Marathon und Plataiai: Zwei Perserschlachten als »lieux de mémoire« im antiken Griechenland 9783666252631, 3525252633, 9783525252635


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German Pages [432] Year 2006

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Marathon und Plataiai: Zwei Perserschlachten als »lieux de mémoire« im antiken Griechenland
 9783666252631, 3525252633, 9783525252635

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Hypomnemata Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben

Herausgegeben von Albrecht Dihle, Siegmar Döpp, Dorothea Frede, Hans-Joachim Gehrke, Hugh Lloyd-Jones, Günther Patzig, Christoph Riedweg, Gisela Striker Band 164

Vandenhoeck & Ruprecht

Michael Jung

Marathon und Plataiai Zwei Perserschlachten als »lieux de mémoire« im antiken Griechenland

Vandenhoeck & Ruprecht

Verantwortlicher Herausgeber: Hans-Joachim Gehrke

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 10: 3-525-25263-3 ISBN 13: 978-3-525-25263-5 Hypomnemata ISSN 0085-1671

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort

© 2006, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co.KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

58*130."98* 61&35)4 &-&62&3*"4  JOHANN JACOBY

Inhaltsverzeichnis

Vorwort ...................................................................................................

11

1

Marathon und Plataiai – Zwei Perserschlachten als lieux de mémoire 13

2

Kult und Fest – Konstituierung der Erinnerung im Ritual................

27

2.1 2.2 2.3

Die Herakleia in Marathon..................................................... UPÏÀ"RIOBÎPJÀTÛNNBYPÀDie Einführung des Pan-Kults Alte Kulte mit neuer Sinnstiftung .......................................... 2.3.1 Echetlaios............................................................... 2.3.2 Der eponyme Heros Marathon............................... 2.3.3 Kult und Fest für Artemis Agrotera....................... 2.3.4 Ein Kult für Eukleia? ............................................. Ein Totenkult für die Gefallenen?.......................................... Kult, Fest und Ritual – die Anfänge der Erinnerung .............

28 38 50 50 53 54 59 61 67

Denkmal und Monument – steingewordene Erinnerung ..................

72

2.4 2.5 3

3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 4

Bedeutungswandel und Umdeutung ................................................. 126 4.1 Die Marathonomachoi – Leitbild des demokratischen Athen 128 4.2 1SÞUIUÕOˆ&MMIOÎEXOQPMÎXOHFOÊTRBJ – Marathons Ort in der athenischen Geschichte ....................... 146 4.3

5

Die Weihung des Kallimachos............................................... 72 Die sogenannten ›Marathon-Epigramme‹.............................. 84 Die Weihgeschenke in Delphi................................................ 96 Die Stoa Poikile im Dienst politischer Erinnerung................ 109 Erinnerung aus Stein .............................................................. 122

Grenzen der Erinnerung......................................................... 165

Neue Traditionen und Vermittlung des Geschichtsbildes – Marathon im Hellenismus................................................................. 170

8

Inhalt

5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 6

6.2 6.3

8

170 176 181 191 202

Griechische Identität in der Zeit römischer Herrschaft..................... 205 6.1

7

Die Erinnerung in Denkmälern, Politik und im Alltag .......... Die Epheben von Athen und die Erinnerung an Marathon.... Die Erfindung des Marathon-Laufs ....................................... Die Nemesis von Rhamnous .................................................. Zwischen Tradition und Innovation – Marathon im Hellenismus......................................................

Die Erinnerung in den Händen der lokalen Eliten – Marathon bei Aelius Aristeides und Polemon ....................... 206 Jede Nacht kann man Männer kämpfen hören – der Demos Marathon und die Erinnerung im zweiten Jahrhundert.......... 216 Marathon und die griechische Identität in der Zweiten Sophistik................................................................................. 222

Die Anfänge der Erinnerung an die Schlacht von Plataiai ............... 7.1 Die Elegie des Simonides ...................................................... 7.2 Die Denkmäler für die Schlacht............................................. 7.3 Kult und Ritual....................................................................... 7.4 Ein ›Hellenenbund‹ in Plataiai? ............................................. 7.5 Der Kampf um die Erinnerung an Plataiai............................. 7.6 Zwischen Polis und Hellas – die Anfänge der Erinnerung an Plataiai .................................

225 225 241 259 271 282

Die Erinnerung und der Kampf gegen Makedonien ......................... 8.1 Das Glaukon-Dekret – Plataiai-Erinnerung im Kampf gegen Makedonien ............... 8.1.1 Glaukon, Sohn des Eteokles, und die Datierung der Inschrift............................................................ 8.1.2 Das Synhedion der Hellenen in Plataiai ................ 8.1.3 Die Freiheit und die Eintracht der Hellenen – die Deutung der Erinnerung................................... 8.1.4 Der Agon der Eleutherien ...................................... 8.1.5 Die Erinnerung von Plataiai und der Kampf gegen Makedonien ................................................. 8.2 Die Homonoia der Hellenen und die politische Aktualisierung ........................................................................ 8.2.1 Die Genese eines politischen Konzeptes ...............

298

295

299 302 306 311 317 319 321 322

Inhalt

8.2.2

8.3 8.4 9

Die Implementierung der Homonoia in das Kultensemble ......................................................... 8.2.3 Das Modell für die Eintracht der Hellenen............ Die Erinnerung und die Diskontinuität .................................. Plataiai und die neue Deutung der Erinnerung ......................

9

Die Macht der Erinnerung: Plataiai in späthellenistischer und römischer Zeit ................................................................................... 9.1 Der Agon der Medertöter: Der Aufstieg der Eleutherien ...... 9.2 Lebendige Vergangenheit: Der Dialogos in Plataiai ............. 9.3 Die Einführung des Kaiserkults in Plataiai und die Politik Neros ...................................................................................... 9.4 9.5 9.6

325 328 329 341 344 344 351 360

Plataiai als Modell für Hellas: Vergangenheitspolitik unter Hadrian................................................................................... 368 Plataiai-Erinnerung in der Spätantike? .................................. 378 Plataiai-Erinnerung unter den Bedingungen römischer Herrschaft............................................................................... 381

10 Marathon und Plataiai – die Erinnerung an zwei Perserschlachten.. 384 11 Quellenverzeichnis............................................................................ 398 12 Literaturverzeichnis .......................................................................... 401

Vorwort

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die geringfügig überarbeitete Version meiner Dissertation, die im Wintersemester 2004/2005 der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster vorgelegen hat. Die seither erschienene Literatur konnte nicht mehr berücksichtigt werden. Herr Prof. Dr. Peter Funke hat diese Arbeit in allen Phasen ihrer Entstehung mit großem Engagement, zahlreichen wichtigen Anregungen und wertvollen Ratschlägen betreut. Ihm möchte ich an dieser Stelle meine Dankbarkeit ausdrücken. Der angenehmen und guten Arbeitsatmosphäre am Seminar für Alte Geschichte in Münster verdankt diese Arbeit mehr, als im Rahmen eines solchen Vorwortes formuliert werden könnte. Herr Prof. Dr. Norbert Ehrhardt hat dankenswerterweise das Zweitgutachten erstellt. Herrn Prof. Dr. Hans-Joachim Gehrke danke ich dafür, daß er die vorliegende Arbeit zur Aufnahme in die Reihe der Hypomnemata vorgeschlagen hat. Die Erstellung dieser Dissertation wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht die Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn das Vorhaben finanziell mit einem Stipendium gefördert hätte. Dem Förderungsfonds Wissenschaft der VG Wort danke ich für einen erheblichen Druckkostenzuschuß zur Veröffentlichung dieser Arbeit. Meine Dankbarkeit möchte ich aber auch all denen ausdrücken, die mich auf dem Weg begleitet und unterstützt haben – den Kollegen und den Freunden, die nicht zuletzt durch ihr Korrekturlesen geholfen haben, manchen überflüssigen Fehler aufzuspüren. (Für alle verbliebenen trage ich allein die Verantwortung.) Vor allem aber danke ich meinen Eltern, ohne deren ständige und nachhaltige Unterstützung über viele Jahre ich vielleicht nie die Möglichkeit zu dieser Arbeit erhalten hätte. Ihnen verdankt diese Arbeit mehr als das, was mit Worten auszudrücken ist. Münster (Westfalen), den 29. Dezember 2005



Michael Jung

1. Marathon und Plataiai – zwei Perserschlachten als lieux de mémoire

GBNÉOUÈOQF[ÈONÂYIOzO.BSBRÕOJHFOPNÊOIOLBÍzO1MBUBJBÏÀ UÈONÉO¢S DBJUËÀTXUISÎBÀUPÏÀa&MMITJ UÈOEÉUÊMPÀzQJRFÏOBJ LBÍUÁÀNÉOCFMUÎPVÀ UPÚÀa&MMIOBÀQPJËTBJ Die Landschlacht von Marathon und diejenige von Plataiai haben die Hellenen in moralischer Hinsicht besser gemacht. Die eine hat die Rettung der Hellenen begonnen, die andere diese abgeschlossen.2

Das Urteil Platons, das er in seinen Nomoi über die Schlachten von Marathon und Plataiai abgibt, wirkt aus historischer Sicht in mancherlei Hinsicht überraschend. Obwohl zwischen den beiden Schlachten mehr als ein Jahrzehnt lag und beide überdies in keinem direkten militärischen Zusammenhang zueinander standen, erscheinen sie bei Platon dennoch als Anfang und Ende eines einzigen Ereignisses. Obgleich an der Schlacht von Marathon nur Athener und die Plataier beteiligt waren, und obwohl in der Schlacht von Plataiai nicht nur Griechen gegen Perser, sondern in nicht geringer Zahl auch Griechen gegen Griechen kämpften, manche Hellenen dagegen gar nicht beteiligt waren, besitzen beide Schlachten eine positive moralische Wirkungsgeschichte für alle Griechen. Diese historischen Widersprüche sind für die Darstellung Platons allerdings nicht relevant. Sein Urteil wirkte für einen zeitgenössischen Leser wohl dennoch schlüssig und plausibel. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, daß beide Schlachten aus ihren konkreten historischen Zusammenhängen weitgehend herausgelöst werden und monumental und isoliert dargestellt werden – es geht nicht um historische Einordnung und Kontextualisierung, sondern um Sinnstiftung und Deutung des Geschehens. Die Äußerung, die Platon einem Athener in den Mund legt, ist dabei nicht ungewöhnlich, sondern steht in einer langen Reihe ähnlicher Einschätzungen und Wertungen der Perserschlachten insgesamt und insbesondere derer von Marathon und Plataiai.3 Platon gibt in den Nomoi nur das wieder, was so oder ähnlich viele seiner Zeitgenossen schon gehört hatten: Formeln der Erinnerung an die Schlachten von Marathon und Plataiai. 1 Plat. leg. 707 C. 2 Sämtliche Übersetzungen griechischer Quellenzitate in dieser Arbeit stammen vom Autor. 3 Zu diesen Wertungen vgl. ausführlich unten Kapitel 4.2 mit den Belegen.

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Marathon und Plataiai

Daß die Perserkriegsvergangenheit für die Griechen in den folgenden Jahrhunderten eine herausragende Bedeutung besaß, und daß sich diese in der Literatur, in Bauwerken, Ritualen und vielfältigen Traditionen spiegelt, muß kaum eigens betont werden: Allzu zahlreich sind die Zeugnisse dafür, daß die Erinnerung an die wichtigsten Ereignisse dieser Jahre in den griechischen Poleis eine wichtige Rolle spielte. In der althistorischen Forschung ist mit Blick darauf allerdings vielfach betont worden, daß nicht alles, was in späteren Jahren über diese Zeit berichtet und erzählt wurde, den Wert authentischer Zeugnisse besitzt. In einer intensiven Forschungsdiskussion, die ihren Anfang mit der wichtigen Studie von Christian Habicht über die falschen Urkunden der Perserkriegszeit nahm, ist die Diskrepanz von tatsächlichem historischen Geschehen und dem, was später als solches dargestellt wurde, beleuchtet und systematisch untersucht worden.4 Die Frage nach wahr oder falsch allein aber rührt kaum an das, was diese Traditionen im Kern ausmacht. Wie konnten sich Erzählungen verbreiten, die sich offensichtlich nicht mit dem tatsächlichen historischen Geschehen in Übereinstimmung befanden? Wie konnten Behauptungen in die Welt gesetzt werden – wie etwa diejenige, daß die Athener in der Schlacht von Marathon allein gekämpft hatten -, von denen jeder Bürger und jeder Besucher der Stadt sehen konnte, daß sie durch die Denkmäler selbst widerlegt wurden?5 Was Griechen später über die Perserschlachten verbreiteten, war mit Blick auf die historischen Fakten vielfach ›falsch‹ – und doch fand es Glauben und Verbreitung. Die Frage, ob das, was eine Gesellschaft aus ihrer Vergangenheit macht und wie sie diese deutet, wahr ist oder nicht, greift zu kurz – denn die Darstellung der Vergangenheit, wie sie bei Platon kurz und prägnant begegnet, erzählt nicht Geschichte, sondern gibt die Erinnerung an die Vergangenheit wieder. Diese kann nicht nur nach den Kriterien von wahr oder falsch bewertet werden. Es ist vielmehr nach den Entstehungsbedingungen und nach der Wirkungsgeschichte dieser historischen Erinnerung der Griechen zu fragen.

4 Die althistorische Diskussion um die ›falschen Urkunden‹ der Perserkriegszeit begann in Zusammenhang mit der Entdeckung zentraler epigraphischer Quellen, vor allem des ThemistoklesDekrets von Troizen und des Eids von Plataiai. Habicht, Urkunden, hat in einer grundlegenden Arbeit die historische Zuverlässigkeit dieser und weiterer Urkunden weitestgehend bestritten und ihre Entstehung in Zusammenhang mit der athenischen Politik des vierten Jahrhunderts v. Chr. angesetzt. Die Forschung ist ihm dabei weitgehend gefolgt, auch wenn Siewert, Eid von Plataiai, in einer detailreichen Studie den Nachweis versucht hat, daß der Eid von Plataiai auf einen in das fünfte Jahrhundert v. Chr. zurückgehenden urkundlichen Kern aufbaut; vgl. als Beiträge zu dieser Diskussion auch Robertson, False Documents; Siewert, Ephebic Cult; K. Meister, Ungeschichtlichkeit. Dort jeweils auch Verweise auf die zahlreiche weitere Literatur, vgl. zu einzelnen dieser ›falschen Urkunden‹ auch Kapitel 4.1. 5 Zu dieser Legende Walters, We fought alone und Kapitel 4.1/4.2.

Zwei Perserschlachten als lieux de mémoire

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Vor nunmehr zwanzig Jahren hat der französische Historiker Pierre Nora mit seinem Projekt der Gedächtnisgeschichte der französischen Nation, ausgehend von der Revolutionsforschung, die Aufmerksamkeit der historischen Forschung auf die Bedeutung von Erinnerung für soziale Gemeinschaften gelenkt.6 Nora versteht sein Konzept der Erinnerungsorte nicht als eine methodische Innovation der Geschichtswissenschaft, sondern vor allem als eine thematische Erweiterung und eine neue Art der Fragestellung. Für ihn sind Erinnerungsorte literarische, symbolische, geographische oder personale Punkte, an denen sich ein kollektives Gedächtnis, die Erinnerung einer größeren sozialen Einheit konkretisieren und herausbilden kann.7 Der Begriff ist damit weit gefaßt, denn die lieux de mémoire können damit materieller wie immaterieller Natur sein, sie können real oder bloß imaginiert sein, können Gebäude wie Menschen und Ereignisse wie Institutionen bezeichnen.8 Im Mittelpunkt des Interesses steht dann die grundsätzliche Funktionsweise kollektiven Erinnerns, aber auch die Frage, welche Bedeutung Formen der Erinnerung für die Konstruktion von Gruppenidentitäten haben und in welchen kulturellen Formen Erinnerung gewonnen, bewahrt und tradiert werden kann.9 6 Eine ausführliche Einführung in die Problematik der lieux de mémoire hat Nora, S. XVII – XLII geboten. In den grundlegenden Ausführungen, die dem Gesamtprojekt vorangestellt wurden, hat Nora insbesondere dargestellt, daß er die Frage nach der Erinnerung bzw. dem Umgang einer sozialen Gemeinschaft mit ihrer Vergangenheit in erster Linie als eine thematische Erweiterung der historischen Forschung, weniger aber als einen methodisch fundamental neuen Zugriff betrachtet. 7 Der Begriff ›Erinnerungsort‹ stellt insofern nicht nur eine Konkretisierung des Gedächtnisses in einer bestimmten Lokalität dar. Er ist vielmehr als Metapher zu begreifen, vgl. dazu auch. Francois – Schulze, S. 17f. 8 Nora, S. XXXIV f. hat betont, daß die lieux de mémoire in erster Linie symbolisch aufgeladene Punkte sind, an denen sich ein kollektives Gedächtnis konkretisiert und die für eine soziale Gemeinschaft identitätsstiftende Kraft besitzen. Dafür kommt es nicht durchgängig auf ihren tatsächlichen materiellen Gehalt an, sondern in erster Linie auf ihre Verwendung und Akzeptanz. Von daher hat P. Nora beispielsweise auch im Gebrauch des revolutionären Kalenders eine solche identitätsstiftende Erinnerungsfunktion erkennen können, daneben können auch Schauplätze konkreter historischer Ereignisse über Denkmäler usw. zu einem Erinnerungsort ausgestaltet werden, der die Vergangenheit nachvollziehbar und erlebbar werden läßt – ebenso wie die Feier und das Fest diese Funktion ausüben können. – Van Dyke – Alcock, S. 3 – 6 haben dagegen sehr konkret vor allem die Kategorie Raum und Platz zum Gegenstand ihrer archäologisch orientierten Rekonstruktion sozialer Erinnerungsprozesse gemacht. Das Konzept der lieux de mémoire beinhaltet zwar diese Gestaltung des konkreten materiellen Raums zum Erinnerungsort ebenso, geht aber darüber hinaus und nimmt auch immaterielle Manifestationen der Erinnerung in die Untersuchung auf. 9 Nora, S. XXVII – XXXIV hat die Konstitution von Gruppenidentität über die Erinnerung an eine gemeinsame oder gemeinsam imaginierte Vergangenheit am Beispiel von Erinnerungsorten der französischen Nation verdeutlicht, wobei in diesem Fall die Großgruppe ›Nation‹ als Gemeinschaft legitimiert und historisch begründet werden sollte. Die Funktion der Erinnerung als konstituierendes Element einer Gruppenidentität hat Burke, S. 296 – 299 mit zahlreichen Beispielen aus der europäischen Geschichte der Frühen Neuzeit belegt und daneben auch herausgestellt, daß es neben einer offiziellen, von den Eliten sanktionierten Erinnerung auch Formen des Gedächtnisses

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Marathon und Plataiai

Die Erinnerung ist in diesem Konzept eine gesellschaftliche und soziale Konstruktion – sie ist das Ergebnis eines Prozesses, der in der sozialen Interaktion von Individuen in einer Gruppe stattfindet. Diese Konzeption geht auf die Forschungen des in Buchenwald ermordeten französischen Soziologen Maurice Halbwachs zurück.10 Dieser hatte zuerst das Konzept einer kollektiven, überindividuellen Form des Gedächtnisses vertreten und stellte dabei – trotz mancher Schwächen seines theoretischen Ansatzes11 – deutlich heraus, daß das Bild einer Gesellschaft von ihrer Vergangenheit nicht statisch ist, sondern unter dem Einfluß der Interessen einer jeweiligen Gegenwart neu geprägt und gedeutet werden kann. Erinnerung an die Vergangenheit und – komplementär gilt dies ebenso – das Vergessen von geschichtlichen Ereignissen oder Rahmenbedingungen12 sind das Ergebnis einer sozialen Interaktion innerhalb einer relativ homogenen sozialen Gruppe, die ihre gemeinsame Vergangenheit definiert.13 Erinnerung ist dabei als geben kann, die lange Zeit kaum greifbar sind, aber im Zuge einer Veränderung der sozialen und politischen Rahmenbedingungen virulent werden können. 10 Halbwachs hat in drei grundlegenden Werken (La topographie legendaire; das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen; das kollektive Gedächtnis) das Konzept eines kollektiven Gedächtnisses in den 1920er Jahren begonnen zu entwickeln. Dabei orientierte er sich stark an zeitgenössischen Vorstellungen einer a priori vorhandenen Identität von Gruppen (Volk, Nation) und setzte deren Selbstbestimmung in Analogie zu Individuen an, ohne die Gültigkeit dieser Hypothese kritisch zu überprüfen. Unabhängig von der Zeitgebundenheit dieses Ansatzes ist es entscheidend, daß Halbwachs Gedächtnis als eine soziale Kategorie begriffen hat: Die Entstehung von Erinnerung und ihre soziale Akzeptanz sind wesentlich durch Prozesse sozialer Interaktion innerhalb einer Gruppe definiert: Erinnerung ist mit Halbwachs als ein sozial definierter, diskursiver Prozeß zu verstehen, der abhängig ist von den Rahmenbedingungen der jeweiligen Gegenwart. 11 Kritisch ist vor allem der Begriff einer kollektiven Identität zu sehen. Die jüngere Forschung hat sich insofern sehr deutlich von diesen Prämissen abgesetzt und betont, daß Gruppen prinzipiell keine eigene Identität besitzen, sondern dies nur dem Individuum zukommt. Eigenschaften und Geschichte, die einer Gruppe zugesprochen werden, können nur dann zum Bestandteil einer überindividuellen Identität werden, wenn die Einzelperson sich dieser Gruppe selbst zuordnet und ihr angehören will. Die gemeinschaftlich gepflegte Erinnerung und Identität ist grundsätzlich auf wenige markante Punkte reduziert und gegenüber der individuellen Identität erlebnis- und ereignisärmer. Zur methodischen Problematik einer kollektiven Identität ausführlich Straub, daneben auch Hutton, S. 73 – 90; Winter – Sivan, S. 23 - 29. Im Folgenden wird die Definition von Straub, S. 104 zugrunde gelegt: »Kollektive Identitäten sind kommunikative Konstrukte, es sind diskursive Tatbestände, die in wissenschaftlichen Zusammenhängen auf empirisch-rekonstruktiven Binnenanalysen der jeweils interessierenden Aspekte des Selbst- und Werteverhältnisses der betreffenden Personen beruhen.« – Die selektiven Inhalte eines solchen kollektiven Gedächtnisses, mit denen eine Identifikation des Individuums erfolgt, hat Frish exemplarisch für die USamerikanische Gesellschaft belegt. 12 Zur Interdependenz dieser beiden Prozesse vgl. Burke, S. 296 – 302 am Beispiel neuzeitlicher Gesellschaften. 13 J. Assmann, Kulturelles Gedächtnis, S. 38 – 42 hat für den Erinnerungsbegriff bei Halbwachs drei Bezugsrahmen genannt, die als Analysekategorien von Wichtigkeit sind: Der Raum- und Zeitbezug, der Gruppenbezug und die Rekonstruktivität. Die Erinnerung ist also begrenzt auf den Raum und die Zeit, in der die Gruppe lebt – infolgedessen also bestimmt durch die sozialen und politischen Rahmenbedingungen der jeweiligen Gegenwart, zum anderen durch die Grenzen der

Zwei Perserschlachten als lieux de mémoire

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die für traditionale Gesellschaften typische Art zu verstehen, mit der man sich die Vergangenheit aneignet. Die Kontinuität ist – anders als in der Moderne – nicht durch historische Brüche infrage gestellt, der Zugang zu dem, was geschehen ist, bleibt darum in erster Linie affektiv.14 Der Blick auf die Vergangenheit ist dabei auf einzelne Punkte in der Vergangenheit fokussiert, die sich nicht als ganze erhält; sie wird verdichtet zu symbolischen, die Gemeinschaft fundierenden Ereignissen15 und ist nicht vergangen, sondern begründet und legitimiert die eigene Gegenwart; die Mühe, sie zu erinnern, läßt sie lebendig wiederauferstehen, die eigene Zeit wird so zu einer aktualisierten Vergangenheit. Den Menschen ist bewußt, daß sie durch eine zeitliche Differenz von dem gefeierten Geschehen geschieden sind, doch das Vorher und das Nachher werden nicht als fundamentale Trennung begriffen, sondern die Vergangenheit erscheint vielmehr als ein normatives Vorbild und ein Orientierungspunkt für die Gegenwart zugleich.16 Der Wandel der Verhältnisse und das Vergessen sollen aufgehalten werden, die Gemeinschaft wird als identisch mit derjenigen der Vergangenheit dargestellt und verstanden. In jüngerer Zeit hat vor allem Jan Assmann an diese Überlegungen angeknüpft und den Begriff des ›kulturellen Gedächtnisses‹ in die Diskussion eingeführt.17 In diesem aus der Ägyptologie hergeleiteten Konzept, das aber Geltung auch für andere Kulturen beansprucht,18 wurde erstmals systemaGruppe selbst. Die Erinnerung ist nur innerhalb der Gruppe und ihrer Wertkategorien kohärent: Konkurrierende Gruppen können andere Erinnerungen an dasselbe Ereignis pflegen. Die Erinnerung ist eine Rekonstruktion von Vergangenheit, die sich sehr deutlich von dem, was wirklich geschehen ist (›Geschichte‹) unterscheiden kann, zu diesem Unterschied vgl. unten Anm. 24. 14 Nora, S. XVII – XXV ist bei seinem Blick auf die Erinnerungsorte vor allem von der Analyse ausgegangen, daß in der Moderne Zäsuren und Brüche innerhalb der Gesellschaft zu einem veränderten Blick auf die eigene Vergangenheit führen und darum Erinnerung an symbolischen Orten nötig wird. In traditionalen Gesellschaften sei die Erinnerung nicht von der Erfahrung dieses Bruchs geprägt, der Zugang zur Vergangenheit darum stärker affektiv geprägt. Gleichwohl ist die Erinnerung auch in traditionalen Gesellschaften ebenso Ausdruck einer Identitätsbestimmung und Selbstdefinition wie in der Moderne. 15 Ebd. XXXIX sind diese symbolischen Punkte als »grands événements« bezeichnet, welche die Erinnerung der Gemeinschaft bestimmen. Assmann, Kulturelles Gedächtnis, S. 52 hat vor allem diese Selektivität der Erinnerung herausgestellt, die durch Auslassen und Verdichtung symbolische Fixpunkte schafft, die aus ihrem tatsächlichen historischen Zusammenhang weitgehend gelöst werden, vgl. dazu auch A. Assmann, S. 309f. 16 Nora, S. XXXI – XXXIII. 17 J. Assmann, Kulturelles Gedächtnis, S. 48 – 160 hat eine umfassende theoretische Begründung seines Konzepts von einem kulturellen Gedächtnis vorgelegt. Daneben ist für die Definition des Identitätsbegriffs auch die Studie J. Assmann, Kollektives Gedächtnis von Bedeutung, vgl. vor allem S. 12 – 16 mit einer Kurzdefinition des Begriffs des kulturellen Gedächtnisses. J. Assmann hat daneben in weiteren Studien immer wieder Teile oder den Gesamtzusammenhang des Konzepts dargestellt, die an dieser Stelle nicht sämtlich aufgeführt werden sollen. 18 J. Assmann, Kulturelles Gedächtnis, S. 160 erhebt den Anspruch, daß das theoretische Modell des kulturellen Gedächtnisses auf eine Vielzahl antiker bzw. vormoderner Kulturräume anwendbar

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Marathon und Plataiai

tisch der Versuch unternommen, Funktionsweisen von Erinnerung auch für antike Kulturen zu beschreiben. Jan Assmann geht in seinem Konzept davon aus, daß Erinnerung einer sozialen Gruppe in einem vielschichtigen Prozeß konstituiert wird und nach Ausscheidung anderer Traditionsbestände – dessen, was er »kommunikatives Gedächtnis« nennt19 – kanonisiert und in verschiedenen Formen tradiert wird. Es betont stark die normierende Kraft der Einflüsse von Herrschaft, Macht und spezieller Funktionsträger wie etwa der Schriftexperten für die Herausbildung eines normativ gültigen kulturellen Gedächtnisses.20 Obwohl das Konzept auch den Anspruch erhebt, auch für andere Kulturen der Alten Welt Gültigkeit zu besitzen, läßt es sich kaum auf das antike Griechenland übertragen. In einer griechischen Polis fehlt eine monarchische Spitze, die eine ähnliche Funktion bei der Steuerung des Erinnerungsprozesses wahrnehmen könnte wie sie in dem Konzept anhand der Beispiele aus Ägypten, Assur oder Babylon postuliert wird. Zudem ist die Staatenwelt des antiken Griechenland multipolar verfaßt, so daß auch nicht ohne weiteres von einer zentralen ›griechischen‹ Erinnerung ausgegangen werden kann. Zudem existieren in der griechischen Poliswelt auch keine über Generationen invarianten Funktionseliten, die als ausschließliche Träger und Hüter der Erinnerung auftreten könnten. Die Kanonisierung einer normativ verbindlichen Erinnerung mußte sich also im antiken Griechenland unter völlig anderen Prämissen vollziehen als sei, so etwa für Indien, Israel, Assur und Griechenland, ohne fundamentale Unterschiede in der gesellschaftlichen, sozialen und politischen Organisation dieser Kulturen und der Folgewirkungen dieser Differenzen für die Ausgestaltung von Erinnerungsprozessen zu beleuchten. 19 Ebd. S. 48 – 66 unterscheidet er zwischen einem kommunikativen und einem kulturellen Gedächtnis, wobei er unter dem ersten Begriff die unmittelbare Erinnerung der Zeitgenossen bis etwa 40 – 80 Jahre nach den Ereignissen verstehen will, die überwiegend ungeformt im Rahmen individueller Biographien bewahrt werde. Dagegen versteht er unter ›kulturellem Gedächtnis‹ eine in hohem Maße durchgestaltete und von spezialisierten Traditionsträgern formulierte normativ verbindlich ausgestaltete Vergangenheitsdarstellung. Die vorliegende Studie soll erweisen, ob eine solche Differenzierung für eine Gesellschaft wie die griechische aufrecht erhalten werden kann. Der Prozeß der Erinnerung muß sich in der griechischen Poliswelt ohne solche spezialisierten Funktionsträger, ohne starke Zentralgewalten und ohne eine Schriftreligion wie etwa in Israel unter anderen Rahmenbedingungen vollzogen haben. Ob eine Scheidung in ein kommunikatives und ein kulturelles Gedächtnis in der von J. Assmann vorgenommenen Art und Weise unter diesen Bedingungen überhaupt erkenntnisleitend sein kann, wird Untersuchungsziel der vorliegenden Arbeit sein. 20 Ebd. S. 87 – 129 bestimmt er Elemente, die das sogenannte kulturelle Gedächtnis bzw. die Erinnerung formulieren und prägen, und nennt vor allem die Bedeutung heiliger Texte. Im Umgang mit ihnen sieht er Kanonisierungsprozesse wirksam werden, die von Schrift- und Religionsexperten geprägt werden. Vor allem zentralen Institutionen und Einheiten schreibt er dabei große Bedeutung zu – diese Faktoren sind in dieser Form im antiken Griechenland jedoch so nicht vorhanden, so daß erst zu untersuchen ist, welche Faktoren in der Poliswelt an deren Stelle treten können. Der Weg zu einem am Ende ebenfalls kohärenten, normativ verbindlichen Bild der eigenen Vergangenheit steht, das identitätsstiftend und –bewahrend wirken kann, ist für die griechischen Poleis erst noch zu untersuchen.

Zwei Perserschlachten als lieux de mémoire

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in einer Gesellschaft wie der ägyptischen, in der Schrift ein exklusives Privileg weniger Funktionsträger darstellte. Die Formierung eines historischen ›Gedächtnisses‹ erfolgte also unter anderen Voraussetzungen als sie im Konzept Assmanns angelegt sind. Daher erscheint der methodische Zugriff mit dem Paradigma des kulturellen Gedächtnisses in seinen wichtigsten Grundzügen nicht adäquat für die Auseinandersetzung mit der Funktionsweise und der Ausgestaltung historischer Erinnerung im antiken Griechenland.21 Wenn in der vorliegenden Arbeit also die eingangs skizzierten Fragen erörtert werden sollen, welche Bedeutung die Erinnerung an die Perserschlachten innerhalb der griechischen Poliswelt gewonnen hat und wie sich ihre Funktionen beschreiben lassen und wie sie ausgestaltet wurde, dann wird dabei das weiter gefaßte Konzept Noras für die lieux de mémoire zugrunde gelegt.22 Auch dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß dieser Ansatz vor allem ein Erkenntnisinteresse definiert: Im Mittelpunkt steht die Frage, wie eine Gesellschaft das Bild ihrer Vergangenheit gewinnt, wie und unter welchen Bedingungen und nach welchen Kriterien sie ihre Geschichte erzählt. Das methodische Problem besteht dabei allerdings selten darin, die Orte der Erinnerung aufzufinden, sondern Schwierigkeiten können dabei entstehen, zweifelsfrei nachzuweisen, in welcher Weise Erinnerung und die Erinnerungsorte zur Konstruktion einer politischen und/oder sozialen Gruppenidentität beitragen und wie diese im Kontext anderer Faktoren zu gewichten und zu werten sind.23 Ein weiteres methodisches Problem schließt sich an: Wie ist die historische Tradition – i.e. ›wie es wirklich gewesen‹ – gegenüber der Erinnerung, also dem affektiven Zugang zu vergangenem Geschehen, zu werten?24 Die Kommemoration der Vergangenheit ist unter 21 Gleichwohl beinhaltet das Konzept von J. Assmann wichtige Fragestellungen, die aber für das antike Griechenland anders formuliert werden müssen. So muß beispielsweise erst untersucht werden, wie in einer griechischen Polis bzw. in einer in Poleis gegliederten Staatenwelt der Kanonisierungsprozeß der Erinnerung organisiert gewesen sein kann. Die Grundannahmen Assmanns, die die Steuerung und Organisation dieses Prozesses wenigen Funktionsträgern zuschreiben, können nicht übernommen werden. Die Fragestellung aber, wie eine griechische Polis zu einem offenbar normativ verbindlichen Bild ihrer eigenen Vergangenheit gelangt, wird auch die vorliegende Studie leiten. 22 Weiter gefaßt ist der Ansatz Noras vor allem im Hinblick auf die Wege der Ausgestaltung der Erinnerung. Die Frage nach den lieux de mémoire ist insofern offen, als sie verschiedene Wege und Formen der Ausprägung von Erinnerung beschreibt und auch den sozialen Interaktionsprozeß, aus dem die Erinnerung hervorgeht, selbst untersucht. 23 Straub, S. 100 und Friese haben eine Reihe von Faktoren benannt, die für die Konstituierung einer Gruppenidentität von Bedeutung sein können. Die Erinnerung stellt lediglich einen Faktor in diesem Feld dar, dessen Bedeutung auch in diesem Kontext zu gewichten ist. 24 Nora, S. XXV – XXXIV hat die Unterschiede zwischen Erinnerung und historischem Geschehen deutlich herausgestellt: Während Erinnerung auf Sinnstiftung und einen affektivem Zugang zu einzelnen symbolischen Punkten einer Vergangenheit zielt und dabei versucht, einen Bezug zur Gegenwart herzustellen, ist Geschichte auf Rekonstruktion der Vergangenheit in ihren Gesamtbe-

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diesem Gesichtspunkt stets abhängig von den Rahmenbedingungen der jeweiligen Gegenwart. Daher ist sie stets mit den politischen, sozialen oder ökonomischen Intentionen der Trägergruppen verbunden.25 Blickt man auf Gruppen, die Erinnerung initiieren, bewahren und tradieren, müssen nicht nur deren Interessen analysiert werden, sondern auch mögliche konkurrierende Konzepte von Vergangenheit und der Gesichtspunkt, wer die Definitionshoheit über die Erinnerung ausübt. Es sind verschiedentlich Versuche unternommen worden, das Konzept der lieux de mémoire auf antike Gesellschaften zu übertragen.26 Prinzipiell scheint eine solche Adaption für das antike Griechenland methodisch möglich. Grundsätzliche Einschränkungen ergeben sich jedoch daraus, daß für antike – somit vormoderne – Gesellschaften manche Elemente der von Nora konzipierten lieux de mémoire nicht analog anzusetzen sind: Eine traditionale Gesellschaft ist beispielsweise anders als die moderne nicht durch eine »Beschleunigung der Geschichte«27 und den Verlust einer gewachsenen Gedächtniskultur geprägt. Sicherlich sind die Vorstellungen, die Griechen von wesentlichen Ereignissen ihrer Geschichte pflegten und tradierten, nicht durch einen solchen Verlust etablierter Bilder der eigenen Vergangenheit in Frage gestellt – Traditionsbrüche können aber auch im Verlauf der antiken Geschichte durchaus beobachtet werden. Insofern bietet eine Unzügen ausgerichtet, ein Gegenwartsbezug ist dabei nicht präjudiziert, vgl. dazu auch. Loftus, S. 25f. Methodische Reflexionen zur Transformation von Geschichte in Erinnerung am Beispiel deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert bei Niethammer, S. 119 – 123. 25 Diese Fragestellung ist entscheidend für die Untersuchung der Erinnerungsorte; eine eher deskriptive Beschreibung und mehr oder minder zufällige, additive Reihung von Erinnerungsgeschichten, wie sie Francois – Schulze, S. 18 – 20 in einem methodisch durchaus reduzierten Ansatz vertreten haben, reicht kaum aus: Die Untersuchung der lieux de mémoire kann nicht selbst wiederum als sinnstiftende Vergangenheitsbetrachtung fungieren, daher haben in der vorliegenden Untersuchung alle Fragen außer Betracht zu bleiben, die auf eine Wirkungsgeschichte der Schlachten als Erinnerungsorte in der modernen Geschichte zielen. 26 Vor allem Chaniotis (Historie; Gedenktage) hat die Erinnerung der Griechen an historische Ereignisse und ihre Darstellung und Nutzung in späterer Zeit untersucht, ohne dies allerdings bereits in den Kontext der Frage nach den lieux de mémoire einzuordnen. Hölscher, Tradition hat in einem wichtigen Beitrag die Begriffe ›Tradition‹ und ›Geschichte‹ im Umgang der Griechen mit ihrer Vergangenheit unterschieden und damit auch die gemeinschafts- und identitätsstiftenden Funktionen historischer Erinnerung in griechischen Poleis des fünften vorchristlichen Jahrhunderts herausgestellt. Hölkeskamp hat für die Marathon-Schlacht versucht, die Genese eines Konzepts der Erinnerung im fünften und vierten Jahrhundert v. Chr. darzustellen. Funke, Lieux de mémoire hat die Existenz und die Bedeutung von lieux de mémoire griechischer Vergangenheit für eine europäische Geschichte kritisch untersucht. 27 Nora, S. XIf. ist in seinem Konzept von dieser Beschleunigung der Geschichte und dem Verlust traditionaler Gedächtniskulturen ausgegangen. Jedoch läßt sich auch für diese vormodernen Gesellschaftsformen der Umgang mit Erinnerung bzw. mit den symbolisch aufgeladenen Ereignissen der eigenen Vergangenheit untersuchen: Zu fragen ist nach den sozialen und politischen Rahmenbedingungen, unter denen es möglich war, ein Bild der eigenen Vergangenheit zu deuten und zu konstruieren, das normative Verbindlichkeit beanspruchen konnte.

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tersuchung die Chance, Phänomene auch in der Antike zu beobachten, die Nora für die Moderne beschrieben hat: Erinnerungsorte müßten ebenso den für sie typischen Metamorphosen unterworfen sein. Bedeutungen und Sinnstiftungen müßten sich verschieben lassen, vielleicht gibt es wie in der Moderne auch einen politisch oder sozial konstruierten ›Zwang zu Erinnerung‹, wie er für die Moderne so typisch ist.28 Zentral jedoch ist die Frage, ob und inwieweit im antiken Griechenland historische Erinnerung nutzbar und aktualisierbar war, ob davon Gebrauch gemacht wurde, wie sich die Trägergruppen beschreiben und abgrenzen lassen, welche Bedeutung historischer Erinnerung im Feld sonstiger identitätsstiftender Faktoren zukommt und inwieweit sich kollektive Identitätsebenen entlang historischer Erinnerungslinien ausprägten. Erinnerung manifestiert sich dabei vor allem in Kulten, in Festen und Ritualen, in der Literatur – vor allem der Geschichtsschreibung und der Rhetorik – sowie in politischen Akten, die auf Vergangenheit explizit Bezug nehmen. Die Aussage, daß die Perserkriege insgesamt sowohl wie einzelne ihrer Schlachten solche lieux de mémoire für die Griechen darstellten, die Identität stifteten, die in Ritualen, der Literatur und politischen Akten aufgegriffen wurden und jederzeit evoziert werden konnten, kann als unbestritten gelten: In der bereits erwähnten Forschungsdiskussion über falsche Urkunden der Perserkriegszeit sind eine Reihe von Beispielen für die Wirksamkeit der Erinnerung vor allem im vierten Jahrhundert v. Chr. untersucht worden. Dagegen ist der Prozeß der Ausprägung und Ausgestaltung der Erinnerung an die Perserschlachten bisher nur vereinzelt und nur für begrenzte Zeitabschnitte untersucht worden. Vor allem für die MarathonSchlacht liegen solche Einzelstudien vor, die sich aber allein auf den Zeitraum des fünften und vierten Jahrhunderts v. Chr. beschränken.29 Eine Un28 Nora, .S. XXII f. hat diesen sozial konstruierten Zwang innerhalb der Gruppe, die Erinnerung und damit die Identität zu pflegen, als für die modernen lieux de mémoire kennzeichnend beschrieben. Es wird zu untersuchen sein, ob solche Zwänge auch in der antiken Polisgesellschaft nachzuweisen sind. 29 So hat bereits vor über dreißig Jahren Loraux, Marathon die Bedeutung Marathons für die Selbstdarstellung der Polis Athen betont, dabei aber vor allem einen ideologiekritischen Ansatz gewählt. Sie beschränkt sich auf die literarischen Quellen aus dem Bereich der politischen Rhetorik und rekonstruiert insofern einen Teil des athenischen Umgangs mit der MarathonVergangenheit vor allem im vierten Jahrhundert v. Chr. In einer zweiten Studie hat Loraux, Invention, S. 157 – 173 dann die Bedeutung Marathons für die Konstruktion einer Identität der Polisgemeinschaft stark betont. Auch hier stellen die Ergebnisse vor allem einen Befund für das vierte Jahrhundert v. Chr. dar. Flashar hat unter dem Gesichtspunkt der Retrospektive die Bedeutung der Marathon-Erinnerung für die Vermittlung eines Leitbilds für die Bürger in Athen betont. Auch diese Studie beschränkt sich stark auf das späte fünfte und das vierte Jahrhundert v. Chr., benennt aber S. 73 die Notwendigkeit einer ausführlicheren Studie. Am Paradigma und Erkenntnisinteresse der von Nora begonnenen Forschung zu den lieux de mémoire orientiert ist die Studie von Hölkeskamp, die wichtige Erkenntnisse zur Marathon-Erinnerung formuliert, ohne dabei aber immer

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tersuchung von Perserschlachten als lieux de mémoire aber gewinnt ihre Erkenntnisse vor allem durch den diachronen Vergleich – Erinnerung ist nicht statisch, sondern ändert sich in einem dynamischen Prozeß wie die Gesellschaft, deren Identität sie begründet und stiftet. Die Erinnerung an eine Perserschlacht, so kann die Arbeitshypothese formuliert werden, muß in einer Polis des fünften Jahrhunderts v. Chr. eine andere Funktion und Gestalt besessen haben als in einer Polis der hellenistischen oder der römischen Welt. Insofern ist es unabdingbar, die Entwicklung der Erinnerung über die longue durée zu betrachten, um Erkenntnisse über ihre Funktionsweisen und Eigenarten zu gewinnen. Insofern muß eine Untersuchung von Perserschlachten als lieux de mémoire über die bisher vorgelegten Studien hinausgreifen. Die vorliegende Studie untersucht die Frage nach der Wirkung von Perserschlachten als lieux de mémoire dabei anhand der beiden Kämpfe, die von Platon als Anfang und Ende der Rettung von Hellas bezeichnet worden sind: die Schlachten von Marathon und Plataiai.30 Die Auswahl gerade dieser beiden Ereignisse stützt sich nicht nur darauf, daß die beiden Kämpfe als Landschlachten prinzipiell vergleichbar erscheinen, sondern geht auch davon aus, daß gerade der kontrastive Vergleich der jeweiligen Erinnerungstraditionen besondere Erkenntnisse zu gewinnen verspricht. Zum einen kann eine Untersuchung dieser beiden Schlachten als Erinnerungsorte deutlich machen, wie das Gesamtereignis ›Perserkriege‹ überhaupt als kanonische Schlachtenfolge, beginnend mit Marathon und endend mit Plataiai, konstituiert werden konnte31 – auch eine solche Ereigniskette ist bereits Erinnerung, die interessegeleitet entstand und keineswegs selbstverständlich ist, da die Datis-Expedition und der Feldzug des Xerxes in keinem direkten militärischen Zusammenhang standen und auch andere Zielsetzungen besaßen. So ist die Einbeziehung Marathons in den Zusammenhang des zehn Jahre später erfolgten Xerxes-Zugs bereits als Teil des Prozesses der Erinsämtliche Formen und Medien der Kommemoration – wie etwa Kulte und Feste – zu berücksichtigen. Auch diese Studie ist vor allem auf das fünfte und vierte Jahrhundert v. Chr. bezogen. Trotz wichtiger Vorarbeiten fehlt es also für den Bereich der Marathon-Erinnerung an einer diachronen Untersuchung. 30 Für die Erinnerung an die Schlacht von Plataiai liegen bisher keine Vorarbeiten vor, die denjenigen zur Marathon-Erinnerung entsprechen würden. Die Auseinandersetzung der modernen althistorischen Forschung mit diesem Thema war stets punktuell und zumeist auf eine positive Rekonstruktion von Formen der Erinnerung ausgerichtet. Nach der Entdeckung einer zentralen epigraphischen Quelle zu Beginn der 1970er Jahre setzte eine kurze und intensive Forschungsdiskussion über Kulte und Institutionen ein, mit denen die Erinnerung gepflegt wurde, diese Diskussion war stark auf Kontinuitätsfragen ausgerichtet und weniger auf die Ausgestaltung und die Wandlungen der Erinnerung, vgl. dazu grundlegend Étienne – Píérart sowie ausführlich unten Kapitel 8.3. 31 Zum Problem einer Integration Marathons in das Gesamtereignis Perserkriege vgl. ausführlich Kapitel 4.2.

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nerung anzusehen. Insofern kann eine Untersuchung dieser Schlacht im Kontrast zu einem Ereignis, das eine Dekade von Marathon getrennt ist, wichtige Aufschlüsse über die Konstituierung des Gesamtereignisses von ›Perserkriegen‹ in der griechischen Erinnerung verschaffen. Daneben ist der Vergleich der Erinnerung an die beiden Schlachten auch deshalb lohnend, weil die Kämpfe unter sehr unterschiedlichen Bedingungen und mit sehr verschiedenen Teilnehmern stattfanden: Während in Marathon Athener und Plataier dem persischen Expeditionskorps gegenüberstanden, kämpfte in Plataiai ein multilaterales Bündnis griechischer Poleis gegen das persische Heer. Die Erinnerung besaß allein wegen dieses Umstandes möglicherweise schon unterschiedliche Ausgangsbedingungen – im Falle Marathons war diese zunächst auf die Polis Athen beschränkt, während im Fall Plataiais von Anfang an mehrere Poleis entweder im Zusammenspiel oder auch konkurrierend zueinander Erinnerungstraditionen ausprägen konnten. Im Vergleich der Entwicklung kann so deutlich werden, wie die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen auch zu deutlich verschiedenen Traditionsbildungen und Wirkungsgeschichten der Schlachten als lieux de mémoire führen konnten. Der Vergleich Marathons mit Plataiai kann wegen des Gegensatzes zwischen regionaler Begrenzung und überregionaler Perspektive das Grundproblem der Identitätsfindung und –stiftung in der Polisgemeinschaft und auf einer polisübergreifenden „panhellenischen“ Ebene beleuchten. Die Untersuchung der Erinnerung an diese beiden Schlachten kann insofern möglicherweise neue Aspekte zu dieser Grundfrage griechischer Identitätsbildung beitragen. Die Auswahl der beiden Schlachten ist gleichwohl selektiv – die nicht minder wichtige Geschichte der Schlacht von Salamis etwa, die ebenfalls ein zentraler Erinnerungsort war, soll in der vorliegenden Studie nicht analysiert werden, wenngleich sie verschiedentlich für den Kontext der Erinnerung auch an die beiden Landschlachten herangezogen werden muß. Sie steht in der Erinnerung in vielerlei Hinsicht der Schlacht von Marathon näher als derjenigen von Plataiai, obgleich sie sich mit dieser in einem unmittelbaren ereignisgeschichtlichen Zusammenhang befindet. Die Einordnung der Erinnerung an diese Schlacht in das soeben skizzierte Feld muß jedoch – nicht zuletzt wegen der Fülle des Materials – einer späteren Untersuchung vorbehalten bleiben, zumal der kontrastive Vergleich von Marathon und Plataiai für die vorgenannten Fragestellungen ergiebigere Erträge verspricht – im Hinblick auf die Konstituierung des Gesamtereignisses Perserkriege ebenso wie auf die Gewichtung von poliseigener und panhellenischer Identitätsebene. Neben Salamis bleibt auch eine Untersuchung der Traditionsbildungen zum Kampf an den Thermopylen und zu den Gefechten von Artemision und Mykale ein Desiderat – für diese letzte Schlacht der ›Perserkriege‹ ist so gut wie gar keine Erinnerungstradition greifbar. Mögliche Erklärungsansätze für dieses Mißverhältnis können

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möglicherweise auch aus den Ergebnissen für Marathon und Plataiai abgeleitet werden – wenngleich eine ähnliche Untersuchung für die weiteren Perserschlachten noch aussteht. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es insofern lediglich, wichtige Tendenzen aufzuzeigen, über die eine Beurteilung der Erinnerungstradition an die Perserkriege insgesamt zu einem späteren Zeitpunkt möglich wird. Diese Arbeit beschränkt sich zunächst auf die Erinnerung an die beiden wichtigsten Landschlachten, ohne darüber bereits Aussagen über die Perserkriegserinnerung insgesamt treffen zu wollen, die eine Aufgabe für die künftig zu leistende Forschungsarbeit bleiben. Die Erinnerung an die Schlachten von Marathon und Plataiai ist dabei auf einer breiten Quellengrundlage zu rekonstruieren. Die Medien, mit denen die Erinnerung formuliert und vermittelt wurde und anhand derer sie nachvollzogen werden kann, waren vielfältig. Dabei handelte es sich um Rituale, Feste und Kulte für Götter, die mit dem historischen Geschehen verbunden waren oder im Zuge einer Umdeutung mit ihm in Zusammenhang gebracht wurden. Darüber hinaus gab es Denkmäler, mit denen das Geschichtsbild formuliert wurde und die es zugleich als normativ verbindlich sanktionierten. Im Bereich der Geschichtsschreibung und der Rhetorik wurde die Vergangenheit in Kontinuitätsbezüge eingeordnet, darüber gedeutet und interpretiert. Daneben gab es auch eine Erinnerung, die in streng historischem Sinne ›falsch‹ war, weil sie auf erfundenen Traditionen (»invented traditions«)32 beruhte, die aber glaubwürdig waren, weil sie sich in ein bereits verbindliches und bekanntes Bild der Gemeinschaft von ihrer Vergangenheit einfügten und daraus entwickelt worden waren. Im Fall der beiden Schlachten von Marathon und Plataiai existiert ein vielfältiger und breiter Quellenbestand, der die Entstehung und Entwicklung der Erinnerung an die beiden Ereignisse vom fünften Jahrhundert v. Chr. bis in das zweite Jahrhundert n. Chr., zum Teil noch darüber hinaus, dokumentieren kann. Gerade in jüngerer Zeit sind wichtige neue Quellen, denen für die Erinnerungstraditionen zu beiden Schlachten entscheidende Aussagekraft zukommt, neu entdeckt und ediert worden.33 Auch wenn der Quellenbestand sich ungleichgewichtig über die lange Zeit von sieben Jahrhunderten ver-

32 Mit dem Begriff der »invented traditions« sind solche Motive der Erinnerung bezeichnet worden, die einen fiktiven Bezug zum erinnerten Ereignis besitzen bzw. diesen erst sekundär herstellen. Dies sind vor allem Erzählmotive, die bekannte Formeln der Erinnerung weiter ausgestalten und darüber Glaubwürdigkeit gewinnen können. Zu diesen »invented traditions« und ihrer Relevanz für die Erinnerung insgesamt Hobsbawm, S. 1 – 14. 33 Dies gilt vor allem für die Schlacht von Plataiai. Hier ist die Edition der wieder gewonnenen Elegie des Simonides 1992 ebenso zu nennen wie eine zentrale Inschrift, welche die Kulte und Feste von Plataiai für das dritte Jahrhundert v. Chr. belegt, im Jahr 2004, vgl. dazu ausführlich Kapitel 7.1 sowie Kapitel 8.1.

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teilt, erlaubt er es doch, zentrale Entwicklungslinien der Erinnerung an beide Schlachtereignisse nachzuzeichnen. Zusammenfassend lassen sich die Ziele der vorliegenden Untersuchung folgendermaßen beschreiben: Es sollen die Formen und Funktionen der Vergangenheitsbetrachtung in der griechischen Antike in den Blick genommen werden. Wege der Konstituierung und Instrumente der Vermittlung eines Bildes von Vergangenheit können anhand des Beispiels der beiden Perserschlachten analysiert werden. Es soll rekonstruiert werden, inwieweit sich der für moderne lieux de mémoire so typische Wandel in der Erinnerung auch für diese beiden Perserschlachten nachvollziehen läßt und ob veränderte politische und soziale Rahmenbedingungen auf die Deutung der Vergangenheit einwirkten. Dadurch kann die unterschiedliche Nutzung, Instrumentalisierung und Rezeption der Erinnerung nachvollzogen werden. Das Spannungsfeld zwischen lokaler bzw. regionaler Identitätsfindung und -stiftung einerseits und panhellenischem Horizont und gesamtgriechischer Identitätsebene andererseits kann anhand der beiden Erinnerungstraditionen nachgezeichnet werden. So kann die Untersuchung der Erinnerung möglicherweise auch dazu beitragen, ein Grundproblem der griechischen Geschichte aus einer anderen Perspektive neu zu beleuchten. Es soll rekonstruiert werden, in welcher Form sich bei der Deutung der Vergangenheit auch konkurrierende und rivalisierende Konzepte der Erinnerung zwischen unterschiedlichen sozialen und politischen Gruppen (etwa einzelnen Poleis) ausprägten und auch eine Auseinandersetzung um die Vergangenheit stattfand. Darüber hinaus kann exemplarisch untersucht werden, welche Bedeutung historische Erinnerung für kollektive Identitätssuche und –bestimmung im antiken Griechenland insgesamt besaß. Die Untersuchung ist dabei so angelegt, daß die beiden Erinnerungstraditionen zunächst jeweils einzeln in der diachronen Entwicklung dargestellt werden. Daran schließt sich eine vergleichende Schlußbetrachtung an. Dabei soll zunächst die Erinnerung an die Schlacht von Marathon untersucht werden, bevor in einem zweiten Schritt Plataiai folgt. Innerhalb der diachronen Betrachtung sind die einzelnen Teilkapitel so gegliedert, daß sie jeweils wichtige Epochenabschnitte behandeln. Darüber wird auch ein Vergleich der Entwicklung der beiden

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Erinnerungstraditionen für bestimmte Zeitabschnitte möglich. Daneben sind die Epochenabgrenzungen der Untersuchungen in beiden Abschnitten jedoch so angelegt, daß eine Vergleichbarkeit der Erinnerungstraditionen an Marathon und Plataiai auch in synchroner Perspektive möglich wird. So wird es dann auch möglich sein, deutliche Unterschiede in der Bewertung beider Schlachten etwa im fünften Jahrhundert v. Chr. oder in der hellenistischen Epoche zu erkennen. So wird insgesamt eine diachrone Betrachtung der Erinnerung an jeweils eine Schlacht ebenso möglich wie ein epochenspezifischer Vergleich der Erinnerung an beide Schlachten.

2. Kult und Fest – die Konstituierung der Erinnerung im Ritual

Im Herbst des Jahres 490 v. Chr. scheiterte der persische Versuch, mit der Datis-Expedition Athens Unterstützung für den Ionischen Aufstand zu bestrafen und in diesem Zusammenhang die peisistratidische Herrschaft über die Polis wiederherzustellen. Das athenische Bürgerheer behauptete sich siegreich gegen die Perser. Bereits unmittelbar nach diesem Erfolg begannen die Sieger, das Geschehene zu kommemorieren. In antiken Berichten und Zeugnissen wird eine ganze Reihe von Kulten, Festen und Ritualen mit der Schlacht in Verbindung gebracht – sei es, daß ihre Stiftung auf den Sieg zurückgeführt oder daß ihnen in Zusammenhang mit dem Kampf eine neue Bedeutung beigelegt wurde. Es handelt sich um Kulte der Götter, die neu eingeführt oder gedeutet wurden, um Feste, denen in Zusammenhang mit der Schlacht eine Bedeutung zugekommen war. Möglicherweise können in ihnen die Anfänge der Erinnerung an den Sieg von Marathon gesehen werden, die in die Monate und Jahre unmittelbar nach der Schlacht zurückführen. Sehr viel unmittelbarer als durch Denkmäler und schriftliche Aufzeichnungen können in sozialer Interaktion bei Festen und Ritualen Deutungen des Geschehens vermittelt worden sein. Diese stellen somit die Anfänge der Erinnerung an Marathon dar. Diese antiken Traditionen, die einen Kult oder ein Fest mit der Marathon-Schlacht in Verbindung bringen, sind allerdings historisch zunächst darauf zu überprüfen, ob sie glaubwürdig sind – d.h. wirklich zweifelsfrei in das fünfte Jahrhundert v. Chr. zurückgehen - oder ob sie erst aus späterer Zeit stammen und damit spätere Traditionsstiftungen darstellen, die nur für die Marathon-Erinnerung dieser Zeit aussagekräftig sind. Wenn sich aber Feste und Rituale tatsächlich in die Zeit unmittelbar nach der Schlacht zurückführen lassen, können diese auf die Geschehnisse bezogenen Kulte und Feste Aufschluß darüber geben, welchen Inhalt und welche Form die Zeitgenossen der Schlacht selbst der Marathon-Erinnerung gaben und welche Funktion die Erinnerung in dieser frühesten Phase gleich nach der Schlacht selbst übernommen haben kann. Bei einer Betrachtung dieser Kulte und Feste fallen nicht nur Neustiftungen auf, die sich aitiologisch mit der Schlacht und ihrem Ausgang verbinden lassen, sondern auch eine Reihe von Kulten, die in Folge der Ereignisse von 490 v. Chr. eine Reorganisation

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erfuhren und somit einer Umdeutung unterzogen wurden. Dabei ist zu analysieren, wer Träger der Erinnerung in der Zeit unmittelbar nach der Schlacht war, in welchen Formen diese sich manifestierte und wie sie inszeniert wurde, aber auch welche Funktionen sie übernahm und wer möglicherweise die Erinnerung an Marathon betrieb und die Deutungsmacht über ihre Formen und Inhalte ausübte. Das älteste Zeugnis für einen solchen Kult, der in Folge der Schlacht von Marathon umgestaltet wurde, führt dabei zum Schlachtort selbst.

2.1 Die Herakleia in Marathon Aus dem Bericht Herodots über die Schlacht von Marathon ist zu erfahren, daß der Temenos des Herakles bei Marathon den Ort darstellte, an dem sich das athenische Heer sammelte und wo die Plataier zu diesem Aufgebot dazustießen.1 Die genaue Lokalisierung des Heiligtums ist zwar ungeklärt, ein Standort im Süden des Vrana-Tals erscheint aber gleichwohl plausibel.2 An dieser Stelle fand sich in den 1930er Jahren eine Inschrift, die aus inhaltlichen und formalen Gründen in die Zeit unmittelbar nach der Schlacht zu datieren ist, und die im Rahmen einer Untersuchung von Kulten und Festen zur Schlachterinnerung besondere Aufmerksamkeit verdient, weil sie eines der ältesten erhaltenen Zeugnisse darstellt, das einen mit der Schlachterin1 Hdt. 6, 108. – Woodford, S. 217 hat vermutet, daß sich an den heiligen Bezirk des Herakles ein größeres Gymnasion angeschlossen habe, in dem das athenische Heer gelagert habe. 2 Während die ältere Forschung im Anschluß an die Ausgrabungen in Marathon in den 1930er Jahren eine Lokalisierung des Herakles-Heiligtums bei einer Kirche des heiligen Demetrios auf dem Berg Agrieliki vornahm (so etwa Pritchett, Marathon, S. 138 – 140), ist nach den Forschungen von Vanderpool, Deme die Skepsis gegenüber diesem Vorschlag größer geworden. Vanderpool schlug unter Bezugnahme auf den Fundort der Inschrift IG I³, 3 (vgl. unten) vor, das Herakles-Heiligtum am südlichen Ende des Vrana-Tals nahe der zerstörten Theodosios-Kapelle anzusetzen. Während sich diese Interpretation zunächst noch nicht durchsetzen konnte – Hammond, Campaign, S. 23 – 26 zog eine Lokalisierung im Nordwesten des Vrana-Tals vor, Berthold, S. 87 – 89 hielt an der alten Lokalisierung fest -, wuchs die Zustimmung erst nach einiger Zeit: Burn, Thermopylai, S. 90f. übernahm in Revision früher geäußerter Ansichten (Burn, Marathon) die Deutung Vanderpools, dagegen verwies van der Veer, Battle of Marathon, S. 292 – 297 auf eine weitere Weihinschrift für Herakles, die ganz in der Nähe gefunden werden konnte und die eine entsprechende Lokalisierung im Sinne Vanderpools wahrscheinlicher machte. Später hat Doenges, S. 8 dann wieder jede Diskussion über die Lokalisierung des Heiligtums für sinnlos erklärt und eine konkrete Verortung ausgeschlossen: Über gefundene Inschriften sei keine nähere Bestimmung möglich, da diese nicht in situ angetroffen worden seien und von daher keine Aufschlüsse geben könnten. Insgesamt scheinen aber die Argumente etwa van der Veers gewichtiger, der eine Lokalisierung des Herakles-Heiligtums im Süden des Tals befriedigend in eine Rekonstruktion des Schlachtverlaufs einordnen kann. So hat zuletzt wieder Matthaiou, Athenaioi, S. 190 – 192; 201f. unter Verweis auf den epigraphischen Befund nachdrücklich für eine Lokalisierung im Südwesten des Tals in Küstennähe plädiert.

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nerung verbundenen Kult belegt.3 Die stoichedon abgefaßte Inschrift lautet:4 BSJIFSBLMFJP BSPJUJRÊOBJUÓÀy ÊUBÀUSJÂLPOUB¢OES UÓOyHÕOBzQJÔGTBTR UÕOzQJEÊNPN USËÀzL ÀIFLÂTUFÀ IVQPTYPN zOUÕJIJFSÕJ~À¢OP} JYTVOEJBRÊTFOUÓOy OÉ´MF[POÉUSJÂLPOU HFHPOÔUBÀUPÛUPÀEÉ OESBÀ~NÔTBJzOUÕJI JLBR†FSÕOzQJTUBUË vestigia Für die Herakleia [in Marathon?] sollen die Athlotheten bestellt werden. Dreißig Männer aber sollen den Wettkampf beaufsichtigen aus dem Volk, drei aus jeder Phyle, und sie sollen versprechen im Heiligtum, daß sie nach ihrem Können helfen, den Agon auszurichten, und sie sollen nicht weniger als dreißig Jahre alt sein. Diese Männer aber sollen im Heiligtum schwören wegen des Opfers. Vorstehen aber sollen…

Die Inschrift bietet eine Fülle von Schwierigkeiten nicht nur in editorischer Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf die historische Interpretation und Einordnung. Für die nur fragmentarisch erhaltene erste Zeile gibt es einen abweichenden Rekonstruktionsversuch, der [.>BSJliest und in der zweiten Zeile unter Verweis auf eine mögliche gleichzeitige Verwendung ionischer und attischer Buchstabenformen in derselben Inschrift in dieser Zeit dann Z 1f. [UÓO>yHôOFJB UFUÂSUI&MFVTJBDie Konjektur an der Stelle der ›Herakleia‹ scheint relativ sicher zu sein, da auf ein Exzerpt des Pollux s.v. †FSPQPJPÎverwiesen werden kann: EÊLB´OUFÀPlUPJªRVPORVTÎBÀUÁÀQFOUFUISÎEBÀ UÈOF}À %ËMPO UÈOzO#SBVSÕOJ UÈOUÕOˆ)SBLMFÎXO UÈO&MFVTÏOJEntsprechend hat Rhodes, Commentary, S. 608 die Konjektur übernommen, im Anschluß an Deubner, S. 227 hat er bei der Identifikation der Herakleia klar Marathon den Vorzug gegenüber Kynosarges gegeben. Das Fest von Marathon scheint – auch in der Zahl seiner Belege – eine erheblich größere Prominenz besessen zu haben als das von Kynosarges, vgl. Kyle, S. 47. 26 Demosth. 19, 125. 27 IG II², 1358. Ein ausführlicher Kommentar liegt jetzt von Lambert vor. Zuvor hatte schon Whitehead, S. 190 – 194 das archaische Kolorit der aufgeführten Opfer und Feste bemerkt, und festge-

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Kult und Fest

Gleichwohl besaß der Herakles-Kult in Marathon eine alte und gut bezeugte Tradition.28 Noch in der Kaiserzeit rühmten sich die Marathonier, daß sie es gewesen seien, die zuerst Herakles als eine Gottheit verehrt hätten.29 Offenbar scheint der Herakles-Kult noch in dieser Zeit einen zentralen Kristallisationspunkt der eigenen lokalen Identität ausgemacht zu haben. In dem umfangreich ausgestalteten Mythos von der Rückkehr der Herakliden schlägt sich dies ebenfalls nieder. Marathon und die Tetrapolis insgesamt spielten als Zufluchtsort der Kinder des Herakles und als Ort des Sieges über den Verfolger Eurystheus eine zentrale Rolle im Selbstverständnis der Marathonier und der Tetrapoliten.30 Die Quelle Makaria, wo die gleichnamige Tochter des Herakles den Tod auf sich genommen hatte, um die Geschwister zu retten, und das Grab des von Iolaos getöteten Eurystheus spiegelten nicht nur als Toponyme, sondern auch als Sehenswürdigkeiten noch in der römischen Kaiserzeit etwas von dieser alten Herakles-Tradition in Marathon wieder.31 Das Grab des Eurystheus befand sich zudem in unmittelbarer Nähe des Temenos des Herakles in Marathon.32 Auch die Legende vom Stier von Marathon scheint ursprünglich mit Herakles und erst sekundär mit der Figur des Theseus verbunden zu sein.33 Diese Legenden und Mythen um Herakles und seine Kinder in der marathonischen Tetrapolis waren aber auch im fünften Jahrhundert v. Chr. nicht stellt (193): »The most surprising absentee is unquestionably Herakles, with whom the Tetrapolis in general and Marathon in particular were so strongly associated.« Eine Begründung für dieses überraschende Fehlen einer aus der antiken Literatur für den Ort so nachdrücklich bezeugten Gottheit hatte Whitehead dabei nicht abgegeben. In IG II², 1358 A col. 2, 14 taucht nur der Gefährte und Kultgenosse des Herakles, Iolaos, einmal auf. Jeder Hinweis auf den Heros selbst fehlt dagegen. Lambert, S. 67 – 69 hat den Kalender und die Inschrift mit der Politik des Euboulos in Verbindung bringen wollen und eine vorsichtige Datierung in das zweite Viertel des 4. Jahrhunderts v. Chr. gewagt. Setzt man die Bemerkung des Demosthenes über die Verlagerung der Herakleia von Marathon in die Stadt Athen selbst als terminus post quem für den Kultkalender, würde man geringfügig hinter die von Lambert angeführte zeitliche Grenze gelangen, was an der Gesamtinterpretation des Kultkalenders und seiner Einordnung in eine Politik, die lokale kultische Besonderheiten und alte Traditionen aufnimmt, nichts ändern würde – sie würde in der Datierung allerdings eher an das Ende der politischen Tätigkeit des aus Probalinthos stammenden Euboulos rücken. Bisher ist in der Forschung keine plausible Erklärung für das Fehlen von Herakles-Kulten in dem Kultkalender gegeben worden. 28 Eine umfangreiche Zusammenstellung vor allem der literarischen Belege findet sich bei Woodford, S. 217f. 215 – 225 wird auch eine umfangreiche Darstellung sämtlicher Herakles-Kulte in Attika gegeben, so daß die prominente Stellung, die Marathon innerhalb dieses Feldes einnahm, deutlicher wird. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei Jourdain-Annequin, S. 355 – 364. 29 Paus. 1, 15, 3; 1, 32, 6. – Offenbar handelt es sich bei dem in Marathon verehrten Herakles nicht um die olympische Gottheit, sondern um eine ältere Kulttradition, vgl. Pritchett, Pausanias I, S. 352 Anm. 169. 30 Diod. 4, 57, 4-6; Strab. 8, 6, 19; Paus. 1, 32,6 ; Apollod. 2, 8, 2. 31 Paus. 1, 32, 6 (Quelle Makaria); 1, 44, 10 (Grab des Eurystheus). 32 Lukian. deor. conc. 7; dazu Gruppe, Sp.930. 33 Diod. 4, 59, 6, zu dieser Legende Shapiro, Bull.

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nur Teil der Lokalhistorie, sondern sie standen auch einer politischen Nutzung offen. So verschonten die Spartaner und ihre Bundesgenossen zu Beginn des Archidamischen Krieges demonstrativ das Gebiet der Tetrapolis und Marathons – mit der bemerkenswerten Begründung, dort hätten ihre Vorfahren, die Herakliden, einst Zuflucht gefunden.34 Ganz offensichtlich appellierten die Lakedaimonier bei ihrem Einfall nach Attika also an eine historisch gewachsene, mythisch fundierte Eigenidentität der Tetrapoliten innerhalb Attikas. Einen wesentlichen Teil dieser Identität scheinen der Kult und der Sagenkreis um Herakles dargestellt zu haben, dessen prominente Rolle sich noch den kaiserzeitlichen Besuchern der Stätte klar zeigte. Offensichtlich gab es nach wie vor ein spannungsreiches Verhältnis zwischen ¢TUVund YÞSB, von dem die spartanische Politik noch in der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts v. Chr. zu profitieren hoffte.35 Nur relativ wenige direkte Belege verweisen dagegen auf die Vorstellung, daß dem Herakles als wichtigstem lokalen Heros auch eine entscheidende Hilfe in der Schlacht von Marathon selbst zugeschrieben wurde. Das Eingreifen des Heros wurde in der Mitte des fünften Jahrhunderts v. Chr. im berühmten Gemälde der Stoa Poikile dargestellt. Offenbar zeigte ihn die Darstellung in dem Moment, als er – die Verbindung zum Ort der Schlacht kann nicht deutlicher in Szene gesetzt werden – aus der Erde von Marathon emporstieg, um an der Seite der Athener zu kämpfen.36 Und noch in der Spätantike war die Erzählung, daß Herakles in die Schlacht eingegriffen haben soll, offenbar so allgemein bekannt, daß ein Redner diese nur als ein selbstverständliches Beispiel kurz zu streifen brauchte.37 Es kann vielleicht auch angenommen werden, daß die Auswahl des Temenos des Herakles als Sammlungsort des athenischen Aufgebots nicht nur etwas mit der Gunst seiner strategischen Lage zu tun hatte, sondern daß man sich davon auch 34 Istros FGrH 334, 30 (= Schol. Soph. Oid. Kol. 701), und ausführlicher in der Ephoros-Epitome Diod. 12,45,1. 35 Sparta hoffte im Archidamischen Krieg offenbar auf den Abfall der Tetrapolis. Ganz ähnlich gilt dies später auch für Dekeleia (Hdt. 9, 73). Zum Zusammenhang zwischen lokaler Identität und gesamtattischer Politik am Beispiel von ausgewählten Mythen Walters, Political Codes, S. 76f. – Es ist festzustellen, daß etwa die Herakliden des Euripides sehr deutlich in diesen Zusammenhang der unterschiedlichen Deutung des Herakliden-Mythos gehören. In diesem zu Anfang oder kurz vor Beginn des Peloponnesischen Krieges zur Aufführung gekommenen Stück wird die gesamte Sage von der Tetrapolis in die Stadt Athen verlagert – es sind nicht mehr die Marathonier, sondern die Athener, die mit den Herakliden gemeinsam kämpfen. Lokale Bezüge sind weitgehend eliminiert bzw. ins Unverfängliche entschärft, der Mythos ist also in die offizielle athenische Politik eingepaßt. Ausführlich zu dem Problem von lokalem Mythos und seiner Transformation auf eine gesamtattische Ebene sowie zum Aktualitätsbezug der Tragödie von Wilamowitz-Moellendorff, Commentatiuncula, S. 80f.; Zuntz, S. 55 – 88; Stoessl, S. 207 – 221; Burnett; Burian; Furley, S. 81-88. 36 Paus. 1, 15, 3. 37 Liban. 5, 40.

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den Schutz und die Hilfe des lokalen Heros und seiner göttlichen Macht in der Schlacht versprach.38 Die später in der Stoa Poikile erfolgte Darstellung zeigt, daß man den Sieg auch dem Heros zuschrieb. Die Reorganisation der Feste und des Kults der Herakleia von Marathon setzte also direkt nach der Schlacht nicht an einem beliebigen vor Ort vorhandenen Kult an, sondern an einem, der ganz wesentlich die Identität der Marathonier bestimmte. Der wichtigste Kult vor Ort wird von der gesamten Polis umorganisiert und fortan in eigener Regie durchgeführt. Der Kristallisationspunkt der kultischen und mythischen Eigenidentität der Tetrapoliten wird zu einem Ort, an dem ein Schiedsrichterkolleg, das die neuen kleisthenischen Phylen in ihrer Gesamtheit repräsentiert, den Wettkampf überwacht. Bei Würdigung insbesondere der zwei Generationen später erfolgten spartanischen Versuche, an die Identität der alten Tetrapolis als Kultort des Herakles und der Herakliden zu appellieren, wird deutlich, daß die Zerschlagung der alten politischen Einheit dieser Region durch Kleisthenes für den neuen athenischen Staat zentrale Bedeutung besaß:39 In diesem Gebiet, in dem die Freunde der alten Tyrannis nach wie vor zahlreich waren, schuf der athenische Staat nach der Schlacht von Marathon demonstrativ aus dem älteren Kult des Herakles einen neuen, bei dem es um zwei wesentliche Ziele ging: Zum einen wurde gezeigt, daß der lokale Heros durch sein Eingreifen in die Schlacht zugunsten der Athener hinter der neuen politischen Ordnung Athens (und nicht hinter den Persern und dem sie begleitenden Hippias) stand; zum anderen wurden Kult und Fest in die Regie der gesamten Polis übernommen und bildeten deren neue Ordnung ab – für die Tetrapoliten entfiel damit die Möglichkeit, lokale (nicht- bzw. vor-athenische) Identität und den eigenen Mythos zu pflegen. Mit dem Kult des Herakles band die Polis Athen einen zentralen lokalen Kult in einen neuen Sinnzusammenhang ein, der ein für den Gesamtstaat wesentliches Ereignis kommemorierte und dem Kult so eine neue Deutung gab: Herakles war nicht mehr nur ein Gott der Marathonier, sondern durch sein Eingreifen fortan auch der Heros aller Athener – sein Kult und das Ritual verdeutlichten dies. Zugleich erfolgte mit der Anerkennung und Aufwertung des Festes wohl auch ein Integrationsangebot an eine Region, die der neuen politischen Ordnung in Attika zumindest partiell noch skeptisch-abwartend gegenüberstand.40 38 Garland, S. 57 verweist auf die allgemeine antike Tradition, daß Heere ihre Position häufig in der Nähe besonders markanter lokaler Heiligtümer einnahmen. 39 Zur politischen Trennung der alten Tetrapolis im Zuge der Neugliederung Attikas unter Kleisthenes Lewis, S. 31; zu den Kontinuitäten im Bereich von Kulten und Kultstätten Kearns, Change, S. 193 – 207. 40 Ob der Herakles-Kult insgesamt in Attika eine enge Verbindung zu den Peisistratiden besessen hat, wie dies Boardman, Peisistratos, S. 58 – 72 vor allem unter Verwendung von Abbildungen im Bereich der attischen Keramik des 6. Jahrhunderts v. Chr. zu belegen versucht hat, muß dagegen

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Das Fest selbst wird, so wie die Feste der Stadt Athen in dieser Zeit ebenfalls, nach dem Ordnungsprinzip der neuen Phylen organisiert – vielleicht war das Schiedsrichterkollegium auch deshalb paritätisch aus den Phylen zusammengesetzt, weil Mannschaften der einzelnen Phylen gegeneinander antraten. Zumindest aber scheint sich aus dem Bild, das die Oden des Pindar vermitteln, zu ergeben, daß der Wettkampf der Herakleia vor allem ein Agon junger Männer war, die sich im Ephebenalter befanden: Das Beispiel der dort besungenen Sieger Xenophon, Epharmostos und Aristomenes kann deutlich machen, daß es sich um einen Wettkampf von Männern handelt, die gerade eben dem Jugendalter entwachsen waren. Dieses Bild würde sich auch außerordentlich gut einfügen in die Kulte des Herakles, die ansonsten in Attika gepflegt wurden. Herakles war geradezu ein Gott bzw. ein Heros der Jugend,41 und innerhalb des – freilich wohl erst weit nach Marathon etablierten - Ephebencurriculums des 4. Jahrhunderts v. Chr. spielt er neben Aglauros eine besonders prominente Rolle. Herakles scheint später geradezu eine Gottheit der Epheben zu sein und für die Wehrhaftigkeit zu stehen.42 Da diese Funktion der Gottheit sicher schon vor dem vierten Jahrhundert v. Chr. vorhanden gewesen sein wird, läßt sich vielleicht auch hierüber noch eine Verbindung zu dem Kult von Marathon herstellen: Am Ort der Schlacht wurde ein Agon eingerichtet, der vor allem körperliche Fähigkeiten im Hinblick auf ihre militärische Anwendbarkeit schulte, und er richtete sich vor allem an junge Männer im wehrfähigen Alter.43 Am Ort des militärischen Erfolgs der athenischen Hoplitenphalanx entstand mit einem Agon ein sportliches Betätigungsfeld für den militärischen Nachwuchs des Bürgerheers, und er schuf zugleich eine Verbindung zu dem Heros, der in der Schlacht dem Heer hilfreich zur Seite gestanden zweifelhaft bleiben. Eine polare Gegenüberstellung eines ›tyrannenfreundlichen‹ Herakles und eines ›demokratischen‹ Theseus ist wohl zu schematisch gedacht und vernachlässigt die starken lokalen Bezüge innerhalb der Kulttopographie Attikas, die es bei bestimmten Heroen und Göttern gab. Daß dagegen die Aufwertung bestimmter lokal verehrter Götter zu gesamtattischen Kulten auch Gegenstand athenischer Politik – auch schon in peisistratidischer Zeit – gewesen sein kann, hat Frost, Peisistratos, S. 6f. am Beispiel der Brauronia zu belegen versucht. 41 S. Woodford (1971), 214f. – Zu den vielfältigen Bezügen zwischen Herakles und der attischen Jugend vgl. auch J. Wilkins (1990), 332 – 336. 42 Entsprechend begegnet Herakles als Schwurgott der Epheben im Ephebeneid. R. Merkelbach (1972), 282 nennt ihn in seinem Kommentar den »Gott der jungen Krieger«. Herakles war im Rahmen des Initiationsritus der Oinisteria bei den Apatourien, währenddessen die Epheben ihr langes Haar abschnitten, Empfänger der Opfergabe ihres Haares, wie aus Hesych. s.v. P}OJTUÌSJB; Phot. s.v. P}OJTUÌSJB; Athen. 11, 494f. hervorgeht. 43 Dieses Element ist möglicherweise insgesamt für die Phylenagone zu Beginn des fünften Jahrhunderts v. Chr. typisch, wie M. Rausch (1998), 95 – 102 gezeigt hat. Die militärische Ausbildung und entsprechende Tugenden wurden im Agon trainiert, das Gemeinschaftserlebnis in den Phylenmannschaften war eine wichtige Voraussetzung für die Tätigkeit im Hoplitenheer der athenischen Politen.

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hatte. Darüber hinaus wurde ein lokaler Kult auf die gesamtattische Ebene transformiert, verlor dabei allerdings sein lokales Gepräge und gewann zugleich Bedeutung für die gesamte Polis. Die Erinnerung an das Eingreifen des Heros leistete so einen wichtigen Beitrag zur Binnenintegration Attikas und zur Festigung der neuen politischen Ordnung auch in der Region, die ihr potentiell kritisch-distanziert gegenüberstand. Die über Attika hinausreichende Ausstrahlungskraft des Agons verbreitete die Erinnerung an den Erfolg spätestens nach dem zweiten Perserzug auch über die Grenzen Attikas hinaus.

2.2 UPÏÀ"RIOBÎPJÀTÛNNBYPÀDie Einführung des Pan-Kults in Athen Eine kultische Innovation, die unmittelbar mit dem Ausgang der Schlacht von Marathon und dem Gedächtnis an sie verbunden ist, stellt die Einführung eines offiziellen Kults für den Gott Pan in Athen dar. Die wichtigste Quelle für diese religionspolitische Maßnahme ist Herodot, der über die Ereignisse direkt vor der Schlacht folgendes berichtet:44 LBÍQSÕUBNÉOzÔOUFÀªUJzOUߢTUFÏP†TUSBUIHPÍyQPQÊNQPVTJzÀ4QÂSUIO LÌSVLB'FJEJQQÎEIO"RIOBÏPONÉO¢OESB ¢MMXÀEÉ„NFSPESÔNIOUFLBÍUPÜUP NFMFUÕOUBUßEÌ ‹ÀBUÓÀUFªMFHF'FJEJQQÎEIÀLBÍ"ROBÎPJTJyQÌHHFMF QF SÍUÓ1BSRÊOJPO´SPÀUÓŠQÉS5FHÊIÀ‡1ÁOQFSJQÎQUFJCÞTBOUBEÉUÓP»OPN UPÜ'FJEJQQÎEFXUÓO1ÃOB"RIOBÎPJTJLFMFÜTBJyQBHHFÏMBJ EJÔUJƒXVUPÜP EFNÎBOzQJNÊMFJBOQPJFÜOUBJzÔOUPÀF»OPV"RIOBÎPJTJLBÍQPMMBYÒHFOPNÊOPV TGJ¬EIYSITUPÜ UÁEªUJLBÍzTPNÊOPVLBÍUBÜUBNÉO"RIOBÏPJLBUBTUÂOUXO TGJF¼UÕOQSIHNÂUXOQJTUFÛTBOUFÀF¯OBJyMIRÊB†ESÛTBOUPŠQÓUÒyLSPQÔMFJ 1BOÓÀ†SÓO LBÍBUÓOyQÓUBÛUIÀUËÀyHHFMÎIÀRVTÎÝTÎUFzQFUFÎPJTJLBÍMBN QÂEJ†MÂTLPOUBJ Und als erstes, als sich die Strategen noch in der Stadt selbst befanden, schickten sie als Herold nach Sparta Pheidippides, der einerseits Athener war, aber andererseits im Taglauf und ähnlichem besonders trainiert war. Und diesem ist nun, wie Pheidippides selbst berichtete und den Athenern verkündete, in der Gegend des Parthenios-Bergs, der oberhalb von Tegea liegt, Pan erschienen. Pan habe den Namen des Pheidippides laut gerufen und ihm aufgetragen, den Athenern mitzuteilen: Warum sie keine Aufmerksamkeit für ihn an den Tag legen würden, obwohl er den Athenern wohlgesonnen sei und ihnen schon häufiger nützlich gewesen sei und auch noch weiter sein werde? Und nachdem die Schlacht gut für sie ausgegangen war, da vertrauten die Athener darauf, daß dies wahr sei, und sie bauten unterhalb der Akropolis ein Heiligtum für Pan, und seit dieser Botschaft versöhnen sie sich ihn durch ein jährliches Opfer und einen Fackellauf. 44 Hdt. 6, 105.

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Herodots Bericht kann auf drei wesentliche Aussagen über die Einführung des Pan-Kults zugespitzt werden, nämlich daß dem Gesandten, der in Sparta militärische Unterstützung erbitten sollte, eine Erscheinung des Gottes Pan in der Gebirgslandschaft Arkadiens zuteil geworden sei, und daß sein Bericht nach der Schlacht Glauben bei der Polisgemeinschaft gefunden habe und auf seiner Grundlage ein offizieller Staatskult für Pan unterhalb der Akropolis eingerichtet worden sei. Gegenstand dieses Kults waren ein jährliches Opfer und ein Fackellauf. Bemerkenswert ist die zurückhaltende Form des Berichts – es wird bei Herodot ausdrücklich nichts darüber gesagt, ob und in welcher Form Pan den Athenern in der Schlacht zu Hilfe gekommen ist. Und dennoch steht die Schlacht von Marathon offenbar in kausalem Zusammenhang zur Einführung seines Kultes. Der Bericht Herodots wirft also mehrere zentrale Fragen auf – zunächst die nach der Glaubwürdigkeit des Berichts, dann aber auch die, warum ausgerechnet der PanKult mit seinem jährlichen Opfer und dem Fackellauf mit dem Ausgang der Marathon-Schlacht verbunden wurde und die Erinnerung an den Sieg aufnahm und verbreitete. Welchen Sinn machte die offizielle Anerkennung gerade dieses neuen Gottes als UPÏÀ"RIOBÎPJÀTÛNNBYPÀ? Bei der Prüfung der Glaubwürdigkeit des herodoteischen Berichts steht zunächst die Gestalt des Pheidippides im Mittelpunkt. Dieser Hemerodromos taucht bei Herodot nur an dieser einen Stelle auf,46 der Bericht über den Lauf der Strecke von Athen nach Sparta und zurück innerhalb von zwei Tagen kann aus sportwissenschaftlicher Sicht wohl als realistisch angesehen werden.47 Die Erscheinung des Pan,48 die von Herodot scheinbar nach mündlichen athenischen Traditionen am Parthenios-Gebirge in Arkadien lokalisiert wird,49 fällt in ein Gebiet, das geradezu als Heimat des Pan gilt50 45 So die spätere prägnante Titulatur bei Lukian. Bis accus. 9. 46 Später ist der Name des Läufers auch verbunden mit der Legende vom sogenannten „MarathonLauf“ von Marathon nach Athen, vgl. ausführlich Kapitel 5.3. 47 Zu den Hemerodromoi, die auch im Persischen Reich im Einsatz waren, ausführlich Matthews. Lee, S. 108 – 111 hat unter Verweis auf Leistungen moderner Sportler gezeigt, daß ein Lauf über solche Distanzen in der angegebenen Zeit durchaus bewerkstelligt werden kann. Eine Rekonstruktion der Route des Pheidippides hat Shaw, Message, S. 56 – 78 vorgelegt. Weitere Beispiele für entsprechende Leistungen antiker Läufer bei McQueen, S. 190. 48 Plötzliche Erscheinungen und Epiphanien sind geradezu ein charakteristisches Merkmal dieser Gottheit, wie Versnel, S. 49f. in einer Analyse der Pheidippides-Episode herausgearbeitet hat. 49 Paus. 8, 54, 6 gibt überdies den Hinweis darauf, daß an der Stelle der Epiphanie später ein Heiligtum errichtet worden sei, über das bedauerlicherweise weiter nichts bekannt ist, so daß die Umstände und der Zeitpunkt der Einrichtung im Dunkeln bleiben. 50 Brommer, Pan, Sp. 951 mit literarischen Belegen. Zur Verortung des Gottes in der Welt arkadischer Kleinviehhirten Herbig, S. 17 – 19. Archäologische Belege für die Verehrung des Pan in Arkadien im sechsten Jahrhundert v. Chr. bietet Brommer, Pan im 5. und 4. Jahrhundert, S. 6f. Ausführlich hat Borgeaud, S. 15 – 192 die Entstehung und Verehrung des Pan in der Berglandschaft Arkadiens behandelt, dort finden sich auch alle Belege des Kults in dieser Region. – Zur Bedeutung von Bergregionen als Orten göttlicher Epiphanie Garland, S. 49 mit einigen Belegen.

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– die einsame Gebirgsregion wird zum Ort der Vision ausgestaltet, in der Pan mit mildem Tadel seine Vernachlässigung in Athen beklagt und sich als den Athenern wohlgesonnen zu erkennen gibt. In der Forschung begegnen Versuche, mit denen die Vision auf einen ›rationalen‹ Kern reduziert werden soll: Pheidippides’ Konstitution sei durch die körperliche Anstrengung geschwächt und von daher für Trugbilder wie eine Vision des Pan besonders empfänglich gewesen, heißt es.51 Eine solche Erklärung greift wohl etwas kurz angesichts des Berichts Herodots, nach dem eine Einführung Pans in den offiziellen Staatskult Athens mit dem Ausgang der Schlacht von Marathon verbunden wird. Eine Epiphanie, wie sie Pheidippides erlebt haben soll, kann zwar die Einführung des neuen Kults zusätzlich legitimieren, aber eine ›rationale‹ Erklärung dieser Vision kann noch keine Begründung für den gesamten Vorgang darstellen. Es geht in dem Bericht nicht so sehr um eine an den Läufer als Person gerichtete Epiphanie, sondern um die religionspolitische Maßnahme, in Athen unter Bezugnahme auf den Sieg von Marathon den Kult eines neuen Gottes einzuführen. Und diese Aussage Herodots ist auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Die Einführung des Pan-Kults in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Marathon-Schlacht nämlich, der von Herodot hergestellt wird, kann durch archäologische Belege gestützt und bestätigt werden. Die Kultstätte des Pan, die von Herodot vage unterhalb der Akropolis lokalisiert wurde, konnte archäologisch nachgewiesen werden.52 Weitere Kultorte in Attika - nämlich Marathon selbst, Eleusis, Phyle und drei weitere Stätten53 zeigen ein ähnliches Bild wie die Höhle unterhalb der Akropolis: Ein Kult für Pan ist vor dem fünften Jahrhundert v. Chr. dort nicht nachweisbar, setzt aber in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts mit allem Nachdruck ein. Auch in der attischen Keramik gibt es keine Darstellungen des Pan vor dem 51 Exemplarisch sei für diese These auf die Ausführungen von Forehand verwiesen, der eine Dehydrierung des Läufers für die Vision verantwortlich macht. Garland, S. 50f. erwägt kritisch auch psychologische Gründe: So habe Pheidippides möglicherweise die Wünsche und Hoffnungen seiner schwierigen und erfolglosen Sparta-Mission in diese Vision hineinprojiziert: Da die Spartaner als Verbündete ausfielen, konnten die Athener so wenigstens auf die Unterstützung eines neuen Gottes hoffen. 52 Roussel, S. 492. Offenbar war die Höhle schon zuvor ein Kultort für Nymphen (seit dem Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. nachweisbar), im fünften Jahrhundert v. Chr. tritt dann Pan als Teilhaber am Kult hinzu. – Eine Rekonstruktionszeichnung der Höhle bei Riis, S. 130. Weitere Angaben auch zur älteren Literatur bei Travlos, S. 219; 221; vgl. darüber hinaus Deligeorghi- Alexopoulou. 53 Garland, S. 60. – Eine Beschreibung der Pan-Höhle in der marathonischen Tetrapolis bei Oinoe bei Paus. 1, 32, 7. Zum archäologischen Befund in Oinoe nach der Entdeckung der Höhle 1957/58 Daux, Chronique 1957, S. 681 – 686; Chronique 1958, S. 587 – 589; Bovon, S. 225f. Offenbar knüpft der Pan-Kult auch hier an eine ältere, seit neolithischer Zeit bestehende Kultpraxis an. – Der Kult des Pan an der Grenze Attikas in Phyle ist vor allem auch durch den Dyskolos des Menander belegt, zum dortigen Kultplatz und dem Ort der Komödie Photiades; Cistjakova; Vanderpool, Pan. – Der beste Überblick über die attischen Kultorte für Pan bei Edwards, S. 19 – 27.

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Beginn des fünften Jahrhunderts v. Chr., erst danach erfreut sich sein Bild einer zunehmenden Beliebtheit54; ein ähnliches Bild ergibt sich bei einem Blick in die Literatur: Während Pan im Pantheon Homers oder Hesiods nicht vorkommt, taucht der Gott auch hier erst mit dem Beginn des fünften Jahrhunderts v. Chr. auf;55 so wird er bei Herodot folgerichtig dann auch RFÔÀOFÞUBUPÀgenannt.56 Sicherlich muß dabei zugestanden werden, daß der Pan-Kult in Attika dabei nicht gänzlich neu eingeführt wurde, sondern daß er an Bekanntes und Etabliertes anknüpfte: So ist vor allem immer wieder die Verknüpfung mit den Nymphen bemerkenswert, mit denen er auch in der späteren Kultpraxis immer wieder eng verbunden ist.57 Der Bericht Herodots läßt auch durchaus die Möglichkeit offen, daß Pan vor allem im ländlichen Bereich Attikas schon vorher Verehrung genoß, aber daß sein Kult noch nicht offiziell anerkannt bzw. unter die Staatskulte aufgenommen war.58 Auch für den Fackellauf, der offenbar einen wesentlichen Teil des Kultgeschehens ausmachte, ist ein wichtiger archäologischer Beleg aus der Zeit nach den Perserkriegen anzuführen. Im späten schwarzfigurigen Stil zeigt eine attische Schale des zweiten Viertels des fünften Jahrhunderts v. Chr. auf den Außenseiten eine Reihe junger Männer, auf der Innenseite aber einen laufenden Pan, der eine Fackel in der Hand trägt und mit weit ausgreifenden Schritten wie bei einem Wettlauf dargestellt wird.59 In Stil und Ausführung erinnert die Schale an die Gefäße in archaisierendem Stil, die bei den Panathenäen als Siegespreis verliehen wurden.60 Man wird diese Darstellung des Gottes möglicherweise mit der von Herodot für das fünfte Jahrhundert v. Chr. bezeugten Kultpraxis in Verbindung bringen und dies 54 Eine Übersicht über die attische Keramik mit Pan-Darstellungen im fünften Jahrhundert v. Chr. und ihre Datierung bei Brommer, Pan, Sp. 956 – 961; vgl. auch Brommer, Pan im 5. und 4. Jahrhundert, S. 10 – 36. 55 Sämtliche Belege bei Brommer, Pan, Sp. 955f. – Auch der unter dem Namen Homers überlieferte Pan-Hymnus datiert wohl keinesfalls vor dem Ende des 5. Jahrhunderts, so das Fazit von Andrisano, S. 22. Die frühesten Belege stammen aus Pindar, vielleicht eine Folge des bis nach Boiotien ausstrahlenden neuen athenischen Kultes, dazu Haldane, S. 20. 56 Hdt. 2, 145. 57 Garland, S. 61. Fuchs, Nymphenreliefs, S. 245 vermutet einen älteren Nymphenkult, der mit Pan verbunden worden ist, dort auch passim Belege für die enge Verknüpfung beider Kulte im fünften und vierten Jahrhundert v. Chr. Ausführlich dazu Parker, S. 165f. - Es gibt auch Hinweise auf eine engere Verbindung des Pan-Kults mit Artemis, dazu Borgeaud, S. 229 – 231; Kahil, Artemis, Dionysos et Pan, S. 518; Garland, S. 61. – Zuletzt hat Larson, S. 97f. unter Bezugnahme auf attische Kultkalender einen älteren Nymphenkult postuliert, an den der des Pan vielfach anknüpfe; dort S. 126 – 130 auch ein Überblick über die nachgewiesenen attischen Nymphenkulte. 58 Entsprechend auch die Vermutung von Garland, S. 61. 59 Die Publikation der Schale bei Simon, Nordattischer Pan. 60 Ebd. S. 19f. nennt sie vor allem die Gestaltung einiger schwarzfiguriger Frauengestalten auf der Außenseite der Schale als wichtiges Indiz dafür, daß ähnlich wie bei den panathenäischen Preisamphoren hier in einer Zeit, da eigentlich schon längst in rotfigurigem Stil gearbeitet wurde, noch der archaisierende Gestaltungstyp zur Verwendung kommt.

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als Beleg werten können. Es bleibt also festzuhalten, daß vor allem durch die archäologischen Befunde die Aussage Herodots, daß es nach der Marathon-Schlacht zu einer Einführung des Pan-Kults gekommen sei, bestätigt wird; auch für den Fackellauf haben sich archäologische Anhaltspunkte finden lassen. Nachdem der Bericht Herodots also als zuverlässig gelten kann, bleibt die Frage offen, warum ausgerechnet Pan zur Erinnerung an den Sieg von Marathon neu in den athenischen Staatskult eingeführt wurde und welche Ziele damit verfolgt wurden. Es bleibt zunächst festzuhalten, daß es im Bericht Herodots keinen klar greifbaren Hinweis darauf gibt, demzufolge Pan selbst direkt in das Schlachtgeschehen von Marathon zugunsten der Athener eingegriffen habe. Dennoch ist in der modernen Forschung der Versuch unternommen worden, einen Bezug zwischen der Epiphanie des Gottes in der Schlacht von Marathon und der im Heer der Perser ausgebrochenen Panik herzustellen. Zwar mag es in der arkadischen Pan-Tradition Elemente gegeben haben, die eine Verbindung des Gottes zur Panik von Personen oder Gruppen nahe legen,61 für die Schlacht von Marathon ist eine solche Verbindung gleichwohl nicht belegt.62 Erst im vierten Jahrhundert v. Chr. werden auch in der Literatur Verbindungen zwischen dem Gott Pan und der in der Schlacht erzeugten Panik bei den Gegnern hergestellt.63 Anders als bei Herakles gibt es auch keine Anzeichen dafür, daß Pan in der Stoa Poikile als Mitkämpfer in der Schlacht dargestellt wurde – bei Pausanias fehlt jedenfalls ein Hinweis auf Pan, er wird nicht bei den zugunsten der Athener in die Schlacht eingreifenden Göttern aufgeführt, oder jedenfalls fehlt er in jeder Beschreibung des Gemäldes. Ein direktes Eingreifen des Gottes in die Schlacht ist erst außerordentlich spät belegt, und diese Legende trägt alle Züge einer späteren Konstruktion: Die Suida berichtet von dem athenischen Soldaten Polyzelos, der während des Kampfes eine bärtige Kriegergestalt

61 Vgl. hierzu vor allem Borgeaud, S. 137 – 175. 62 Garland, S. 52f. hat dennoch erwogen, daß die bei Hdt. 6, 112 berichtete plötzliche Flucht der Perser auf eine Panik in ihrem Heer zurückzuführen sei. Parker, S. 164 mit Anm. 36 unterstützt die These einer Panik im Perserheer, die Pan zugeschrieben wurde. Hornblower, Epic, S. 144 hat ein solches Eingreifen Pans ebenso für wahrscheinlich gehalten und auf archäologisches Material verwiesen, das für die Mitte des vierten Jahrhunderts v. Chr. die Verbindung von Pan und Panik in der Schlacht belegen könnte; ebenso zuletzt Ellinger, S. 328 – 330. Dennoch fehlt im herodoteischen Text wie in den Quellen des fünften Jahrhunderts v. Chr. jeder Hinweis darauf, daß eine Panik der Perser vor Marathon dem Eingreifen des Pan zugeschrieben wurde. Bei Herodot ist die Schlacht ein Kampf der Heere gegeneinander, numinose Mächte greifen nicht ein. 63 Eine ausführliche Analyse liegt bei Harrison, Pan vor, dort wird auch gezeigt, daß es weder bei Herodot noch bei anderen Autoren des 5. Jahrhunderts v. Chr. Belege für ein Eingreifen Pans im genannten Sinne gibt. – Erst für die hellenistische Zeit gibt es zweifelsfreie Belege für ein solches Wirken des Pan, wie z.B. in der Schlacht von Lysimacheia, als Antigonos Gonatas seinen Sieg über die Kelten dem Beistand des Pan zuschrieb, dazu auch Herbig, S. 20f.

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mit einem Speer erblickte und darin ein Eingreifen des Pan sah.64 Dieser einzige, noch dazu keinesfalls zeitgenössische Beleg kann nicht beweisen, daß man sich im fünften Jahrhundert v. Chr. die Hilfe des Pan in Form einer direkten Hilfe oder Epiphanie in der Schlacht vorgestellt hat – die Unterstützung des Gottes scheint sich also in der Vorstellung der Zeitgenossen der Perserkriege sehr viel indirekter geäußert zu haben als sie sich in späteren antiken Traditionen greifen läßt.65 Viel wichtiger nämlich ist die psychologische Bedeutung der Unterstützungserklärung: In dem Moment, als klar wurde, daß mit spartanischer Hilfe nicht zu rechnen war, tauchte mit Pan ein Gott als TÛNNBYPÀauf, dessen Wohlwollen und Eingreifen möglicherweise einen Ausgleich für diese fehlende Unterstützung leisten konnte. Für diese Hilfe bildete die Einrichtung eines offiziellen Staatskults den Ausdruck der Dankbarkeit der Polis – und zugleich den Anspruch für die Zukunft, weiter auf Pan zählen zu können, denn Herodots Bericht ist ganz auf das Wohlwollen und die Zusage, den Athenern künftig in allgemeiner Form hilfreich zu sein, konzentriert: zÔOUPÀF»OPV"RIOBÎPJTJLBÍQPM MBYÒHFOPNÊOPVTGJ¬EIYSITUPÜ66 So ist Pan dann vor allem ein Gott, dessen Verbindung zu Marathon erst nach der erfolgreichen Schlacht offiziell anerkannt und in Kult und Ritual inszeniert wurde - das jedenfalls sagt der Bericht Herodots sehr eindeutig. Die Stiftung des Pan-Kults stellt daher eine religionspolitische Maßnahme dar, die in unmittelbarem Umfeld der Schlacht erfolgte und von daher wohl direkt mit ihrem Ausgang in Verbindung gebracht wurde. Die Verehrung des Gottes stand in den Jahren nach dem Erfolg von Marathon in einem direkten kausalen Bezug zu diesem; und vor diesem Hintergrund ist zu ana-

64 Suida s.v. ˆ*QQÎBÀ1PMÛ[IMPÀEÉQISXRFÎÀ ‹ÀGÂTNBRFBTÂNFOPÀUßQÞHXOJLSÛQUXO UÈOyTQÎEB TÛNNBYPOUÓO1ÃOBEF}LÂ[PVTJOF¯OBJ

zNÂYFUP‹À‡SÕO LBÍEJÊLSJOFUÒGX OÒUPÚÀ}EÎPVÀLBÍUPÚÀQPMFNÎPVÀ- Deutlich wird, daß in dieser Erzählung das Wirken des Pan sich eben gerade nicht, wie von der modernen Forschung unterstellt, im Erzeugen von Panik unter den Gegnern äußert, sondern darin, daß er durch sein Eingreifen Freund und Feind in den Schlachtreihen deutlich unterscheidet. Auf eine späte Entstehung der Legende kann allerdings der ›sprechende Name‹ des Helden der Episode hindeuten, evident sind auch die Anklänge an die bei Hdt. 6, 117 berichtete Legende über den Hopliten Epizelos, dem in der Schlacht ein bärtiger Mann erschienen sei, der seinen Nebenmann erschlagen habe und dann verschwunden sei. Eine Deutung im Hinblick auf Pan erfolgt aber bei Herodot gerade nicht, und von daher darf die Suida-Erzählung als eine spätere Fassung gelten, die aus dem Herodot-Bericht heraus gewonnen worden ist. 65 So wird etwa bei Lukian dial. deor. 2, 3 lediglich davon gesprochen, daß Pan sich in der Schlacht tapfer gehalten und als Auszeichnung dafür die Höhle an der Akropolis erhalten habe – auch hier fehlt also ein Hinweis auf ein machtvolles Eingreifen zugunsten der Athener. – Das Eingreifen des Pan in die Schlacht scheint erst eine hellenistische Tradition zu sein, die möglicherweise auf Vorläufer im vierten Jahrhundert v. Chr. zurückgreifen kann, vgl. dazu auch Kapitel 5.1. 66 Hdt. 6, 105.

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lysieren, wer diese Form der Erinnerung an die Schlacht betrieb und welchen Charakter diese gewinnen konnte.  Es gibt zumindest schwache Hinweise darauf, daß die Stiftung des Kultes nicht ohne die politische Initiative der athenischen Militärführung vonstatten ging. Jedenfalls gibt es eine offenbar alte, von Herodot unabhängige Tradition, nach der Miltiades unmittelbar nach der Schlacht, noch vor seinem Sturz, eine private Weihung an Pan vorgenommen habe. Das zugehörige Weihepigramm wurde dem Simonides zugeschrieben und lautet:67 5ÓOUSBHÔQPVOzNÉ1ÃOB UÓO"SLÂEB UÓOLBUÁ.ÌEXO  UÓONFU"RIOBÎXO TUÌTBUP.JMUJÂEIÀ Mich, den bocksfüßigen Pan, den Arkader, den, der gegen die Meder steht, der auf der Seite der Athener ist, stellte Miltiades auf.

Auch wenn die Zuordnung des Epigramms zur Person des Simonides nicht zuverlässig sein muß, aber gleichwohl möglich ist, gibt es keine inneren Kriterien des Gedichts, die gegen eine Entstehung im 5. Jahrhundert v. Chr. sprechen: Zahlreiche spätere Variationen in hellenistischer und römischer Zeit sprechen für ein außerordentlich bekanntes Epigramm, das wohl bereits in klassischer Zeit entstanden sein muß. Daß eine Verbindung zu Miltiades selbst gegeben ist, ist für wahrscheinlich gehalten worden, aber nicht beweisbar.68 Bemerkenswert ist der Text vor allem insofern, als er eine private Weihung des Feldherrn so gestaltet, daß der gemeinschaftliche Erfolg des athenischen Bürgerheers gegen die Perser herausgestellt wird und nicht die individuelle Leistung des Feldherrn. Eine solche Stilisierung – mit dem göttlichen Helfer an erster, den Athenern an zweiter und dem Stifter an letzter Stelle – würde gut zur politischen Situation in Athen kurz nach der Schlacht passen und auch die Einbindung des aristokratischen Strategen in den Demos abbilden.69 Der archäologische Befund der KallimachosWeihung auf der Akropolis, die zwischen der Schlacht von Marathon und dem Persersturm von 480 v. Chr. erfolgt sein muß, gibt ebenfalls einen 67 Anth. 16, 232. 68 Page, S. 194f. mit der älteren Literatur, dort S. 195 zur Möglichkeit einer späteren Entstehung des Epigramms: »a fictitious dedicatory-inscription in the name of a famous statesman or soldier of the classical period is hardly to be found among them« (scil. Epigramme späterer Zeit). – Rausch, Isonomia, S. 141 – 143 plädiert ebenfalls für die Echtheit des Epigramms und nimmt als mögliche Aufstellungsorte die Akropolis und die Pan-Höhle am Burgberg der Akropolis an. – Borgeaud, S. 222 Anm. 141 hat unter Bezug auf einen mündlichen Hinweis von Burkert das Fragment Pap. Ox. 2624, 1 auf Pan bezogen und dem Simonides zugeschrieben. Angesichts des fragmentarischen Erhaltungszustands muß dies aber spekulativ bleiben. – Die nicht näher begründete These bei How – Wells, S. 108, welche die Einführung des Pan-Kults insgesamt in die kimonische Zeit verlagert, mag in dem Epigramm ihren Ursprung haben, ist aber als spekulativ zurückzuweisen und besitzt angesichts der Kallimachos-Weihung auch wenig Plausibilität. 69 Rausch, Isonomia, 143.

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Hinweis in diese Richtung: Die Statue der Nike oder einer göttlichen Botin, die sich auf der Säule befunden hat, hielt offenbar ein Zepter mit einem Pan-Kopf in der Hand70 – ein deutlicher Hinweis auf die Verbindung zwischen Pan und dem Sieg von Marathon, und außerdem ein mögliches Indiz dafür, daß die Einführung dieses Kults maßgeblich von der militärischen Führung betrieben wurde. Neben dieser möglichen Verbindung zu Miltiades scheint auch die Ausgestaltung des Kultes eine enge Verknüpfung mit dem militärischen Bereich zu belegen. Ähnlich wie im Fall des Herakles-Kults kann eine Verbindung Pans vor allem zu dem Bereich der jungen Bürger als wahrscheinlich gelten. Ein später Beleg aus einem Scholion sichert eine Verbindung des zu Ehren von Pan durchgeführten Fackellaufs mit der Ephebie: Als Phylenagon durchgeführt, wurde er vom Gymnasiarchen finanziert.71 Ziel des Fackellaufs scheint demnach ein Altar – welcher Gottheit bleibt ungewiß – zu sein, Siegespreise wurden nach Angaben des Scholions für den Einzelsieger und seine Phyle ausgesetzt.72 Unklar bleibt auch, in welcher Verbindung der Fackellauf für Pan zu den Gottheiten Prometheus und Hephaistos stand, zu denen literarische und epigraphische Quellen eine Verbindung herstellen.73 Vielleicht wurde die Ehrung des neuen Gottes mit einem älteren Kult verbunden. Wichtig ist aber der Hinweis des Scholions auf die Epheben, die offenbar den von Herodot bezeugten jährlichen Fackellauf durchführten. Eine bemerkenswerte Verbindung zwischen dem neu eingeführten Pan-Kult und den Epheben läßt sich auch für das späte fünfte Jahrhundert v. Chr. zeigen: Im euripideischen Ion findet sich ein Beleg für die 70 Brommer, Pan im 5. und 4. Jahrhundert, S. 8 – 10. Neu entdeckte Bruchstücke des Monuments sind bisher nicht wissenschaftlich publiziert worden, hierzu und zum Weihgeschenk des Kallimachos insgesamt Kapitel 3.1. 71 Schol. Demosth. 57, 43 (nicht unter den Scholien bei Dilts in der Teubneriana), ediert BCH 1 (1877), 10 – 16, hier 11 s.v. (BNIMÎB. 72 Dies entspräche der Praxis bei anderen Fackelläufen wie in IG II², 2311, wo in einer Siegerliste jeweils ein Einzelsieger und die Phyle als Siegerin angegeben werden. Ob es also zwei getrennte Wettbewerbe – einen für Einzelathleten und einen für Phylenstaffeln – gegeben hat oder nur einen, bei dem Individualsieger und Phylensieger gleichzeitig ermittelt wurden, muß unklar bleiben, auch wenn Rausch, Isonomia, S. 179f. für die letztere Variante plädiert hat. 73 Phot. s.v. MBNQÂÀund Suida s.v.MBNQÂEPÀverbinden den Fackellauf für Pan mit Prometheus, Schol. Demosth. 57, 43 spricht von einem Fackellauf für Prometheus, Hephaistos und Pan gleichzeitig, IG I³, 82, 32 – 35 aus dem Jahr 421/420 v. Chr. verbindet den Fackellauf für Pan wiederum mit dem für Prometheus. Zu den einzelnen Fackelläufen und ihrer Zuordnung zu bestimmten Göttern vgl. auch Corbett, S. 349 Anm. 47. - Ob allerdings diese Verbindung bereits seit der Marathon-Schlacht bestand oder erst zu einem späteren Zeitpunkt eingeführt worden ist, bleibt unklar. Die Hypothese von Rausch, Isonomia, S. 183f., daß durch ein Zusammentreffen der Termine beider Feste ein neues, alle vier Jahre durchgeführtes Kultelement für beide Gottheiten eingeführt worden sei, ist bloße Spekulation. Borgeaud, S.227f. hatte die Frage ebenfalls unentschieden gelassen und statt dessen eine Verbindung des Laufs für Pan mit dem Eros-Kult gesehen, ohne dies allerdings wirklich schlüssig belegen zu können.

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offenbar enge Verknüpfung des Pan-Kults mit Aglauros,74 jener Heroine, die im späteren Ephebencurriculum eine so große Bedeutung besaß. Die Kultorte der Aglauros und des Pan befanden sich unterhalb der Akropolis in unmittelbarer Nachbarschaft.75 Auch bei dem Netz von Kultorten für Pan, das sich über Attika erstreckte, läßt sich noch für die Zeit des 1. Jahrhunderts v. Chr. eine besondere Verbindung des Kults für Pan und die Nymphen mit dem damaligen Ephebencurriculum zeigen, wie eine Inschrift aus der Pan-Höhle bei Marathon zeigt.76 Die genannten Belege machen es wahrscheinlich, daß die Verknüpfung des neuen Gottes über den für ihn gestifteten Fackellauf mit der militärischen Ausbildung junger athenischer Hopliten – auch im Rahmen von Phylenagonen – bis in das fünfte Jahrhundert v. Chr. zurückgehen könnte.77 Das spätere Ephebencurriculum konnte möglicherweise an solche Verbindungen anknüpfen. Insofern deutet vieles darauf hin, daß der von Herodot erwähnte Fackellauf als Phylenagon durchgeführt wurde. Als solcher ordnete er sich ein in das Bestreben, über solche Wettkämpfe den Zusammenhalt innerhalb des athenischen Bürgerheers zu stärken; darüber besaß er auch eine militärische Bedeutung. Der neue Kult ist insofern eng verbunden mit der Organisation des Hoplitenheeres der Polis, seine Einführung entsprach daher durchaus auch dem Kalkül der militärischen Führung Athens. Als ein Gott, der die Binnenintegration des Heeres bzw. darüber auch der Polisgemeinschaft insgesamt leisten konnte, war Pan wohl auch deswegen besonders geeignet, weil er ein Gott war, dessen Heimat deutlich außerhalb der ¢TUV, also in der YÞSB,lag. Insofern stellte die Einführung seines Kultes auch ein Integrationsangebot an die ländliche Bevölkerung Attikas dar. Ähnlich wie Aglauros, die spätestens im vierten Jahrhundert v. Chr. wie er unterhalb der Akropolis verehrt wurde und ebenfalls mit dem Ephebenkult eng verbunden war, besaß dieser Gott, der draußen auf dem Feld, in unwirtlicher Gegend

74 Eurip. Ion 492 – 502 verbindet den Kultort des Pan mit den QBSBVMÎ[PVTBQÊUSB(493) der drei Aglauriden. – Dazu ausführlich Borgeaud, S. 223 – 226. 75 Zum Ort des Aglauros-Kults unterhalb der Akropolis Oikonomides, S. 13 – 15; dort legten die Epheben ihren Eid ab. Zu Figur und Kult der Aglauros vgl. auch Merkelbach, Aglauros, S. 279 – 281. 76 SEG 36 (1986), 267 aus der Höhle des Pan bei Oinoe zeigt eine Weihung dreier namentlich genannter Epheben für Pan und die Nymphen, ausführlich dazu vgl. Lupu. 77 In diesem Zusammenhang ist die Beobachtung von Brommer, Pan im 5. und 4. Jahrhundert, S. 14 bemerkenswert, daß im Verlauf des fünften Jahrhunderts v. Chr. ein Typus der Ikonographie aufkommt, der Pan als jugendlichen anthropomorphen Gott mit wenigen tierischen Zügen darstellt. Zugleich bleiben die den Gott als Zwittergestalt von Bock und Mensch abbildenden Typen weiter prägend. – Zum Motiv des jugendlichen Pan vgl. auch die Beobachtungen von Marzi Costagli, S. 46f. – Auch eine Darstellung des Pan, die ihn vielleicht mit einer Salpinx zeigt, die die Soldaten zur Schlacht ruft, könnte in diesen Zusammenhang gehören, wie Borgeaud, S. 200f. wahrscheinlich gemacht hat.

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zuhause war,78 eine besondere Nähe zu Soldaten und insbesondere zu den Epheben. Zugleich war seine Hilfe in der Schlacht von Marathon und das von Herodot vermittelte Beistandsversprechen für die Zukunft ein wichtiger Punkt, der Soldaten und Epheben dem Pan besonders nahe bringen konnte. Der neue TÛNNBYPÀder Athener war also wesentlich einer, den die militärische Führung des athenischen Hoplitenheeres gewonnen hatte. Die antiken Zeugnisse, daß Miltiades und Kallimachos wesentlich die Einführung Pans in den offiziellen Kult der Polis betrieben haben, erfahren von diesen Überlegungen her eine Unterstützung. Daneben scheint Pan noch eine weitere wichtige Funktion gewonnen zu haben. Ein Blick auf die Kultpraxis in den Höhlen des Pan und der Nymphen kann zeigen, daß ihr Kult im Lauf des fünften Jahrhunderts v. Chr. eine außerordentliche Beliebtheit gewonnen hat. Zahlreiche private Weihungen belegen, daß diese Gottheiten trotz ihrer im offiziellen Staatskult nach wie vor eher randständigen Bedeutung oder gerade deshalb im privaten Bereich ein erheblich höheres Gewicht besessen haben. Archäologische Funde können dabei im einzelnen demonstrieren, daß Pan und den Nymphen in zahlreichen privaten Angelegenheiten Weihungen gemacht wurden, und daß sie geradezu vertraut mit GÎMPÀo.ä. angesprochen werden konnten. Sie scheinen vor allem Gottheiten der kleinen Leute gewesen zu sein; der Charakter der Weihgaben zeigt dies an vielen Stellen sehr deutlich.79 Auch die Selbststilisierung des Sokrates in seinem berühmten Gebet an Pan80 führt in dieselbe Richtung, auch hier begegnet Pan als ein Gott des privaten Bereichs, dessen Beistand in vielen Lebenslagen angerufen werden konnte, und als ein Gott auch gerade der unteren sozialen Schichten. Wie kann dieser Befund mit den Berichten über die Einführung eines offiziellen Kults der Polis für Pan in Einklang gebracht werden? Die nach der MarathonSchlacht schlagartig einsetzende, offenbar an den älteren und schon früher beliebten Nymphen-Kult anknüpfende Verehrung des Pan war in mehrfacher Hinsicht ein Erfolg. Pan, der Gott der YÞSB, bezog die Akropolis,81 78 Merkelbach, Aglauros, S. 279 zum Namen der Göttin. 79 Bremer, S. 30 spricht geradezu von »volksvroomheid op het land«, eine tiefe Verbundenheit der ländlichen Bevölkerung Attikas mit den Nymphen und Pan zeigt sich an zahlreichen kleinen Kultorten mit entsprechenden archäologischen Befunden. – Zu den Weihgaben vgl. auch Brommer, Pan im 5. und 4. Jahrhundert, S. 30 – 38; Brommer, Pan, Sp. 981f.; Shear, Votive Relief, S. 187 – 190; und am ausführlichsten Edwards. – Zu den Inschriften für Pan und die Nymphen vgl. Parker, S. 165 Anm. 42. – Zum Charakter des Kults und zu seiner Klientel vgl. die grundsätzlichen Überlegungen bei Larson, S. 229 – 231 und speziell zu Attika S. 243 – 250. 80 Plat. Phaidr. 279A – im Hinblick auf die Stilisierung des Sokrates stellt Clay, S. 353 vor allem den Bezug zur ländlichen Umgebung Athens heraus. 81 Der neue Kultplatz des Pan schuf allerdings auch wiederum eine Verbindung zur Herkunft des Gottes: Nicht auf dem Burgberg, im innersten Zentrum der Poliskulte, fand er seinen Platz, sondern etwas unterhalb in einer Höhle, so wie es seiner gebirgigen Heimat in Arkadien entsprach. Dazu Herbig, S. 41.

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und zugleich wurde ganz Attika von einem Netz von Kultorten für den neuen Gott überzogen, wobei die Höhle am Abhang der Akropolis auch als Modell für die Stätten im Umland fungierte und so eine Kultpraxis sicherte, die in ganz Attika einigermaßen gleichartig war.82 So fand der Athener, der aus seinem Dorf nach Athen kam, dort seinen ihm vertrauten Kult bereits vor, vielleicht kann Pan sogar als ein Gott angesehen werden, der wie kein anderer diesen Weg vom Land in die Metropole auch selbst darstellt. Insofern konnte auch der Pan-Kult einen wichtigen Beitrag zur Binnenintegration Attikas im Sinne der neuen politischen Ordnung leisten. Eine solche Integration der Landbevölkerung muß dabei bei der Einführung des Kults gar nicht unbedingt primär intendiert gewesen sein; daß sich eine solche Funktion des Kults entwickelt hat, scheint dagegen relativ klar zu sein. Zugleich besaß der neue Gott, der so große Verehrung auch im privaten Bereich genoß, immer auch eine politische Funktion, insofern als sein Kult aitiologisch mit dem militärischen Erfolg von Marathon verbunden war. Der Erfolg wurde so nicht nur zu einem Sieg der Stadt Athen, sondern vor allem auch ihrer Bevölkerung auf dem Lande. Der neu etablierte Polis-Kult zur Erinnerung an das Schlachtgeschehen steht in einer engen Verbindung mit der Bedeutung des Gottes in der Alltagsreligion und sorgte so wohl auch für eine rasche Akzeptanz seiner Aufnahme in den offiziellen Poliskult. Dieser stellte gewissermaßen die Analogie zum privaten Beistand des Pan her: So wie dieser mit den Nymphen in privaten Anliegen half, so galt sein Wohlwollen auch der Polis, und Marathon war der historische Beleg dafür. Die Erinnerung an die Schlacht äußert sich also in Formen, die der Mentalität einer weithin bäuerlich geprägten Bevölkerung Attikas entsprachen. Pan war ein Gott der Bauern und Hirten, sein Eingreifen in die Schlacht zeigte – ebenso wie das des Herakles, der als lokaler Heros aus der Erde Marathons aufstieg –, daß die Athener mit dem Beistand ihrer Götter ihr Land verteidigten. Betrachtet man also die Einführung des Pan-Kults im Zusammenhang mit dem Sieg von Marathon, dann wird eine doppelte Funktion des neuen Kults deutlich, und im Hinblick auf die Einbeziehung gerade auch der jungen Männer im Epheben-Alter ähnelt der neue Gott dem neu geordneten Herakles-Kult der marathonischen Tetrapolis: Zum einen stellte die Etablierung des Pan-Kults offenbar eine von der militärischen Führung dieses Jahres ausgehende religionspolitische Maßnahme dar, die zur Kommemoration des Geschehens vor allem im militärischen Bereich dienen konnte. Die Sieghaftigkeit des athenischen Hoplitenheeres mit dem Beistand des neuen Gottes war das, was von Marathon blieb, und es war das, was Miltiades und Kallimachos möglicherweise durch eigene Weihungen auch in Form von 82 Garland, S. 62.

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Denkmälern inszenierten. Das jährliche Pan-Fest rief in seiner Wiederkehr den Beistand des Gottes in der Schlacht und den Sieg in Erinnerung, schuf einen festen Punkt der Erinnerung im Kalender der Polis, es beteiligte die Polisgemeinschaft über das Opfermahl am Kult,83 und im Fackellauf wurden die für den militärischen Erfolg des Hoplitenheeres grundlegenden Tugenden wie Teamgeist, Zusammenhalt der neuen Phylen und sportliche Fitneß inszeniert, in einen agonalen Kontext gerückt und von Staats wegen prämiert. Zugleich wurden gerade auch die jüngeren Männer darüber mit der Erinnerung an den Beistand des Pan in der Schlacht84 bekannt. Die zweite Funktion ist nicht minder wichtig: Über die neu eingerichteten Kultorte des Pan überall in der YÞSB vor allem aber auch gerade an Grenzorten Attikas, wurde das Geschehene auch außerhalb der Stadt selbst vermittelt und schuf Plätze, an denen des Beistands des Gottes gedacht werden und für neue, auch private Anliegen dieser Beistand für die Zukunft erbeten werden konnte. Der Kult des Pan war im Hinblick auf seine Etablierung nicht mit demjenigen des Herakles in Marathon vergleichbar, der eine lange eigenständige Tradition besaß und an dem sich lokale Identität festmachte. Der neue Gott stand von Anfang an bei der gesamten Polisgemeinschaft in Verehrung, und sein Kult sah in Phyle ähnlich aus wie in Oinoe. Und gerade darüber wurde, auch wenn dies mit der Entscheidung für die Einführung des Kults nach der Schlacht möglicherweise gar nicht primär beabsichtigt war, ein wichtiger Beitrag zur Integration auch gerade der Landbevölkerung in die Polisgemeinschaft geleistet. Der Beistand gerade eines Gottes ›vom Lande‹ und die Hilfe eines Gottes der Bauern und Hirten formulierten das neue Ideal der Polisgemeinschaft und schufen eine vielleicht nicht unwichtige Möglichkeit der Integration auch für bisher möglicherweise der neuen Ordnung passiv-abwartend gegenüberstehende Bevölkerungsschichten. Diese Integrationsleistung war untrennbar mit der Erinnerung an den Beistand des Pan für die Polis in der schwierigen Situation vor der Schlacht verbunden; sie schuf einen Überbau des Poliskults und der Hochkultur, der die bei der ländlichen Bevölkerung Attikas so beliebte Verehrung des Gottes und seiner Begleiterinnen in den größeren Zusammenhang der Polis einordnete. Sein neues Fest belegte das Hilfeversprechen gegenüber der Polis jedes Jahr erneut und inszenierte wesentliche Werte der neuen Polisgemeinschaft und ihres Hoplitenheeres.

83 Entsprechend hat Hölkeskamp, S. 340 das Pan-Fest in Athen ein »klassisches Fest der kollektiven Erinnerung an Marathon – im Sinne von Assmann« genannt. 84 Zu kurz greift die Interpretation von Ellinger, S. 330, der in der Einführung des Pan-Kults lediglich die Zuversicht vermittelt sehen will, daß die Polis sich auch allein gegen eine Übermacht behaupten könne. Zwar spielt dieses Motiv in der Marathon-Tradition eine erhebliche Rolle, doch kann die Etablierung des neuen Kults nicht allein auf dieses Element reduziert werden.

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2.3 Alte Kulte mit neuer Sinnstiftung Es gibt eine Reihe von weiteren Kulten für Heroen bzw. Götter, die in den antiken Quellen unmittelbar mit dem Ausgang der Marathon-Schlacht verbunden werden und die offenbar bis in das fünfte Jahrhundert v. Chr. zurückgehen. Viele dieser Nachrichten sind so kurz gehalten, daß sie wenig Aufschluß über den Charakter der Kulte geben können. Dennoch zeigen sie, welch eine zentrale Rolle die Einrichtung neuer Kulte bzw. die Erneuerung bestehender Kulte mit einer neuen Sinnstiftung im Rahmen der Erinnerung an die Marathon-Schlacht gespielt haben. Ein öffentliches Ritual und die Verehrung des Heros bzw. der Gottheit erinnerten an das Geschehen. Es sollen die Kulte untersucht werden, die sich zweifelsfrei bis in das fünfte Jahrhundert v. Chr. zurückführen lassen. 2.3.1 Echetlaios Unter den Göttern und Heroen, die auf dem Gemälde in der Stoa Poikile dargestellt waren, befand sich auch eine Gestalt, deren Name variierend mit Echetlos oder Echetlaios angegeben wird.85 Über den Heros erzählt Pausanias dann später:86 TVOÊCIEÉ‹ÀMÊHPVTJO¢OESBzOUËJNÂYIJQBSFÏOBJUÓFiEPÀLBÍUÈOTLFVÈO¢ HSPJLPOPlUPÀUÕOCBSCÂSXOQPMMPÚÀLBUBGPOFÛTBÀySÔUSXJNFUÁUÓªSHPO «OyGBOÌÀzSPNÊOPJÀEÉ"RIOBÎPJÀ¢MMPNÉO‡RFÓÀzÀBUÓOªYSITFOPEÊO  UJNÃOEÉ&YFUMBÏPOzLÊMFVTFOdSXB Es geschah auch, wie sie erzählen, daß in der Schlacht ein Mann aufzutreten schien, der in Bezug auf Aussehen und Kleidung einem Bauern glich. Dieser tötete viele von den Barbaren mit einem Pflug, nach seinem Werk aber war er nicht mehr zu sehen. Den Athenern gab der Gott, als sie ihn befragten, kein weiteres Orakel, außer daß er ihnen befahl, den Echetlaios als Heroen zu ehren.

Wenn Echetlaios auf dem Gemälde in der Stoa Poikile abgebildet und vielleicht auch mit einer Namensbeischrift versehen war, dann muß die Legende über sein Eingreifen in die Schlacht von Marathon auch bis in die Mitte des fünften Jahrhunderts v. Chr. zurückreichen und kann kaum späteren Ursprungs sein. Die Erwähnung bei Pausanias ist allerdings die einzige in der gesamten antiken Literatur:87 Ein bäuerlicher Heros erscheint mit einer Pflugschar in der Hand, greift zugunsten der Athener in das Gefecht 85 Paus. 1, 15, 3 erwähnt in der Beschreibung des Gemäldes ›Echetlos‹, in 1, 32, 5 heißt er dann ›Echetlaios‹. 86 Paus. 1, 32, 5. 87 Kern; Birley, Echetlos.

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ein, und er verschwindet dann ebenso plötzlich, wie er gekommen ist. Und erst nach der Schlacht gelingt es durch eine offizielle Anfrage in Delphi, den Heros zu identifizieren und einen Kult für ihn einzurichten. Offensichtlich handelte es sich nicht um einen schon vorher allseits bekannten Heros, dessen Hilfe man durch Opfer und Kulthandlungen anrief,88 denn die Epiphanie des Echetlaios kam überraschend – so sehr, daß der Polisgemeinschaft der Name ihres Helfers nicht einmal bekannt war. Der Bericht über die Erscheinung ordnet sich in eine in der Antike weithin belegte Form von Epiphanien auf Schlachtfeldern ein, die in der Regel eng mit dem Ort und den lokalen Gegebenheiten einer Schlacht verbunden sind.89 Insofern ist die Legende der Erscheinung des Echetlaios innerhalb des größeren Kontextes ähnlicher Erzählungen zu interpretieren, wie sie beispielsweise im Fall der Schlacht von Salamis auch um die Gestalt des lokalen Heros Iakchos herum entstanden. Auch dessen Kult wurde später in Athen gepflegt, und auch bei ihm handelte es sich um einen Heros, der ursprünglich wohl lediglich lokale Bezüge besaß und über sein Eingreifen zugunsten der Polisgemeinschaft in die Schlacht auch deren Verehrung gewann.90 Daß Echetlaios also einen gänzlich neuen Heros darstellte, ist sehr unwahrscheinlich. Vielmehr dürfte auch er schon vorher, vielleicht aber sehr stark regional begrenzt, Verehrung genossen haben.91 Dafür spricht auch alles, was über seine Gestalt und sein Auftreten zu erfahren ist: Echetlaios war ein bäuerlicher Heros, er trug die Kleidung und die Tracht von Bauern, und seine Waffe war die Pflugschar. Auch sein Name ist von zYÊUMI(›Pflugsterz‹) abzuleiten.92 Echetlaios war also ein Heros, der sicherlich fast ausschließlich die Verehrung

88 Insofern ergibt sich ein deutlicher Unterschied etwa zur Schlacht von Salamis, wo die Athener durch Opfer und Kulthandlungen versucht haben, sich die Heroen des Ortes, die aus der mythischen Geschichte Attikas bekannt waren, geneigt zu machen. 89 Pritchett, Greek State at War III, S. 11 – 46. 90 Hdt. 8, 65 berichtet über eine Staubwolke, die sich von Eleusis aus auf Salamis zu bewegt habe und dabei den Iakchos-Ruf der Mysten habe hören lassen. In späterer Zeit existierte ein Tempel, der an das Eingreifen des Gottes erinnerte, vgl. IG II², 847, 21. Seine Prominenz im fünften Jahrhundert v. Chr. spiegelt sich auch beispielsweise in der Erwähnung bei Aristoph. ran. 318 – 320; vgl. auch Soph. Antig. 1150 – 1152, auch hier scheint ein Fackellauf zum Kult gehört zu haben. Zum Iakchos-Kult in Eleusis Nilsson, Gottheiten, S. 83f.; Smarzcyk, S. 261 Anm. 300 (dort auch eine Zusammenstellung aller Quellenbelege). – Weitere Beispiele für entsprechende Kulte bei Parker, S. 156f. 91 Farnell, Hero Cults, S. 88: »It is probably a pseudo-historical aetiological story invented to explain a name and a half-forgotten cult, and should not be regarded as proof that the latter originated in the fifth century B.C.« – Ein Vergleich aber mit den Erscheinungen anderer Heroen auf Schlachtfeldern zeigt, daß es sich immer um Figuren handelt, die schon zuvor mythologisch oder geographisch mit dem Ort der Schlacht in irgendeiner Weise in Verbindung stehen. Entsprechend vgl. auch Jameson, Echetlaeus, S. 51. 92 Ebd. 52; Szilágyi, S. 677; Kearns, Heroes, S. 45; Birley, Echetlos.

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von Bauern genoß.93 Vielleicht läßt sich sein Kult auch einordnen in eine ganze Reihe religiöser Feste und Zeremonien, die im bäuerlichen Jahr das Pflügen begleiteten.94 Er könnte möglicherweise auch zu der Vielzahl ›kleinerer‹ und weithin unbekannter Gottheiten und Heroen gehören, die in den attischen Dörfern Verehrung genossen. So war er wohl ein Gott des Pfluges, der in der alten Kultgemeinschaft der Tetrapolis parallel zu bekannteren Gottheiten des Pflügens und Säens wie Triptolemos u.a. verehrt wurde.95 Vielleicht spiegelte sich auch in diesem Heros etwas von der alten kultischen Eigenständigkeit der Tetrapoliten innerhalb Attikas. Keinen Zweifel jedoch kann es daran geben, daß dieser möglicherweise alte und in seinem Einzugsbereich regional sehr eng begrenzte Kult nach der Schlacht von Marathon zu einem offiziellen Kult der gesamten Polisgemeinschaft erhoben wurde. Durch die von Pausanias berichtete Sanktionierung und Aufforderung durch das delphische Orakel an die Athener wurde der Bauernheros, dessen Identität die Polisgemeinschaft erst erfragen mußte, offiziell in den Kult aufgenommen. Der Kult war – der PausaniasBericht zeigt es – dabei stets mit der Erinnerung an das Eingreifen in der Schlacht verbunden. Für die Marathon-Erinnerung im fünften Jahrhundert v. Chr. zeigen sich anhand des Echetlaios-Kults bekannte Phänomene: Die Erscheinung des bäuerlichen Heros mit dem Pflugsterz bot eine wichtige Integrationsfigur für die Landbevölkerung an: So wie Echetlaios auf der Seite der Athener in die Schlacht eingriff, so konnte es die Polisgemeinschaft auch von den attischen Bürgern vor Ort erwarten. Ein bis dahin allenfalls vor Ort bekannter Heros erhielt dafür gesamtstaatliche Ehren, damit gewann er an Bedeutung und Bekanntheit, verlor aber zugleich seinen lokalen Bezug auch gerade als Integrationsfigur für die Bauern, deren Verehrung er bis dahin ausschließlich genoß: Der athenische Staat erhielt die Interpretationshoheit über den auf Polisebene übertragenen alten Kult – die Abbildung im Gemälde der Stoa Poikile zeigte das deutlich. Zugleich zeigt der Bericht viel von der religiösen Mentalität in Attika im fünften Jahrhundert v. Chr.: Die Erinnerung an die Schlacht äußerte sich in stark agrarisch geprägten Kulten: Die Heroen stiegen aus der Erde empor, oder sie kämpften wie Echetlaios mit der Pflugschar – es waren die Heroen der attischen 93 Vielleicht ist die Vermutung von Kearns, Heroes, S. 46 richtig, daß der bei Philostr. 27 erwähnte und in Marathon in Form einer Statue Verehrung genießende dSXÀHFXSHÓÀnicht Marathon darstellt, sondern vielmehr Echetlaios.  94 Jameson, Echetlaeus, 53 – 57. 95 Ebd. 57 – 61. – Zu verweisen ist in dem Zusammenhang auch auf etruskische Aschenurnen, die unter Bezugnahme auf den Pausanias-Bericht schon von Winckelmann mit Echetlaios in Verbindung gebracht worden sind, aber wohl doch eher einen gleichartigen Gott bzw. Heros zeigen, der ebenfalls in bäuerlicher Tracht mit dem Pflugsterz in der Schlacht kämpft. Dazu im einzelnen Hölscher, Historienbilder, S. 51 mit Anm. 193; Szilágyi, S. 677f.

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Erde, die ihre Heimat und ihr Land gegen persische Invasoren verteidigten. Und sie gaben den ebenfalls vom Lande stammenden Hopliten die Gewißheit, daß sich so auch das Land selbst mit ihnen gegen die Invasion verteidigte. 2.3.2 Der eponyme Heros Marathon Ebenfalls bei Pausanias in der Beschreibung des Gemäldes in der Stoa Poikile begegnet der eponyme Heros Marathon, wobei unklar bleibt, in welcher Form er in die Schlacht selbst eingriff.96 Auch sein Erscheinen läßt sich ähnlich wie im Fall des Echetlaios so deuten, daß er als Heros des Ortes der Schlacht am Kampfgeschehen teilnahm. Allerdings sind die Belege für diesen Heros außerordentlich schwach, und es gibt auch antike Traditionen, die den Namen des Orts ohne Verweis auf einen eponymen Heros erklären.97 Der Mythos bringt ihn einerseits in enge Verbindung zu den Tyndariden und ihrem Zug gegen Aphidna,98 andererseits mit einer Besiedlung der attischen Küste von Sikyon aus.99 Wichtig ist vor allem die Legende von seinem Tod: Bei Plutarch wird Dikaiarch in dem Sinne zitiert, daß Marathon während des Tyndariden-Feldzugs vor einer Schlacht als Folge eines Orakelspruchs freiwillig den Tod auf sich genommen habe.100 Die Anklänge an den Mythos von Makaria, der eponymen Heroine der gleichnamigen Quelle aus der Herakliden-Sage, sind dabei ziemlich offensichtlich.101 Der Mythos trägt das Kolorit einer späteren Konstruktion. Das Standbild des Heros, das offensichtlich noch in später Zeit im Demos Verehrung genoß, scheint Anklänge an Echetlaios geboten zu haben oder sogar mit ihm ver96 Paus. 1, 15, 3 bietet in seiner Beschreibung des Gemäldes nur den Hinweis: zOUBÜRBLBÍ.B SBRÖOHFHSBNNÊOPÀzTUÍOdSXÀ yGPlUÓQFEÎPO€OÔNBTUBJ 97 Zur Herleitung des Namens in der Antike Wrede, Sp. 1426. Vom Fenchel und nicht von einem eponymen Heros leiten den Namen ab Strab. 3, 160 und Athen. 56C, dieser bringt in einem Hermippos-Zitat den Fenchel aber zugleich mit der Erinnerung an die Schlacht selbst in direkte Verbindung:kTUF.BSBRÕOPÀUÓMPJQÓOzQyHBRßNFNOINÊOPJQÂOUFÀzNCÂMMPVTJOyFÍNÂSBRPO zÀUÁÀ‚MNÂEBÀ GITÍOa&SNJQQPÀ 98 Philostr. Vit. 2, 7; Plut. Thes. 32, 5 (= Dikaiarch frg. 66 Wehrli). – Es wird berichtet, daß Echemos und Marathon gemeinsam mit den Tyndariden aus Arkadien nach Attika gezogen seien. Vor einer Schlacht habe Marathon sich aufgrund eines Orakelspruchs für den Sieg selbst geopfert. Die Legende scheint enger mit der Akademie verbunden zu sein, denn der Bericht führt deren ursprüngliche Gründung auf Echemos zurück. 99 Paus. 2, 1, 1 berichtet nur kursorisch von einer entsprechenden Herkunft des Heros aus Sikyon, möglicherweise gehen beide Varianten des Mythos auf einen gemeinsamen Kern zurück. 100 Plut. Thes. 32, 5 (= Dikaiarch frg. 66 Wehrli). 101 Vgl. zum Mythos vor allem Euripid. Herakleid. und die kurze Notiz bei Paus. 1, 32, 6 zur Quelle.

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wechselt worden zu sein. Angesichts der schwachen Belege und der nicht sehr ausgeprägten und noch dazu widersprüchlichen Verankerung im Mythos spricht einiges dafür, die Legenden um den eponymen Heros einer relativ späten Entstehungszeit zuzuordnen. Sie gehen kaum auf alte lokale Traditionen zurück. Ein Heros aber, der sich vor der Schlacht freiwillig für den Erfolg des Heeres geopfert hatte, gehörte möglicherweise auch zu den wichtigen Integrationsfiguren, die in Zusammenhang mit der Schlachterinnerung in Athen genutzt werden konnten. Zudem belegt auch das Eingreifen des eponymen Heroen, daß die Athener sich in der Schlachterinnerung von den Göttern und Heroen des Orts, die ihre Heimat und Kultplätze verteidigten, unterstützt sahen. Die Tatsache, daß ein Heros mit widersprüchlicher und noch dazu schlecht belegter mythischer Tradition auftaucht, zeigt aber, daß seine Verankerung in Kult und Schlachterinnerung keine große Bedeutung besaß und von daher wenig Hinweise auf die Erinnerung und ihre Funktion im fünften Jahrhundert v. Chr. geben kann. 2.3.3 Kult und Fest für Artemis Agrotera Weitaus besser belegt sind dagegen Kult und Fest für Artemis Agrotera. Diese sind auf das engste mit dem Ausgang der Schlacht von Marathon verbunden. Bei Xenophon findet sich folgender Bericht:102 LBÍFDÂNFOPJÊRFLFO"GJEOBÏPUyRFOBÎBJ ¢OBOÂUPOIPÍ0ªYPTJO vacat **NBSYPÀ"RFOBÎPOUÓOyHÕOB UÓO.B&-&/0/0 QBJTÍO"RFOBÎPONO Kallimachos aus Aphidna hat mich, die Botin der Unsterblichen, welche die Häuser des Olymp bewohnen, errichtet und geweiht. Der Polemarchos der Athener … den Agon ... Marathon … den Kriegern der Athener zur Erinnerung ...

Betrachtet man den erhaltenen Text allein, zeigt sich, daß fast alle auf Marathon und die Schlacht Bezug nehmenden Teile zur Rekonstruktion, nicht aber zum original erhaltenen Textbereich gehören. Eine umfangreiche Forschungsdiskussion hat dabei manches zu scheinbarer Gewißheit werden lassen, was der überlieferte Text kaum bestätigen kann.4 Selbst manche Lesarten von Buchstaben haben sich nach einer über fünfzigjährigen Forschungsdebatte noch als unsicher herausgestellt.5 Insofern muß jede neue Annäherung an die Inschrift davon ausgehen, was sich gesichert aussagen läßt, bevor mögliche Rekonstruktionen erwogen werden. Feststellen läßt sich zunächst: Die Inschrift gehört zu einer Weihung auf der Akropolis, die bereits vor dem zweiten Perserzug dort gestanden haben muß. Die Buchstabenform und die Form der Inschrift verweisen auf eine Entstehungszeit zu Beginn des fünften Jahrhunderts v. Chr. Für die Inschrift ergibt sich eine Entstehungszeit, die zwischen der Marathon-Schlacht und dem Xerxes-Zug, also in den 480er Jahren v. Chr., liegen muß.6 3 IG I³, 784. 4 So ist etwa die Erwähnung Marathons in der vierten Zeile ungewiß, vgl. dazu Anm. 20. 5 So konnte Shefton, Dedication, S. 146f. nachweisen, daß entgegen der bis dahin akzeptierten Forschungsmeinung in Zeile 4 NBund nicht NFgelesen werden muß. Mehrere auf dieser Annahme beruhende Rekonstruktionsversuche wurden damit hinfällig. 6 Zur Buchstabenform vgl. IG I³, 784 im Apparat. Der Vergleich der Schriftart mit der Hekatompedon-Inschrift IG I³, 4, den Rausch, Isonomia, S. 139 Anm. 646 ohne Belege vornimmt, ist wohl aus einer falsch verstandenen Äußerung von Wilhelm, Schriftdenkmäler, S., 489 bzw. Gedichte, S. 108 - 111 hervorgegangen, der diese Feststellung in Wirklichkeit auf die sog. MarathonEpigramme von der Agora bezieht (vgl. dazu Kapitel 3.2).

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Denkmal und Monument

Die Weihung stammt von einem Mann aus dem attischen Demos Aphidna. Eine Nennung des Demotikons im Nominativ ist wahrscheinlich,7 in diesem Falle wäre eine Verbindung zu Zeile 3 möglich, wo ebenfalls im Nominativ von ---NBSYPÀ"RIOBÎPOdie Rede ist; der Ausdruck läßt sich möglicherweise auf den Amtstitel des Archon Polemarchos beziehen. Der in der dritten Zeile erwähnte Agon kann entweder auf einen sportlichen Wettstreit oder metaphorisch auf ein kriegerisches Geschehen bezogen werden. Die in der letzten Zeile genannten „jungen Leute der Athener“ lassen sich wohl nur im militärischen Zusammenhang sehen8 und verweisen so auf einen entsprechenden Kontext der Weihung und stützen die Lesart NBSYPÀin Zeile 3. Die Inschrift enthält im überlieferten Teil keinen Hinweis auf den Ortsnamen Marathon, auf die Schlacht von 490 v. Chr. oder die Perserkriege insgesamt. Trotz dieses relativ dürftigen Befundes an gesicherten Aussagen, die durch die Inschrift möglich sind, ist es seit der ersten Publikation der Inschrift vor über einhundert Jahren die feste Überzeugung der Forschung, daß Inschrift und Monument mit der Marathon-Schlacht in enger Verbindung stehen.9 Schon der erste Editor der Inschrift identifizierte den Weihenden mit dem Archon Polemarchos Kallimachos. Die bis heute akzeptierten Kernargumente für eine Verbindung der Inschrift mit dessen Person waren, daß sich der Beginn der dritten Zeile der Inschrift auch unter Berücksichtigung des Ausdrucks QBJTÍO"RFOBÎPOin Zeile 5 zum Amtstitel Polemarchos ergänzen läßt.10 Dagegen bleibt nur der prinzipielle Einwand 7 Eine Nominativform ist aber keineswegs sicher, da das Sigma am Wortende nicht erhalten ist, so auch in IG I³, 784: [À>. Zuvor gab allerdings IG I², 609 den Text anders – nämlich ohne Klammern – wieder; dagegen Shefton, Postscript und auch die Erstedition bei Lolling, S. 81, so daß auch keine spätere Beschädigung der Inschrift als Erklärung für die falsche Edition in Frage kommt. 8 Vgl. zur Lexik des Begriffes ausführlich im Folgenden 9 Als einziger Forscher äußerte Peek, Weihinschriften, S. 381f. grundsätzliche Vorbehalte gegenüber einer Verbindung mit dem Archon Polemarchos Kallimachos. Das von ihm S. 381 vorgebrachte Argument, in späterer – kimonischer – Zeit habe Miltiades als Marathon-Sieger gegolten und nicht Kallimachos, ist auch angesichts der Darstellung der beiden in der Stoa Poikile (vgl. Kapitel 3.4) kaum tragfähig. Daß er dann allerdings eine Verbindung der Inschrift mit der Schlacht von Marathon grundsätzlich akzeptieren will, läßt die Zielrichtung seiner Argumente etwas unscharf werden. Seine Skepsis gegenüber mehreren Rekonstruktionsversuchen verdient allerdings Beachtung. 10 Lolling, S. 75.

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bestehen, daß es auch eine Vielzahl von Eigennamen gibt, die auf BSYPÀenden. Die Kombination des Demotikons in Zeile 1, die Fundumstände der Inschrift und der sich daraus ergebende enge Datierungsrahmen führten dabei dann unmittelbar zu Kallimachos. Er ist der einzige Archon Polemarchos in den ersten beiden Jahrzehnten des fünften Jahrhunderts v. Chr., der aus Aphidna stammt. Der Name Kallimachos würde außerdem die formalen Anforderungen an eine Ergänzung in der ersten Zeile der Inschrift erfüllen. Wenn man die Argumente bis hierher akzeptiert, führt eine solche Zuordnung der Inschrift allerdings unmittelbar zu einem weiteren Dilemma: Nach dem Zeugnis Herodots ist Kallimachos als Archon Polemarchos auf dem rechten Flügel kämpfend in der Schlacht von Marathon gefallen.11 Wie also kann ein Toter als Stifter des Monuments für den Sieg in der Schlacht auftreten? Zur Lösung dieses Kardinalproblems der Inschrift sind eine Reihe von Vorschlägen vorgelegt worden, die sämtlich nur hypothetischen Charakter besitzen:12 Nachdem zunächst erwogen wurde, daß ein Sohn oder ein enger Verwandter des Kallimachos in dessen Namen nach der Schlacht ein mögliches Gelübde des Polemarchen eingelöst habe,13 wurde dieser Ansatz unter Hinweis darauf, daß in diesem Fall die aus anderen Inschriften gut bekannte Nennung beider Personen auch hier postuliert werden müßte und sich darauf keine Hinweise im erhaltenen Text finden, nicht weiter verfolgt.14 Zuletzt wurde dieser Ansatz in der Forschungsdis11 Hdt. 6, 114. 12 Der Vorschlag, der am stärksten in den überlieferten Text eingreift und deshalb kaum einer weiteren Diskussion bedarf, stammt von Wilhelm, Gedichte, S. 112 – 117, der anstelle des eindeutig überlieferten o am Ende des erhaltenen Teils von Zeile 4 ein Rlesen will (der Steinmetz habe den Querbalken vergessen) und dies dann zu RÂOFergänzt und so einen Hinweis auf den Tod des Kallimachos in den Text hineinbringt. Diese Variante schafft Eindeutigkeit, was den Tod des Kallimachos und die Entstehung der Inschrift angeht, aber sie ist wegen des überlieferten o ebenso eindeutig abzulehnen, vgl. dazu auch Peek, Weihinschriften, S. 381. - Noch viel weniger überzeugen kann der Versuch von Schreiner, Battles of 490 B.C., kurzerhand zwei Schlachten von Marathon im Jahr 490 v. Chr. anzunehmen. Das Dilemma der Inschrift wird so zwar gelöst (Kallimachos hätte die erste Schlacht überlebt, eine Weihung errichtet, und wäre erst bei der zweiten gefallen), allerdings stehen die belegten historischen Fakten dem entgegen. 13 Wilhelm, Schriftdenkmäler, S. 478; Gedichte, S. 111- 118; Hiller von Gaertringen, Kallimachos; Koehler, S. 152 zuvor entsprechend, aber mit der (inzwischen als falsch erwiesenen) Hypothese, daß auf der Säule ein Bildnis des Kallimachos angebracht gewesen sei. 14 Shefton, Dedication, S. 143f. hält einen Bezug des yOÊRFLFOauf den toten Kallimachos für unmöglich. Wenn es sich um die Erfüllung eines Gelübdes durch einen Verwandten gehandelt habe, müßte nach seiner Auffassung zwingend ein auf Kallimachos bezogenes I»DBUPim Inschriftenformular zu erwarten sein. Seine daraus abgeleitete Hypothese, daß die gesamte Inschrift erst nach dem Tode des Kallimachos angebracht worden sei, gleichwohl aber die Säule als solche ursprünglich von diesem geweiht worden, dies auf einer (verlorenen) eigenen Weihinschrift am unteren Ende der Säule vermerkt gewesen sei und diese später auf die Säule übertragen worden sei, vermag kaum zu überzeugen. Ablehnung erfuhr diese These bei Meiggs – Lewis, S. 34. Dennoch hat Gulaki, S. 25f. das Argument Sheftons genutzt, um in knapper Form den Bezug der Inschrift auf Kallimachos überhaupt in Frage zu stellen.

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kussion allerdings wieder aufgegriffen, indem die Inschrift mit einem Vertreter des Demos Aphidna verbunden wurde, der im Namen des Kallimachos ein mögliches, allerdings in den literarischen Quellen nicht bezeugtes Gelübde erfüllt haben mag.15 Von den Gegnern einer solchen Hypothese wurde statt dessen in mehreren Varianten der Ansatz verfolgt, jeweils unterschiedliche Entstehungszeiten der beiden Inschriftenteile I (Zeile 1f.) und II (Zeile 3-5) anzunehmen.16 So habe Kallimachos möglicherweise noch zu Lebzeiten ein Siegesmonument etwa für einen Sieg bei einem Agon o.ä. aufgestellt, das nach seinem Tod in der siegreichen Schlacht von Staats wegen mit einem weiteren Epigramm versehen worden sei.17 Gegen diese Hypothese ist eingewendet worden, daß die paläographischen Erwägungen für eine unmittelbar zeitgleiche Entstehung der gesamten Inschrift sprechen18 und außerdem von vornherein zwei Kanneluren der Säule für eine entsprechende Beschriftung hergerichtet worden sind und deswegen eine nachträgliche Ergänzung um drei weitere Zeilen ausgesprochen unwahrscheinlich sei.19 Wenn man eine Verbindung des Monuments mit dem Archon Polemarchos Kallimachos akzeptiert, dann spricht in Abwägung beider Positionen mehr für die erste Hypothese: Daß eine andere Person im Namen des Kallimachos oder zu dessen Andenken das Monument gestiftet haben kann, ist leichter mit dem Befund der Inschrift zu vereinbaren als der zweite Lösungsansatz: Der Name des Weihenden kann auch anders ergänzt werden, so daß ein anderer Vertreter des Demos oder ein Verwandter in Frage kommen. Auf ein Gelübde des Kallimachos vor der Schlacht muß dabei im übrigen nicht zurückgegriffen werden, denn der Erhaltungszustand der Inschrift läßt auch die Möglichkeit offen, daß ein anderer das Monument stiftete und die Rolle des Archon Polemarchos dabei besonders herausstellte. Demgegenüber erscheint die Hypothese, daß entgegen dem klaren Befund zweier für die Aufnahme einer Inschrift bestimmter Kanneluren zunächst nur eine beschriftet worden sein soll, weniger plausibel, zumal auch ein 15 In diesem Sinne argumentiert O. Hansen, Memorial der in Zeile 1 den Namen eines unbekannten Stifters aus Aphidna annimmt und schließlich am Beginn von Zeile 3 ein schlichtes ƒNÊUFSPÀQPMÊ>NBSYPÀkonjiziert. Durch diesen Ausdruck soll die enge Verbundenheit des Demos mit dem gefallenen Polemarchen zum Ausdruck gekommen sein. Ob man nun einen Demengenossen des Kallimachos annimmt, der ein Gelübde erfüllt, oder den Sohn des Toten, macht methodisch prinzipiell nur einen geringen Unterschied. Die vorgeschlagene Rekonstruktion der dritten Zeile allerdings kann kaum überzeugen. 16 Hiller von Gaertringen, Kallimachos, S. 214f. und entsprechend übernommen in IG I², 609. Über diese IG-Rekonstruktion prägte die These einer nachträglichen Anbringung von Versen längere Zeit die Diskussion, vgl. etwa Shefton, Dedication, S. 143f. 17 Ebd. S. 160f. 18 Ebd. S. 143f.; Raubitschek ebd. 164; Meiggs – Lewis, S. 34. 19 Peek, Weihinschriften, S. 381. – Die Säule weist überhaupt nur diese beiden Kanneluren auf und ist ansonsten vom Steinmetz nur geglättet worden.

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Anlaß für die erste Weihung nur hypothetisch rekonstruiert werden könnte. Es ist höchst wahrscheinlich – und das ist für die Frage nach dem Denkmal als Ausdruck der Erinnerung in Athen entscheidend –, daß dieses 480 v. Chr. zerstörte Monument die Rolle des Kallimachos als Archon Polemarchos besonders hervorhob. Die private Weihung würdigte an einer prominenten Stelle des öffentlichen Lebens die Verdienste des Gefallenen. Aus dem Textbefund der Inschrift ergibt sich außer dem Namen des Kallimachos kein direkter Bezug zur Marathon-Schlacht selbst, der Ortsname und der militärische Sieg werden im erhaltenen Textbestand nicht direkt erwähnt. Zwar schlägt die IG-Fassung in Zeile 4 eine Ergänzung der erhaltenen beiden Buchstaben NBzu dem Toponym Marathon vor, allerdings ist zu Recht darauf hingewiesen worden, daß auch angesichts der folgenden problematischen Buchstabenfolge in Zeile 4 eine solche Rekonstruktion nicht nur nicht gesichert ist, sondern vollkommen hypothetisch bleiben muß und zahlreiche weitere Lösungsmöglichkeiten offen bleiben.20 Infolgedessen sind auch weitere Ansätze erwogen worden, bei der Erstedition der Inschrift etwa wurde der Ausdruck UÓOyHôOBin Zeile 3 – wohl zu Unrecht – mit einem Sieg des Kallimachos bei den Panathenäen in Verbindung gebracht.21 Der Begriff ist dann immer wieder auf die Schlacht von Marathon bezogen worden, ohne daß allerdings lexikalische Erwägungen dabei immer die Berücksichtigung gefunden hätten, die sie verdienten:22 So ist für den Anfang des fünften Jahrhunderts v. Chr. der Ausdruck UÓOyHôOBfür ein Schlachtgeschehen wenigstens ungewöhnlich; auch wenn man in Rechnung 20 So hat Harrison, Victory, S. 14 - 19 nachdrücklich und mit guten Argumenten dafür plädiert, die vierte Zeile nicht mit einer Form des Ortsnamens Marathon zu rekonstruieren. Sie weist zu Recht darauf hin, daß in anderen Epigrammen, namentlich etwa im bekannten ThermopylenGrabspruch des Simonides keine Erwähnung des Ortes der Schlacht erfolgen muß. Und sicherlich sind die Versuche von Shefton, Dedication, S. 146 und Fraenkel, S. 61, Rekonstruktionen der Zeile mit den Formen .BSBRôOJbzw. .BSBOÔRFOnicht zwingend, waren allerdings auch nur als Hypothesen vorgeschlagen worden. Der Versuch von Harrison, South Frieze, S. 19, den sie »exempli gratia« vorlegt, die vierte Zeile UôONÂOim ersten Epigramm nicht eine Schlacht ›bei den Schiffen‹ meinen,68 sondern sich nur auf eine Seeschlacht ›auf den Schiffen‹ beziehen.69 Ein Seegefecht bei Marathon hat es aber nicht gegeben. Überaus bemerkenswert auch gerade im Zusammenhang mit der Frage nach der Formulierung einer Erinnerungstradition ist dabei, daß von den Befürwortern der Marathon-Identifizierung an keiner Stelle je überprüft wurde, ob eine Verbindung Marathons erstens mit einem panhellenischen Bezugsrahmen und zweitens mit dem Gedanken der Knechtschaft bzw. der Freiheitstopik (im Epigramm in der homerischen EPÛMJPRFOBLFÏTRBJ1MBUBJÁÀLBÍUÓ †FSÓOLBÍUÓOCXNÓO außerdem wird in Zeile 36 ausdrücklich Zeus Eleutherios erwähnt. Zuvor hatte Day, S. 175f. erstmals den Zusammenhang zu Ephebenreden hergestellt und aus der Erwähnung des Zeus Eleutherios auf die Eleutherien als Gelegenheit geschlossen, zu der sie entstanden sein könnte. Der Zuordnung von Robertson zum Dialogos folgte Chaniotis, Historie, S. 44f. – Darüber hinaus deuten weitere Fragmente der Inschrift auf eine Zuweisung an Plataiai, einzelne Schlüsselbegriffe sind erhalten und ergeben einen klaren Befund: in Zeile 4 findet sich nach der Erwähnung eines Gottes im vorhergehenden Text (Zeus Eleutherios?) noch der Rest des Genitivs UÕOˆ&MMÌOXO, so daß zuvor wohl von der Homonoia oder dem Synhedrion die Rede gewesen sein muß. Die Hellenen werden in Zeile 7 im Dativ als kollektives Organ genannt, so daß der Terminus nur den Kultverband von Plataiai meinen kann. Darauf verweisen auch die Ausdrücke QSPTFENÈ NFUFTYILÊOBJUÕONFUÁUBÜUBLJOEÛOXOer bezieht diese Aussagen darauf, daß Sparta sich nicht mehr am Krieg gegen Persien im kleinasiatischen Bereich beteiligt habe, sondern dies dem Seebund überlassen habe. Wenn dies richtig ist, werden die Anklagen gegen Sparta an dieser Stelle durch eine erneute Rückblende auf die Ereignisse nach der Schlacht von Plataiai aufgegriffen. 70 Zeile 28, zur Textfassung vgl. auch Chaniotis, Historie, S. 47. 71 Das Fazit ebd. S. 48, es sei bedauerlicherweise wenig zu rekonstruieren, aber fest stehe doch, »daß diese Rede ein Ziel hatte: die Geschichte Athens in einem möglichst positiven Bild darzustellen«, wirkt trivial.

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austauschte,72 gab es nun die Möglichkeit, Ruhm für die eigene Polis zu erlangen, indem man vor ganz Hellas (so lautete der Anspruch des Synhedrion) die Oberhand gegen die alten Widersacher behielt und so den historischen Streit von einst scheinbar endgültig für die eigene Seite entschied. Die in der einzigen erhaltenen Rede des Dialogos zum Ausdruck kommende Erinnerung an das historische Ereignis von Plataiai setzte dabei inhaltlich keine neuen Akzente, es waren vielmehr überkommene, ältere Formeln der Erinnerung, die aufgegriffen und weiter vermittelt wurden: Der Dialogos war zwar als Ereignis und Institution eine Innovation, die dort gepflegte Erinnerung blieb dagegen den überkommenen Formeln verbunden. Dabei wurden die etablierten und kanonisierten Geschichtsbilder kommuniziert und rezipiert. Die antagonistische Frontstellung der Poleis, die im Peloponnesischen Krieg kriegerisch ausgetragen worden war, wurde im Dialogos gleichsam gezähmt und in ihrer politischen Virulenz entschärft: Die Erinnerung wurde so in einen kultisch-religiös akzentuierten Rhetorikwettbewerb transformiert, der eine Aktualisierung politischer Antagonismen einzelner beteiligter Poleis durch die rituelle Form seiner Durchführung weitgehend ausschloß. Der ritualisiert ausgetragene Streit um die Rangfolge wurde in der Gemeinsamkeit der Festprozession bei den Eleutherien gleichsam wieder beigelegt. Im zweiten nachchristlichen Jahrhundert scheint es dann allerdings in Zusammenhang mit der Durchführung des Dialogos zu Versuchen einer politischen Aktualisierung der Vergangenheit gekommen zu sein, die sich in den Ephebeninschriften dieser Zeit deutlich niederschlägt und bisher nahezu unbeachtet geblieben ist. In Zusammenhang mit der Belohnung der Epheben für ihre Teilnahme am Dialogos wird in den Inschriften aus der Zeit der Kaiser Marcus Aurelius und Lucius Verus ein Opfer erwähnt, ŠQÉSUËÀOÎLIÀUÕOBUPLSBUÔSXOLBÍŠHFÎBÀUÕOySYJFSÊXO73In dem Dialogos und den Wettbewerb der Epheben wurde die Verehrung der Kaiser durch ein gemeinsames Opfer integriert. Die Verbindung beider Ereignisse kann dabei zeigen, daß die Erklärung der Loyalität gegenüber den römischen Herrschern spätestens um die Mitte des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts ein wesentlicher Bestandteil der Rituale in Plataiai geworden

72 Ebd. S. 48 zeigt im Vergleich mit Reden bei Thukydides Möglichkeiten auf, Argumentationsmuster in der Rede möglicherweise bis auf das fünfte Jahrhundert v. Chr. zurückzuverfolgen. – Dabei ist vor allem wichtig, daß hier die aus der Zeit des Kampfes um die Erinnerung zwischen Sparta und Athen zu Beginn des Peloponnesischen Krieges bekannten Formeln wieder verwendet werden, vgl. dazu Kapitel 7.5. 73 IG II², 2086, 35f. IG II², 2089, 19f. ist an der betreffenden Stelle fast völlig zerstört, dürfte aber aus dem Kontext heraus eine identische oder ähnliche Formulierung enthalten haben.

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war.74 Daß das Opfer in diesem Falle nicht, wie sonst üblich, nur für die Gesundheit und das Wohlergehen der Kaiser erfolgte,75 sondern auch für ihren militärischen Sieg, kann zeigen, daß der Dialogos damals für aktuelle politische Zielsetzungen in Dienst genommen wurde. Die schweren Kämpfe mit den Parthern76 konnten an einem Ort wie Plataiai als neue Auseinandersetzung mit den Persern verstanden werden. Die Epheben, die im Rahmen des Dialogos die Vergangenheit lebendig werden ließen, konnten mit ihrem Opfer für den Sieg des bzw. der Kaiser77 demonstrieren, daß sie eine entsprechende Aktualisierung der Erinnerung unterstützten.

9.3 Die Einführung des Kaiserkults in Plataiai und die Politik Neros Das früheste Zeugnis für eine solche Nutzung der Erinnerung führt in die neronische Zeit. Aus dem Jahr 61/62 n. Chr. stammt ein attischer Ephebenkatalog, in dessen Eingangsprotokoll mit Tiberius Claudius Novius einer der in der Provinz Achaia wichtigsten Politiker jener Zeit mit seiner gesamten Titulatur erscheint, es heißt dort:78 4USBUIHPÜOUPÀzQÍUPÚÀ‡QMFÎUBÀUÓ´HEPPOLBÍySYJFSÊXÀ/ÊSXOPÀ,MBVEÎPV ,BÎTBSPÀ(FSNBOJLPÜLBÍ%JÓÀ&MFVRFSÎPVzLUÕOˆ&MMÌOXOLBÍzQJ FMIUPÜUËÀQÔMFXÀEJÁCÎPVWLB͆FSÊXÀ%IMÎPV"QQÔM]MXOPÀWLBÍzQJNF

74 Dieser Umstand ist bisher lediglich von Oliver, Emperors, S. 90 – 92 erkannt worden; Nafissi, S. 128 hat zwar die Durchführung der Opfer beschrieben, nicht aber ihre Einbindung in die Zusammenhänge des Dialogos ausreichend betont. 75 Entsprechende Formulierungen, in denen eine Bezugnahme auf die Sieghaftigkeit nicht auftaucht, finden sich in den Ephebeninschriften aus späterer Zeit, so etwa IG II², 2113, 147 - 149; IG II², 2130, 40f. 76 Oliver, Emperors, S. 91f. zur Identifikation der Parther mit den Persern und zur Verbindung der Opfer mit den Partherfeldzügen in der Zeit des Marcus Aurelius und des Lucius Verus. 77 Die Schlußformulierung, in der von UÕOySYJFSÊXO die Rede ist, ist von Oliver, Emperors, S. 93f. ebenfalls auf die Kaiser selbst bezogen worden. Er sieht in der Formulierung einen Beleg dafür, wie weit die Funktion des pontifex maximus selbst im griechischen Osten zur Kennzeichnung der Kaiser verwandt wurde. Eine solche Interpretation der Inschrift ist dabei allerdings weder zutreffend noch überzeugend. Der Plural deutet schon darauf hin, daß hier nicht das kaiserliche Oberpriesteramt gemeint sein kann, das zu keinem Zeitpunkt von zwei Personen gleichzeitig ausgeübt wurde. Im Kontext der Inschriften ist immer auch von Ehren für die Betreuer und Ausbilder der Epheben die Rede. In diesem Zusammenhang sollte erwogen werden, daß mit den Archiereis in diesem Fall die Vertreter der provinzialen Führungseliten gemeint sind, die in der Kaiserzeit in Plataiai das Priesteramt für Zeus Eleutherios und die Homonoia der Hellenen ausübten, vgl. dazu Kapitel 9.4. Das Opfer wäre so für den Sieg der Kaiser und das Wohlergehen der wichtigsten Funktionsträger des Synhedrion in Plataiai erfolgt. Im Gesamtkontext der Eleutherien, des Dialogos und der Kulte von Plataiai würde ein solches Verständnis der Stelle außerdem erneut zeigen, wie aktiv die provinziale Elite bei der Pflege der Erinnerung in Plataiai war. 78 IG II², 1990, 3-6.

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MIUPÜUËÀ†FSÃÀ%ÌMPVWWLBFSÊXÀUPÜP®LPVUÕO4FCBTUÕOLBÍySÎT UPVUÕOˆ&MMÌOXOWLBÍOPNPRÊUPV5JCFS,MBVEÎPVW/PVÎPVzD0®PV Hoplitenstratege zum achten Mal und Erzpriester des Nero, des Sohnes von Kaiser Claudius, Germanicus’ Sohn, und des Zeus Eleutherios der Hellenen und Epimelet der Stadt auf Lebenszeit und Priester des delischen Apollon und Epimelet des delischen Heiligtums und Erzpriester der kaiserlichen Dynastie und der Beste der Hellenen (= Sieger in Plataiai) und Nomothet, Tiberius Claudius Novius aus Oios.

Novius gehört zu den am besten bezeugten athenischen Politikern jener Zeit, die Anfänge seiner Karriere reichen in die Zeit des Kaisers Gaius zurück, und er war der erste Inhaber des militärischen Spitzenamtes der Epimeleteia.79 Es ist von besonderer Bedeutung, daß er offenbar in seiner Jugend Sieger des Wettkampfes in Plataiai war80 und später das Priesteramt für Zeus Eleutherios ausübte. Die Formulierung mit dem Zusatz zLUÕOˆ&MMÌOXOzeigt dabei, daß es sich nur um das schon im dritten Jahrhundert v. Chr. im Glaukon-Dekret bezeugte Priesteramt von Plataiai handeln kann,81 das vom Synhedrion der Hellenen bestellt wurde. Auffällig ist weiterhin, daß dieses Amt nicht nur dem Kult des Zeus Eleutherios zugeordnet ist, sondern auch dem Kaiserkult.82 Die Verbindung der Kulte, wie sie in der Titulatur des Novius greifbar wird, belegt, daß die Verehrung des Gottes in Plataiai damals eine neue Qualität gewonnen haben muß. Offensichtlich ist am Versammlungsort des Synhedrions der Hellenen bereits am 79 Zur Karriere des Novius mit allen inschriftlichen Belegen Geagan, Novius, S. 280 - 285. 80 IG II², 1990, 5f. – die Datierung innerhalb der Karriere des Novius bei Geagan, Novius, S. 285. 81 Die von Nafissi, S. 130f. besonders Anm. 70 ausführlich behandelten Unterschiede in der Nomenklatur des Priesteramts (Hiereus bzw. Archiereus) sprechen wohl nicht für eine grundsätzliche Trennung des traditionellen Amtes von dem neu eingeführten Kaiserkult. Weitere Belege für die Priesterfunktion in Plataiai sprechen ebenfalls dafür, zwischen den beiden Titeln keine gravierende Differenz zu sehen. 82 Auffällig ist auch, daß die Priesterschaft in Plataiai und Delos die einzigen Ämter sind, die sich nicht auf die Polis Athen beziehen. Dies zeigt möglicherweise die enge Verbindung, die in jener Zeit zwischen Athen und den Kulten und Festen in Plataiai bestand, die wohl derjenigen mit Delos vergleichbar ist. Die Priesterschaft für Zeus Eleutherios ist dabei nicht dem in der Stadt Athen befindlichen Kult zuzuordnen: Dies ergibt sich einerseits zwingend aus dem inschriftlichen Zusatz zLUÕOˆ&MMÌOXO, andererseits aus der Tatsache, daß eine Priesterschaft für den athenischen Kult sonst nirgends belegt ist. – Sein Priesteramt in Plataiai verdankt Novius dabei möglicherweise auch der Tatsache, daß er enge Beziehungen zu Sparta unterhielt, der anderen Macht, die in Plataiai eine wichtige Rolle spielte. Die Eheverbindung mit Damosthenia (IG V, 1, 509), einer Dame aus einer führenden lakonischen Familie, macht das Einvernehmen deutlich, zudem knüpfte Novius durch diese Ehe zusätzliche Verbindungen zur römischen Provinzialverwaltung an, Details hierzu bei Geagan, Novius, S. 280f.; Spawforth, Symbol of Unity?, S. 236f. Wenn die Vermutung des letzteren richtig ist, dann hätte Novius seine Verbindungen nach Sparta sogar bei dem Sieg in Plataiai angeknüpft, so daß an seinem Beispiel erneut nachvollzogen werden kann, welche Bedeutung Plataiai als Kommunikations- und Sammlungsort für die sozialen und politischen Führungseliten aus den Poleis besaß. Ein Erfolg im Waffenlauf konnte dort für die spätere politische Karriere förderlich sein.

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Beginn der 60er Jahre des ersten nachchristlichen Jahrhunderts der Herrscherkult für den römischen Kaiser eingerichtet gewesen, der mit dem älteren Kult des Zeus Eleutherios programmatisch verbunden worden war.83 Da Novius nicht als der erste Inhaber des Priesteramtes für den Kaiser genannt wird, ist davon auszugehen, daß bereits einige Jahre zuvor – vielleicht auch nicht unbedingt auf seine Initiative hin – die Verehrung des Kaisers durch das Synhedrion aufgenommen worden ist. Möglicherweise kann diese Kulterweiterung etwa auf das Jahr 54 n. Chr. datiert werden.84 Die Verbindung des Zeus Eleutherios-Kults in Plataiai mit der Verehrung des Kaisers und die Übernahme des Priesteramts durch einen Spitzenvertreter Athens in neronischer Zeit zeigt dabei wiederum, daß die dort gepflegte Erinnerung ein Projekt der sozialen und politischen Führungseliten der griechischen Poleis darstellte. Sie wurde in das Netz der Loyalitätsbekundungen gegenüber dem Kaiser eingefügt,85 und durch den neuen Kult kam die neue politische Wirklichkeit auch in Plataiai an. Zugleich bestand über das Priesteramt und die Kultpraxis für die Vertreter der Poleis in Plataiai die Möglichkeit zu belegen, daß die dort gepflegte Perserkriegserinnerung mit der römischen Politik prinzipiell vereinbar war und die dort versammelte Führungsschicht aus den griechischen Poleis gegenüber dieser Politik loyal war. Dafür, daß das Ensemble der Kulte und Feste in Plataiai um den Kaiserkult erweitert wurden und daß in neronischer Zeit einer der führenden Politiker Athens das Amt des Priesters übernahm, scheinen zwei Motive den Ausschlag zu geben, ein außen- und ein innenpolitisches. Spätestens zu Beginn der sechziger Jahre des ersten Jahrhunderts n. Chr. wurde im griechischen Teil des römischen Reiches die Erinnerung an die Perserkriege gezielt ins Gedächtnis zurückgerufen, und gerade Novius

83 Die Inschrift zu Ehren des Novius ist von Schachter, Cults III, S. 136 nicht angemessen gewürdigt worden. Seine kursorische Behandlung der Kaiserverehrung in Plataiai zeigt den Beginn und die politischen Implikationen des Kults nicht auf. 84 Spawforth, Symbol of Unity?, S. 235f. nimmt dies an, weil in dieser Zeit auch auf der Peloponnes Kulte für den Kaiser eingerichtet worden sind und weil solches damals zum ersten Mal auch oberhalb der Ebene einer einzelnen Polis geschah. Vielleicht folgte man in Plataiai dann bald dem peloponnesischen Vorbild. – Die von Schachter ebd. S. 136 angeführte Inschrift Syll.³, 1066 aus Kos, die aus augusteischer Zeit stammt, ist nicht sicher dem Agon in Plataiai zuzuordnen. Von daher kann eine mögliche Nennung von Spielen mit dem Namen ,BJTÂSIBnicht auf eine entsprechende Deutung der Eleutherien verweisen, so daß die Einführung des Kaiserkults schon in augusteischer Zeit nicht zu belegen ist. 85 Alcock, Graecia capta, S. 189 – 191 hat in ihrer Analyse der Kultorte mit panhellenischem Einzugsbereich in der Provinz Achaia, an denen der Kaiserkult eingeführt wurde, Plataiai nicht erörtert. Gleichwohl verzeichnet sie 182 dort bereits für augusteische Zeit in Plataiai die Aufstellung einer Kaiserstatue. Eine Verehrung des Kaisers im Rahmen der Kulte und Feste der Erinnerung ist in dieser Zeit jedoch noch nicht zu belegen.

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scheint dabei in Athen eine prominente Rolle gespielt zu haben.86 Die Perserkriege sollten dabei als historische Präfiguration der gegenwärtigen schweren Kämpfe mit dem Partherreich um die Vorherrschaft in Armenien verstanden werden. Der politischen Aktualisierung der Erinnerung an die Perserkriege kam eine große Bedeutung zu, da so um die Unterstützung der griechischen Provinzialen für einen außenpolitischen Kurswechsel geworben werden konnte, der eine seit Augustus dauernde Phase guten Einvernehmens mit dem Partherreich beendete. Außerdem konnte dem Krieg gegen den östlichen Nachbarn auf diesem Wege eine historisch begründete Rechtfertigung verliehen werden. Dabei konnte auch damit gerechnet werden, daß die Furcht vor der Bedrohung aus dem Osten bei den Griechen erneuert war, seitdem die Parther nach der Ermordung Caesars bis an die Küste des Mittelmeeres vorgedrungen waren.87 Zum ersten Mal seit den Aktivitäten der Makedonengegner um Glaukon lassen sich in dieser Zeit wieder Versuche feststellen, die Erinnerung an die Perserkriege, die in Plataiai gepflegt wurde, politisch zu aktualisieren und mit ihr eine aggressive Wendung der eigenen Außenpolitik zu legitimieren.88 Diese mit der Person des Novius verbundene Deutung der Vergangenheit89 ist in Plataiai einhun86 Die bekannte Inschrift am Ostarchitrav des Parthenon (IG II², 3277) für Nero, die unter maßgeblicher Beteiligung des Novius entstand, wurde dort bewußt plaziert, um die Perserkriegserinnerung politisch zu aktualisieren: Galt der Parthenon den Athenern der damaligen Zeit schon als aus der Perserbeute gestiftet, so beschwor die Einfassung der Inschrift die Erinnerung an die Weihung der Perserbeute Alexanders nach dem Sieg am Granikos und befand sich in der Nähe der Weihung Attalos’ I. von Pergamon, welche die Persersieger ehrte. Zu dem Programm des Novius und der Interpretation der Parthenon-Inschrift vgl. auch Spawforth, Symbol of Unity?, S. 234f. Die neue Inschrift für Nero wurde zweifellos bewußt in den Kontext früher Aktualisierungen der Perserkriegsvergangenheit gestellt. Zu weiteren Aktivitäten des Novius außerhalb von Athen, die eine Parallelisierung der Vergangenheit mit der aktuellen Situation der römischen Politik gegen die Parther vornahmen, vgl. auch Nafissi, S. 131. 87 Zu der Bedeutung der Perserkriegserinnerung für die griechischen Provinzialen des ersten Jahrhunderts Spawforth, Symbol of Unity?, S. 243f. Die Erinnerung an das Vordringen der Parther nach der Ermordung Caesars wird beispielsweise auch von Ios. bell. Iud. 1, 13, 9 drastisch beschrieben. 88 Spawforth, Symbol of Unity?, S. 237 – 243 hat in einer materialreichen Untersuchung belegt, daß die römische Politik bereits seit der Mitte des ersten Jahrhunderts v. Chr. darum bemüht war, Perser und Parther zu parallelisieren und diese Aktualisierung der Vergangenheit vor allem im griechischen Osten des Mittelmeerraums zu verbreiten. So berichtet Cass. Dio 55, 10, 7 etwa von einer unter Augustus nach einer außenpolitischen Konfrontation mit den Parthern durchgeführten Naumachie in Rom, bei der die gegnerischen Parteien als Athener und Perser gegeneinander angetreten seien. Nach diesem Vorbild hat auch Nero in Rom mit einer ähnlich angelegten Naumachie seine neue, aggressive Außenpolitik gegenüber dem Partherreich im Jahr 57 oder 58 n. Chr. eröffnet, wie aus den Berichten von Cassius Dio (61, 9, 6) und Sueton (Nero 12) hervorgeht. 89 Neben der bereits erwähnten Parthenon-Inschrift hat Novius auch in Aphrodisias im Sebasteion eine Aktualisierung des projektierten neronischen Partherkriegs mit der Perservergangenheit vorgenommen. Der führende Repräsentant Athens ordnet so die eigene Geschichte in den Kontext imperialer Politik ein. Es kann davon ausgegangen werden, daß er sein Priesteramt für Kaiserkult

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dert Jahre später in der Zeit des Marcus Aurelius und des Lucius Verus bei den Opfern der Epheben für den Sieg der Kaiser gegen die Parther ebenfalls greifbar. Neben dieser außenpolitischen Akzentuierung der Erinnerung an die Perserkriege läßt sich in neronischer Zeit auch eine Verknüpfung mit innenpolitischen Zielsetzungen der Römer beobachten, die ebenfalls an traditionelle Muster der Erinnerung anknüpfte. Dies demonstrierte der römische Kaiser im Rahmen seiner Griechenlandreise deutlich.90 Als der Kaiser bei den Isthmischen Spielen in Korinth eine Freiheitserklärung für die Poleis des griechischen Festlands abgab,91 die bisher diesen Status nicht innehatten, wurde Nero als Zeus Eleutherios angesprochen und verehrt.92 Damit wurde die enge Verbindung des Kaisers mit dem Gott, dem man die Perserabwehr und die Bewahrung der Polisautonomie verdankte, die in Plataiai schon zuvor in der Verbindung beider Kulte zum Ausdruck gekommen war, auch in der Selbstdarstellung des Herrschers aufgegriffen.93 Wie in der Vergangenheit hellenistische Herrscher mit Freiheitsproklamationen die politische Unterstützung der Poleis gewinnen wollten und dafür mit Zeus Eleutherios identifiziert wurden,94 so leitete auch Nero eine neue Griechenlandpolitik Roms ein.95 Der Kaiser brachte in der und Zeus Eleutherios in Plataiai in ähnlicher Weise genutzt haben wird, vgl. zur Politik des Novius insgesamt Spawforth, Symbol of Unity?, S. 237. 90 Die Griechenlandreise des Kaisers stand gleichwohl möglicherweise auch in einem engen Zusammenhang mit einem geplanten großen Feldzug gegen die Parther. Die Anwesenheit des erfahrenen Generals Vespasian und weiterer Militärs im Gefolge des Kaisers war wahrscheinlich auch auf dieses Vorhaben zurückzuführen, vgl. in diesem Sinne auch K.R. Bradley (1979), 154f. 91 Das Datum dieser Proklamation ist im Detail umstritten und hängt von der Rekonstruktion des kaiserlichen Itinerars in Griechenland ab, zu den von Nero besuchten Orten Kennell. Bradley, Chronology, S. 66 – 71 plädiert für das Jahr 66 n. Chr., dagegen hat sich Gallivan, Liberation für das Jahr 67 n. Chr. ausgesprochen. Für den Zusammenhang der Feste und Kulte von Plataiai ist lediglich wichtig, daß das Auftreten Neros als Zeus Eleutherios zeitlich nach der Verbindung des Eleutherios-Kults von Plataiai mit der Verehrung des Kaisers dort anzusetzen ist. 92 Auch spätere Kaiser wurden mit Zeus Eleutherios identifiziert, so etwa Traian. Hadrian ließ sich als Sohn dieses Gottes ansprechen, zu den Belegen Raubitschek, Hadrian. 93 Syll.³, 814. In seiner Erwiderung auf die Rede Neros, mit der dieser vor den Vertretern der Poleis die Freiheitserklärung in Korinth abgab, sprach Epameinondas als Vertreter der Griechen den Kaiser als Zeus Eleutherios an (Zeile 42), und er versprach die Einrichtung eines Altares für ihn mit der Inschrift: %JÍ&MFVRFSÎ×JF}ÀB}ÕOB(Zeile 50). 94 Zur Identifizierung hellenistischer Herrscher mit Zeus Eleutherios Mikalson, Religion, S. 111 113, dort auch Angaben zur Rezeption der Freiheitserklärungen in dieser Zeit und ihrer Würdigung in den Kulten Athens. 95 Zur Einschätzung der Freiheitserklärung als einer politischen Maßnahme des römischen Princeps Alcock, Nero, S. 103. Sie reduziert die realen Auswirkungen gegenüber der älteren Forschung deutlich. Die Proklamation habe angesichts der vielen Poleis, deren Status formal ohnedies bereits derjenige einer civitas libera war, kaum einen nennenswerten Ausfall an Einnahmen bewirkt. So gehöre die Freiheitserklärung in einen größeren Kontext, in welchem die römische Politik dieser Jahre eine direkte Herrschaft in Form einer Provinzverwaltung insgesamt zugunsten einer stärkeren Autonomie verzichtet habe. Zur Bedeutung der Erklärung für die griechischen Provinzialen detailliert auch Kaplan, S. 343 – 347.

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Darstellung der am Isthmos gehaltenen Reden den griechischen Poleis die ersehnte BUÔYRPOBzMFVRFSÎBO  UÕOˆ&MMÌOXO96zurück und vollbrachte aus deren Sicht damit eine große befreiende Tat. Bezüge zur Vergangenheit wurden dabei in vielfältiger Form hergestellt.97 Die Verbindung des Gottes mit dem Kaiserkult ordnete das politische Geschehen in eine historische Dimension ein.98 So wie die Griechen im Kampf gegen die Perser das Selbstbestimmungsrecht ihres Polisverbandes und ihre Autonomie behauptet und einen Kult für Zeus Eleutherios gestiftet hatten, so erlangten sie es durch Neros Erklärung zurück. Im Umfeld eines bevorstehenden bzw. geplanten Partherfeldzugs konnte die Freiheitserklärung möglicherweise die Loyalität gegenüber Rom und dem Kaiser befördern,99 indem dessen Tat für die griechischen Poleis in die Kontinuität der Perserabwehr und der Bewahrung der Selbstbestimmung der Städte gestellt wurde. Neros Politik griff insofern (bezogen auf Griechenland) sowohl im Hinblick auf die staatliche Binnenstruktur als auch auf die Legitimation der römischen Außenpolitik auf Formeln zurück, die eng mit der Erinnerung an die Perserkriegsvergangenheit verbunden waren und die auch in Plataiai ihren Ausdruck fanden. Die Einführung des Kaiserkults und die Übernahme des Priesteramts durch einen der wichtigsten Repräsentanten Athens, der diese Politik Neros maßgeblich unterstützte, konnten zeigen, daß eine entsprechende Aktualisierung und Nutzung der Erinnerung von beiden Seiten erwünscht war. Für Neros Politik stellten die Rekurse auf die Vergangenheit – die Identifikation der Parther mit den Persern der Vergangenheit ebenso wie die Nutzung des Zeus Eleutherios-Kults für die Selbstdarstellung des Princeps – Instrumentarien dar, seiner Politik innerhalb der provinzialen Führungseliten die nötige Unterstützung zu sichern und um Zustimmung zu werben.100 Der neu eingeführte Kaiserkult in Plataiai wiederum konnte diesen Konsens mit den führenden Politikern in den Poleis

96 Syll.³, 814, 39f. – Zu den Texten der Freiheitserklärung und zur Politik des Epameinondas, der auf Neros Rede antwortete, liegt die ausführliche Dokumentation von Oliver, Epaminondas vor. 97 Der Kaiser nahm bei seiner Griechenlandreise vielfältige Bezüge zur Vergangenheit auf. Neben der Freiheitserklärung, mit der die entsprechende Proklamation des Flaminius am Isthmos imitiert wurde, stattete Nero auch zahlreiche Heiligtümer wieder mit Kultstatuen aus und griff die lokalen Traditionen damit auf, vgl. dazu Alcock, Nero, S. 100 – 102. 98 In diesem Sinne hat auch Nafissi, S. 131 einen Bezug zwischen der Freiheitserklärung und dem Kult des Zeus Eleutherios in Plataiai hergestellt. 99 Zur Rezeption der Freiheitserklärung vgl. etwa in IG V, 2, 81B die Ehrung, die das Koinon der (Provinz) Achaia für seinen Sekretär vornahm. Dort ist von der gewährten Freiheit die Rede. Der Beschluß läßt aber auch durchblicken, daß es in der Folgezeit auch zu Schwierigkeiten und Unruhen bei der Umsetzen gekommen sein muß, vgl. dazu Toulomakos, S. 41 Anm. 8. 100 Zur Bedeutung des Freiheitsbegriffs für die provinzialen Eliten und seiner Verwendung in der römischen Griechenlandpolitik vgl. in diesem Sinne auch Meijer, S. 59 – 63. Zur Popularität der Politik Neros und ihrer positiven Aufnahme in der griechischen Welt vgl. Gallivan, False Neros.

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ausdrücken: Die Erinnerung an die Perserkriegsvergangenheit war ein ›shared symbol‹ der römischen Politik und der provinzialen Eliten geworden.101 Die enge Verknüpfung der Deutung der Vergangenheit mit der Loyalität zu Rom und den Interessen römischer Politik, wie sie auch in Plataiai zum Ausdruck kam, war jedoch nicht alternativlos. Es sind schwache Zeugnisse dafür zu greifen, daß auch eine andere, möglicherweise in längerfristiger Perspektive romkritische Deutung der Vergangenheit der Perserschlacht möglich war und vertreten wurde. Plutarch mahnt beispielsweise zu einem vorsichtigen Umgang mit der Perserkriegsvergangenheit:102 UÁNÉOHÁSNJLSÁQBJEÎBUÕOQBUÊSXO‡SÕOUFÀzQJYFJSPÜOUBUÁÀLSIQÏEBÀŠQP EFÏTRBJLBÍUPÚÀTUFGÂOPVÀQFSJUÎRFTRBJNFUÁQBJEJÃÀHFMÕNFOP†E¢SYPOUFÀ zOUBÏÀQÔMFTJOyOPÌUXÀUÁUÕOQSPHÔOXOªSHBLBÍGSPOÌNBUBLBÍQSÂDFJÀyT VNNÊUSPVÀUPÏÀQBSPÜTJLBJSPÏÀLBÍQSÂHNBTJOP»TBÀNJNFÏTRBJLFMFÛPOUFÀzD BÎSPVTJUÁQMÌRI HFMPÏÂUFQPJPÜOUFÀPLÊUJHÊMXUPÀ¢DJBQÂSBTYPVTJO ¢O NÈQÂOVLBUBGSPOIRÕTJ  UÓOEÉ.BSBRÕOBLBÍUÓO&SVNÊEPOUBLBÍUÁÀ 1MBUBJÂÀ LBÍgTBUÕOQBSBEFJHNÂUXOP}EFÏOQPJFÏLBÍGSVÂUUFTRBJEJBLFO ËÀUPÚÀQPMMPÛÀ yQPMJQÔOUBÀzOUBÏÀTYPMBÏÀUÕOTPGJTUÕO Wenn wir nämlich kleine Kinder sehen, wie sie sich spielerisch die Schuhe ihrer Eltern anzuziehen versuchen oder deren Kränze sich auf den Kopf legen, dann lachen wir. Die Magistrate in den Städten aber stacheln unverständigerweise das einfache Volk dazu auf, indem sie es auffordern, die Werke, die Sinnesart und die Taten der Vorfahren nachzuahmen, die völlig unpassend sind für die gegenwärtigen Verhältnisse. Obgleich sie Lächerliches tun, bieten sie keinen Anlaß zum Lachen mehr, es sei denn, daß sie schließlich verdientermaßen verachtet werden. (...) Denn die Schlacht von Marathon, die am Eurymedon und die von Plataiai, und all die anderen Vorbilder, die die Masse des Volkes aufgeblasen machen und sich wild gebärden lassen, sollten den Sophisten in den Schulen überlassen werden.

Plutarch kritisiert den Umgang mit der Vergangenheit, wie er von einzelnen Amtsträgern in den Poleis gegenüber der Stadtbevölkerung praktiziert wird. Die Orientierung an dem normativen Vorbild der Perserkriegsgeneration könne dazu führen, daß der Blick für die politischen Realitäten der Gegenwart getrübt werde. Die Warnung Plutarchs zielt im Kern darauf ab, einen allzu deutlichen Bezug auf die Vergangenheit des fünften Jahrhunderts v. Chr. gegenüber breiteren Volksschichten103 zu vermeiden, um 101 Alcock, Archaeologies, S. 82f. hat insbesondere im Hinblick auf die Identifikation der Parther mit den Persern die Interessenkonvergenz der führenden Familien in den Poleis und der römischen Administration beschrieben. Der Stolz auf die eigene Vergangenheit und die durch sie wesentlich mitbestimmte eigene Identität war mit der Loyalität zu Rom problemlos zu verbinden, wie insbesondere Spawforth, Symbol of Unity?, S. 246 herausgestellt hat. 102 Plut. praecept. rep. ger. 17 (= Mor. 814 A.C). 103 Spawforth, Symbol of Unity?, S. 245f. weist in Zusammenhang mit der Plutarch-Äußerung allerdings zu Recht darauf hin, daß die innere Verfassung der meisten Poleis in römischer Zeit die Beteiligung an politischen Entscheidungen auf einen relativ eng begrenzten Kreis von Bürgern

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damit nicht die Stabilität römischer Herrschaft zu gefährden. Sicherlich ist damit eine Deutung der Perserkriege und auch der Schlacht von Plataiai als eines Kampfes für Freiheit und Autonomie der Polis zu verstehen, wie dies in den seit langem etablierten Formeln der Erinnerung geschah. Diese Deutung konnte wohl potentiell auch romkritisch verstanden werden,104 und offensichtlich gab es bei einzelnen Magistraten in den Poleis auch die Tendenz, eine entsprechende Interpretation – aus der Sicht Plutarchs – allzu prononciert zu vertreten.105 Es gibt vereinzelte Hinweise darauf, daß prominente Sophisten wie etwa Apollonios von Tyana ebenfalls eine solche – aus Sicht der provinzialen Führungsschicht – gefährliche Deutung der Vergangenheit propagierten.106 Die Zeugnisse für eine solche Interpretation der Erinnerung sind allerdings schwach und kaum sicher zu greifen. Wenn solche möglichen Tendenzen allerdings ebenfalls als Hintergrund mit in die Analyse der kaiserzeitlichen Entwicklungen der Kulte und Rituale von Plataiai einbezogen werden, dann wird deutlich, daß die im ersten Jahrhundert n. Chr. institutionell vollzogene Verknüpfung der Feste und der Kultgemeinschaft mit dem Kaiserkult und der Loyalität zu Rom möglicherweise auch einer solchen, potentiell romkritischen Deutung der Erinnerung vorbeugen sollte. Die Erinnerung an Plataiai war so auch in der Kaiserzeit ein politisches Projekt: Sie wurde zur Stütze und Legitimation römischer Herrschaft in Griechenland und maßgeblicher provinzialer Führungsschichten:

beschränkten und insofern aristokratischen Charakter besaßen. Dabei ist allerdings ebenfalls zu berücksichtigen, daß die großen Staatsreden sich zumeist auch an ein breiteres Publikum als nur das der unmittelbaren politischen Entscheidungsträger richteten, und daß darüber hinaus auch der Demos als Gruppe durchaus politisch agierte. Die Warnung Plutarchs richtet sich an die politischen Entscheidungsträger, durch den Vergangenheitsrekurs nicht unkontrollierbare Stimmungen und Emotionen in der Menge hervorzurufen. 104 Wardman, S. 87f. hat die römische Skepsis gegenüber der historisch begründeten griechischen Freiheitstopik anhand literarischer Quellenzeugnisse detailliert beschrieben. Der Vergangenheitsrekurs, der das Ideal der Freiheit und Selbstbestimmung der Polis beschrieb, wurde von führenden Vertretern Roms argwöhnisch betrachtet. Zu dem Verhältnis der römischen Republik zum griechischen Vergangenheitsrekurs vgl. auch Petrochilos, S. 105 – 111. 105 Swain, Plutarch, S. 329f. hat – vielleicht etwas zu pointiert – Plutarchs Haltung zur römischen Herrschaft so beschrieben: »These passages are reflections of Plutarch’s belief that the ordering of the natural world and of the world of man, including Rome’s hegemony, was ultimately directed by god.« 106 Jones, Plutarch, S. 117 hat die Mahnung Plutarchs sehr konkret auf die politische Situation in Sardeis bezogen, wo der Adressat der Schrift wichtige politische Positionen bekleidete. Dort war es unter dem Einfluß des Apollonios zu romfeindlichen Unruhen gekommen, in deren Verlauf einer der führenden Personen des Aufruhrs hingerichtet wurde. – Dagegen hat Gascó die Äußerungen Plutarchs als eine allgemeine Aussage ohne konkreten lokalpolitischen Bezug verstanden.

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Griechische, historisch begründete Identität war vereinbar mit der Loyalität zu Rom.107

9.4 Plataiai als Modell für Hellas: Vergangenheitspolitik unter Hadrian Dies wurde besonders deutlich, als mit dem Regierungsantritt Hadrians Achaia für die römische Politik wieder in den Fokus des Interesses rückte. Auch wenn den Kaiser möglicherweise auch die persönliche Neigung eines ausgeprägten Philhellenentums dabei leitete,108 sind seine Aktivitäten in Griechenland doch als ein im Kern politisches Projekt zu interpretieren, mit dem das provinziale Griechenland zum Schauplatz einer gezielt angelegten ›Reichseinigungspolitik‹ wurde.109 Zum ersten Mal seit der Zeit Neros besuchte damals wieder ein Kaiser Städte, Heiligtümer und Spiele der griechischen Welt. Es erscheint in diesem Kontext fast folgerichtig, daß die enge Verbindung zwischen dem Kaiser und den in Plataiai versammelten Führungseliten der griechischen Poleis in dieser Zeit wieder herausgestellt wurde. Nachdem aus der zweiten Hälfte des ersten und dem beginnenden zweiten nachchristlichen Jahrhundert vor allem agonistische Inschriften die fortdauernde Prominenz des in Plataiai durchgeführten Agons belegen, stammt aus der Zeit der ersten Griechenlandreise Hadrians im Jahr 125 n. Chr. ein Zeugnis, das eine Aktivität des Synhedrion von Plataiai belegt, die über die gewöhnliche Administration der Kulte und Feste hinausgeht. In Delphi fand sich die Basis einer Ehrenstatue für den Kaiser, welche die Inschrift trug:110 "UPLSÂUPSJˆ"ESJBOßTXUËSJàVTBNÊO×LBÍRSÊZBOUJUÈOƒBVUP܈&MMÂEBP† }À1MBUBJÁÀTVOJÔOUFÀˆ•&MMIOFÀYBSJTUÌSJPOyOÊRILBO 107 Jones, Plutarch, S. 121; Preston, S. 115f. haben dies am Beispiel der Schriften Plutarchs herausgestellt, Spawforth, Symbol of Unity?, S. 246 betont dies für den Fall des Novius im ersten nachchristlichen Jahrhundert. 108 Dieser Aspekt stand vor allem in der älteren Forschung zur Politik Hadrians stark im Vordergrund der Analysen, die von der Aussage hist. Aug. Hadr. 1, 5 ausgingen, daß der Kaiser wegen seiner philhellenischen Neigungen Graeculus genannt worden sei. Ein instruktives Beispiel für eine solche Interpretation liefert auch aus jüngerer Zeit Perowne, S. 101 – 105. 109 Diese Interpretation bei Willers, S. 7. Da kaum literarische Quellen zur Verfügung stehen, muß die Politik Hadrians gerade in Griechenland überwiegend aus epigraphischen, numismatischen und archäologischen Zeugnissen rekonstruiert werden. Dennoch hat sich in der modernen Forschung ein breiter Konsens herausgebildet, die Aktivitäten Hadrians als ein kohärentes politisches Projekt zu verstehen, das insbesondere im Hinblick auf die Interaktion mit den lokalen politischen und sozialen Eliten zu interpretieren ist, vgl. etwa die Gesamtdarstellung von Birley, Hadrian, S. 185 – 220. 110 Syll.³, 835A. – Die Umschreibung des Synhedrion durch die Formel ›die Hellenen, die in (bzw. nach) Plataiai zusammenkommen‹ begegnet nicht nur an dieser Stelle in den Inschriften, vgl. etwa auch IG VII, 2509.

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Dem Kaiser Hadrian, dem Retter, der sein Griechenland gerettet hat und stark macht, haben die in Plataiai zusammenkommenden Hellenen dieses Weihgeschenk dankbar errichtet.

Die Statue wurde offenbar durch das Synhedrion der Hellenen in Plataiai gestiftet, während der Priester des pythischen Apollon die Weihung übernahm.111 Diese Inschrift stellt den einzigen Beleg dafür dar, daß der Rat von Plataiai, dem die Administration der Kulte und Feste dort oblag, auch außerhalb dieses Rahmens an einem anderen Ort tätig geworden ist.112 Dies geschah ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als Hadrian selbst in Delphi weilte. Das Synhedrion bzw. die in ihm versammelten provinzialen Führungseliten demonstrierten dem Kaiser so ihre Loyalität und ihr Einverständnis mit seinem politischen Projekt, das er in Delphi verfolgte: Bereits vor seiner Ankunft hatte der Kaiser den Amphiktyonen brieflich Reformvorschläge mitgeteilt: Stimmrechte der Thessalier sollten den Athenern und Spartanern und anderen Städten mit dem Ziel übertragen werden, daß die Amphiktyonie damit einen neuen, ggf. auch politischen, Charakter gewinne: LPJOÓOQÂOUOUÕOˆ&MMÌOXOUÓTVOÊESJPO113Schon bei seinem ersten Griechenlandaufenthalt hat der Kaiser so die Absicht verfolgt, ein repräsen111 Syll.³, 835B bietet die Fortsetzung der Inschrift, die sich auf der Basis befand und aus der eine entsprechende Aufgabenteilung hervorgeht. 112 Die wenigen Inschriften, die das Synhedrion von Plataiai nennen bzw. auf dieses zurückgehen, beziehen sich ansonsten ausschließlich auf die von ihm administrierten Kulte und Feste. Schachter, Cults III, S. 133 hat lediglich vier Inschriften als offizielle Dokumente des Synhedrion anerkennen wollen (außer der genannten Weihung das Glaukon-Dekret, die Inschrift für Novius [IG II², 1990] und IG VII, 2509). Dabei ist IG II², 1352 von ihm übersehen worden. Diese aus hadrianischer oder antoninischer Zeit stammende Inschrift ist in der IG-Ausgabe falsch rekonstruiert (vgl. mit wesentlichen Korrekturen bereits Geagan, Hadrian, S. 158) und muß vielmehr folgendermaßen lauten: UPÜLÌSVLPÀ†FSÊXÀUËÀˆ0NUPÜ&MFVRFSÎPVzLEJLÌTBOUPÀLFGÂMBJPO5TVOÊESJPO