gibt ihr vor allem Isaaks Schweigen, nachdem Abraham auf dessen Frage nach dem Lamm in Gen 22, 7 „antwortet, ohne zu antworten“ (Derrida 1993: 302). Wiederum stützt auch die Tsenerene diese Lesart. Isaak – jiddisch Yitskhok – weist hier gar seinen Vater an, die Aqeda korrekt auszuführen: „Bind mir mayne hent un fis, kedey ikh zol mikh nisht kenen varfn, ven du vest mikh shekhtn, un zol nisht posl vern di shkhite“ (Binde mir meine Hände und Füße, damit ich mich nicht aufbäumen kann, wenn du mich schächtest, und die Schächtung [rituell] nicht untauglich sein soll; 1973 Bd. 1: 128).771 An Abraham und dem Schlachtmesser vorbei entsteht durch die korrespondierende Gesichtszeichnung Isaaks und des Engels eine eigenständige Verbindung: Je eine Gesichtshälfte liegt im Schatten, die andere ist lichterfüllt. Im Engel ist so die Doppelgesichtigkeit des grausamen und liebenden Gottes vergegenwärtigt. Auch auf Isaak liegt der Abglanz dieser göttlichen Dualität. Zugleich spiegelt es das Drama seiner Situation: Er erwartet die grausame Opferung, die ihm den Tod bringen wird. Zugleich will er ergeben das unterstützen, was ihn vernichten wird. Opfer und Selbstaufopferung fallen bei Isaak in eins. Die Ambivalenz des jüdischen Gottes, mit der Gen 22 die Protagonisten, aber auch den Leser konfrontiert, wird in der Illustration fortgesetzt. Sie spiegelt sich in Isaaks und des Engels Gesicht, aber auch im Antagonismus der Hände Abrahams. Dieser Antagonismus der Hände bezeugt auch die Ambivalenz von Abrahams Gefühlen, hin- und hergerissen zwischen Vaterliebe und Gottestreue.772 Seine linke Hand liegt auf Isaaks Knie. Diese Nähe schaffende Geste des Vaters, dessen, der mit seinem Sohne blutsverwandt ist, steht in scharfem Kontrast zur Distanz schaffenden Geste des Mörders, der das Blut seines Sohnes vergießen wird. Die eine Hand entscheidet sich für den Sohn, die andere für Gott. Erst in der erlösenden Hinwendung zum Göttlichen in Form des Blicks werden die Ambivalenz des jüdischen Gottes und die ambivalente Gotteserfahrung Abrahams aufgelöst. Zwischen den Polen von Gnade und Gewalt(igkeit) schlägt Rembrandt Gott der Gewalt(igkeit), Chagall ihn der Gnade zu. Beide Gottesbilder implizieren die Rettung. Doch gleicht der Wille Gottes bei Chagall weit mehr als bei Rembrandts rationalistisch durchkomponiertem Drama einem Wunder. Hier wird Fügung im doppelten Sinne visuell umgesetzt: als ein „sich fügen“ (Abrahams, Isaaks) und als – göttliche – Fügung (der Engel erscheint). Hinter dieser Akzentuierung des Wunderbaren des Geschehens und der Demut derer, denen das Wunder der Rettung widerfährt, steht die lange Tradition ostjüdischer Lebensund Glaubenserfahrung. Das Wunder als Einbruch des Göttlichen ins Alltägliche ist ein Kernelement chassidischen Glaubens – und ihrer säkular-ästhetischen Transformation, ob sie nun affirmiert (Perets) oder verlacht (Markish) wird. Demut und Gottergebenheit sind 771 Dieses Deutung geht zurück auf Midrasch Genesis Rabba §56, 8. 772 Auch Derrida spricht vom beiderseitigen Opfer Isaaks als auch Abrahams: „[...] es ist das Opfer beider, das dem-Anderen-den-Tod-Geben, indem man sich den Tod gibt, indem man sich abtötet, um Gott diesen Tod zur Opfergabe zu geben [...]“ (1993: 396).

312  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte gerade aufgrund der stets präsenten Gefahr von Verfolgung, Gewalt und Tod im anti­ semitischen Russland, mit der Chagall von Kindheit an konfrontiert wird, eine zutiefst osteuropäische Haltung. Nicht nur aufgrund der physiognomischen – äußeren – Zeichnung Abrahams nimmt Chagall sein Ostjudentum mit in die Illustration herein. Er tut es auch durch die emotionale – innere – Modellierung seiner Gestalten.

Antworten auf Abrahams Prüfung in Bild und Text: Marc Chagall und Itsik Manger Der Abgrund, der sich in Abraham angesichts der schwersten aller Prüfungen auftut, bewegt in der jüdischen wie christlichen Deutungstradition die Gemüter. Große jüdische Gelehrte aus früherer Zeit  – wie Ibn Ezra oder Raschi  – bemühen sich ebenso um Erklärungen. Emmanuel Lévinas versucht dies ebenso wie Jacques Derrida.773 In seinem packenden Essay Donner la mort (Den Tod geben) von 1992 (dt. 1993) entwickelt Derrida in Gefolgschaft von Kierkegaards Furcht und Zittern (1843) seine Sicht auf die ungeheuerliche Prüfung, die Gott Abraham unterzieht. Gott als der ganz Andere („tout autre“), der nicht Greifbare und Unbegreifliche, setzt Abraham einem grässlichen Paradoxon aus: Es äußert sich in einem zweifachen Geheimnis: zum einen „zwischen Gott und Abraham“ – niemand außer den beiden weiß von der Prüfung –, zum anderen „zwischen letzterem und den Seinen“ (Derrida 1993: 386). Abraham schweigt davon Sarah und Isaak gegenüber, dessen Frage nach dem „Lamm zur Darhöhung“ (Gen 22, 8) er unbeantwortet lässt. „Indem er das Geheimnis wahrt, verrät Abraham das Ethische.“ (ebd.) Was aus ethischer Sicht Mord ist, ist aus göttlicher Sicht Pflicht (Derrida 1993: 388). Die ethische Anforderung bindet uns – nach Kierkegaard – an unsere Nächsten. Wir sind verpflichtet, zu ihnen zu sprechen. Doch genau dies tut Abraham nicht. Dadurch begibt er sich in eine grenzenlose Einsamkeit. Er trägt so die Last einer unteilbaren Verantwortung, von der er erst im Augenblick des Tötens erlöst wird, in der schmerzhaften Erfahrung einer absoluten Liebe zu Gott und zum eigenen Sohn (Derrida 1993: 386–387 und 393). Interessanterweise haben Derridas philosophische Überlegungen zu Abrahams Qualen, die er aushalten muss, als er den Seinen gegenüber schweigt, ein literarisches Pendant. Ob Derrida es gekannt hat, ist bei dem Philosophen, der sich in vielen Sprachen bewegt hat, nicht auszuschließen. Der in Czernowitz geborene „Prinz der jiddischen Ballade“ Itsik Manger (1901–1969) veröffentlichte 1935 in Warschau seine Khumesh-lider (Fünfbuchlieder). Mit dem ergänzenden Titel Medresh Itsik (Die Auslegung Itziks) stellt er sich explizit in die Tradition der midraschisch-talmudischen Schriftauslegung. Mit den Mitteln der Poesie schreibt er die Exegese fort. Bibelgeschichte transformiert er in Balladenstoff. So übersetzt er in seinen Gedichten zu den Fünf Büchern Mose ungeniert – und Chagall nicht unähnlich – „die Erzväter und Erzmütter mit Witz und Ironie in volkstümliche Juden eines galizischen schtetls der Jahrhundertwende“ (Gal-Ed 2004: 290).

773 S. hierzu Lévinas 1973: 113 und Derrida 1993: 331–445, bes. 382–408.

Yehoyesh, Marc Chagall und Itsik Manger – Genesis 22  | 313 Die Auseinandersetzung mit der Aqeda darf hier selbstverständlich nicht fehlen. Doch fällt sie im Falle Mangers sehr eigenwillig aus. Ein Blick auf Mangers Gedicht Avrom ovinu sharft dos meser (Abraham unser Vater wetzt das Messer; 2004: 80–83) aus Khumesh-lider fördert eine verblüffende interpretatorische Nähe zu Chagalls Radierung zutage.774 Mangers lyrisches Kleinod ist wie Chagalls Illustration eine bereichernde künstlerische Antwort auf eine schwere theologische Frage. Abrahams Prüfung und nicht etwa die Erschaffung des Menschen bildet den Auftakt von Mangers lyrischer Pentateuch-Deutung. Zwei Gedichte, Di muter Sore hot a shver gemit (Der Mutter Sarah ist schwer ums Herz) und Avrom ovinu sharft dos meser (Abraham unser Vater schärft das Messer), bilden ein Gedichtdiptychon zur Aqeda (Manger 2004: 80–87). Im ersten Gedicht belauscht Sarah, wie eine Träne einen Schatten in der Diele fragt: „Iz take emes, az Avrom / vil makrev zayn mayn kind?“ (Ist’s wirklich wahr, / dass Awrum will opfern sein einziges Kind?; 2004: 80) Es kann dies nur der Schatten von „ha-elohim“ sein, der Abraham gerade die Prüfung aus Gen 22, 1–2 auseinandersetzt. Manger verwendet hier für „Opfer“ nicht den religiösen Begriff der „olah“, der „Darhöhung“ (von hebr.: ‫)עלה‬, sondern eine Form von „‫( “קרב‬karav; hebr.: nahen, sich nähern), von dem sich der weiter gefasste Opferbegriff „korbn“ (jidd.: ‫ )קרבן‬ableitet. Im zweiten Gedicht wechselt in der sechsten von insgesamt neun Strophen die Perspektive von Isaak, dem ganzen Stolz der Mutter, auf Abraham, den Vater und potenziellen Mörder. Die unendliche Bürde des Schweigens seinen Nächsten gegenüber  – Gottes unerhörter Befehl an den Erzvater ist einem Dritten nicht vermittelbar  – verhüllt Manger in der liedhaften Behaglichkeit jambischer Zeilen: [...] Nor vos iz mit Avromtshn haynt? Er zitst in hoyf aleyn un sharft fun zint nokh varemes dos meser oyf a shteyn. S’tsitert im di groe bord un er murmlt modne reyd: „Vilst mir tun a zbitke, got? Iz meyle, ikh bin greyt.“

774 Mangers Gedicht Akeydes Yitskhok (Die Opferung Isaaks) wird an dieser Stelle nicht zum Vergleich herangezogen. Hier werden, wie in Chagalls Gemälde Weiße Kreuzigung (1938), interreligiöse Fragen zum Verhältnis zwischen Judentum und Christentum aufgeworfen. Die Übersetzungen der zitierten Gedichte Mangers stammen von Efrat Gal-Ed (s. Manger 2004). Mit Lyesins Gedicht Die akeyde (Die Bindung), zu dem Chagall eine der Bibelillustration nahe, luftige Illustration erstellt, aus dem Zyklus Iber di tkumes (Über den Untiefen, 1923–1936) ließe sich die intertextuelle Kette jiddischer lyrischer Reflexionen zu Gen 22 fortsetzen (1938 Bd. 3: 195).

314  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte [...] Nur was ist heut mit Avromtshn? Er sitzt im Hof allein Und seit dem Abendbrot er schärft Das Messer auf dem Stein. Es zittert ihm der graue Bart, und er flüstert seltsame Worte: „Willst einen Streich mir spielen, Gott? Na, wenn schon, bin bereit.“ (Manger 2004:84–87)

Einmal ausgesprochen, werden diese Worte nicht doch noch von jemandem Anderem gehört als von Gott, dem vermeintlichen Adressaten? Ist es nur das lyrische Ich, das es an den Leser weitergibt, oder kommt Abrahams seltsame Rede, Mangers fiktive Antwort auf Gottes Prüfung, wie bereits Gottes schrecklicher Befehl aus Gen 22, 2 auch Sarah zu Ohren? Die ‚Erzählperspektive‘ im Gedicht ist ambivalent, keineswegs eindeutig nur dem lyrischen Ich zuzuschlagen – und wen oder was verkörpert das lyrische Ich? Abraham schweigt zwar den anderen gegenüber, doch spricht er, gefangen zwischen Gottesergebenheit und Familie, dem Absoluten und dem Relationalen, zu sich selbst. Sein Selbstgespräch ist zugleich Zwiesprache mit Gott. Dessen Prüfung bezeichnet er reichlich dialektal als „zbitke“, als (üblen) „Streich“. Schwingt darin ein Wissen mit, dass Gott die Erfüllung der Tat, also die Opferung seines Sohnes vielleicht gar nicht einfordert und ihn, Abraham, nur auf die Probe stellen will?775 Der Text liefert mehrere Hinweise dafür: In der Gedichtüberschrift wird Abraham als „Avrom ovinu“, „Abraham unser Vater“, tituliert. Im Gefolge von Sarahs Anrede Gottes als „got fun Avrom, / fun Yitskhok und fun Yankev“ (Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs) aus dem ersten Gedicht des gesamten Zyklus, die auch fester Bestandteil des Gebets ist, mit dem die jüdische Frau den Sabbat beschließt, wird die chronologische Zeit aufgehoben. In der Nennung des Gottes der Erzväter ebenso wie in der Ernennung Abrahams zum Urvater der Judenheit („Avrom ovinu“) ist das Wissen um die Erfüllung der Verheißung artikuliert, bevor die Tat, die genau diese auslöschen würde, auszuführen ist. Mangers Poesie führt Gottes Prüfung ad absurdum. Durch die Anreden an Gottvater und an den von Gott erwählten Vater aller Juden entsteht parallel zum sukzessiven Nacheinander der Handlung, nämlich der Prüfung Abrahams, eine Sinnlinie der Verheißung, die der Narration entgegensteht und sie unterläuft.776 775 Dies ist auch der Kern der midraschischen Analyse der Aqeda durch Lippman Bodoff (1993: 71–92). Zu Elie Wiesels Lesart der Aqeda, die wie die Hiobsgeschichte als Archetypus der Schoa verstanden wird, s. Young 1997: 175–177. 776 Manger steht hier in ganz in der Tradition des biblischen Prätextes: Auch hier stehen sich der Inhalt der Narration (Isaaks Bindung) und die Art der Narration (das Erzählen der Bindung) gegenüber. Stéphane Mosès zeigt dies in seiner narratologisch ausgerichteten Analyse von Gen 22 (2007: 65–72).

Yehoyesh, Marc Chagall und Itsik Manger – Genesis 22  | 315 Chagall und Manger liefern zwei künstlerische Antworten auf Abrahams Prüfung, mit denen sie – sicher zur vollen Zufriedenheit des Schöpfers – am Geheimnis der Aqeda weitermalen beziehungsweise – schreiben: 1.  Abraham ist ein Mann des Dialogs. Dank der ästhetischen Gestaltung Isaaks stellt Chagall einen unmittelbaren Bezug zwischen der Aqeda (Blatt 10) und der Erschaffung des Menschen (Blatt 1) her. Diese Interikonizität korrespondiert mit der innertextuellen Verknüpfung von Genesis 22 mit Genesis 3: Nach der Ursünde antwortet Adam auf Gottes Frage: „Wo bist du?“ durch seinen Entzug: „Deinen Schall habe ich im Garten gehört und fürchtete mich, weil ich nackt bin, und ich versteckte mich.“ (Gen 3,9–10; Ü: Buber/ Rosenzweig). Erst der Erzvater Abraham antwortet Gott auf sein „Wo bist du?“ am Anfang und am Ende der Opfererzählung mit: „Hier bin ich.“ (hebr.: hinneni). Mit Abraham ist ein Mann des Dialogs auf den Plan getreten – und laut Franz Rosenzweig ein wichtiger Schritt im Humanisierungsprozess vollzogen (1988: 196, s. auch Mosès 2007: 70f.). Itsik Manger setzt Abrahams Zwiesprache mit Gott im Gedicht fort. Unmittelbar nach Gottes Aufforderung aus Gen 22, 1–2 und damit vor der Bindung Isaaks zeigt er Abrahams Bereitschaft in Wort und Tat: Die Tatwaffe vorbereitend, nimmt er mit seiner Aussage „ikh bin greyt“ die Herausforderung an. Chagall inszeniert das Dialogische als Durchbrechen des Schweigens im beredten Blick, den Abraham, der Mörder, dem Engel zuwirft, nachdem dieser durch sein Erscheinen die Prüfung beendet hat. 2.  Abraham ist ein Mann der Menschlichkeit. Die hochkomplexe philosophische Ausdeutung der Aqeda eines Kierkegaard, Derrida oder Lévinas kann man einem Bild schwerlich abverlangen.777 Dennoch finden sich in Chagalls Radierung Spuren des tiefen Grabens zwischen Gottestreue und ethischer Pflicht dem Nächsten gegenüber. Eingewoben sind sie in die Ästhetik der Illustration: Die deutlichen Kontraste zwischen Hell und Dunkel, die Chagall durch ausgefeilte Bearbeitungen der Druckplatten erzielt (Liebelt 1985: 146f.), künden davon. Außer der Bildkomposition belegen dies die Bände sprechende Gestik sowie die Ausgestaltung Abrahams. Chagalls Abraham hat wenig mit dem hehren Erzvater eines Rembrandt oder gar der Tora gemein: Er scheint in seiner Einfachheit und Menschlichkeit ebenso dem Schtetl entsprungen wie Mangers „Avromtshl“. So ablehnend sich Chagall Mangers lyrischer Bearbeitung des Pentateuchs gegenüber gezeigt haben mag (s. Gal-Ed 2004: 290, s. auch 316), in der Volkstümlichkeit der Darstellung und in der Inszenierung des inneren Dramas besteht eine tiefe Nähe zwischen ihm und dem Dichter – nicht zuletzt dank der jiddischen Vorlage in Form von Yehoyeshs Übersetzung. Wie Manger nimmt auch Chagall einen Sprung vom Göttlich-Auratischen ins Menschlich-Subjektive vor. Bei aller einenden Vermenschlichung der biblischen Figuren gilt: Was Chagall malt, findet Manger nicht der Erwähnung wert. Die Bindung und Opferung Isaaks existiert bei Manger in der weißen Leere, die sein Gedicht Avrom ovinu sharft dos meser umgibt. Das Weiß um 777 Der tschechisch-deutsch-hebräische Autor Jiří Mordechaj Langer greift ebenfalls Kierkegaard auf. Langer deutet das Nichtausführen des Opferbefehls als eigentliche Opferung Abrahams. Für diesen Hinweis danke ich Kristina Kallert.

316  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte den geschriebenen Text herum bringt den biblischen Prätext zum Schwingen wie Chagalls bewusste Gegenüberstellung von Schwarz und Weiß. Manger ist radikal: Seine Deutung des Zentralereignisses der Aqeda besteht in seiner Auslassung. Als sei die Aqeda eine belanglose Episode, geht er im nächsten Gedicht Avrom ovinu bakumt a brif (Abraham unser Vater bekommt einen Brief) über zu Isaaks Heirat Rebekkas. Die sich darin paarenden Schmetterlinge sind wie Chagalls Isaak-Adam die Träger der biblischen Botschaft: Gott hält seinen Bund, der Abraham Nachkommenschaft verspricht. Diese jiddisch orientierte ‚Motivgeschichte‘ der Opferung Isaaks in Literatur und Malerei wirkt beruhigend. Mangers Gedicht und Chagalls Radierung geben eine eindeutige – und positive – Antwort auf das wohl größte menschliche und theologische Dilemma, das die hebräische Bibel mit der Bindung Isaaks bereithält: Gottes Verheißung erfüllt sich. Die Kraft der Bejahung beruht nicht auf der bloßen inhaltlichen Wiedergabe der Erzählung. Sie entfaltet sich mit voller Wucht in der Form. Verdankt sich dies in Chagalls Radierung vor allem der ikonographischen Nähe zum ersten Blatt Die Erschaffung des Menschen, so ist bei Manger die Metaposition des lyrischen Ich, die mit dem unselbständigen hebräischen Pronomen „nu“ (unser) die Zeit und die Logik der lyrischen Narration aufhebt. Zum Zeitpunkt der Prüfung kann Abraham ja noch nicht der Vater aller Juden sein. Doch bei Manger weiß Abraham – übrigens der erste (weil dialogische) Mensch in Mangers Auslegung, da er den Schöpfungsbericht in seinen Khumesh-lider auslässt – von Anfang an, dass es sich um eine Prüfung handelt. Zwar schärft er sein Messer, um Gottes Befehl nachzukommen, doch spricht die Geborgenheit, die Isaak im Sein erfährt, als seine Mutter ihm zur gleichen Zeit ein Schlaflied singt, Bände: Das Messer, mit dem Abraham seinen Sohn vom Leben trennen soll, ist nichts im Vergleich zur Melodie des Wiegenliedes, die die gesamte Erde, Gottes Schöpfung– und Isaaks Geborgenheit zu umfassen vermag: Un mitn meser in der hant shteyt Avrom un er hert vi s’nemt dos shtile viglid arum di gantse erd. Und mit dem Messer in der Hand Steht Avrom und hört, wie dieses stille Wiegenlied umfängt die ganze Erd. (2004: 86f.)

13  Zwei Leben für die yidishkayt – Yoysef Opatoshu und Marc Chagall

Am 8. November 1928 schreibt Marc Chagall aus Paris an Joseph (jidd: Yoysef ) Opatoshu (1886–1954), der von einer seiner Europareisen nach New York zurückgekehrt ist:778 [Russisch] Dorogoj Opatoshi, ne uspeli Vy uechat’ razseč’ kak Mojsej vodu, perejti kak Christos ee (kak chotite ...) i ja polučal ot Vas bibliju čudnuju čudnogo poėta [Jiddisch] Yehoyesh. [Russisch] Kakoe Vam poslat’ spasibo – sam ne znaju. Ne zabud’te čto ljubja Vas – ja ešče bolee zatrudnjajus’. [Jiddisch] ir zaynt a guter mentsh Opatoshe un dertsu der groyser yidisher shrayber (tsuzamen iz dos zeltn ...) un mikh fardrist vos ikh ze aykh do nit. Mayne „2 froyen“ grisn aykh hertslikh [sic!]. Ayer ergebener Marc Chagall (YIVO, reg. 436, folder 249) [Russisch] Mein lieber Opatoshi, Sie waren gerade weggefahren, spalteten wie Moses das Wasser, gingen wie Christus darüber (wie Sie möchten ...), da erhielt ich von Ihnen die wunderbare Bibel des wunderbaren Dichters [Jiddisch] ­Jehoyesh. [Russisch] Welche Dankesworte ich Ihnen übersenden soll – ich weiß es selbst nicht. Vergessen Sie nicht, dass mir dies, da ich Sie so gern habe, noch schwerer fällt. [Jiddisch] Sie sind ein guter Mensch, Opatoshe,779 und darüber hinaus ein großer jiddischer Autor (beides zusammen ist sehr selten), und mich verdrießt, dass ich Sie hier nicht sehe. Meine ‚zwei Frauen‘ grüßen Sie herzlich. Ihr ergebener [Französisch] Marc Chagall

Dieser Brief des weltberühmten Künstlers an den weit weniger bekannten jiddischen Autor und Kulturschaffenden Yoysef Opatoshu enthüllt in nur wenigen Zeilen Chagalls russischjüdisch-jiddisch-französische Mehrfachidentität (und Chagalls jiddische Schreibschwäche). Im Wechsel der Sprachzeichen vom Kyrillischen zum Jiddischen und dann zur französischen Signatur spiegelt sich seine multikulturelle Künstlerpersönlichkeit. Der Brief erhellt, wie Yehoyeshs jiddischer Tanach in Chagalls Hände gelangt. (Indirekt ist es also auch Opatoshu zu verdanken, dass Chagall seine Bibel-Illustrationen auf der jiddischen Vorlage schuf, s. Kap. 12).780 Zugleich zeigt er – neben Chagalls humorvollem Umgang mit der jüdisch778 Das Kapitel setzt das Nachwort zur Erstübersetzung von Opatoshus A tog in Regnsburg (Ein Tag in Regensburg, 1933) ins Deutsche (Koller 2008: 102–117) und den Katalogbeitrag zur Begleitausstellung Ein Tag im jüdischen Regensburg mit Joseph Opatoshu und Marc Chagall vom 15. Februar bis 14. Juni 2009 (Koller 2009: 11–28) fort. 779 Chagall spricht Opatoshu in vielen Briefen liebevoll als „Opatoshi“ oder wie hier mit dem Vokativ „Opatoshe“ an. 780 Gebeten um eine jiddische Bibel hat er schon früher in seinem jiddischsprachigen Umfeld (s. Wullschlager 2008: 325).

318  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte christlichen Religion – die ungeheure Bedeutung dieses jiddischsprachigen ‚Moses-Christus‘ für Marc Chagall. Chagall lernt Opatoshu wohl während eines Aufenthaltes in Paris 1925 kennen.781 In diesem Jahr hebt die umfangreiche, über achtzig Briefe umfassende Korrespondenz zwischen dem Maler und dem Schriftsteller an.782 Fast drei Jahrzehnte wird Opatoshu Marc Chagalls jüdisches Selbstverständnis entscheidend prägen. Aus Mexiko, von den High Falls (USA), aus Jerusalem, Venedig, Paris oder St. Paul-de-Vence erreichen Chagalls Briefe den in New York ansässigen Autor. Es sind wertvolle Dokumente zweier Leben für die jiddische Literatur, Kunst und Kultur, voll von Überlegungen zum Schicksal der Juden. Während Chagalls Exil in New York treffen sich die beiden häufig. Dorthin flieht Chagall  – auch dank einer eidesstattlichen Erklärung Opatoshus – mit seiner Familie 1941 aus Frankreich vor den Nazis, bis er 1947 zurückkehrt.783 Bella Chagalls Kindheits- und Jugenderinnerungen Brenendike likht (1945) und Di ershte bagegenish (1947) sind fester Bestandteil der jiddischen Literatur. Ohne Opatoshu wären sie vielleicht nie gedruckt worden.784 Auch Marc Chagall begleitet Opatoshu bei dessen literarischer – und künstlerischer Produktion.785 Opatoshu ist für den Maler – wie einst Bal-Makh­ shoves in Russland – der Mittelsmann für jiddische Literatur, aus der Chagall immer wieder Inspiration zu seinen Bildern schöpft. Er versorgt ihn mit Lesestoff, seien es nun eigene Bücher oder die seiner Schriftstellerkollegen. Er spricht Empfehlungen aus und gibt Chagall so manchen Schlüssel zur modernen jiddischen Lyrik und Prosa an die Hand.786 781 Anlässlich eines Treffens zwischen Perets Markish, Oyzer Varshavski und Chagall, bei dem auch Opatoshu anwesend ist, schreiben sie 1925 eine Postkarte an Opatoshus Gattin Adele (Harshav 2004: 333). 1922 reist Yoysef Opatoshu erstmalig seit seiner Emigration 1907 in die USA nach Europa und in sein Geburtsland Polen. Ob und wo es bereits in diesem Jahr zu einer Begegnung kommt, ist unklar. 782 Auch Bella Chagall und Virginia Haggard, die nach Bellas unvermitteltem Tod 1944 Chagalls zweite Frau wird, stehen in regem Briefkontakt mit den Opatoshus. 783 S. Harshav 2004: 477–505. Zu Opatoshus Mithilfe bei Chagalls Flucht s. bes. S. 486. Zu Chagalls New Yorker Exil s. Wullschlager 2008: 395–443. 784 Als Bella Chagall nach langem Zögern und nach unzähligen Aufforderungen seitens ihres Gatten und ihrer Tochter Ida endlich bereit ist, ihre in Jiddisch verfassten Erinnerungen zu veröffentlichen, organisiert man einen literarischen Abend. Bella soll vor dreißig geladenen Gästen – sie alle Autoren des linken wie des rechten Lagers – Auszüge aus ihren Memoiren lesen. Opatoshu führt den Vorsitz bei ihrer schriftstellerischen Feuertaufe. Unbestritten sind die literarischen Qualitäten Bellas, die wie ihr Mann von der russischen zur jiddischen Sprache wechselt. Doch sind die beiden literarischen Parteien zerstritten. Opatoshu kann – bei aller Anerkennung für Bellas Talent – die Kluft zwischen den sozial engagierten linken und den konservativen rechten Autoren nicht überbrücken (s. Rontsh 1967: 31–35). Zu einer Veröffentlichung kommt es glücklicherweise dann doch. 785 Als Opatoshu für eine weitere Ausgabe seiner von ihm veröffentlichten Zamlbikher (Almanache) an Chagall herantritt, sendet ihm dieser 1943 Entwürfe mehrerer bereits veröffentlichter jiddischer Gedichte zu; wie zahlreiche seiner Bilder sind sie seiner Heimat Vitebsk und seinen Eltern zugewandt, vgl. die Gedichte Der foter (Der Vater), Di muter (Die Mutter), Geburtland (Geburtsland) oder Di shtot di vayte (Die weit entfernte Stadt, 1967: 91–94; s. hierzu Kap. 4). 786 1929 bittet Chagall Opatoshu um eine Einschätzung des jiddischen Dichters Lyesin, dessen postume Ausgabe er illustrieren wird (Harshav 2004: 349; s. Kap. 8).

Marc Chagall und Yoysef Opatoshu  | 319 In einer Zeit der wachsenden Bedrohung der jüdischen Kultur – der von Oswald Spengler prophezeite Untergang des Abendlandes nimmt mit Hitlers Putschversuch 1923 seinen Lauf – trägt Opatoshu entscheidend zu Chagalls „yidishkayt“ bei. Beide stehen für eine kulturelle, nicht mehr primär religiös basierte ostjüdische Identität, die wesentlich an die jiddische Sprache gebunden ist und während der Kulturrenaissance zur Blüte gelangt (s. Einleitung).

Dem Jiddischen ein Denkmal setzen: Sprache und Identität Als Yoysef Opatoshu im Jahre 1922 auf dem Weg von Amerika nach Europa nachts an Deck der „Aquitania“ steht, sinnt er über die schwierige Begriffsbestimmung von „yidishkayt“ nach. Seine literarische Darstellung erinnert an den Schöpfungsbericht, doch ist es hier nicht Gottes Geist (hebr.: ruach elohim), der zwischen Himmel und Wasser schwebt, sondern ein Gedanke, von einer Generation der Opatoshus auf die nächste tradiert: Der tate mayner iz mit etlekhe un draysik yor krik geforn mit der driter klas oyfn zelbn yam. Do – inmitn yam – fuftsn hundert mayl fun Nyu-York, fuftsn hundert mayl fun Pariz, hot mayn tate a vorf geton a makhshove, vos er hot ibergenumen beyerushe fun zayn zeydn, fun elterzeydn – vos iz azoyns yidishkayt? Un di makhshove shvebt tsvishn himl un vaser. Far mir iz di makhshove a teyl fun der shif, fun di mentshn, vos oyf der shif, fun di arumike natur-koykhes. Un fun mir redn aroys der tate, der zeyde, doyres, doyres – vos iz yidishkayt? Un vemes yidishkayt? Di neviims? Dem Rambams, tsi Moyshe Hes un Yitskhok Leybush Perets? Un ikh zog – yidishkayt iz dos alts un nokh epes. dos ‚nokh epes‘ iz ober shver tsu definirn. (Opatoshu 1938a: 39f.) Mein Vater fuhr vor mehr als dreißig Jahren mit der dritten Klasse auf demselben Meer. Hier – inmitten des Meeres – fünfzehnhundert Meilen von New York und fünfzehnhundert Meilen von Paris entfernt, gebar mein Vater einen Gedanken, den er als Erbe von seinem Großvater und seinem Urgroßvater übernommen hatte – was ist das, Jüdischkeit? Und der Gedanke schwebt zwischen Himmel und Wasser. Für mich ist dieser Gedanke ein Teil des Schiffes, der Menschen, die sich auf dem Schiff befinden, den uns umgebenden Naturkräften. Und aus mir sprechen der Vater, der Großvater, Generationen und Generationen – was ist Jüdischkeit? Und wessen Jüdischkeit? Die der Propheten? Die Rambams, oder die von Moses Hess und von Yitskhok Leyb Perets? Und ich antworte: all das ist Jüdischkeit – und noch etwas anderes. Doch dieses ‚noch etwas anderes‘ ist schwer zu definieren.

Opatoshu durchmisst mit seiner Begriffsreflexion die tausendjährige Geschichte der Juden. „Yidishkayt“ setzt ein mit Gottes Wort, in dem sich der göttliche Logos inkarniert (1938a: 40). Gottes Wort begründet das Wesen des Judentums als Buchkultur; aus ihm gehen die christliche und moslemische Religion hervor (ebd.).787 Aufgrund der verschieden787 Ähnliche Positionen formuliert er in einem Interview mit Literarishe bleter vom 21. Oktober 1938 (1938b: 640–642).

320  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte artigen Exilsituationen der Juden hat der Begriff unterschiedliche weltanschaulich-kulturelle Ausprägungen erfahren. Dass es hier zu großen innerjüdischen Reibungen kommt, zeigt die Doppelbedeutung des Adjektivs „yidish“: Im Jiddischen bedeutet es sowohl „jüdisch“ als auch „jiddisch“. Das Adjektiv meint die Sprache ebenso wie die Ethnie oder die Religion. Man kann von „yidishkayt“ im weiteren Sinne als „Judentum“ sprechen. Im engeren Sinne meint sie eine in der jiddischen Sprache verankerte, spezifisch ostjüdische Identität. Es kann durchaus eine (unproblematische) Kongruenz der beiden Begriffe geben. Doch ist aber auch eine Inkongruenz möglich: „Jiddischkeit“ ist nicht gleich „Jüdischkeit“. Orthodoxe, dem Hebräischen anhängende Juden können Jiddisch als Sprache und als Identitätsmerkmal nicht akzeptieren. Der in Polen geborene, jiddisch schreibende Ostjude, der 1907 in die USA emigriert, ist sich dieser Komplexität bewusst: An talmudischen Denktraditionen geschult stellt er auf die Frage „Was ist ‚yidishkayt‘?“ die Gegenfrage: Wessen „yidishkayt“ ist gemeint, diejenige der Propheten oder die Rambams, diejenige von Moses Hess oder die von Perets? Mit den Propheten ruft Opatoshu die Jahrtausende alte Geschichte und Religion der Juden auf, Mytheme von Messianismus und Apokalypse. Er evoziert den zweiten Teil des Tanach, die Bücher der Propheten (neviim). Deren warnende und klagende Stimmen an das auserwählte Volk schwingen hier mit, Stimmen wider den Abfall vom Glauben, wider soziale und politische Ungerechtigkeit. Mit Rambam (Akronym für „Rabbi Moses ben Maimon“, 1135–1204), auch Maimonides genannt, erinnert Opatoshu an den großen spanisch-jüdischen Philosophen, Exegeten und Arzt, der, von Aristoteles beeinflusst, in seinem Hauptwerk More Nevuchim (Führer der Ungläubigen) die Geschichte des Judentums in der Synthese von Religion und Philosophie darstellt. Maimonides steht für das Goldene Zeitalter der Juden in Spanien bis zu ihrer Vertreibung 1492 im Zuge der Reconquista.788 Moses Hess (1812–1875) gilt als einer der Väter des Kommunismus – daher sein Spitzname „Kommunistenrabbi“ – und des Zionismus zugleich.789 Mit Yitskhok Leybush Perets fügt Opatoshu dem illustren Kreis einen Hauptvertreter der jiddischen Literatur und Hauptverfechter der auf dem Jiddischen begründeten Kulturautonomie zu Beginn des 20. Jahrhunderts hinzu (s. Einleitung und Kap. 6). Mit dieser verkappt als ,name dropping‘ daherkommenden Diachronie des Begriffs „yidishkayt“ macht Opatoshu auf dessen Historizität aufmerksam. Er steckt so das riesige Bedeutungsspektrum von „yidishkayt“ zwischen Religiösem und Weltlichem, zwischen Zionismus und Jiddischismus ab. Zugleich zeigt er, dass der Begriff der „Jüdischkeit“  – ähnlich der „Kultur“ oder der „Gesellschaft“ – ein Konstrukt ist. (Kinder der Postmoderne wissen um die – notwendige – Brüchigkeit dieser großen Begriffe gerade aus der Zeit des „nation building“.) Ob sich jedoch jiddische Kultur, also – von Opatoshu wie Chagall praktizierte – künstlerische, aber auch lebensweltliche Ausdrucksformen eines mit dem Jiddischen verbundenen Lebens, und Jiddischismus als Ideologie so deutlich voneinander trennen lassen, ist fraglich. Opatoshu wäre 788 Er ist zugleich der Verfasser der Mischne Tora (Wiederholung der Tora). Zu diesem bedeutenden Denker s. Ehrlich 2002: 52–71 und Hayoun 2004: 103–145. 789 Hess wird aufgrund seines national-jüdischen Gedankenguts in seinem Hauptwerk Rom und Jerusalem (1862) zum Vorläufer des Zionismus (Philo-Lexikon 1992: 291).

Marc Chagall und Yoysef Opatoshu  | 321 demnach ein toleranter Jiddischist. Eine künstlerisch gelebte jiddische Jüdischkeit ist für Opatoshu keine Tautologie, sondern eine Lebensaufgabe. Opatoshu ist in allen Organisationen tätig, die sich für die jüdisch-jiddische Kultur einsetzen. Er engagiert sich im Exekutivkomitee des Jiddischen Wissenschaftlichen Instituts YIVO und im Jiddischen Kulturverband IKUF, gegründet 1937 auf dem Ersten Weltkongress für jiddische Kultur in Paris.790 Er ist Mitglied im jiddischen Schriftstellerverband und im jiddischen P.E.N.-Club. Seit ihrer Gründung 1914 arbeitet der polnisch-jüdische Autor auch für die in New York herausgegebene jiddische Tageszeitung Der Tog (Der Tag). In der Alten und Neuen Welt macht er sich für jüngere jiddisch schreibende Autoren stark. Opatoshus Essays, seine Reden und seine umfangreiche Korrespondenz in Jiddisch, Polnisch, Russisch, Deutsch und Englisch mit Schriftstellerkollegen, Historikern, Linguisten und nicht zuletzt mit Marc Chagall zeugen von seinem unermüdlichen Einsatz für das Jiddische und für die jiddische Literatur.791 Als Kulturpolitiker, als Redner und Essayist, vor allem jedoch als Prosaautor ist Opatoshu ein Mentor der jiddischen Jüdischkeit.792 Anders als sein Bruder, der neben jiddischen auch hebräische Verse verfasst, anders als Perets, der viele seiner jiddisch verfassten Texte ins Hebräische übersetzt und umgekehrt, schreibt Opatoshu seine Werke ausschließlich auf Jiddisch. Die Klassiker der jiddischen Literatur, Mendele Moykher-Sforim, Sholem-Aleykhem und Perets, vollenden ihre Karriere, als die neue Schriftstellergeneration – Dovid Bergelson in Russland, Yitskhok Meyer Vaysenberg und Sholem Ash in Polen sowie Dovid Ignatov und Yoysef Opatoshu in Amerika – die literarische Bühne betreten (Krutikov 2001: 1). Neben Ash begründet Opatoshu den jiddischen historischen Roman.793 In Der letster oyfshtand (Der letzte Aufstand, postum erschienen 1955) führt Opatoshu den Leser zurück zu den Ereignissen des Bar-Kochba-Aufstandes unter Kaiser Hadrian im 2. Jahrhundert.794 In zahlreichen Erzählungen schildert er das bewegte Leben der osteuropäischen Juden bis in das 20. Jahrhundert hinein. 790 Der Ershter alveltlekher yidisher kultur-kongres (Erster Weltkongress für Jüdische/Jiddische Kultur) findet vom 17.–21. September 1937 in Paris statt. Unter Beteiligung von mehreren hundert Autoren, Künstlern, Musikern und Wissenschaftlern ist er „an impressive show of force of a waning culture, hovering on the brink of an abyss“ (Harshav 2004: 550). 791 Opatoshu steht in regem Briefkontakt mit dem Literaturhistoriker Maks Erik, dem Sprachwissenschaftler Nokhem Shtif oder dem Historiker und Geschichtsphilosophen Simon Dubnov. 792 1950 wird Opatoshu die bedeutendste US-amerikanische Auszeichnung für jiddische Literatur, der Literaturpreis der 1940 gegründeten Louis Lamed Foundation for the Advancement of Hebrew and Yiddish Literature verliehen – laut Chagall der ‚jiddische‘ Literaturnobelpreis, vgl. sein Gratulationsschreiben vom 24. Dezember 1944 (Harshav 2004: 550). 793 Opatoshu debütiert 1910 mit der Erzählung Oyf yener zayt brik (Auf jener Seite der Brücke), der 1912 der Roman fun a ferd-ganev (Roman eines Pferdediebs) – 1971 verfilmt nach dem Drehbuch seines Sohnes David – folgt. Zu der Zeit gehört er der Anfang des 20. Jahrhunderts sich formierenden jiddischen Literatengruppe Di yunge (Die Jungen) an. Nach einer anfangs stark sozial engagierten Literaturproduktion übt sich diese Schriftstellerverbindung, als deren talentiertester Prosaautor Opatoshu zählt, vor allem in tendenzfreier, impressionistischer Lyrik (s. Dinse/Liptzin 1978: 126–128, Wisse 1976: 265– 276 und Krutikov 2001: 144–146). Zu Opatoshu s. LNYL 1956 Bd. 1: 145–149, Reyzen 1928: 146– 151. 794 Der zweite Teil des zweibändigen Romans liegt auch in deutscher Sprache als Bar Kochba. Der letzte Aufstand (1985) vor, nicht aber der erste, Reb Akiva (Rabbi Akiba, 1948).

322  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Mit Fun Nyu-Yorker geto (Aus dem New Yorker Ghetto, 1914) wendet sich Opatoshu als einer der ersten jiddischen Autoren jüdischen Schicksalen in den USA zu. 1921 erscheint sein Hauptwerk In poylishe velder (In polnischen Wäldern). Hier stellt Opatoshu die „gesamte Vielfalt jüdischen Lebens in der nach-napoleonischen Generation“ (Dinse/Liptzin 1978: 129) in Polen, einschließlich des Verfalls eines traditions­gebundenen chassidischen Hauses, dar. In der historisierenden Darstellung der Juden ist er mit Julian Stryjkowski (vgl. Przybysz z Narbony [Der Fremde aus Narbonne], 1978) oder mit Lion Feuchtwanger – man denke an dessen Jud Süß (1925) – vergleichbar. Zwischen Reb Akiva und den polnischen Juden liegt die wichtige Periode der altjiddischen, im aschkenasischen Raum entstandenen Literatur.795 Auch hier konzeptualisiert er seine Vorstellung einer jiddischen Jüdischkeit.

A tog in Regnsburg (Ein Tag in Regensburg, 1933) – „yidishkayt“ in Text und Bild Opatoshus Muse ist Clio: Die Literarisierung geschichtlicher Ereignisse prägt auch seine Erzählung A tog in Regnsburg (Ein Tag in Regensburg) von 1933.796 Sie steht ganz unter dem Unstern des spätmittelalterlichen Antijudaismus der Stadt: Nach dem plötzlichen Tod Kaiser Maximilians I, der im Falle Regensburgs antijüdische Handlungen rigoros unterbunden hatte, nutzen am 21. Februar 1519 judenfeindliche Kräfte im Stadtrat das Machtvakuum: Binnen weniger Tage müssen knapp 600 Juden, ca. 500 ortsansässige Juden und 80 Talmudschüler, Regensburg verlassen. Das Ghetto wird samt Synagoge und Talmudschule dem Erdboden gleichgemacht, der jüdische Friedhof geschändet und zerstört. Albrecht Altdorfer, als Künstler und Begründer der Donauschule eine Figur von internationalem Rang, hatte in seiner Funktion als Baumeister der Stadt nicht unwesentlichen Anteil daran.797

795 Aschkenas (jidd. ashkenaz) meint zunächst den deutschsprachigen, nordfranzösischen und böhmischen Raum, in dem sich die jiddische Sprache im Mittelalter entwickelt; vom 13./14. Jh. an schließt der Begriff nach großen erzwungenen Migrationen der jüdischen Bevölkerung nach Polen-Litauen auch die mittelost- und osteuropäischen Juden ein (s. hierzu Aptroot/Gruschka 2010: 29–46). 796 Sie erscheint gemeinsam mit vier Prosaskizzen zum Grammatiker und Schriftsteller Elye Bokher (Elia Levita Bachur, 1469–1549) in einer limitierten Luxusausgabe von 100 Stück im New Yorker MalinoVerlag (s. Harshav 2003: 981). Im auf 1930 datierten Manuskript zur Erzählung fehlen das letzte Kapitel, an dessen Ende Flucht und Vertreibung stehen (s. YIVO r. 108, folder 5.10.14). Im Bann der politischen Entwicklungen Deutschlands ergänzt Opatoshu bis in das Jahr 1933 hinein den Text um sein unheilschwangeres Finale. 797 Von den Ritualmordprozessen 1476 an, in denen es aufgrund des Vorwurfs, christliche Kinder um jüdischer Rituale willen getötet zu haben, zu Verfolgungen kommt, ist es mit der friedvollen Koexistenz von Juden und Christen in der Freien Reichsstadt vorbei. Die Vertreibung von 1519 ist aber nicht nur das Ergebnis ideologischer Verirrungen, sondern vor allem Folge des wirtschaftlichen und politischen Niedergangs der Stadt. Zur Geschichte der Juden in Regensburg s. Raphael Straus (1932) und Wittmer (2001). Wesentlich für Opatoshus Kenntnisse um die Regensburger Austreibung dürfte Dubnovs zehnbändige Weltgeschichte des jüdischen Volkes (1925–1929) gewesen sein (s. Dubnow 1927 Bd. 6: 189f., 234–244).

Marc Chagall und Yoysef Opatoshu  | 323 A tog in Regnsburg ist ein Menetekel für die drohende Vernichtung der Juden, mit der die Erzählung an ihrem Ende vom Freudenfest in die historische Tragödie kippt. Denn die Fabel der Erzählung behandelt das Ende der innerjüdischen Fehden zwischen der im Mittelalter renommierten Regensburger und Wormser jüdischen Gemeinde.798 Eine Hochzeit, kühn arrangiert vom Regensburger Magnat Shmuel Belasser, soll der jahrzehntelangen Rivalität zwischen den beiden Gemeinden ein Ende setzen. Der Festakt bringt nicht nur das Leben in der Jeschiwa durcheinander – statt Tora und Talmud zu studieren, üben die Schüler ein Singspiel ein –, sondern zieht wie ein Magnet skurriles Bettlervolk und, von Musik und Gesang begleitet, Prager Spielleute an. Dem Gebot der Mildtätigkeit folgend, werden die erbärmlichen Gotteskreaturen ebenso aufgenommen wie die Prager Spaßmacher. In acht, stark szenischen Kapiteln entfaltet Opatoshu ein komisch-frivoles und buntes Genrebild „der gezamter yidisher freylekher oremkayt“ (der gesamten jüdischen fröhlichen Armut; Freylekh 1951: 91), bevor das letzte Kapitel den Blick auf eine tiefere, politische, die jüdische Identität bedrohende Dimension freigibt. Jossilman Rosheim (1476–1554), in Buch und Wirklichkeit Judenfürsprecher im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, übermittelt das dräuende Unheil der Vertreibung. Aus dem Hoch­ zeitsspiel wird ein Totentanz, entrichtet als Tribut an den judenfreundlichen „Kurfürsten“ – Opatoshu meint den späteren Kaiser Karl V. – für seine schützende Hand. Roza, die Prager Tänzerin und Protagonistin in A tog in Regnsburg, erfüllt, als weißer Todesengel verkleidet, gemeinsam mit ihrem Gefährten und Geliebten Fishl diese traurige Pflicht (s. 1933: 90–94).799 Die Vernichtung jüdischen Lebens in Regensburg ist trotz des Totentanzes unabwendbar, nicht aber die Rettung jüdisch-jiddischer Buchkultur. Gemeinsam mit dem ehemaligen Konkurrenten Leyb setzt Fishl, der Anführer der Prager Spielleute, sein Wanderleben im Dienste der Literatur fort. Weg von Aschkenas ziehen die beiden in den Süden, zu Ehren der großen Gestalten des Pentateuchs, die sie in ihren künftigen jiddisch verfassten Spielen besingen wollen (Opatoshu 1933: 95).800 Damit macht er die jiddische Literatur – die im Vergleich zur hebräischen Schrifttradition auf der Ebene der Erzählzeit (Mittelalter) und der erzählten Zeit kein Schattendasein mehr führt – unsterblich.801

798 Zur jüdischen Gemeinde Regensburgs als Drehscheibe jüdischer Gelehrsamkeit im Mittelalter s. Angerstorfer 2009: 9–26. 799 Das Motiv des Totentanzes (jidd.: „meysim-tants“ oder „toytn-tants“) ist im Text in einer frivolen Trinkszene vorweggenommen (1933: 54; dt. 2008: 48). Zu jiddischen Totentanzliedern s. Erik 1928: 172–174. 800 Mit Leyb könnte Leyb von Regensburg gemeint sein. Er war ein „shrayber“ (Schriftsteller), der religiöse Erbauungsliteratur für Frauen in jiddischer Sprachen verfasste. Leyb von Regensburg erstellt eine – laut Maks Erik – wenig gelungene Kopie des Shmuel-bukh (Shmuel-Buches), einer epischen Dichtung aus dem 16. Jh. (1928: 113). 801 1948, verfasst auf den Trümmern der ostjüdisch-jiddischen Kultur, stellt Opatoshu die jiddische Literatur in eine Reihe mit dem großen jüdischen (=hebräischen) Schrifttum: „Di yidishe literatur iz a vikhtiker teyl fun undzer natsyonaln fermegn, vos vet undz shtendik tsugebn koved, vi der tanakh git undz tsu, vi der talmud, vi di shpanishe goldene epokhe.“ (Die jiddische Literatur ist ein wichtiger Teil unseres nationalen Reichtums, der uns immer zur Ehre gereichen wird, ebenso wie der Tanach, der Talmud und das spanische goldene Zeitalter; S. 32.)

324  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Opatoshus Sensibilität für die historische Wandelbarkeit von „yidishkayt“ speist sich aus vielen Lektüren.802 An der Faktur seiner Texte geht beides, sein (Literatur-)Geschichtsbe­ wusst­sein und die sprachliche Ausformung von „yidishkayt“, nicht spurlos vorüber. In A tog in Regnsburg inszeniert Opatoshu das Jiddische in seiner ganzen ästhetischen Vielfalt. In das Standardjiddisch seiner Zeit schaltet er ältere Sprachstufen und -varietäten. Westjiddisch tritt neben Ostjiddisch, die „klal-shprakh“, also Standardjiddisch, neben lokal gefärbtes polnisches Jiddisch. Opatoshu bewegt sich sprachlich und poetisch oft jenseits gängiger Wörterbucheinträge.803 A tog in Regnsburg ist auf der Inhalts- und auf der Ausdrucksebene eine Hommage an das Jiddische und an die altjiddische Literatur. Durch die vordergründige Handlung hindurch schimmert ein großes Leitmotiv des Textes: die Adelung des Jiddischen als Literatursprache. Opatoshu, ein Schriftsteller mit Gelehrtenstatus, spinnt in A tog in Regnsburg ein dichtes Netz intertextueller Bezüge. Die Talmudstudenten erfreuen sich neben Sentenzen Rabbi Jehudas he-Chassid (des Frommen) auch an Texten nichtreligiöser Natur.804 Sie sind flammende Fürsprecher des Bove-Bukh (Das Buch Bowe), eines Höhepunkts altjiddischer Literatur, das die Abenteuer Prinz Boves und der schönen Druziana schildert. Verfasst wurde es von Elia Levita Bachur (1469–1549), der mit Mendele Moykher-Sforim als Gründervater der jiddischen Literatur genannt werden kann.805 Die Spielleute singen wunderbar deftiges jiddisches Liedgut. Sie rezitieren judendeutsche Werke, die häufig in altdeutschen Sagen wie die Texte um „Widuwilt“, den Helden der jiddischen Version der Artussage, Dietrich von Bern und Meister Hildebrand ihre Vorläufer haben.806 Opatoshus Diktum, „[...] yedes ayngefundevet vort iz a shtik kultur-geshikhte“ (jedes tief verankerte Wort ist ein Stück Kulturgeschichte; 1948: 31), lässt sich kaum besser illustrieren als durch die Erzählung selbst. Die intertextuellen Referenzen und Interferenzen regiert der Gedanke einer interkulturellen Genealogie: So wenig man die moderne jiddische Literatur von der altjiddischen abkoppeln kann, so wenig sind die altdeutsche und die altjiddische Literatur voneinander zu trennen.

802 Sein Bücherschrank war beredtes Zeugnis davon: Neben religiöser hebräischer Literatur findet sich eine Prachtausgabe des von Opatoshu geschätzten Elye Bokher, neben diesem altjiddischen Meister zeitgenössische jiddische Lyrik (Shulman 1933: 750–752). 803 Opatoshu stellt eigens ein Wörterbuch an das Ende von A tog in Regnsburg, in dem er seltene und/oder ältere Begriffe erläutert. In der Tat ist das jiddischsprachige Publikum in Amerika, so Opatoshus Enkel Dan, beim Erscheinen des Buches von der Fremdartigkeit der Sprache teilweise irritiert (Gespräch am 24.3.2009). 804 Rabbi Jehuda lehrt von 1195 bis 1217 in Regensburg; ihm ist wesentlich das mittelalterliche Zentralwerk Sefer Chasidim (Das Buch der Frommen) zuzuschreiben. Auch im Mayse-bukh sind ihm eine Vielzahl von Legenden gewidmet (s. 22004: 406–499). 805 Die Erstveröffentlichung des Bove-bukh wird um 1507 vermutet, der früheste erhaltene Druck stammt von 1541. Eine Hommage an Mendele baut Opatoshu durch dessen mittelalterlichen Doppelgänger in die Erzählung ein, der mit einem Bündel sakraler, aber auch weltlicher Bücher in Regensburg auftaucht, Männlein wie Weiblein zum Lesen verführen will (1933: 40–44). 806 Vgl. Achim Jaegers Studie zum westjiddischen Widuwilt (2000).

Marc Chagall und Yoysef Opatoshu  | 325 1936, drei Jahre nach A tog in Regnsburg, verteidigt Opatoshu auf der Metaebene sein Mameloshn als ideellen Wert (1937: 17–27). Jiddisch und nicht etwa die Sprache des jeweiligen Landes, in dem man wohnt, ist die adäquate Sprache, um das Jude-Sein in die richtige Form zu gießen. Geographie verblasst vor grenzüberschreitendem Geistesleben. Deshalb kann Opatoshu über Aschkenas als Ort jiddischer literarischer Produktion schreiben: „Ashkenaz“ hot oyfgehert tsu zayn a geografisher bagrif, s’iz gevorn an ideyisher, s’iz gevorn „yidishland“. (Opatoshu 1937: 23) „Aschkenas“ hörte auf, ein geographischer Begriff zu sein, es wurde ein ideeller Begriff, es wurde „Jiddisch-Land“.

Opatoshu wertet den geographischen Raum Aschkenas um zu einem kulturellen Raum. Hier haben das Jiddische, seine Literatur und die ideellen Werte, die darin gespeichert sind, Platz und Ausdruck gefunden. Opatoshu imaginiert aus der wechselvollen jiddischen Kultur- und Literaturgeschichte eine Kulturtopographie, in der literarische Denkmäler unterschiedlicher Epochen und Zeiten gleichzeitig existieren. Opatoshus Erzählung A tog in Regnsburg ziert in der New Yorker Ausgabe von 1933 ein Frontispiz von Marc Chagall (s.  Abb. 69).807 Kann auch dies Bild ein Plädoyer für das Jiddische oder gar für „yidishkayt“ sein? Selbst dann, wenn es auf den ersten Blick mit dem Inhalt der Erzählung nichts verbindet? Über die Illustrierarbeit zur jüdischen Bibel hinaus kehrt die Tora als Chagalls Lieblingssymbol für das Judentum in zahlreichen Bildern, Drucken, Gouachen und Zeichnungen wieder. Immer ist sie ein Hort des Trostes, wie im Holzdruck Jude mit Tora (1922/23) oder in der Radierung Mit der Tora über der Stadt (1924–25; Abb. in Kornfeld 1970: 78–79), mit der Chagall an eine Zeichnung zu Perets Der kuntsn-makher anknüpft (s. Kap. 6). Häufig hält sie – wie in der Gouache Jude mit Tora (1925, Abb. in Compton 1990: 102) und natürlich im berühmten Ölbild Einsamkeit (1933)  – eine von Chagalls zahlreichen Judengestalten nachdenklich im Arm. Für Opatoshus historischen, in seiner Monumentalität an Tolstojs Vojna i mir (Krieg und Frieden, 1868/69) erinnernden Roman Der letster oyfshtand setzt er Rabbi Akiva mit Gebetsmantel und Gebetsriemen ins Bild (s. Abb. 70). Ein Schofarhorn in der einen und eine Schriftrolle in der anderen Hand fliegt er majestätisch wie der Prophet Elia in den Himmel.808

807 Nicht allein in der Zeichnung schlagen sich die Bande zwischen Chagall und Opatoshu künstlerisch nieder: 1948 porträtiert Chagall seinen Freund in Croton Falls. 1952 eignet er ihm und dessen Frau Adele ein in Mischtechnik angefertigtes Selbstportrait an der Staffelei mit der jetzt französischen Inschrift „Pour les Opatoshu / amicalement“ zu (Abb. in Koller 2009: 18 und 19). 808 Zum Schofarhorn s. Kap. 8.2, Fußn. 498.

326  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte

Chagall: Illustration für Der letster oyfshtand, 1948. © VG Bild-Kunst, Bonn 2012.

Dass es sich um den großen Gelehrten und Märtyrer Akiva handelt, geht bereits aus Chagalls Widmung zum ersten Teil von Der letster oyfshtand mit dem Titel Reb Akiva hervor. Chagall schreibt hierzu: „Tsu Opatoshus zekhtsik yor – r’ Akiva – in undzer tsayt fun vidershtand un kdushe.“ (Zu Opatoshus sechzigstem Geburtstag: Reb Akiva in unserer Zeit des Widerstandes und der Heiligkeit.)809 Auch für das Frontispiz zu A tog in Regnsburg greift Chagall auf die Torarolle als Zentralsymbol des Judentums zurück. Anders als in den bisherigen und nachfolgenden Verwendungen erscheint sie hier übermannshoch. Ihr symbolischer, ja existenzieller Wert setzt wie so oft bei Chagall die Verpflichtung realen Proportionen gegenüber außer Kraft. In eine sanfte ländliche Umgebung platziert, ist mit weichen Strichen ein Jude zwischen Welt (das Schtetl) und Glaube (die Tora) eingebettet. Das dichte Schwarz lässt ihn mit der Tora ebenso zu einer Einheit werden wie der ‚weiße Schatten‘, der auf beide fällt, auf den Juden und auf des Juden Heilige Schrift. Die ländliche Kulisse ist – typisch für Chagall – eine Evokation der ostjüdischen Heimat, die ihn mit Opatoshu und das Frontispiz mit 809 Mit „kdushe“ wird ebenfalls ein Teil im Achtzehngebet (Amida; jidd: shimenesre) bezeichnet, der die Heiligkeit von Gottes Namen preist. Chagall setzt bei „kdushe“ die Vokalzeichen dem Jiddischen gemäß unter das Aleph und nicht, wie in der Widmung zu A tog in Regnsburg, in hebräischer Manier unter den vorausgehenden Konsonanten.

Marc Chagall und Yoysef Opatoshu  | 327 einigen Illustrationen zu Gogol’s Mërtvye duši verbindet (vgl. Ill. 1, 3, 40 und 41). Das jeg­ licher Zeit- und Ortsgebundenheit enthobene Wort Gottes bildet die Gegenkraft hierzu. Zugleich ist die Tora in der Umsetzung Chagalls mit den beiden Holzstäben, den „Ezej chajim“ (wörtl.: Lebensbäume), um die man die Schriftrollen wickelt und die aufgrund ihrer hebräischen Bezeichnung mit dem Baum des Lebens in Verbindung stehen, fest in der Erde verankert.810 Aus dem schwarzen Feld sticht der weiße Davidstern heraus. Ihn ziert der Gottesname „‫( “שדי‬schaddaj, von hebr. „‫“שדד‬/„schadad“: gewalttätig sein). Gott, der Gewaltige, ist die Stütze, die in der überlebensgroßen Tora vom Künstler wörtlich genommen wird. Beim Wort nimmt Chagall dadurch auch Yoysef Opatoshu. Zunächst scheint Chagalls Frontispiz mit der Erzählung wenig gemein zu haben. Ob die Zeichnung in Kenntnis von Opatoshus literarischer Vorlage entsteht, ist tatsächlich unklar. Chagall ist in Paris, während Opatoshu in New York an der Erzählung arbeitet: „Ikh vel farzukhn di teg tsu makhn dem yidn far aykh, ayer bukh“ (Ich will versuchen, dieser Tage den Juden für Sie, für Ihr Buch zu machen), schreibt er „Opatoshi“ am 26. Oktober 1931 (YIVO, r. 436, f. 249). Chagall mag den Text nicht gelesen haben; dessen Urheber und dessen in der yidishkayt verankerte geistige Haltung kennt er umso besser. Weiß man um Opatoshus unerschütterliche Überzeugung, Kultur auf den Logos, auf das göttliche wie das „produktive“ menschliche Wort zu bauen, wirkt die Zeichnung zu A tog in Regnsburg wie die ästhetische Umsetzung von Opatoshus Kulturprogramm (vgl. Opatoshu 1938a: 41 und 1938b: 641). Denn obgleich die mächtige Torarolle in ihrem kräftigen Schwarz den Bildaufbau dominiert, wirkt sie keineswegs bedrohlich. Vielmehr bietet die überlebenshohe Tora dem Juden mit den gesenkten Lidern, der mit einer Feder in der Hand in ein Buch schreibt, Schutz. Der Jude schreibt jiddisch (rechts ist ein „Shagal“ zu erkennen) und steht somit exemplarisch für den ostjüdischen Schriftsteller (Opatoshu?). Gottes Wort und das kreative – jiddische – Wort des Menschen, von denen zu reden Opatoshu nicht müde wird, sind nicht voneinander zu trennen. Was der Jude auch schreiben mag, er ist geborgen in der Schrift, geborgen in der Literatur. Dies ist ein hoffnungsvolles Motto, das sich guten Gewissens auch Opatoshus Erzählung voranstellen ließe. Chagall setzt auch in späteren Werken die Aussetzung der Größenverhältnisse fort: Die – französische und jiddisch signierte – Federzeichnung und Gouache Jude, der die Tora auf dem Rücken trägt (1931–1935), eine Collage von 1955 und die späte Radierung Die rote Tora von 1982 folgen derselben Ikonographie (s. Abb. 71 bis 73).811 In der Collage und in der späten Radierung, die das Motiv des an die Tora gelehnten, schreibenden Juden seitenverkehrt aufgreift, platziert Chagall beide Elemente auf einem Huhn oder Hahn. Für die Farbcollage verwendet Chagall seine Zeichnung zu A tog in Regnsburg. Grelles Rot verbindet sie mit dem Hahn, der als Symbol der Sühne eingesetzt wird (s. hierzu Kap. 5). Alle Variationen teilen mit dem Frontispiz zwei zentrale jüdische Gedanken: Die Juden werden aufgrund ihrer ständigen Exilsituation zum Gedächtnisvolk. Auf der Grundlage der Tora als Gründungstext der jüdischen Kultur wird eine Erinnerungskunst entwickelt, die auf 810 Zur Symbolik des „Ez chaim“ s. Wischnitzer-Bernstein 1935: 45–48. 811 Ich danke Wolfgang Maier-Preusker für diesen Hinweis.

328  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte der Trennung von Identität und Territorium beruht.812 Die Bibel wird für die Juden zum „portativen Heimland“ (Heinrich Heine). Im Titel zur Gouache Jude, der die Tora auf dem Rücken trägt klingt dies an. Opatoshu selbst hebt dies in einem Interview mit Literarishe bleter (Literarische Blätter) vom 21. Oktober 1938 hervor: Er sieht in der Hinwendung zum Logos, zum (göttlichen) Wort die für die drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam entscheidende Kulturleistung. Die Juden begründen so eine Kultur der Schrift, eine Kultur des Buches, das sie im Unterschied zu den Ägyptern mit ihren Sphinxen und Pyramiden überall mitnehmen können (1938b: 640–642). Neben dieser den Raum betreffenden Bedeutung birgt die Zeichnung eine weitere Konstante jüdischen Denkens, die zeitliche Dimension betreffend: In jüdischer Vorstellung hat der Mensch die Zukunft im Rücken. Paul Klee thematisiert dies in seinem Angelus Novus (1920) ebenso wie Walter Benjamin in seinen geschichtsphilosophischen Thesen (1980: 697f.). Die Zukunft in Form der göttlichen Verheißung steht in der Tora. Der Jude in Chagalls Frontispiz schreibt – im Wissen um die Vorsehung – für die Zukunft (der chronologischen Zeit) und – wie Opatoshu selbst – an der Unsterblichkeit des Judentums mit.

Buch versus Bild: jiddische yidishkayt in Zeiten ihrer Institutionalisierung Opatoshu und – wenn auch in geringerem Maße – Chagall denken das Jüdische nicht ohne das Jiddische. Doch nicht allein das Ineinander von Jüdischem und Jiddisch in beider Schaffen, auch metatheoretische Reflexionen zur Stellung der Kunst fördern verblüffende Übereinstimmungen des Autors mit dem Maler zutage. Sie berühren tief den Wesenskern der jüdischen Kunst. Wer die Geschichte des YIVO, des Yidishn visnshaftlekhn instituts (Jüdisches/Jiddisches Wissenschaftliches Institut) kennt, versteht Opatoshus unermüdlichen Einsatz für die jiddische Sprache und Literatur.813 Gegründet wird es – noch vor der Hebräischen Universität in Jerusalem (Schreiner 2003: 15) – 1925 in Berlin auf Anregung von Nokhem Shtif.814 Seinen Hauptsitz hat es in Vilnius, dem „Yerusholayim d’Lite“ (Jerusalem Litauens). Weitere Zentren befinden sich in Warschau und Berlin, Zweigstellen in Paris, Buenos Aires und New York. Ein Drittel des YIVO-Bestandes – der Rest fällt während des Zweiten Weltkrieges der Vernichtung anheim – kann auch dank der legendären ‚Papier-Brigade‘, einer Gruppe von zwanzig bis 812 S. hierzu Kap. 2, Fußn. 82. 813 Der Tübinger Hebraist Stephan Schreiner, der sich um die Erforschung des YIVO verdient gemacht hat, übersetzt das inhaltlich treffend mit Wissenschaft des Ostjudentums (2003: 13). 814 Neben Max Weinreich war Simon Dubnov Gründungsmitglied. Ehrenkuratoren waren u. a. Sigmund Freud und Albert Einstein. Das YIVO ist in vier Abteilungen aufgeteilt, in eine historische, eine ökonomisch-statistische, eine psychologische-pädagogische und – als größte Sektion – eine philologischethnologische (Niewöhner 2003: 10). Unmittelbarer Vorläufer ist das 1919 in Kiev von Elye Tsherikover gegründete Ostjüdische Historische Archiv. Es wird im Jahre 1921 nach Berlin transferiert (Bechtel 1999: 248). Sein Hauptziel ist es, die antijüdischen Pogrome zwischen 1917 und 1921 wissenschaftlich zu dokumentieren (Brenner 2000: 213). Das YIVO ist also indirekt ein Kind der Pogromforschung. Zu Nokhem Shtif s. Kap. 8.3.

Marc Chagall und Yoysef Opatoshu  | 329 vierzig jüdischen Zwangsarbeitern, darunter Avrom Sutskever, vor den Nazis und den Vollstreckern der Sowjet-Diktatur nach New York gerettet werden.815 Die Vernichtung des YIVO hätte eine ähnliche Katastrophe bedeutet wie der Verlust der Bibliothek Aby Warburgs. Die Sprache und die Publikationen des Instituts sind Jiddisch. Es ist durch und durch jiddischistisch (s. Estraikh 2004: 111–114). Der Terminus „wissenschaftlich“ unterstreicht die Ernsthaftigkeit dieses akademischen Vorhabens.816 Wie Opatoshu steht auch Chagall, wenngleich sporadisch, mit dem YIVO in Verbindung. Er, der noch während seiner Pariser Jahre zu seinen jiddischen Künstlerkollegen auf Distanz geht, die in La Ruche, dem Bienenstock der künstlerischen Avantgarde, jüdisch-modernistische Kunstprogramme diskutierten, verfolgt von den 1920er Jahren an, vielleicht unter dem Eindruck des russischen Kunstsammlers Ja.F. Kagan-Šabšaj, des Ethnographen und Autors An-Ski (s.  Kap. 6), eigener Museumsideen während seiner Vitebsker Zeit und des 1925 gegründeten YIVO die Idee eines Jüdischen Museums.817 Anlässlich der ersten YIVO-Konferenz, die 1929 in Vilnius stattfindet, schreibt Chagall einen Brief.818 Im Bewusstsein des hohen Stellenwertes, den kulturelle Institutionen für das über alle Herrenländer verstreute jüdische Volk darstellen, setzt er sich für die Einrichtung einer Kunstsektion innerhalb des YIVO ein. Er geht dabei auf das in der jüdischen religiösen Praxis begründete Gefälle zwischen Kunst und Literatur ein: Es gebe eine wissenschaftliche Einrichtung für jiddische Literatur, nicht aber für jüdische Kunst. Es gebe Fachleute für jiddische Literatur (man denke an Maks Erik oder Yisroel Tsinberg). Doch wo sind die Kunsthistoriker zur Erforschung der jüdischen Kunst? Chagall benennt für die jüdische Kunst selbst wie für deren wissenschaftliche Reflexion, für die Objekt- wie für die Metaebene eine Lücke. (Bis heute gibt es am YIVO keine Kunstsektion.) Chagall wiederholt seine Anregung, im YIVO eine Abteilung für Kunst einzubauen, um in diesem wissenschaftlichen Rahmen die (angebliche) Bilderfeindlichkeit des Judentums zu überwinden, anlässlich des zehnten Jahrestages der Gründung des YIVO in Vilnius (Chagall 1967: 115–118; engl. in Harshav 2003: 56–60). Dort wurde zwischenzeitlich tatsächlich ein wenn auch bescheidenes Museum für jüdische Kunst eingerichtet.819 815 Zur Geschichte des YIVO s. Fishman 1996, Brenner 2000: 213–214, Schreiner 2003: 13–23, Bertz 2008: 285–298 und Koller 2010: 178–182. 816 Stefan Zweigs Glückwunschschreiben ans YIVO anlässlich seines 13. Geburtstags, seiner ‚Bar Mizwa‘, ist in Bezug des darin anklingenden Zweifels vielsagend: „Eine wichtige Errungenschaft Ihres Instituts sehe ich darin, dass Sie die jiddische Sprache – anfangs eher eine Nutzsprache, aus der nur etliche große Schriftsteller eine dichterische Sprache gemacht haben – nun auch wissenschaftlich festigen und sie vorbereiten für den Aufbau einer jiddischen geistigen Kultur [...] Ich hoffe nur, dass das Jiddische das beste Mittel ist, die in unterschiedlichen Ländern zerstreuten Juden zusammenzuhalten.“ (zit. nach Schreiner 2003: 14) 817 Bereits während seiner Lehrtätigkeit in Vitebsk hat Chagall, von der Euphorie der Revolution und der rechtlich verbrieften Gleichberechtigung aller Minderheiten erfasst, eine jüdische Sektion für das geplante Kunstmuseum im Auge. Einige Jahre später schlägt er den beiden Zentren der säkularen jüdischen Kultur Tel Aviv und Vilnius ein Kunstmuseum vor (Harshav 2004: 351–352). 818 Englisch in: Harshav 2004: 352–353. 819 Später wird daraus das Kunstmuseum in Palästina. Auf Chagall wirkt es dilettantisch, eklektisch, nicht den didaktischen Ansprüchen genügend, s. Harshav 2003: 55.

330  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Chagall legt bezüglich der Vernachlässigung der Kunst am YIVO erneut den Finger in die Wunde: Es fehle an Theoretikern, Kunstsammlern und Autoren, welche die jüdische Kunst in denselben Rang erhoben hätten wie die Literatur. Vergleichskulturen sind ihm die französische und die russische: Man habe keinen Baudelaire, keinen Théophile Gautier und keinen Apollinaire für die Entwicklung eines spezifischen jüdischen Kunstgeschmacks. Man habe keinen der großen russischen Mäzene wie Morozov, Ščukin oder Djagilev, um jüdische Kunstschätze zusammenzutragen. Anders als in der russischen Kultur gebe es – Yitskhok Leybush Perets ausgenommen  – auch keinen fruchtbaren Dialog zwischen Kunst und Literatur (1967: 116). Chagall stößt dies womöglich auch deshalb so sehr auf, weil Bild und Sprache, Sprachmetapher und ihre visuelle Realisierung bei ihm so eng zusammenhängen: Ven di yidishe poezye, di yidishe literatur volt geven baheft mit andere kunsttsvaygn bikhlal un mit der plastisher kunst bifrat, volt es zi gemakht nokh raykher, volt es farshtarkt ir shvung say in gayst, say in stil. Ven mir nemen lemoshl di rusishe literatur, vi di farbindung Pushkins mit di psevdoklasiker fun zayn epokhe, Gogols mit Aleksander Ivanov, Tolstoys mit di ‚peredvizhnikes‘, Tshekhovs mit Levitanen oder in undzer literatur Perets un zayn fayner khush far dem modernizm fun zayn tsayt, veln mir, bin ikh zikher, oysgefinen, az di dozike farbindung hot ongefilt zeyer literarish shafn mit an intensiver plastisher aktualitet, mit a nayem kval fun ashires, mit a groyser frishkayt. Un derfar iz oykh zeyer shprakh almentshlekh, nit – etnografish, nor in reyn kinstlerishn zin. (ebd.) Wenn die jiddische Poesie, die jiddische Literatur mit anderen Kunstzweigen im Allgemeinen und mit der Kunst im Besonderen verknüpft wäre, wäre sie noch reicher, wäre ihr Schwung sowohl geistig als auch stilistisch noch größer. Wenn wir beispielsweise die russische Literatur heranziehen, so etwa die Verbindung zwischen Puškin und den Pseudoklassikern, zwischen Gogol’ und Alexander Ivanov, zwischen Tolstoj und den „Wandermalern“, zwischen Čechov und Levitan oder in unserer Literatur zwischen Perets und seinem feinem Gespür für die Moderne seiner Zeit, werden wir, da bin ich sicher, feststellen, dass diese Verbindung ihr literarisches Schaffen mit intensiver plastischer Aktualität füllte, mit einem neuen Quell an Reichtum, mit großer Frische. Und deshalb ist ihre Sprache auch universal, nicht ethnographisch, nur im rein künstlerischen Sinne angelegt.

Stellt man Chagalls Äußerungen neben Opatoshus ästhetische Positionen, zeichnet sich ein wunderliches Paradox ab. Dieses zeigt beider Einsatz für eine Jüdischkeit auf, die Jude-Sein und Jiddisch, Ethnie und Sprache, Tradition und Innovation zu integrieren vermag. Opatoshu betreibt in seinen literarischen und essayistischen Texten eine Logosaffirmation (s. o.). Ganz anders Marc Chagall: Seine Rede „pro arte“ am YIVO in Vilnius ist in Teilen auch Logoskritik. Die großartige Kulturleistung der Juden, der Tanach, bedeutet zugleich eine Abwertung der Bilder. Chagall berührt hier den besonderen und den besonders schwierigen Status der Bilder innerhalb der jüdischen, zunächst vorrangig religiös geprägten Kultur: „Lo ta‘ase lekha pesel“ (Du sollst Dir kein Bildnis machen; Ex 20, 4; 1967: 116f.). In Abgrenzung vom heidnischen Bilder- und Götzenkult spricht die jüdische Religion ein Bilderverbot aus, das wenn auch marginal selbst noch in Chagalls künstlerische Entwicklung hereinspielt (s. Kap. 4).

Marc Chagall und Yoysef Opatoshu  | 331 Diese Dominanz des Wortes innerhalb des Judentums, die Kunst im ganz wörtlichen Sinne nur am Rande des Textes zulässt, wird erst nach der jüdischen Aufklärung und während der weltlichen (bisweilen areligiösen) jüdischen Kulturrenaissance an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert aufgebrochen. Die Kunst wird autonom (von ihrer religiösen Funktion). In dieses Umfeld hinein wird Marc Chagall geboren. Die ungeheuren visuellen Leistungen der ostjüdischen Kunst auf der einen und die Wucht des Bilderverbots auf der anderen Seite bewegen ihn zu seiner Kritik am Logozentrismus, einer Kritik, die man vor allem von Jacques Derrida kennt. Chagall tritt hier in einem gewissen Sinne als Vorreiter des iconic turn auf, indem er nach langen Jahren der Vernachlässigung den visuellen Anteil in einzelnen Kulturen betont. Mutig tritt er in seiner Rede von 1935 vor den Vertretern des YIVO für die Gleichstellung von Schrift und Bild ein. Weiß er, dass er in Opatoshu, dem Fürsprecher des (jiddischen) Wortes, einen Mitstreiter hat? Opatoshu sieht – wie auch Chagall (1967: 116) – im Wort die Basis und das (Über-) Lebenselixier für die jüdische Kultur.820 Zugleich plädiert er für die Anerkennung der bildenden Kunst als Bestandteil der jüdischen Kultur: Un s’iz nit emes, az yidishkayt iz in tokh kegn kunst. Di tanoim, vos eyner fun zeyere ikrim iz geven – ‚ir zolt nisht makhn zikh keyn opbild‘ – di zelbe tanoim hobn oykh arayngenumen in tanakh arayn Shir-hashirim, Iev un Koyheles. Zey hobn di dray reyn-kinstlerishe verk kanonizirt. [...] (1938a: 41). Und es ist nicht wahr, dass Jüdischkeit grundsätzlich gegen die Kunst sei. Dieselben Tannaiten [jüdische Gesetzeslehrer, die bis ins 2. Jahrhundert hinein die Mischna verfassten – S. K.], deren Hauptanliegen es unter anderem war: Ihr sollt kein Abbild machen, haben das Lied der Lieder, das Buch Hiob und Kohelet in den Tanach aufgenommen. Sie haben diese drei rein künstlerischen Werke kanonisiert.

Der jiddische Autor schlägt, die Bildlichkeit und Ästhetik des Hohelieds, des Buches Hiobs und Kohelets anführend, also in dieselbe Kerbe wie der ‚jiddische‘ Maler. Soweit zur Metaebene: Opatoshu, der Verfechter des Wortes, unterstützt in Sachen Kunst den Kritiker des Wortes Chagall. Doch auch auf der ‚praktischen‘ Ebene der literarischen bzw. künstlerischen Produktion ergänzen sich Opatoshu und Chagall. Die beiden bilden dank der Tatsache, dass sie jiddisch denken, schreiben, malen, vielleicht jene Autor-Künstler-Verbindung, die Chagall in der russischen Kultur findet, in der jüdischen jedoch vermisst. Chagall ist ein Maler, der Sprache bebildert, dessen Bilder häufig aus dem Jiddischen geboren werden (s. Kap. 5). Opatoshu übersetzt die ungeheuren Möglichkeiten der Bildgenres in Sprache. Ob Panorama, Fresko oder Sittengemälde: Opatoshu ist ein Autor, der Bilder schreibt. 820 Diese Position vertritt er auch nach der Schoa. In Di ideye fun yidish un fun der yidisher literatur (Die Idee des Jiddischen und der jiddischen Literatur) von 1948 sagt er: „yidish und yidishe literatur hobn undz farpantsert fun untergang.“ (Jiddisch und die jiddische Literatur bewahrten uns vor dem Untergang; S. 32).

332  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Bei A tog in Regnsburg – vom großen Kritiker Nakhmen Mayzel als „nay maysterverk“ (neues Meisterwerk; 1933: 255–256) gefeiert – ziehen Rezensenten mehr als einmal den Vergleich mit der Malerei (Freylekh 1951: 96). Einer unter ihnen, Yankev Shatski, fühlt sich bei A tog in Regnsburg an die große holländische Maltradition erinnert: Es iz holendishe zhanr moleray, vu di masn stsenes zaynen fun dem shnit, vos Shordans bilder, un di eyntsike mentshlekhe portretn otemen mit der fleyshikayt fun a Rubens un di froyen geshtaltn mit der getseymter idealizatsye fun Rembrants froyen bilder. (Shatski 1933: 494–495) Es ist holländische Genremalerei, in der die Massenszenen von derselben Stärke sind wie auf Jordaensʼ Bilder und die einzigartigen Menschenporträts die Üppigkeit eines Rubens und die Frauengestalten die zurückhaltende Idealisierung der Rembrandt’schen Frauenbilder atmen.

Opatoshus Erzählung A tog in Regnsburg, die semantische Tiefendimension des Frontispizes und seiner Folgebilder bringt eine große Affinität zwischen Opatoshus Text und Chagalls Bild ans Licht. Sie hat ihren Ursprung nicht allein in Opatoshus Einfluss auf die persönliche und bildkünstlerische yidishkayt Chagalls. Sie fußt auch im Ästhetischen: Auf Chagalls häufige ‚Narrativisierung der Malerei‘ antwortet Opatoshus bild-affine Schreibtechnik. Opatoshu und Chagall tragen gerade in dieser Komplementarität zum Reichtum eines in der jiddischen Sprache begründeten jüdischen Selbstverständnisses bei.

14 „auctoritas“ wider Auschwitz: Marc Chagalls Widmungsgedicht Far di kinstler-kdoyshim (Für die Märtyrerkünstler, 1951)

[...] Mayne yidishe oygn trinken ale farbn. Mayne yidishe oygn, ofene, kukn fun di kvorim aroys un viln nisht shtarben. [...] Meine jüdischen Augen trinken alle Farben. Meine jüdischen Augen, offene, blicken aus den Gräbern heraus und wollen nicht sterben. Rayzl Zhikhlinski, Mayne yidishe oygn (Meine jüdischen Augen, 1947), 2003, S. 242.

In Der Fall Jerusalems (Radierung und Kaltnadel; Abb. 74), einer der letzten Illustrationen für die Bibel, schwebt in einer dramatischen Bildkomposition der Racheengel, die Fackel in der Hand, über dem brennenden Jerusalem. Aus der heiligen Stadt flüchten in einem langen Zug die Juden vor den Truppen Nebukadnezzars, um schließlich den Tod zu finden. Den Gottesboten ausgenommen, visualisiert Chagall textgetreu Jeremias’ Prophezeiung von der Zerstörung Jerusalems (Jeremias 52,1–30).821 Dem sachlichen Ton der Jeremias’schen Chronik der Vernichtung, ungewöhnlich nüchtern nach den Drohreden über die Völker (Jer 46,1–51,64), und der ruhigeren Gestaltung früherer Bibelradierungen antwortet Chagall mit hoher ästhetischer und emotionaler Dramatik. Das in erhobene Hände gekleidete Wehklagen der (in den Tod) Flüchtenden, das schwarze Feuer der Radierung – man fühlt sich an Mandel’štams Oxymoron der „schwarzen Sonne“ erinnert (s. Kap. 7) – und das furchtbare Antlitz des mit den Flammen verschmelzenden Engelskörpers versinnbildlichen eine aus den Fugen geratene Welt. Links vorne im Bild ist, gekrönt noch, doch wie sein Vorgänger Jojakim und der Stamm Juda von Gott verstoßen, König Zidkija zu sehen, rechts unten im Bild (nackte?) Leichen. Die Juden im linken unteren Bildeck wandern in ihren – historisch verbrieften, biblisch bezeugten – Untergang (die Statistik in Jeremias 52,30 nennt 4600 Personen). Die toten Juden im rechten unteren Bildeck lassen die Gedanken des Betrachters weiterwandern in eine – zur Zeit der Entstehung der Radierung und auch sonst – unvorstellbare 821 Als Pendant hierzu illustriert Chagall Jesajas Prophezeiung des Untergangs Babels (Jes 13, 22; Blatt 93; s. Gassen/Holeczek 1985: 264).

334  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Zukunft: Sie präfigurieren Berge nackter Leichen. Anders als der Geruch von Gas und verbranntem Menschenfleisch sind diese photographisch gebannten Zeugnisse der Schoa keiner Verflüchtigung (und damit auch keinem Zweifel) unterworfen.822 Mit dem Linolschnitt Pour la Tchécoslovaquie (1939; s. Abb. 75) reagiert Chagall in seltener Deutlichkeit auf das politische Tagesgeschehen. Am 1. Oktober 1938 rücken deutsche Truppen in das Sudetengebiet ein. Am 15. März 1939 verkündet Hitler auf dem Prager Hradschin die Errichtung des Reichsprotektorats Böhmen und Mähren unter Konstantin Freiherr von Neurath (Iggers 2004: 794f.). Tomáš Garigue Masaryks Traum vom friedlichen Zusammenleben der Tschechen und der Slowaken in einer autonomen Republik (nach fast vierhundert Jahren habsburgischer Fremdherrschaft) kippt in ein nationales Trauma, das im Münchner Abkommen vom 29./30.9.1938 seinen Anfang nimmt.823 Gerade dadurch, dass Chagall im schwarzen Bildraum seiner Unfähigkeit Ausdruck verleiht, sein Entsetzen in eine künstlerische Darstellung zu fassen, überwindet er sie: Nicht das (fast leere) Binnenbild wird zum Träger der Botschaft, sondern das ganze Bild, das Chagalls Versuch einer künstlerischen Reaktion auf die Geschichte (oder sein Scheitern) zeigt. Der Maler schwebt als Silhouette vor einer Staffelei; das Instrument seines Schaffens, der Pinsel, berührt die fiktive Leinwand, nicht aber Chagalls Blick.824 Der ist nach oben gewandt, auf den Bildraum jenseits der Binnen­ leinwand. Umgeben von einer Gedankenwolke, mit der Chagall die  – aufgebrochenen  – Gebietsgrenzen der ČSR wiederholt, verweisen die lateinischen Majuskeln „TCHE“ und „SL“ in ihrer unvollständigen Semantik und brüchigen Ästhetik auf den sich aufgelöst habenden Staat. Sie sind Spuren einer Staatsbezeichnung ohne realen (Geschichts-)Raum. Die geo­gra­ 822 Im Folgenden wird – Originalzitate ausgenommen – der in den 1950er Jahren in Israel aufgekommene Begriff der „Schoa“ verwendet, vgl. Young (1997: 141–146), Agamben (2003: 25–29) und Mosès 2008: 167f. James E. Young und Giorgio Agamben warnen vor der Auratisierung der Judenvernichtung durch den sakral geprägten Begriff „Holocaust“. Schoa ist im Unterschied zur wesentlich christlichen Bedeutungsgeschichte von „Holocaust“ der jüdischen Vorstellungen entspringende und daher adäquate Begriff. Young diskutiert den Begriff auch unter Berücksichtigung der bereits bei Jesaja und Zefanja verwendeten „shoa“ und des hebräischen „khurban“ beziehungsweise des jiddischen „khurbn“ (Zerstörung; s. hierzu Kap. 8.4). Der 2009 verstorbene jüdische Denker Stéphane Mosès, der den Begriff „Holocaust“ als „étiquette“ (2008: 167) ablehnt, erinnert an die Verwendung des Begriffs „Schoa“ in der Bibel im Sinne von „Sturm“, „Gewitter“ und „Verwüstung“: „Il est normal qu’un évènement de cet ordre-là – qui devait effacer toute possibilité d’avenir au peuple juif, l’éliminer de l’avenir même de l’humanité – soit désigné par un terme qui provient de la seule réponse collective que le judaïsme ait pu donner à ce qui est arrivé.“ (2008: 168) 823 Im Münchner Abkommen beschließen Chamberlain, Daladier, Mussolini und Hitler die Abtretung der deutschsprachigen Randgebiete der Tschechoslowakischen Republik (ČSR). Die ČSR, die sich von England und Frankreich verraten fühlt und keine Gegenwehr leisten kann, verknüpft das Münchner Abkommen mit dem „temno“ (wörtl.: Dunkel) als weiterem nationalen Trauma: In der Schlacht am Weißen Berg 1620 besiegen die Truppen des erzkatholischen Kaisers Ferdinand II. diejenigen des „Winterkönigs“ Friedrich V. von der Pfalz. Damit ist in Böhmen die Gegenreformation, die Unterdrückung des (protestantischen) tschechischen Adels und Volkes und erneut die habsburgische Fremdherrschaft eingeleitet (Williams 1997: 132–140). 824 Mit dem Inventar des von Chagall häufig praktizierten Autoportraits (s. Kap. 4 und 5) projiziert er hier sowohl seine Introspektion als auch die Deutung geschichtlicher Ereignisse in die Graphik. Wieder bedient er sich der Trias von Welt (Wirklichkeit), Malerei und Ich.

Marc Chagalls Poetisierung der Schoa  | 335 phische Silhouette des einst souveränen tschechoslowakischen Staatenraums schwebt als Menetekel des drohenden Unheils im Bild über dem Maler, in Wirklichkeit über Europa. Den Krieg hat Chagall in der Folge mit seinem individuellen Motivinventar ins Bild übersetzt (erinnert sei hier lediglich an Die gelbe Kreuzigung und Die Obsession, beide von 1943, vor allem aber an Der Krieg von 1964–1966). Zum Arsenal seiner Kriegsbilder zählen das brennende Schtetl (Vitebsk), ein Leiterwagen, der Ewige Jude mit Bart und Schildmütze, eine der russisch-orthodoxen Ikonentradition und der Renaissance geschuldete Mutter-KindDarstellung, tanachisch im Hagar-Motiv vorgeformt, sowie die Figur des in seinem Jude-Sein betonten Christus am Kreuz.825 Sie alle sind Chagalls Chiffren für die untergegangene ostjüdische Welt. Seine in Reaktion auf die Reichspogromnacht und vorausgehende Übergriffe entstandene Weiße Kreuzigung von 1938 ist eines der ersten (und berühmtesten) Bilder aus einer Serie, mit der er auf die antisemitische Gefahr in Europa reagiert.826 Nicht Hiob oder Isaak, sondern Jesus Christus wählt Chagall als Archetypus für die Judenvernichtung. In jüdischen Kreisen wird das kontrovers diskutiert.827 Neben seiner Doppelfunktion als Identifikationsfigur für Marc Chagall und in späteren Jahren als (überstrapazierte) Chiffre für jüdisches Leid übernimmt die Christus-Gestalt in seiner Kunst eine wichtige Vermittlerrolle.828 Ähnlich der den Madonnentypus aufrufenden Mutter-KindFigur soll sie dem christlichen Rezipienten die tödliche Bedrohung und das Martyrium der Juden nahebringen.829 825 Den jüdisch-christlichen Christus, der im Tallit ans Kreuz genagelt ist, wählt Chagall unter dem Eindruck von Pogromen im Jahre 1908 (Amishai-Maisels 2004: 125). Auch der symbolistische ChristusKult in Russland dürfte hier eine Rolle gespielt haben. 826 Kampf 1990: 84, Amishai-Maisels 1993: 182f. und 2004: 128. Die heraufziehende Katastrophe bearbeitet Chagall – zehn Jahre vor seiner berühmten Einsamkeit – bereits 1923, als er den erst 1947 vollendeten und in mehreren Ausführungen entworfenen Engelssturz in Angriff nimmt (Kampf 1990: 84, Amishai-Maisels 2004: 124–126). Das einzig statische und vertikale Objekt in der bewegten Komposition der Weißen Kreuzigung ist die Menora. Den Kerzenschein dieses jüdischen Zentralsymbols spiegelt er im Heiligenschein, der das Haupt Christi umgibt (Kampf 1990: 86). Die Protobilder zur Weißen Kreuzigung sind Chagalls Golgotha (1912) und Vision der Kreuzigung (1930), das in Reaktion auf antisemitische Ausschreitungen im Frühjahr 1930 entsteht. Chagall wird während eines Berlin-Besuchs deren Zeuge (Amishai-Maisels 2004: 126). Zur Weißen Kreuzigung s. auch Roskies 1985: 284–286, Hille 2005: 193–203, zu seinen Christus-Bildern im Kontext der Schoa s. Harshav 2006a: 213–235. Chagall entfaltet in Die Weiße Kreuzigung um das Bildzentrum herum wie in der Ikone Narreme. Statt der christlichen Heiligenvita ist es hier jedoch die Judenverfolgung. Damit ist ein interikonisches Band zu Ribaks Pogromserie und besonders zum Blatt Fünf geknüpft, das zwei an einen Pfosten genagelte Juden – im Tallit – zeigt. 827 Wilson 2007: 140; Harshav 2004: 330. Zahlreiche andere jüdische Künstler wie beispielsweise Emmanuel Mané-Katz, Graham Sutherland oder Abraham Rattner setzen die Jesus-Gestalt als Symbol für die Schoa ein (s. Amishai-Maisels 1993: 178–197). 828 Neben Chagalls früher Auto-Identifikation mit Christus, die er mit den russischen Symbolisten teilt (s. Kap. 3), haben mehrere Christus-Texte aus den 1920er und 1930er Jahren Einfluss auf Chagalls Jesus-Juden am Kreuz, so Max Hunterbergs The Crucified Jew (1927), Edmond Flegs Jesus, raconté par le Juif errant (1933) und Joseph Bonsirvens Les Juifs et Jésus (1937; s. Amishai-Maisels 2004: 182f.). 829 Amishai-Maisels 1993: 183. Zur Mutter-Kind-Figur, die die Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten aufruft, nachdem in der jüdischen Tradition Moses die Juden aus Ägypten herausgeführt hat, s. Ami­ shai-Maisels 1993: 24 und 2004: 129–131.

336  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Im Kontext anderer Künstler, die sich – als Lagerhäftlinge wie Boris Taslitzky, Arik Brauer und der 1944 umgekommene Felix Nussbaum oder als dem KZ glücklich Entronnene wie Jankel Adler, Jacques Lipchitz oder eben Chagall  – mit der Schoa auseinandersetzen, schreibt der Kunsthistoriker Avram Kampf:830 „[...] Chagall expressed, by symbols deeply embedded in the art of the Christian West, the tragic events of the Holocaust and some aspects of its profound religious and historical dimensions.“ (Kampf 1990: 87) Kampfs Hinweis auf die komplexe interreligiöse Verwobenheit von Chagalls Symbolik und teilweise auch Ästhetik ist uneingeschränkt zuzustimmen. (Wieder tritt der synthetisierende Kern seiner Kunst in Erscheinung.) Doch handelt es sich allein um visuelle Repräsentationen der Schoa? Oder stellen sie eher die (universale) Realität des Krieges dar? Beides ist zu bejahen. Beides ist gleich schwer zu beantworten.831 Welches Bild(motiv) der Schoa-Malerei zuzurechnen ist, lässt sich ebenso schwer eindeutig bestimmen wie die Frage, welcher Text (im engeren oder weiteren Sinne) als SchoaText gewertet wird. Die Definitionstoleranz der Kunst- oder Literaturgeschichtsschreibung der Frage gegenüber, welches bild- bzw. wortkünstlerische Artefakt die Schoa-Thematik aufgreift, bestimmt deren Umfang.832 Entscheidend ist die sprachliche Verfasstheit von Texten zur Schoa, ihre Poetik. Entscheidend ist im Gefolge von Edward James Young angesichts der Einzigartigkeit der historischen Tragödie jedoch auch die „Förderung eines kritischen Bewusstseins von der Sprache der Kritik und den Modellen, mit deren Hilfe wir sowohl die tatsächlichen historischen Ereignisse als auch deren Darstellung in den Texten der Schriftsteller interpretieren“ (1997: 295).833 830 Felix Nussbaum wurde 1944 mit seiner Frau Felka Plated nach Auschwitz deportiert. Arik Brauer (geb. 1929) überlebt das KZ. Er malt häufig kindliche Phantasien und Paradiesvorstellungen in der Tradition des Wiener Phantastischen Realismus. Auch Maryan S. Maryan, der verzerrte Mensch-Tier-Hybride malt, durchlebt als Kind ebenso wie Samuel Bak, ein tief philosophischer Maler, die Lagerhölle. Der Bildhauer Jacques Lipchitz, dessen David von 1933 in David und Goliath einen Goliath mit eingraviertem Hakenkreuz stranguliert, verlässt im selben Jahr wie Chagall Paris und emigriert 1941 in die USA (s. Kampf 1990: 94–105). 831 Die Dialektik von Jüdisch-Partikularem und Allgemeinmenschlich-Universalem spielt bereits bei Chagalls Juden in Rot, entstanden zu Beginn des Ersten Weltkrieges, eine Rolle (s. Kap. 7). 832 James E. Young unterscheidet fünf Kategorien der Schoa-Literatur: 1. während der Schoa verfasste Texte, 2. solche, die danach entstehen, 3. Schoa-Texte als Teil einer allgemeineren „Literatur der Gräuel“, 4. jüdische Reaktionen auf die Schoa oder 5. „etwas ganz Eigenständiges, keinem Kontinuum Zugehöriges“ (1997: 295). Diese Kategorien sind auch auf Werke der bildenden Kunst übertragbar. Unter dem Gesichtspunkt der Zeugenschaft wird es besonders kompliziert, den Status der Schoa-Texte zu klassifizieren. Hier wird die PseudoObjektivität der Historiographie oft nicht erkannt oder die Authentizität des während der Schoa Erlebten in fiktionalen Texten in Zweifel gezogen. Exemplarisch sei hier auf die Diskussionen in Dresden (1997), Young (1997) und Agamben (2003) verwiesen. Ziva Amishai-Maisel stellt sich bezüglich der bildkünstlerischen Auseinandersetzung mit der Schoa die Frage, auf welche Weise sie im Spannungsfeld von objektiver Beschreibung und subjektiver Interpretation visualisiert werden kann (zu Chagall s. v. a. 1993: 19–25 und 182–185). Andere wichtige Medien wie Theater und Film sind in der vorliegenden Betrachtung ausgespart. 833 Young bezieht sich hier auf Derridas Essay Weiße Mythologie (1988: 205–258). Derrida warnt hier generell vor der ‚Metaphernfalle‘. Die Projektion von sprachlich (und eben metaphorisch) erfassten Erkenntnissen auf Texte ist unter Umständen schwer zu unterscheiden von denjenigen Schlussfolgerungen, die man tatsächlich aus einem Text ableitet (Young 1997: 295f.). Young plädiert im Zusammenhang mit Schoa-Texten für Bedeutungsvielfalt und den ethischen Imperativ, dass Deutungen dieser Texte „Leben ermöglichen“ (1997: 298).

Marc Chagalls Poetisierung der Schoa  | 337 Chagall operiert in Bildern, die den Zweiten Weltkrieg (und die Schoa) thematisieren, vornehmlich mit Motiven, die ihren Ursprung im Ersten Weltkrieg, in Vertreibung und Pogromen haben. Sein Unbewusstes spült verdrängte Bilder von Flüchtlingsmassen und in Flammen aufgehenden jüdischen Häusern an die Oberfläche, die er damals, 1914 bis 1918, nicht in seine Kriegsbilder aufnimmt (s. Kap. 7). Unter den realen Gegenstücken zu seinen Kriegsboten und -verwundeten ereignen sich in dieser Zeit Horrorszenarien der Zerstörung, deren visuelle Aufarbeitung er – zeitlich verzögert und in großer räumlicher Distanz zur Heimat – mit derjenigen zum Zweiten Weltkrieg und zur Schoa verquickt.834 Der Archetypus des Ewigen Juden oder Frauen auf der Flucht, die Chagall realiter oder künstlerisch durch die Pogrombilder Maurycy Minkowskis oder Samuel Hirszenbergs prägen und via die Literatur Dovid Hofshteyns und Lyesins in seine Illustrationen eingehen, kehren in Chagalls Werken zum Zweiten Weltkrieg wieder.835 Die Leiter, die in Chagalls Illustration zu Walts den Jakobstraum evozierendem Al teyre avdi Yankev (Fürchte nicht meinen Diener Jakob, 1938 Bd. 2: 285f.) Engel emporsteigen, findet sich auch in der Weißen Kreuzigung.836 Der Leiterwagen aus der ersten Illustration zu Hofshteyns Troyer steht auch in Der Krieg für den Weg ins Ungewisse. Der Gekreuzigte in Der Märtyrer (1940–1941) ist in seinem Jude-Sein noch zusätzlich symbolisch aufgeladen, kennt man Liliens Widmungsbild für die Opfer von Kišinëv (Amishai-Maisels 1993: 183; s. Kap. 8.4). Die Motivwahl mag in Bezug auf die Lagerrealität inadäquat sein, nicht aber in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg und die dem Lager vorausgehende Vertreibung. Die ikonographische Kontinuität zwischen Chagalls Bildern zum Ersten und zum Zweiten Weltkrieg spiegelt die historische Kontinuität der Judenvernichtung wider. Deren Kulmination Auschwitz kann oder will Chagall visuell nicht begegnen. Das Konzentrationslager, die Rampe oder die Gleise, die ins Lager führen, sind diejenigen Darstellungs- und Bewältigungsversuche, die literarisch und visuell – vor allem in der Photographie – den „Mythos Auschwitz“ (Imre Kertész) begründen.837 Diese (für die Repräsentation und Erklärung der Schoa zentralen) Archetypen gehen in Chagalls Ikonographie nicht 834 Chagall, der nie richtig Englisch lernt, rezipiert wohl die jüdische Presse, vgl. Chagalls Brief an Opatoshu vom 29.7.1941 (Harshav 2004: 512f.). 835 Womöglich nehmen osteuropäische Schtetl-Juden in der Tat die Deportationen und Vernichtung jüdischen Lebens während der Schoa „zunächst noch als niederträchtigen, aber vergleichsweise begrenzten Pogrom wahr“ (Young 1997: 154). 836 S. auch Amishai-Maisels 1993: 21. Das Gedicht entstammt dem Zyklus Fun undzere blutike teg (Aus unseren blutigen Tagen, 1938 Bd. 2: 283–324). 837 S. Kertész 2003: 42–52. Mediale Hauptträger der Informationen zur Auslöschung der Juden in den Gaskammern ist die Kriegsberichterstattung und -photographie. (s. Bredekamp 2004: 55), vgl. die Photographie von Lee Miller vom 30.4.1945 Aussortierung (Rampe in Auschwitz; Klarsfeld o. J.) oder Stanisław Muchas Photo-Ikone 1942. Tatort Auschwitz, das das Tor von Auschwitz und die Gleise, die darauf zuführen, im Schnee zeigt. Horst Bredekamp schreibt hierzu: „Es trieb den industrialisierten Massenmord dadurch auf eine symbolische Spitze, dass es ihn mit der Sphäre des Warenumschlages und der schneebedeckten Kälte der Gleise verband.“ ( 2004: 58) Auch Chagall gestaltet sein Verfolgungsszenarium in der Weißen Kreuzigung (visionär) mit dieser Farbe. Eis, Kälte und Schnee sind ebenfalls wichtige Topoi in Sutskevers Lyrik zur Schoa (s. Kap. 15).

338  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte ein. Andere, dem Ersten Weltkrieg entsprungene Kriegsarchetypen schieben sich bei ihm darüber.838 Warum? Hat dies seinen Grund in der generellen Unbeschreibbarkeit des Geschehenen, die jede Äußerung zu Auschwitz zu einem Paradox und gerade deshalb zu einer lebensnotwendigen Handlung macht?839 Liegt es an der – mehr als verständlichen – ‚Unfähigkeit‘ Chagalls, Auschwitz mit seiner figürlichen Ästhetik Ausdruck zu verleihen? (Chagall wehrt sich in seiner Rede „Art After the Holocaust“ von 1947 wie in früheren Jahren vehement gegen rein abstrakte Malerei; Harshav 2003: 109–113.) Kommt darin Chagalls Schuldgefühl des Überlebenden zum Ausdruck, Paul Celans Verstummen und Stammeln vergleichbar? Möglicherweise steht eine an den gängigen Motiven orientierte Darstellung der Schoa bei Chagall im Schatten zweier persönlicher Dramen: Vitebsk kommt während des Marsches auf Moskau im Sommer 1941 unter deutsche Besatzung, das dortige jüdische Leben mit seinen ca. 70 Synagogen wird ausgelöscht. Im Juni 1944 erobert die Rote Armee Chagalls Heimatstadt zurück; während des Kampfes wird sie fast vollständig zerstört.840 Bellas unerwarteter Tod in Folge einer falsch behandelten Virusinfektion am 2.9.1944 stürzt Chagall in eine schwere Krise (Meyer 21968: 465–468). Vitebsk und Bella, die beiden Hauptquellen seines Schaffens, leben als Zentralmotive in seinen Bildern fort. Sie stehen dort für etwas, das es realiter nicht mehr gibt. Zugleich blockieren sie eine neue Bildsprache zu Krieg und Judenvernichtung, fungieren – will man es positiv formulieren – als deren Stellvertreter. Chagalls private Metaphern drängen die  – mimetischeren  – offiziellen Metaphern der Schoa (Lager, Leichenberge, Gleise, das Tor von Auschwitz und – mehr und mehr – der Muselmann [s. Agamben 2003]) in den Hintergrund. Letztendlich erscheint dies doch als schwache Ikonographie, führt man sich vor Augen, dass Hitlers „organisierte Barbarei“ (Hannah Arendt) den Genozid an den Juden zum Ziel hatte. Es fällt Chagall sichtlich schwer, die Schoa visuell wahrhaben zu wollen.

838 Der Rückgriff auf frühere Archetypen zur Darstellung der Katastrophe ist ein gängiges Verfahren in der Literatur zur Schoa (Young 1997: 139–189 und 299). Einer umfassenden Erkenntnis der Geschehnisse ist dies manchmal abträglich, weil Juden wie Nichtjuden „den Holocaust lediglich als Fortsetzung des traditionellen Antisemitismus begriffen“ (Young 1997: 154). 839 Zum Topos der (vermeintlichen) Unsagbarkeit s. Dresden 1997: 78, 153 und 258–261 und Agamben 2003: 137. Agamben warnt davor, Auschwitz durch den Unsagbarkeitstopos von der Sprache abzukoppeln; hierdurch würde man den Intentionen des Nazismus zuarbeiten. Stéphane Mosès wiederum legitimiert „l’innommable“ als logische Folge des Undenkbaren („l’impensable“; 2008: 167) – und folgt hier Hannah Arendts Worten zur Banalität des Bösen, „vor der das Wort versagt und an der das Denken scheitert“ (42009: 371). 840 Zu Vitebsk s. Zeltser (2008 Bd. 2: 1979–1980). Die Zerstörung Vitebsks beschäftigt die Chagalls sehr, vgl. Marc und Bella Chagalls Brief vom 29. Juli 1941 aus New Preston (Connecticut) an Joseph Opatoshu (YIVO reg. 436, f. 350; engl. in Harshav 2004: 512–513, allerdings ohne Bellas Zusatz). Chagall hält das Ende Vitebsks in der Gouache Gekreuzigte Juden in Vitebsk (1944) und in dem Widmungstext Tsu mayn shtot Vitebsk (An meine Stadt) fest, erschienen am 15.2.1944 in der vierzehntägig erscheinenden Eynigkayt (Einigkeit; Nachdruck in Rontsh 1967: 278–281). Unmittelbar nach Kriegsende leben weniger als 200 Menschen in Vitebsk (Auskunft von Arkadij Šul’man, jüdisch-weißrussischer Publizist).

Marc Chagalls Poetisierung der Schoa  | 339

Sagen, was sich nicht zeigen lässt – Marc Chagalls Far die kinstler-kdoyshim (Für die Märtyrerkünstler) 1951 erscheint in Paris in jiddischer Sprache der Almanach Undzere farpaynikte kinstler (Unsere zu Tode gequälten Künstler). Der von Hersh Fenster herausgegebene Gedenkband erinnert an 84 jüdische, in Frankreich lebende jüdische Künstler, die während der Nazidiktatur ums Leben kommen.841 Außer ihren Kurzbiographen sind einzelne Werke abgebildet. Ein Anhang nennt 138 jüdische Künstler aus Polen, aus der Tschechoslowakei und aus Ungarn, die während des Krieges in Paris leben und dort umkommen (s. auch Harshav 2003: 113). Die Sammlung enthält einen Widmungstext Marc Chagalls: Das in Handschrift veröffentlichte Poem Far di kinstler-kdoyshim (Für die Märtyrerkünstler; 1951: o. S.) ist seine intensivste – sprachliche – Auseinandersetzung mit der Schoa.842 Mit den Mitteln der Lyrik kreiert Chagall Bilder, die er malerisch umgeht. Mit den Möglichkeiten der jiddischen Sprache konfrontiert sich das lyrische Ich mit dem Schauen der Schoa. In fünf Strophen überwindet es die Gräuel des Geschehenen und imaginär Gesehenen durch die versprachlichte Vision ihrer Tilgung. Mit der dreimaligen anaphorischen Wiederholung der Fragepartikel „tsi“ (übersetzbar als „etwa“) setzt die rückblickende und rückhaltlose Selbsterforschung eines – wie sich später herausstellen wird – künstlerischen lyrischen Ich ein. Dieses „Ich“ überlebt die Schoa, während seine Kollegen (vor allem diejenigen, denen der Band gewidmet ist) ins Gas gehen müssen: Tsi hob ikh zey alemen gekent? Tsi bin ikh geven in zeyer atelye? Tsi hob ikh gezen zeyer kunst fun noent tsi fun vaytn?843 Kannte ich sie etwa alle? War ich in ihren Ateliers? Sah ich ihre Kunst von nahe oder fern? (Z. 1–3)

Statt zu schweigen, wie es die Logik gebietet, antworten die Toten in der ersten Srophe dem unschuldig Schuldig-Gewordenen mit einer Gegenfrage: „Vu bistu geven?“ (Wo warst du?; Z. 8). Im Dialog mit den Toten, denen das stark autobiographische lyrische Ich eine Stimme verleiht, fällt seine Antwort knapp aus, mündet ins Verstummen. Der Abbruch der Rede enthält die ganze Wucht der Schuld des lyrischen Ich: „ikh bin antlofn ...“ (Ich bin geflohen ...; Z. 9)844 841 Darunter befinden sich beispielsweise Chaïm Soutine, Henri Epstein, Rahel Szalit-Marcus und der Bildhauer Moyshe Kogan. 842 S. auch Frankenstein 2006: 126; engl. Übersetzung in Harshav 2003: 113–115. 843 Das letzte „tsi“ in diesem Abschnitt übernimmt eine andere grammatische Funktion als die homophone Fragepartikel, nämlich eine konjunktivische. 844 Für Giorgio Agamben ist für die Überlebenden wie für die Henker nach Auschwitz das hegelianische Konzept einer tragischen Koppelung des unschuldig Schuldig-Seins in der Ethik nicht mehr annehmbar (2003: 83–86).

340  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte In der Folgestrophe imaginiert das lyrische Ich die Künstler-Märtyrer beim Gang in den Tod. Er trennt das die Schoa reflektierende „ikh“ (ich) und die die Schoa erleidenden „zey“ (sie). Die Scheidewand des real Erlebten überwindet das lyrische Subjekt dank der Imagination von deren Imagination, sei es nun ihre Erinnerung an die Kindheit, an die erste Liebe oder an unerfüllte Hoffnungen, seien es ihre unerfüllten Bilderträume: Der – längst vergangene  – Kindheitstraum von „a hele tsukunft“ (einer hellen Zukunft ; Z. 20) der Künstler wird jedoch durch die Allmacht der – vergegenwärtigten – Vernichtung annulliert. Im imaginierten Moment der Vergasung schlüpft Chagall in die Köpfe der Opfer.845 Hier durchläuft er deren kurzes Leben, das gelebte und das nicht mehr zu lebende. Mit dieser Kontrastierung der Zeiten erinnert Chagall nicht nur daran, dass menschliches Leben, sondern auch Künstlertum vernichtet wird. Seine Trias der Negation von Leben und Schaffen – die Bilder der Künstler-Opfer sind „nit-dermolt“ (ungemalt, Z. 13), ihre Jahre „nit-derlebt“ (ungelebt, Z. 14), ihre Träume „nit-dershlofene“ (ungeträumt, Z. 17) – steht in scharfem Kontrast zum „gan-eydn“ (das Paradies, Z. 24), das einst das Leben den nunmehr Toten zu versprechen schien. Der Tenor des gegenwärtigen Todesmarsches und des verunmöglichten Schaffens setzt sich in der dritten Strophe fort. Ins Herz des Poems platziert das lyrische Ich die Ungeheuerlichkeit der KZ-Krematorien: Di brider fun Izraels, Pisaro un Modilyani, brider undzere – es firt zey mit shtrik di zin fun Direr, Kranakh un Holbayn – tsum toyt in di krematoryes. Die Brüder Israëls, Pissarros und Modiglianis, unsere Brüder – es führen sie an Stricken die Söhne Dürers, Cranachs und Holbeins – zum Tod in die Krematorien. (Z. 29–32)

Die Kunst ist in Chagalls (naiv?) idealistischem Weltbild immer das einende Prinzip, in ihrer Größe und Kraft nur der Liebe gleich (vgl. Harshav 2003: 107). Mit der Schoa ist sie von innen heraus zerstört durch das, was ein deutscher Künstlerspross einem jüdischen Kollegen antut. Die „Brüder Israëls, Pissarros und Modiglianis“ – Chagall wählt interessanterweise assimilierte jüdische Maler der Moderne – stehen ebenso metonymisch für die getöteten jüdischen Künstler und generell für die vernichteten Juden wie die „Söhne Dürers, Cranachs und Holbeins“ für die Deutschen. Täter und Opfer verbindet die Kunst. Getrennt sind sie durch die Verwandtschaftsbeziehung – und die Zeit. Hitlers Schergen, der nationalen Zugehörigkeit nach Söhne der großen deutschen Meister der Renaissance, entreißen der Kunst 845 Der Kopf ist für Chagall der Ort der Selbst- und Kunstrealisierung. Dort, im Sitz der Imagination, findet er Zugang zu seinen Künstler-Brüdern, die er als Überlebender anders nicht mehr erreichen kann.

Marc Chagalls Poetisierung der Schoa  | 341 zeitgenössische jüdische, vielleicht assimilierte Maler, die mit ihrem Schaffen ihren Beitrag zur modernen jüdischen, deutschen, holländischen, französischen usw. Kunst und damit zur Weltkultur geleistet haben und weiter geleistet hätten. Die Perversion der Schoa ist für Chagall auch die Perversion des deutschen Geistes. Die ungezählten Verbrechen der Nazis gegen die Menschlichkeit sind im Falle seiner 84 jüdischen Kollegen für Chagall auch ein Verbrechen gegen die Kunst. Die daraus resultierende Ohnmacht, die das lyrische Ich in die Lexik und Poetik der dritten und vierten Strophe hereinnimmt, ist nicht verwunderlich. Erneut kehrt eine dreimalige Anapher wieder, diesmal in Form der – nun nur noch rhetorisch gestellten – Frage danach, wie man angesichts der Schoa weinen kann (Z. 33–37).846 Auch die dreimalige Wiederholung von „men“ (man; Z. 34, 36 und 39), mit der die Antwort auf diese Fragen eingeleitet wird, verstärkt die Verzweiflung des lyrischen Ich: Im Wissen um das Feuer in den Krematorien hat es keine Tränen mehr. Das biblische Tal der Tränen weicht in Chagalls Poem der Wüste.847 Chagalls Wiederholungsfiguren sind die letzten Ordnungshüter in einer ins Chaos gestürzten Welt. In der dritten und vierten Strophe thematisiert das lyrische Ich – erneut dreimalig – den Akt des Sehens („ikh ze“ / „ich sehe“; Z. 27, 43 und 45). Chagall erblickt schreibend – als weitere Variation seines piktoralen Schreibens – Leitmythen der Schoa, die in seine Bilder keinen Eingang finden: Rauch und Gas, Haare und Zähne, Kleider- und Stiefelberge, Asche und menschliche Überreste (Z. 49–50). Am Ende der vierten Strophe erfolgt ein Wechsel der Semantik und Perspektive. Er bedeutet zugleich einen Wandel von der Schoa in die Soteriologie. Das lyrische Ich wechselt vom Sehen zum Stehen (Z. 47, 52; mit dem abschließenden „ikh shtey oyf“ [ich stehe auf; Z. 64] ist erneut eine Wiederholungstrias gegeben) – und plötzlich geraten die Dinge in Bewegung. Auf die Schreckensbilder der Schoa, unverrückbar in ihrer Endgültigkeit wie der Tod, den sie repräsentieren, folgen zwei lebendig gewordene Figuren, die Chagalls Bildern entsteigen. Die Schoa kann Chagalls Schaffensursprung nicht erschüttern, die Grenze zwischen Fiktion und Realität zu durchbrechen: Was in biblischer Vorzeit David und Moses für das jüdische Volk tun, wiederholen ihre Chagall’schen Doppelgänger nun für die Vernichteten und für den malenden und schreibenden Überlebenden: David „vil mir / helfn veynen un oysshpiln kaptilekh tilim (will mir / weinen helfen und Kapitel spielen aus den Psalmen; Z. 54f ). Moses heißt die Toten „ruik lign / bis vanen er vet nokh a mol oyskritsn / naye lukhes far a nayer velt.“ (in Ruhe zu liegen / bis er noch einmal einritzen wird / neue Gesetzestafeln für eine neue Welt; Z. 58–60) Die massenhafte „Fabrikation von Leichen“ (Heidegger), die Chagall durch das literarisch inszenierte Sehen vergegenwärtigt, löst das lyrische Ich ab durch die Vision einer erneuten Schöpfung.848 Auf das Massaker am jüdischen Kollektiv folgt sein individueller Messianismus. 846 Z. 33: „Vi ken ikh, vi zol ikh fargisn trern?“ (Wie kann ich, wie soll ich Tränen vergießen?) und Z. 37: „vi ken ikh veynen [...]“ (Wie kann ich weinen [...]). In Rayzl Zhikhlinskis Widmungsgedicht an die Opfer ihrer Heimatstadt Gombin Ikh vil nokh amol do geyn ibern groz (Ich will noch einmal hier übers Gras gehen, 1946) fällt eine Träne ins Wasser und (zer)stört dessen Ruhe (2003: 236–241). 847 Die Wüste (jidd.: midber) ist auch in Hofshteyns Troyer ein Schlüsselbegriff (s. Kap. 8.2). 848 Der treffende, von Hannah Arendt aufgegriffene Begriff macht den in seiner Haltung zum National­ sozialismus nicht eindeutigen Philosophen zitierwürdig (vgl. hierzu Agamben 2003: 62–67).

342  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte Der Leitbegriff „nay“  – er erscheint viermal (Z. 60, 63 und 64)  – strukturiert Chagalls verbales Bild einer neuen Welt (der Verheißung), in der die irdische Zeit (der Schoa) aufgehoben ist. Der jüdische Gott gibt nicht auf (oder ist es Moses, der nicht aufgibt?): Da die ersten Zehn Gebote die Schoa nicht verhindern konnten, wird mit weiteren Gesetzestafeln eine neue Ethik etabliert.849 Die Schreckensvision der Opfer der Schoa, ihrer toten Körper, die untrennbar mit Feuer, Asche und Rauch assoziiert sind, wird vom Wasser der neuen Sintflut fortgespült. Am Ende des Poems verabschiedet sich das lyrische Ich von den Opfern (und von der historischen Zeit), um im neuen Tempel, dem wiederhergestellten salo­ monischen Tempel der ewigen Gottesherrschaft, eine Kerze „far ayer bild“ (vor eurem Bild; Z. 67) anzuzünden.850 In Chagalls poetischem Endzeitentwurf ist nicht nur das himmlische Jerusalem errichtet; in ihm sind all die Bilder erschaffen, die er zu Gedichtbeginn, in der chronologischen Zeit (der Schoa), nicht gesehen hat oder – weil noch nicht erschaffen – nicht hat sehen können.851 Jetzt, da das lyrische Ich die Bilder der 84 Märtyrer-Künstler schauen kann, ist auch die Mauer zwischen ihm, dem Überlebenden, und den Verstorbenen eingerissen: Am Ende spricht er von „aykh“ (euch, Z. 64) und „ayer“ (euer; Z. 67). In dieser personalen Ich-Euch-Beziehung lässt es das distanzierende Personalpronomen „zey“ des Poembeginns hinter sich.

Chagalls Poetik der Visualität Chagalls im vers libre gestaltetes Poem ist durch ästhetische Verfahren organisiert, wie sie auch in seinen Bildern zu finden sind: durch Wiederholung und Kontrast. Wie der Künstler in einem Bild Farbtöne wiederholt, wählt er in seiner Lyrik Wiederholungsfiguren (Anaphern, syntaktische Parallelismen, lexikalische Wiederholungen).852 Wie die Farben, Formen und Linien seiner Malerei rhythmisieren diese den Text. Wie Kontraste (beispielsweise komplementäre Farbkontraste) Chagalls Bilder strukturieren und in ihrem Bedeutungsgehalt steigern, tun dies auch semantische Oppositionen im Poem (ikh – zey / ich – sie; fayer – mabl / Feuer – Sintflut, toyt-beder – gan-eydn / Todesbäder – Paradies).

849 In dieser erlösenden Funktion tritt Moses in Exodus (1952–1966) gemeinsam mit Jesus am Kreuz auf. Hoffnungsvolles Gelb verbindet die beiden Figuren der göttlichen Botschaft, die nicht Tod, sondern Liebe predigen (Abb. in Heuberger/Grütters 2004: 146). Chagall zeigt in seinem Schaffen nach dem Zweiten Weltkrieg unzählige Male Moses, wie er die (neuen?) Gesetzestafeln erhält. Chagall, der sich in Ma vie durch das Stottern als weiterer Moses inszeniert, sieht auch die Gabe des Malens – parallel zur Gabe der Gebote an Moses – als Teil des göttlichen Heilsplans. Wie Moses durch die Gebote wird er die Welt durch seine Bilder erlösen, so sein pathetischer Selbstentwurf. In Ergänzung zu seiner Christus-Stilisierung zeigt sich auch hier, wie sehr Chagall vom Erlösungsgedanken durchdrungen ist. 850 Die Präposition „far“ kann im Jiddischen auch „für“ heißen; im Gedichtkontext ist eher die Bedeutung „vor“ anzunehmen, ohne die andere auszuschalten. 851 Die Mehrdeutigkeit des Gedichts lässt offen, ob es sich um bereits gemalte Bilder handelt oder um die, die die Künstler noch malen woll(t)en. 852 Der Gattung Lyrik eignende Wiederholungsmöglichkeiten wie Reim, Metrik und lautliche Äquivalenzen spielen allerdings kaum eine Rolle.

Marc Chagalls Poetisierung der Schoa  | 343 Ähnlich Chagalls Selbstbildnissen ist auch in Far di kinstler-kdoyshim das Sehen (des Unvorstellbaren) in den Rang einer Leitkategorie erhoben (s. Kap. 4 und 5): Es bildet – als Grundlage der gemeinsamen Profession  – das Bindeglied zwischen dem überlebenden Subjekt und den in der nazistischen Vernichtungsmaschinerie zum Objekt degradierten Toten.853 Die (visionäre) Visualität des Gedichts birgt die für die jüdische Kultur typische zyklische Zeitvorstellung. Mir ihr hebt das lyrische Ich das Zeitliche und das Unsagbare im Ewigen auf. Chagalls Poetik der Visualität ist die Entsprechung seiner Kunst; seine Kunst entspricht seiner Poetik: Mit seinem pikturalen Schreiben evoziert er im Medium der Literatur Bilder (und damit Simultaneität); in seiner bildkünstlerischen Ästhetik überschreitet er die Visualität des Bildes hin zu einer darin enthaltenen Narration. Wie Chagalls Autobiographie Ma vie ist Far di kinstler-kdoyshim ein Depot eigener und fremder Bilder. Es sind dies die Bilder seiner jüdischen Künstlerkollegen, die der deutschen Maler, derer die Nazis nicht würdig sind, und die Bilder aus den KZs, unhintergehbare Zeugnisse der Schoa. Anders als viele andere Gedichte, die poetisch der Schoa habhaft zu werden versuchen, ist Chagalls Poem arm an Metaphern, aber reich an konkreten Bildern. Zwischen die Imaginierung einer Vergangenheit der Opfer und die Imaginierung ihrer – ewigen – Zukunft tritt das reale Bild von Auschwitz. Wann genau und auf welche (mediale) Weise Chagall von der Massenvernichtung der Juden durch die Nazis erfuhr, ist schwer zu sagen.854 Der Schock angesichts der Photographien, die im Frühjahr 1945 in der angloamerikanischen (und jiddischen?) Presse den Beweis für das Unvorstellbare erbringen, mag Chagall in die vordergründig unannehmbare Koppelung von Poetik und Perversion getrieben haben. Angesichts der Zeugenschaft dokumentarischer Aufnahmen, gegen die bildkünstlerische ‚fiktionale‘ Bilder – man denke an die Zeichnungen Boris Taslitzkys oder Paul Goyards – zunächst zu verlieren scheinen, verschlägt es Chagall die Sprache seiner Malerei.855 Die ‚Photoikonen‘ der Schoa, nämlich Aufnahmen anlässlich der Befreiung des KZ Bergen-Belsen, die Leichenhaufen, abgemagerte Häftlinge oder die Rampe zeigen, werden Präikone zu Chagalls Versprachlichung des (vermeintlich) Unaussprechlichen. Chagall bedient sich nicht der universellen Sprache der Malerei, sondern seines – fast ausgelöschten  – mame-loshn. Mehr als alles Andere vermag sie eine Nähe herzustellen zwischen dem Künstler-Überlebenden und den Künstler-Opfern. Wie jedes niedergelegte 853 Vgl. Stéphane Mosès’ Begriff der „chosification“ (2008: 170). 854 Die ersten Hinweise stammen von seiner Tochter Ida, die gemeinsam mit ihrem Mann Michail Rapoport Ende 1941 den sicheren Hafen Amerika erreicht: „Ida brought terrible news from some Navemare passengers who had been released from concentration camps.“ (Wullschlager 2008: 400). 855 Zur Hegemonie der Photographie s. Bredekamp 2004: 55. Horst Bredekamp weist generell auf das gleichermaßen reagierende wie gestaltende Verhältnis von Bildern zur Wirklichkeit hin (S. 29). Tatsächlich wird ihr Authentizitätsanspruch bezüglich der Lagerrealität schon früh hinterfragt: „Hannah Arendt hat schon kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bemerkt, dass alle Fotos und Wochenschaufilme aus den Konzentrationslagern insofern in die Irre führen, als sie diese Lager im Augenblick des Einmarschs der alliierten Soldaten zeigen.“ (Sontag: 2003: 97f.). Die Zeichnungen von Lagerinsassen kommen dem näher. Auch scheinen diejenigen Aufnahmen, „die im April und Mai 1945 von anonymen Berichterstattern und Militärfotografen in Bergen-Belsen, Buchenwald und Dachau auf­ genommen wurden, [...] mehr Gültigkeit zu besitzen als die ‚besseren‘ Bilder, die zwei gefeierte Berufsfotografinnen, Margaret Bourke-White und Lee Miller, damals gemacht haben.“ (Sontag 2005: 90)

344  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte jüdische Wort (in welcher Sprache auch immer), wie jedes jiddische Gedicht von Avrom Sutskever, Leyzer Aykhenrand, Reyzl Zhikhlinski oder Yitskhok Katsenelson ist Chagalls Poem eine deutliche Entkräftung der „two Holocausts“ (Benjamin Harshav): Auch Far di kinstler-kdoyshim unterläuft die intendierte Vernichtung der Judenheit und ihrer Kultur.

Visionen schreiben: Von Moses, David und der hebräischen Wurzel „‫“קדש‬ Chagall schweigt in der Malerei zur Realität der Krematorien und Gaskammern. Mit seinem Poem kompensiert er diese ikonische Leerstelle. Seine Entscheidung für die (bild-affine) Literatur eröffnet ihm die Koppelung von Ästhetik und Ethik. Sie ermöglicht auch diejenige von Eschatologie und Etymologie, die er im visuellen (bei ihm literatur-affinen) Medium nicht hätte realisieren können. Chagalls Widmungsgedicht trägt bereits im Titel eine der wirkmächtigsten Wurzeln des Bibelhebräischen, die Radix „‫“קדש‬, in sich: Die Künstler-Opfer der Schoa sind „Märtyrer“ (jidd.: ‫קדושים‬/kdoyshim, Sg.: koydesh), weil sie – wie viele ihrer Vorläufer auch – durch ihren Tod Gottes Namen heiligen. Die Bezeichnung evoziert die lange Reihe derjenigen Juden, die mit dem „kidusch-ha-schem“, der Heiligung von Gottes Namen, eines Märtyrertodes starben (s. Kap. 8.2 und 9.1). Für Chagall ist die religiös-theologische und für das Judentum zentrale Vorstellung des Martyriums essenziell – und erklärt seine häufige Verwendung der Christusfigur als visuellem Stellvertreter für jüdisches Leid durch die Schoa.856 Auge in Auge mit der Schoa und ihren Leitbildern spricht das lyrische Ich das Totengebet der Juden: „Ikh shtey in midber far kupes shtivl, / kleyder, ash un mist un murml oys mayn kadish.“ (Ich stehe in der Wüste vor Schuhhaufen / Kleidern, Asche und Überresten / und murmele mein Kaddisch vor mich hin; Z. 49–51).857 Das Kaddisch (jidd.: ‫ )קדיש‬nimmt, abhängig von seinem Ort in der Liturgie oder als Totengebet, eine andere Form an. In beiden Fällen ist es eine Heiligung, eine Ode an Gott, so inadäquat menschliches Sprechen über Gott auch sein mag (s. de Vries 102006: 306–310). Chagall spricht sein Kaddisch für die ermordeten Künstler. Er betet für den Seelenfrieden der Toten, geleitet sie so vor den höchsten Thron (de Vries 102006: 309). Zugleich bezeugt er als Überlebender (vor Gott), dass er ihren Tod akzeptiert. Der vom Joch der Schuld Gepeinigte söhnt sich so mit seinem Schicksal aus.

856 Auch in Opatoshus Roman Der letster oyfshtand spielt der „kidusch-ha-schem“ eine wichtige Rolle (s. Kap. 13). Agamben ist im Gefolge vieler Überlebender die vordergründige Verwendung des Begriffs „Märtyrer“ suspekt. Erst in seiner etymologischen Rückführung auf die griechische Bedeutung „Zeuge“, die als weiteren etymologischen Rest das Moment des Erinnerns impliziert, und die durch eine Lektüre Tertullians gewonnene Erkenntnis, ein Martyrium bedeute – wie im Lager – einen sinnlosen Tod, sei er im Kontext der Schoa zulässig (2003: 23–25). 857 Das Kaddisch ruft nicht nur den religiösen Kontext auf, sondern ebenso  – wie die „kupes shtifl“ (Z. 49) – intertextuell Perets Markishs Pogrompoem Di kupe (Der Haufen, 1922; s. Kap. 8.1). Anders als bei Markish wird es hier nicht subversiv unterlaufen.

Marc Chagalls Poetisierung der Schoa  | 345 Chagall erfüllt mit dem Kaddisch in Far di kinstler-kdoyshim an seinen Brüdern dieselbe Pflicht wie jeder gläubige Jude an seinen Eltern. Als sprechendes, überlebt habendes Subjekt übernimmt er die Verantwortung, mit den Mitteln des Poems, das die reale Tradition des Totengebets und die imaginierten Biographien der Toten (Strophe 2) vereint, die Individualität und Würde der Opfer wider die Massenvernichtung zu behaupten. Die Evokation des Kaddisch verliert im Kontext des Poems nichts von seiner Kraft, „das weitere Überleben der Moral in der menschlichen Gesellschaft“ zu garantieren (de Vries 10 2006: 307). Chagalls Totengebet ist, eingebunden in die Textästhetik, ein religiöser und ethischer Akt. Seine Essenz besteht in der Bekräftigung der Endzeit: „Sein Reich erstehe!“ (ebd.) Hinter dem grausamen Lebensende eines jeden Märtyrer-Künstlers steht die Ewigkeit. Chagall bekräftigt dies durch seine dichterische Vision vom Neuen Tempel: Er setzt damit in seiner eigenwilligen Imagination nicht nur die Vision Ezechiels (oder deren Exegese) fort.858 Ezechiel erzählt von Gottes Glorie (Ez 43, 1–12), die in den Tempel einziehen wird, Chagall von den Bildern der Märtyrer-Künstler, derer er dort huldigen wird. Mit „beys-hamigdesh“ (‫המקדש‬-‫בית‬/Tempel) schließt Chagall das triadische Wiederholungsschema und die dreimalige Variation der Wurzel „‫ “קדש‬ab: Nur der Tempel in Jerusalem verdient im Jiddischen und Hebräischen diese Bezeichnung. 859 Mit der strukturellen Hermetik von Chagalls Gedicht geht die etymologische Hermeneutik zu „‫“קדש‬ einher. Sie umfasst die Sinndimension des Märtyrertums, des Kaddisch und jüdischer Endzeitvorstellungen. Auf den Tiefpunkt der Menschheitsgeschichte, der literarisch und visuell nur approximativ nachbildbar ist, antwortet der Maler Chagall mit einer lyrisch vermittelten Bildgenese (des Neuen Tempels und der verstorbenen Maler). Die Mehrfachspiegelung von Wort und Bild, die Chagall in Far di kinstler-kdoyshim vornimmt, ermöglicht eine affirmative Imagination, ohne angesichts der Schoa naiv zu wirken, und hüllt das ins Wort, was tatsächlich unvorstellbar ist, nämlich den Ort Gottes am Ende der Zeiten. Jedes Kaddisch enthält den Hinweis auf Zion (de Vries 102006: 309). König David, der im Gedicht das literarische Alter Ego des Künstlers tröstet, in Chagalls Bildern häufig neben Christus und Moses als dritte religiöse Identifikationsfigur auftritt, spielt und singt womöglich Psalm 147, 2: „ER erbaut Jerusalem auf!“ (Ü: Buber/Rosenzweig) Im prophe­ tischen Prätext Ezechiels wird David, der König von Juda und Israel, der die Bundeslade nach Jerusalem bringen lässt, von Gott als Hirte über die Auserwählten eingesetzt, die in Zion einziehen dürfen (Ez 34, 25; 37, 24–28). Mit diesen zentralen jüdischen Heilsgedanken beschließt Chagall sein Poem. Las Chagall, mit der jiddischen Literatur tief verbunden, (jiddische) Holocaustliteratur? Yitskhok Katsenelsons Lid funem oysgehargetn yidishn folk (Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk, verf. 1944), Tsvi Kolits’ Yosl Rakovers vendung tsu got (Josl Rakovers Wendung zu Gott, 858 S. Ez 40,1–44,3. Der Prophet Ezechiel folgt während seiner Entrückung einem Deuteengel und schaut den genau beschriebenen Tempel, das ihn umgebende Areal und das neu verteilte Land, s. hierzu auch Liss 2005: 230 und 282. 859 Er bezeichnet zugleich, wie „shul“ und „beys-medresh“, die Synagoge.

346  |  Gedächtnisbilder und Gedächtnistexte 1946)?860 Avrom Sutskevers Tagebücher aus dem Wilnaer Ghetto und dessen Gedichte zur Schoa kannte er gewiss.861 Chagalls Ikonographie der Radierung Der Fall Jerusalems hätte sehr gut ihre – von der Realität brutal bestätigte – wortkünstlerische Ergänzung finden können. Doch in Far di kinstler-kdoyshim besingt Chagall das neu errichtete Jerusalem. Er tut dies als Autor. In dieser Funktion der „auctoritas“ ist er gemäß der etymologischen Überlegungen Agambens (2003: 129–150) in die Zeugenschaft der Schoa eingebunden, die den Überlebenden und den Muselmann, den Mangel der Beschreibbarkeit der Schoa und deren Gültigkeit verbindet.862 Chagall übernimmt als jiddischschreibender Autor die Verantwortung des Überlebenden, sich zur Schoa zu äußern. Hierdurch kommt seine jüdisch-jiddische Identität zum Ausdruck. Hierdurch bezeugt er das Fortbestehen seiner Muttersprache. Wie einst während des Ersten Weltkrieges verschiebt Chagall die Darstellung und Reflexion von Gewalt in die Schrift (vgl. Kap. 7). Dank des narrativen Potenzials des Poems – Sam Dresden konstatiert generell den auffällig erzählenden Charakter der Schoa-Lyrik (1997: 23) – öffnet sich Chagalls Gedicht zu Ehren der Künstler-Opfer der Schoa jüdischen messianischen Vorstellungen. Den gekreuzigten Christus im Tallit aus zahlreichen seiner (Kriegs-)Bilder tauscht er ein gegen Moses, den JHVH als Werkzeug auserkoren hat, die Juden aus dem babylonischen Exil ins Land der Patriarchen zu führen. Nicht den vom Christentum als Davids Nachfolger gehandelten Jesus evoziert er, sondern David selbst.863 David verkörpert gerade deshalb für Chagall die Verheißung, weil er ein großer Sänger ist. Die betonte Vertikale seiner bildkünstlerischen Darstellungen, die Bibelblätter Davids Trauerlied (Nr. 66) und David wird König (Nr. 67) oder das Ölbild König David, 1951 (Abb. in: Guerman/ Forestier 2004: 118) verbindet ihn mit der Vertikalität des Poem-Endes: David steigt herab zum lyrischen Ich, das später selbst aufstehen wird. Hier kehrt das Schweben als Grundkonstante von Chagalls Kunst, Welt- und Selbstempfinden wieder. Hier ist das Tor zur bildkünstlerischen Reflexion der Schoa: Nicht nur Rabbi Akiva in Chagalls Widmungsbild zu Opatoshus Der letster oyfshtand entschwebt dem Propheten Ezechiel gleich der Vernichtung, auch Anne Frank in Chagalls Frontispiz zu ihrem Tagebuch tut dies – lächelnd und mit einer Friedenstaube im Rücken (1958). Die fliegende Anne Frank ist Chagalls Antwort auf seinen Fall Jerusalems, das er interikonisch zitiert und mit einer unerschütterlichen Zuversicht zugleich unterwandert.

860 Weitere wichtige jiddische Referenztexte sind die Schoa-Erzählungen Korbones (Opfer) von Der Nister (verfasst 1948) Markishs Milkhome (Krieg, 1948) oder Itsik Fefers Gedicht Ikh bin a yid! (Ich bin Jude!, s. Jendrusch 2002: 13). 861 Sutskevers Lider fun geto (Gedichte aus dem Ghetto), seine Aufzeichnungen Vilner geto. 1941–1944 (Das Ghetto in Vilnius. 1941–1944) und Fun Vilner geto (Aus dem Ghetto in Vilnius) erschienen 1946. Im Brief vom 6.1.1949 bedankt sich Chagall bei Sutskever für den Erhalt von dessen Gedichtband Geheymshtot (Geheimstadt, 1948; Harshav 2004: 664f.). 862 „Die Autorität des Zeugen besteht darin, dass er einzig im Namen eines Nicht-sagen-Könnens sprechen kann, d. h. darin, dass er Subjekt ist.“ (Agamben 2003: 138) 863 In Chagalls Gedicht Yankevs leyter (Jakobs Leiter, 1941) spielt Jakob ebenfalls eine tragende Rolle (1967: 97f.).

Marc Chagalls Poetisierung der Schoa  | 347 Hinter Chagalls sprachlicher Schau des Grauens und des Heils in Far di kinstler-kdoyshim muss sich keine Teleologie verbergen. Chagalls Entscheidung, den Künstler-Opfern der Schoa ein jiddisches Poem zu widmen, kann den etho-poetischen Möglichkeiten der Mehrdeutigkeit geschuldet sein. Im Sinne Agambens lässt sich auch von Chagalls subjektivem Sprechen zur Schoa sagen, dass es „kein Ziel, aber einen Rest“ hat (2003: 139). Auch in seinem dichterischen Versuch, zur Schoa eine Haltung einzunehmen, gibt es „eine irreduzible Kluft, in der jeder Terminus den Platz des Rests einnehmen, Zeugnis ablegen kann“ (ebd.). Chagalls Poem will nicht mehr und nicht weniger als das Sein (auch der Toten) anerkennen. Sein Entwurf einer neuen Ethik (getragen von der Zyklizität des Poems, das mit der Kunst der ermordeten Künstler beginnt und endet), ist von der historischen Realität keineswegs abgekoppelt. Die neue Welt, die sich erneut auf Moses Empfang der Gesetzestafeln stützen wird, ist natürlich ein Appell an alle Überlebenden, sich auch daran zu halten. In dieser Anbindung an die Historie birgt Chagalls Poem Agambens Philosophem des „Rests“: „Wirklich geschichtlich ist das, was die Zeit nicht in Richtung der Zukunft oder einfach auf die Vergangenheit hin erfüllt, sondern in der Überschreitung eines Mittleren. Das messianische Reich ist weder zukünftig (das Millenium) noch vergangen (das Goldene Zeitalter): es ist eine restliche Zeit.“ (2003: 139, s. auch S. 143)

15  Epilog: Ein Leben für die Metapher – Marc Chagall und Avrom Sutskever

Es vakst tsvishn undz a vant, a barg farshotener mit groz un kvorim, tseteylt hot undz di hant, vos shaft di bilder un di sforim. Es wächst zwischen uns eine Wand, ein verborgener Berg mit Gras und Gräbern, geteilt hat uns die Hand, die Bilder schafft und Bücher. Marc Chagall, Lisbon farn opfor (Lissabon vor der Abfahrt 1941; 1967, S. 97) S’kushn zikh farbn. Dayn pendzl – aleyn: a homunkulus ibern milkhveg fun layvnt, kapoyer dos kepl. Farben küssen sich. Dein Pinsel – er selbst ein Homunkulus über der Milchstraße der Leinwand, mit dem Kopf nach unten. Sutskever, Abraham, Shagalisher gortn (Chagalls Garten; 1963 Bd. 2, S. 357).

Aleksandr Blok, Blaise Cendrars, Yoysef Opatoshu – „at every stage in his career Chagall identified with contemporary writers rather than with artists, tapping into literary experimentation to help find his way through modernism [...].“ (Wullschlager 2008: 64) In einer Studie zum intermedial-interkulturellen Marc Chagall darf Abraham (Avrom) Sutskever (1913–2010) nicht fehlen, auch wenn dieses zentrale Kapitel in Chagalls reichen intermedialen Wechselbezügen zur jiddischen Literatur hier nur als Epilog auf den am 20. Januar 2010 verstorbenen Dichter aufscheinen kann. Sutskever ist der bedeutendste jiddische Schriftsteller und „einer der größten Dichter des 20. Jahrhunderts überhaupt“ (Valencia 2009: 19).864 Sutskever ist der letzte „tsviling-bruder“ (Zwillingsbruder), so der Titel einer Gedichtsammlung von 1986, im Reigen der Wahlverwandtschaften zwischen dem Maler und den Dichtern. 864 Sutskever verschafft den in alle Welt verstreuten jiddischen Schriftstellern auch als Herausgeber eine Stimme: Von 1949 bis 1995 erscheint zwei bis viermal pro Jahr Di goldene keyt (Die goldene Kette), „unbestritten das bedeutendste jiddische Organ der Nachkriegszeit“ (Valencia 2009: 47). Der Titel, der Perets’ gleichnamiges Drama evoziert, setzt dessen Vorstellung von der Kette, die das Judentum und natürlich auch die jiddische Literatur intertextuell verbindet, um, „di keyt, vos tsit zikh fun Avromoviynu biz dem hayntikn tog“ (die Kette, die sich von Abraham, unserem Vater, bis zu heutigen Tag erstreckt; Perets 1947 Bd. 8:8).

350  | Epilog Chagall und Sutskevers Bekanntschaft währt über ein halbes Jahrhundert (sie begegnen sich das erste Mal 1935 in Vilnius; Valencia 2009: 47). Sutskever besucht seinen MalerFreund fast jährlich in Frankreich (ebd.). Chagall ist während seiner Israel-Besuche Gast bei Sutskever in Tel Aviv.865 An Chagalls von Selbst- und Fremdstilisierung überfrachteter Beziehung zum Jiddischen, an dessen yidishkayt, hat Sutskever(s Dichtung) wesentlichen Anteil.866 Beide erreichen ein biblisches Alter. Der eine kann nicht ohne den Pinsel, der andere nicht ohne das dichterische Wort leben. Was dem einen Vitebsk, ist dem anderen Vilnius – oder Sibirien, wo Sutskever seine Kindheit verbringt. Beider Schaffen speist sich aus dem Erinnerungsschatz der ersten Jahre. Beider Werk ist theoriearm, autobiographisch, das Ich im Ineinander von Welt und Kreativität betrachtend, etho-ästhetisch. Chagall und Sutskever sind auch durch die Intermedialität ihrer Werke verbunden. Chagall überführt den Stoff in Malerei, aus dem Dichtung ist. Sutskever schreibt in Farben. 867 Chagall porträtiert Sutskever (Abb. in: Sutskever 1968: 5), Sutskever besingt Chagall.868 Nach Sutskevers erster, „romantisch-ästhetischer“ Schaffensperiode (Valencia 2009: 61), die pantheistisches Naturerleben und den Inzikhisten nahe Ich-Suche umspannt, öffnet sich seine Dichtung während der Kriegszeit dem Relationalen: Das Verhältnis des lyrischen Subjekts zum (absoluten) dichterischen Wort wird zum Movens und Kern seines Schaffens. (Man könnte hier eine Linie ziehen zu Chagalls Bedürfnis, im Selbstbildnis die Möglichkeiten seiner Kunst auszuloten – und sie und sich mit messianischen Zügen zu versehen.) Sutskever, erst im Vilnaer Ghetto, dann unter Partisanen, öffnet hier – mit Sprachbildern, die wohl selbst dem Tod den Atem nehmen – seine Dichtung auf eine sozial-ethische Dimension hin. Seine Metaphern werden  – als vielleicht wirkungsvollstes Aufbegehren gegen den Massenmord – immer kühner. Nach Auschwitz Gedichte zu schreiben ist für ihn möglich, weil durch ihn die Toten sprechen. Was Sutskever in einem Gedicht über Rokhl Korn schreibt, 865 Chagalls reger Briefwechsel mit Sutskever lässt sich nachlesen bei Harshav 2004. In den 1950er Jahren äußert Chagall Sutskever gegenüber sein Unbehagen, als Jude im christlichen Frankreich wie ein Fremder zu leben (s. Amishai-Maisels 1993: 22). Zu Chagall über Sutskever s. Sutskever 1953: 64f. und Chagall 2003: 123–126. 866 Chagalls Beziehung zum Jiddischen wird nach Vitebsk deutlich intensiviert, natürlich auch dank seiner Begegnung mit der jiddischen Intelligenz in Moskau, Malachovka, Kaunas und später dann in Berlin und Paris. Einen zweiten Schub erfährt sie anlässlich Chagalls Palästinareise 1930, dann im New Yorker Exil, das wesentlich durch die Freundschaft mit Yoysef Opatoshu geprägt ist. 867 Chagall sticht die Visualität von Sutskevers Lyrik ins Auge: „S’iz a kinstler-poezye oykh farn oyg un nit bloyz an intelekt-poezye.“ (Es ist eine Künstler-Dichtung auch fürs Auge und nicht nur intellektuelle Poesie; 1953: 64). Exemplarisch sei auf die Bedeutung der Farbe Grün in Chagalls Malerei und Sutskevers Texte hingewiesen, vgl. Griner akvaryum (Grünes Aquarium, 1975), Nito di grine oygpor fun lang-lang-lang ... (Es ist nicht mehr, das grüne Augenpaar von anno dazumal ...; 1986: 40) oder Farvandlung (Verwandlung): Hier „kaut eine einzige Kuh an einer grünen Wolke“ (bloyz an eyntsike beheyme koyt a grinem volkn; 1990: 62). Zur Sutskevers Prosa im Kontext der Schoa s. Roskies 1995: 307–344. 868 Vgl. die Widmungsgedichte Shagalisher gortn (Chagalls Garten, 1963 Bd. 2: 357), Shagalishe verter (Chagalls Worte; 1968: 27–30 oder Dermonung vegn a shpatsir mit Mark Shagal ... (Erinnerungen an einen Spaziergang mit Marc Chagall ...; 1986: 118) sowie die Hommagen in Prosa Di farb vos loykht vi a shtern: Mark Shagal (Die Farbe, die wie ein Stern leuchtet: Marc Chagall, 1993: 235–267), Magye fun yungshaft. Mark Shagal  – tsu zayne finf un nayntsik (Magie der Jugend. Marc Chagall  – zu seinem 95. Geburtstag, 1993: 268–271) und Der goen fun pashtes (Der Gaon der Einfachheit, 1993: 272–274).

Marc Chagall und Avrom Sutskever  | 351 gilt genauso gut für seine Verse: sie „gantsn beyner“ (machen Gebeine ganz), aus ihnen „zunikn aroys gezangike eyn-sofn“ (strahlen sonnenhaft heraus Gesangs-Unendlichlichkeiten; 1968: 24).869 Auschwitz verbindet Chagall und Sutskever (beide kreisen um die Schoa, ohne meta­ physisch klein beizugeben).870 Auschwitz trennt sie: Was Chagall aus der Ferne verfolgt, ist für Sutskever gelebte Realität. Die Bilder, die Sutskever dafür in der Dichtkunst findet, sind deshalb authentisch, atemberaubend  – und für Chagall in ihrer bejahenden Kraft und Schönheit anziehend. Ähnlich Chagall entwickelt Sutskever in der Wortkunst ein Symbolarium, das seine Texte untereinander verbindet. In beider Werk gehen die Leitmetaphern immer neue Verbindungen ein. In Sutskevers Lyrik berühren sich die Extreme: Eis und Schnee – Sutskevers Bilder des Todes, aber auch des Poetischen, das in Sutskever in Sibirien geboren wird (vgl. Cummy 2007: 305) – entfalten ihre volle metaphorische Kraft durch das Feuer, aus und für Erez Israel geboren. (Sutskevers erster in Israel entstandener Gedichtzyklus heißt In fayer-vogn [Im Feuerwagen], 1952). Die Fiedel, die von Sutskevers Vater ebenso wenig zu trennen ist wie die Heringe von demjenigen Chagalls, wächst in den Bildern des ‚Vitebsker Kindes‘ aus dem Konkreten ins Symbolisch-Mythische hinaus. Sutskevers und Chagalls (Bilder-)Sprache ist die Spannung zwischen realer Konkretheit und Mythisierung gemeinsam. Hier wie da scheint das Ewige im Zeitlichen auf. In Sutskevers Sammlung Di fidlroyz (Die Fiedelrose, 1974) vollzieht die Geige die Metamorphose vom konkreten Instrument (der Musik) zum vielschichtig mit der Rose verquickten Symbol (der Dichtung). Wie bereits das von Farben, Klängen und Neologismen durchsetzte Poem Sibir (Sibirien, 1952) illustriert Chagall auch diesen Band.871 Er ist empfänglich für die Metaphern(hybride) und deren Bedeutungsdimensionen, mit denen Sutskevers Dichtung die Realität weit hinter sich lässt, ohne sie verraten.872 Auf die Zyklen Dos eyntsike fentster (Das einzige Fenster), Ful der milgroym (Voll ist der Granatapfel), Alef-beys fun tsvey un tsvantsik fligl (Alphabet der zweiundzwanzig Flügel) in Di fidlroyz folgt abschließend Dornbeymlekh (Dornensträucher). Diese Dornensträucher nehmen durch fünf Gedichte hindurch den Weg vom Konkreten – das lyrische Subjekt passiert auf den Spuren von Moses und Elias dorniges Gestrüpp – hin zur Metapher (vgl. „dorndiker alef-beys“/„Dornenalphabet“; 1974: 106). Die Metapher wiederum dehnt sich aus zum (jüdischen) Weltbild (vgl. hierzu Link 1981: 215). Sutskevers „oysyes-porkhes“ (aufgeblühte Buchstaben; Sutskever 1974: 106) am Sinai implizieren ebenso wie seine „hisgales“ (Offen­ barung; S. 107) den Empfang der Gesetzestafeln, seine Vision des „dor-hamidber“ (Wüstengeschlechts; S. 108) die Geschichte des jüdischen Volkes von der Erschaffung der 869 Der Zentralbegriff der jüdischen Mystik „en-sof“ (das höchste Letzte) steht für Gott. 870 Zu Sutskevers Nachkriegslyrik s. Valencia 2004: 217–239. 871 Die intermediale Text-Bild-Beziehung zwischen diesen beiden Gedichtzyklen und Chagalls Illustrationen ist in einer eigenständigen Studie zu beleuchten. Hier könnte auch die Illustrationsarbeit anderer Künstler einfließen, etwa diejenige Yosl Bergners (geb. 1920), der beispielsweise zu Sutskevers Fun alte un naye ksav-yadn (Von alten und neuen Handschriften, 1982) Zeichnungen beisteuert. 872 Deutsche Teilübersetzung in: Sutzkever 2009: 183–197 (ÜS: Peter Comans). Die Sammlung wurde von Ruth Whitman ins Englische übertragen (1990).

352  | Epilog Welt (S. 106) bis zum Tag des „din-toyre“ (Gerichts; S. 108). Der physische Raum und seine Vegetation beinhalten in Sutskevers Geopoetik – erinnerte – Geschichte(n), wenn man ihn wie die Seiten eines Buches zu lesen weiß. (Nicht umsonst schreibt Ruth Wisse über Sutskever, er sei in erster Linie ein Leser; 1990: 29.) Beim Gestrüpp verknüpft das lyrische Ich seine Biographie mit der jüdischen Historie und Religion. Der Tanach ist als Narrem, aber auch graphisch präsent: Schon im ersten Gedicht ist im „shvartsn fayer“ (schwarzen Feuer; 1974: 105) die kabbalistische Vorstellung von der Heiligen Schrift gegenwärtig. Die Natur ist – dank der Metapher – Gottes Schöpfung und Gottes Schrift. Doch liest das lyrische Ich nicht nur Gottes Wort, sondern hört es in der „shtilkayt fun a trer“ (Stille einer Träne; 1974: 107). Die Dornensträucher erzählen in Sutskevers zeiten­ umspannendem Erinnerungstext natürlich vom brennenden Dornbusch, aus dem einst Gott zu Moses sprach (Ex 3; S. 108). Zugleich erhebt das lyrische Ich dank ihrer seine „gas-kol“ (Gassenstimme; S. 108), um stellvertretend für alle Juden zu sprechen.873 Im Chronotop des Dornengestrüpps sind die Stimmen aller Verstorbenen „fun groz“ (aus Gras; ebd.) gegenwärtig wie die Zeit(en) im Raum. Diese Schau des lyrischen Ich, gefasst in sieben- und achthebige Jamben, die im Kreuzreim dem vollendeten Rhythmus der Natur, dem Wechsel von Tag und Nacht antworten, schließt mit Elias Auffahrt in den Himmel im Feuerwagen am Berg Karmel eine der größten tanachischen Visionen mit ein (s. S. 109; vgl. 2 Kön 2, 1–18).874 Das Dunkel der Höhle, in der sich im ersten Gedicht der Prophet der biblischen Vorlage getreu vor König Ahab verbirgt (vgl. 1 Kön 17–2 Kön, 2), weicht dem Licht (der Himmelfahrt) aus dem fünften und letzten (die Fünf als Zahl des Propheten kehrt hier wieder, vgl. Kap. 6). Die gottgegebene und gottergebene Aufwärtsbewegung und Aufhebung der Zeiten verbindet den Dichter Sutskever mit dem Propheten. Die Aufwärtsbewegung sowie das Ineinander von Schrift und Natur kehrt auch in Chagalls luftiger Skizze wieder, die der Maler Sutskevers Text an die Seite stellt (s. Abb. 76). Chagalls Dornbüsche formen sich zum Berg, von dem aus ein Flügelwesen (der Dichter? der Maler? der Prophet?) emporschwebt. Im Gedicht ist das lyrische Ich „oyg oyf oyg mit shtilkayt“ (Auge in Auge mit der Stille; 1974: 107). In der Illustration erhebt sich die Engelsgestalt im Angesicht von Gottes Schöpfung, von Gottes Finsternis, der angedeuteten Schwärze, und seinem Licht, dem Mond, das durchaus Gottes Säuseln zu Elias evoziert. Sutskever, ein „feniks-mentsh“ (Phönix-Mensch), wie er in seinem Widmungsgedicht an den jüdischen Künstler und Illustrator Yosl Bergner schreibt (1986: 121), kreiert in seiner Lyrik ‚Phönix-Worte‘, die Paul Ricœurs Plädoyer für die métaphore vive alle Ehre machen. In Kenntnis seiner Leitmetaphern erklärt sich auch Chagalls geflügeltes Wesen, das der Maler als visuelle Metapher für den kunstnahen Dichter einsetzt. Sutskevers Muse ist die Taube. Sie wird „während seiner sibirischen Kindheit aus der Feder eines Engelflügels geboren“

873 Sutskever erinnert durch diese Metapher konkret an die Straßen von Vilnius, mit dem „fayertants bay der Vilye“ (Feuertanz bei der Wilia [Neris; S. K.]; ebd.) an die dortige Judenvernichtung. 874 Vgl. auch Sutskevers Gedicht Tsvayg mit letste karshn (Zweig mit letzten Kirschen, 1970: 90) von 1968.

Marc Chagall und Avrom Sutskever  | 353 (Valencia 2009: 59), wie er in seiner Ode tsu di toyb (Ode an die Taube, 1954) schreibt.875 Ihr Nest ist ein Bogen Papier. Ihm schreibt das lyrische Ich sein Antlitz ein. Mit Worten baut es den zerstörten Tempel wieder auf.876 Diesen ethischen Gestus, den Brüchen, Rissen und Wunden der (historischen Zeit) eine – vom Glanz seiner Metaphern umstrahlte – ästhetisch vermittelte, durchaus metaphorisch zu verstehende Ganzheit entgegenzusetzen, teilt Avrom Sutskever mit dem Künstler. Auch Marc Chagall schreibt und malt mit am Neuen Tempel.

875 S. Sutskever 1963 Bd. 2: 165–174. Chagall scheint bei der Illustration Sutskevers berühmte Ode im Auge zu haben, in der Sutskever mit dem Motiv der Dornen und des Mondes operiert. Die Flügel sind als „bloye midber-fligl“ (blaue Wüstenflügel; 1974: 108) in den Dornbeymlekh präsent. 876 „Taybele, bistu di zelbe, di fligl nit gro, iz dos meglekh? / Zol ikh do boyen mayn templ, vi ikh hob geboyt im tog-geglekh? / Zol ikh mayn tsoyberdik lempl tsegroyen oyf s’nay un tsebloyen? / – boyen un boyen dem templ, mit zunikn seykhl im boyen!“ (Taube, stets bist du dieselbe, die Flügel nie grau, ist das möglich? / Soll ich hier bauen den Tempel, ihn bauen wie einst, Tag für Tag? / Soll ich es tun, meine magische Lampe ergrauen erneut und erblauen?“ / Bauen den Tempel und bauen, mit Sonnenvernunft ihn erbauen!“; Sutskever 1963 Bd. 2: 174; ÜS: Peter Comans).

Danksagung

Die vorliegende Monographie stellt das wichtigste Ergebnis meines Dilthey-Fellowships „Ostjudentum in Literatur und Malerei: Marc Chagall“ dar. Der VolkswagenStiftung, die mich mit diesem Forschungsprojekt in die Förderlinie „Pro Geisteswissenschaften“ aufnahm, bin ich für die finanzielle Förderung und hervorragende Betreuung vor allem durch Frau Dr. Gudrun Tegeder zutiefst verpflichtet. Ich danke für das in mich gesetzte Vertrauen, dieses ambitionierte, zwischen Slavistik, Jiddistik und Bildwissenschaft angesiedelte Forschungsabenteuer durchzuführen. Mein Grenzgängertum zwischen den Disziplinen ließ mich methodisch und inhaltlich in neue, faszinierende ‚kulturelle Gewässer‘ aufbrechen. Mit vielen Institutionen und Forschern der Slavistik, Jiddistik, der Judaistik und der Kunstgeschichte im In- und Ausland konnte ich in einen für mich wichtigen und bereichernden Dialog treten. So danke ich an dieser Stelle herzlich für sach- und fachkundige Auskünfte, Anmerkungen und Anregungen: Andreas Angerstorfer, wissenschaftlicher Angestellter der Katholischen Theologie der Universität Regensburg (†) Chris Dagleish, bibliothekarisches Faktotum der Universitätsbibliothek Regensburg Marina Dmitrieva, Kunsthistorikerin am GWZO Leipzig Carl Ehrlich, Professor für Hebräische Bibel und Biblische Archäologie an der York University in Toronto Armin Eidherr, Professor für Jiddistik, Jüdische Kulturgeschichte und Neuere deutsche Literatur an der Universität Salzburg und Übersetzer aus dem Jiddischen Nathalie Hazan-Brunet vom Musée d’art et d’histoire du Judaïsme in Paris Ernst Hansack, Professor für slavische Sprachwissenschaft an der Universität Regensburg Benjamin Harshav, Professor für Slavische Sprachen und Literaturen an der Yale University, New Haven Ljudmila Chmel’nickaja, Direktorin des Marc-Chagall-Museums in Vitebsk Rahel Feilchenfeldt für wertvolle Auskünfte zu ihrem Schwiegervater Walther Feilchenfeldt Akvile Grigoraviciute, Bibliothekarin der Litauischen Nationalbibliothek in Vilnius, Litauen Kenneth Hanshew, Irina Markov und allen anderen TeilnehmerInnen am Forschungskolloquium von Walter Koschmal Rachel Haiberger von der Universitätsbibliothek „Johann Christian Senckenberg“ Frankfurt a. M. Kristina Kallert, Lektorin für Tschechisch an der Universität Regensburg und Übersetzerin aus dem Tschechischen Olga Litvak, Professorin für Jüdische Geschichte an der Clark University Yitskhok Niborski vom INALCO und der „bibliothèque MEDEM“ Paris, einem großer Lehrer und dem Gedächtnis der jiddischen Sprache und Literatur Dan Opatoshu aus Los Angeles Ayala Oppenheimer vom Museum Ein Harod, Israel

356  | Danksagung Wolfgang Preusker-Maier, Kunsthistoriker in Wien Yudis Rapoport aus Tel-Aviv und Annie Carlotti aus Paris für wichtige Recherchehilfen Annette Weber, Professorin für Jüdische Kunst an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg Annette Werberger vom Slavischen Seminar Tübingen Evita Wiecki, Lektorin für Jiddisch an der LMU München Nils Wiesenberg und allen TeilnehmerInnen am Magistranden- und Doktorandenkolloquiums am Institut für Kunstgeschichte der Universität Regensburg den Mitarbeitern am YIVO, New York, für wertvolle Unterstützung bei meinen Recherchen Julia Wisokomorni für das Schema zu Kubistische Landschaft meinen Studierenden besonders der forschungsorientierten Seminare zu Marc Chagall zwischen Literatur und Malerei sowie zu den Avantgarde-Kulturen in Vitebsk. Ich danke für intensiven und fruchtbaren fachlichen Austausch besonders Kirill Dmitriev von der University of St Andrews, School of Modern Languages, Schottland, und Verena Lepper vom Pergamon-Museum Berlin, beide Mitglieder der „AG Minderheiten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ der Jungen Akademie Diane Mehlich, Doktorandin am Institut für Slavistik und Koordinatorin des Elitestudiengangs „Osteuropastudien“ Gennady Estraikh, Rauch Associate Professor für Jiddische Studien und Associate Professor für Hebräische und Jüdische Studien an der New York University und Mikhail Krutikov, Professer für Slavische und Jüdische Studien an der Universität Ann Arbor, Michigan. Mein inniger Dank gilt meinem ehemaligem Habilitationsmentorat, bestehend aus Prof. Dr. Hans-Christoph Dittscheid vom Institut für Kunstgeschichte der Universität Regensburg, Prof. Dr. Aage A. Hansen-Löve vom Institut für Slavistik der LMU München und Prof. Dr. Walter Koschmal vom Institut für Slavistik der Universität Regensburg. Dank ihrer engagierten, aus dem Kern des jeweiligen Faches und Forschungsschwerpunktes kommenden methodischen und inhaltlichen Begleitung war die Abfassung der Arbeit zu keinem Zeitpunkt gefährdet. Gerade der intensive fachliche Austausch mit Walter Koschmal ist kaum mit etwas aufzuwiegen (außer mit ebenso guten Forschungsarbeiten). Was meine Hilfskräfte anbelangt, war mir das Schicksal mehr als hold: Witalij Schmidt und Annelie Bachmaier sind nicht nur gute Seelen, sondern auch ganz helle Köpfe. Mein besonderer Dank geht an Holger Nath für seine wertvollen Auskünfte, Recherchen und aufmerksamen Korrekturen in der Endphase der Drucklegung. Ich danke von Herzen allen Freunden und Verwandten, bei denen Hannah und Lea während des Abfassens der Arbeit in besten Händen waren, meiner Mutter Margareta, meiner Schwester Alexandra, meiner Schwiegermutter Ingrid, Margret und Andreas Döberl sowie Brigitte Elberfeld. Holger Schenk hat technische Hilfestellungen, Petra Huber wichtige Re-Lektüren geleistet. Anneliese Lehner hat mir in den vergangenen vier Jahren zu jedem Zeitpunkt in

Danksagung  | 357 ihrem schönen Haus ein inspirierendes Refugium bereitgestellt, um gelegentlich in Ruhe über die Thematik nachlesen und -denken zu können. Meine gedankliche Reise zog für mich als Slavistin zunächst ungewöhnliche Reiserouten nach sich: Für den Osten ging es auch in den Westen, zu Fragen über russisch-jüdische Wunderkinder der ostjüdischen Kulturrenaissance fuhr ich nach Paris und New York, Tel Aviv, Jerusalem, Ein Harod, Vilnius und Vitebsk. Meine Familie hat mich überallhin begleitet. Dafür danke ich unseren beiden Kindern – und Rainer, dem Unersetzlichen. So konnte ich bleiben, was ich am liebsten bin: Mutter und Wissenschaftlerin. Regensburg, im August 2012

Literaturverzeichnis

A shpigl oyf a shteyn. Antologye. poezye un proze fun letste farshnitene yidishe shraybers in Ratnfarband. Herausgegeben von Khone Shmeruk und Benjamin Harshav. Yerusholayim 21987. [Shmeruk/Harshav 21987] Aaron, Nikolaj. Marc Chagall. Reinbek bei Hamburg 2003. Aberbach, David. Realism, caricature, and bias. The fiction of Mendele Mocher Sefarim. London 1993. Abramsky, Chimen. „Yiddish Book Illustrations in Russia. 1916–1923“. In: Apter-Gabriel, Ruth. Tradition and Revolution. The Jewish Renaissance in Russian Avant-garde Art. Jerusalem 21988. S. 61–70. Achmatova, Anna. Izbrannoe. Moskva 1993. Aczel, Richard. „Intertextualität“. In: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Herausgegeben von Ulrich Pfisterer. Stuttgart 2003. S. 287–289. Adler, Yankel. „Der veg fun yidishn kinstler“. In: Yisokher Ber Ribak. Paris 1937. S. 43–46. Agamben, Giorgio. Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Frankfurt a. M. 2003. Agnon, Samuel. „Der Eingang zur Höhle oder die Geschichte von der Ziege“. Jüdischer Almanach auf das Jahr 5688 (1928). S. 208–211. Ajgi, Gennadij. Sobranie sočinenij v 7-i tomach. Bd. 2. Zimnie kuteži. Moskva 2009. Aleksandra Ėkster. Cvetovye ritmy. / Alexandra Exter. Farbrhythmen. Sankt-Peterburg 2001. [Ėkster 2001] Allerhand, Jacob. „Jiddisch – Metamorphose einer Sprache“. In: Allerhand, Jacob/Magris, Claudio (Hrsg.). Studien zur Literatur der Juden in Osteuropa. Eisenstadt 1977. S. 7–81. Amishai-Maisel, Ziva. „Chagall’s Jewish ,in-jokes’“. Journal of Jewish Art 5. 1978. S. 76–93. Amishai-Maisels, Ziva. „The Jewish Jesus“. Journal of Jewish Art 9. 1982. S. 85–104. Amishai-Maisels, Ziva. „Chagall and the Jewish Revival: Center or Periphery“. In: Apter-Gabriel, Ruth (Hg.). Tradition and Revolution. The Jewish Renaissance in Russian Avant-Garde Art 1912–1928. Jerusalem 21988. S. 71–100. Amishai-Maisels, Ziva. „Innenseiter, Außenseiter. Moderne jüdische Künstler im Portrait“. In: Nachama, Andreas/Schoeps, Julius H./Voolen, Edward van. Jüdische Lebenswelten. Essays. Frankfurt am Main 1991. S. 165–184. Amishai-Maisels, Ziva. Depiction and Interpretation. The Influence of the Holocaust on the Visual Arts. Oxford/New York/Seoul/Tokyo 1993. Amishai-Maisels, Ziva. „The Jewish Awakening: A Search for National Identity“. In: Goodman Tumarkin, Susan (Hg.). Russian Jewish Artists in a Century of Change. Munich/New York 1995. S. 54–70. Amishai-Maisels, Ziva. „Der jüdische Jesus“. In: Golinski, Hans Günter/Hiekisch-Picard, Sepp (Hg.). Das Recht des Bildes. Heidelberg 2003. S. 223–237. Amishai-Maisels, Ziva. „Chagall und der Holocaust“. In: Heuberger, Georg/Grütters, Monika (Hg.). Verehrt – Verfemt. Chagall und Deutschland. München/Berlin/London/New York 2004. S. 124– 146.

360  | Literaturverzeichnis Andrew, Joe. „Babel’s My first Goose“. In: Andrew, Joe (u. a.) (ed.). The Structural Analysis of Russian Narrative Fiction. Keele 1984. S. 64–81. [Andrew 1984a] Andrew, Joe. „’Spoil the purest of ladies’. Male & Female in Isaac Babel’s Konarmija“. Essays in Poetics 14 (2), 1984. S. 1–27. [Andrew 1984b] Angerstorfer, Andreas. „Regensburg als Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit im Mittelalter“. In: Brenner, Michael/Höpfinger, Renate (Hg.). Die Juden in der Oberpfalz. München 2009. S. 9–26. An-Ski, Shloyme. „Der yidisher folks-gayst un zayn shafn“. In: Ders. Gezamlte shriftn. Warschau 1925, Bd. 15. S. 15–28. Apčinskaja, N.V. „Posleslovie“. In: Šagal, Mark. Moja žizn’. Moskva 1994. S. 179–197. Apter-Gabriel, Ruth (Hg.). Tradition and Revolution. The Jewish Renaissance in Russian Avant-Garde Art 1912–1928. Jerusalem 1987/21988. Apter-Gabriel, Ruth. „,Un passé qu renaît, un futur qu s‘évanouit‘. Les sources de l’art populaire dans le nouvel art juif russe“. In: Hazan-Brunet, Nathalie (Hg.). Futur antérieur. L’avant-garde et le livre yiddish (1914–1939). Paris 2009. S. 52–73. Aptroot, Marion/Gruschka, Roland. Jiddisch. Geschichte und Kultur einer Weltsprache. München 2010. Arendt, Hannah [1963]. Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München 4 2009. (Aus dem Amerikanischen von Brigitte Granzow.) Arminjon, Victor. Pouchkine et Pierre le Grand. Paris 1971. (= Etudes russes; 4) Aronson, Boris. Mark Šagal. Berlin 1923. (dt. Aronson, Boris. Marc Chagall. Berlin 1924.) Aronson, Boris. „Contemporary Jewish Graphics“. In: Apter-Gabriel Ruth. (Hg.). Tradition and Revolution: The Jewish Renaissance in Russian Avant-Garde Art 1912–1928. Jerusalem 1987. S. 235–238. Arp, Hans/El Lissitzky. Die Kunstismen / Les Ismes d’art / The Isms of art. Erlenbach-Zürich, München, Leipzig 1925. Assmann, Jan. Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992. Assmann, Aleida. Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 2003. Astro, Alan. „Oser Varszawski (Oyzer Varshavski)“. In: Dictionary of Literary Biography. Vol. 333. Writers in Yiddish. Edited by Joseph Sherman. Detroit/NewYork/San Francisco/New Haven/ Waterville/London/Munich 2007. S. 323–331. Baal-Teshuva, Jacob. Marc Chagall. Hongkong/Köln/London/Los Angeles/Madrid/Paris 2008. Babel, Isaak. Geschichten aus Odessa. Darmstadt 1962. (Aus dem Russischen von Dmitrij Umanski) Babel, Isaak. Tagebuch 1920. Berlin 1990. (Aus dem Russischen von Peter Urban) Babel’, Isaak Ė. „Istorija moej golubjatni“. In: Ders. Sočinenija. V 2-ch tomach. Tom vtoroj. Moskva 1996. S. 161–171. Babel’, Isaak Ė. Odesskie rasskazy. Odessa 2001. Babel’, Isaak Ė. Konarmija. Sankt-Peterburg 2002. Babel’, Isaak Ė. Sobranie sočinenij v 4-ch tomach. Moskva 2006. Der babylonische Talmud. Neu übertragen durch Lazarus Goldschmidt. 13 Bde. Darmstadt 1996. [bT]

Literaturverzeichnis  | 361 Bachmann-Medick, Doris. „Kulturanthropologie“. In: Nünning, Ansgar/Nünning, Vera (Hrsg.). Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stuttgart/ Weimar 2003. S. 86–107. Bachmann-Medick, Doris. Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg 2006. Bachtin, Michail. Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt a. M. 1979. Bachtin, Michail M. Tvorčestvo Fransua Rable i narodnaja kul’tura srednevekov’ja i renessansa. Orange/Düsseldorf 1986. Bachtin, Michail. Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt a. M. 1987. Bachtin, Michail. Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt a. M. 1996. Baker, Zachary M., „Kletskin, Boris Arkadevich“. In: Hundert, Gershon D. (Hg.). The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. 2 Bde. New Haven/London 2008. Bd. 1. S. 905–906. Bal-Makhshoves. „Sholem-Aleykhem“. In: Ders. Geklibene verk. Nyu-York 1953. S. 172–190. [BalMakhshoves 1953a] Bal-Makhshoves. „Dovid Hofshteyn, Leyb Kvitko, Perets Markish“. In: Ders. Geklibene Verk. NyuYork 1953. S. 302–307. [Bal-Makhshoves 1953b] Bal-Makhshoves. „Dray lirishe poetn“. In: Ders. Geklibene verk. Nyu-York 1953. S. 302–306. Bataille, Georges. „Die Souveränität“. In: Ders. Die psychologische Struktur des Faschismus. Die Souveränität. München 1978. S. 45–86. Bätschmann, Oskar. Einführung in die kunstgeschichtliche Hermeneutik. Darmstadt 1984. Baudrillard, Jean. Die Agonie des Realen. Berlin 1978. Bechtel, Delphine. Der Nister’s work. 1907–1919. Study of a Yiddish symbolist. Frankfurt/M. Berne. 1990. Bechtel, Delphine. „L‘œuvre de Leyb Kvitko à Hambourg: entre politique, science-fiction et espionnage“. In: Baumgarten, Jean/Bunis, David (Hg.). Mélanges du centre de recherche français de Jérusalem. Paris 1999. S. 247–271. Bechtel, Delphine. La Renaissance culturelle juive. Europa centrale et orientale 1897–1930. Paris 2002. Beizer, Mikhail. The Jews of St. Petersburg. Excursions through a Noble Past. Philadelphia/New York 1989. Belaja, Galina A./Dobrenko, Evgenij/Esaulov, Ivan. Konarmija Isaaka Babelja. Moskva 1993. Belinskij, Vissarion G. „Pochoždenija Čičikova, ili Mërtvye duši“. In: Ders. Polnoe sobranie sočinenij. Bd. 6. Stat’i i recenzii 1842–1843. Moskva 1955. S. 209–222. Bellinger, Gerhard J. Knaurs Lexikon der Mythologie. Augsburg 2000. Belting, Hans. Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München 2001. Belting, Hans (Hg.). Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch. München 2007. Belyj, Andrej. „Gogol’ i Mejerchol’d“. In: Gogol’ i Mejerchol’d. Sbornik. Moskva 1927. S. 9–38. Belyj, Andrej 1996. Masterstvo Gogolja. Moskau. Ben-Chanan, Yaacov. Jüdische Identität – heute. Drei Essays. Kassel 1992. Benjamin, Walter. „Über die Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen“. In: Ders. Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2. Frankfurt a. M. 1966. S. 9–26. Benjamin, Walter. „Über den Begriff der Geschichte“. In: Ders. Gesammelte Schriften. I/2. Werkausgabe Bd. 2. Frankfurt a. M. 1980. S. 691–704.

362  | Literaturverzeichnis Berg, Nicolas. Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher. Göttingen 2008. Berg Nicolas. „Was bedeuten Marc Chagalls ‚Fliegende Menschen‘? Bemerkungen zur Metaphorik des ‚schwebenden Judentums‘“. In: Schmeitzner, Mike/Wiedemann, Heinrich (Hg.). Mut zur Freiheit. Ein Leben voller Projekte. Festschrift zum 80. Geburtstag von Wolfgang Marcus. Berlin 2007. S. 433–440. Berger, John. Gegen die Abwertung der Welt. München/Wien 2003. (Aus dem Englischen von Hans Jürgen Balmes) Berger John. (1971), „Dürer. ein Bild des Künstlers“. In: Ders. Das Kunstwerk. Über das Lesen von Bildern. Berlin 52005. S. 15–26. (Aus dem Englischen von Kyra Stromberg) Bernshteyn, Ignats. Yidishe shprikhverter und redensarten. Varshe 1908. Bertz, Inka. ‚Eine neue Kunst für ein altes Volk‘. Die jüdische Renaissance in Berlin 1900–1924. Berlin 1991. Bertz, Inka, Die Bibliothek des YIVO. Von Wilna nach New York. In: Bertz, Inka/Dorrmann, Michael (Hg.). Raub und Restitution. Kulturgut aus jüdischem Besitz von 1933 bis heute. Göttingen 2008. S. 285–288 und 297–298. Bialik, Khaim Nakhman. „The City of Slaughter“. Prooftexts 25 1/2. 2005. S. 8–29. (Übersetzung von A. M. Klein) Bialik, Khayim Nakhman. Fun tsar un tsorn. Berlin 1922. Binevič, Evgenij. „Karikaturisty o Mejerchol’de – režissëre imperatorskich teatrov“. In: Fel’dman, Oleg M. (Hg.). Mejerchol’dovskij sbornik, vypusk vtoroj. Mejerchol’d i drugie. Dokumenty i materialy. Moskva 2000. S. 208–227. Birnholz, Alan C. „El Lissitzky and the Jewish Tradition“. Studio International 186 (959). 1973. S. 130–136. Bloch, Chaim. Chassidische Geschichten. Wiesbaden 1996. Blok, Aleksandr. A [1906]. „Kraski i slova“. In: Ders. Polnoe sobranie sočinenij v 20-i tomach. Moskva 2003. S. 15–18. Bochow, Jörg. Das Theater Meyerholds und die Biomechanik. Berlin 1997. [Bochow 1997a] Bochow, Jörg. Das Theater Meyerholds und die Biomechanik. Video [Bochow 1997b] Bodoff, Lippman. „The Real Test of the Akedah: Blind Obedience Versus Moral Choice“. In: Judaism. A Quarterly Journal. 42 (1). 1993. S. 71–92. Boeckh, Katrin/Völkl, Ekkehard. Ukraine. Von der Roten zur Orangenen Revolution. Regensburg 2007. Boehm, Gottfried, „Mnemosyne. Zur Kategorie des erinnernden Sehens“. In: Boehm, Gottfried/ Stierle, Karlheinz/Winter, Gundolf (Hg.). Modernität und Tradition. Festschrift für Max Imdahl zum 60. Geburtstag. München 1985. S. 37–57. Boehm, Gottfried. „Die Wiederkehr der Bilder“. In: Ders. (Hg.). Was ist ein Bild? München 1994. S. 11–38. Boehm, Gottfried. Der blinde Spiegel. Anmerkungen zum Selbstbildnis im 20. Jahrhundert. In: Herzog Anton Ulrich-Museum (Hg.). Ansichten vom Ich (Katalog), Braunschweig 1997. S. 25–33. Boehm, Gottfried. „Botschaften ohne Worte. Vom Sprachcharakter der bildenden Kunst“. In: Panagl, Oswald/Goebl, Hans/Brix, Emil. Der Mensch und seine Sprache(n). Wien/Köln/Weimar 2001. S. 253–271. (= Wissenschaft – Bildung – Politik; 5) Boehm, Gottfried, „Gegen den Strich. Über die Arbeit mit Schrift und Bild“. In: Neumann, Gerhard/ Öhlschläger, Claudia (Hrsg.). Inszenierungen in Schrift und Bild. Bielefeld 2004. S. 109–123.

Literaturverzeichnis  | 363 Boehm, Gottfried. „Jenseits der Sprache? Anmerkungen zur Logik der Bilder“. In: Ders. Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens. Berlin 2007. S. 34–53. [Boehm 2007a] Boehm, Gottfried. „Unbestimmtheit. Zur Logik des Bildes“. In: Ders. Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens. Berlin 2007. S. 199–212. [Boehm 2007b] Boehm, Gottfried/Bredekamp, Horst (Hrsg.). Ikonologie der Gegenwart. München 2009. Bohrer, Karl-Heinz. Imaginationen des Bösen. Zur Begründung einer ästhetischen Kategorie. ­München/Wien 2004. Bol’šaja ėnciklopedija v 62-ch tomach. Glavnyj red. S. A. Kondratov. Moskva 2006. [BĖ 2006] Borenstein, Eliot. Men without Women. Masculinity and Revolution in Russian Fiction, 1917–1929. Durham/London 2000. Bowlt, John E. Moscow and St. Petersburg in Russia’s Silver Age. London 2008. Bowlt, John E./Drutt, Matthew. Amazonen der Avantgarde. Alexandra Exter, Natalja Gontschwarowa, Ljubow Popowa, Olga Rosanowa, Warwara Stepanowa und Nadeschda Udalzowa. Ostfildern-Ruit 1999. Boyarin, Daniel/Boyarin, Jonathan (Hg.). Jews and Other Differences. The New Jewish Cultural Studies. Minnesota 1997. Bozo, Dominique. „Vorwort“. In: Marc Chagall. Arbeiten auf Papier. Hannover 1985. S. 21–22. Bredekamp, Horst. „Bildwissenschaft.“ In: Pfisterer, Ulrich (Hg.). Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen. Methoden. Begriffe. Stuttgart/Weimar 2003. S. 56–58. [Bredekamp 2003a] Bredekamp, Horst. „A Neglected Tradition? Art History as Bildwissenschaft“. Critical Inquiry, 29.3 (2003 Spring). S. 418–428. [Bredekamp 2003b] Bredekamp, Horst. „Bildakte als Zeugnis und Urteil“. In: Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. Herausgegeben von Monika Flacke. Deutsches Historisches Museum. 2 Bde. Bd. 1. Mainz 2004. S. 29–66. Bredekamp, Horst. Das technische Bild. Kompendium zu einer Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder. Berlin 2008. Bredekamp, Horst (Hg.). Bildendes Sehen. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Berlin 2009. Brenner, Michael. Jüdische Kultur in der Weimarer Republik. München 2000. Breton, André. Le surréalisme et la peinture. Paris 1965. Breuer, Gerda/Wagemann, Ines. Ludwig Meidner. Zeichner, Maler, Literat. 1884–1966. Bd. 2. Stuttgart 1991. Brieger, Lothar/Lilien, E.M. Eine künstlerische Entwicklung um die Jahrhundertwende. Berlin/Wien 1922. Browning, Gary L. „Russian Ornamental Prose“. Slavic & East European Journal 23 (1979). S. 346–352. Brugger, Ingried/Stooss, Toni. Im Bann der Moderne. Picasso, Chagall, Jawlensky. Meisterwerke aus der Sammlung Karl und Jürg Im Obersteg. Wien 2003. Buber, Martin. „Jüdische Renaissance“. Ost und West 1 (1901) S. 7–10. Buber, Martin (Hg.). Jüdische Künstler. Berlin 1903. Buber, Martin. Schriften zum Chassidismus. Bd. 3. Heidelberg/München 1963. Buber, Martin. „Zu einer neuen Verdeutschung der Schrift“. In: Die fünf Bücher der Weisung. Bd. 1. 1992. S. 1–44. (Aus dem Hebräischen von Martin Buber und Franz Rosenzweig) [im Anhang] Buber, Martin. Die Erzählungen der Chassidim. Zürich 121996. Budnickij, Oleg V (Hg.). Evrei i russkaja revoljucija. Materialy i issledovanija. Moskva/Ierusalim 1999.

364  | Literaturverzeichnis Budnickij, Oleg V. Rossijskie evrei meždu krasnymi i belymi 1917–1920. Moskva 2005. Bullock, Philip Ross. „The Cruel Art of Beauty. Walter Pater and the Uncanny Aestheticism of Isaak Babel’s Red Cavalry“. Modern Language Review 104 (2). 2009. S. 499–529. Burljuk, David/Kručenych, Aleksandr/Majakovskij, Vladimir/Chlebnikov, Viktor (Velimir). „Poščečina obščestvennomu vkusu“. In: Terechina, V.N./Zimenkov, A.P.: Russkij Futurizm. Stichi. Stat’i. Vospominanija. Sankt-Peterburg 2009. S. 69–70. Calvocoressi, Peter. Who’s who in der Bibel. München 142005. Caravaggio. Originale und Kopien im Spiegel der Forschung. Hrsg. von Harten, Jürgen/Martin, ­Jean-Hubert. Stuttgart 2006. (Ausstell.kat.) Carden, Patricia. The Art of Isaac Babel. Cornwell 1972. Cavanagh, Clare. The Poetics of Jewishness: Mandelstam, Dante and the ‚honorable Calling of Jew‘. Slavic & Eastern European Journal 35 (3). 1991. S. 317–348. Cavanagh, Clare. Osip Mandelstam and the Modernist Creation of Tradition. Princeton 1995. Chagall, Marc. Ma vie. Paris 1931. Chagall, Marc. Bible. 2 Bände. Paris 1956. Chagall, Marc. Mein Leben. Stuttgart 1959. Chagall, Marc. Poèmes. Génève 1975. Chagall, Marc/Provoyeur, Pierre (réd.). Le message biblique. Paris 1983. Chapman, Perry H. Rembrandt’s Self-Portraits. A Study in Seventeenth Century Identity. Princeton 1990. Chardžiev, N. „Poezija i živopis’“. In: K istorii russkogo avangarda. Michail Matjušin: Russkie kubofuturisty. Stockholm 1976. S. 8–84. Chlebnikov, Velimir V. Sobranie sočinenij v 6-i tomach. Bd. 2. Stichotvorenija 1917–1922. Moskva 2001. Chmel’nickaja, L./Stepanec, Ju. Mark Šagal i Biblija. Vitebsk 2002. [Chagall 2002] Čistjakov, V.A. Predstavlenija o doroge v zagrobnyj mir v russkich pochoronnych pričitanijach XIX– XX veka. In: Sokolova, V.K. (Hg.). Obrjady i obrjadovyj fol’klor. Moskva 1982. S. 114–127. Clayton, Douglas J. Pierrot in Petrograd. The Commedia dell’Arte/,Balagan‘ in Twentieth-Century Russian Theatre and Drama. Montreal u. a. 1994. Cogniat, Raymond. J. Ribak. Paris 1934. Cohen, Nathan. „Moment, Der“. In: Hundert, Gershon D. (Hg.). The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. 2 Bde. New Haven/London 2008. Bd. 2. S. 1193–1194. Cohen, Richard I. Jewish Icons. Art and Society in Modern Europe. Berkeley/Los Angeles/London 1998. Compton, Susan. Marc Chagall. Mein Leben – Mein Traum. Berlin und Paris 1922–1940. München 1990. Conrad, Christofer. „Pictor in fabula. Chagalls lithographisches Werk“. In: Chagall, Marc. Die Lithographien. La collection Sorlier, hrsg. von Ulrike Gauss. Ostfildern-Ruit 1998. S. 37–53. Corbineau-Hoffmann, Angelika. „Die Bewaffnung der Worte. Aspekte der Sprachgewalt in moderner Lyrik.“ In: Dies. (Hg.). Gewalt der Sprache – Sprache der Gewalt. Beispiele aus philologischer Sicht. Hildesheim/Zürich/New York 2000. S. 191–228. Cormack, Robin/Vassilaki, Maria (Hg.). Byzantium 330–1453. Katalog zur Ausstellung in der Royal Academy of Arts, London, 25. Oktober 2008 bis 22. März 2009. London 2008. Kat.-Nr. 50; Abb. S. 100.

Literaturverzeichnis  | 365 Coulmas, Florian. „Theorie der Schriftgeschichte“. In: Günther, Hartmut/Ludwig, Otto (Hg.). Schrift und Schriftlichkeit. Writing and Its Use. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler ­Forschung. An Interdisciplinary Handbook of International Research. Berlin/New York 1994. 256–264. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; 10.1) Cummy, Justin Daniel. „Avrom Sutskever“. In: Dictionary of Literary Biography. Vol. 333. Writers in Yiddish. Edited by Joseph Sherman. Detroit/New York/San Francisco/New Haven/Waterville/ London/Munich 2007. S. 303–313. Dan, Joseph. Jewish Mysticism and Jewish Ethics. Seattle/London 1986. Darian, Veronika. „Erlesene Bilder – Repräsentationen in Zeiten souveräner Macht“. In: Zenck, Martin/Becker, Tim/Woebs, Raphael (Hg.). Gewaltdarstellung und Darstellungsgewalt in den Künsten und Medien. Berlin 2007. S. 171–182. Dauber, Jeremy. „Nahman of Bratslav (Nakhmen Bratslaver)“. In: Dictionary of Literary Biography. Vol. 333. Writers in Yiddish. Edited by Joseph Sherman. Detroit/NewYork/San Francisco/New Haven/Waterville/London /Munich 2007. 203–210. De Vries, S. Ph. Jüdische Riten und Symbole. Reinbek bei Hamburg 102006. Dekiert, Marcus. Rembrandt. Die Opferung Isaaks. München 2004. Demisch, Heinz. Vision und Mythos in der modernen Kunst. Stuttgart 1959. Der jüdische Witz. Lexikon des Humors. Herausgegeben und eingeleitet von Salcia Landmann. Olten/ Freiburg i. B. 1960. [Landmann 1960] Der yidisher khurbn in Ukrayne: Materyaln und dokumentn. Redagirt un baarbet fun Leon Khazanovitsh. Berlin 1920. Derrida, Jacques. Grammatologie. Frankfurt a. M. 1974. Derrida, Jacques. „Weiße Mythologie“. In: Ders. Randgänge der Philosophie. Hrsg. von Peter Engelmann. Wien 1988. S. 205–258. Derrida, Jacques. „Den Tod geben“. In: Haverkamp, Anselm (Hg.). Derrida – Benjamin, Gewalt und Gerechtigkeit. Frankfurt am Main 1993. S. 331–445. Derrida, Jacques. Dissemination. Wien 1995. Derrida, Jacques. „Die Sprache der Anderen oder Die Prothese der Einsprachigkeit“. In: Haverkamp, Anselm (Hg.). Die Sprache der Anderen. Frankfurt a. M. 1997. S. 15–41 . [Derrida 1997a] Derrida, Jacques. Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen. München 1997. (Aus dem Französischen von Andreas Knop und Michael Wetzel) [Derrida 1997b] Derrida, Jacques. Dem Archiv verschrieben. Berlin 1997. [Derrida 1997c] Derrida, Jacques. Die Einsprachigkeit des Anderen oder die ursprüngliche Prothese. München 2003. (Aus dem Französischen von Michael Wetzel) Die Schrift. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig. Stuttgart 1992. Dinse, Helmut/Liptzin, Sol. Einführung in die jiddische Literatur. Stuttgart 1978. Dmitrieva, Marina. „Dekorationen des Augenblicks im Massentheater der Revolution. Petrograd, Kiew und Witebsk 1918–1920“. In: Bartetzky, Arnold/Dmitrieva, Marina/Troebst, Stefan (Hg.). Neue Staaten – neue Bilder? Visuelle Kultur im Dienst staatlicher Selbstdarstellung in Zentralund Osteuropa seit 1918. Köln/Weimar/Wien 2005. S. 117–131. (= Visuelle Geschichtskultur; 1) Dmitrieva, Marina. „Kunstdiskurs in der jüdischen Presse der Zwischenkriegszeit in Warschau, Kiew und Berlin“. In: Marten-Finnis, Susanne/Winkler, Markus (Hg.). Die jüdische Presse im euro­

366  | Literaturverzeichnis päischen Kontext 1686–1990. Bremen 2006. S. 247–265. (= Presse und Geschichte – Neue Beiträge; 21). Dmitrieva, Marina. „From Ethnography to Aesthetics. Theoretical Inheritance of Kultur-Lige and Jewish Artistic Discourse.“ In: Kultur-Lige. Artistic Avant-Garde of the 1910s and the 1920s. Kiev 2007. S. 48–61. Dmitrieva, Marina. „Spuren des Transits. Jüdische Künstler aus Osteuropa in Berlin“. Osteuropa 58. 8–10 (2008). S. 233–246. Dobrianowa-Bauer, Snejanka. „Als Chagall das Fliegen lernte“. In: Als Chagall das Fliegen lernte. Von der Ikone zur Avantgarde. Frankfurt a. M. 2004. S. 100–111. Dobrushin, Yekhezkl. Dray dikhter. In: Oyfgang 1. 1919. S. 71–97. Dobzynski, Charles. „Peretz Markish au carrefour da la modernité“. In: Markish, Peretz. Le monceau et autres poèmes. Paris 2000. S. 9–23. (Aus dem Jiddischen übersetzt von Charles Dobzynski) Dohrn, Verena. Reise nach Galizien. Grenzlandschaften des alten Europa. Frankfurt a. M. 1993. Döring, Thomas/Gatenbröcker, Silke/Nahrwald, Regine (Hg.). Ansichten vom Ich. 100 ausgewählte Blätter der Sammlung „Künstler sehen sich selbst – Graphische Selbstbildnisse des 20. Jahrhundert“ im Kupferstichkabinett des Herzog Anton Ulrich-Museums. Braunschweig 1997. „Dos pekele“. Ost und West 8–9. 1907. S. 563–564. Dostoevskaja, Anna Grigor’evna. Vospominanija. Moskva 1971. Dostoevskij, Fedor M. Polnoe sobranie sočinenij v 30-i tomach. Bd. 6. Prestuplenie i nakazanie. Leningrad 1973. Dostoevskij, Fedor M. Polnoe sobranie sočinenij v 30-i tomach. Bd. 14 und 15. Brat’ja Karamazovy. Leningrad 1976. Dresden, Sam. Holocaust und Literatur. Frankfurt a. M. 1997. Dubnov, Simon. Kniga žizni. Vospominanija i razmyšlenija. Materialy dlja istorii moego vremeni. 3 Bde. Hg. von Viktor L. Kel’ner. Sankt-Peterburg 1998. Dubnow, Simon. Weltgeschichte des jüdischen Volkes. 10 Bde. Berlin 1929. [Dubnov 1929] Dubnow, Simon. Geschichte des Chassidismus. In zwei Bänden. Berlin 1931. [Dubnov 1931] Dubnow, Simon. Buch des Lebens. Erinnerungen und Gedanken. Materialien zur Geschichte meiner Zeit. Bd. 3: 1922–1933. Herausgegeben von Verena Dohrn. Aus dem Russischen von Vera Bischitzky. Leipzig 2005. [Dubnov 2005] Dutli, Ralph. Mandelstam. Meine Zeit, mein Tier. Eine Biographie. Zürich 22003. Eagleton, Terry. Einführung in die Literaturtheorie. Stuttgart 1988. (= Sammlung Metzler; 246) Eagleton, Terry. Was ist Kultur? Eine Einführung. München 2001. Eberlein, Johann Konrad. „Inhalt und Gehalt. Die ikonographisch-ikonologische Methode“. In: Belting, Hans (Hg.). Kunstgeschichte. Eine Einführung. Berlin 51996. S. 169–191. Eco, Umberto. Das offene Kunstwerk. Frankfurt a. M. 1987. Efross, Abram/Tugendhold, Jakov. Die Kunst Marc Chagalls. Potsdam 1921. (russ.: Iskusstvo Marka Šagala. Moskva 1918) [Ėfros/Tugendchol’d 1921] Ehrlich, Ernst Ludwig. „Moses Maimonides“. In: Ders. Judentum verstehen. Frankfurt a. M. 2002. S. 52–71. Ehrmann, Daniel. Sagen und Legenden aus Talmud und Midrasch. Eine Sammlung von Sagen, Legenden, Allegorien und Fabeln. Wiesbaden 2004.

Literaturverzeichnis  | 367 Encyclopaedia Judaica. 22 Bde. Jerusalem ²2006. Ėjchenbaum, Boris [1917]. „Kak sdelana Šinel’ Gogolja / Wie Gogol’s Mantel gemacht ist“. In: Striedter, Jurij/Stempel, Wolf-Dieter/Paulmann, Inge (Hg.). Texte der russischen Formalisten. Bd. 1. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München 1969. 123–159. Elagin, Jurij B. Vsevolod Mejerchol’d. Temnyj genij. Moskva 1998. Elkins, James. On Pictures and the Words That Fail Them. Cambridge 1998. Elkins, James. The Domain of Images. Ithaca/London 1999. Ėrenburg, Il’ja [1966]. Ljudi, gody, žizn’. Vospominanija v trech tomach. Moskva 1990. (dt. Menschen, Jahre, Leben. München 1962/1965) Erik, Maks. Di geshikhte fun der yidisher literatur fun di eltste tsaytn biz der haskole-tkufe. Nyu-York 1928. Estraikh, Gennady. „The Kharkiv Yiddish Literary World, 1920s-Mid–1930s“. East European Jewish affairs 32. 2002. S. 70–88. Estraikh, Gennady. „The Vilna Yiddishist Quest for Modernity“. In: Dmitrieva, Marina/Petersen, Heidemarie. Jüdische Kultur(en) im Neuen Europa. Wilna 1918–1930. Wiesbaden 2004. S. 101– 116. (= Jüdische Kultur. Studien zur Geistesgeschichte, Religion und Literatur; 13) Estraikh, Gennady. In Harness. Yiddish Writers’ Romance with Communism. Syracuse, NY 2005. Estraikh, Gennady. „Nokhem Shtif“. In: Hundert, Gershon D. (Hg.). The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. 2 Bde. New Haven/London 2008. Bd. 2. S. 1740–1741. Estraikh, Gennady. „Shtrom“. In: Hundert, Gershon D. (Hg.). The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. 2 Bde. New Haven/London 2008. Bd. 2. S. 1741–1742. Estraikh, Gennady. „The Kultur-Lige“. In: Makaryk, Irena R./Tkacz, Virlana (Hg.). Modernism in Kyiv: Jubilant Experimentation. Toronto 2010. S. 197–217. Ėtkind, Mark G. Natan Al’tman. Moskva 1971. Fedorov-Davydov, Aleksej A. Michail Aleksandrovič Vrubel’. Moskva 1968. Feilchenfeldt, Rahel E./Brandis, Marus. Paul Cassirer Verlag. Berlin 1898–1933. Eine kommentierte Bibliographie. München 22005. S. 101–105. Fel’dman, Oleg M. (Hg.). „K istorii Studii V.Ė. Mejerchol’da. 1913/1914 i 1914/1915. Svod dokumentov“. In: Ders. Mejerchol’dovskij sbornik, vypusk vtoroj. Mejerchol’d i drugie. Dokumenty i materialy. Moskva 2000. S. 352–444. Fishman, David E. Embers Plucked from the Fire: The Rescue of Jewish Cultural Treasures in Vilna/ Shaytlekh aroysgerisn fun fayer: dos oprateven yidishe kultur-oytsres in Vilne. New York 1996. Fishman, Joshua A. „Czernowitz Conference“. In: Hundert, Gershon D. (Hg.). The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. 2 Bde. New Haven/London 2008. Bd. 1. S. 384–385. Flaker, Aleksandar. Glossarium der russischen Avantgarde. Graz 1980. Fleg, Edmond. Jesus, raconté par le Juif errant. Paris 1933. Flegon, A. Za predelami russkich slovarej. London 1973. Florenskij, Pavel. „Analyse der Räumlichkeit und der Zeit in Werken der bildenden Kunst“. In: Ders. Raum und Zeit. Berlin 1997. S. 97–248. (Herausgegeben und übersetzt von Olga Radetzkaja und Ulrich Werner) Florenskij, Pavel. „Obratnaja perspektiva“. In: Ders. Sočinenija v 4-ch tomach. T. 3 (1). Moskva 1999. S. 46–103.

368  | Literaturverzeichnis Flusser, Vilém. Krise der Linearität. [Vortrag im Kunstmuseum Bern, 20. März 1988]. Bern 1988. Foer, Jonathan Safran. Everything is illuminated. New York 2003. Foucault, Michel. Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a. M. 1996. (Frz. Les mots et les choses, 1966) Frankel, Jonathan [1981]. Prophecy and Politics: Socialism, Nationalism, and the Russian Jews, 1862– 1917. Cambridge 22003. Frankenstein, Ruben. „Marc Chagall als jiddischer Dichter“. In: Freiburger Universitätsblätter 2006, 172. S. 109–132. Freylekh, Yud. Yoysef Opatoshus shafung-veg. Toronto 1951. Fried, Erich. Gründe. Gedichte. Berlin 132005. Friedberg, Maurice. „Yiddish Folklore Motifs in Isaac Babel’s Konarmija“. In: Terras, Victor (Hg.). American Contributions to the 8th International Congress of Slavists in Zagreb. Sept. 3–9, 1978. Columbus/Oh. 1978. S. 192–203. Frieden, Ken. Classic Yiddish Fiction. Abramovitsh, Sholem Aleichem, & Peretz. New York 1995. Friedman, Mira. Icon Painting and Russian Popular Art as Sources of some Works by Chagall. Journal of Jewish Art 5. 1978. S. 94–107. Friedman, Mira. „Metamorphoses in Chagall – The Creation of Man“. In: Sleptzoff, Lola. Norms and variations in Art. Essays in honor of Moshe Barasch. Jerusalem 1983. S. 260–276. Friedman, Mira. Prophet Elijah’s Ascension in the Works of Chagall. In: Journal of Jewish Art 10 (1984). S. 102–113. Frühwald, Wolfgang. Wie viel Wissen brauchen wir? Berlin 2007. Fuks, Khayem-Leyb. „Yehoyesh“. In: Leksikon fun der nayer yidisher literatur. Bd. 4. Nyu-York 1961. S. 201–208. Fuks, Leo/Fuks, Renate. „Yiddish Publishing Activities in the Weimar Republic 1920–1933“. In: LBIYearbook 33. 1988. S. 417–434. Gadamer, Hans-Georg. „Bildkunst und Wortkunst“. In: Gottfried Boehm (Hg.). Was ist ein Bild? München 1994. S. 190–104. Gal-Ed, Efrat. Das Buch der jüdischen Jahresfeste. Frankfurt a. M./Leipzig 2001. Gal-Ed, Efrat. „Nachwort/Nokhvort“. In: Manger, Itsik, Dunkelgold. Gedichte jiddisch und deutsch. Frankfurt a. M. 2004. S. 309–329. Galley, Susanne. Der Gerechte ist das Fundament der Welt. Jüdische Heiligenlegenden aus dem Umfeld des Chassidismus. Wiesbaden 2003. (= Jüdische Kultur. Studien zur Geistesgeschichte, Religion und Literatur; 11) Gamer, Elisabeth-Christine. „Überlegungen zur Interikonizität. Malewitsch, Duchamp, Warhol und die Mona Lisa“. In: Karin Herrmann, Sandra Hübenthal (Hg.). Intertextualität. Perspektiven auf ein interdisziplinäres Arbeitsfeld. Aachen 2007. S. 127–148. Gassen, Richard W./Holeczek, Bernhard (Hg.). Apokalypse. Ein Prinzip Hoffnung? Ernst Bloch zum 100. Geburtstag. Heidelberg 1985. Gelshorn, Julia. „Interikonizität“. Kritische Berichte (Mythen der Kunstwissenschaft) 35 (3). 2007. S. 53–58. Gemoll, Wilhelm. Griechisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch. München 91991. Genette, Gérard. Palimpseste. Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt a. M. 21996. George, Waldemar. Larionov. Paris 1966.

Literaturverzeichnis  | 369 Gerigk, Horst-Jürgen. „Nikolaj Gogol’. Mërtvye duši – Die toten Seelen“. In: Zelinsky, Bodo (Hg.). Der russische Roman. Köln/Weimar/Wien 2007. S. 117–138. Gesenius, Wilhelm. Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch. Berlin/Göttingen/Heidelberg 17 1962. Ginzberg, Louis. The Legends of the Jews. Philadelphia 1954–1968. 6 Bde. Gladkov, Aleksandr K. Mejerchol’d v dvuch tomach. Moskva 1990. Glau, Angelika. Jüdisches Selbstverständnis im Wandel. Jiddische Literatur zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Wiesbaden 1999. Gofštejn, David. Izbrannye stichotvorenija. Ierusalim 1997. Gogol, Nikolai. Die toten Seelen. Ein Poem. Leipzig 2009. (Aus dem Russischen übersetzt von Wolfgang Kasack) Gogol’, Nikolaj V. Polnoe sobranie sočinenij. V 14-ch tomach. Moskva 1937–1952. Gogol’, Nikolaj V. Betrachtungen über die Göttliche Liturgie. Würzburg 1989. Gombrich, Ernst H. Meditationen über ein Steckenpferd. Von den Wurzeln und Grenzen der Kunst. Frankfurt a. M. 1978. Gontcharova. Larionov. Paris 1963. (Ausst.kat.) Goodman Tumarkin, Susan (Hg.). The Emergence of Jewish Artists in Nineteenth-Century Europe. New York 2001. Goodman-Thau, Eveline. Erbe und Erneuerung. Kulturphilosophie aus den Quellen des Judentums. Wien 2004. Gordeev, A.A. Istorija kazačestva. Moskva 2006. Gowing, Lawrence. Die Gemäldesammlung des Louvre. Köln 1988. Goya. Das druckgraphische Werk. Hrsg. von Sánchez, Pérez E./Gallégo, Julián. München/New York 1995. Graphik in Holland. Esaias und Jan van de Velde, Rembrandt, Ostade und ihr Kreis. Radierung, ­Kupferstich, Schabkunst. Staatliche Graphische Sammlung München. Hrsg. v. K. Renger u. D. Schmidt. München 1982. Greenbaum, Avraham. „Newspapers and Periodicals“. Hundert, Gershon D. (Hg.). The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. 2 Bde. New Haven/London 2008. Bd. 2. S. 1260–1268. Greiner, Bernhard/Janowski, Bernd/Lichtenberger, Hermann (Hg.) Opfere deinen Sohn! Zur Bindung Abrahams in Judentum, Christentum und Islam. Tübingen 2007. Grimminger, Rolf. „Terror in der Kunst. Über Nationalsozialismus und Moderne“. In: 25 Jahre für eine neue Geisteswissenschaft. Hrsg. von der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld. Bielefeld 1998. 49–63. (Erstabdruck in: Merkur 52(1). 1998. S. 116–127) Grimminger, Rolf. „Der Tod des Aristoteles. Über das Tragische und die Ästhetik der Gewalt“. In: Ders. (Hg.). Kunst – Macht – Gewalt. Der ästhetische Ort der Aggressivität. München 2000. S. 9–23. Groys, Boris. Das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. München/Wien 1992. Groys, Boris. „Who Killed the Dead Souls“. In: Spieker, Sven (Hg.). Gogol. Exploring Absence. Negativity in 19th-century Russian literature. Bloomington/Ind. 1999. S. 139–146. Grözinger, Karl E. „Jüdische Mystik. Eine Einführung in die Geisteswelt des Chassidismus“. In: Ev. Akad. Baden (Hrsg.). Der Chassidismus. Leben zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Karlsruhe 1996. S. 26–51.

370  | Literaturverzeichnis Grözinger, Karl E. Die Geschichten vom Ba’al Schem Tov. Schivche ha-Bescht. Teil II. Jiddisch mit deutscher Übersetzung. Wiesbaden 1997. (= Jüdische Kultur. Studien zur Geistesgeschichte, Religion und Literatur; 2) Grözinger, Karl. E. „Sprache und Idenität – Das Hebräische und die Juden“. In: Ders. (Hg.). Sprache und Identität im Judentum. Wiesbaden 1998. S. 75–90. Grübel, Rainer. „Gabe und Opfer. Axiologische Perspektiven in der russischen Kultur der Moderne“. In: Grübel, Rainer/Kohler, Gun-Britt. Gabe und Opfer in der russischen Literatur und Kultur der Moderne. Oldenburg 2006. S. 1–82. Grunwald, M. „Jüdische Volkskunst“. In: Das Zelt 1924 (2). S. 51–54. Gruschka, Roland. Übersetzungswissenschaftliche Aspekte von Mendel Lefin Satanowers Bibelübersetzungen. Hamburg 2007. (jidische schtudies, 14) Günther, Hans. Das Groteske bei Gogol’. Formen und Funktionen. München 1968. Guercio, Antonio del. Russische Avantgarde von Marc Chagall bis Kasimir Malewitsch. Herrsching 1988. Guerman, Mikhail/Forestier, Sylvie. Marc Chagall. Leben und Werk. London 2004. Güse, Ernst-Gerhard. „Die Radierungen zu Mein Leben“. In: Ders. (Hg.) Marc Chagall. Druckgraphik. München 1985. S. 11–35. Güse, Ernst-Gerhard. „Einzelblätter – Lithographien, Holzschnitte und Radierungen aus den Jahren 1922–1945“. In: Ders. (Hg.). Marc Chagall. Druckgraphik. Stuttgart 1985. S. 229–233. Guri, Yoysef. Oyfn shpits tsung. 500 yidishe shprikhverter. Yerusholayim 2006. Gutmann, Joseph. Buchmalerei in hebräischen Handschriften. München 1978. Haftmann, Werner. Marc Chagall. Köln 1988. Hansen-Löve, Aage A. Der russische Formalismus. Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung. Wien 1978. Hansen-Löve, Aage A. „Intermedialität und Intertextualität. Probleme der Korrelation von Wort- und Bildkunst – Am Beispiel der russischen Moderne“. In: Schmid, Wolf/Stempel, Wolf-Dieter. Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur Intertextualität. Wien 1982. S. 291–361. (= Wiener Slawistischer Almanach; Sonderband 11) Hansen-Löve, Aage A. Der russische Symbolismus. System und Entfaltung der poetischen Motive. 1. Band: Diabolischer Symbolismus. Wien 1989. (= Veröffentlichung der Kommission für Literaturwissenschaft; 7) Hansen-Löve, Aage A. Konzepte des Nichts im Kunstdenken der russischen Dichter des Absurden. Poetica 26. 1994. S. 308–373. Hansen-Löve, Aage A. „Intertextualität“. In: Recklefs, Uflert (Hg.). Fischer Lexikon Literatur. 3 Bde. Frankfurt a. M. 1996. S. 794–809. Hansen-Löve, Aage A. „,Gogol’’. Zur Poetik der Null- und Leerstelle“. Wiener Slawistischer Almanach 39. 1997. S. 183–303. Hansen-Löve, Aage. „Vom Pinsel zur Feder und zurück“. In: Malevič, Kazimir. Gott ist nicht gestürzt! Schriften zu Kunst, Kirche, Fabrik. Herausgegeben und kommentiert von Aage A. Hansen-Löve. München/Wien 2004. S. 7–40. Hansen-Löve, Aage. „Wie ‚faktura‘ zeigt. Einige Erinnerungen an einen Begriffsmythos der russischen Avantgarde“. In: Henning, Anke/Obermayr, Brigitte/Witte, Georg (Hg.). F(r)aktur. Gestörte

Literaturverzeichnis  | 371 ästhetische Präsenz in Avantgarde und Spätavantgarde. Wien/München 2006. S. 17–96. (= Wiener Slawistischer Almanach; Sonderband 63. Unterreihe Intermedialität Bd. 3) Hansen-Löve, Aage A. „Zum medialen Ort des Verbalen – mit Rückblicken auf russische Medienlandschaften“. In: Paech, Joachim/Schröter, Jens (Hg.). Intermedialität analog/digital. Theorien  – Methoden – Analysen. München 2008. S. 155–179. Harms, Wolfgang (Hg.). Text und Bild, Bild und Text. DFG-Symposion. Stuttgart 1990. Harshav, Benjamin. The Meaning of Yiddish. Berkeley 1990. Harshav, Benjamin. „The Role of Language in Modern Art: On Texts and Subtexts in Chagall’s ­Paintings“. Modernism/Modernity 1 (2). 1992. S. 51–87. [Harshav 1992] Harshav, Benjamin. „Chagall. Postmodernism and Fictional Worlds in Painting“. In: Ders. Marc ­Chagall and the Jewish Theater. New York 1992. S. 15–204. [Harshav 1992a] Harshav, Benjamin. Hebräisch. Sprache in Zeiten der Revolution. Frankfurt am Main 1995. (Aus dem Englischen übersetzt von Christian Wiese) Harshav, Benjamin. Marc Chagall on Art and Culture. Stanford 2003. Harshav, Benjamin. Marc Chagall and His Times. A documentary narrative. Stanford 2004. Harshav, Benjamin. Marc Chagall and the Lost Jewish World. The Nature of his Art and Iconography. New York 2006. [Harshav 2006a] Harshav, Benjamin. „Die Wandgemälde Marc Chagalls für das Jüdische Kammertheater in Moskau“. In: Benesch, Evelyn/Brugger, Ingried (Hg.). Marc Chagall. Meisterwerke 1908–1922. Wien 2006. S. 108–153. [Harshav 2006b] Harshav, Benjamin. The Moscow Yiddish Theater. Art on Stage in the Time of Revolution. New Haven/London 2008. Haumann, Heiko. Geschichte der Ostjuden. München 51999. Haustein, Lydia. Global Icons. Globale Bildinszenierung und kulturelle Identität. Göttingen 2008. Haverkamp, Anselm. „Zwischen den Sprachen. Einleitung“. In: Ders (Hg.). Die Sprache der Anderen. Frankfurt a. M. 1997. S. 7–12. Hayoun, Maurice-Ruben. Geschichte der jüdischen Philosophie. Darmstadt 2004. Hazan-Brunet, Natalie (Hg.) L’avant-garde et le livre yiddish (1914–1939). Paris 2009. Ausstellungskatalog. Heftrich, Urs. Gogol’s Schuld und Sühne. Versuch einer Deutung des Romans Die toten Seelen. Stuttgart 2004. Heimann-Jelinek, Felicitas. „Zum Stereotyp des biblischen Bilderverbots“. In: Golinski, Hans Günter/ Hiekisch-Picard, Sepp (Hg.). Das Recht des Bildes. Heidelberg 2004. 53–64. Heinz-Mohr, Gerd. Lexikon der Symbole. Bilder und Zeichen der christlichen Kunst. München 1998. Herlth, Jens. „Alexander Agin. Nikolaj Gogol, Die toten Seelen“. In: Zelinsky, Bodo (Hg.). Russische Buchillustration. Köln/Weimar/Wien 2009. S. 142–152. (= Literarische Bilderwelten. Internationale Buchgraphik in Europa und Übersee; 9) Herrmann, Karin/Hübenthal, Sandra (Hg.). Intertextualität. Perspektiven auf ein interdisziplinäres Arbeitsfeld. Aachen 2007. Heyd, Milly. „Selbstporträts. Zur Frage der jüdischen Identität“. In: Golinski, Hans Günter/HiekischPicard, Sepp (Hg.). Das Recht des Bildes. Jüdische Perspektiven in der modernen Kunst. Heidelberg 2003. S. 86–99. Hille, Karoline. Marc Chagall und das deutsche Publikum. Köln/Weimar/Wien 2005.

372  | Literaturverzeichnis Hirner, Réné. „Emigration und Identität“. In: Chagall, Marc. Illustrationen zu Nikolai Gogols Die toten Seelen (5. Juni bis 15. August. Städtische Galerie Villingen-Schwetzingen). Villingen-Schwetzingen1999. S. 9–21. Hoffman, Matthew. From Rebel to Rabbi. Reclaiming Jesus and the Making of Modern Jewish ­Culture. Stanford 2007. Hoffman, Stefani/Mendelsohn, Ezra. The Revolution of 1905 and Russia’s Jews. Philadelphia 2008. Hofshteyn, Dovid/Shagal, Mark. Troyer. Kiev 1922. Hofshteyn, Dovid. Lider un poemes. 2 Bde. Tel-Aviv 1977. Hofštejn, Dovid/Sluckij, Valerij. Izbrannye stichotvorenija. Ierusalim 1997. Holländer, Hans. „Literatur, Malerei und Graphik. Wechselwirkungen, Funktionen und Konkurrenzen“. In: Zima, Peter V. (Hg.). Literatur intermedial. Musik – Malerei – Photographie – Film. Darmstadt 1995. S. 129–170. Holthusen, J. Das Erzählen bei Isaak Babel’ und bei Boris Pil’njak. In: Ders. Rußland in Vers und Prosa. Vorträge zur russischen Literatur des 19. u. 20. Jahrhunderts. München 1973. S. 112–138. (= Slavistische Beiträge; 69) Horowitz, Sara R. „The Rhetoric of Embodied Memory in ,The City of Slaughter‘“. Prooftexts 25 (1, 2). 2005. S. 73–85. Horstkotte, Silke/Leonhard, Karin (Hg.): Lesen ist wie Sehen. Intermediale Zitate zwischen Bild und Text. Köln/Weimar/Wien 2006. Hruzman, Zinovii. „Lev Kvitko“. In: Slovo ï čas 1.1990. S. 43–46. Hülsen-Esch, Andrea von/Aptroot, Marion (Hg.). Jüdische Illustratoren aus Osteuropa in Berlin und Paris. Düsseldorf 2008. (In Zusammenarbeit mit Inna Goudz, Kathrin Beßen und Stephanie ­Winter) Hunterberg, Max. The crucified Jew. Who crucified Jesus? New York 1927. Iggers, Wilma. „Tschechoslowakei/Tschechien. Das verlorene Paradies“. In: Mythen der Nationen. 1945  – Arena der Erinnerungen. Herausgegeben von Monika Flacke. Deutsches Historisches Museum. 2 Bde. Main 2004. S. 773–798. Ingarden, Roman. Untersuchungen zur Ontologie der Kunst. Tübingen 1962. Ingarden, Roman. Das literarische Kunstwerk. Tübingen 41972. Ingold, Felix Philipp. Der große Bruch. Russland im Epochenjahr 1913. Kultur – Gesellschaft – Politik. München 2000. Ingold, Felix Philipp. „Der Autor im Bild“. In: Ders. Im Namen des Autors. Arbeiten für die Kunst und Literatur. München 2004. S. 243–263. Iser, Wolfgang [1976]. Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München 1994. Ivanov, Vladislav V. GOSET. Politika i iskusstvo 1919–1928. Moskva 2007. Jachnow, Helmut. „Die sowjetischen Erfahrungen und Modelle der Alphabetisierung“. In: Günter, Hartmut/Ludwig, Otto (Hg.). Schrift und Schriftlichkeit/Writing and its Use. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung/An Interdisciplinary Handbook of International Research. 2 Bde. New York 1994. 2. Bd. S. 803–813. Jaeger, Achim. Ein jüdischer Artusritter. Studien zum jüdisch-deutschen ‚Widuwilt‘ (‚Artushof‘) und zum ‚Wigalois‘ des Wirnt von Gravenberc. Tübingen 2000. (= Conditio Judaica; 32)

Literaturverzeichnis  | 373 Jakobson, Roman. „On Linguistic Aspects of Translation“. In: Ders. Selected Writings. Bd. 2. Word and Language. The Hague/Paris 1971. S. 260–266. [Jakobson 1971a] Jakobson, Roman. „On the Relation between Visual and Auditory Signs“. In: Ders. Selected Writings. Bd. 2. Word and Language. The Hague/Paris 1971. 338–344. [Jakobson 1971b] Jakobson, Roman. Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Frankfurt a. M. 1979. Jendrusch, Andrej. Spiegelglas auf Stein: Jiddische Literatur unter Stalin: Berlin 2001. Jendrusch, Andrej (Hg.). Unter Emigranten. Jiddische Literatur aus Berlin. Berlin 2003. Jessenin, Sergej. Gedichte russisch-deutsch. Leipzig 1988. [Esenin 1988] Jilge, Wilfried. „Zwischen Integration und Diskriminierung (1855–1917)“. In: Kotowski, Elke-Vera (Hg.). Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa. Darmstadt 2001. S. 186–195. [Jilge 2001a] Jilge, Wilfried. „Sowjetunion und Postsozialismus. Von der Februarrevolution bis zum Tod Stalins (1917–1939)“. In: Kotowski, Elke-Vera (Hg.). Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa. Darmstadt 2001. S. 195–206. [Jilge 2001b] Jüdische Miniaturen aus sechs Jahrhunderten. Einführungstext und Bilderläuterungen von Paul Johannes Müller. Wiesbaden 1988. Jürgens-Kirchhoff, Annegret. Schreckensbilder. Krieg und Kunst im 20. Jahrhundert. Berlin 1993. Junkerjürgen, Ralf. Haarfarben. Eine Kulturgeschichte in Europa seit der Antike. Köln 2009. Kafitz, Viviane. Sprachartistische Lyrik. Gemälde und Skulpturengedichte des russischen Symbolismus. Köln/Weimar/Wien 2008. Kamenski, Alexander. Chagall. Die russischen Jahre 1907–1922. Stuttgart 1989. (Aus dem Franzö­ sischen von Bettina Witsch-Aldor) Kammer, Gerlinde/Schulzki, Ingo (Hg.). Das Motiv der Gewalt in Isaak Babel’s Konarmija“. In: Mannheimer Beiträge zur slavischen Philologie. Mannheim 1978. S. 111–141. Kampf, Avram. „In Quest of the Jewish Style in the Era of the Russian Revolution“. Journal of Jewish art 5. 1978. S. 48–75. Kampf, Avram. „The Holocaust“. In: Ders. From Chagall to Kitaj. New York u. a. 1990. Jewish Experience in 20th Century Art. S. 83–114. Kampf, Avram. From Chagall to Kitaj. Jewish Experience in 20th Century Art. New York/ Westport 1990. Kappeler, Andreas. Kleine Geschichte der Ukraine. München 1994. Kasack, Wolfgang. Christus in der russischen Literatur. Ein Gang durch ihre Geschichte von den Anfängen bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2000. Katz, Dovid. Words on Fire. The Unfinished Story of Yiddish. New York 2004. Kazovskij, Gilel I. „Evrejskoe iskusstvo v Rossii.1900–1948. Ėtapy istorii“. In: Zimenko, Vladislav Mstislavovič/Polevoj, Vladimir Mihajlovič/Butkevič, O.V. (red.). Sovetskoe iskusstvoznanie 27. Sbornik statej I publikacij. Moskva 1991. S. 228–254. Kazovsky, Hillel. Masterpieces of Jewish Art. Artists from Vitebsk. Yehuda Pen and his pupils. Moscow 1992 / Kazovskij, Gilel. Šedevry evrejskogo iskusstva. Chudožniki Vitebska. Ieguda Pėn i ego učeniki. Moskva 1992. (englisch-russische Ausgabe) Kazovsky, Hillel. „Jewish Art between yidishkayt and Civilization“. In: Estraikh, Gennady/Krutikov, Mikhail (Hg.). The Shtetl. Image and Reality. Papers of the Second Mendel Friedman Interna­ tional Conference on Yiddish. Oxford 2000. S. 80–90. (= Studies in Yiddish; 2) Kazovsky, Hillel. The Artists of the Kultur-Lige/Chudožniki Kul’tur-Ligi. Jerusalem/Moskva 2003.

374  | Literaturverzeichnis Kazovsky, Hillel (ed.), Kul’tur-Liga. Chudožnij Avangard 1910–1920-ch rokiv/Kultur-Lige. Artistic Avant-Garde of the 1910s and the 1920s. Kyiv 2007. Kazovsky, Hillel (Grigory). „C’était l’époque où l’on a commencé à illustrer les livres juifs“. In: Futur antérieur. L’avant-garde et le livre yiddish (1914–1939). Herausgegeben von Natalie Hazan-Brunet. Paris 2009. S. 32–51. Keil, Rolf-Dietrich. Puschkin: Ein Dichterleben. Biographie. Frankfurt a. M. 2001. Kenig, Leo. „Mark Shagal un Sholem-Aleykhem. Etyud.“ In: Ders. Shrayber un verk. Etyudn un shtrikhn. Vilne 1929. S. 27–31. Kenig, Leo. „Ribak un di yidishe kunst“. In: Yisokher Ber Ribak. Paris 1937. S. 47–51. Kertész, Imre. „Die Unvergänglichkeit der Lager“. In: Ders. Die exilierte Sprache. Essays und Reden. Frankfurt a. M. 2003. S. 42–52. Kiel, Mark. „Vox Populi, Vox Dei. The Centrality of Peretz in Jewish Fokloristics“. Polin 7. 1992. S. 88–120. Kindlers Lexikon der Kunst. 5 Bde. Berlin 1981. Kindlers Malerei Lexikon. 6 Bde. Zürich 1965. [KML 1965] Kirshenblatt-Gimblett, Barbara/Karp, Jonathan (Hg.). „Introduction“. In: Dies. The Art of Being Jewish in Modern Times. Philadelphia/Pennsylvania 2008. S. 1–19. Klarsfeld, Serge (Hg.). The Auschwitz Album. Lili Jacob’s Album. New York o. J. Klünner, Lothar. „Nachwort“. In: Chagall, Marc. Mein Leben. Stuttgart 1950. Koester-Thoma, Zoja (Hg.). Russische Umgangssprache. Phonetik, Morphologie, Syntax, Wortbildung, Wortstellung, Lexik, Nomination. Blankenfelde b. Berlin 1995. Koester-Thoma, Soia. Die Lexik der russischen Umgangssprache. Forschungsgeschichte und Darstellung. Blankenfelde b. Berlin 1996. Kolatch, Alfred J. Jüdische Welt verstehen. Sechshundert Fragen und Antworten. Wiesbaden 2005. Koller, Sabine. Das Gedächtnis des Theaters. Stanislavskij, Mejerchol’d und das russische Gegenwartstheater Lev Dodins und Anatolij Vasil’evs. Tübingen 2005. (= Mainzer Forschungen zu Drama und Theater; Bd. 31) Koller, Sabine. „Wenn aus Sprachbildern sprechende Bilder werden – Marc Chagall, ein jiddischer Maler“. In: Blick in die Wissenschaft. Forschungsmagazin der Universität Regensburg 19. Regensburg 2007. S. 41–48. Koller, Sabine. „Nachwort“. In: Opatoshu, Joseph. Ein Tag in Regensburg. Passau 2008. S. 103–117. Koller, Sabine. „Civil servants in a circle – Chagall’s ,poshlust‘ reading the Dead Souls“. In: Birzer, S./ Finkelstein, M./Mendoza, I. (Hrsg.). Proceedings of the Second International „Perspectives on Slavistics“ Conference 2006 (Universität Regensburg, September 21–24). München 2009. S. 260– 269. (= Sammelbände – Sborniki, herausgegeben von P. Rehder und I. Smirnov; Bd. 36) Koller, Sabine. „Das Leiden im Angesicht der Kinder – Marc Chagall illustriert Dovid Hofshteyns Gedichtzyklus ,Troyer‘ (1922)“. Wiener Slawistischer Almanach 64. 2009. S. 34–73. Koller, Sabine. „,The Air Outside is Bloody‘: Leyb Kvitko and His Pogrom Cycle 1919“. In: Estraikh, Gennady/Krutikov, Mikhail (Hg.). Yiddish in Weimar Berlin. New York 2010. S. 198–224. Koller, Sabine. „YIVO, New York. Die untergegangene Welt des Ostjudentums“. In: Schmundt, ­Hilmar/Vec, Miloš/Westphal, Hildegard (Hrsg.). Mekkas der Moderne. Pilgerstätten der Wissensgesellschaft. Köln/Weimar/Wien 2010. S. 178–182. Kornfeld, Eberhard W. Verzeichnis der Kupferstiche, Radierungen und Holzschnitte von Marc ­Chagall. Bd. 1. Werke 1922–1966. Bern 1970.

Literaturverzeichnis  | 375 Koschmal, Walter. „Modell oder Wirklichkeit? Die Entgrenzung der Objektwelt in Gogol’s Mërtvye duši“. Russian Literature 11. 1982. S. 333–360. Koschmal, Walter. Der russische Volksbilderbogen. Von der Religion zum Theater. München 1989. (= Slavistische Beiträge; Bd. 251). Kot, Wiesław. Julian Stryjkowski. Poznań 1997. Kovalenko, G.F. Aleksandra Ėkster. Put’ chudoznika. Chudoznik i vremja. Moskva 1993. Kowtun, Jewgenij F. Sangesi. Die russische Avantgarde. Chlebnikow und seine Maler. Zürich 1993. Kravets, Jessica. „Gravur auf dem Schädel des Universums. Zur russischen Buchillustration der frühen Avantgarde – Budetljanstwo und Futurismus“. In: Zelinsky, Bodo (Hg.). Russische Buchillustration. Köln/Weimar/Wien 2009. S. 29–35. (= Literarische Bilderwelten. Internationale Buchgraphik in Europa und Übersee; Bd.9) Krieger, Verena. Von der Ikone zur Utopie. Kunstkonzepte der Russischen Avantgarde. Köln/Weimar/ Wien 1998. Kristeva, Julia. „Wort, Dialog und Roman bei Bachtin“. In: Ihwe, J. (Hg.). Literaturwissenschaft und Linguistik. Bd. 3. Frankfurt a. M. 1972. S. 345–375. Kritter, Ulrich von. „Das jüdische Buch. Illustration und Typographie“. In: Kritter, Ulrich von/MillerBrombacher, Jeanne A. Literarische Bilderwelten des 20. Jahrhunderts. Teil II. Jüdische und jiddische Literatur. Bad Homburg vor der Höhe 1993. S. 9–11. Kruglov, Vladimir F./Petrova, Evgenija N. Marc Chagall. Musée National d’Art Moderne, Centre Georges Pompidoi, Paris. Bad Breisig 2005. [Kruglov/Petrova Ausst.kat. MC 2005] Krumm, Reinhard. Isaak Babel. Schreiben unter Stalin: Eine Biographie. Norderstedt ²2006. Krutikov, Mikhail. „Berdichev in Russian Jewish Literary Imagination: From Israel Aksenfeld to Friedrich Gorenshtein“. In: Estraikh, Gennady/Krutikov, Mikhail (Hg.). The Shtetl: Image and Reality. Papers of the Second Mendel Friedman International Conference on Yiddish. Oxford 2000. S. 91–114. (= Studies in Yiddish; 2) Krutikov, Mikhail. Yiddish Fiction and the Crisis of Modernity, 1905–1914. Stanford 2001. Krutikov, Mikhail. „1919 god – revoljucija v evrejskoj poėzii“. In: Budnickij, Oleg V. (Hg.). Mirovoj krizis 1914–1920 godov i sud’ba vostočnoevropejskogo evrejstva. Moskva 2005. S. 318–341. Krutikov, Mikhail. From Kabbalah to Class Struggle. Expressionism, Marxism, and Yiddish Literature in the Life and Work of Meir Wiener. Stanford 2011. Krutschanski, J. Die Judenpogrome in Russland. II. Teil. Köln/Leipzig 1910. Krysteva, Denka N. Tema Petra I v tvorčestve A.S. Puškina. Leningrad 1985. (Avtoreferat na soiskanie učenoj stepeni kandidata filologičeskich nauk) Kučerenko, V.N./Cholodova, I.P. (Hg.). Ju. M. Pėn. Minsk 2006. Kühn-Ludewig, Maria. Jiddische Bücher aus Berlin (1918–1936). Titel, Personen, Verlage. Nümbrecht 22008. Kunstgeschichte. Eine Einführung. Hrsg. von Hans Belting u. a. Berlin 51996. [Belting 51996] Kurts, Aaron. Mark Shagal. Poeme. Nyu-York 1947. Kvitko, Leyb. 1919. Berlin 1923. Lacan, Jacques [1949]. „Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud“. In: Ders. Schriften II. Olten 31991. S. 15–55. Lachmann, Renate. „Zwei Konzepte der Textbedeutung bei Jurij Lotman“. Russian Literature 5. 1977. S. 1–36.

376  | Literaturverzeichnis Lachmann, Renate. Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt a. M. 1990. Lachmann, Renate. Erzählte Phantastik. Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte. Frankfurt a. M. 2002. Langer, Susanne K. Philosophie auf neuem Wege. Frankfurt a. M. 41992. Lapide, Pinchas. „Von der Heiligung des Alltags und der Erneuerung des Bewährten. Der Chassidismus als zum Lebensweg gewordene Mystik“. In: Der Chassidismus. Leben zwischen Hoffnung und Verzweiflung, Ev. Akad. Baden (Hrsg.). Karlsruhe 1996. S. 9–25. Lauer, Reinhard. Geschichte der russischen Literatur. Von 1700 bis zur Gegenwart. München 2000. Le Foll, Claire. L’école artistique de Vitebsk (1897–1923). Eveil et rayonnement autour de Pen, ­Chagall et Malévitch. Paris 2002. Leach, Robert. Stanislavsky and Meyerhold. Bern 2003. Leek, Peter. Russische Malerei 18.–20. Jahrhundert. Parkstone 1999. Lehmann, Jörg. „Gogol’s ‚Pošlye duši‘“. Wiener Slawistischer Almanach 39. 1997. S. 57–84. Lejeune, Philippe. Le pacte autobiographique. Paris 1975. Lejeune, Philippe. Signes de vie. Le pacte autobiographique 2. Paris 2005. Lekmanov, Oleg/Sverdlov, Michail. Sergej Esenin. Moskva 2007. Leksikon fun der nayer yidisher literatur. 8 Bde. Nyu-York 1956–1981.[LNYL 1956–1981] Leksikon fun der yidisher literatur, poezye un filologye. Herausgegeben von Zalmen Reyzen. Bd. 1–4. Vilne 1926–1929. [Reyzen 1926–1929] Lénéman, Léon. Un enfant juif de Vitebsk – Marc Chagall. Paris 1983. Lenhart, Markus Helmut. Du sollst Dir ein Bild machen. Jüdische Kunst in Theorie und Praxis von David Kaufmann bis zur Kultur-Lige. Innsbruck/Wien/Bozen 2009. (Schriften des Centrums für Jüdische Studien; 15) Lermontov, Michail Ju. Sočinenija v 2-ch tomach. Moskva 1988–90. Lévinas, Emmanuel. Noms propres. Montpellier 1973. Levine, Glenn S. „Yiddish Publishing in Berlin and the Crisis in Eastern European Jewish Culture 1919–1924“. Leo Baeck Institue Yearbook 42. 1997. S. 85–108. Lexikon der Kunst. Architektur, bildende Kunst, angewandte Kunst, Industrieformgestaltung, Kunsttheorie. 7 Bde. Leipzig 2004. Lichatschew, D.S/Wagner, G.K./Wsdornow,G./Skrynnikow, R.G. Russland. Seele. Kultur. Geshichte. Augsburg 1996. Liebelt, Udo. „Visuelle Revolution und Russische Revolution bei Marc Chagall“. In: Tank, Kurt Lothar (Hg.). Proteste. Proteste. Proteste. Dokumentation, Analyse, Kritk. Eckart-Jahrbuch 1968. Witten/Berlin 1968. S. 134–154. Liebelt, Udo. Marc Chagall und die Kunst der Ikonen. theologisch-ikonologische Untersuchung des Auftretens russisch-orthodoxer Bildelemente im Frühwerk Marc Chagalls. Marburg/Lahn 1971. Liebelt, Udo. „Anmerkungen zum jüdischen Erbe und zur Bibel von Marc Chagall“. In: Güse, ErnstGerhard (Hg.). Marc Chagall. Druckgraphik. Stuttgart 1985. S. 137–153. Link, Jürgen. „Das lyrische Gedicht als Paradigma des überstrukturierten Textes“. In: Brackert, Helmut/Bückroth, Jörg (Hg.). Literaturwissenschaft: Grundkurs 1. München 1981. S. 192–219. Liss, Hanna. Tanach. Lehrbuch der jüdischen Bibel. Heidelberg 2005. (= Schriften der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg; Bd. 8)

Literaturverzeichnis  | 377 Litvak, Olga. „Art Criticism for the Blind: New Approaches to the Life and Work of Marc Chagall“. Ars Judaica 3. 2007. S. 101–110. Litvak, Olga. „Khave and Her Sisters. Sholem-Aleichem and the Lost Girls of 1905“. Jewish Social Studies. History, Culture, and Society 15 (3). 2009. S. 1–38. Longhi, Roberto. Caravaggio. Basel 1993. Loos, Sigrun. „Einführung“. In: Marc Chagall. Die 96 Radierungen zu Die toten Seelen von Nikolaj Gogol. Salzburg 1991. S. 5–17. Lotman, Jurij M. „Das Problem des künstlerischen Raums in Gogol’s Prosa“. In: Lotman, Jurij M. Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur. Kronberg/Ts. 1974. S. 200–272. Lotman, Jurij M. Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik. München 1972. (= Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste. Texte und Abhandlungen; Bd.14) Lotman, Jurij M. Puškin: Biografija pisatelja. Stat’i i zametki 1960–1990. Sankt Peterburg 1995. Lotman, Jurij M.. Struktura chudožestvennogo teksta. In: Ders. Ob iskusstve. Moskva 1998. S. 13–285. (dt. Die Struktur des künstlerischen Textes. Frankfurt a. M. 1973) (= edition suhrkamp; Bd.582) Lotman, Jurij M. Semiosfera. Sankt-Peterburg 2001. Lotman, Ju.M./Uspenskij, B.A.. „Mythos – Name – Kultur“. In: Eimermacher, Karl (Hg.). Semiotica Sovietica 2. Sowjetische Arbeiten der Moskauer und Tartuer Schule zu sekundären modellbildenden Zeichensystemen (1962–1973). Aachen 1986. S. 881–907. (= Aachener Studien zur Semiotik und Kommunikationsforschung; Bd. 5.2) Lüthy, Michael. „Vom Raum in der Fläche des Modernismus“. In: Henning, Anke/Obermayr, Brigitte/Witte, Georg (Hg.). F(r)aktur. Gestörte ästhetische Präsenz in Avantgarde und Spätavantgarde. Wien/München 2006. S. 149–178. (= Wiener Slawistischer Almanach; Sonderband 63. Unterreihe Intermedialität Bd. 3) Luplow, Carol. „Isaak Babel’ and the Jewish Tradition. The Childhood Stories“. Russian Literature 15. 1984. S. 225–277. Lyesin, Avrom [Avrom Valt]. Lider un poemen in dray bender. Nyu-York 1938. Maar, Christa/Burda, Hubert (Hg.). Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder. Köln 2004. Das Ma’assebuch. Altjiddische Erzählkunst. Vollständige Ausgabe. Ins Hochdeutsche übertragen, kommentiert und herausgegeben von Ulf Diederichs. München 22004. Maar, Christa/Burda, Hubert (Hg.). Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder. Köln 2004. Magall, Miriam. Kleine Geschichte der jüdischen Kunst. Wiesbaden 2005. Magonet, Jonathan. Einführung ins Judentum. Berlin 2003. Maier-Preusker, École de Paris – 150 Werke aus privaten Sammlungen. Kat. Nr. 21. Wien 2005. Majakovskij, Vladimir. Polnoe sobranie sočinenij v 13-i tomach. Moskva 1955–61. Makašina T.S. „Il’in den’ i Il’ja-prorok v narodnych predstavlenijach i fol’klore vostočnych slavjan“. In: Sokolova V.K. (Hg.). Obrjady i obrjadovyj fol’klor. Moskva 1982. S. 83–101. Malevič, Kazimir. Gott ist nicht gestürzt! Schriften zu Kunst, Kirche, Fabrik. Herausgegeben und kommentiert von Aage A. Hansen-Löve. München/Wien 2004. Malevič, Kazimir. Sobranie sočinenij v pjati tomach. Moskva 2000–2004. Herausgegeben von Aleksandra S. Šatskich.

378  | Literaturverzeichnis Malewitsch und sein Einfluss. Ostfildern 2008. Ausst.kat. [Malevič 2008] Malewitsch, Kasimir. Die gegenstandslose Welt. Mainz/Berlin 1980 [1927]. (Übersetzung von Alexander von Riesen) [Malevič 1980] Mandel, Gabriele. Gezeichnete Schöpfung. Eine Einführung in das hebräische Alphabet und die ­Mystik der Buchstaben. Wiesbaden 2003. Mandel’štam, Osip. Sobranie sočinenij v dvuch tomach. Tom vtoroj. Stichotvorenija. Proza. New York 1966. Mandel’štam, Osip. Tristia. Gedichte 1916–1925. Zürich 1993. Aus dem Russischen übertragen und herausgegeben von Ralph Dutli. (Zweisprachige Ausgabe) Mandel’štam, Osip. Der Stein: Frühe Gedichte 1908–1915. Zürich 22000. Aus dem Russischen übertragen und herausgegeben von Ralph Dutli. (Zweisprachige Ausgabe) Mane-Kats, E. „Bleter zikhroynes“. In: Yisokher Ber Ribak. Paris 1937. S. 61–65. [Mané-Katz 1937] Manger, Itsik. Dunkelgold. Gedichte jiddisch und deutsch. Frankfurt a. M. 2004. Aus dem Jiddischen von Efrat Gol-Ed. Mann, Barbara. „Jewish Imagism and ,the Mosaic Negative‘“. Jewish Studies Quarterly 11 (3). 2004. S. 282–291. Mann, Barbara. „Visions of Jewish Modernism“.Modernism/Modernity 13 (4). 2006. S. 673–699. Mann, Jurij V. Poėtika Gogolja. Variacii k teme. Moskva 1996. Mantovan, Daniela. Der Nister and his symbolist short stories (1913–1929). Patterns of imagination. Ann Arbor, MI 1993. Marc Chagall. Das graphische Werk. Einleitung und Auswahl Franz Meyer. Stuttgart 1957. Marc Chagall. Druckgraphische Folgen 1922–1966. Ausstellungskatalog und Bestandsverzeichnis Sprengel Museum. Hannover 1981. [Chagall 1981] Marc Chagall. Arbeiten auf Papier. Hannover 1985. [Chagall 1985] Marc Chagall. Die Lithographien. La collection Sorlier, hrsg. von Ulrike Gauss. Ostfildern-Ruit 1998, S. 37–53. [Chagall 1998] Marc Chagall. Illustrationen zu Nikolai Gogols Die toten Seelen (5. Juni bis 15. August. Städtische Galerie Villingen-Schwenningen). Villingen-Schwenningen 1999. [Chagall 1999] Marc Chagall. Meisterwerke 1908–1922. Wien 2006. Herausgegeben von Evelyn Benesch und Ingried Brugger. [Benesch/Brugger 2006] Marc Chagall. Der Maler am Fenster. München 2008. [Chagall 2008] Marcadé, Jean-Claude. „Das Russische im Werk von Chagall“. In: Marc Chagall. Arbeiten auf Papier. Hannover 1985. S. 53–71. Maritain, Raissa. Chagall ou l’orage enchanté. Genève/Paris 1948. Markiš, Simon. Babel’ i drugie. Moskva/Ierusalim 21997. Markish, Perets. Di kupe. Varshe 1921. Markish, Peretz. Le monceau et autres poèmes. Paris 2000. (Aus dem Jiddischen von Charles Dobzynski) Markschies, Christoph/Zachhuber, Johannes. Die Welt als Bild. Interdisziplinäre Beiträge zur Visua­ lität von Weltbildern. Berlin/New York 2008. Marten-Finnis, Susanne/Valencia, Heather. Sprachinseln. Jiddische Publizistik in London, Vilna und Berlin 1880–1930. Köln/Weimar/Berlin 1999. (= Lebenswelten osteuropäischer Juden; Bd. 4). Martens, G. „Was ist ein Text? Ansätze zur Bestimmung eines Leitbegriffs der Textphilologie“. Poetica 21. 1989. S. 1–25.

Literaturverzeichnis  | 379 Martinez, Matias/Scheffel, Michael. Einführung in die Erzähltheorie. München 42003. Mayzel, Nakhmen. „Opatoshus maysterverk (vegn A tog in Regensburg)“. Literarishe bleter. Ilustrirte vokhenshrift far literatur, teater un kunst 467. 1933. S. 255–256. Meidler-Waks, Sigalit. „Die Progromserie von Issachar Ber Ryback“. In: Berlin Transit. Jüdische ­Migranten aus Osteuropa in den 1920er Jahren. Berlin/Göttingen 2012. S. 37–41. Ausstellungs­ katalog. Mendele Moykher-Sforim. Ale verk. Naynter band. Masoes Binyomen ha-shlishi. Varshe 1928. Mendele. Die Fahrten Benjamins des Dritten. Roman. Olten 21983. (Aus dem Jiddischen von Efraim Frisch) Mendelsohn, Ezra. Painting a People: Maurycy Gottlieb and Jewish Art. Hanover (New Haven) 2002. Merežkovskij, Dmitrij S. Gogol’. Tvorčestvo, žizn’ i religija. Sankt-Peterburg 1909. Merleau-Ponty, Maurice. „Le Langage indirect et les Voix du Silence“. In: Ders. Signes. Paris 1960. S. 49–104. Merleau-Ponty, Maurice [1964]. Le visible et l’invisible. Paris 1971. Merleau-Ponty, Maurice. Das Auge und der Geist. Hamburg 1984. Herausgegeben und übersetzt von Hans Werner Arndt. (= Philosophische Bibliothek; Bd. 357) Merleau-Ponty, Maurice. Das Sichtbare und das Unsichtbare. München 1986. Metzger, Rainer. „Ich, das Dorf und die Welt. Überlegungen zur Gedächtniskunst Marc Chagalls“. In: Benesch, Evelyn/Brugger, Ingried (Hg.). Marc Chagall. Meisterwerke 1908–1922. Wien 2006. S. 13–21. Meyer, Franz. [„Einleitung“]. In: Marc Chagall. Das graphische Werk. Einleitung und Auswahl Franz Meyer. Stuttgart 1957. S. V–XXXIX. Meyer, Franz. Marc Chagall. Köln 21968. Meyer, Michael A. Jewish Identity in the Modern World. Seattle/London 1991. Michajlova, Alla A. (Hg.). Mejerchol’d i chudožniki, Moskva 1995. Michalak, Irmina. „Żydowscy malarze i rzeźbiarze w Łodzie 1880–1939/Jewish Painters and Sculptors in Łódź“. In: Machejek, Andrzej (Hg.). Żydzi Łódzcy/The Jews of Łódź. Łódź 2004. S. 52–68. Milner, Iris. „In the City of Slaughter: the Hidden Voice of the Pogrom Victimes“. Prooftexts 25 (1, 2). 2005. S. 60–72. Miłosz, Czesław. Geschichte der polnischen Literatur. Köln 1981. Minjajlo, Nadejda. „,Lubok von heute‘ – Auf der Suche nach dem ‚kollektiven Stil‘“. In: Bauer, Snejanka (Hg.). Als Chagall das Fliegen lernte. Von der Ikone zur Avantgarde. Frankfurt a. M. 2004. S. 54–65. Miron, Dan. A Traveler Disguised. A Study in the Rise of Modern Yiddish Fiction in the Nineteenth Century. New York 1973. Miron, Dan. The Image of the Shtetl and Other Studies of Modern Jewish Literary Imagination. ­Syracuse/New York 2000. Miron, Dan. „Sholem Aleichem“. In: Hundert, Gershon D. (Hg.). The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. 2 Bde. New Haven/London 2008. Bd. 2. S. 1719–1724. Miron, Dan. From Continuity to Contiguity. Toward a New Jewish Literary Thinking. Stanford 2010. Miron, Dan. The Prophetic Mode in Modern Hebrew Poetry an Other Essays on Modern Hebrew Literature. London 2010. Mitchell, W.J.T. „Was ist ein Bild?“. In: Bohn, Volker (Hg.). Bildlichkeit. Frankfurt a. M. 1990. 17–68. Mitchell, W.J.T. Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation. Chicago/London 1994.

380  | Literaturverzeichnis Mlotek, Eleanor/Mlotek, Joseph. Songs of Generations: New Pearls of Yiddish Song. New York 1998. Mosès, Stéphane. „Die Opferung Isaaks in der jüdischen Tradition“. In: Greiner, Bernhard/Janowski, Bernd/Lichtenberger, Hermann (Hrsg.). Opfere Deinen Sohn. Das ‚Isaak-Opfer‘ in Judentum, Christentum und Islam. Tübingen 2007. S. 51–72. Mosès, Stéphane. Un retour au judaïsme. Entretiens avec Victor Malka. Paris 2008. Moskovich, Wolf. „Kishinev“. In: Hundert, Gershon D. (Hg.). The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. 2 Bde. New Haven/London 2008. Bd. 1. S. 900–902. Moss, Kenneth. „Yitskhok Leybush Perets“, In: Dictionary of Literary Biography. Vol. 333. Writers in Yiddish. Edited by Joseph Sherman. Detroit/New York/San Francisco/New Haven/Waterville/­ London/Munich 2007. S. 228–239. Moss, Kenneth. Jewish Renaissance in the Russian Revolution. Harvard 2009. Mukařovský, Jan. „Das Wesen der bildenden Künste“. In: Ders. Schriften zur Ästhetik, Kunsttheorie und Poetik. Herausgegeben und übersetzt von Holger Siegel. Tübingen. 1986. (= Kodikas/Code Supplement; Bd.12) Mukařovský, Jan. Kapitel aus der Poetik. Frankfurt a. M. 1967. Mukařovský, Jan. Kapitel aus der Ästhetik. Frankfurt a. M. 21974. Mukdoyni, A. „Bagegenishn mit Ribakn“. In: Yisokher Ber Ribak. Paris 1937. S. 66–71. Murašov, Jurij. „Orthographie und Karneval. Nikolaj Gogol’s schizoides Schriftverständnis“. Wiener Slawistischer Almanach 39. 1997. S. 85–105. Musée National Message Biblique Marc Chagall. Nice 1973. [Chagall 1973] Nabokov, Vladimir. Nikolai Gogol. New York 31961. Nabokov, Vladimir. Nikolaj Gogol’. Reinbek bei Hamburg 1990. „Nach dem Pogrom (Jüdisches Volkslied aus Russland)“. Ost und West 9–12. 1914. S. 665. Neuberg, Simon. Pragmatische Aspekte der jiddischen Sprachgeschichte am Beispiel der Zenerene. Hamburg 1999. Niborski, Yitskhok. Verterbukh fun loshn-koydesh-shtamike verter in yidish. Paris 1999. (Unter Mitwirkung von Shimen Nayberg) Niewöhner, Friedrich. Die Rückkehr aus der fremden Sprache. Die vergessene Geschichte des Jüdischen Wissenschaftlichen Instituts in Wilna“. In: Dohrn, Verena (Hrsg.). Wissenschaft des ­Ost­judentums. Vorträge, gehalten in der der Niedersächsischen Landesbibliothek anlässlich der Eröffnung der Ausstellung zum 75jährigen Bestehen des YIVO-Instituts. Hameln 2003. S. 10–12. Niger, Shmuel. Mendele Moykher-Sforim. Nyu-York 1928. Niger, Shmuel. I. L. Perets. Zayn leben, zayn firndike perzenlikhkayt und yidishe shriftn, zayn virkung. Buenos-Ayres 1952. Niger, Shmuel. „Leyb Kvitko“. In: Ders. Yidishe shrayber in Sovyet-Rusland. Nyu-York 1958. S. 41–48. Nigg, Walter. „Marc Chagall“. In: Ders. Maler des Ewigen. Band 2. Moderne Ikonen. Zürich 1961. S. 385–432. Noll, Thomas. „Ikonographie/Ikonologie“. In: Pfisterer, Ulrich (Hg.). Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe. Stuttgart/Weimar 2003. S. 151–155. Novershtern, Avraham. Kesem hadimdumim. Apokalipsa umeshikhiyut besifrut yidish. Yerushalayim 2003. (hebr.; Die Verlockung des Zwielichts. Apokalypse und Messianismus in der jiddischen Literatur)

Literaturverzeichnis  | 381 Nünning, Ansgar/Nünning, Vera. „Kulturwissenschaften. Eine multiperspektivische Einführung in einen interdisziplinären Diskussionszusammenhang.“ In: Dies. Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stuttgart/Weimar 2003. S. 1–18. Olin, Margaret. The Nation without Art. Examining Modern Discourses on Jewish Art. Nebraska 2002. Onasch, Konrad. Ikonen. Berlin 1961. Opatoshu, Yoysef [Joseph]. YIVO, reg. 436, f. 248–250. Opatoshu, Yoysef [Joseph]. A tog in Regnsburg. Nyu-York 1933. (dt. Ein Tag in Regensburg, 2008) Opatoshu, Yoysef [Joseph]. „Vos iz yidishkayt?“ In: Ders. Yidish un yidishkayt. Eseyen. Toronto 1948. S. 35–43. [Opatoshu 1938a] [Opatoshu, Yoysef.] „A geshprekh mit Yoysef Opatoshu“. Literarishe bleter. Ilustrirte vokhenshrift far literatur, teater un kunst Nr. 750–751. 1938. S. 640–642. [Opatoshu 1938b] Opatoshu, Yoysef [Joseph]. „Yidish“. In: Ders. Yidish un yidishkayt. Eseyen. Toronto 1948. S. 17–27. [Opatoshu 1936] Opatoshu, Yoysef. Der letster oyfshtand. Roman in tsvey bikher. Band 1: Reb Akiva. Nyu York 1948; Band 2: Bar Kokhba. Historisher roman. Nyu York 1955. Opatoshu, Yoysef [Joseph]. „Di ideye fun yidish un fun der yiddisher literatur“. In: Ders. Yidish un yidishkayt. Eseyen. Toronto 1948. S. 29–34. [Opatoshu 1948] Opatoshu, Joseph. Bar Kochba. Der letzte Aufstand. Stuttgart 1985. (Aus dem Jiddischen von Emanuel Hacken) Ort, Claus-Michael. „Kulturbegriffe und Kulturtheorien“. In: Nünning, Ansgar/Nünning, Vera (Hrsg.). Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stuttgart/Weimar 2003. S. 19–38. Oy-Marra, Elisabeth. „Bildstrategien von Schrecken und Erlösung. Der geschundene Körper christ­ licher Märtyrer in der Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts“. In: Zenck, Martin/Becker, Tim/ Woebs, Raphael (Hg.). Gewaltdarstellung und Darstellungsgewalt in den Künsten und Medien. Berlin 2007. S. 249–273. Pacławski, Jan. Powieści i eseje Juliana Stryjkowskiego. Kielce 1999. S. 77–103. Paech, Joachim. „Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figuration“. In: Helbig. Jörg (Hg.). Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Berlin 1998. S. 14–30. Paech, Joachim/Schröter, Jens. Intermedialität – Analog /Digital. Theorien, Methoden, Analysen. München 2008. Panofsky, Erwin [1932]. „Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst“. In: Kaemmerling, Ekkehard (Hg.). Bildende Kunst als Zeichensystem 1. Ikonographie und Ikonologie. Theorien, Entwicklung, Probleme. Bd. 1. Köln 31984. S. 185–206. ­[Panofsky 31984a] Panofsky, Erwin [1939/1955]. „Ikonographie und Ikonologie.“ In: Kaemmerling, Ekkehard (Hg.). Bildende Kunst als Zeichensystem 1. Ikonographie und Ikonologie. Theorien, Entwicklung, ­Probleme. Bd. 1. Köln 31984. S. 207–225. [Panofsky 31984b] Panofsky, Erwin. Perspective as symbolic form. New York 1994.

382  | Literaturverzeichnis Panofsky, Erwin. „Rembrandt und das Judentum“. In: Ders. Deutschsprachige Aufsätze. Herausgegeben von Karen Michesl und Martin Warnke. Bd. 2. Berlin 1998. 971–1006. (= Studien aus dem Warburg-Haus; Bd.1) Paustovskij, Konstantin G. [1966]. „Neskol’ko slov o Babele“. In: Ders. Sobranie sočinenij v 8-i tomach. T. 7. Literaturnye portrety. Očerki. Zametki. Moskva 1970. S. 153–160. Paustovskij, Konstantin. Vremja bol’šich ožidanij. Moskva 2002. Perets, Yitskhok Leybush. Ale verk. 11 Bde. Nyu-York 1947. Peters, Jochen-Ulrich. Tendenz und Verfremdung. Studien zum Funktionswandel des russischen satirischen Romans im 19. und 20. Jahrhundert. Bern 2000. (= Slavica Helvetica; Bd.66) Pfister, Manfred. „The Dialogue of Text and Image. Antoni Tapies and Anselm Kiefer.“ In: Dirscherl, Klaus (Hg.). Bild und Text im Dialog. Passau 1993. S. 321–343. Philo-Lexikon. Handbuch des jüdischen Wissens. Frankfurt a. M. 1992. Platt, Kevin M.F. „Pushkin’s History of Peter the Great. Interpretation by Triangulation“. In: Ryfa, Juras T. Collected Essays in Honor of the Bicentennial of Alexander Pushkin’s Birth. New York/ Queenston (Ontario) 2000. S. 141–163. Podryatshik, L. „A vort vegn Dovid Hofshteyn“. Yidishe kultur 49 (9). 1987. S. 34–37. Podryatshik, L. „A vort vegn Dovid Hofshteyn“. Yidishe kultur 50 (4). 1988. S. 20–23. Poljakov, Vladimir. Knigi russkogo kubofuturizma. Moskva 1998. Puškin, Aleksandr S. „O proze“. In: Polnoe sobranie socinenij. T. 11. Kritika i publicistika 1918–1835. Leningrad 1949. S. 18–19. Puškin, Aleksandr S. Sočinenija v 3-ch tomach. Moskva 1985–1986. Rajewsky, Irina O. Intermedialität. Tübingen [u. a.] 2002. (= UTB; Bd. 2261) Read, H. „Meidner“. In: Kindler Malerei-Lexikon. Zürich 1967. S. 370–371. Reallexikon zur Byzantinischen Kunst. Hg. von Klaus Wessel und Marcell Restle. Stuttgart 1966– 2008. 7 Bde [A-N]. [Wessel/Restle 1978] Reichle, Ingeborg/Siegel, Steffen/Spelten, Achim. „Die Familienähnlichkeit der Bilder“. In: Dies. Verwandte Bilder. Die Fragen der Bildwissenschaft. Berlin 2007. S. 7–11. Reichle, Ingeborg/Siegel, Steffen/Spelten, Achim. Verwandte Bilder. Die Fragen der Bildwissenschaft. Berlin 2007. Reifenscheid, Beate: Chagall und die Bühne. Bielefeld: Kerber Verlag 1996. Remenik, Hersh. Shtaplen. Portretn fun yidishe shrayber. Moskve 1982. Renner, Rolf G. „Intermedialität“. In: Kimmich, Dorothee/Renner, Rolf Günter/Stiegler, Bernd. Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart 2008. 423–431. Reyzen, Zalmen. „Yoysef Opatoshu“. In: Ders. Leksikon fun der yidisher literatur, poezye un filologye. Vilne 1928. Bd. 1. S. 145–151. Ribak, Sonye. „Zayn lebns-veg“. In: Yisokher Ber Ribak. Paris 1937. S. 7–28. [Ribak 1937] Ribak, Yisakhar/Aronson, Boris. „Di vegn fun der yiddisher moleray“. Oyfgang 1. 1919. S. 99–124. Richter, Horst. Geschichte der Malerei im 20. Jahrhundert. Stile und Künstler. Köln 91993. Ricœur, Paul. Die lebendige Metapher. München 1986. (La métaphore vive, 1975. Aus dem Franzö­ sischen von R. Rochlitz) Rippl, Gabriele. Beschreibungs-Kunst. Zur intermedialen Poetik angloamerikanischer Ikontexte (1880– 2000). München 2005. (= Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste; Bd. 110)

Literaturverzeichnis  | 383 Roditi, Edouard. „Marc Chagall“. Dialoge über Kunst. Frankfurt am Main 1973. S. 33–55. Rontsh, Yitskhok. Lebn un verk fun M. Shagal. Nyu-York 1967. Rosen, Aaron. Imagining Jewish Art. Encounters with the Masters in Chagall, Guston, and Kitaj. Oxford 2009. Rosen, Valeska von. „Offenes Kunstwerk“. In: Pfisterer, Ulrich (Hg.). Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe. Stuttgart/Weimar 2003. S. 256–258. Rosensaft, Jean Bloch. Chagall and the Bible. New York 1987. Rosenzweig, Franz [1921]. Der Stern der Erlösung. Frankfurt a. M. 1988. Roskies, David G. Against the Apokalypse. Harvard 1984. Roskies, David G. „S. Ansky and the Pardigm of Return“. In: Wertheimer, Jack (Hg.). The Uses of Tradition. Jewish Continuity in the Modern Era. New York/Cambridge, Mass. 1992. S. 242–260. Roskies, David. A Bridge of Longing. The Lost Art of Yiddish Storytelling. Cambridge, Mass. 1995. Rossijskaja Evrejskaja Ėnciklopedija. Hrsg. Herman Branover. Moskva 1994–2007. [REĖ; akt. 6 Bde.] Rotermund, Hans Martin. Marc Chagall und die Bibel. Lahr 1970. Rothschild Fritz A.. „Leben zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Abraham Heschel als Interpret des Chassidismus“. In: Ev. Akad. Baden (Hrsg.). Der Chassidismus. Leben zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Karlsruhe 1996. S. 89–106. Rozanov, Vasilij V. [1891]. O Gogole. Letchworth 1970. Rozental, Yehude. „Yehoyeshs tanakh-iberzetsung (an analitishe oysforshung)“. YIVO-bleter 34. 1950. S. 59–128. Rudnickij, Konstantin L. Mejerchol’d. Moskva 1981. Sabin, Stefana. „Nennt mich nicht einen Phantasten. Chagalls literarische Autobiografie und seine Radierungen zu Mein Leben“. In: Chagall und Deutschland. Verehrt – verfemt. Herausgegeben von Georg Heuberger und Monika Grütters. München/Berlin/London/New York 2004. S. 90–92. Sachs-Hombach, Klaus (Hg.). Bildwissenschaften. Disziplinen, Themen, Methoden. Frankfurt a. M. 2005. Sachs-Hombach, Klaus (Hg.). Bildtheorien – Anthropologische und kulturelle Grundlagen des Visualistic Turn. Frankfurt a. M. 2009. Safran, Gabriella. „Rapoport, Shloyme Zaynvl“. In: Hundert, Gershon D. (Hg.). The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. 2 Bde. New Haven/London 2008. Bd. 2. S. 1518–1520. Safran, Gabriella/Zipperstein, Steven (Hg.). The Worlds of S. An-sky. A Russian Jewish Intellecutal at the Turn of the Century. Stanford 2005. Šagal, Mark. Moja žizn’. Moskva 1994. [Chagall 1994] Šagal, Mark. Moj mir. Pervaja avtobiografija Šagala. Vospominanija. Interv’ju. Moskva 2009. [Chagall 2009] Samet, Moshe Shraga. „Emden, Jacob“. In: Encyklopaedia Judaica. Jerusalem 22006. Bd. 6. S. 392– 394. Šatskich, Aleksandra. Gogolevskij mir glazami Marka Šagala. Vitebsk 1999. Šatskich, Aleksandra. „‘Blagosloven bud’, moj Vitebsk‘. Ierusalim kak proobraz šagalovskogo Goroda“. In: Mejlach, M.B./Sarab’janov, D.V. Poėzija i živopis’. Sbornik trudov v pamjati N.I. Chardžieva. Moskva 2000. S. 260–268. Šatskich, Aleksandra. Vitebsk. Žizn’ iskusstva 1917–1922. Moskva 2001.

384  | Literaturverzeichnis Schahadat, Schamma. „Intertextualität. Lektüre  – Text  – Intertext“. In: Pechlivano, Miltos et. al. (Hg.). Einführung in die Literaturwissenschaft. Stuttgart/Weimar 1995. S. 366–377. Schahadat, Schamma. „Roždenie, tvorenie, preobraženie. Das Theater als Modell für Lebenskunst in der russischen Moderne“. Balagan. Slavisches Drama, Theater und Kino 4 (2). 1998. S. 3–39. Schahadat, Schamma. Lebenskunst – Kunstleben. Žiznetvorčestvo v russkoj kuľture XVIII–XX vv. München 1998. Schahadat, Schamma. Das Leben zur Kunst machen. Lebenskunst in Russland vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. München 2004. Scheiner, Jens J. Vom Gelben Flicken zum Judenstern? Genese und Applikation von Judenabzeichen im Islam und christlichen Europa (849–1941). Frankfurt a. M u. a. 2004. Schlögel, Karl. „Berlin: ‚Stiefmutter unter den russischen Städten“’. In: Ders. (Hg.). Der große Exodus. Die russische Emigration und ihre Zentren 1917 bis 1941. München 1994. S. 234–259. Schmid, Wolf. „Die narrativen Ebenen ‚Geschehen‘, ‚Geschichte‘, ‚Erzählung‘ und ‚Präsentation‘ der Erzählung“. Wiener Slavistischer Almanach 9. 1982. S. 83–110. Schmid, Wolf. „Das nicht erzählte Ereignis in Isaak Babel’s ‚Übergang über den Zbruc‘“. In: Ders. Ornamentales Erzählen in der russischen Moderne. Frankfurt a. M. 1992. S. 135–154. Schmid, Wolf. Ornamentales Erzählen in der russischen Moderne. Frankfurt a. M. 1992. Schmidt, Angelika. „Apokalypse und Krieg.“ In: Breuer, Gerda/Wagemann, Ines. Ludwig Meidner. Zeichner, Maler, Literat. 1884–1966. Bd. 1. Stuttgart 1991. S. 84–95. Schmidt, Angelika. „Apokalypse und Krieg.“ In: Breuer, Gerda/Wagemann, Ines. Ludwig Meidner. Zeichner, Maler, Literat. 1884–1966. Bd. 2. Stuttgart 1991. S. 124. Schmied, Wieland. Marc Chagall. Die großen graphischen Zyklen. Salzburg 1976. Schneider, Jörg. Religion in der Krise. Die bildenden Künstler Ludwig Meidner, Max Beckmann und Otto Dix meistern ihre Erfahrung des Ersten Weltkrieges. Gütersloh 2005. Schneider, Lisa. Red Cavalry. Babel’s Theater of War. Ann Arbor 1986. Schneider, Pierre. Marc Chagall − Fast ein Jahrhundert. Stuttgart 1995. Schnitzler, Günter. Intermedialität. Studien zur Wechselwirkung zwischen den Künsten. Festschrift für Peter Andraschke zum 65. Geburtstag. Freiburg i. Br. 2004. (= Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae; Bd. 126) Schoell-Glass, Charlotte. „Text und Bild“. In: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Herausgegeben von Ulrich Pfisterer. Stuttgart 2003. S. 348–351. Schoeps, Julius (Hg.). Neues Lexikon des Judentums. Gütersloh 1992. Scholem Alejchem. Tewje, der Milchmann. Zürich 2002. Aus dem Jiddischen übersetzt und mit einem Nachwort von Armin Eidherr. Scholem, Gershom. Die jüdische Mystik und ihre Hauptströmungen. Frankfurt a. M. 1980. Schreiner, Stephan. „Wissenschaft des Judentums“. In: Dohrn, Verena (Hg.). Wissenschaft des Ost­ judentums. Vorträge, gehalten in der der Niedersächsischen Landesbibliothek anlässlich der Eröffnung der Ausstellung zum 75jährigen Bestehen des YIVO-Instituts. Hameln 2003. S. 13–22. Schulte, Jörg. Eine Poetik der Offenbarung. Isaak Babel’. Bruno Schulz. Danilo Kiš. Wiesbaden 2006. (= Jüdische Kultur. Studien zur Geistesgeschichte, Religion und Literatur; Bd. 12) Schulze, Theodor. „Untersuchung zur Selbstkonstitution durch Bilder und Geschichten am Beispiel des jungen Marc Chagall“. In: Fröhlich, Volker/Stenger, Ursula. Das Unsichtbare sichtbar machen. Weinheim/München 2003. S. 103–124.

Literaturverzeichnis  | 385 Schwartz, Howard. Tree of Souls. The Mythology of Judaism. Oxford/New York 2004. Sed Rajna, Gabriella. Die jüdische Kunst. Freiburg/Basel/Wien 1997. Seel, Martin. Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt a. M. 2003. Seghers, Anna. Jude und Judentum im Werke Rembrandts. Leipzig 1983. Shagal, Bella. Brenendike likht. Nyu-York 1946. (dt. Chagall, Bella. Brennende Lichter. Reinbek bei Hamburg 232003.) [Chagall 232003] Shagal, Bella. Di ershte bagegenish. Nyu-York 1947. (dt. Chagall, Bella. Die erste Begegnung. Reinbek bei Hamburg 1973. ÜS. Theodora von der Mühll und Bella Adler.) [Chagall 1973] Shagal, Mark. Eygns. [Typoskript; YIVO, Reg. 108, f. 83.4] Shagal, Mark. [o. T.]. In: Yisokher Ber Ribak. Paris 1937. S. 83. [Chagall 1937] Shagal, Mark. „Mayn vayte heym (oytobiografishe poeme)“. Literarishe bleter 9 (720). 1938. S. 149– 151. [Chagall 1938] Shagal, Mark. „Far di kinstler-kdoyshim“. In: Undzere farpaynikte kinstler. Hrsg. von Hersh Fenster Paris 1951. o. S. Shagal, Mark. „A. Sutskever der poet un mentsh“. In: Sutskever, Avrom. Fun dray veltn. Buenos-Ayres 1953. S. 64–65. Shagal, Mark. „Fun mayn liderbukh“. Di goldene keyt 60. 1967. S. 91–105. [Chagall 1967] Shagal, Mark. „Bletlekh“. Di goldene keyt 60. 1967. S. 106–108. [Chagall 1967] Shagal, Mark. „Tsum tsentn yortsayt fun Y. L. Perets“. Di goldene keyt 60. 1967. S. 113–114. ­[Chagall 1967] Shagal, Mark (1936). „A rede in Vilne (oyfn alveltlekhn tsuzamenfor fun yidishn visnshaftlekhn institut, 14tn oygust 1935)“. Di goldene keyt 60. 1967. S. 115–118. [Chagall 1967] Shagal, Mark. „Es kumt di tsayt“. In: Rontsh, Yitskhok. Di velt fun Mark Shagal. Los-Andzheles 1967. S. 232–241. [Rontsh 1967] Shatski, Yankev, „A tog in Regensburg un Elye Bokher“ fun Y. Opatoshu.“ Di tsukunft. August 1933. S. 493–496. Shatskich, Alexandra. „When and where was Marc Chagall born?“. In: Vitali, Christoph (Hg.). Marc Chagall. The Russian Years 1906–1922. Frankfurt a. M. 1991. S. 21–22. [Šatskich 1991a] Shatskikh, Alexandra. „Marc Chagall and the Theatre“. In: Vitali, Christoph (Hg.). Marc Chagall. The Russian Years 1906–1922. Frankfurt a. M. 1991. S. 76–88. [Šatskich 1991b] Shatskikh, Alexandra [Šatskich, Aleksandra]. Vitebsk. The Life of Art, 1917–1922. New Haven 2007. (Aus dem Russischen übersetzt.) Sherman, Joseph. „Leib Kvitko (Leyb Kvitko)“. In: Dictionary of Literary Biography. Vol. 333. Writers in Yiddish. Edited by Joseph Sherman. Detroit/NewYork/San Francisco/New Haven/Waterville/ London /Munich 2007. S. 130–137. Sherman, Joseph/Estraikh, Gennady/Finkin, Jordan/Shneer, David (Hg.). A Captive of the Dawn. The Life and Work of Peretz Markish (1895–1952). London 2011. (Studies in Yiddish; 9) Shmeruk, Khone. „Araynfir“. In: A shpigl oyf a shteyn. Antologye. poezye un proze fun letste farshnitene yidishe shraybers in Ratn-farband. Herausgegeben von Khone Shmeruk und Benjamin Harshav. Yerusholayim 21987. S. 17–42. Shmeruk, Khone. „Hebrew-Yiddish-Polish. A trilingual Jewish Culture“. In: Gutman Y. et. al. The Jews of Poland between two Wars. Hanover 1989. S. 285–311. Shneer, David. Yiddish and the Creation of Soviet Jewish Culture 1918–1930. Cambridge 2004.

386  | Literaturverzeichnis Sholem-Aleykhem. Ale verk. Bd. 3. Mayses un fantazyes. Nyu-York 1923. Sholem-Aleykhem. Ale verk. Bd. 3. Menakhem-Mendl. Gants Tevye der milkhiker. Buenos-Ayres 1953. Shulman, Elye. „A bazukh bay Y. Opatoshu“. Literarishe bleter. Ilustrirte vokhenshrift far literatur, teater un kunst 498. 1933. S. 750–752. Shvarts, Karl. [o. T.]. In: Yisokher Ber Ribak. Paris 1937. S. 35–39. Sicher, Efraim. „Art as Metaphor, Epiphany, and Aesthetic Statement. The Short Stories of Isaak Babel‘“. In: Modern Language Review 77 (1982). S. 387–396. Sicher, Efraim. „The Jewishness of Babel“. In: Miller, Jack (Hg.). Jews in Soviet Culture. London u. a. 1984. Sicher, Eraim. Style and Structure in the Prose of Isaak Babel’. Columbus. Ohio 1986. Sicher, Efraim. „Text, Intertext, Context. Babel, Bialik and others“. In: Freidin, Gregory (Hg.). The Enigma of Isaac Babel. Biography, History, Context. Stanford 2009. Sidney, Alexander. Marc Chagall. Eine Biographie. München 1984. Singer, Isaac Bashevis. Nobel Lecture. London 1978. Sitarz, Magdalena. „Sholem Ash“. In: Writers in Yiddish. Dictionary of Literary Biography. Vol. 333. Writers in Yiddish. Edited by Joseph Sherman. Detroit/NewYork/San Francisco/New Haven/ Waterville/London /Munich 2007. S. 8–18. Šklovskij V. „I. Babel’ (Kritičeskij romans)“. Lef 2. 1924. S. 152–155. Šklovskij V. „Iskusstvo kak priem / Kunst als Verfahren“. In: Striedter, Jurij/Stempel, Wolf-Dieter/ Paulmann, Inge (Hg.). Texte der russischen Formalisten. Bd. 1. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München 1969. S. 2–35. Slezkine, Yuri. Das jüdische Jahrhundert. Göttingen 2006. Slovar’ russkogo jazyka. Hrsg. von S.I. Ožegov. Moskva 1991. Sontag, Susan. Das Leiden anderer betrachten. Frankfurt a. M. 2005. (Aus dem Englischen von ­Reinhard Kaiser; engl. Regarding the Pain of Others, 2003). Soussloff, Catherine M. Jewish Identity in Modern Art History. Berkeley/London 1999. Spiegelglas auf Stein. Jiddische Literatur unter Stalin. Herausgegeben von Andrej Jendrusch. Berlin 2002. Spira, Andrew. Russian Avant-garde Art and the Icon Painting Tradition. Aldershot u. a. 2008. Stangé-Zhirovova, Nadia. „Quelques considérations sur le culte de la Terre-Mère chez les Slaves ­orientaux“. Slavica Gandensia 13. 1983. S. 423–428. Steinberg, Theodore L. Mendele Mocher Seforim. Boston 1977. Stiegler, Bernd. „Literatur und Medientheorie“. In: Kimmich, Dorothee/Renner, Rolf Günter/Stiegler, Bernd. Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart 2008. S. 415–423. Stierle, Karlheinz. „Werk und Intertextualität“. In: Schmid, Wolf/Stempel, Wolf-Dieter (Hg.). Dialog der Texte. Wien 1983. S. 7–26. (= Wiener Slawistischer Almanach; Sonderband 11) Stiftung Frieder Burda (Hg.). Chagall in neuem Licht. Baden-Baden 2006. [Chagall 2006] Stine, Peter. „Isaac Babel and Violence“. Modern Fiction Studies 30 (2). 1984. S. 237–255. Stökl, Günther. Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 1962. Stooss, Toni. „Marc Chagall. Die Porträts“. In: Brugger, Ingried/Stooss, Toni (Hg.). Im Bann der Moderne. Picasso, Chagall, Jawlensky. Meisterwerke aus der Sammlung Karl und Jürg Im Obersteg. Wien 2003. S. 63–70. Straus, Raphael. Die Judengemeinde Regensburg im ausgehenden Mittelalter, Heidelberg 1932.

Literaturverzeichnis  | 387 Stryjkowski, Julian. Głosy w ciemności. Warszawa 1956. Stryjkowski, Julian. Austeria. Warszawa 1979. Stryjkowski, Julian. Echo. Warszawa 1988. Stryjkowski, Julian/Szewc, Piotr. Ocalony na Wschodzie. Z Julianem Stryjkowskim rozmawia Piotr Szewc. Montricher 1991. Stutshkov, Nokhem. Der oytser fun der yidisher shprakh. Nyu-York 1950. Suchich, Igor. „O zvezdach, krovi, ljudjach i lošadjach (1923–1925). Konarmija I. Babelja.“ Zvezda 12. 1999. S. 222–232. Suchich, Igor’. „Obožžennye solncem“ In: Babel’, Isaak Ė. Sobranie socinenij v 4-ch tomach. T. 1. Moskva 2006. S. 8–31. Susman, Margarete. Das Buch Hiob und das Schicksal des jüdischen Volkes. Freiburg i. Br. 1968. Sutskever, Avrom. Poetishe verk. 2 Bd. Tel-Aviv 1963. Sutskever, Avrom. Firkantike oysyes un mofsim. Tel-Aviv 1968. Sutskever, Avrom. Tsaytike penemer. Tel-Aviv 1970. Sutskever, Avrom. Di fidl-royz. Tel-Aviv 1974. Sutskever, Avrom. Fun alte un naye ksav-yadn. Tel-Aviv 1982. Sutskever, Avrom. Tsviling-bruder. Tel-Aviv 1986. Sutskever, Avrom. The Fiddle Rose. Poems 1970–1972. Detroit 1990. (Jidd.-engl. Ausgabe. Aus dem Jiddischen von Ruth Withman) Sutskever, Avrom. Baym leyenen penemer. Dertseylungen, dermonungen, eseyen. Yerusholayim 1993. Sutzkever, Abraham. Geh über Wörter wie über ein Minenfeld. Lyrik und Prosa. Frankfurt/New York 2009. Szajkowski, Zosa (Hg.). An Illustrated Sourcebook of Russian Antisemitism 1881–1978. 2 Bde. New York 1980. Szymaniak, Karolina. Warszawska awangarda jidysz. Antologia tekstów. Gdańsk 2005. Tanakh. Nyu-York 1938. (Aus dem Hebräischen ins Jiddische übersetzt von Yehoyesh) N.M. Tarabukin o V.Ė. Mejerchol’de. Herausgegeben von Oleg M. Fel’dman und V.A. Ščerbakov, Moskva 1998. [Tarabukin 1998] Taranovsky, Kiril. „The Black-Yellow Light“. In: Ders. Essays on Mandel’stam. Cambridge 1976. S. 48–67. (= Harvard Slavic Studies; Bd. 6) Tassova, Elena. Form und Aussage im malerischen Werk Marc Chagalls. Köln 1985. Thun, Nyota. Majakowski. Maler und Dichter. Studien zur Werkbiographie 1912–1922. Tübingen/ Basel 1993. Titzmann, Michael. „Theoretisch-methodologische Probleme einer Semiotik der Text-Bild-Relationen“. In: Harms, W. (Hg.). Text und Bild, Bild und Text. Stuttgart 1990. S. 368–384. Todorov, Tzvetan. Introduction à la littérature fantastique. Paris 1970. Told [Feiwel, Berthold]. Die Judenmassacres in Kischinew von Told. Mit einem weiheblatt von E.M. Lilien und illustrationen. Berlin 1903. Tolkovyj slovar’ russkogo jazyka. Hrsg. von B.M. Volin und D.N. Ušakov. Moskva 1939. [Volin/ Ušakov 1939] Trepp, Leo. Die Juden. Volk, Geschichte, Religion. Wiesbaden 2006. Tsenerene, 2 Bände. Nyu-York 1973.

388  | Literaturverzeichnis Tsharni, Danyel. „Mit farakshnte akslen“. In: Yisokher Ber Ribak. Paris 1937. S. 72–76. Tsherikover, Elye. „Di folks-kunst un ir yoyresh“. In: Yisokher Ber Ribak. Paris 1937. S. 52–58. Tugendchol’d, Jakov. Problema voiny v mirovom iskusstve. Moskva 1916. Turgenev, Ivan. S. „Gamlet i Don Kichote“. In: Ders. Sobranie sočinenij v 12-ch tomach. Bd. 11. Moskva 1956. S. 168–187. Turniansky, Chava. „Tsena-Urena“. In: Michael Berenbaum, Fred Skolnik (Hg.). Encyclopaedia Judaica 2nd ed. Detroit 2007. Bd. 20. S. 491–492. Tynjanov, Jurij. „Dostoevskij i Gogol’ /Dostoevskij und Gogol’“. In: Striedter, Jurij/Stempel, WolfDieter/Paulmann, Inge (Hg.). Texte der russischen Formalisten. Bd. 1. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München 1969. München. S. 300–371. Tynjanov, Jurij N. [1922]. „Illjustracii“. In: Ders. Poėtika. Istorija literatury. Kino. Moskva 1977. S. 310–318. Tynjanov, Jurij N. „Illustrationen“. In: Ders. Poetik. Ausgewählte Essays. Leipzig/Weimar 1982. S. 184–195. Ueding, Gerd (Hg.). „Text“. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 9. St-Z. Tübingen 2009. S. 489–509. Undzere farpaynikte kinstler. Hrsg. von Hersh Fenster. Paris 1951. Urban, Peter. „Editorische Notiz“. In: Babel, Isaak. Tagebuch 1920. Berlin 1990. S. 179–189. Urban, Peter. „Nachwort“. In: Babel, Isaak. Die Reiterarmee. Berlin 1994. S. 287–317. Uspenskij, Boris A. Poetik der Komposition. Struktur des künstlerischen Textes und Typologie der Kompositionsform. Frankfurt a. M. 1975. Uspenskij, Boris. „Zur Semiotik der Ikone“. In: Eimermacher, Karl (Hg.). Semiotica Sovietica I. Aachen 1986. Bd. 2. S. 755–795. Uspenskij, Boris A. Semiotika iskusstva. Moskva 1995. Uthemann, Ernest W. 1985. „Die Illustrationen zu Die toten Seelen von Nikolai Gogol“. In: Marc Chagall. Druckgraphik. Herausgegeben von Ernst-Gerhard Güse. Stuttgart. S. 37–44. Vajskopf, Michail. Sjužet Gogolja. Morfologija. Ideologija. Kontekst. Moskva 22002. Valencia, Heather. „Yiddish Writers in Berlin 1920–1936“. In: Timms, Edward/Hammel, Andrea (Hg.). The German-Jewish Dilemma from the Enlightenment to the Shoah. Lewiston/Quinston/ Lampeter 1999. S. 193–207. Valencia, Heather. „‘Farvandlen vel ikh toyt in leben‘: Transformations of the Holocaust in the PostWar Poetry of Abraham Sutzkever“. In: Sherman, Joseph (Hg.): Yiddish after the Holocaust. Oxford 2004. S. 217–239. Valencia, Heather. „Sutzkevers Leben und Lyrik“. In: Sutzkever, Abraham. Geh über Wörter wie über ein Minenfeld. Lyrik und Prosa. Frankfurt/New York 2009. S. 19–70. Vandier-Nicolas, Nicole. Chinesische Malerei und Tradition der Gelehrten. Würzburg 1983. Varga, Péter. „Deutsch, jiddisch, hebräisch, ungarisch oder ...? Sprache und Identität des osteuropäischen Judentums“. In: Mádl, Antal/Motzan, Peter (Hg.). Schriftsteller zwischen (zwei) Sprachen und Kulturen. München 1999. S. 135–143. Varshavski, Oyzer. L’Arrière-Montparnasse. Nouvelles; gouaches; aquarelles et dessins de l’auteur. Paris 1992.

Literaturverzeichnis  | 389 Veidlinger, Jeffrey. The Moscow State Yiddish Theater. Jewish Culture on the Soviet Stage. Bloomington u. a. 2000. Vinogradov, V.V. Gogol and the Natural School. Ann Arbor, MI 1987. Vinokur, Val. The trace of Judaism. Dostoevsky, Babel, Mandelstam, Levinas. Evanston/Ill. 2008. Vishnitser-Bernshteyn, Rokhl. [o. T.]. In: Yisokher Ber Ribak. Paris 1937. S. 40–42. [WischnitzerBernstein 1937] Vitali, Christoph (Hg.). Marc Chagall. The Russian Years 1906–1922. Frankfurt a. M. 1991. Vlasova, Marina. Russkie sueverija. Sankt-Peterburg 1998. Vogl, Joseph. „Kafkas Babel“. Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 26. 1994. S. 374–384. Vorndung, Klaus. „,Überall stinkt es nach Leichen.‘ Über die ästhetische Ambivalenz apokalyptischer Visionen“. In: Gendolla, Peter/Zelle, Carsten. Schönheit und Schrecken. Entsetzen, Gewalt und Tod in alten und neuen Medien. Heidelberg 1990. S. 129–144. (= Reihe Siegen. Beiträge zu Literatur-, Sprach- und Medienwissenschaft; Bd. 72) Voznesenskij, Andrej. Sobranie sočinenij. T. 2. Moskva 1984. Walter, Ingo F./Metzger, Rainer. Marc Chagall. 1887–1885. Malerei als Poesie. Köln 1987. Weber, Annette. „,Womöglich gefällt mir das Zeug!‘ – Chagall in Deutschland und sein Publikum von 1933 bis heute“. In: Chagall und Deutschland. Verehrt  – verfemt. Herausgegeben von Georg ­Heuberger und Monika Grütters. München/Berlin/London/New York 2004. S. 50– 63. Weber, Annette. „Marc Chagall“. In: Stiftung im Obersteg (Hrsg.). Die Sammlung Im Obersteg im Kunstmuseum Basel. Basel 2004. S. 106–119. (Katalog zur Ausstellung «Die Sammlung Im Obersteg. Picasso, Chagall, Jawlensky, Soutine» im Kunstmuseum Basel vom 14. Februar–2. Mai 2004.) [2004a] Weber, Annette. „Sich ein Bild machen. Aufgaben und Ziele jüdischer Kunst- und Kulturgeschichte“. In: Mussaf. Magazin der Hochschule für Jüdische Studien 2 2006. S. 7–9. Weigel, Sigrid. Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis ­Benjamin. München 2004. Weiner, Richard. Kreuzungen des Lebens. München 2005. Weinreb, Friedrich. Der göttliche Bauplan der Welt. Der Sinn der Bibel nach der ältesten jüdischen Überlieferung. Zürich 62005. Weinreich, Max. History of the Yiddish Language, Chicago 1982 (Erstpublikation auf Jiddisch als Geshikhte fun der yidisher shprakh, Nyu York 1973, 4 Bde.) Weinreich, Max. History of the Yiddish Language. New Haven 2008. Weitzmann, K. Die Ikone. 6. bis 14. Jahrhundert. München 1978. Werberger, Annette. „Grenzgänge, Zwischenwelten, Dritte – Der jüdische Schriftsteller und Ethnograph S. Anskij“. Transversal. Zeitschrift des Centrums für jüdische Studien (Jenseits des Natio­ nalen) 1. 2004. S. 62–79. Werner, Alfred, „Issachar ber Ryback“. In: Encyclopaedia Judaica, Bd. 17 (Ra-Sam). Jerusalem 22006. S. 601. Wertheimer, Jürgen (Hrsg.). Ästhetik der Gewalt. Ihre Darstellung in Literatur und Kunst. Frankfurt a. M. 1986.

390  | Literaturverzeichnis Wetering, Ernst van de. „Rembrandt als suchender Künstler“. In: Gemäldegalerie Staatliche Museen zu Berlin (Hg.). Rembrandt. Genie auf der Suche. Köln 2006. 65–103. (Ausstellungskatalog) [Rembrandt 2006] Wetzel, Michael. „,Ein Auge zuviel‘. Derridas Urszenen des Ästhetischen“. In: Derrida, Jacques. Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen. München 1997. S. 129–155. Wiesel, Eli. Chassidische Feier. Geschichten und Legenden. Freiburg i. Br./Basel/Wien 1988. Wiesemann, Falk. „kommt heraus und schaut“ – Jüdische und christliche Illustrationen zur Bibel in alter Zeit. Essen 2002. Williams, Kieran. „National Myths in the New Czech Liberalism“. In: Hosking, Geoffrey/Schöpflin, George (Hg.). Myths and Nationhood. London 1997. S. 132–140. Wilson, Jonathan. Marc Chagall. New York 2007. Wischnitzer-Bernstein, Rahel. Symbole und Gestalten der jüdischen Kunst. Berlin-Schöneberg 1935. Wisse, Ruth. The Schlemiel as Modern Hero. Chicago 1971. Wisse, Ruth. „Di Yunge and the Problem of Jewish Aestheticism“. In: Jewish Social Studies 38, 1976 (3–4). S. 265–276. Wisse, Ruth. I. L. Peretz and the Making of Modern Jewish Culture. Seattle 1991. Wisse, Ruth. „Yitskhok Leyb Perets“. In: Hundert, Gershon D. (Hg.). The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. 2 Bde. New Haven/London 2008. Bd. 2. S. 1339–1342. With, Karl. Marc Chagall. Leipzig 1923. (= Junge Kunst; Bd. 35) Wittmer, Siegfried. Jüdisches Leben in Regensburg. Vom frühen Mittelalter bis 1519. Regensburg 2001. Wolf, Werner, „Intermedialität“. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen  – Grundbegriffe. Herausgegeben von Ansgar Nünning. Stuttgart/Weimar 22001. S. 284– 285. Wolf, Werner, „Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik. Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie“. In: Nünning, Vera/Nünning, Ansgar (Hg.). Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier 2002. S. 22–104. (= WVGT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium; 5) Wolfram, Gernot. Birg mich – Interkultureller Dialog und jüdische Identität bei Paul Celan und ­Chajim N. Bialik. Frankfurt am Main [u. a.]. Lang 2006. (Begegnung: Jüdische Studien; 3) Wolitz, Seth L. „The Kiev-Gruppe (1918–1920) Debate. The Function of Literature“. Studies in American Jewish literature 4. 1978. S. 97–106. Wolitz, Seth L. „A Yiddish Modernist Dirge: Di kupe of Perets Markish“. Modern Jewish Studies Annual 6. 1987. S. 56–72. Wolitz, Seth L. „Chagall’s Last Soviet Performance: The Graphics for Troyer“. Journal of Jewish Art 21/22. 1995. S. 95–115. Wolitz, Seth L. „Troyer – Hofshteyn’s Fellow-Traveler Dirge“. Slavic Almanach: The South African Yearbook for Slavic, Central and East European Studies 4 (4–5). 1997. S. 11–129. Wolitz, Seth L. „Ribak, Yisakhar Ber“. In: Hundert, Gershon D. (Hg.). The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe. 2 Bde. New Haven/London 2008. Bd. 2. S. 1640–1642. Wright, Christopher. Rembrandt. München 2000. (bes. S. 314–337) (Aus dem Englischen von Annemarie Seling.) Wullschlager, Jackie. Chagall. A biography. New York 2008.

Literaturverzeichnis  | 391 Yehoyesh/Kosover, Mordkhe [1927]. Heores tsum tanakh: leksikon fun meforshim un perushim. NyuYork 1949. Young, James E. Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation. Frankfurt a. M. 1997. Yudovin, Sh./Malkin: M. Yidisher folks-ornament. Ershte heft./Evrejskij narodnyj ornament. Pervaja tetrad’. Vitebsk 2005. (Nachdruck der Erstausgabe von 1920, hrsg. von Arkadij Šul’man) Zanthier, Agnieszka von. Julian Stryjkowski und Edgar Hilsenrath. Zur Identität jüdischer Schriftsteller nach 1945. Essen 2000. (= Literaturwissenschaft in der Blauen Eule; Bd. 31) Zeira, Asher. „Sholem-Aleichem and Lev Tolstoy“. Yiddish 10. 1996. S. 110–114. Zelenin, Dmitrij K. Russische (Ostslavische) Volkskunde. Berlin/Leipzig 1927. Zelinsky, Bodo. „Marc Chagall. Nikolaj Gogol, Die toten Seelen“. In: Zelinsky, Bodo (Hg.). Russische Buchillustration. Köln/Weimar/Wien 2009. S. 153–168. (= Literarische Bilderwelten. Internationale Buchgraphik in Europa und Übersee; Bd. 9) Zelinsky, Bodo. Russische Buchillustration. Köln/Weimar/Wien 2009. (= Literarische Bilderwelten; Bd. 9) Zeltser, Arkadij. „Jewish Artists of Vitebsk in the Interwar Period. Between the National and the ­Universal“. Jews in Russia and Eastern Europe 1 (50). 2003. S. 77–108. Zen’kovskij, Vasilij V. Russkie mysliteli i Evropa. Moskva ²2005. Zibawi, Mahmoud. Die Ikone. Bedeutung und Geschichte. Düsseldorf 2003. Ziegler, Gudrun. Alexander S. Puschkin. In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei ­Hamburg 1979. Zhikhlinski, Reyzl [Zychlinski, Rajzel]. Di lider / Die Gedichte. 1928–1991. Jiddisch und Deutsch. Herausgegeben und übertragen von Hubert Witt. Frankfurt a. M. 2003. Zieliński, Konrad. „Relations between Jew, Poles and Russians at the beginning of World War I (1914– 1915)“. Pinkas. Annual of the Culture and History of East European Jewry 2. 2008. S. 105–119. Zima, Peter V. (Hg.). Literatur intermedial. Musik – Malerei – Photographie – Film. Darmstadt 1995. Žolkovskij, A.K. „Meždu Dostoevskim i Russo“. In: Žolkovskij, A.K./Jampol’skij, M.B. Babel’/Babel. Moskva 1994. S. 89–123. Žolkovskij, Aleksandr. K. „Roman s gonorarom. K teme Babel’ i Šolom-Alejchem“. In: Moskovič, V./ Švarcband, V. et. al. Oh Jerusalem. Piza-Ierusalim 1999. S. 255–278. (zuerst erschienen in: Literaturnoe obozrenie 264. 1997. S. 43–54.) Zuckerman, Marvin S. „Yehoash“. In: Writers in Yiddish. Dictionary of Literary Biography. Vol. 333. Writers in Yiddish. Edited by Joseph Sherman. Detroit/NewYork/San Francisco/New Haven/ Waterville/London /Munich 2007. S. 337–343. Zuschlag, Christoph. „Auf dem Weg zu einer Theorie der Interikonizität“. In: Horstkotte, Silke/Leonhard, Karin (Hrsg.). Lesen ist wie Sehen. Intermediale Zitate in Bild und Text. Köln (u. a.). Böhlau Verlag 2006. S. 89–99. Zweig, Arnold [1920]. Das ostjüdische Antlitz zu zweiundfünfzig Zeichnungen von Hermann Struck. Wiesbaden 1988.

392  | Literaturverzeichnis

Internetquellen http.//de.academic.ru/dic.nsf/dewiki/610317; 5.3.2012 http://en.academic.ru/dic.nsf/enwiki/196635; 5.3.2012 http://www.comite-ryback.org/Biography.php; 5.3.2012 http://www.eleven.co.il/article/13251/; 5.3.2012 http://www.fritz-thyssen-stiftung.de/foerderung/foerderungsbereiche/querschnittbereich-bild-undbildlichkeit/; 05.03.2012 http://kirchensite.de/indexphp?myELEMENT=114641, 28.12.2010. http://www.ogoniok.com/inside/hystory/; 5.3.2010 http.//www.rulex.ru/01160745.htm; 5.3.2012 http.//www.rulex.ru/01180277.htm; 5.3.2012 http.//rutube.ru/tracks/430154.html?v=32da63a1de8a5c058fe9d378c7981733&bmstart=0; 5.3.2012 http.//www.shtetlinks.jewishgen.org/lyakhovichi/Mukdonybio.htm; 5.3.2012 http.//www.theorie-der-medien.de/text_detail.php?nr=12; 5.3.2012 http://www.uni-trier.de/index.php?id=998; 19.2.2012 http://www.vekperevoda.com/1855/ellice.htm; 5.3.2012 http://www.vekperevoda.com/1855/lamble.htm; 5.3.2012 http://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%9A%D0%B0%D1%86%D0%B0%D0%BF; 6.3.2012 http://yiddish.haifa.ac.il/tmr/tmr09/tmr09005.htm; 5.3.2012 http://www.yiddishweb.com/dubletn/iberzetsungen.htm; 5.3.2012 http://www.museumeinharod.org.il/english/; 5.3.2012 www.feb-web.ru/feb/litenc/encyclop/lea/lea–4761.htm; 5.3.2012 www.chagall.vitebsk.by; 5.3.2012 www.eilatgordinlevitan.com/warsaw/w_pages/warsaw_stories_bloomgarden.html; 5.3.2012 www.ibiblio.org/pub/academic/languages/yiddish/mendele/tmr02.020; 5.3.2012 www.iconicturn.de; 5.3.2012 www.slovopedia.com/2/209/259320.html; 5.3.2012 www.thecjm.org; 5.3.2012 www.wzo.org.il/en/resources/view.asp?id_1388; 1.10.2010

Abbildungsverzeichnis Für sämtliche Werke Chagalls: © VG Bild-Kunst, Bonn 2012

Abbildungen im Text S. 96: Marc Chagall: Russland, den Eseln und anderen, 1911. Musée National d’Art Moderne, Paris. Aus: Kamenski: Chagall. Die russischen Jahre 1907–1922. Stuttgart 1989. S. 88. S. 134: Marc Chagall: Verwundeter Soldat, 1914. Tretjakov-Galerie, Moskau. Aus: Kamenski, A. Chagall. Die russischen Jahre 1907–1922. Stuttgart 1989. S. 197. S. 136: Marc Chagall: Der Zeitungsverkäufer, 1914. Musée National d’Art Moderne, Paris. Aus: Kamenski, A. Chagall. Die russischen Jahre 1907–1922. Stuttgart 1989. S. 183. S. 138: Marc Chagall: Skizze für Der Zeitungsverkäufer, 1914. Musée National d’Art Moderne, Paris. Aus: Kamenski, A. Chagall. Die russischen Jahre 1907–1922. Stuttgart 1989. S. 203. S. 175: Marc Chagall: Illustration zu Troyer von Dovid Hofshteyn, 1922, Xa (YIVO, New York). Aus: Harshav, B. 2006. Marc Chagall and the Lost Jewish World. The Nature of Chagall’s Art and Iconography. New York. S. 126. S. 176: Marc Chagall: Illustration zu Troyer von Dovid Hofshteyn, 1922, XIVa. YIVO, New York. Aus: Harshav, B. 2006. Marc Chagall and the Lost Jewish World. The Nature of Chagall’s Art and Iconography. New York. S. 127. S. 176: Marc Chagall: Mann mit Gewehr. Illustration zu Troyer von Dovid Hofshteyn, 1920, XVIa. Musée National d’Art Moderne, Paris. Aus: Kamenski, A. 1989. Chagall. Die russischen Jahre 1907–1922. Stuttgart. S. 288. S. 177: Marc Chagall: Das Dorf setzt sich in Bewegung, 1920. Illustration zu Troyer von Dovid Hofshteyn, 1922, XXa. Musée National d’Art Moderne, Paris. Aus: Kamenski, A. 1989. Chagall. Die russischen Jahre 1907–1922. Stuttgart. S. 277. S. 184: Marc Chagall: Ale far der tsayt farshnitene. Illustration zu Troyer von Dovid Hofshteyn, 1919. Musée National d’Art Moderne, Paris. Aus: Kamenski, A. 1989. Chagall. Die russischen Jahre 1907–1922. Stuttgart 1989. S. 261. S. 217: Marc Chagall: Originalentwurf des Titelblatts zu Iskusstvo Marka Šagala (Die Kunst Marc Chagalls) von Abram Ėfros und Jakov Tugendchol’d, 1918. Privatsammlung, Paris. Aus: Hazan-Brunet (Hg.). Futur Antérieur. L’avant-garde et le livre yiddish (1914–1939). Paris 2009. S. 101. S. 326: Marc Chagall: Illustration zu Der letster oyfshtand von Yoysef Opatoshu, 1948. Aus: Opatoshu, Yoysef. Der letster oyfshtand. Roman in tsvay bikher. Band 1: Reb Akive. Nyu-York 1948. o. S.

Abbildungen auf Tafeln Abb. 1: Marc Chagall: Der Jude in Rot, 1914. Kunstmuseum Basel. Aus: Brugger/Stooss (Hrsg.). Im Bann der Moderne. Wien 2003. S. 71. Abb. 2: Marc Chagall: Kubistische Landschaft, 1918. Musée National d’Art Moderne, Paris. Aus: Kamenski, A. Chagall. Die russischen Jahre 1907–1922. Stuttgart: 1989. S. 325.

394  | Abbildungsverzeichnis Abb. 3: Schema zu Marc Chagall: Kubistische Landschaft, 1918. Abb. 4: Kazimir Malevič: Kuh und Geige, 1913. Staatliches Russisches Museum, St. Petersburg. Aus: Kowtun, Jewgenij F. Sangesi. Die russische Avantgarde. Chlebnikow und seine Maler. Zürich 1993. S. 27. Abb. 5: Kazimir Malevič: Ausschnitt der Umschlagseite von O novych sistemach v iskusstve (Über die neuen Kunstsysteme), 1919. Aus: Šatskich, A. Vitebsk. Žizn‘ iskusstva 1917–1922. Moskva 2001, S. 54. Abb. 6: Pablo Picasso: Die Violine (Jolie Eva), 1912. Stuttgart, Staatsgalerie. Aus: Martini, Alberto. Picasso und der Kubismus. Galerie der klassischen Moderne. Malerei des 19. und 20. Jahrhunderts. Herrsching 1988. Tafel 28. Abb. 7: Marc Chagall: Selbstbildnis mit Farbpalette, 1917. Privatsammlung. Aus: Guerman, Mikhail/ Forestier, Sylvie (Hrsg.). Marc Chagall. Leben und Werk. Singapur 2004. S. 26. Abb. 8: Marc Chagall: Selbstbildnis, 1918. Musée National d’Art Moderne, Paris. Aus: Kamenski, A. Chagall. Die russischen Jahre 1907–1922. Stuttgart: 1989. S. 289. Abb. 9: Kazimir Malevič: Suprematistische Komposition, 1915. Museum Ludwig, Köln. Aus: Drutt, Matthew. W. Kazimir Malevich: Suprematism. New York 2003. S. 149. Abb. 10: Marc Chagall: Liebe auf der Bühne, 1920. Staatliche Tretjakov-Galerie, Moskau, Inv. Nr. ж–525. Aus: Benesch/Brugger (Hrsg.). Marc Chagall. Meisterwerke 1908–1922. Wien 2006. S. 141, Tafel 77. Abb. 11: Schema: Hebräische Buchstaben in: Marc Chagall: Liebe auf der Bühne, 1920. Staatliche Tretjakov-Galerie, Moskau, Inv. Nr. ж–525. Aus: Benesch/Brugger (Hrsg.). Marc Chagall. Meisterwerke 1908–1922. Wien 2006. S.140. Abb. 12: Marc Chagall: Der Maler an der Staffelei, 1914. Musée National d’Art Moderne, Paris. Aus: Kamenski, A. Chagall. Die russischen Jahre 1907–1922. Stuttgart 1989. S. 150. Abb. 13: Marc Chagall: An der Staffelei, 1922/23. Illustration zu Mein Leben, Blatt 18. Aus: Kornfeld, Eberhard W. Verzeichnis der Kupferstiche, Radierungen und Holzschnitte von Marc Chagall. Band I: Werke 1922–1966. Bern 1970. S. 45. Abb. 14: Marc Chagall: Mann mit zurückgeworfenem Kopf, 1918. Staatliche Tretjakov-Galerie, Moskau. Aus: Benesch/Brugger (Hrsg.). Marc Chagall. Meisterwerke 1908–1922. Wien 2006. S. 105, Tafel 68. Abb. 15: Marc Chagall: Selbstbildnis mit Palette, 1918. Centre Pompidou, Paris, Musée national d’art moderne, Centre de création industrielle. Aus: Benesch/Brugger (Hrsg.). Marc Chagall. Meisterwerke 1908–1922. Wien 2006. S. 104, Tafel 67. Abb. 16: Marc Chagall: Marc Chagall: Selbstportrait. Illustration zu Mein Leben, Blatt 17. 1922. Aus: Kornfeld, Eberhard W. Verzeichnis der Kupferstiche, Radierungen und Holzschnitte von Marc Chagall. Band I: Werke 1922–1966. Bern 1970. Abb. 17: Hermann Struck: Frauenportrait, 1920. Aus: Zweig, Arnold. Das ostjüdische Antlitz. Wiesbaden 1988. S. 128. Abb. 18: Marc Chagall: Selbstbildnis mit Haus im Gesicht, 1922/23. Aus: Kornfeld, Eberhard W. Verzeichnis der Kupferstiche, Radierungen und Holzschnitte von Marc Chagall. Band I: Werke 1922–1966. Bern 1970. S. 68–69. Abb. 19: Marc Chagall: Selbstportrait mit dem Haus, um 1926. Aus: Kornfeld, Eberhard W. Verzeichnis der Kupferstiche, Radierungen und Holzschnitte von Marc Chagall. Band I: Werke 1922– 1966. Bern 1970. S. 154–155.

Abbildungsverzeichnis  | 395 Abb. 20: Marc Chagall: Selbstbildnis mit dem verzierten Hut, 1928. The Tel Aviv Museum of Art. Aus: Compton, Susan. Marc Chagall. Mein Leben – Mein Traum. Berlin und Paris 1922–1940. München 1990. S. 206. Abb. 21: Marc Chagall: Selbstbildnis mit Grimasse, 1924/1925. Aus: Kornfeld, Eberhard W. Verzeichnis der Kupferstiche, Radierungen und Holzschnitte von Marc Chagall. Band I: Werke 1922– 1966. Bern 1970. S. 94–95. Abb. 22: Marc Chagall: Titelblatt zu Der kuntsn-makher (Der Zauberkünstler) von Y.L. Perets, 1915– 1916. Musée National d’art moderne/Centre Georges-Pompidou, Paris. Aus: Hazan-Brunet, Natalie. Futur Antérieur. L’avant-garde et le livre yiddish (1914–1939). Paris 2009. S.102. Abb. 23: Marc Chagall: Der Prophet Elias. Illustration zu Der kuntsn-makher (Der Zauberkünstler) von Y.L. Perets. Musée National d’art moderne/Centre Georges-Pompidou, Paris. Aus: Hazan-Brunet, Natalie. Futur Antérieur. L’avant-garde et le livre yiddish (1914–1939). Paris 2009. S.102. Abb. 24: Marc Chagall: Illustration zu Der kuntsn-makher (Der Zauberkünstler) von Y.L. Perets. Musée National d’art moderne/Centre Georges-Pompidou, Paris. Aus: Hazan-Brunet, Natalie. Futur Antérieur. L’avant-garde et le livre yiddish (1914–1939). Paris 2009. S.102. Abb. 25: Anon.: Paschal’nyj užin (Das Pessachmahl. Lubok), 2. Hälfte des 19. Jhs., Ukraine. Staatliches Ethnographisches Museum, St. Petersburg (cat. no. 6396–50). Aus: An-Ski, S. Semyon AnSky – The Jewish artistic heritage. An album. Moskow 1994. S. 78, Abb. 34. Abb. 26: Boris Grigor’ev: Porträt des Regisseurs Vsevolod Mejerchol’d, 1916. Staatliches Russische Museum, St. Petersburg. Aus: Bowlt, John. Moskau & St. Petersburg. Kunst, Leben und Kultur in Russland 1900–1920. Wien 2008, S. 294. Abb. 27: David Burljuk, Kazan’ 1914. Aus: Lekmanov, Oleg/Sverdlov, Michail. Sergej Esenin. Biografija. Sankt-Peterburg 2007. S. 312. Abb. 28: Vladimir Majakovskij, Kazan’ 1914. Aus: Kowtun, Jewgenij F. Sangesi. Die russische Avantgarde. Chlebnikow und seine Maler. Zürich 1993. S.22. Abb. 29: Anatolij Mariengof, 1910er Jahre. Aus: Lekmanov, Oleg/Sverdlov, Michail. Sergej Esenin. Biografija. Sankt-Peterburg 2007. S. 186. Abb. 30: Aleksandr Blok, Sankt Petersburg, 1907. Aus: Blok, Aleksandr A. Polnoe sobranie sočinenij i pisem v dvadcati tomach. Tom 7: Proza (1903–1907). Moskva: Nauka 2003. o.S. Abb. 31: Marc Chagall: Der Jude in Hellrot, 1914/15. Staatliches Russisches Museum, St. Petersburg, Inv. Nr. ЖБ–1708. Aus: Benesch/Brugger (Hrsg.). Marc Chagall. Meisterwerke 1908–1922. Wien 2006. S. 93, Tafel 57. Abb. 32: Marc Chagall: Der Greis, 1914. Musée National d’Art Moderne, Paris. Aus: Kamenski, A. Chagall. Die russischen Jahre 1907–1922. Stuttgart 1989. S. 349. Abb. 33: Marc Chagall: Der Krieg, 1914. Lunačarskij-Museum, Krasnodar. Aus: Kamenski, A. Chagall. Die russischen Jahre 1907–1922. Stuttgart 1989. S. 368. Abb. 34: Marc Chagall: Titelseite zu Troyer von Dovid Hofshteyn, 1922 (1919), Musée National d’Art Moderne, Paris. Aus: Kamenski, A. Chagall. Die russischen Jahre 1907–1922. Stuttgart. 1989. S. 256. Abb. 35: Ephraim Moses Lilien: Für die Märtyrer von Kišinëv. Weiheblatt zu Sbornik von Maksim Gor’kij, 1903. Aus: Brieger, Lothar: E.M. Lilien. Eine künstlerische Entwicklung um die Jahrhundertwende. Mit 226 Abbildungen nach Radierungen und Zeichnungen des Künstlers. Berlin/ Wien 1922. S. 137.

396  | Abbildungsverzeichnis Abb. 36: Joseph Tshaykov: Umschlag zu Di kupe (Der Haufen) von Perets Markish, 1922 Paris, MAHJ, inv. 2000.16.475. Aus: Hazan-Brunet, Natalie. Futur Antérieur. L’avant-garde et le livre yiddish (1914–1939). Paris 2009. S. 170 u. 260. Abb. 37: Ėl’ Lisickij: Klinom krasnym bej belych! (Mit dem roten Keil schlage die Weißen!), 1919/20. Aus: Wolter, Bettina-Martine/Schwenk, Bernhart. Die Große Utopie. Die russische Avantgarde 1915–1932. Frankfurt: Schirn Kunsthalle 1992. O. S., Abb. 124. Abb. 38: Joseph Tshaykov: Umschlag zu 1919 von Leyb Kvitko, 1923 Paris, MAHJ, inv. 2000.16.481. Aus: Hazan-Brunet, Natalie. Futur Antérieur. L’avant-garde et le livre yiddish (1914–1939). Paris 2009. S. 170. Abb. 39: Yisokher Ber Ribak: Bild aus Pogromserie, 1919. Aus: Berlin Transit. Jüdische Migranten aus Osteuropa in den 1920er Jahren. Berlin/Göttingen 2012. (Ausstellungskatalog) Abb. 40: Der Heilige Vasilij (Jurodivyj), um 1600. Staatliche Tret’jakov-Galerie, Moskau. Aus: Zibawi, Mahmoud. Die Ikone. Bedeutung und Geschichte. Düsseldorf 2003. Abb. 11. Abb. 41: Ikone. Novgorod, 15. Jh. Staatliche Tret’jakov-Galerie, Moskau. Aus: Onasch, Konrad. ­Ikonen. Gütersloh 1961. Abb. 26. Abb. 42: Caravaggio: Die Geißelung Christi, 1607. Musée des Beaux Arts, Rouen. Aus: Longhi, Roberto. Caravaggio. Basel/Dresden 1993. Tafel 98. Abb. 43: Ėl’ Lisickij: Iz gekumen der malekh-hamoves un geshokhtn dem shoykhet/Da kam der Todesengel und tötete den Schächter. Illustration zu Khad Gadya (Das Zicklein), 1919. Musée d’art et d’histoire du Judaïsme, Paris. Aus: Hazan-Brunet, Natalie. Futur Antérieur. L’avant-garde et le livre yiddish (1914–1939). Paris 2009. S. 133. Abb. 44: Yisokher Ber Ribak: Bild aus Pogromserie, 1922 [1919]. Aus: Berlin Transit. Jüdische Migranten aus Osteuropa in den 1920er Jahren. Berlin/Göttingen 2012. (Ausstellungskatalog) Abb. 45: Ėl’ Lisickij: Signet des Yidish farlag, 1917. Musée d’art et d’histoire du Judaïsme, Paris. In: Aus: Hazan-Brunet, Natalie: Futur Antérieur. L’avant-garde et le livre yiddish (1914–1939). Paris 2009. S. 64. Abb. 46: Yisokher Ber Ribak: Bild aus Pogromserie, 1919. Aus: Berlin Transit. Jüdische Migranten aus Osteuropa in den 1920er Jahren. Berlin/Göttingen 2012. (Ausstellungskatalog) Abb. 47: Natan Al’tman: Tauben. Evrejskaja grafika (Jüdische Graphik), 1923. Musée d’art et d’histoire du Judaïsme, Paris. Aus: Hazan-Brunet, Natalie. Futur Antérieur. L’avant-garde et le livre yiddish (1914–1939). Paris 2009. S. 89. Abb. 48: Marc Chagall: Das Vertragsbüro. Illustration zu Mërtyve duši (Die toten Seelen) von Nikolaj Gogol’, Blatt 58. 1923–1925. Digitale Vorlage des Marc-Chagall-Museums, Vitebsk, Belarus. Abb. 49: Marc Chagall: An der Stadtgrenze. Illustration zu Mërtyve duši (Die toten Seelen) von Nikolaj Gogol’, Blatt 47. 1923–1925. Digitale Vorlage des Marc-Chagall-Museums, Vitebsk, Belarus. Abb. 50: Marc Chagall: Der Laternenwächter. Illustration zu Mërtyve duši (Die toten Seelen) von Nikolaj Gogol’, Blatt 65. 1923–1925. Digitale Vorlage des Marc-Chagall-Museums, Vitebsk, Belarus. Abb. 51: Marc Chagall: Čičikov auf dem Bett. Illustration zu Mërtyve duši (Die toten Seelen) von Nikolaj Gogol’, Blatt 16. 1923–1925. Digitale Vorlage des Marc-Chagall-Museums, Vitebsk, Belarus. Abb. 52: Marc Chagall: Das Erklären des Wegs. Illustration zu Mërtyve duši (Die toten Seelen) von Nikolaj Gogol’, Blatt 19. 1923–1925. Digitale Vorlage des Marc-Chagall-Museums, Vitebsk, Belarus.

Abbildungsverzeichnis  | 397 Abb. 53: Marc Chagall: Gevatter Mitjaj und Gevatter Minjaj. Illustration zu Mërtyve duši (Die toten Seelen) von Nikolaj Gogol’, Blatt 29. 1923–1925. Digitale Vorlage des Marc-Chagall-Museums, Vitebsk, Belarus. Abb. 54: Marc Chagall: Unser Held hält sich bereit. Illustration für Mërtyve duši (Die toten Seelen) von Nikolaj Gogol’, Blatt 77. 1923–1925. Digitale Vorlage des Marc-Chagall-Museums, Vitebsk, Belarus. Abb. 55: Marc Chagall: Čičikov rasiert sich. Illustration zu Mërtyve duši (Die toten Seelen) von Nikolaj Gogol’, Blatt 75. 1923–1925. Digitale Vorlage des Marc-Chagall-Museums, Vitebsk, Belarus. Abb. 56: Marc Chagall: Die Opferung Isaaks. Illustration zur Bibel. Blatt 10, 1931–1939. Aus: Güse, Ernst-Gerhard (Hrsg.): Marc Chagall. Druckgraphik. Stuttgart 1985. S. 158. Abb. 57: Rembrandt: Die Opferung Isaaks, 1635. Eremitage, St. Petersburg. Aus: Loewinson-Lessing, V. (Hrsg.). Rembrandt Harmensz van Rijn, Paintings from soviet museums. Leningrad 1975. Tafel 10. Abb. 58: Marc Chagall: Die Erschaffung des Menschen. Illustration zur Bibel. Blatt 1, 1931–1939. Aus: Güse, Ernst-Gerhard (Hrsg.). Marc Chagall. Druckgraphik. Stuttgart 198. S. 154. Abb. 59: Marc Chagall: Frontispiz zu A tog in Regnsburg von Joseph Opatoshu, 1933. Digitale Vorlage der Universitätsbibliothek „Johann Christian Senckenberg“ Frankfurt a. M. Abb. 60: Marc Chagall: Jude, der die Tora auf dem Rücken trägt, 1931–1935. Musée National d’Art Moderne. Aus: Heuberger, Georg/Grütters, Monika (Hg.). Chagall und Deutschland. Verehrt – verfemt. München/Berlin/London/New York 2004. S. 135. Abb. 61: Marc Chagall: Collage Hahn, Tora-Rolle und betender Jude, 1955. Privatsammlung. Aus: Maier-Preusker, Wolfgang. École de Paris – 150 Werke aus privaten Sammlungen. Wien 2005. Kat. Nr. 21. Abb. 62: Marc Chagall: Die rote Tora, 1982. Digitale Vorlage des Marc-Chagall-Museums, Vitebsk, Belarus. Abb. 63: Marc Chagall: Der Fall Jerusalems. Illustration zur Bibel. Blatt 101, 1952–1956. Sammlung Sprengel, Hannover. Aus: Marc Chagall. Druckgraphische Folgen 1922–1966. Ausstellungskatalog und Bestandsverzeichnis Sprengel Museum. Hannover 1981. S. 214. Abb. 64: Marc Chagall: Pour la Tchécoslovaquie, 1939. Aus: Kornfeld, Eberhard W. Verzeichnis der Kupferstiche, Radierungen und Holzschnitte von Marc Chagall. Band I: Werke 1922–1966. Bern 1970. S. 178–179. Abb. 65: Marc Chagall: Dornbeymlekh. Illustration zu Di fidlroyz (Die Fiedelrose) von Avrom Sutskever, [o. J.] Aus: Sutskever, Avrom. Di fidlroyz, Tel-Aviv 1974. S. 103.

Personenverzeichnis

Abel (bibl.) 303 Aberbach, David 144 Abraham (bibl.) 115, 141–143, 174, 186, 230, 247, 301, 303, 306–316, 349 Abram (s. Abraham) Abramovitsh, Sholem Yankev (s. Mendele) Achaschverosch (s. Ahasver) Acher, Martin (Birnbaum, Nathan) 108 Achmatova, Anna 131f. Adam (bibl.) 61, 156, 214, 303, 310, 315f. Adler, Jankel 210, 212, 336 Agamben, Giorgio 334, 336, 338f., 344, 346, 347 Agin, Aleksandr 286, 297 Agnon, Shmuel Yosef 19, 81 Ahab, König (bibl.) 352 Ahasuerus (s. Ahasver) Ahasver 138, 151f., 154 Ajgi, Gennadij 86 Akiva, Rabbi 78, 205, 321f., 325f., 346 Al’tman, Natan 43, 133, 135, 206, 210, 220 Al’ving, Arsenij 162 Aleksandr I. 227 Altdorfer, Albert 322 Amishai-Maisels, Ziva 13, 141, 173, 294 Amos (bibl.) 236 Andreev, Leonid 125 An-Ski (Rapoport, Shloyme Zaynvl) 81, 94, 113, 115, 120, 127f., 152, 208, 239, 329 Antokol’skij, Mark 53f., 82 Apollinaire, Guillaume 12, 32, 34, 45, 55, 61f., 86, 114 Aqiba s. Akiva Arendt, Hannah 338, 341, 343 Aristoteles 23, 320 Aronson, Boris 10, 13, 37, 82, 88, 118, 189, 206, 209 Arp, Hans 65 Ash, Sholem 107, 153, 159, 321

Assmann, Aleida 75 Aykhenrand, Leyzer 344 Babel’, Fen’ja 222, 224, 239 Babel’, Ženja 246 Babel’, Isaak 18f., 112, 127, 142, 149f., 191f., 222–248, 283 Bachtin, Michail 20, 27, 29, 32, 295 Bokher, Elye (Bachur, Elia Levita) 322, 324 Bacon, Francis 183 Bak, Samuel 336 Bakst, Léon (Rozenberg, Lev) 56, 61, 85, 125 Bal-Makhshoves (Izidor Elyashev) 13, 16, 107, 111, 165, 190, 197, 318 Bal Schem Tov (BeSchT) 80f., 111, 114, 119f. Bar-Kochba, Simon 321 Barash, Asher 159 Bartholomäus (Hl.) 218 Bataille, Georges 212 Baudelaire, Charles 61, 162–164, 330 Baudrillard, Jean 244 Beckmann, Max 34, 134f. Bednyj, Demjan 107 Belasser, Shmuel 323 Belinskij, Vissarion 283 Belting, Hans 22, 29 Belyj, Andrej 86, 285f., 289, 295–297 Benjamin bar Jona von Tudela 145 Benjamin, Joseph Israel 145 Benjamin, Walter 21, 181, 212, 244, 309, 328 Benois, Leontij 56, 88, 125 Bergelson, Dovid 12, 42, 44, 100, 107, 159, 167, 188, 199, 210, 239f., 245, 321 Berger, John 37, 65, 71, 244, 308 Bergner, Yosl 351f. Berlewi, Henryk 115, 204 Bernshteyn, Ignats 94 Bhabha, Homi 35, 59

400  | Personenverzeichnis Bialik, Chaim Nachman 18, 100, 111, 154–164, 167f., 186, 201–204 Birnbaum, Nathan (s. Acher) 108, 203 Birnholz, Alan 220 Blok, Aleksandr 34, 67, 86, 99, 124f., 131, 349 Blumenberg, Hans 21, 23 Blumgarten, Salomon (s. Yehoyesh) Bodoff, Lippman 314 Boehm, Gottfried 9, 22–26, 29, 35f., 65, 68, 86 Bogomazov, Aleksandr 208 Bohrer, Karl-Heinz 163 Boklevskij, Pëtr 286, 297 Bonsirven, Joseph 335 Bosch, Hieronymus 290 Bovshover, Yoysef 161 Branduardi, Angelo 79 Braque, Georges 35, 90, 92 Brauer, Arik 336 Bredekamp, Horst 22f., 337, 343 Brenner, Joseph Chaim 152 Breton, André 9, 95 Brjusov, Valerij 86 Broderson, Moyshe 174 Bruegel d. Ä., Pieter 57, 95 Bruk, Jan 44 Buber, Martin 10, 16, 217, 305f. Budënnyj, Semën 230 Budko, Joseph 49 Burljuk, David 124, 131 Byron, George Gordon 197 Čaadaev, Pëtr 290 Cahan, Abraham (Avrom Kahan) 245 Čajkov, Iosif (s. Tshaykov) 37 Čajkovskij, Petr I. 197 Calderón de la Barca, Pedro 60 Callot, Jacques 207 Camus, Albert 161 Canudo, Ricciotto 12 Caravaggio, Michelangelo Merisi da 50, 218f. Carden, Patricia 226, 236 Cassirer, Ernst 30, 94 Čašnik, Il’ja 43

Čechov, Anton 330 Celan, Paul 155, 338 Cendrars, Blaise 12, 34, 44, 62, 67f., 86, 88, 295, 349 Cendrars, Miriam 67 Cervantes, Miguel de 144 Cézanne, Paul 25, 56–58, 65, 70, 75f., 84, 137 Chagall, Bella 12, 14, 17, 45–48, 52f., 59, 61, 68, 76f., 85, 92, 96, 100–103, 107, 120, 122, 125, 132, 141, 300, 318, 338 Chagall, David 53 Chagall, Ida 42f., 47, 52, 76, 100f., 285, 301, 318, 343 Chagall, Zina 132 Chamberlain, Neville 334 Chamisso, Adelbert von 107 Chardin, Jean Siméon 57, 61 Chlebnikov, Velimir (Viktor V.) 29, 34f., 131 Chmel’nickaja, Ljudmila 43 Christus (bibl.) 56, 67f., 85, 110, 135, 152f., 155, 160, 169, 198, 207, 213, 216- 219, 234, 236f., 245, 293, 317f., 335, 342, 344–346 Cimabue 53, 57 Ciperson, Lev 91 Čirikov, Evgenij 159 Čistjakov, Pavel 56 Cogniat, Raymond 210 Cohen, Hermann 30 Cohen, Richard 207 Comenius 291 Conrad, Joseph 227 Corbineau-Hoffmann, Angelika 172 Corot, Jean-Baptiste Camille 55 Courbet, Gustave 57f. Cranach, Lucas 340 Crommelynck, Fernand 126 Da Vinci, Leonardo 22f., 50, 58 Daladier, Èdouard 334 Daniel (bibl.) 205 Dante Alighieri 284, 289 Darian, Veronika 28, 212, 243

Personenverzeichnis  | 401 David 82, 142, 144, 202, 235f., 336, 341, 344–­ 346 Delaunay, Robert 10, 55, 71, 75 Delaunay, Sonja (Terk) 55, 62 Denikin, Anton 159 Derrida, Jacques 23, 25f., 29, 65, 70f., 75, 88, 166, 210, 245, 308, 311f., 315, 331, 336 Dietrich von Bern 324 Dine, Jim 82 Djagilev, Sergej P. 56, 330 Dmitrieva, Marina 87 Dobrushin, Yekhezkl 41, 44, 160, 189f., 208 Dobyčina, Nadežda 108 Dobzynski, Charles 160 Doré, Gustave 151 Dostoevskij, Fëdor 105, 152, 201, 207, 231, 233, 244 Dubnov, Simon 155, 188, 224f., 321f., 328 Dürer, Albrecht 102, 340 Eco, Umberto 26 Ėfros, Abram bzw. Anatolij 10, 13, 89, 98, 133, 217 Eichendorff, Joseph Freiherr von 12 Eidherr, Armin 108 Einstein, Albert 107, 247, 328 Ėjchenbaum, Boris 35 Ėkster, Aleksandra 55f., 208 El Greco 57, 67, 84 Eli. Hohepriester (bibl.) 235 Elias (bibl.) 105, 109f., 116, 119–127,157, 230, 247, 309, 325, 351f. Eliasberg, Alexander 203 Elijahu (s. Elias) Elimelech, Rabbi von Lezaisk 105, 119 Eliot, T.S. 159 Elkins, James 23f. Éluard, Paul 34, 86 Elyashev, Yisroel (s. Bal-Makhshoves) Emden, Ja’akov 170 Engel, Joel 44 Epstein, Henri 339

Ėrenburg, Il’ja 114, 150, 159f., 169, 204 Erik, Maks 321, 323 Ermolaeva, Vera 57, 91 Ernst, Max 34 Esenin, Sergej 107, 124, 167f., 172, 198, 200 Ester (bibl.) 154, 238, 303 Estraikh, Gennady 162, 200 Eva (bibl.) 61, 214, 303 Evreinov, Nikolaj 35, 126, Evtuševskij, Vasilij 229 Ezechiel (bibl.) 41, 174, 245, 345f. Ėllis (Lev Kobylinskij) 162 Éluard, Paul 34, 86 Falconet, Étienne-Maurice 233, 236 Fantin-Latour, Henri 70 Fefer, Itsik 14, 17, 245, 248, 346 Feilchenfeldt, Rahel 46 Feilchenfeldt, Walther 46f., 49 Feiwel, Berthold 155, 203, 205 Feldman, D. 240 Ferdinand II. 334 Filonov, Pavel 34 Fleg, Edmond 335 Florenskij, Pavel 299 Flusser, Vilém 25, 166 Foucault, Michel 27–29, 35, 88 Fouquet, Jean 57f. Frank, Anne 346 Franko, Ivan 200 Franz Ferdinand 139 Freud, Sigmund 107, 328 Fried, Erich 3 Frieden, Ken 112 Friedrich V. von der Pfalz 334 Frug, Shimen 151 Gadamer, Hans-Georg 23, 28, 36 Gal-Ed, Efrat 313 Gauguin, Paul 42 Gautier, Théophile 330 Gavris, Ivan T. 91 Geertz, Clifford 30

402  | Personenverzeichnis Gelshorn, Julia 27 Genette, Gérard 33, 89, 111 Georgij (Hl.) 211, 216 Géricault, Antoine-Jean 207 Giacometti, Alberto 75 Gincburg, Il’ja 53, 108 Ginsberg, Ascher (Ahad Ha-Am) 155 Ginzberg, Louis 120 Giotto 53, 57, 61, 248 Glants-Leyeles, Aaron 161 Glatshteyn, Yankev 161 Gleizes, Albert 44 Goebbels, Joseph 142 Goethe, Johann Wolfgang von 192 Gogh, Vincent van 57 Gogol’, Nikolaj V. 18–20, 29, 38, 48, 70, 115, 135, 145, 147, 174, 180, 201, 231f., 244, 248, 283–300, 327, 330 Goldberg, Grigorij 107 Goliath (bibl.) 235f., 336 Goll, Claire 283 Goll, Ivan 170, 283, 285 Golovin, Aleksandr 125 Gombrich, Hans Ernst 9 Gončarova, Natal’ja 5, 68, 133, 303 Gor’kij, Maksim 155, 204f., 230 Gordin, Jakob 159 Goya, Francisco de 207, 211, 214 Goyard, Paul 343 Granovskij, Aleksej 43, 93, 126 Gregor IX. (Papst) 142 Grigor’ev, Boris 123f., 127 Grimminger, Rolf 243 Grinberg, Uri Tsvi 47, 153 Gris, Juan 35, 56 Gronfeyn, Evgenija 240 Gropper, William 152 Gros, Jean-Antoine 207 Grosz, George 132, 173 Groys, Boris 90 Guro, Elena 34 Guri, Yoysef 94 Guston, Philip 16

Ha-Am, Ahad (s. Ginsberg) 155 Hadrian 321 Haggard, Virginia 248, 318 Halkin, Hillel 15, 19 Halle, Fannina 46 Haman (bibl.) 154 Hansen-Löve, Aage 20, 33f., 36, 50, 90, 285, 297 Harshav, Benjamin 10–14, 42, 45–48, 68, 90f., 103, 107f., 165, 175f., 304, 344, 350 Haustein, Lydia 22f. Heftrich, Urs 285, 289, 291 Heidegger, Martin 26, 75, 341 Heine, Heinrich 107, 121, 328 Hertz, Joseph 170 Herz, J. 78 Herzl, Theodor 151 Hess, Moses 319f. Heyd, Milly 82 Hille, Karoline 46, 50, 80 Hiob (Iev) 12, 95, 132, 153, 168, 170f., 187, 303, 304, 314, 331, 335 Hirszenberg, Samuel 141, 151–153, 206, 337 Hitler, Adolf 246, 319, 334, 338, 340 Hölderlin, Friedrich 12 Hoffmann, E.T.A. 124 Hofshteyn, Dovid 12, 14, 18, 42–44, 47, 150, 154, 159, 164–187, 189f., 194–196, 201–205, 208, 239, 245, 247, 297, 337, 341 Holbein, Hans (d. J.) 152, 340 Horaz 25 Hugo, Victor 197 Hunterberg, Max 335 Husserl, Edmund 26 Huysmans, Joris-Karl 163 Ibn Ezra 305, 312 Iev (s. Hiob; bibl.) 170f., 331 Ignatov, Dovid 321 Ingarden, Roman 26 Ingold, Felix Philipp 35 Isaak (bibl.) 141, 160, 174, 236, 301–304, 306–316, 335

Personenverzeichnis  | 403 Ismael (bibl.) 141 Israëls, Jozef 54, 82, 140, 141, 153, 340 Ivanov, Alexander 330 Ivanov, Vjačeslav 107, 248 Jaccottet, Philippe 48 Jaeckel, Willy 132 Jakob (bibl.) 141, 235, 291, 314, 337, 346 Jakobson, Roman 9, 23, 26, 28, 31 Jehuda he-Chassid 324 Jendrusch, Andrej 189 Jeremias (bibl.) 147, 160, 164, 169, 245, 333 Jerobeam (bibl.) 144 Jesaja (bibl.) 114, 245, 303f., 333, 334 Jizchak, Rabbi Jakob 119 Johannes der Täufer 218 Johannes (Abt) 291 Jojakim (bibl.) 333 Jonas (bibl.) 235 Jordaens, Jacob 332 Joseph (bibl.) 219 Joyce, James 226 Judenič, Nikolaj 230 Judin, Lev 91 Judovin, Salomon 208, 213, 219f. Junkerjürgen, Ralf 53 Kabiščer-Jakerson, Elena 60 Kafka, Franz 288 Kagan-Šabšaj, Jakov 329 Kahan, Avrom (s. Cahan) Kahanovitsh, Pinkhes (s. Nister) Kain (bibl.) 303 Kamenski, Alexander (Kamenskij, Aleksandr) 9, 133, 136, 141 Kampf, Avram 336 Kandinskij, Vasilij 34, 90 Kapel, Aleksandr (s. Mukdoyni) Karp, Jonathan 16, 38 Katsenelson, Yitskhok 344f. Kazovskij, Hillel 206f., 215 Kenig, Leo 13, 88, 118, 210 Kertész, Imre 227, 337

Kharik, Izi 14, 17 Kiel, Mark 111 Kierkegaard, Sören 312, 315 Kirchner, Ernst Ludwig 102, 132 Kirshenblatt-Gimblett, Barbara 16, 38 Kitaj, Ronald Brooks 16 Kittler, Friedrich 24 Klee, Paul 34, 328 Kleeblatt, Norman 152 Klein, A.M. 156 Kleine, Ane 95 Kletskin, Boris 106, 108 Kljunkov, Ivan 90 Klünner, Lothar 48 Kobylinskij, Lev (s. Ėllis) Kogan, Moyshe 339 Kogan, Nina 57 Kohelet (bibl.) 331 Kokoschka, Oskar 170, 214 Kolits, Tsvi 345 Končalovskij, Pëtr 132 Korn, Rokhl 350 Korolenko, Vladimir 149, 155 Korzeniowski, Apollo 227 Kristeva, Julia 27, 32 Kručenych, Aleksej 90, 131, 177 Krutikov, Mikhail 29, 50, 145, 166, 238 Kugl, Moyshe-Tsvi 211 Kulbak, Moyshe 188 Kustodiev, Boris 56 Kvitko, Leyb 12, 18, 79, 100, 150, 156, 158f., 164, 168, 188–191, 193–200, 202–206, 208, 219, 228, 231f., 245, 247 La Fontaine, Jean de 20, 38, 283 Lacan, Jacques 25 Lachmann, Renate 33 Langer, Jiří Mordechaj 315 Langer, Susanne 23 Larionov, Michail 35, 53, 55, 68, 84, 132f., 303 Lassaigne, Jacques 138 Lazarus (bibl.) 303 Le Goff, Jacques 36

404  | Personenverzeichnis Le-Dantiu, Michail 132 Lehmann, Jörg 285 Lejeune, Philippe 42, 224 Lenin, Vladimir 79,107, 246f. Lermontov, Michail 126, 198 Lessing, Gotthold, Ephraim 23, 25, 31f., 70, 307 Lénéman, Léon 13 Leśmian, Bolesław 245 Levi Yitskhok ben Meir (Berdičev) 114 Lévinas, Emmanuel 312, 315 Levitan, Isaak 330 Levita, Elye 322, 324 Leyb von Regensburg 323 Li Xiang 215 Liebelt, Udo 142 Liebermann, Max 54, 85 Lilien, Ephraim Moses 204f., 337 Lipchitz, Jacques 336 Lisickij, Ėl (Eliezer) 37, 43, 54f., 65, 79, 104, 174, 204, 208–210, 219f. Litvak, Olga 11, 48 Litvakov, Moyshe 189 Longus 20 Lorca, Federico García 158 Lotman, Jurij 25, 28–30, 60, 72, 108, 297 Lukas (bibl.) 67 Lunačarskij, Anatolij 76 Luria 119, 158 Lyesin, Avrom (Avrom Valt) 14, 17, 47, 154, 247, 313, 318, 337 Maeterlinck, Maurice 125 Maillol, Aristide 53 Maimon, Moses (Moyshe) 152 Maimon, Mose ben (Rambam; s. Maimonides) Maimonides 127, 246, 305, 319f. Majakovskij, Vladimir 34f., 62, 68, 76, 86, 95, 107, 124, 131, 161, 171, 176, 199, 215 Malevič, Kazimir 17f., 20f., 34f., 43, 51, 54f., 57f., 67f., 70, 84, 90–93, 132f., 166, 173, 177, 181, 204, 215 Malkin, Mark (Maynvl) 208

Mallarmé 35 Mandel’štam, Nadežda 169 Mandel’štam, Osip 131, 139, 142f., 150, 169, 245, 333 Mané-Katz, Emmanuel 208, 210, 335 Manger, Itsik 239, 301, 306, 312–316 Manievič, Abraham 153 Mann, Jurij 296 Maria (bibl.) 53, 58, 219 Margolin, Miryam 219 Mariengof, Anatolij 124 Marinetti,Tommaso 32, 131 Markish, Perets 12, 18, 42f., 47, 100, 150, 155–165, 168, 171, 174, 189, 191, 201, 203–206, 208, 239, 245, 247, 299, 311, 318, 344, 346 Markiš, Simon 225 Maršak, Samuil 166, 223 Marti, Karl 305 Maryan, Maryan S. (Pinchas Burstein) 336 Masaccio (Tommaso di Ser Cassai) 61 Masaryk, Tomáš Garigue 334 Matejko, Jan 151 Matisse, Henri 56, 70 Matjušin, Michail 34 Matthäus (bibl.) 51 Maupassant, Guy de 231, 244 Maximilian I. 322 Mayzel, Nakhmen 208, 332 Mayzl, Gitl 240 Mazepa, Ivan 197, 231 Mazin 98 Mazover, David 204 Meidner, Ludwig 82, 132, 135, 148, 214f. Meister Hildebrand 324 Mejerchol’d, Vsevolod 35, 76, 99, 123–127, 296 Mendele (Moykher-Sforim; Abramovitsh, Sholem Yankev) 12, 16, 18, 21, 58, 104, 106, 111, 143–147, 152, 239, 284, 321, 324 Mendelssohn, Moses 15, 305 Merežkovskij, Dmitrij 285, 289 Merleau-Ponty, Maurice 24, 26, 28, 35, 64f., 69–76

Personenverzeichnis  | 405 Metzger, Rainer 75, 78 Metzinger, Jean 10, 56 Meyer, Franz 12, 46, 75, 88, 284 Meyrink, Gustav 175 Michelangelo 50 Mikhoels, Salomon (Shloyme) 43, 240 Miller, Lee 337, 343 Miller, Henry 9 Minkowski, Maurycy 152f., 337 Mitchell, W.J.T. 23 Modigliani, Amadeo 248, 340 Monet, Claude 24 Morales, Luis de 60 Morozov, Ivan 330 Moses (bibl.) 12, 36, 51, 53, 119, 143, 229f., 237, 310, 312, 317f., 335, 341f., 344–347, 351f. Mucha, Stanisław 337 Mukařovský, Jan 23 Mukdoyni, Aleksandr (Aleksandr Kapel) 210 Munch, Edvard 157, 183 Muromec, Il’ja 233 Mussolini, Benito 334 Nabokov, Vladimir 285f., 289- 291, 294, Nachman ben Simcha von Bratzlav (Nakhmen Braslever) 79–81 Nachmanides (Ramban) 305 Nebukadnezzar 333 Nemirov, Moshe (s. Bialik) 156 Neurath, Konstantin Freiherr von 344 Niborski, Yitskhok 122 Nietzsche, Friedrich 214 Niger, Shmuel 47, 107, 109, 111f., 190, 199, 305 Nikolaj (Hl.) 216, 227 Nikolaj I. 224, 227, 231f. Nikolaj II. 227, 232 Nister, Der (Pinkhes Kahanovitsh) 12, 14, 16f., 44, 78, 81, 107f., 117f., 135, 181, 188, 199, 210, 239, 346 Nomberg, Hersh Dovid 107 Nossig, Alfred 151

Novalis 12 Novershtern, Avraham 19 Nowack, Wilhelm 305 Nünning, Ansgar 20 Nünning, Vera 20 Nussbaum, Felix 336 Opatoshu, Adele 318, 325 Opatoshu, Joseph (Yoysef ) 13f., 17f., 20, 34, 70, 107, 227, 317–332, 337f., 344, 346, 349f. Oppenheim, Moritz Daniel 82 Oyslender, Nokhem 162 Paech, Joachim 27, 30 Panofsky, Erwin 20, 26, 29f., 68, 77 Panov, A.A. 162 Pasternak, Boris 107, 152 Pasternak, Leonid 141, 152f. Pater, Walter 242 Paulhan, Jean 47 Paustovskij, Konstantin 232, 242 Pechstein, Max 132 Pen, Jehuda (Pėn, Jurij) 17, 55f., 58, 60f., 63, 76, 82f., 135, 137, 140f., 152, 208 Perets, Yitskhok Leybush 12, 14, 16–18, 38, 42, 78–81, 104–121, 123f., 126f., 147, 175, 178, 181, 204, 297, 304–306, 311, 319, 320f., 325, 330, 349 Peter der Große 223, 231f., 292 Petljura, Simon 159, 188 Petrov-Vodkin, Kuz’ma 132 Pfister, Manfred 32–34, 50 Picasso, Pablo 34f., 44f., 56, 84, 90f., 248 Piero della Francesca 61 Pilichowski, Leon 152f. Pinsker, Leo 155, 159 Pissarro, Camille 340 Plated, Felka 336 Platon 22f. Pletnëv, Pëtr 284 Poe, Edgar Allen 163 Pollaiuolo, Antonio 57 Popova. Ljubov’ 126

406  | Personenverzeichnis Pound, Ezra 161 Prjanišnikov, Ilarion 216 Propp, Vladimir 119 Pucykovič, Feofil 229 Puškin, Aleksandr 12, 106, 197, 223, 230–233, 244, 285, 291, 294, 298, 330 Rabelais 296 Rabinovitsh, Shloyme Yankev (s. Sholem-Aleykhem) Rabinowitz, Yakov 159 Raffael 61 Rajewsky, Irina 27, 30, 32–34 Rambam (s. Maimonides) Ramban (s. Nachmanides) Rapoport, Michail 343 Rapoport, Nathan 152 Rapoport, Shloyme Zaynvl (s. An-Ski) Raschi 171, 312 Rattner, Abraham 335 Ravitsh, Meylekh 47 Ravnitski, Yehoshua 155f. Rebekka 141, 316 Rehabeam 144 Reichle, Ingeborg 27 Reiling, Netty (s. Seghers) Rembrandt, Harmenszoon van Rijn 57f., 62, 67f., 84, 101–103, 141f., 302, 306, 308–311, 315, 332 Remenik, Hersh 195, 199 Renoir, Pierre-Auguste 209 Repin, Il’ja 9, 216, 297 Rerich, Nikolaj (Rërich) 56, 216, 303 Reyzen, Avrom 107, 165 Ribak, Sonya 208, 212 Ribak, Yisokher Ber 10, 17–19, 37, 43, 54, 82, 88, 100, 135, 153, 156, 159, 189, 201, 205–221, 240–245, 247, 335 Ricœur, Paul 9, 70, 352 Rippl, Gabriele 23, 31f., 36 Roditi, Edouard 47, 94 Röll, Walter 107 Rontsh, Yitskhok 13, 86, 338

Rosen, Aaron 16 Rosental, Eliezer David 160 Rosenzweig, Franz 30, 305–307, 315 Rosheim, Jossilman 323 Roskies, David 107f., 112, 158, 161 Roth, Joseph 170 Rousseau, Jean-Jacques 231 Rozanov, Vasilij 296 Rozenberg, Lev (s. Bakst) Rozenfeld, Moris 161 Rubens, Peter Paul 68, 332 Ruth 303f. Ryleev, Kondratij 197 Sabin, Stefana 41f., 49 Sachs, Nelly 170 Sachs-Hombach, Klaus 22, 30 Shagal, Mark (Chagall, Marc) 41, 61, 88, 90, 210, 327 Shagal, Yekhezkl Zaher 41 Shagal, Feyge-Ite 41, 61 Šagal, Mark (Chagall, Marc) 41, 43, 82, 89f., 92 Salmon, André 46 Salomo 144, 247, 304 Saltykov-Ščedrin, Mikhail 145 Shapiro, Lamed 159 Sara (bibl.) 115, 230, 308, 312–314 Shatski, Yankev 332 Šatskich, Aleksandra 20, 68, 284, 289 Saul (bibl.) 82, 236 Saussure, Ferdinand de 27, 72 Savčenko, Jakov 167 Schmid, Wolf 26, 222, 226 Schönberg, Arnold 34, 82 Schreiner, Stephan 328 Schröter, Jens 30 Schulte, Jörg 229 Schulz, Bruno 34, 245 Schulz-Buschhaus, Ulrich 131 Schulze, Theodor 65 Schwob, Réné 34 Seel, Martin 212 Šefner, Vadim 294

Personenverzeichnis  | 407 Segal, Moyshe (Chagall, Marc) 14, 41, 89 Segal, Yitskhok Ayzik 84, 89 Seghers, Anna (Netty Reiling) 68 Sicher, Efraim 226, 235, 240 Sidney, Alexander 297 Siegel, Steffen 27 Signorelli, Luca 57 Simmel, Georg 68 Singer, Isaac Bashevis 16, 155 Šklovskij, Viktor 72 Slezkine, Yuri 245 Sluckij, Valerij 166 Shmeruk, Khone 104, 112, 165, 171 Smirnovskij, Petr 229 Smolin, Dmitrij 283 Shneyerson, Rabbi Yoysef Yitskhok (Schneersohn) 12 Sholem-Aleykhem (Sholem Yankev Rabinovitsh) 12f., 16, 18f., 38, 44, 78, 88f., 95, 97, 104, 106, 111, 127, 143–149, 155, 167f., 186, 199, 227, 239, 284, 321 Sontag, Susan 207f., 244 Sorlier, Charles 12 Soutine, Chaïm 62, 68, 82, 210, 214, 339 Soyer, Moyshe 37 Spelten, Achim 27 Spengler, Oswald 319 Spinoza, Baruch 114 Spivak, Karl 305 Stalin, Iosif 165–167, 232, 246–248 Stanislavskij 125f. Stasov, Vladimir 82 Stein, Gertrude 34 Shterenberg, David (Šterenberg) 43, 76 Stierle, Karlheinz 26 Shtif, Nokhem 105, 109, 321, 328 Stramm, August 134 Strižak, Oleg 297 Struck, Hermann 49, 100–102, 283 Stryjkowski, Julian 78, 80, 115, 123,140, 143, 149, 151, 227, 230, 245, 322 Ščukin, Sergej 330 Surikov, Vasilij 9

Susman, Margarete 170 Sutherland, Graham 335 Sutskever, Avraham (Avrom) 13f., 17, 34, 309, 329, 337, 344, 346, 349–353 Šul’man, Arkadij 84, 338 Shvarts, Karl 207, 209f. Shvartsman, Osher 167 Sweeney, James Johnson 11 Syrkin, Maksimil’jan 107 Szalit-Marcus, Rahel 339 Tairov, Aleksandr 25, 208 Tarabukin, Nikolaj 126 Taslitzky, Boris 336, 343 Tasseva, Olga 75 Tatlin, Vladimir 34, 68, 84, 204 Tériade (Stratis Eleftheriadis) 283, 301 Terk, Sonja (s. Delaunay) Tertullian 344 Tilburg, Janis (Ivan) 70 Tintoretto, Jacopo 57, 84 Tizian 67 Tobias (bibl.) 235 Tobit (bibl.) 235 Tolstoj, Lev 131, 155, 223, 229, 231, 244, 325, 330 Trunk, Yekhiel 239 Tsaytlin, Hilel 160 Tsharni, Danil 14, 17, 207, 210 Tshaykov, Yoysef 37, 135, 204–206, 209 Tsherikover, Elye 210, 221, 328 Tugendchol’d, Jakov (Yankev) 10, 13, 28, 60, 98, 135, 207, 214f., 284 Turgenev, Ivan 144, 225 Tynjanov, Jurij 29, 31, 296 Udal’cova, Nadežda 56 Umanskij, Dmitrij 223 Urban, Peter 239 Uspenskij, Boris 31, 60 Valéry, Paul 69 Valt, Avrom (s. Lyesin)

408  | Personenverzeichnis Varshavski, Mark 187 Varshavski, Oyzer 47, 50, 163, 318 Vasilij (Hl.) 216 Vaysenberg, Yitskhok Meyer 107, 321 Velázques 27 Venturi, Lionello 11 Verhaeren, Émile 162 Verlaine, Paul 61, 163 Veronese, Paolo 61 Vinaver, Maksim 61, 107f. Vollard, Ambroise 283, 301f. Voltaire 55 Voznesenskij, Andrej 86 Vrubel’, Michail 84–86, 303 Warburg, Aby 29f., 329 Weber, Annette 38, 118, 138, 140, 189 Weiner, Richard 135 Weinreb, Friedrich 123 Weinreich, Beatrice Silverman 119 Weinreich, Max 83, 328 Werner, Alfred 214 Wertheimer, Jürgen 240 Whitman, Ruth 351 Whitman, Walt 162 Widuwilt 324 Wiesel, Elie 36, 113, 314 Wiesemann, Falk 302 Winz, Leo 151

Wischnitzer-Bernstein, Rahel 54, 214 Wisse, Ruth 120, 352 Witkiewicz, Stanisław 34 Wittgenstein, Ludwig 23, 29 Wolf, Werner 32 Wolfskehl, Karl 170 Wolitz, Seth 14, 159–161, 173f., 185, 188, 203 Wullschlager, Jackie 46 Xerxes s. Ahasver 154, 238 Yakerson, Dovid 219 Yehoash s. Yehoyesh Yehoyesh (Solomon [Shloyme] Blumgarten) 18, 107, 122, 302, 304–307, 315, 317 Young, James E. 334, 336 Zaloscer, Hilde 157 Zefanja 334 Zelenin, Dmitrij 229 Zen’kovskij, Vasilij 299 Žabotinskij, Vladimir (Zev) 156 Zhikhlinski, Rayzl 333, 341, 344 Zieliński, Konrad 144 Zima, Peter 27, 31, 33 Zlocisti, Theodor 203 Zuperman, Lazar 91 Zweig, Arnold 100f. Zweig, Stefan 329

Isabel Wünsche

Kunst & Leben Michail Matjuschin und die Russische Avantgarde in St. Petersburg (Studien zur Kunst, Band 23)

Michail Matjuschin (1861-1934), der vor allem als Komponist bekannt ­geworden ist, war nicht nur ein erfolgreicher Musiker, sondern auch ein einflussreicher Maler und Kunsttheoretiker. Als Mitbegründer des Bundes der Jugend bildete er mit Jelena Guro ab 1910 den Mittelpunkt der Avantgarde in St. Petersburg; er entwickelte seine Ideen in engem Austausch mit Nikolai ­ ktoberrevolution Kulbin, Pawel Filonow und Kasimir Malewitsch. Nach der O gründete Matjuschin das Studio für Räumlichen Realismus und leitete die Abteilung für Organische Kultur am Leningrader Institut für Künstlerische Kultur. In den 1930er Jahren beschäftige er sich vor allem mit farbtheoretischen Überlegungen und ihrer praktischen An­wendung in Kunst, Architektur und Design. Die vorliegende Monographie ist die erste Gesamtdarstellung seines vielfältigen künstlerischen und ­theoretischen Schaffens. 2012. 258 S. Mit 35 s/w-Abb. und 17 farb. Abb. Gb. 170 x 240 mm. ISBN 978-3-412-20730-4

böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

SUSANNE MARTEN-FINNIS

DER FEUERVOGEL ALS KUNSTZEITSCHRIFT ZAR PTICA: RUSSISCHE BILDWELTEN IN BERLIN 1921–1926

In der Presselandschaft des Russischen Berlin war sie so bekannt wie das Ballett Strawinskys und die mythische Figur östlicher Folklore, die russische Künstler als Symbol unerreichbarer Schönheit feierten. Dieser Vorstellung entsprang die Idee zum Feuervogel als Kunstzeitschrift, die mit ihren aufwändigen Farbtafeln als Meisterwerk russischer Buchkunst gilt. Dennoch fand Žar ptica, wie sie auf Russisch heißt, in der Forschungsliteratur bisher nur marginale Erwähnung. Die Gründe dafür werden nun offen gelegt. In einer umfangreichen Dokumentation enthüllt Susanne Marten-Finnis die Geschichte eines einzigartigen Zeitschriftenprojektes, das wie kein anderes die kaleidoskopische Vielfalt und Internationalität eines Schauplatzes vermittelt, der für kurze Zeit Zentrum russischer Kreativität war. 2012. 221 S. 16 FARB. ABB. BR. 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-78766-2

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

WOLFGANG STEPHAN KISSEL

ČECHOVS KOSMOS THEATER, RAUM UND ZEIT (BAUSTEINE ZUR SLAVISCHEN PHILOLOGIE UND KULTURGESCHICHTE. REIHE A: SLAVISTISCHE FORSCHUNGEN, BAND 75)

Anton Čechovs Dramen und Einakter werden heute auf den Bühnen der ganzen Welt gespielt. Diese Monographie deutet sie als moderne Variante des

„theatrum mundi“, als Spiel vom Werden und Vergehen der Welt. Im Zeitalter von Naturwissenschaft und Evolutionslehre bleibt Gottes Platz in diesem Spiel leer, doch die fehlbaren Menschen können nicht an seine Stelle treten. Das neue Zentrum wird gebildet vom Kosmos, der Raum und Zeit hervorbringt. Auf seiner Bühne spielen keine Helden oder Protagonisten, sondern eine Menschengruppe, angesiedelt an der Grenze von Natur und Kultur, die im Chronotopos „Haus mit Garten“ konkrete Gestalt annimmt. Die Gruppe überlebt durch gemeinsame Arbeit, auch wenn die Ergebnisse der Arbeit von Verfall und Verlust bedroht sind. So entsteht ein Welttheater mit starken sozialen Akzenten, das keine Sicherheit, keine letzte Wahrheit mehr kennt. 2012. VI, 284 S. GB. 150 X 230 MM | ISBN 978-3-412-20870-7

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

Isabel Wünsche

Kunst & Leben Michail Matjuschin und die Russische Avantgarde in St. Petersburg (Studien zur Kunst, Band 23)

Michail Matjuschin (1861-1934), der vor allem als Komponist bekannt ­geworden ist, war nicht nur ein erfolgreicher Musiker, sondern auch ein einflussreicher Maler und Kunsttheoretiker. Als Mitbegründer des Bundes der Jugend bildete er mit Jelena Guro ab 1910 den Mittelpunkt der Avantgarde in St. Petersburg; er entwickelte seine Ideen in engem Austausch mit Nikolai ­ ktoberrevolution Kulbin, Pawel Filonow und Kasimir Malewitsch. Nach der O gründete Matjuschin das Studio für Räumlichen Realismus und leitete die Abteilung für Organische Kultur am Leningrader Institut für Künstlerische Kultur. In den 1930er Jahren beschäftige er sich vor allem mit farbtheoretischen Überlegungen und ihrer praktischen An­wendung in Kunst, Architektur und Design. Die vorliegende Monographie ist die erste Gesamtdarstellung seines vielfältigen künstlerischen und ­theoretischen Schaffens. 2012. 258 S. Mit 35 s/w-Abb. und 17 farb. Abb. Gb. 170 x 240 mm. ISBN 978-3-412-20730-4

böhlau verlag, ursulaplatz 1, 50668 köln. t : + 49(0)221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

SUSANNE MARTEN-FINNIS

DER FEUERVOGEL ALS KUNSTZEITSCHRIFT ZAR PTICA: RUSSISCHE BILDWELTEN IN BERLIN 1921–1926

In der Presselandschaft des Russischen Berlin war sie so bekannt wie das Ballett Strawinskys und die mythische Figur östlicher Folklore, die russische Künstler als Symbol unerreichbarer Schönheit feierten. Dieser Vorstellung entsprang die Idee zum Feuervogel als Kunstzeitschrift, die mit ihren aufwändigen Farbtafeln als Meisterwerk russischer Buchkunst gilt. Dennoch fand Žar ptica, wie sie auf Russisch heißt, in der Forschungsliteratur bisher nur marginale Erwähnung. Die Gründe dafür werden nun offen gelegt. In einer umfangreichen Dokumentation enthüllt Susanne Marten-Finnis die Geschichte eines einzigartigen Zeitschriftenprojektes, das wie kein anderes die kaleidoskopische Vielfalt und Internationalität eines Schauplatzes vermittelt, der für kurze Zeit Zentrum russischer Kreativität war. 2012. 221 S. 16 FARB. ABB. BR. 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-78766-2

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

WOLFGANG STEPHAN KISSEL

ČECHOVS KOSMOS THEATER, RAUM UND ZEIT (BAUSTEINE ZUR SLAVISCHEN PHILOLOGIE UND KULTURGESCHICHTE. REIHE A: SLAVISTISCHE FORSCHUNGEN, BAND 75)

Anton Čechovs Dramen und Einakter werden heute auf den Bühnen der ganzen Welt gespielt. Diese Monographie deutet sie als moderne Variante des

„theatrum mundi“, als Spiel vom Werden und Vergehen der Welt. Im Zeitalter von Naturwissenschaft und Evolutionslehre bleibt Gottes Platz in diesem Spiel leer, doch die fehlbaren Menschen können nicht an seine Stelle treten. Das neue Zentrum wird gebildet vom Kosmos, der Raum und Zeit hervorbringt. Auf seiner Bühne spielen keine Helden oder Protagonisten, sondern eine Menschengruppe, angesiedelt an der Grenze von Natur und Kultur, die im Chronotopos „Haus mit Garten“ konkrete Gestalt annimmt. Die Gruppe überlebt durch gemeinsame Arbeit, auch wenn die Ergebnisse der Arbeit von Verfall und Verlust bedroht sind. So entsteht ein Welttheater mit starken sozialen Akzenten, das keine Sicherheit, keine letzte Wahrheit mehr kennt. 2012. VI, 284 S. GB. 150 X 230 MM | ISBN 978-3-412-20870-7

böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar