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German Pages [184] Year 1994
V&R
Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte
Herausgegeben von Adolf Martin Ritter
Band 55
Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 1994
Luthers Vorlesung über Psalm 90 Überlieferung und Theologie
von Matthias Schlicht
Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 1994
Die Deutsche Bibliothek —
CIP-Einheitsaufhahme
Schlicht, Matthias: Luthers Vorlesung über Psalm 90: Überlieferung und Theologie / von Matthias Schlicht. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1994 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte; Bd. 55) Zugl.: Hamburg, Univ., Diss., 1992 u.d.T.: Schlicht, Matthias: Überlieferung und Theologie von Luthers Vorlesung über Psalm 90 ISBN 3-525-55163-0 NE: G T
© 1994 Vandenhoeck&Ruprecht, 37070 Göttingen Printed in Germany. — Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen
Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Januar 1992 vom Fachbereich „Evangelische Theologie" der Universität Hamburg unter dem Titel „Überlieferung und Theologie von Luthers Vorlesung über Psalm 90" als Dissertation angenommen. Angeregt und betreut wurde die Arbeit von Herrn Prof. Dr. Bernhard Lohse, dem ich zu großem Dank verpflichtet bin. Für die Aufnahme in die Reihe „Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte" danke ich Herrn Prof. Dr. Ritter sowie Herrn Dr. Ruprecht. Für freundliche Druckkostenzuschüsse danke ich der Ev. luth. Landeskirche Hannover; Abt, Prior und Konvent des Klosters Loccum; der VELKD sowie dem Kirchenkreis Lüneburg. Die Arbeit entstand in den Jahren 1988 bis 1991 in Hamburg, Nienburg/Weser und Loccum. An jedem dieser Orte haben Freunde das Werden der Untersuchung mit Geduld und guten Worten begleitet. Mein abschließender Dank gilt ihnen: Frau Dr. Gabriele Schmidt-Lauber; Herrn Pastor Friedrich Holze sowie Herrn Landessuperintendent Jürgen Johannesdotter.
Bardowick/Vögelsen, im Juni 1993
Matthias Schlicht
Inhalt Einleitung: Die Aufgabe der Untersuchung 1 . T E I L : D I E Ü B E R L I E F E R U N G V O N L U T H E R S V O R L E S U N G ÜBER P S A L M
A. Die Vorlesung I.
Biographische und zeitgeschichtliche Einordnung
II. Der Verlauf der Vorlesung B. Die Nachschriften I.
Die Nachschriften Rörers, Crucigers und Dietrichs
II. Der Wert der Nachschrift Rörers 1. Rörer als Nachschreiber 2. Formale und inhaltliche Kriterien a) Die Anrede b) Die Sprache c) Rekapitulationen d) Aufzählungen und Vergleiche e) Ubersetzungen und Hinweise zur Auslegung f) Persönliche Äußerungen g) Zeitgeschichtliche Bezugnahmen h) Drastische Ausdrucksweise 3. Die Überarbeitung der Nachschrift durch Rörer a) Der Anlaß der Überarbeitung b) Methode und Wert der Überarbeitung 4. Ergebnis
III. Der Wert der Nachschrift Dietrichs 1. Dietrich als Nachschreiber 2. Formale und inhaltliche Kriterien 3. Die Überarbeitung der Nachschrift Dietrichs durch Rörer
IV. Die Wiedergabe von Rörers Kollegheft in WA 40 III sowie in dieser Untersuchung C. Der Druck I.
Dietrich als Herausgeber der Vorlesungen Luthers
II. Die Herausgabe von Luthers Vorlesung über Psalm 90 (1541)
11 90
17 17 18 19 19 20 20 21 22 23 26 27 28 30 33 34 35 35 36 40
41 41 42 45
46 48 48 52
8
Inhalt
D . D a s Verhältnis des Drucks zur Nachschrift I.
D a s Urteil von A. Freitag
53 53
II. Zur Untersuchungsmethode
55
III. Dietrichs Bearbeitung der Vorlesungsnachschrift 1. Die Anrede 2. Die Sprache 3. Rekapitulationen 4. Aufzählungen und Vergleiche 5. Übersetzungen und Hinweise zur Auslegung 6. Persönliche Äußerungen 7. Zeitgeschichtliche Bezugnahmen 8. Drastische Ausdrucksweise 9. Ergebnis
62 62 67 69 71 73 75 77 78 79
IV. D e r Charakter der Auslegung im D r u c k 1. „Enarratio Psalmi X C " a) Vervollständigung der Auslegung b) Korrekturen c) Gliederung d) Bezugnahmen auf den Urtext e) Umgang mit Zitaten f) Präzisierungen durch Begriffswechsel oder Hinzufügungen . . g) Ausmalungen h) Ergebnis 2. „... Psalmus ... continet ... doctrinam utilem et necessariam ..." . . a) Die Betonung des Lehrcharakters der Auslegung Exkurs: „Exemplum Mosi" b) Der Inhalt der „Lehre" c) Ergebnis
80 80 80 82 83 84 86 89 94 96 97 97 100 101 107
V.
108 108 110 113 116 120
Inhaltliche Veränderungen 1. Christus als „Liberator" 2. Das Verständnis von der Gnade 3. Die Auffassung von der Kirche 4. Das „genus humanum insensatum" 5. Polemik
E. D e r Wert des Drucks
122
2 . TEIL: LUTHERS A U S L E G U N G VON PSALM 9 0
F. Luthers V o r g e h e n bei der Auslegung I.
D e argumenta 1. Aufbau und Inhalt 2. Der Skopus der Vorlesung nach dem argumentum
127 129 129 132
Inhalt
9
II. De titulo
136
III. Die Funktion der Darlegungen über argumentum und titulus innerhalb der Gesamtauslegung
141
G. Mensch und Gott in Luthers Auslegung I.
143
Die Ausgangslage: Das „genus humanuni excaecatum" in der Anrede Gottes durch Mose im 90. Psalm
144
II. Das Menschenbild des 90. Psalms in Luthers Auslegung . . . .
146
1. Der Mensch im Urständ, sein Fall und die Folgen 2. Das menschliche Leben coram homine et Deo 3. Die Wirkung des Menschenbildes des 90. Psalms beim „genus humanum excaecatum"
146 148
III. Das Gottesbild des 90. Psalms in Luthers Auslegung
154
1. „'Tu es nostrum habitaculum'" (Das Wesen Gottes) 2. Magnitudo Dei 3. Das Wirken Gottes am „genus humanum excaecatum"
154 157 159
IV. Zusammenfassung: Gott und Mensch in Luthers Auslegung des 90. Psalms H . Die Aufnahme der Auslegung Luthers von Psalm 90 in der Forschung I.
Zur Quellenwahl in der Forschung
II. Interpretationen von Luthers Auslegung des 90. Psalms 1. Werner Eiert
151
161
163 164
....
166 166
2. Carl Stange 3. Paul Althaus
171 172
4. David Löfgren 5. Bernhard Lohse
173 174
III. Zusammenfassung und Ausblick
175
Literaturverzeichnis
178
Stellenregister
183
Namenregister
184
Einleitung: Die Aufgabe der Untersuchung Die Auslegung des 90. Psalms, die Martin Luther im Rahmen seiner Vorlesung über diesen Text gegeben hat, gehört zu denjenigen Werken, die zur Darstellung und Interpretation der Theologie Luthers häufig herangezogen werden 1 . Auffällig ist hierbei die Vielfalt der Themen, zu deren Darstellung Aussagen dieser Vorlesung Verwendung finden. So gilt Luthers Auslegung des 90. Psalms als ein „überragendes Dokument zur Theologie des Todes bei Luther" 2 , als „eine der bedeutsameren Quellen für das Verständnis seiner Schöpfungstheologie 3 ", belegt zugleich Luthers „Gesamtbild des Menschendaseins" 4 und liefert wichtige Zitate zur Aufhellung von Luthers Stellung zum Gebet 5 . Aus dieser Vorlesung hat Paul Althaus zu seiner Darstellung der Theologie Luthers 22 Zitate bzw. Belegstellen bei der Darlegung von Luthers Schriftverständnis 6 , Gotteslehre 7 , Anthropologie 8 , der Auffassung vom Teufel 9 , von der Kirche 10 wie auch der Eschatologie 11 angegeben. Die Wahrnehmung dieser vielfältigen Bezugnahmen wirft die Frage auf, wo für Luther selbst der Schwerpunkt seiner Auslegung gelegen hat. Schwang in ihr eine „Todesmelodie" 12 oder klang als „Cantus firmus dieses Kollegs ... nicht der Tod, sondern die Auferstehung" 13 ? Wo immer der Versuch unternommen wird, den Skopus dieser Vorlesung zu bestimmen, bleibt das Phänomen der angezeigten Vielfältigkeit der Deutungen dieser Auslegung zu klären. Wenn auch an einigen Stellen Querverweise auf die dem Kolleg über Psalm 90 vorangehenden Vorlesungen (besonders seit 1531) unerläßlich sind, konzentriert sich doch diese Untersuchung ganz auf die Darstellung von Luthers Auslegung des 90. Psalms. Die Bedeutung, die dieser Vorlesung 1
Die Vorlesung findet sich in WA 40 111,484-594, und wurde von Albert Freitag herausgegeben und mit einem Vorwort versehen (S.476-483). Im folgenden beziehen sich alle Angaben von Zitaten Luthers ohne Nennung eines WA-Bandes auf WA 40 III. 2 Pesch, Theologie des Todes, S.723. ' Löfgren, Theologie der Schöpfung, S.12. 4 Eiert, Morphologie, S.16. 5 z.B. bei Wagner, Gebet; Hebart, Theologie des Gebets. 6 Althaus, Theologie, S.90 Anm.82. 7 Althaus, aaO., S.105 Anm.24; S.151 Anm.7. 8 Althaus, aaO., S.155 Anm.24. ' A l t h a u s , aaO., S.148 Anm.27; S.149 Anm.32-35. 10 Althaus, aaO., S.251 Anm.19; S.291 Anm.22; S.296 Anm.41. 11 Althaus, aaO., S.340 Anm.3f,6,ll; S.341 Anm.14; S.342 Anm.25; S.348 Anm.52. 12 Eiert, Morphologie, S.16. 13 Lohse, Gesetz, Tod und Sünde, S.149.
12
Einleitung: Die Aufgabe der Untersuchung
in der Lutherforschung durch mehrere Interpretationen und zahlreiche Bezugnahmen zugemessen worden ist, soll durch ein genaues Nachzeichnen der Luther bei der Auslegung leitenden theologischen Gedanken Rechnung getragen werden. Vor der Beschäftigung mit der Theologie Luthers in seiner Vorlesung über Psalm 90 ist der Frage ihrer Uberlieferung nachzugehen. Der Inhalt der Vorlesung liegt in zweifacher Form vor. Zum einen existiert noch die Nachschrift, die Georg Rörer unmittelbar während Luthers Vortrag anfertigte und kurze Zeit später überarbeitete. Zum anderen hat Veit Dietrich eben diese überarbeitete Nachschrift Rörers 1541 unter dem Titel „Enarratio Psalmi XC. Per D. Doctorem Martinum Luthemm in Schola Vitebergensi Anno 1534. puplice absoluta." 14 ediert. Albert Freitag hat beide Überlieferungen, die Nachschrift und den Druck, in WA 40 III herausgegeben. D a ß trotz Freitags Einleitung und Kommentierung der Frage nach deren Quellenwert nachzugehen ist, soll im folgenden anhand der beiden jüngsten Veröffentlichungen gezeigt werden, in denen die Vorlesung über Psalm 90 häufig zitiert wird. Die erste Veröffentlichung stammt von Gerhard Ebeling, der seinen Aufsatz „Des Todes Tod. Luthers Theologie der Konfrontation mit dem Tode" 1 5 mit 22 Zitaten bzw. Belegstellen aus Luthers Vorlesung versehen hat. Davon stammen 21 aus der Nachschrift 1 6 , nur einmal zitiert Ebeling aus dem Druck 1 7 . Zweimal weist Ebeling bei den Zitaten aus der Nachschrift auf die Parallelen im Drucktext hin, wobei er im ersten Fall die im Druck zu erkennende Abschwächung erwähnt 18 , im anderen Fall den Druck „zur Verdeutlichung" 19 der Aussage in der Nachschrift heranzieht. Das einzige Zitat aus dem Druck „ut transferamus nos extra tempus et Dei oculis inspiciamus nostram vitam ..." gibt Ebeling unkommentiert wieder 20 , woraus der Leser schließen muß, hier eine Aussage Luthers vor Augen zu haben. Nun findet sich aber gerade dieses Zitat aus dem Druck nicht in der Nachschrift. Den von Ebeling zitierten Satz hat Veit Dietrich eigenmächtig formuliert. N u r für einen oberflächlichen Blick könnte der Satz aus der Nachschrift „Ibi transfert (seil. Moses) a conspectu humano in conspectum divinum" 21 als Anhalt für Dietrichs Formulierung in Betracht kommen, denn einerseits hat Dietrich diesen Satz an der betreffenden Stelle im Druck
14
484,9ff. in Z T h K 2 / 1987, S.162-194. 16 Ebeling, Todes Tod, S.166 Anm.19; S.167 Anm.20ff,24; S.169f Anm.28f; S.175 Anm.51; S.176 Anm.54ff, S.177 Anm.59. " Ebeling, aaO., S.168 Anm.26. 18 Ebeling, aaO., S.167 Anm.24. " Ebeling, aaO., S.169f Anm.29. 20 Ebeling, aaO., S.168 Anm.26; Druckzitat s. 524,24 f. 21 522,10. 15
Einleitung: Die Aufgabe d e r U n t e r s u c h u n g
13
übernommen 22 , andererseits ist in dem Satz der Nachschrift Mose das Subjekt, in Dietrichs eigener Formulierung die Menschen („nos"). Das genaue Hinsehen erweist so, daß der von Ebeling zitierte Satz aus dem Druck an dieser Stelle und in dieser Formulierung nicht durch eine Aussage Luthers in der Nachschrift gedeckt wird und folglich nicht zur Belegung einer theologischen Anschauung Luthers verwendet werden darf. Als zweite Veröffentlichung ist die Darlegung der „Theologie des Todes bei Martin Luther" von Otto Hermann Pesch zu nennen. Pesch untermauert seine Ausführungen mit 39 Zitaten bzw. Belegstellen aus der Vorlesung über Psalm 90 23 . Neben zwei Zitaten aus dem von Luther selbst verfaßten Vorwort für die Druckausgabe der Vorlesung 24 und drei Zitaten aus der Nachschrift 2 5 finden sich 34 Zitate bzw. Anführungen des Drucktextes. Unter den letzteren läßt sich eine Reihe von Belegen zeigen, die im Vergleich mit der Nachschrift andere Formulierungen, inhaltliche Zusätze oder Auslassungen aufweisen, die auf das Konto der Bearbeitung Dietrichs gehen, ohne daß Pesch darauf hinweist 26 . Pesch kann sogar den Drucktext übersetzen, ohne anzumerken, daß die übersetzte Formulierung an dieser Stelle keinen Anhalt in der Nachschrift hat. So nennt nur Dietrich im Druck den Tod einen „ewigen Tyrannen" („aeternus Tyrannus") 2 7 , während Luther ihn gemäß der Nachschrift „crudelis et atrox Tyrannus" 2 8 nennt. Aus diesen Beobachtungen läßt sich die Notwendigkeit einer Untersuchung der Uberlieferung von Luthers Vorlesung über Psalm 90 sowie eines Urteils über den Wert von Dietrichs Druckausgabe im Vergleich zu Rörers Nachschrift leicht ersehen. Schon 1936 wies Peter Meinhold darauf hin, daß „alle diese verschiedenen Editionen (seil, der Vorlesungen Luthers durch Dietrich) ... die Forschung vor das gleiche Problem (stellen): vor die Frage nämlich, wieweit sich Veit Dietrich bei seinen Bearbeitungen an das ihm vorliegende Material gebunden hat. Kommt den von ihm bearbeiteten Werken Luthers ein Quellenwert für die Kenntnis Luthers überhaupt zu, oder in welchem Maß muß man den Arbeiten Dietrichs mit Vorsicht begegnen? Das ist die Kardinalfrage." 29
22
522,27 f. Pesch, T h e o l o g i e des T o d e s , S.733 Anm.86; S.755 A n m . l 4 9 a ; S.762 A n m . l 6 1 f ; S.763 Anm.164; S.775f; S.776 Anm.201; S.777 ff. 24 Pesch, a a O . , S.775, 777. Zum V o r w o r t s.u. C.II. 25 Pesch, a a O . , S.755 Anm. 149a; S.762 Anm.161; S.776. 26 So z.B.die Zitate bzw. Belegstellen S.733 Anm.86: 5 1 3 , 2 3 - 2 7 ; 5 1 4 , 1 1 - 1 4 ; 550,11 f. S.763 Anm.164: 5 5 1 , 1 4 - 1 7 . S.776: 488,17; 5 1 8 , 1 3 - 1 9 ; 5 2 4 , 1 9 - 5 2 5 , 1 6 ; 5 3 7 , 1 4 - 1 8 . Anm.201: 4 8 8 , 2 3 - 4 8 9 , 2 0 . S.778: 5 1 2 , 2 6 - 2 9 ; 5 0 2 , 1 6 - 2 0 ; 496,24 f. 27 4 8 8,17. Ü b e r s e t z u n g bei Pesch, a a O . , S.776. 28 4 8 8 , 3. D a s gleiche Problem findet sich bei Pesch, aaO., S.778, noch einmal. N u r in Dietrichs D r u c k t e x t steht, d a ß der A n f a n g des Psalmes „Leben atmet" („spirat vitam"), s. 496,24. G e m ä ß der N a c h s c h r i f t sagt Luther „ H o c exordium est etiam vitale ..." (496,8). 29 M e i n h o l d , Genesisvorlesung, S.238. 23
14
Einleitung: Die Aufgabe der Untersuchung
Von der Untersuchung der Überlieferung dieser Vorlesung Luthers kann auch die Einleitung von Freitag in WA 40 III nicht dispensieren, denn weder beim Druckzitat Ebelings noch bei denen von Pesch hat Freitag die Besonderheiten im Drucktext gegenüber der Nachschrift in seiner Kommentierung angemerkt. Nach wie vor gilt es, daß „der Quellenwert nicht von Luther selbst herausgegebener Schriften nachgeprüft werden (muß), ehe man sie als Zeugen für Luthers Leben oder Lehre verwendet; und zwar ist diese Nachprüfung auch an solchen Stellen der Überlieferung geboten, an denen die Herausgeber der Weimarer Ausgabe noch nichts oder nur wenig zu monieren gefunden haben." 30 Bevor jedoch mit einer kritischen Überprüfung des Urteils von Freitag zum Verhältnis von Nachschrift und Druck begonnen werden kann, ist die Entstehung der Vorlesungsnachschrift sowie der Grad der Zuverlässigkeit dieser Quelle, an der sich der Druck messen lassen muß, zu betrachten. Aus diesem Grund beginnt die folgende Untersuchung mit einem Blick auf den Verlauf der Vorlesung und der damit zusammenfallenden Entstehung der Nachschrift.
30
Schulze, Galaterbrief, S.21.
1. T E I L D I E ÜBERLIEFERUNG VON L U T H E R S V O R L E S U N G ÜBER PSALM 9 0
Α. Die Vorlesung I. Biographische und zeitgeschichtliche Einordung Als Martin Luther am 26.10.1534 1 sein Kolleg über Psalm 90 begann, nahm er nach einer einjährigen Unterbrechung 2 seine Vorlesungstätigkeit an der Wittenberger Universität wieder auf 3 . Der Anlaß für diese Pause wird zum Teil in der schlechten gesundheitlichen Verfassung Luthers (Kopfschmerzen, Schwindelanfälle) 4 zu suchen sein, aber auch seine Belastung durch die Ubersetzungs- und Revisionsarbeiten für die vollständige Bibelausgabe vom September 1534 ist zu berücksichtigen 5 . Einen Monat nach Erscheinen der Vollbibel geht Luther an die Auslegung des 90. Psalms, doch körperliche Schwäche und weitere berufliche Beanspruchung begleiten auch die Zeit dieser Vorlesung. In einem Brief vom 23.9.1534 an Myconius erwähnt er, daß er „Catarrosus & Tussiosus" 6 sei, und in einem Schreiben an Dorothea Jörger vom 8.4.1535 beschreibt er sein Befinden mit „itzt starck, itzt kranckt (!), Itzt frolich, itzt unlustig" 7 . Durch diesen schwankenden Gesundheitszustand ist wahrscheinlich die Unterbrechung sowohl seiner Predigttätigkeit im Februar und März 15358 als auch der Vorlesung über Psalm 90 zu erklären. Zudem war Luther vom November 1534 bis August 1535 durch die Vertretung Bugenhagens als Pfarrer der Wittenberger Stadtkirche in Anspruch genommen 9 . Trotzdem begann Luther sogleich nach Abschluß des Kollegs am 31. Mai mit der Genesisvorlesung am 1. Juni 1535 10 . Die Zeit der Vorlesung über Psalm 90 ist, wenn man von einer Beschwerde des Sohnes von Herzog Georg beim Kurfürsten gegen Luther absieht 11 , 1
Zur Datierung der Vorlesung s.u. A.II. Luther beendete seine Vorlesung über die Stufenpsalmen am 27.10.1533, s. 496,8. 3 Zu Luthers Hochschultätigkeit s. Ficker, Luther als Professor; Zöllner, Luther als Hochschullehrer. 4 s. Reiter, Umwelt, Charakter und Psychose, Bd. II, S.25-53; Junghans, Luther in Wittenberg, S.25. 5 s. Brecht, Luther III, S.104; Raeder, Luther als Ausleger, S.274. Freitag, weist in dem Vorwort zu seiner Edition S.476 auf die Reihenpredigten über den Psalter hin, die Luther „als eine Art Ersatz für den Ausfall" angesehen habe. 6 WA Br 7, Nr. 2137, 101,3. 7 WA Br 7, Nr. 2187, 172,14. 8 s. Brecht, Luther III, S.34. 9 s. Brecht, aaO., S.24. Ein Ereignis vom 5.2.1535 gibt WA 48, Nr. 7201, 708f wieder. 10 s. Meinhold, Genesisvorlesung, S.128. Luther kündigte am Ende der Vorlesung über Psalm 90 selbst das neue Kolleg an, s. 594,1-3. 11 s. Brecht, Luther III, S.79. 2
18
Α. Die Vorlesung
frei von größeren Auseinandersetzungen. Auch politisch ist nach dem Abschluß des Kaadener Friedens im Juni 1534, der die Gefahr eines ausgedehnten Krieges um Württemberg abwendete 12 , eine gewisse Ruhe eingekehrt. Der Kaadener Friedensschluß zeigte aber auch die Notwendigkeit einer Konkordie der ober- mit der mitteldeutschen Reformation, weshalb Melanchthon und Bucer am 27. und 28. Dezember 1534 zu Verhandlungen in Kassel zusammentrafen, zu denen Luther Richtlinien verfaßte 13 . Das bedeutendste zeitgeschichtliche Ereignis zur Zeit der Vorlesung war, abgesehen von der Nachfolge Papst Clemens VII durch Paul III am 13.10.1534, das sogenannte „Täuferreich zu Münster" 14 . Luther wußte seit November 1534 genauere Einzelheiten über die Vorgänge in der Stadt, in der die Täufer seit dem Frühjahr 1534 die Herrschaft innehatten, aber auch die Anwesenheit von Täufern in Zerbst sowie deren Artikel waren Luther bekannt 15 . Obwohl seine wenigen literarischen Äußerungen gegen die Täufer in Münster die Ansicht nahelegen, daß „das Täuferreich für Luther ein peripheres Ereignis war" 16 , so ist doch darauf hinzuweisen, daß bisher noch nie die in diesem Zeitraum liegende Vorlesung Luthers über Psalm 90 auf eventuelle Bezugnahmen auf die Vorgänge in Münster hin befragt worden ist17.
II. Der Verlauf der Vorlesung Luther hielt sein Kolleg über Psalm 90 an sieben Vorlesungstagen. Eine genaue Datierung ist möglich, da Georg Rörer in seiner Nachschrift die Daten der einzelnen Tage notiert hat. Mit Hilfe dieser Daten lassen sich Verlauf wie Umfang der Auslegung Luthers exakt bestimmen. Vorlesungstage
Inhalt der
Montag, 26.10.1534 Montag, 2.11.1534 Dienstag, 3.11.1534 Montag, 9.11.1534 Dienstag, 10.11.1534 Montag, 8.3.1535 Montag, 31.5.1535
Argumentum, Titulus, V.l V.lf V.2-6 V.6-8 V.9-11 V.12f V.14-17
12
Auslegung
Auslegungsumfang
484,1 499.9 513,1 531,12 554.10 568,9 580,5
-
(Hs)
499,8 512,11 531,11 554,9 568,8 580,4 594,3
s. Moeller, Zeitalter der Reformation, S.l 35 f. s. Brecht, Luther III, S.51-54. Luthers Richtlinien s. in "WA 38,298f; s.a. WA Br 12, Nr. 4251, 157-163. " s. Brecht, Luther III, S.43-48; Vogler, Täuferreich, S.235ff; Moeller, Zeitalter der Reformation, S.l02-107. 15 s. Brecht, Luther III, S.43-45; s.a. Luthers Brief an Fürst Johann von Anhalt vom 20.10.1534 in WA Br 7,111 f. 16 Vogler, Täuferreich, S.236. 17 s.u. B.II.2.g). 13
I. Die Nachschriften Rörers, Crucigers und Dietrichs
19
Am Verlauf der Vorlesung fallen die beiden langen Unterbrechungen vom 10.11.1534 bis 8.3.1535 sowie vom 8.3. bis 31.5.1535 auf. Hierfür sind wahrscheinlich Luthers angegriffene Gesundheit wie seine Belastung durch die Vertretung Bugenhagens als Pfarrer der Stadtkirche verantwortlich zu machen 18 . Darüber hinaus wird häufig vermutet, daß „die besondere Erörterung des Todes . . . nicht nur vom Text her nahegelegt (war), sondern auch von Luthers persönlichen Lebensumständen. Luther wurde . . . durch Krankheit besonders an den Tod gemahnt" 19 . Es bleibt jedoch festzustellen, daß von einer schwerwiegenden Krankheit vor oder während der Vorlesung, die Luther in Todesnot brachte, weder von ihm noch von seinen Zeitgenossen etwas überliefert ist 20 , was aber nicht ausschließt, daß in die Beschreibung des menschlichen Lebens und Sterbens während der Auslegung persönliche Erfahrungen Luthers eingeflossen sind. Die Anzahl der Hörer von Luthers Kolleg über Psalm 90 ist nicht belegt. Aus der Nachschrift Rörers geht lediglich hervor, daß neben diesem Caspar Cruciger und Veit Dietrich mitgeschrieben haben 21 .
B. Die Nachschriften I. Die Nachschriften Rörers, Crucigers und Dietrichs Von der Vorlesung über Psalm 90 sind keine Präparationen Luthers, die er zur Vorbereitung des Kollegs anfertigte, mehr erhalten 1 . Stattdessen liegt das Kollegheft Rörers vor 2 , der neben Cruciger und Dietrich die Vorlesung mitgeschrieben hat. Obwohl die Kolleghefte der beiden letzteren verloren sind, finden sich Sätze daraus in Rörers Heft wieder, der bei der Überarbeitung seiner eigenen Nachschrift diese Hefte einsah und dabei Aussagen, die ihm von Luthers Vortrag entgangen waren, aus ihnen in sein Heft nachgetragen hat 3 .
18
s.o. A.I. " Lohse, Gesetz, Tod und Sünde, S.143f; s.a. Pesch, Theologie des Todes, S.723. 20 vgl. dazu Luthers Erkrankung im Februar 1533, s. Brecht, Luther III, S.33, oder die Erkrankung in Schmalkalden im Februar 1537, s. Brecht, aaO., S.185-189. 21 Hinweise auf Dietrich s. 510 zu 3; 550 zu 5f; Hinweise auf Cruciger s. z.B. 504 zu 8; 506 zu 1. 1 Zu Luthers Vorbereitungen auf seine Vorlesungen s. Ficker, Luther als Professor, S.33 f. Präparationen Luthers sind z.B. für die Galaterbriefvorlesung von 1531 (WA 40 1,7 ff.) und die Genesisvorlesung ab 1535 erhalten, s. Meinhold, Genesisvorlesung, S.180-202. 2 Zur Auffindung des Kollegheftes im Jahre 1894 s. Buchwald, Lutherfunde, S.374-391. 3 Freitag hat in dem Vorwort zu seiner Edition in WA 40 III die Nachträge aus Crucigers und Dietrichs H e f t untersucht, s. S.477-480. Zur Frage, ob Rörer auch Aussagen aus Crucigers H e f t entnommen hat, ohne dabei dessen Namen anzugeben, s.u. B.II.3.
20
Β. Die Nachschriften
Einer besonderen Erwähnung bedarf die Nachschrift vom letzten Vorlesungstag (31.5.1535). Zu diesem Termin waren weder Rörer noch Cruciger in Wittenberg, so daß Dietrich allein eine Nachschrift anfertigte. Wie man aus einem Brief Dietrichs vom 21.5.1535 entnehmen kann, ist er gerade zu diesem Zweck wie zur Mitschrift von Predigten Luthers von Rörer und Cruciger zum Bleiben aufgefordert worden: „Sed quia ecclesiae interesse putabant, adesse qui publicas Lutheri condones diligentius exciperet, facile mihi id imponi sum passus. Nam ita existimant, post Crucigerum et M. Georgium, diaconum nostrum, me id optime facere. "4 Rörer hat nach seiner Rückkehr die Vorlesungsnachschrift Dietrichs in sein Kollegheft übernommen und geringfügig bearbeitet 5 . Bei den notwendigen Überlegungen über den Wert der Nachschrift Rörers werden somit nur seine eigenen Nachschriften der ersten sechs Vorlesungstage in Betracht kommen können 6 . Die Nachschrift des letzten Vorlesungstages muß unter Berücksichtigung der Qualitäten Dietrichs als Nachschreiber gesondert betrachtet werden 7 .
II. Der Wert der Nachschrift Rörers 1. Rörer als Nachschreiber Da keine Präparationen Luthers zur Vorlesung über Psalm 90 erhalten sind, kommt der Nachschrift Rörers - abgesehen von der Nachschrift Dietrichs am letzten Vorlesungstag - die Rolle der einzigen Quelle für das zu, was Luther als Auslegung dieses Psalms verlauten ließ. Wie ist nun die Zuverlässigkeit einer Nachschrift zu beurteilen, wenn ein Vergleich mit Manuskripten aus Luthers Hand nicht möglich ist? Zunächst ist ein Blick auf die Person des Nachschreibenden sowie die Beurteilung seiner Fähigkeiten von seiten der Forschung unerläßlich 8 . Georg Rörer (1492-1557) begann schon während seines Studiums in Wittenberg seit 1522 Predigten und Vorlesungen Luthers mitzuschreiben. Nach Beendigung des Studiums hat er neben seiner Arbeit als Diakon der Stadtkirche weiter Luthers Äußerungen von Kanzel und Katheder nachgeschrieben. Neben seiner Fähigkeit des Schnellschreibens9 benutzte Rörer stenographieähnliche Abkürzungen, was ihm half, möglichst viele Äußerungen Luthers 4
ARG 12, 1915, S.252f; s.u. B.III.1. s.u. B.III.3. 6 s.u. B.II.1.-3. 7 s.u. B.III.1.,2. 8 s. Schulze, Galaterbrief, S.26f. ' laut Pressel, Cruciger, S.40, ist Rörer darin von Cruciger unterwiesen worden. 5
II. Der Wert der Nachschrift Rörers
21
zu Papier zu bringen, wofür aber der Nachteil in Kauf genommen werden mußte, daß außer Cruciger und Dietrich kaum jemand in der Lage war, seine Schrift zu entziffern 10 . Was Luthers Vorlesungen betrifft, so sind die Kolleghefte Rörers zum Prediger Salomo und 1. Johannesbrief 1 1 , zu den Briefen an Titus und Philemon 12 , zum 1. Timotheusbrief 13 , zum Hohelied 1 4 , zum Galaterbrief 15 , zu den Psalmen 2, 51, 45 16 , zu den Stufenpsalmen 17 sowie zu Psalm 90 erhalten. Schon Luther würdigte die Sorgfalt, die Rörer, den er „servus servorum in Typographia" 1 8 nennen konnte, seinen Nachschriften angedeihen ließ 19 . Dementsprechend fällt auch die Lutherforschung über Rörers Fertigkeit und Genauigkeit ein günstiges Urteil 20 .
2. Formale und inhaltliche Kriterien Die Zuverlässigkeit der Nachschrift Rörers läßt sich nicht allein durch das positive Urteil Luthers wie der Lutherforschung über Rörers Fähigkeiten erweisen, sondern formale wie inhaltliche Elemente der Nachschrift selbst werden deren Wert aufzuzeigen haben. Diese kann dann als eine zuverlässige Wiedergabe der Vorlesung gelten, wenn Rörer in ihr möglichst viele Äußerungen Luthers in der Form von dessen gesprochenem Wort wiedergibt, ohne sie während des Schreibens oder der späteren Überarbeitung umzuformulieren. Arbeitet Rörer auf diese Art und Weise, wird man die Form des Vorlesungsvortrages mit dessen Charakteristika in der Nachschrift wiederfinden können. Einige der Eigentümlichkeiten von Luthers Vorlesungsstil sind schon in der Forschung gesehen worden 21 , so daß auf diese - wie auch auf andere, bisher unbeachtete Merkmale hin - Rörers Nachschrift 2 2 untersucht werden kann.
10 Eine Darstellung des Systems von Rörers Kurzschrift s. in W A 20,V-VII; zu dem Problem, Rörers Schrift zu lesen s. Jauernig, Konkurrenz, S.77; s.a. W A 44, X X X I . 11 W A 20,1 f.9-203; 599-801. 12 WA 25,6-78. 13 WA 26,4-120. 14 W A 31 11,586-769. 15 W A 40 I, 39-688; 40 II, 1-184. 16 W A 40 I I , 1 8 7 f . l 9 3 - 6 1 0 . 17 W A 40 111,2 f.9-475. 18 W A Br 11, Nr. 4069, 20,17 f. " s.a. W A Tr 4, Nr.4869, 564,5-8. 20 So Freitag, Anteil, S.171f; Schulze, Galaterbrief, S.26f; 12 Klaus, Dietrich, S.339; Stolt, Sprachmischung, S.261; Leder, Beziehungen, S.438 f. 21 So in den Untersuchungen von Schulze, Galaterbrief; Meinhold, Genesisvorlesung. Zu den von ihnen untersuchten Merkmalen s.u. B.II.2.a)-h). 22 Die Überarbeitung Rörers wird in einem eigenen Abschnitt untersucht, s.u. B.II.3.
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Β. Die Nachschriften
α) Die Anrede In Rörers Nachschrift findet sich des öfteren eine Anrede der H ö r e r durch Luther. Diese ist dort zu finden, wo Luther am Anfang einer Vorlesungsstunde den Inhalt der letzten in einer Zusammenfassung23 wiedergibt: „Hactenus audivistis illam Epitasin narrationis Mosaicae: ..." (554,10); „A principio audivistis sic, quod Moses significat per omnes versus aliam esse vitam post hanc vitam." (568,1 lf; s.a. 569,13ff; 570,3-6). Eine Anrede findet sich auch bei der Zusammenfassung, die Luther gegen Ende der ersten Vorlesungsstunde zur Rekapitulation seiner Darlegung des „argumentum psalmi" äußert: „Audivistis Mosen in officio suo proprio agentem ..." (489,6); „Argumentum ergo huius psalmi Titulum habetis: ..." (496,5f). Häufiger redet Luther seine Hörer zur Betonung bestimmter Aussagen an, z.B.: „non est negligenda vobis, qui futuri doctores Ecclesiarum, proprietas et significantia; sine Ebraeo reddi non potest." (490,8f); „Ubicunque ergo agitur de usu 1. praeeepti, inclusum habetis fidem et spem resurrectionis mortuorum." (494,1 Of); „Ibi videtis mortem in humano genere non temporalem, similem mortibus bestiarum." (513,12-514,1); „Ego contero vos;" (533,6) 24 ; „Ibi habetis, ubi applicet suam narrationem et sententiam, i.e. ad eos, qui dicuntur: 'non noverunt', insensatos, ignorantes." (566,1 Off); „Ita concludere potestis bona consequentia ex 1. praeeepto et ex omnibus, quae id sequuntur ..." (569,15-570,1). An einer Stelle der Vorlesung nennt Luther in einem Beispiel sogar Georg Rörer mit Namen: „Sed, Summe Iupiter, iuva etc., - Georgium ne occidat!" (580,lf) 2 5 . Zur besonderen Betonung kann Luther zuweilen seine Zuhörer in der 2. Person Singular wie eine einzige Person anreden, z.B.: „Ibi vides, quod Deus multa peccata videat, quae nos non, praesertim originis peccatum." (552,8f). Diese persönliche Form der Anrede wählt Luther sehr häufig bei seelsorgerlichen Hinweisen an seine Studenten, z.B.: „Ideo non est mirum, quando tibi incidunt tarn blasphemae cogitationes." (540,7f); „... istae cogitationes immittuntur, non ut debeamus secundum eas iudicare, sed ut discas belligerare et luctari contra peccatum, mortem et iram divinam." (541,8ff); „Postea diabolus urget. Ibi die: Non; iste obiectiones et blasphemiae non offendunt deum." (542,lf); „Ideo debes me audire et ego te Docere nobis nomine Christi." (543,6f); „Ideo agit Deus, ut, cum sentis, erschrickst nicht." (546,lf); „Crede in Christum; sie sapias et gerne et gemens invenies gratiam ..." (553,1 Of).
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Auf Zusammenfassungen weist auch Schulze, Galaterbrief, S.27, hin. Auf die dabei und in anderen Zusammenhängen auftretende Anrede verweist Meinhold, Genesisvorlesung, S.160-163. 24 Zu dieser Aussge s.u. B.II.2.f). 25 538,6f spricht Luther in der 2. Person Singular den Philosophen Epikur an, nachdem er 538,3f an dessen Stelle in der 1. Person Singular redete.
II. Der Wert der Nachschrift Rörers
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D a ß Rörer diese verschiedenen Formen der Anrede Luthers an seine H ö r e r in sein Kollegheft aufgenommen hat, läßt sich nicht nur als ein erster Hinweis auf seine sorgfältige Nachschrift vermerken, sondern ermöglicht sogar noch den heutigen Lesern einen Einblick in den persönlichen Vorlesungsstil Luthers. b) Die
Sprache
D a ß sich Luther während seiner Vorlesungen auch der deutschen Sprache bediente, ist ein oft gesehenes 26 , aber wenig untersuchtes 27 Phänomen. Einigkeit besteht in der Forschung darin, daß das Vorkommen der deutschen Sprache in den Nachschriften von Luthers Hörern darauf schließen läßt, daß Luther die betreffenden Wörter oder Sätze tatsächlich deutsch gesprochen hat. „Echt sind die deutschen Worte, und dieses formale Kriterium ist entscheidender als Geschmacksurteile" 28 , was den Inhalt der deutschsprachigen Aussagen angeht. Dieses Urteil ist von daher begründet, daß in der damaligen Vorlesungspraxis die Verwendung der deutschen Sprache nicht üblich war. Zudem gab es für deutsche Wörter nicht im selben Umfang Abkürzungszeichen wie für die lateinischen, die eine schnelle Mitschrift des Gesprochenen erleichtern konnten. Somit kann es als ausgeschlossen gelten, daß ein Nachschreiber von sich aus während des Vortrags bzw. des Nachschreibens lateinische Wörter oder ganze Sätze in die deutsche Sprache übersetzte. Dagegen ist aus Gründen einer schnelleren Mitschrift der umgekehrte Vorgang denk- und nachweisbar 29 . Das Vorkommen der deutschen Sprache in Rörers Kollegheft läßt sich wie folgt systematisieren: 1) In der Nachschrift begegnen zuweilen ganze Sätze in deutscher Sprache, z.B.: „Ehe sich einer versihet, ist eingeschlafen;" (528,9-529,1); „Unser H e r r Gott hat im ein sack angezogen: ..." (531,5); „Das geborn ist, wird tod." (533,2); „der tod aller lag im auffm hals." (547,6f); „Keine ist dir verborgen. Da ist alles unrein." (552,2f); „Das sol erst zw betten sein." (572,6); „Das man sich fur Gott furchtet." (574,11). Von diesen in die Auslegung eingestreuten Sätzen verschiedenen Inhalts sind von Luther zitierte deutsche Sprichwörter zu unterscheiden: „Hie wil der strick am hertsten halten;" (537,2); „las fliegen, nicht nysteln." (546,9); „mit 1000 Teufeln besessen" (552,1); „Senes narren die besten" (560,3f); 26 s. Ficker, Luther als Professor, S12f; W A 20,VIIIf; Freitag, Vorwort, S.480; Meinhold, Genesisvorlesung, S. 1 5 0 - 1 5 4 , 2 0 6 ff. 27 Untersuchungen bei Schulze, Galaterbrief, S.32-39; Stolt, Sprachmischung, S.261 ff am Beispiel einer Predigtnachschrift Rörers; dgl, Lieblichkeit und Zier, S.283-287. 28 Meinhold, Genesisvorlesung, S.171; s.a. S.427. 29 Schulze, Galaterbrief, S.37: „Häufig treten in deutschen Sätzen kleinere lateinische Worte wie et, si, vel u.a. auf. Man wird ohne weiteres annehmen dürfen, daß diese wie auch andere geläufige lateinische Wörter in deutscher Umgebung lediglich eine Folge der für die lateinische Sprache eingerichteten Kurzschrift Rörers sind ..."; s.a. Stolt, Sprachmischung, S.262.
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Β. Die Nachschriften
„Teufels Marterer leider mher quam unsers Herrn Gotts." (563,10564,1)30. Weiter finden sich kurze Sätze in deutscher Sprache, die man am besten als Ausrufe Luthers charakterisieren kann, z.B.: „Hat nicht not." (501,6); „ia, kers umb: ..." (526,1); ,Ja, das thuts nicht." (538,7f); „Es wird besser werden." (542,6); „Mögen hoffertig sein!" (556,9); „Was ist denn?" (559,11). 2) Häufiger als ganze Sätze lassen sich in der Nachschrift deutsche Teilsätze aufzeigen, wobei jeweils zu überlegen ist, ob Luther tatsächlich in dieser Sprachmischung redete oder ob Rörer einen Teil des Satzes zur schnelleren Mitschrift in lateinischem Wortlaut wiedergab 31 , z.B.: „Das ist ein Doctor, quamquam hoc facit obscurius, quia Moses debet esse Moses." (488,9f); „Wenns nicht anders kan sein, accipiamus praesentem vitam." (493,11-494,1); „Man sucht gute tag auff erden, nemo sudorem;" (519,1 lf); „Was bochen wir denn, quid non timemus deum?" (5 2 8,4) 32 ; „Man sol sich nicht dran keren, quia a diabolo." (546,5f); „Das thier zappelt, sed moritur in beneplacito dei." (549, lf); „Wenn ein knecht, magd schleg faul wird, ist alls verloren, quod plagis non emendatur, non verbis." (566,5f). 3) Es finden sich auch einzelne deutsche Wörter in Rörers Nachschrift. Sie geben zum Teil Ausrufe Luthers wieder, z.B.: „Ach domine ..." (571,11); „Ach, iam sis 'propicius', höre auff, satis occidisti ..." (577,8). Einige deutsche Wörter können von Luther auch aus Gründen der Anschaulichkeit bewußt gewählt worden sein, z.B.: „'Tu es habitaculum', hertzliche Zuflucht, ia herberg." (503,5f); „Ideo sui narrn sumus in nostra miseria ..." (536,3); „Est vita humana, i.e. hertzeleid, senectus maxime;" (563,5f). Bei manchen deutschen Wörtern wird man annehmen dürfen, daß Luther sich bei ihrer Verwendung um Zitate des Volksmundes mühte, so z.B. bei dem Fluch „pestilentz! frantzos!" (486,2f; s.a. 545,6f). 4) Sehr häufig ist das Vorkommen solcher Sätze in der Nachschrift zu beobachten, in denen einzelne lateinische Wörter in einem deutschsprachigen Satz erscheinen. Hier liegt die Vermutung nahe, daß Rörer aus Gründen einer schnellen Mitschrift deutsche Wörter durch lateinische ersetzte 33 , z.B.: „Istos mus man straffen." (502,3); „Wir sterben bald, Deus non seumet." (523,5); „Ego 54, ist quasi heut fru geborn." (524,11); „gurges, die scheuslich hin schiessen, ut quando sehne ghet et platzregen, ein rausschend wasser, ut pfeil." (527,8f); „Nonne 1 grosser yamer, quod unter ghen, ac 30
Die Verwendung der lateinischen Wörter in den letzten beiden angeführten Beispielen ist auf Rörer zurückzuführen, s.o. Anm.28. 31 s. Stolt, Sprachmischung, S.262f. 32 Dieses Beispiel zeigt, daß auch Luthers sächsischer Dialekt in Rörers Nachschrift zu erkennen ist, s.a. S. 508 Anm.3 zu Hs; 544,1; 547 zu 6. 33 s.o. Anm.28.
II. Der Wert der Nachschrift Rörers
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essemus gras, bletter am bäum?" (535,1 lf); „1 Sau mactandus schreyet ..." (537,5f); „Mache uns, ut an den iram 'gedencken'." (545,4f) 34 ; „Diabolus in paradiso gesteckt hat in blut et fleisch." (546,2f); „Wenn mans hoch macht, est 70 iar." (559,14-560,1). 5) Freitag hat bei seiner Kommentierung der Vorlesung über Psalm 90 des öfteren Stellen angemerkt, „wo selbst durch das lateinische Gewand seiner (seil. Rörers) Schnellschrift die deutsche Sprachgrundlage von Luthers Kollegvortrag in gewissen Wendungen noch hervorzuschimmern scheint" 35 . Als Beispiel für diese Ubersetzungsarbeit Rörers s. 490,7f: „Sed tarnen significat 'isch' Ebraice non proprie hominem;", wo die lateinischen Worte in deutscher Satzstellung begegnen (s.a. 523, Anm.3 zu Hs; 525, Anm.4 zu Hs). 6) Zu erwähnen bleibt noch das Phänomen der „Eindeutschung" lateinischer Wörter durch Luther, das sich auch aus Rörers Nachschrift erkennen läßt, wobei Luther lateinische Wörter wie deutsche Wörter verwendet: „es sey descriebirt vita humana;" (525,12) 36 ; „Iste reliquiae benedictionis, generationis seer extenuiret." (528,3f); „Deus irascitur peccatori, das mus ich concedirn." (541,11-542,1). Der Blick auf die Sprache Luthers, wie sie in Rörers Kollegheft wiedergegeben ist, wäre unvollkommen, würde nicht auch der Satzbau berücksichtigt. Rörers Nachschrift gibt Luthers Vortragsweise zuweilen in äußerst kurzen, oft unverbundenen Sätzen bzw. Wörtern wieder, wie zwei längere Textbeispiele zeigen mögen: „Iam ineipit sensus blasphemiae. Hie wil der strick am hertsten halten; si entzwey breche, est blasphemia et mors aeterna; quando ista blasphemia venit, quod deo seinen iram exprobramus, non longe a blasphemia. Natura non potest ferre cogitationem huius versus. Unschuldige natura non potest ferre: 1 Sau mactandus schreyet, arbor; quid solten wir etc.?; qui non mortificamur in innocentia, sed in ira divina." (537,1-7). „Monachi: spiritius blasphemiae, quem homo non potest ertragen. Ipsi dixerunt: Man sol sich nicht dran keren, quia a diabolo. Sed non satis. Gerson: quando hund beld, coram eas, si tacetur, schweigt; sicut cum gensen. Das heisst: sie contemptu. In vitis Patrum: Hastu auch, vegel transvolantes; las fliegen, nicht nysteln." (546,4-9). Luther wird seine Auslegung sicher nicht in diesem knappen Stil vorgetragen haben. Die Wiedergabe erklärt sich von dem Bemühen Rörers her, möglichst viele Aussagen Luthers mitzuschreiben, wobei er jedes „überflüssige" Wort (z.B. Konjunktionen, Hilfsverben, Artikel) ausläßt und Beispiele 34
s. Schulze, Galaterbrief, S.37: „Gelegentlich verrät das Geschlecht des deutschen Artikels bei lateinischen Substantiven, daß dieses von Rörer an Stelle des von Luther gebrauchten deutschen Hauptwortes eingesetzt ist ...". 35 Freitag, Vorwort, S.481. 34 Nur dieses Beispiel kommentiert Freitag, 525 Anm.2 zu Hs.
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Β. Die Nachschriften
nur mit soviel Worten wie nötig andeutet (z.B. „arbor", 537,6). In seiner späteren Überarbeitung versucht Rörer, die ursprüngliche Ausdrucksweise weitestgehend wiederherzustellen. Deshalb ist zur Beurteilung der Zuverlässigkeit der Nachschrift auch die Überarbeitung zu betrachten 3 7 . Die Untersuchung der Sprache der Nachschrift hat gezeigt, d a ß Rörer zuweilen auf die Wiedergabe des „Originaltons Luthers" zugunsten einer möglichst vollständigen Aufzeichnung der Inhalte der Auslegung verzichtet hat 3 8 . Damit geht einiges von der Lebendigkeit der Vortragsweise Luthers verloren, wobei man sich allerdings hüten muß, Rörers Interesse an einer Aufzeichnung der von Luther geäußerten Inhalte gegen ein heutiges, historisches Interesse an einer getreuen Wiedergabe des Wortlautes auszuspielen. Zudem ist darauf hinzuweisen, d a ß Rörer viele deutsche Ausdrücke und Sätze übernommen hat und in den Fällen einer eigenen Übersetzung in die lateinische Sprache, die aus Gründen der Schnelligkeit geschah, keine Zeit gehabt haben dürfte, dadurch eine eigene Interpretation in die Auslegung einfließen zu lassen. c)
Rekapitulationen
Wie schon in B.II.2.a) erwähnt, hat Luther zu Beginn seiner Vorlesungsstunden eine Zusammenfassung des Inhalts der vorhergehenden Vorles u n g e n ) gegeben 39 . Obwohl Rörer an allen ersten sechs Vorlesungstagen als Mitschreiber anwesend war, nahm er jedesmal geflissentlich auch diese Rekapitulationen mit in seine Nachschrift auf. Hinter den von Rörer ebenfalls notierten Daten der Vorlesungstage 4 0 finden sich Zusammenfassungen, die zum Teil nur aus wenigen Sätzen bestehen und lediglich den H a u p t g e d a n k e n bzw. den Anknüpfungspunkt f ü r das Folgende nennen, z.B.: „Moses, amplificaturus calamitates et mortem humani generis, 1. descripsit personam irascentem et eius magnitudinem, scilicet deum ipsum, qui est eternus, omnipotens, immensus et infinitus; itaque secundum hoc erit habitaculum immensum et econtra f u r o r immensus et infinitus, quia effectus sequitur personae magnitudinem vel causae efficientis." (513,1-5); „Diximus hac figura pingi nostram miseriam et brevitatem vitae; ... Mansimus apud verbum mutandi nuper, quod significat mutationem (in Ebraeo)." (531,13-532,3). Daneben finden sich längere Rekapitulationen (499,9-502,3; 554,10555,6; 568,9-570,11), in die Luther auch neue Ausführungen und Gedan-
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s.u. B.II.3. So auch Schulze, Galaterbrief, S.38: „... so kann zusammenfassend wiederholt werden, daß H s wohl sprachlich kein unbedingt zuverlässiger Zeuge für uns ist;". " Zum Fehlen der Rekapitulation am 31.5.1535 (Dietrichs Nachschrift) s. B.III.2. 40 s. A.II. 58
II. Der Wert der Nachschrift Rörers
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ken einfügen kann, so daß das Ende der eigentlichen Rekapitulation vom Beginn der neuen Auslegung nicht immer eindeutig zu bestimmen ist 41 . Die Aufzeichnung der Rekapitulationen durch Rörer ist insofern von einigem Wert, als man daraus erschließen kann, welche Aussagen der vorhergehenden Auslegung Luther selbst derart wichtig sind, d a ß er sie zu Beginn der Fortsetzung seines Kollegs noch einmal aufführt 4 2 . Aber auch Auslassungen sind hierbei bemerkenswert. So bezeichnet Luther in der Rekapitulation der Vorlesung vom 26.10. am 2.11.1534 Mose zwar als „optimus D o c t o r " (501,4f), verliert aber kein W o r t über dessen „officium (legis)", auf das er noch in der Woche zuvor hingewiesen hat mit Formulierungen wie z.B. „vir legalis" (486,13); „egregie suo officio fungitur ..." (486,14-487,1); „Moses in officio legis" (488,12); „Audivistis Mosen in officio suo proprio agentem ..." (489,6); „minister legis" (490,4); „Moses acriter suum officium implet occidendi ..." (494,2). d) Aufzählungen und Vergleiche Die Nachschrift Rörers vermittelt den Eindruck, daß Luther während seines Kollegs sehr auf die Anschaulichkeit seiner Auslegung bedacht gewesen ist 43 . So bringt er im Ringen um die treffendste Ubersetzung eine Aufzählung von Ubersetzungsmöglichkeiten, wobei er zuletzt zu deutschen Ausdrücken greifen kann, z.B.: „'Tu es nostrum habitaculum', hertzliche Zuflucht, ia herberg." (503,5f); ,,'Amal et erbeit'. ... In prophetis valde figurata: illum infelicitatem, molestiam, unlust, muhe, erbeit significat." (563,2ff); ,,'quis novit', bedenckts, wem ghets zu hertzen ..." (565, lf). Zu erkennen ist ferner, daß Luther häufig bemüht ist, seine Aussagen „auszumalen", indem er, statt übergreifende und allgemeine Begriffe oder Formulierungen zu wählen, eine Aufzählung von anschaulichen und erfahrbaren Dingen bietet. Rörer erspart sich dabei nicht die Mühe des Mitschreibens etwa durch Einfügung eines „etc.", s. z.B.: „... non terrentur aeterna morte, ira, Krig, Pestilentia, frantzos;" (545,6f); „Si ruten non helffen, Zuber Stangen, schwebel, donner, blitz, hellisch feur ..." (550,5f); „... post 80 annos non schmeckt essen, trincken, tanz;" (5 59,12) 44 ; „Ideo est vetus homo inquietus, morosus, tristis ut senex." (564,4); „... non sentimus mortem, pestes, morbos et universas calamitates generis humani ..." (571,7f). 41 So ist z.B. bei der Rekapitulation am 8.3.1535 ( 5 6 8 , 9 - 5 7 0 , 1 1 ) die Betonung neu, daß Gott „extra" dieses Lebens bzw. dieser Welt existiert s. 569,2.4.10.14; 570,2.6.; in den vorhergehenden Vorlesungen weist Luther darauf nur beiläufig am 2.11.1534 hin s. 509,7f; 511,5f. 42 Hier sind vor allem die langen Rekapitulationen vom 2.11.1534 ( 4 9 9 , 9 - 5 0 2 , 3 ) und 8.3.1535 ( 5 6 8 , 9 - 5 7 0 , 1 1 ) beachtenswert. 43 D a z u s.a. Ficker, Luther als Professor, S.15-20; Schulze, Galaterbrief, S.33. 44 Wie bei diesem Beispiel ist an vielen Stellen der Auslegung zu erkennen, daß Luther gern drei Begriffe zusammenstellt, s. z.B. 486,13f; 492,11; 495,4; 4 9 9 , l f ; 500,4; 503,5f; 511,6; 512,8f; 5 1 3 , 8 f .
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Β. Die Nachschriften
Auch die vielen Vergleiche, die Luther in seinen Ausführungen bietet und die sich in Rörers Kollegheft wiederfinden, dienen der Anschaulichkeit und Verdeutlichung des Gesagten, z.B.: „Sine hac virtute orationis oratio est nihil, Corpus sine anima, membrum sine capite." (502,14f); „Homines sunt in conspectu tuo aquae, quae fur über rauscht et scheust, ut pfeil; sicut der tag hin über rausscht, sic vita nostra." (527,9-528,1); „Ut filius non inspicit virgam ut exhereditatem, sed cogitans: wird auff hören. Sic infirmus: Es wird besser werden." (542,5f); „Orientales gentes sunt moderatissimi homines, vivunt ad dimensum; deudsche, ut volunt. Illi sein abgeschnittene bäume natura et quantitate. Ideo reich leut et volle. Iam 1 plus quam 15 Iudaei." (561,1-4); „Mathusalem, anni tui sunt volatus verbi." (562,4). e) Übersetzungen und Hinweise zur Auslegung Rörers Nachschrift zeigt, daß Luther den 90. Psalm, nachdem er zuvor das „argumentum psalmi" (484,7-489,8) dargestellt und den „Titulus: 'oratio Mosi'" (489,9-496,7) erklärt hat, versweise auslegte. Beim Übergang der Auslegung zu einem neuen Vers hat Luther - Rörers Nachschrift zufolge meist nicht den ganzen Vers in lateinischer Ubersetzung angegeben, sondern nur dessen Anfangswort(e): ,,'Domine, refugium'" (496,8); „'Priusquam'" (508,2); ,,'Avertis'" (515,1); „'Mille anni'" (522,10); „'Fluctuasti eos'; 'somnus sunt'" (527,6); „'Consumimur et furore'" (536,9); „'Ponis iniquitates'" (551,1); „'Dies annorum'" (559,1); „'Quis novit'" (565,1); „TJt numerantur dies nostri'" (570,12). Hier erhebt sich die Frage, ob diese kurzen Versangaben von Luther selbst herrühren oder von Rörer, der sich dadurch ein weiteres Mitschreiben des ganzen Verses ersparen wollte. Drei Beobachtungen legen allerdings die Annahme als wahrscheinlich nahe, daß diese Kurzform der Zitierung Luthers tatsächlichen Vortrag wiedergibt. Zum einen zeigen bereits die Ergebnisse der bisherigen Untersuchung in B.II.2.a)-d), daß Rörer bemüht war, Luthers Aussagen möglichst vollständig mitzuschreiben. Daher erscheint es nicht als glaubhaft, daß Rörer gerade bei Luthers Versübersetzungen mit dem Nachschreiben nachlässiger umgegangen sein soll. Zum anderen finden sich auch zwei längere Verszitate in der Nachschrift: ,,'Quoniam omnes consumimus dies nostras sicut meditationem'" (555,7) 45 ; „'Convertere, domine, usque quo et placabilis esto super servos tuos'" (576,1). Das letzte Zitat findet sich gegen Ende der Vorlesung vom 8.3.1535 in der Nachschrift, wo die erste Versangabe des Tages in Kurzform begegnet (570,12). Bedenkt man die Ermüdungserscheinungen, die während einer langen und sorgfältigen Nachschrift selbst bei einem geübten Nachschreiber wie Rörer auftreten können 46 , so wäre es nur verständlich, wenn Rörer das 45
Luther verbindet hier Ps 90,9 a und b zu einer einzigen Aussage. Schulze, Galaterbrief, S.36, weist bei Rörers Nachschrift der Galaterbriefvorlesung von 1531 darauf hin, „daß am Ende der Kollegstunde regelmäßig mehr deutsche Ausdrücke in H s auftreten - durchschnittlich doppelt so viel - als am Anfang. Rörer ist dann ermüdet und 46
II. Der Wert der Nachschrift Rörers
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Zitat gegen Ende der Vorlesung gekürzt hätte. Da er dies aber nicht tut, darf man annehmen, daß er am Anfang und am Ende dieser, wie auch an allen übrigen Kollegstunden, Luthers Ubersetzung so niedergeschrieben hat, wie dieser sie verlauten ließ. Dafür spricht zuletzt auch der Blick in die noch erhaltenen Kolleghefte Rörers zu anderen Vorlesungen 47 , in denen sich ebenfalls die Form der Kurzangabe bei den auszulegenden Versen findet. Aus Rörers Nachschrift geht ferner der auffällige Befund hervor, daß Luther im Kolleg sowohl mit der Vulgata wie auch mit seiner eigenen Übersetzung gearbeitet hat. Nur so läßt sich erklären, warum Luther einerseits nur den in der Vulgata zu findenden Wortlaut auslegt (z.B. 559,4: „'In ipsis'"), andererseits eine Verbindung der Vulgata mit seiner Ubersetzung (in latinisierter Form) zitieren kann (z.B. 555,7). Die wichtigste Grundlage Luthers bei der Auslegung ist jedoch der hebräische Text gewesen. Er, der seinen Hörern nachdrücklich einschärft „non est negligenda vobis, qui futuri doctores Ecclesiarum, proprietas et significantia; sine Ebraeo reddi non potest." (490,8ff); „Ebraeus dat multum, quod non potest reddi per ullum Interpretern: ..." (497,12f), zitiert an einigen Stellen der Auslegung den Urtext, wobei er sogar zum Teil auf die Bedeutung bestimmter Worte im Hebräischen hinweisen kann: „Sed tarnen significat 'isch' Ebraice non proprie hominem; ... 'Isch' quandoque 'virum', quandoque 'magistratum', qui est publicus homo." (490,7-10); ,,'Maon'" (497,12; 502,4); „'Dor'" (504,12); ,,'Scherem'" (527,8); „'Amal'" (563,2.8); „'Auen'" (563,8). D a ß der Urtext für Luther die Grundlage für die Ubersetzung und Auslegung ist, zeigt außerdem eine bemerkenswerte Aussage Luthers, die zum ersten Mal 1968 von B. Lohse in ihrer Bedeutung gewürdigt worden ist 48 : „'Dominus Maon': significat 'habitaculum' potius quam 'refugium', optima consolatione." (502,4f). Zum Verständnis dieser Aussage ist zu bedenken, daß Luther seit 1524 das hebräische „Maon" in Ps 90,1 mit „Zuflucht" (refugium) statt wie die Vulgata mit „Wohnung" (habitaculum) übersetzt hat. „Luther greift damit (seil, mit der oben zitierten Aussagen in 502,4f) wieder auf die Vulgata zurück, die aber in der Tat an dieser Stelle näher bei dem hebräischen Text bleibt als Luthers deutsche Psalterübersetzung. Auch hier bestätigt sich die schon sonst beobachtete Tatsache, daß Luther zeitlebens an seiner Ubersetzung gefeilt und niemals seine eigene gedruckte Bibelübersetzung einfach zitiert hat. ... Hinter dem Wort "Zuflucht" stehen bei Luther sicherlich auch seine eigenen Anfechtungserfahrungen. Aber es zeigt doch einmal mehr Luthers Bedeutung als Schriftausu n t e r l ä ß t die d e r Vollständigkeit seiner N a c h s c h r i f t sonst förderliche Ü b e r s e t z u n g ins Lateinische." Schutzes B e o b a c h t u n g z u r H ä u f i g k e i t der deutschen A u s d r ü c k e läßt sich bei d e r Vorlesung ü b e r Psalm 90 nicht anstellen. 47 s.o. B.II. 1. 48 Lohse, G e s e t z , T o d und Sünde, S.150ff; ders., Bibelübersetzung, S.21.
Β. Die Nachschriften
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leger, daß er jedenfalls in seiner Vorlesung auf die Einseitigkeit dieser Interpretation hingewiesen hat. Luther selbst war sich durchaus darüber im klaren, daß der Urtext hier sagt, Gott sei unsere „Wohnung", er sei also unsere „Bleibe", nicht nur die Stätte, an der wir uns bergen könnten, sondern bereits vor aller Anfechtung durch Tod und Sünde schon der Ort, an dem wir unsere sichere Geborgenheit haben (502,4-9)" 4 9 . Neben dieser Selbstkritik vom Urtext her finden sich auch kritische Aussagen zur Vulgataübersetzung. „'Dies annorum': latina translatio hat gros mangel." (559,1); „'Ut numerentur dies nostri': translatio latina nihil valet." (570,12). Eine nähere Begründung dieser Urteile hat Luther gemäß der Nachschrift nicht gegeben. Er beließ es bei diesen Hinweisen, die Rörer geflissentlich notierte, wie auch bei eigentümlichen Kurzcharakterisierungen, die Luther zwei Versen vorangestellt hat: „Est vere Mosaicus versus: ..." (508,3: Ps 90,2); „'Avertis': est obscurus versus." (515,1: Ps 90,3). Aus einigen Äußerungen Luthers, die dank Rörers Nachschrift erhalten sind, läßt sich noch erkennen, über welche hermeneutischen Überlegungen Luther zu einigen Aussagen seiner Auslegung gelangt ist: „Moses ... 1. descripsit personam irascentem et eius magnitudinem, scilicet deum ipsum ...; itaque secundum hoc erit habitaculum immensum et econtra furor immensus et infinitus, quia effectus sequitur personae magnitudinem vel causae efficientis:" (513,1-5); „quia locutus de ira eterna invisibilis dei, ..., ergo loquitur etiam de vita contraria huic ire, quae eterna; ergo salus et consolatio eterna; proportio mus gleich sein: infinita et infinita." (577,1-3). Rörers Nachschrift gibt somit nicht nur die pure Auslegung von Psalm 90 wieder, sondern auch Äußerungen und Hinweise Luthers zu ihr wie zur Übersetzung. f ) Persönliche
Äußerungen
Bevor die persönlichen Äußerungen Luthers in der Vorlesung über Psalm 90 betrachtet werden, ist darauf hinzuweisen, daß nicht alle Aussagen, die Luther in der 1. Person Singular macht, biographischer Art sind. Luther kann sich, wie z.B. schon bei der Genesisvorlesung gesehen worden ist 50 , während der Auslegung in die Rolle biblischer Personen bzw. Gottes versetzen und für sie in Ich-Form sprechen, z.B.: „... ut Eliae tempore, qui amiserat Ecclesiam ex oculis, dicit: 'prophetas tuos?' Cultum dei video vastatum, gubernationem, populum, i.e. prophetas occisos." (505,2ff); „Ibi subiungit (seil. Mose) 'mortem' in vitam et facit spem, quod post mortem resuscitabimur in vitam aeternam. Ego contero vos; tarnen retinet suum verbum, ut homines iterum reviviscant." (533,4-7); „Ideo humiliari te, sagittari te permisi, ut gemeres ad me; quando suspirium mortis ad me, 4
' Lohse, aaO., S.151; s.u. D.III.5. Meinhold, Genesisvorlesung, S.151.
50
II. Der Wert der Nachschrift Rörers
31
etc." (547,4f). Diese Art der dramatischen Auslegung trägt nicht nur zur „kraftvollen Diktion" bzw. zur „eindrucksvolle(n) Sprechart" 51 Luthers bei, sondern zeigt vor allem die innere Beteiligung Luthers bei der Auslegung. Er las das Kolleg nicht einfach von seinem Manuskript ab, sondern nahm sich selbst in die Auslegung ganz mit hinein. So läßt z.B. die Schilderung der Zeit Elias Luther so sehr in die Rolle des Propheten kommen, daß er an dessen Stelle in der 1. Person Singular redet (505,3f). Die eher systematische Aussage, daß Mose den Tod dem Leben unterwirft, wird von Luther ganz unvermittelt noch einmal aufgenommen, indem er ohne Redeeinführung an Mose statt „Ich richte euch zugrunde" in den Hörsaal ruft, woraufhin er wieder in die 3. Person Singular zurückkehren kann. Diese Aussagen, die seine innere Beteiligung beim Vortrag zeigen, hinterlassen den Eindruck, daß Luther sie spontan geäußert hat. Das trifft z.B. auch für die Aussage 547,5f zu: „Moses in mari rubro clamavit. Ego diffisus et abiecissem virgam;". Luther beläßt es nicht bei einer Schilderung der Situation des Mose am Roten Meer, sondern fügt dazu, wie er an dessen Stelle gehandelt hätte. 52 Das Vorkommen von biographischen Äußerungen, die Luther vermutlich ebenso spontan in die Auslegung eingestreut hat wie die Aussagen in dem oben skizzierten dramatischen Auslegungsstil, ist schon öfter z.B. bei der Galaterbriefvorlesung von 1531 und der Genesisvorlesung gesehen und untersucht worden 5 3 . Dieses Charakteristikum seines Vorlesungsstils läßt sich auch in Rörers Nachschrift der Vorlesung über Psalm 90 nachweisen. Dabei handelt es sich um - eine Kindheitserinnerung: „Me puero narrabatur inter fabulas, quod pater quidam orasset, ut deus indicaret numerum annorum; respondit ei deus, quod victurus Μ et 20 annos. Non amplius vivam? habitavit in tugurio etc. et habuit istos annos pro nihilo; puto istam fabulam a patre etc." (564,6-9). Meinhold weist mit Blick auf die Genesisvorlesung darauf hin, daß Luther seine Erinnerungen des öfteren mit der Wendung „me puero memini" einleiten kann, was auch der Einleitung dieser Kindheitserinnerung ähnelt 54 . - zwei Erinnerungen aus der Klosterzeit·. „Ideo ne putent (accipiant > ) contra se istum psalmum dici, qui prostrati, ut saepe accidit ( < mihi: ubi hunc psalmum legi, coactus sum deponere librum), non potui auslegen, ut aliis de diluvio;" (501,1 Iff) 5 5 ; „Ideo non est mirum, quando tibi 51
Meinhold, ebd. vgl. Ficker, Luther als Professor, S.18: „Das rhetorische Ich wird zum dramatischen Ich: er (seil. Luther) ist als Zuschauer bei den Geschichten, die er zu erklären hat, er erlebt sie mit: 52
53
Schulze, Galaterbrief, S.40-60; Meinhold, Genesisvorlesung, S.V58-180. Meinhold, Genesisvorlesung, S.174. 55 Rörers spätere Überarbeitung ist bei diesem Beispiel in Klammem hinzugefügt worden. Zum Wert der Überarbeitung s.u. B.II.3., zu ihrer Wiedergabe s.u. B.IV. 54
32
Β. Die Nachschriften
incidunt tarn blasphemae cogitationes. Ego sepe expertus, vidi innocentes puellas et monachos. Ibi necessaria moderatio. Q u a n d o ista murmuratio in pio corde, putat se totum blasphemum." (540,7-10). - zwei persönliche Anmerkungen·. „Ego 54, ist quasi heut fru geborn." (524,11). Als Luther am 3.11.1534 diese Aussage machte, war er fast 51 und nicht 54 Jahre alt. Schon Freitag hat darauf hingewiesen, d a ß dieses Versehen Luthers „in der Eile des Vortrags" 5 6 begründet ist, was alle Wahrscheinlichkeit für sich hat. Das Versehen Luthers zeigt so, wie spontan ihm die persönliche Äußerung in den Sinn und über die Lippen - und sofort in Rörers Nachschrift - gekommen ist. 57 „Vidi 100 annorum, sed rara avis; 60, 70 gros alter." (561,7f). Meinhold hat unter Heranziehung dieser Aussage die Echtheit einer entsprechenden Äußerung in der Genesisvorlesung nachgewiesen, wo es heißt: „multi hodie inveniuntur, qui annum centesimum attingunt, aut ad nonagesimum perveniunt. Sicut ipse tales vidi." 58 - eine persönliche Glaubenserfahrung·. „Seit Teufel paratum suis 'telis' et 'quaerentem devorare', Istis praesertim tristibus et desperationis et blasphemiae cogitationibus. Ideo debes me audire et ego te Docere nobis nomine Christi." (543,4-7).In seiner Überarbeitung fügt Rörer noch folgendes hinzu: „Ego etiam sum Doctor, sed sensi me erigi uno vocabulo eius, qui forte nullum verbum in sacra scriptura didicit..." (543 zu 6) 59 . Wie bei der zweiten Erinnerung aus seiner Klosterzeit weist Luther darauf hin, d a ß er hinsichtlich dessen, von dem er redet, „expertus" ist (540,8; 543,7). Beide Erinnerungen stehen im gleichen Zusammenhang, nämlich dem Umgang mit den „cogitationes blasphemiae" (540,7f; 543,5f). Luther hat demnach keine Scheu, vor seinen H ö r e r n zuzugeben, selbst solche Gedanken gehabt und erlitten zu haben bzw. sie immer noch zu spüren. Rörers Nachschrift zeigt durch die Wiedergabe dieses Charakteristikums des Vorlesungsstils Luthers erneut ihre hohe Zuverlässigkeit.
56
5 2 5 Anm.l zu Dr. Ausgehend von der Beobachtung spontaner und dadurch bedingt auch fehlerhafter Zeitangaben Luthers wird man die Berechnungen von Schulze, Galaterbrief, S.42-45, kritisch überprüfen müssen. Schulze hat anhand der Aussage Luthers in Rörers Nachschrift der Galaterbriefvorlesung „Ego 20 annis cum peccatis meis me gebissen ..." (WA 40 1,85,9) versucht, den genannten Zeitraum von 20 Jahren in der Biographie Luthers genau festzulegen. Zwar macht Schulze, aaO., S.43 Anm.5, eine Einschränkung, nimmt sie aber noch im selben Satz wieder zurück: „Natürlich sollen die 20 Jahre nicht gepreßt werden, ..., aber wir haben auch kein Recht, sie als ganz vage Größe zu behandeln ...". 58 Meinhold, Genesisvorlesung, S.166f; vgl. WA 44,140,17. 59 Zum Wert der Überarbeitung s.u. B.II.3.b). 57
II. Der Wert der Nachschrift Rörers g) Zeitgeschichtliche
33
Bezugnahmen
In Luthers Auslegung des 90. Psalms finden sich - Rörers Nachschrift zufolge - Äußerungen, die als zeitgeschichtliche Bezugnahmen gelten dürften. Schon B.II.2.f) hatte gezeigt, wie stark Luther seine eigene Person im Auslegungsgeschehen beteiligt sein lassen konnte, indem er spontan für biblische Personen reden oder biographische Anmerkungen einstreuen konnte. So ist es nicht von vornherein auszuschließen, daß auch zeitgeschichtliche Vorkommnisse von ihm während der Auslegung angesprochen werden können 6 0 . In Rörers Nachschrift vom 2.11.1534 - wie in A.I. gezeigt, wußte Luther erst ab Mitte November Näheres von den Täufern aus Münster, aber schon vor dem 20. O k t o b e r vom Auftreten von Täufern in Zerbst - finden sich zwei Aussagen über die „Schwermer": „Observandum etiam, ne erremus cum Papistis et Schwermeris, qui imaginantur Ecclesiam sine scandalis, ruga et maculis." (505,8ff); „Quod est reliquum peccati, offendit istos Schwermeros." (506,7). Beide Äußerungen finden sich in demselben Zusammenhang, in dem Luther über die Kirche handelt. Dabei wendet sich Luther polemisch gegen die Papisten (505,9), die Donatisten (506,1), die Manichäer (506,2) wie auch gegen die „Schwermer". Es ist möglich, d a ß Luther nur mit der Aussage 505,8ff die Täufer im Auge hat, da er dort „Papisten und Schwermer" wie zwei eigenständige und unterscheidbare Gruppen nennt 6 1 . Bei der zweiten Aussage darf vermutet werden, daß Luther in ihr als dem Schlußsatz seiner Kritik an den oben genannten Gruppen die Bezeichnung „istos Schwermeros" als übergreifenden Titel versteht, unter den sich f ü r ihn alle genannten Gruppen subsummieren lassen. Nun hat Mühlpfordt darauf hingewiesen, daß das von Luther geprägte W o r t „Schwermer" zwar zwölf verschiedene „Begriffsinhalte" 62 haben kann, worunter aber nicht die Täufer fallen 63 . Luther kann nämlich zuweilen Täufer und „Schwermer" nebeneinander nennen, woraus Mühlpfordt auf deren begriffliche Unterscheidung bei Luther schließt. Allerdings muß auch Mühlpfordt konzedieren, daß sich bei Luther Aussagen finden, die den Schluß nahelegen, daß „ihm jeder Rigorist ein Schwermer" sein konnte 6 4 . Mühlpfordts Beobachtungen verdienen insofern Beachtung, als sie die vielschichtige Verwendung des Wortes „Schwermer" bei Luther offenlegen. Spricht Luther von den „Schwerinern", so bezeichnet er damit nicht sofort 60 Zeitgeschichtliche Bezugnahmen in der Galaterbriefvorlesung s. Schulze, Galaterbrief, S.60-67. D a ß die Zeitgeschichte auch Einfluß auf Luthers Bibelübersetzung hatte, weist ausführlich Nöther, Übersetzungen, nach. " „Stellte Luther seine und seiner Kirche Zweifrontensituation heraus, so bevorzugte er Wortpaare (Tyrannen und Schwermer, Papisten und Schwermer, ...) ...", Mühlpfordt, Schwärmerterminologie, S.333. 62 Mühlpfordt, aaO., S.332f. 63 Mühlpfordt, ebd. " Mühlpfordt, aaO., S.333.
34
Β. Die Nachschriften
und in jedem Fall die Täufer, was aber auch nicht heißt, daß er damit nie die Täufer meint 65 . Natürlich läßt sich nicht völlig sicher nachweisen, an was Luther und seine Hörer bei dieser Bezeichnung in 505,8ff gedacht haben. Es darf aber nicht vergessen werden, daß Luther von den „Schwerinern" im Zusammenhang seiner Darlegung zum Wesen der Kirche redet zur Zeit des täuferischen Kirchenwesens in Münster, eine Woche nachdem er Fürst Johann von Anhalt brieflich über das Vorgehen gegen die Täufer in Zerbst beraten hat 66 . Eine zeitgeschichtliche Bezugnahme liegt so zumindest im Bereich des Denkbaren. h) Drastische
Ausdrucksweise
Bei seiner Untersuchung über Nachschrift und Druck der Galaterbriefvorlesung von 1531/1535 vermerkte Schulze es als Zeichen der Zuverlässigkeit der Nachschrift Rörers, daß sich darin „recht drastische Bemerkungen Luthers" 67 und „eine Reihe kühner theologischer Formulierungen" 68 wiederfinden. Diese Beobachtungen lassen sich auch bei der Vorlesung über Psalm 90 anstellen und erweisen damit die drastische Ausdrucksweise Luthers als ein weiteres Charakteristikum seines Vorlesungsstils. Es ist völlig undenkbar, daß Rörer als Freund und Schüler Luthers diesem derart grobe und zum Teil undifferenzierte Formulierungen von sich aus zugeschrieben hätte wie z.B.: „Ideo sui (seil. Dei) narrn sumus in nostra miseria et calamitate ..." (536,3); „Ist unsers Herrn comoedia, sentire peccatum, mortem etc." (552,5); „... post 80 annos non schmeckt essen, trincken, tanz; est cadaver vivum Est ipsa poena, non vita." (559,12ff). „Quot sunt, qui metuunt mortem? 10 inter 1000000." (573,2f). Zur drastischen Ausdrucksweise lassen sich auch manche theologische Schlußfolgerungen in Hinsicht auf ihre äußerst knappe Formulierung bezeichnen: „Sic 1. Tabula dat simpliciter vitam et resurrectionem mortuorum." (495,7f); „Si non omnes Deum rident, est Ecclesia." (507,1); „Immortalitas vite et eternitas ex 1. Praecepto fluit." (578,8f). D a ß Rörer auch diese drastischen Formulierungen Luthers in seine Nachschrift aufgenommen hat, ist ein deutliches Indiz dafür, daß ihm wirklich an einer vollständigen Mitschrift dessen gelegen war, was Luther im Kolleg äußerte, unabhängig davon wie theologisch präzise diese Äußerungen im einzelnen formuliert gewesen sind.
65 66 67 68
s. Lohse, „Schwärmer" und Täufer, S.5. s.o. A.I. Schulze, Galaterbrief, S.27. Schulze, aaO., S.28.
II. Der Wert der Nachschrift Rörers
35
3. Die Überarbeitung der Nachschrift durch Rörer a) Der Anlaß der Überarbeitung Rörer hat seine Mitschrift der ersten sechs Vorlesungstage nachträglich überarbeitet. D a z u verwendete er dunklere Tinte, mit der er auch die Nachschrift Dietrichs vom 31.3.1535 in sein Kollegheft übertrug 6 9 . Auf der letzten Seite des Heftes notierte Rörer den „3. Novembris 35." (594 zu 3), was als Schlußdatum sowohl der Abschrift der Nachschrift Dietrichs als auch seiner eigenen Überarbeitung aufgefaßt wird 7 0 . Als Terminus a quo der Überarbeitung gilt seine Rückkehr nach Wittenberg Anfang Juni 1535 71 . Den Anlaß der Überarbeitung stellt Freitag in seinem einleitenden Vorw o r t zur Edition in W A 40 III wie folgt dar: „Diese Überarbeitung geschah auf Veranlassung Dietrichs, der die Vorlesung gleich den früheren herausgegeben hat." Aufgrund des „Mißfallen(s) ..., das seine Ausgabe des 51. Psalms in Wittenberg erregt hatte ... hat er bei Psalm 90 offenbar Rörer veranlaßt, in einer vorher nicht zu beobachtenden Ausführlichkeit den Wortlaut der Vorlesung auszuarbeiten. So ist Rörers Kollegheft mit überund beigeschriebenen Einträgen geradezu überlastet" 7 2 . Diese Darstellung ist von B. Klaus in seiner Biographie über Veit Dietrich übernommen worden: „Dietrich veröffentlichte die Nachschrift Rörers, der sein H e f t f ü r diesen Zweck eigens noch überarbeitete. Das geschah auf Dietrichs Bitte hin. In der Widmung an Johann H e ß spielte Dietrich auf das Mißfallen an, das er mit seiner Edition des 51. Psalms in Wittenberg hervorgerufen hatte. Aus diesem Grund hatte er nun Rörer um eine sorgfältige Ausarbeitung der Nachschrift von Luthers Vorlesung über Psalm 90 gebeten, .,." 73 . Diese zunächst einleuchtende Erklärung scheitert an den historischen Fakten. Die Vorlesung über Psalm 90 beendete Luther am 31.5.1535. Das Schlußdatum der Überarbeitung ist der 3.11.1535. Veit Dietrich gab seine Mißfallen erregende Druckausgabe der Vorlesung Luthers über Psalm 51 im September 1538 heraus 7 4 , die Veröffentlichung des Drucks der Vorlesung über Psalm 90 geschah 1541. Angesichts dieser Tatsachen ist die Behauptung von Freitag und Klaus nicht haltbar, gemäß der Dietrich aufgrund, d.h. zeitlich nach der Verstimmung, die der Druck von Psalm 51 im Jahre 1538 auslöste, Rörer aufgefordert haben soll, die Nachschrift von Psalm 90 zu überarbeiten, war diese Überarbeitung doch schon im November 1535 abgeschlossen 75 , also drei Jahre vor der Herausgabe des Drucks " s. 580 Anm.2-4 zu Hs. 70 s. 594 Anm.2 zu Hs. Zur Überarbeitung der Nachschrift Dietrichs s.u. B.III.3. 71 Freitag, Vorwort, S.476. 72 Freitag, Vorwort, S.477. 73 Klaus, Dietrich, S.344. 74 Klaus, aaO., S.341; s.a. C.I. 75 Freitag selbst stellt das fest, s. 594 Anm.2 zu Hs.
36
Β. Die Nachschriften
von Psalm 51. Das Motiv der Überarbeitung kann nicht mit einem Ereignis in Zusammenhang gebracht werden, das zeitlich nach deren Abschluß, also dem 3.11.1535 liegt. Daß Dietrich Rörer vor diesem Datum zur Überarbeitung aufforderte, ist nicht zu belegen. Wahrscheinlicher ist es, daß Rörer seine Nachschrift aus eigenem Antrieb und Interesse überarbeitet hat, vielleich sogar in Hinsicht auf eine vom ihm selbst verantwortete Druckausgabe. Diesen Gedanken kann Rörer zu dieser Zeit durchaus mit sich getragen haben, gab er doch im selben Jahr basierend auf seiner eigenen und überarbeiteten Nachschrift die Galaterbriefvorlesung Luthers von 1531 heraus 76 . Außerdem ist die umfangreiche Überarbeitung der Vorlesung von Psalm 90 nur mit derjenigen der Galaterbriefvorlesung in etwa zu vergleichen. So ist beispielsweise in die Überarbeitung der Nachschrift zur Vorlesung über die Stufenpsalmen kein einziger deutscher oder deutsch-lateinischer Satz eingegangen. b) Methode und Wert der Überarbeitung Rörer ist bei seiner Überarbeitung nach einer bestimmten Methode vorgegangen, wobei schon die Verwendung von dunklerer Tinte, die eine Unterscheidung von ursprünglicher Mitschrift und späterer Überarbeitung ermöglicht, sowie die Benutzung der Kolleghefte von Caspar Cruciger und Veit Dietrich 77 als Indizien für sein überlegtes Vorgehen gelten können 78 . Die Überarbeitung Rörers begegnet in zwei Formen, die in dieser Untersuchung nach dem Ort ihres Vorkommens im Kollegheft Interlinearüberarbeitung und Randüberarbeitung genannt werden. Bei der Interlinearüberarbeitung geht Rörer so vor, daß er über und, was seltener zu beobachten ist, unter die Zeilen seiner Mitschrift einzelne Wörter, ganze Sätze oder Teilsätze und Ziffern schreibt. Durch übergeschriebene Ziffern ändert er die Reihenfolge von Worten innerhalb der ursprünglichen Mitschrift zur Verbesserung des Stils. So hat er z.B. „fructus originalis peccati" (486,11) mitgeschrieben und später bei der Überarbeitung über „fructus" die Ziffer „1" und über "originalis" die Ziffer „3" notiert, wodurch die bessere Formulierung "fructus peccati originalis" entsteht 79 .
76
s. Schulze, Galaterbrief, S.22-26. s. Freitag, Vorwort, S.477-480. Sein Urteil „Etwas Nennenswertes, das über Rörer hinausginge, bringt Crucigers Kollegheft nicht." (aaO., S.480) bezieht sich allein auf die daraus von Rörer entnommen Aussagen, die dieser mit „Vide ... C.C." gekennzeichnet hat. 78 Eine Untersuchung über die Überarbeitungstätigkeit Rörers liegt noch nicht vor. Allenfalls werden der Forschung Einzelbeobachtungen vermerkt, s. z.B. WA 20,2f; 40 1,6 f. Auch die Ausführungen in dieser Untersuchung müssen sich aufgrund der nötigen Beschränkung auf das Thema auf Rörers Überarbeitung der Nachschrift zur Vorlesung über Psalm 90 konzentrieren. 79 s. 486 zu 11; s.a. 490 zu 7; 519 zu 6; 530 zu 2; u.ö. 77
II. Der Wert der Nachschrift Rörers
37
Neben Rechtschreibfehlern verbessert Rörer durch übergeschriebene einzelne Worte vor allem den Ausdruck 80 , z.B. „a sapientissimis viris ( < hominibus)" (485,5; zu 5); „modus loquendi ( < disputandi ...) de morte" (486,10; zu 10); „proprie ( < Mosissimus) Moses" (486,13; zu 13). Diese Ausdrucksverbesserungen können z.T. auf Rörer zurückgeführt werden, der sich damit um eine gute Ausdrucksweise Luthers bemüht, was besonders an den Stellen anzunehmen ist, wo die Überarbeitung einen präziseren Begriff als die ursprüngliche Mitschrift bietet. Hier wird sich Luther im Kolleg für Rörers Empfinden zu allgemein und unspezifisch ausgedrückt haben, was Rörer in der Überarbeitung nachträglich „verbessert". Bei der Überarbeitung erinnert sich Rörer aber auch noch zuweilen an den „Originalton" Luthers, der z.B. sicherlich das ungewöhnliche „Mosissimus Moses" (486 zu 13) im Kolleg gebrauchte, was Rörer bei seiner schnellen Mitschrift zunächst als „proprie Moses" (486,13) wiedergab. Wo Rörer während des Nachschreibens aufgrund des schnellen Vortrags gezwungen war, gewisse Wörter, die zum Verständnis der Aussage entbehrlich schienen, auszulassen, werden diese teilweise in der Überarbeitung nachgetragen, z.B. Artikel (530 zu 2 u.ö.), Konjunktionen (488 zu 7 u.ö.), Präpositionen beim Ablativ (499 zu 11 u.ö.), Nennung des Subjektes (495 zu 7), Nennung von Genitiven (488 zu 13 u.ö.), ausgeführte Zitate (485 zu 7 u.ö.), Redeeinleitungen (487 zu 4 u.ö.). In Hinsicht auf dieses Vorgehen ist dem Urteil Freitags zuzustimmen, daß „dieses Mehr (seil, der Überarbeitung) ... nicht den Inhalt (berührt), sondern lediglich die Form des Ausdrucks oder die Besserung der Reihenfolge" 81 . „Es handelt sich im wesentlichen um Vervollständigung der unmittelbaren Nachschrift zu verständlichen Satzgefügen u. dgl." 82 Obwohl Freitag sehr sorgfältig die von Rörer übernommenen und gekennzeichneten Zitate aus Crucigers und Dietrichs Kollegheften erörtert 8 3 , ist ihm doch im Blick auf die Überarbeitung Entscheidendes für ihren Wert entgangen. Auffällig ist in ihr die große Zahl der Sätze und Teilsätze, die entweder ganz in deutscher Sprache oder in deutsch-lateinischer Sprachmischung vorkommen. Es begegnen in ihr auch einzelne deutsche Wörter, wo anzunehmen ist, daß Rörer durch ihre Notierung den „Originalton" Luthers, soweit er ihm noch erinnerlich oder aus den anderen Kollegheften ersichtlich gewesen ist, in seine Nachschrift nachgetragen hat 84 , z.B. „mili80
Zur Wiedergabe der Überarbeitung bei den folgenden Beispielen s.u. B.IV. Neben vielen Ausdrucksverbesserungen finden sich auch Tempusänderungen in der Überarbeitung z.B. 484 zu 5; 485 zu 5 f. 81 Freitag in WA 40 1,7 zu Rörers Nachschrift und Überarbeitung der Galaterbriefvorlesung von 1531. 82 Freitag, Vorwort, S.477. 83 Freitag, aaO., S.477-480. 84 „... dürfen wir in den Fällen, in denen Rörer zu seiner lateinischen Nachschrift zwischen den Zeilen deutsche Worte hinzuschreibt, annehmen, daß Luther an diesen Stellen tatsächlich deutsch gesprochen hat;", Schulze, Galaterbrief, S.38.
38
Β. Die Nachschriften
tes ( < die kriegsgurgeln)" (486,2; zu 2); „occidere bestias ( < fliegen tod schlagen)" (514,6; zu 6); „abiit ( < verloren)" (524,11; zu 11); „animalia ( < schaf, scheps)" (536,11; zu 11). Was die längeren Aussagen angeht, so ist trotz ihrer nicht zu leugnenden Eindrücklichkeit doch eher anzunehmen, daß Rörer sie aus einem anderen Kollegheft entnommen hat, besonders wenn man ihre Vielzahl berücksichtigt, z.B.: „Sed es thuts nicht" (486 zu 1); „Sie mögen wol rhetores sein, sed remedium non possunt dare" (494 zu 7); „Das heisst deo ascribere illum affectum (legendum puto: effectum) 85 , quod veniat ab ipso met deo, und sollen sonst kein ander hülffe suchen, quia ipse, qui 'percussit, sanat'; so heist sein reim: 'Ego occidam et vivere faciam'" (518 zu 6); „Sollen wir unser dies et noctes nicht anders rechen denn so, so ists ein schlecht ding. Mein 50 iar sind als gestern. Das haben wir davon: 'diem et custodiam noctis'" (527 zu 2); „Was tod ist, wird geporn" (533 zu 2); „Da ghen im die äugen über, das er unsern Herrn Gott schier erzürnet" (535 zu 11); „Sind wir nicht arme, elende leute?" (536 zu 4); „Ego etiam sum Doctor, sed sensi me erigi uno vocabulo eius, qui forte nullum verbum in sacra scriptura didicit. Ist ein gros ding um sacram scripturam. Spiritus sanctus ist da bey" (543 zu 6); „ossa carnem ferant, denn man mus drumb die nasen nicht weg werffen, das sie rotzig ist" (544 zu 2); „Sic sumus volle sew" (545 zu 8); „Gott behut uns, das wir die sunde nicht all sehen ..." (551 zu 9); „Ich wolt der sunde gern los werden et non possum" (551 zu 10); „wenn wir sterben, wissen wir nicht, wo wir bleiben" (558 zu 7); „wir mögen wol hoffertig sein" (558 zu 10); „So heylos leute sind wir" (560 zu 6); „Ach wer da ein guter arithmeticus were und kund hoc totum, quid est centum anni, punctum mathematicum machen, dz nichts ist" (572 zu 3). D a ß diese Aussagen Luthers, die die Überarbeitung zur ursprünglichen Mitschrift nachträgt, nicht den Inhalt der Auslegung berühren, läßt sich nicht vertreten, legen doch schon die hier angeführten Beispiele die Vermutung nahe, daß hinter diesen deutschen bzw. deutsch-lateinischen Sätzen echte Ausrufe, Ausmalungen, biographische Hinweise etc. Luthers stehen. Ihre Mitteilung dient nicht dem Zwecke der „Vervollständigung der unmittelbaren Nachschrift zu vollständigen Satzgefügen u. dgl." 86 Rörer bemüht sich vielmehr mit der Aufnahme dieser Äußerungen um eine möglichst vollständige Wiedergabe dessen, was Luther im Kolleg geäußert hat, wobei er - wie die obigen Beispiele zeigen - nicht zwischen wichtigen und weniger bedeutenden Aussagen trennt. Ob Rörer diese Aussagen aus Crucigers oder Dietrichs H e f t entnommen hat, läßt sich nicht eindeutig entscheiden 87 . D a 85
s. Freitag, Vorwort, S.478. Freitag, Vorwort, S.477. 87 Freitag, Vorwort, S.479f vermutet an einer Stelle Cruciger als Vorlage; Schulze, Galaterbrief, S.36 Anm.l, weist darauf hin, „daß selbst die ziemlich dürftigen Nachschriften Dietrichs von Luthers Genesisvorlesung von 1535 verhältnismäßig viel Deutsch enthalten ...". 86
II. Der Wert der Nachschrift Rörers
39
allerdings, wie in B.III. 1. zu zeigen sein wird, die wenigen von R ö r e r aufgenommenen und gekennzeichneten Zitate aus Dietrichs H e f t auf Dietrich ein schlechtes Licht als Nachschreiber werfen, dürften die meisten der deutschen bzw. deutsch-lateinischen Zitate Luthers innerhalb der Überarbeitung auf Cruciger zurückzuführen sein. Aufgrund dieser Beobachtungen kommt den deutschen bzw. deutsch-lateinischen Aussagen innerhalb der Interlinearüberarbeitung ein hoher Wert bei der Wiedergabe der Vorlesung Luthers über Psalm 90 zu. Sie werden im Fortgang der Untersuchung stets mit heranzuziehen sein. Was die inhaltlichen Ergänzungen in lateinischer Sprache betrifft, so besteht das Problem der Entscheidung, ob sie Luthers Wortlaut bzw. Aussageinhalt wiedergeben, oder ob sie Rörer aus dem Interesse an vollständigen, wohlformulierten Sätzen hinzugefügt hat. So lautet z.B. die Aussage der ursprünglichen Mitschrift „... si contemnant mortem et vivant ut bruta;" (488,2f) mit Berücksichtigung der Überarbeitung „... si contemnant (iram dei et > ) mortem et vivant ut bruta ( < quibus nulla spes post mortem)." 88 Ein sicheres Urteil darüber, in welcher Form Luther diesen Satz im Kolleg vorgetragen hat, läßt sich nicht fällen. Sicher ist nur, daß Rörer diese Zusätze der Überarbeitung kaum aus der Erinnerung hinzugefügt haben kann, es sei denn, man unterstellte ihm ein derart phänomenales Gedächtnis, daß ihm sogar nach über 6 Monaten noch solche kleinen Ergänzungen wie im obigen Beispiel erinnerlich gewesen sind. Naheliegender ist die Vermutung, daß Rörer auch hier die Kolleghefte von Cruciger und Dietrich herangezogen hat. Letztlich ist es aber nicht auszuschließen, daß einige der lateinischen Ergänzungen innerhalb der Überarbeitung auf Rörer selbst zurückgehen, der dadurch den knappen Stil des ursprünglich Mitgeschriebenen korrigiert. Aus diesen Erwägungen werden die inhaltlichen lateinischen Ergänzungen der Überarbeitung kritisch zu betrachten sein. Bei der Randüberarbeitung hat Rörer an den Rändern der Seiten seines Kollegheftes ein eigenen Inhaltsverzeichnis erstellt. Hier formuliert er selbständig Summarien 89 über die in der Nachschrift zu findenden Aussagen, z.B.: „Peccati originis maxima vis, quod ne mala quidem intelligamus nostra" (484 zu 7); „titulus psalmi" (489 zu 9); „Ebreae linguae necessaria cognitio Theologo" (490 zu 8); „Ubicunque agitur de 1. praecepto, includitur resurrectio mortuorum" (493 zu 1); „Media vita in morte etc." (496 zu 3). Ferner notiert Rörer am Rand (Kurz)Zitate und Angaben von angesprochenen oder ausführlicher ausgelegten Schriftstellen bzw. einzelnen Worten, z.B.: ,,'Revelatur ira Dei'" (488 zu 6); „"Vir Dei'" (490 zu 3); „'Isch'" (490 zu 10); „Matth. 22." (494 zu 12). Weiter finden sich Stichwörter, die sich Rörer zu einzelnen Aussagen Luthers am Rande notiert, z.B.: „Consolatio" (488 zu 8); „Canon" (492 zu 11). 88 8
Zur Wiedergabe der überarbeiteten Nachschrift s.u. B.IV. ' vgl. Koffmanes Beobachtungen in W A 20,2.
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Β. Die Nachschriften
Rörer schreibt aber auch ganze deutsche Sätze bzw. Sätze in deutsch-lateinischer Sprachmischung an den Rand, ohne sie durch einen Strich mit einem bestimmten Wort der ursprünglichen Mitschrift zu verbinden, z.B.: „Das mus fides, donum spiritus sancti thun, sonst bleibts in corde wol ungered" (503 zu 6); „Gott lasse mich irs gebets nicht gemessen" (503 zu 12); „Dz las gesindiche sein, der wider den donner fartzet Et dicit: hart wider hart. Corporalia non sentit, illa non credit. Ille stupor non potest dici, qui sic movet Mosen" (567 zu 12). Auch bei diesen Sätzen ist zu vermuten, daß Rörer sie aus den anderen, ihm vorliegenden Kollegheften nachgetragen hat, wobei er diese Aussagen entweder als Summarien verwenden konnte (z.B. 503 zu 6) oder für ihn der Bezug auf die betreffende Aussage der Nachschrift so eindeutig war, daß es ausreichte, sie dort ohne Strichverweis an den Rand zu schreiben. Auch diese Sätze aus der Randüberarbeitung sind als von Luther selbst gesprochen für die Auslegung von Wert und müssen daher mitberücksichtigt werden.
4. Ergebnis Die Untersuchung der Nachschrift Rörers hat gezeigt, daß in ihr viele Charakteristika des Vorlesungsstils Luthers enthalten sind, was als Zeichen ihrer hohen Zuverlässigkeit zu werten ist. Rörer mühte sich, möglichst alle Äußerungen Luthers mitzuschreiben, ohne während des Schreibens wichtige und nebensächliche Aussagen insofern zu trennen, daß er nur die inhaltsschweren Verlautbarungen Luthers aufgezeichnet hätte. Das Interesse an einer möglichst vollständigen Mitschrift konnte Rörer dazu veranlassen, von Luther ursprünglich deutsch gesprochene Sätze zur schnelleren Notierung in die lateinische Sprache zu übersetzen. Diese Spontanübersetzungen verändern zwar den „Originalton" Luthers, nicht aber den Aussagekern. Daneben versuchte Rörer, viele deutsche Sätze und Wörter in seine Nachschrift aufzunehmen, was ihm in erstaunlich hohem Maße auch gelungen ist. Der Blick auf die Uberarbeiung Rörers warf nicht nur ein Licht auf die Sorgfältigkeit, die er bei dieser Arbeit an den Tag legte, sondern zeigte auch, daß er einiges von dem, was Luther im Kolleg äußerte, nicht in seine unmittelbare Mitschrift aufnehmen konnte. Nur so erklären sich die vielen in der Überarbeitung zu findenden Ergänzungen, vor allem aber die Fülle der Aussagen in deutscher bzw. deutsch-lateinischer Sprache bzw. Sprachmischung. Der Grund für ihr Fehlen in der unmittelbaren Nachschrift liegt nicht im Inhaltlichen, sondern darin, daß Rörer wegen der Schnelligkeit des Vortrags unmöglich alle Aussagen notieren konnte. Gerade deshalb legte er bei seiner Überarbeitung die Kolleghefte Crucigers und Dietrichs neben sein eigenes, aus denen er dann - z.T. mit Angabe des Namens des betreffenden Nachschreibers - seine eigene Nachschrift vervollständigte.
III. Der Wert der Nachschrift Dietrichs
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Die positive Beurteilung der Qualitäten Rörers als Nachschreiber von seiten der Forschung 9 0 kann mit dieser Untersuchung seiner Nachschrift der Vorlesung Luthers über Psalm 90 erhärtet und auf eine breitere Basis gestellt werden. Auch wenn sie nicht in allen Aspekten ein ungetrübter Spiegel des Lutherschen Wortes ist und sein kann, darf diese Nachschrift unter Einbeziehung eines Teiles der Überarbeitung doch als eine solche Wiedergabe der Auslegung gelten, die nicht nur die meisten Aussageinhalte, sondern diese sogar noch zu einem großen Teil im ursprünglichen Wortlaut bietet.
III. Der Wert der Nachschrift Dietrichs 1. Dietrich als Nachschreiber Wie schon in A.II, erwähnt, stammt die Nachschrift des letzten Vorlesungstages zu Psalm 90 (31.5.1535) nicht von Rörer, sondern von Veit Dietrich. Der Brief Dietrichs, der diesen Sachverhalt belegt, beinhaltet zudem eine aufschlußreiche Äußerung hinsichtlich der Meinung von anderen über seine Fähigkeiten als Nachschreiber: „Nam ita existimant, post Crucigerum et M. Georgium, diaconum nostrum, me id optimum facere. "91 Diese Ansicht, d a ß Dietrichs Fertigkeit im Nachschreiben hinter der von Cruciger und Rörer eingestuft wird, ist auch von Luther vertreten worden, zumindest was Dietrich im Vergleich zu Rörer betrifft. In einer Tischrede aus dem J a h r 1540 äußert sich Luther im Gespräch mit Justus Jonas über den Jesajakommentar von 1532 (2. Auflage 1534), den Dietrich basierend auf der von ihm selbst nachgeschriebenen Vorlesung Luthers herausgegeben hat: „Er ist gar zu dirre und mager; Magister Georgius hatt mehr." 92 Das Urteil Freitags über Dietrich als Nachschreiber ist demgemäß eindeutig negativ: „Dietrich war kein Nachschreiber großen Stils." 93 Auch B. Klaus folgt in seiner Biographie über Dietrich diesem Urteil, das er nur in gewissen Punkten revidiert 94 . Es darf davon ausgegangen werden, daß Dietrich sich selbst über die ihm abgehende Fähigkeit des exakten Nachschreibens im Klaren gewesen ist. Denn abgesehen von dem oben erwähnten Jesajakommentar hat er bei seinen folgenden Editionen der Vorlesungen Luthers die Kolleghefte anderer Mitschreiber - zumeist Rörers - als Vorlage benutzt, auch wenn er 90
s.o. B.II. 1. " ARG 1915, S.252. 92 WA T r 4, Nr.4869, 564,6. " Freitag, Anteil, S.198; s.a. ders, WA 40 111,748. 94 Klaus, Dietrich, S.107,342.
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Β. Die Nachschriften
eigene Mitschriften angefertigt hatte 9 5 . Direkte Vergleiche zwischen Rörers und Dietrichs Nachschriften sind nur selten möglich 96 . So ist auch das Kollegheft Dietrichs zur Vorlesung über Psalm 90 verloren. Innerhalb der Überarbeitung seiner Nachschrift ermöglicht Rörer aber durch Zitierung aus diesem eine Vergleichsmöglichkeit. Rörer schreibt in seiner unmittelbaren Mitschrift vom 9.11.1534: „Si ruten non helffen, Zuber Stangen, schwebel, donner, blitz, hellisch feur, ut iste insensatus terreatur." (550,5f), und merkt am Rand mit Strichverweis zu „hellisch" an: „Magister Vitus: Item, wenn corporales poenae nicht helffen, mus man" (550 zu 5f). Dietrich hat demnach an dieser Stelle die Aufzählung ausgelassen und d a f ü r die umschreibende lateinische Formulierung „corporales poenae" gewählt 97 . D e r Vergleich zwischen Rörers und Dietrichs Mitschrift zeigt an dieser einen Stelle die höhere Zuverlässigkeit der Nachschrift Rörers.
2. Formale und inhaltliche Kriterien D a s negative Urteil über die Nachschreibequalitäten Dietrichs in der Forschung kann ebensowenig von einer Untersuchung seiner Nachschrift auf formale und inhaltliche Kriterien des Vorlesungsstils suspendieren, wie das posititive Urteil im Fall von Rörer es getan hat. Deshalb wird im folgenden die Nachschrift Dietrichs auf dieselben Elemente hin untersucht werden, wie es bei Rörers Nachschrift der Fall gewesen ist. Wie in Rörers Nachschrift findet sich auch bei Dietrichs Mitschrift Luthers Anrede der Hörer. D u r c h die direkte Anrede 589,4ff werden die H ö r e r noch direkter als durch die Rede in der 1. Person Plural, die im Kontext vorherrscht, in die Auslegung miteinbezogen: „Quia, quanquam simus liberati a morte, tarnen scitis reliquias peccati in nobis esse et sequi sectas, scandala, deinde passiones et tentationes nostras." Am Ende der Vorlesung wendet sich Luther mit dem Schlußsatz noch einmal direkt an seine Zuhörer: „Habetis psalmum Mosi, quantum dominus mihi dedit, a me explicatum." (594,2f). Sehr häufig begegnet in Dietrichs Nachschrift die deutsche Sprache. Auch am letzten Vorlesungstag hat Luther demnach ganze Sätze deutsch gesprochen, z.B.: „Ach das er so blieb und habe sein freunde an uns." (588,lOf); „Mache, das es gewis und feste bleibe." (591,8); „Man mus kinder auffzie95
s. Klaus, aaO., S.340-350. " z.B. bei der Vorlesung zum Hohenlied, s. Freitag, Anteil, S.194. Zur Schwierigkeit dieses Vergleichs s. Klaus, Dietrich, S.342. Die einzige Äußerung Rörers über Dietrich als Nachschreiber zeigt eine hohe Wertschätzung: „Illam lectionem melius excepit M. Veit, Spectabiiis Decanandus", WA 40 11,518 zu 11. " D a f ü r gibt Dietrich den Satzanfang so wieder, wie Luther ihn im Kolleg gesprochen hat: „Item, wenn ...". Rörer ließ „Item" aus und übersetzte „wenn" durch das kürzere und schneller zu schreibende „si".
III. Der Wert der Nachschrift Dietrichs
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hen, sonst ist die weit bald wüste." (593, lf); „Nehren und wheren mus da sein" (593,3); „Das gebe uns unser Herr allen." (593,16- 594,1). Es begegnen auch deutsche Teilsätze wie z.B.: „Das wil unser Herr Gott nicht haben, sed vult, ut sciamus mala ista nobis inferri nisi permittente ipso." (585,2f); „Das gehört unser Herr Gott zu, ut opus super nos regat." (590,12f); „Wer nicht weis, das er Gottes wort lere und Gottes werck treibet, der höre auff, quia ista omnia debent esse certa." (591,14ff). Wie in Rörers Nachschrift finden sich auch hier einzelne deutsche Wörter in einem lateinischen Satz, z.B.: „da abundantem misericordiam, non particularem, ein klein regnum, non valetudinem, sed nos petimus plenitudinem et abundantiam misericordiae tuae ..." (581,9-582,1), ebenso auch einzelne lateinische Wörter im deutschen Satz, die z.T. auf Dietrich zurückgeführt werden dürfen: „Post so wollen wir komen und auch from sein, wenn uns unser Herr Gott vorhin hat from gemacht." (588,7f); „Das heist in Ecclesia gewis handeln ..." (591,14). Was den Satzbau betrifft, so findet sich Luthers Vortrag bei Dietrich zum Teil in kurzen, unverbundenen Sätzen wiedergegeben (z.B. 585,4-10). Es ist allerdings festzustellen, daß diese Art der Wiedergabe in Dietrichs Nachschrift seltener zu beobachten ist als in Rörers. Dietrich hat sich demnach stärker als Rörer bemüht, auch die mit Blick auf den Aussageinhalt zu vernachlässigenden Wörter wie Konjunktionen, Artikel etc. mit zu notieren, wodurch die Auslegung in seiner Nachschrift durchaus als so von Luther gesprochen vorstellbar wird. Angesichts der Tatsache, daß Luther seine Vorlesung am 31.5.1535 ohne Rekapitulation der bisherigen Auslegung beginnt, was er doch bei allen vorhergehenden Kollegstunden über Psalm 90 getan hat 98 , liegt die Annahme nahe, daß Dietrich diese anfängliche Zusammenfassung ausgelassen haben könnte. Diese Möglichkeit ist jedoch schon aufgrund der bisher festgestellten Befunde, die Dietrichs Nachschrift als zuverlässig erscheinen lassen, wenig wahrscheinlich. Da sich auch bei anderen Vorlesungen Luthers, die Rörer mitgeschrieben hat, Anfänge von Kollegstunden ohne Rekapitulation aufzeigen lassen", liegt die Vermutung nahe, daß Luther auch am 31.5.1535 darauf verzichtet hat. Wo für Luther aber an diesem Tag ein Hinweis auf seine frühere Auslegung wichtig ist, schaltet er sie im Verlauf der Vorlesung ein: „... de quibus humilitatibus dixerit, require supra: 'Avertis homines in nihilum', Ubi loquitur de malis, quae videmus a tempore vitae, imo a principio mundi usque in finem." (582,6ff); „Supra oravit, ut 'esset beneficius';" (585,9). Am Ende der Vorlesung faßt Luther die Auslegung des Tages noch einmal zusammen (593,9-14). 98 Am 8.3.1535 nach der ersten längeren Unterbrechung des Vorlesungsverlaufes sogar recht ausführlich (568,9-570,11). " So z.B. in der Vorlesung über Psalm 132. Auch dort entfällt am letzten Vorlesungstag die sonst übliche Rekapitulation, s. WA 40 111,451,10.
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Β. Die Nachschriften
Vergleiche, mit denen Luther seine Auslegung verdeutlicht, wie z.B. „ut succurrat nobis non particularis et stillabilis misericordia, sed diluvium et mare misericordiae." (582,2f); „Sic apparuit (seil. Deus) in Sina sicut diabolus, furia ultrix." (587,8), finden sich nicht in der Zahl wie an den vorigen Vorlesungstagen, was aber auch durch den auszulegenden Text (Ps 90,14-17) bedingt sein kann. Dafür finden sich in Dietrichs Nachschrift mehrere längere Aufzählungen, z.B. ein von Luther erweitertes Zitat von l . K o r 1,30: „'Christus est nostra iusticia, sapientia, redemptio, sanetitas', 'vita', salus, laeticia et omnia bona ..." (586,15-587,1). Dietrich hätte sich an dieser Stelle leicht durch ein „etc." die Mitschrift des Zitates sparen können, was er aber nicht getan hat und so als Indiz für seine Sorgfältigkeit beim Nachschreiben gewertet werden muß. Weitere Aufzählungen sind z.B.: „Christus, ibi est summa misericordia, vita, salus, liberatio." (587, lOf); „In opere nostro 'super nos' gubernamur, et tarnen faeimus, U t sunt docere, consolari, arguere, iudicare, baptisare, communicare etc." (590,7ff). Wie in Rörers Nachschrift finden sich auch in Dietrichs keine vollständigen lateinischen Ubersetzungen der auszulegenden Verse. Beim Übergang der Auslegung zum nächsten Vers werden nur dessen Anfangsworte wiedergegeben: „'Misericordia'" (580,5); „'Laetifica nos', 'secundum' etc." (582,6); „'Ostende servis tuis'" (583,11); „'Et sit suavis'" (588,1). Ebenso belegt auch Dietrichs Nachschrift, daß Luther oft den hebräischen Text zur Auslegung herangezogen und im Kolleg zitiert hat: „'Paul'" (583,12); „'Hadad'" (586,8); „'enu'" (588,2); „'Conen'" (591,6); ,,'ruach nechona'" (591,8); „'Noan'" (593,4). Ebenso läßt sich in 582,9f eine Bezugnahme auf den Wortlaut der Vulgata feststellen. Auch am letzten Vorlesungstag hat Luther seinen Hörern Hinweise zur Auslegung gegeben, z.B.: „... ipse textus et coherentia cogunt aeeipere ista verba generalissime ..." (581,6f); „Ibi Emphasis est in 'Tuum'. Man mus hoc pronomen auff die person ziehen. Wenn es auff unsern H e r r Gott gehet, so ists pronomen infinitum." (584,5f). Persönliche Äußerungen, mit denen Luther im Kolleg Biographisches mitteilt, lassen sich in Dietrichs Mitschrift nicht aufzeigen. Auch in den Kollegstunden vom 26.10.1534 und 8.3.1535 hat Luther keine biographischen Aussagen gemacht. D a f ü r läßt sich auch aus Dietrichs Nachschrift Luthers Eigenart der „persönlichen Auslegung" belegen. Einmal kann Luther für Mose reden, wenn er sagt: „Ergo pro isto malo te oro, quo nos humiliasti statim a nativitate, et 'pro' istis 'annis', quibus vidimus generalissimum peccatum." (582,8f). An einer anderen Stelle bezieht er ein Sprichwort auf sich: „Wenn ich denn so sauer sehe, tunc dicitur deus contristari, qui in hoc est mortuus, ut essemus saneti et iusti." (589,15ff). In einer Aussage läßt sich wie in Rörers Nachschrift ein zeitgeschichtlicher Bezug auf die Täufer annehmen: „Quae opera sunt Ecclesiae gubernandae et populi dirigendi in spiritualibus; huius operis quanta sit necessitas, videmus, ne irruant sectae, pervertant Sacramentum, baptismum, depravent
III. D e r Wert der Nachschrift Dietrichs
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verbum." (590,9-12). Hier ist es weniger die Bezeichnung „sectae" als vielmehr der ausgesprochene Hinweis auf die Taufe, durch den die Aussage „pervertant Sacramentum, baptismum" spezifiziert wird, der an die Täufer denken läßt. Zum Abschluß ist festzustellen, daß auch in Dietrichs Aufzeichnungen die drastische Ausdrucksweise Luthers enthalten ist: „Alioqui quid esset petitio, dicere: Tu es iratus in aeternum, - gib mir ein stuck semel?" (581,3f); „... vivimus in pace et crescimus in fide evolamusque in coelum." (593,14f). Mit diesen Befunden hat die Nachschrift von Veit Dietrich ihren Wert als zuverlässige Wiedergabe der Auslegung Luthers in einem Umfang erwiesen, der nach dem bekannten negativen Urteil über Dietrichs sonstige Qualitäten als Nachschreiber nicht von vornherein zu erwarten gewesen ist. Es darf behauptet werden, daß die Nachschrift vom 31.5.1535 im Vergleich mit seinen anderen die beste erhaltene Vorlesungsnachschrift Dietrichs darstellt, die in nichts der Nachschrift Rörers nachsteht.
3. Die Überarbeitung der Nachschrift Dietrichs durch Rörer Das oben dargestellte Ergebnis wird durch den Sachverhalt erhärtet, daß Rörer bei der Überarbeitung der von ihm abgeschriebenen Nachschrift Dietrichs nur wenige stilistische Ergänzungen bzw. Verbesserungen interlinear anzumerken hatte, z.B.: „certificat" ( < assecurat)" (582,5; zu 5); „istis ( < illis)" (583,3; zu 3); „vident ( < animadvertunt, considerant)" (583,6; zu 6); „iubet ( < permittit)" (584,15; zu 15). In der Randüberarbeitung findet sich eine Fortführung des Inhaltsverzeichnisses, wobei Rörer auch hier die ausgelegten Wörter - zum Teil in hebräischer Schrift (z.B. 583 zu 12; 586 zu 8) - und Kurzzitate sowie Angaben zu verwendeten Schriftstellen an den Rand schreibt, wie z.B. 581 zu 9; 583 zu 12; 584 zu 13. Auch selbstformulierte Summarien finden sich wieder, z.B.: „Misericordia, quam rogat, qualis sit?" (580 zu 7); „Orat adventum Christi" (583 zu 1); „Diabolus 'autor mortis', Eb. 2. Contra hoc opus petit dei opus" (584 zu 9). In seiner Einleitung zur Vorlesung über Psalm 90 bemerkt Freitag, daß Rörer an einer Stelle eine Aussage in den Text eingeschaltet habe, was er am Rand durch Notierung seines eigenen Namens anmerkte: „Supra oravit, ut 'esset beneficius'; hie petit, ut 'ostendatur', das man es füle und erfare. ((* Magister Georgius *))"ioo (585,9f; zu 9f). „Er wollte damit (seil, durch die Beifügung seines Namens) wohl die Verantwortung für die deutschen Ausdrücke "das man es füle und erfare" übernehmen, mit denen er das Textwort „ut 'ostendatur'" umschrieb, vielleicht im Anschluß an ein „etc." 100
Zur Wiedergabe der überarbeiteten Nachschrift s.u. B.IV.
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Β. Die Nachschriften
in Dietrichs Handschrift." 1 0 1 Gegen diese Annahme sprechen allerdings mehrere Beobachtungen: 1. Rörer schaltet an keiner anderen Stelle seine Überarbeitung in den Text der unmittelbaren Mitschrift ein, sondern notiert diese entweder interlinear oder am Rande. N u r an dieser einen Stelle müßte er seine systematische Arbeitsweise vernachlässigt haben. 2. Rörer war während des letzten Vorlesungstages bekanntlich abwesend und hätte demnach die deutsche Umschreibung selbst formuliert und Luther in den Mund gelegt haben müssen, was Freitag, wenn auch in vorsichtiger Formulierung, annimmt. Solches Vorgehen ist für Rörers gewissenhafte Überarbeitungstätigkeit aber analogielos. 3. Sogar die nicht eindeutige Aussage „Est diluvium in voce 'enu'." (588,lf) hat Rörer ohne eigenmächtige Umschreibung übernommen und seine eigene Meinung mit „ita scriptum repperi" (588 zu l f ) und einer Einklammerung des betreffenden Satzes interlinear vermerkt. 4. Vor allem muß sich der Vermerk „Magister Georgius" gar nicht auf die deutschen Ausdrücke beziehen 102 , sondern ist - was eher einleuchtet als Anmerkung zu „Supra oravit, ut 'esset beneficus' ..." (585,9) zu verstehen, womit er auf Luthers Auslegung von V.13 in seiner eigenen Nachschrift vom 8.3.1535 hinweist. Abschließend kann gesagt werden, daß für die Wiedergabe der Auslegung von Psalm 90 Rörers Überarbeitung der Nachschrift Dietrichs inhaltlich nichts beiträgt, so daß sie im folgenden unbeachtet bleiben kann. Daß Rörer auf ein anderes Kollegheft bei dieser Überarbeitung zurückgegriffen hat, läßt sich nicht feststellen und darf vom Textbefund her als ausgeschlossen gelten.
IV. Die Wiedergabe von Rörers Kollegheft in WA 40 III sowie in dieser Untersuchung A. Freitag hat bei seiner Edition der Vorlesung über Psalm 90 in WA 40 III das Kollegheft Rörers, das dessen eigene Nachschriften der ersten sechs Vorlesungstage sowie seine Abschrift der Nachschrift Dietrichs vom letzten Vorlesungstag jeweils mit der Überarbeitung enthält, folgendermaßen wiedergegeben 103 : die Mitschrift, die Rörer bzw. Dietrich unmittelbar während des Kollegs anfertigten, wird in der WA als Text unter der Abkürzung „Hs" abgedruckt, wobei die ursprünglich stenographieähnlich abgekürzten Wörter in ihrer ausgeschriebenen Form wiedergegeben werden. Die von Rörer später angefertigte Überarbeitung findet sich in der WA in einem abgesetzten und 101 102 103
Freitag, Vorwort, S.479. Ein Strichverweis liegt nicht vor. Diese Form der Wiedergabe hat Freitag bei allen Editionen in WA 40 I - III gewählt.
IV. Die Wiedergabe von Rörers Kollegheft in WA 40 III
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kleingedruckten Apparat auf jeder Seite unter dem betreffenden Text der Mitschrift. Diese Form der getrennten Wiedergabe von Mitschrift und Überarbeitung ist durch zweierlei begründet 104 . Zum einen weist Freitag darauf hin, daß durch die Überarbeitung „die Lesung ungewöhnlich erschwert wird" 1 0 5 . Trennt man dagegen die Wiedergabe, ist der Leser leicht in der Lage, den Text der Mitschrift fortlaufend zu lesen, ohne durch die Fülle der späteren Hinzufügungen in Verwirrung zu geraten. Der zweite Grund liegt in Freitags inhaltlicher Wertung der Überarbeiung, die für ihn „nicht den Inhalt (berührt), sondern lediglich die Form des Ausdrucks oder die Besserung der Reihenfolge" 106 . Deshalb „(orientiert) über das Maß der Änderungen ... der Variantenapparat unter dem Text der Handschrift, dem wir grundsätzlich alle Verbesserungen, Glättungen u. dergl. zugewiesen haben, um die ursprüngliche Nachschrift möglichst rein wiederzugeben." 107 Die vorliegende Untersuchung der Überarbeitung Rörers hinsichtlich seiner eigenen Nachschrift hat nun gezeigt, daß dieses Urteil zu revidieren ist 108 . Neben den tatsächlich vorkommenden Verbesserungen des Ausdrucks und der Reihenfolge haben sich auch ursprüngliche Aussagen Luthers in der Überarbeitung aufzeigen lassen, die bei der Wiedergabe dieser Vorlesung sehr wohl zu berücksichtigen sind. Zudem ist es für den Vergleich der Nachschrift mit der Druckbearbeitung Dietrichs hilfreicher, die Überarbeitung aus dem Apparat der WA wieder zu dem Text der unmittelbaren Mitschrift zu setzen. Es darf schließlich nicht vergessen werden, daß Dietrich bei der Druckgestaltung die überarbeitete Nachschrift vor sich liegen hatte. Sein Vorgehen bei der Erstellung der Druckausgabe ist besser nachzuvollziehen, wenn die Nachschrift mit der Überarbeitung dem Drucktext gegenübergestellt wird. Aus diesem Grund soll bei den Vergleichen zwischen der überarbeiteten Nachschrift und dem Druck stets die Überarbeitung in den Text der unmittelbaren Mitschrift gesetzt werden, was auf folgende Weise geleistet und gekennzeichnet werden soll: - Wörter oder Sätze, die im Rahmen der Interlinearüberarbeitung Rörers über oder unter einzelnen Wörtern der Nachschriften stehen, werden in Klammern vor oder hinter die betreffenden Wörter gesetzt, wobei jeweils ein Pfeil am Anfang bzw. am Ende der Klammern auf das über- oder unterschriebene Wort weist: ( ) . 104
Freitag äußert sich diesbezüglich programmatisch in WA 40 1,6 f. Freitag, aaO., S.7. 106 Freitag, ebd. Dieses Urteil trifft auch nicht auf die im Vergleich zur Vorlesung über Psalm 90 knappere Überarbeitung der Galaterbriefvorlesung zu; s. z.B. WA 40 1,45 zu 1; 46 zu 8; zu 11; 56 zu 8. 107 Freitag, WA 40 1,7. 108 s.o B.II.3. 105
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C. Der Druck
- Ist ein Wort der Nachschrift sowohl über- als auch unterschrieben, wird zuerst das oberhalb, dann, mit Schrägstrich ( / ) getrennt, das unterhalb Notierte wiedergegeben. - Randbemerkungen, die zu bestimmten Wörtern, Sätzen oder Zeilen gehören und somit noch zur Interlinearüberarbeitung zu zählen sind, werden in Doppelklammern hinter die betreffenden Wörter, Sätze oder Zeilen gerückt: (( ... )). - Randbemerkungen, die eindeutig als von Rörer selbst formulierte Teile der Randüberarbeitung anzusehen sind wie Summarien, Stichworte, Verweise, werden in mit * gekennzeichneten Doppelklammern angegeben: ((* ... *)). - Deutet Rörer durch über einzelne Wörter geschriebene Ziffern eine andere Wortstellung an, so wird diese übernommen, ohne die Ziffern und die alte Wortstellung wiederzugeben. - In den Fällen, in denen Rörer Rechtschreibfehler nachträglich korrigiert, wird sogleich die korrigierte Schreibweise übernommen. - Eingeklammerte Wörter oder Sätze werden eingeklammert wiedergegeben. - In der Nachschrift und Überarbeitung finden sich zahlreiche Unterstreichungen bzw. durch Striche angedeutete Bezugnahmen. Diese werden nur in zum Verständnis wichtigen Fällen angemerkt. - Absätze innerhalb der Nachschrift werden übernommen, was auch bei der Wiedergabe des Druckes gilt. - Die Nachschrift wird wie in der WA mit der Abkürzung „Hs" gekennzeichnet, der Druck mit „Dr". - Bei deutschen und lateinischen Zitaten wird „u" und „v" der heutigen Schreibweise angeglichen.
C. Der Druck I. Dietrich als Herausgeber der Vorlesungen Luthers Die Edition der Vorlesung über den 90. Psalm war nicht das erste Werk der Herausgebertätigkeit Veit Dietrichs. Diese begann schon 1532 und ist bis 1541, dem Jahr der Herausgabe von Psalm 90, nicht ohne Schwierigkeiten verlaufen. Für einen chronologischen Überblick läßt sie sich in drei Phasen einteilen1: 1 Gesamtwürdigungen der Herausgebertätigkeit Dietrichs bei Freitag, Anteil, S. 190-202; Klaus, Dietrich, S.106ff; 337-350.
I. Dietrich als Herausgeber der Vorlesungen Luthers
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1. Editionen in der Zeit seines Wittenberger Aufenthaltes (1532-1534) 2. Editionen nach seiner Ubersiedlung nach Nürnberg (1536-1539) 3. Wiederaufnahme der Editionsarbeit ab 1540. 1.) Dietrichs erste Editionen fallen in den letzten Teil der Zeit seines Wittenberger Aufenthaltes. 2 Es sind die Vorlesungseditionen zum Prediger Salomo (1532), Jesaja (1532; 2. und vermehrte Auflage 1534), Psalm 45 (1533) sowie Psalm 127 (1534). Bei der Erstellung der Drucktexte griff Dietrich, abgesehen von der Jesajaausgabe, bei der er sein eigenes Kollegheft verwendete, auf die Nachschriften Rörers zurück. Wenn Freitag diese Editionen als „eigentlich nicht recht gelungene(.) Veröffentlichungen Lutherscher Vorlesungen" 3 bewertet und Klaus feststellt, „Veit Dietrichs erste und früheste Herausgebertätigkeit, wie sie in diesen vier Veröffentlichungen vorliegt, kann nicht ohne Kritik hingenommen werden" 4 , so stützen sich diese Urteile auf Aussagen Luthers, die zu zwei dieser Editionen überliefert sind. So meinte Luther zur Druckausgabe des Predigers Salomo: „Das buch sol völliger sein; im ist zuvil abgebrochen. Es hat weder stifel noch sporn. Es reitet nur in socken gleich wie ich, da ich im khloster war." 5 Einen ähnlichen Mangel kritisiert Luther am Druck der Jesajavorlesung: „Er ist gar zu dirre und mager. Magister Georgius hatt mehr." 6 Wenn darauf Justus Jonas in derselben Tischrede erwidert „Herr Doctor, er ist nicht ewer.", wird man diesen Kommentar auf die von Dietrich eigenmächtig vorgenommenen Erweiterungen in der 2. Auflage des Jesajadruckes von 1534 beziehen können 7 . 2.) Nach der Ubersiedlung nach Nürnberg, wo er im Dezember 1535 als Pfarrer an der St. Sebald-Kirche Anstellung fand 8 , setzte Dietrich seine Herausgebertätigkeit fort. 1536 erschien die Druckausgabe der Vorlesungen über Joel, Arnos und Obadja. Wie in der 2. Auflage des Jesajadruckes hat Dietrich hier stark in den Inhalt der Auslegung Luthers, die ihm mit Rörers Kollegheft vorlag, eingegriffen, was zuerst von Koffmane dargelegt worden ist 9 . In der Folgezeit hat Dietrich selbst erfahren, daß er mit dieser Art der Edition, d.h. „unvollständig überlieferte Nachschriften für die Praxis mit eigenen Gut zu vervollständigen, ein Versuch, der nicht nur um der historischen Treue willen, sondern auch angesichts der unklaren Vorstellungen, die Dietrich von Luthers Theologie hatte, ein unmögliches Unterfangen genannt werden muß ..." 1 0 , keinen D a n k ern2
Freitag, Anteil, S. 191. Freitag, aaO., S.192. 4 Klaus, Dietrich, S. 108. 5 WA T r 3, Nr.3242b, 232,12 ff. 6 WA T r 4, Nr.4869, 564,6. 7 Freitag, Anteil, S. 191. 8 Klaus, Dietrich, S. 125-135. ' Koffmane, WA 13.XXII-XXVI; s.a. Freitag, Anteil, S.192f; Klaus, Dietrich, S.340f. 10 Klaus, Dietrich, S.339. 3
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C. Der Druck
ten konnte 11 . Nur so läßt es sich erklären, warum er am 3.11.1537 seinen Freund Menius brieflich aufforderte, die Arbeit der Herausgabe der Vorlesungen Luthers über die Kleinen Propheten, die er jetzt selbst als „Last" (onus) empfand, fortzusetzen 1 2 . Stattdessen wandte sich Dietrich wieder der Herausgabe der Psalmenvorlesungen zu. 1538 wurde die Druckausgabe der Vorlesungen Luthers über Psalm 51 und 130 veröffentlicht, womit Dietrich allerdings ungewollt größte Verstimmung in Wittenberg auslöste. In einem Brief vom 30.10.1538 stellt Dietrich diesen Sachverhalt selbst dar: „... nunc editio psalmi Miserere, quam sperabam eciatn aucthori non displicituram, novos motus alijs, mihi eciam Invidiam & calumnias pant. Dixerat Lutherus inter enarrandum, Cognitionen peccati esse causam secundam in Justificatione. Id cum statim cemerem άτεχνώς dictum esse, loco non incommodo addidi, ab eruditis causam sine qua non appellan. Hec una vocabula quantos movit tumultus & iras quantas! Cum ego tarnen adhuc non intelligam, quid inter hec intersit, dicere cognitionem peccati esse necessariam & esse causam sine qua non. ... Habes causam, cur & prophetarum editionem coeptam iam itermiserim & etiam graduum psalmos coeptos abiecerim. Tibi autem, mi Moeni, si ita vis, libenter mittam, que in reliquos prophetas habeo. "13 Dietrich legte mit dem von ihm selbst eingefügten Ausdruck „(causa) sine qua non" 14 Luther eine Formulierung in den Mund, um die es 1536 in Wittenberg im sogenannten „Cordatusstreit" 15 schon große Auseinandersetzungen gegeben hatte. Es ist anzunehmen, daß sich Dietrich dessen sowie der theologischen Tragweite der Formulierung nicht bewußt gewesen ist.16 Nach Erscheinen des Druckes mahnte jedenfalls Melanchthon Dietrich: „Haec duxi tibi significanda esse, ut in posterum sis cautior, ac omnino velim te eiuns (seil. Luthen) enarrationes nisi pnus ipsi missas non edere."17 Mit Recht stellt Klaus im Anschluß an seine Darstellung dieses Teils der Tätigkeit Dietrichs als Herausgeber fest, daß diese „bis zu dieser Zeit den äußeren Anschein der Vergeblichkeit (trägt)" 18 . Gleiches gilt auch mit Blick auf die kurze Zeit später folgende Druckausgabe des Hohenliedes (1539). In einem Brief an Amsdorf meint Luther hierzu: „Vides autem omnia esse vel furtiüe a nostris excerpta vel a me confuse annotata, Sed rapiunt ista fratres." 19 Wie schon aus dem Brief vom 30.10.1538 ersichtlich wurde, 11 So Dietrich in einem Brief an Menius: „ Petis editionem reliquomm prophetarum, quam ego etiam institueram, sed neque priorem laborem in Ulis tribus probauit Lutherus, sicut mihi retulere, qui cum eo habitant, ...", Kolde, Analecta, S. 331. 12 ZHTh 1874, S. 123; bei Freitag, Anteil, S.193. 13 Kolde, Analecta, S.331f. 14 s. WA 40 11,359,15. 15 s. Lohse, Melanchthon, S. 411. " Ebenso Klaus, Dietrich, S.320f. " CR III, S. 593 f. 18 Klaus, Dietrich, S.341. " WA Br 8, Nr.3290, 354,12-355,1.
I. Dietrich als Herausgeber der Vorlesungen Luthers
51
brach Dietrich aufgrund der schlechten Aufnahme von Psalm 51 sowie der Prophetenausgabe von 1536 seine bereits begonnene Bearbeitung der Vorlesungen über die Stufenpsalmen und die übrigen Propheten ab. 3.) D a ß Dietrich allerdings spätestens Ende September 1539 wieder die Arbeit an der Herausgabe der Stufenpsalmen aufgenommen hat, ist allein auf das Drängen seiner Freunde zurückzuführen, wie aus einem Brief vom 30.9.1539 an Menius hervorgeht: „Ego nunc, hortatibus tuis, mi Moeni, et aliorum excitatus, sum in edendis psalmis graduum; ... Non existimo me pose plus boni facere, quam si bona fide Lutheri enarrationes vulgem. "20 Luthers Vorlesungen „bona fide" herauszugeben, schien ihm am ehesten dadurch möglich zu sein, daß er sich allein auf Rörers Kollegheft bei der Erstellung des Drucktextes stützte. Mit eigenmächtigen Hinzufügungen ist er aufgrund der schlechten Erfahrungen mit der Druckausgabe von Psalm 51 vorsichtiger umgegangen. Dementsprechend beurteilt Freitag seinen Umgang mit Rörers Nachschrift bei dieser Edition als „sehr getreu" 21 . Im Jahr 1540 erschien die Druckausgabe der Stufenpsalmen. Ein Jahr später wurde - mit einem Vorwort Luthers und gedruckt in Wittenberg 22 - der Druck der Vorlesung über Psalm 90 herausgegeben. Ihr folgten die Druckausgaben zu Micha (1542), der erste Band der Genesisvorlesung (1544), Hosea (1545), Psalm 2 (1546) und Joel (1547). Die Motive, die Dietrich zur Herausgabe der Vorlesungen Luthers bewegten, sind von unterschiedlicher Natur gewesen. Die ersten vier Editionen gelten seit Freitag als „Verlagsunternehmungen des Druckers Lufft bzw. Rhau, von diesen Dietrich übertragen" 23 . Die weiteren Editionen geschahen aufgrund der Aufforderung der Wittenberger 24 und anderer Freunde 25 . Bis 1542 ließ Dietrich die von ihm besorgten Drucke anonym erscheinen, was deutlich zeigt, „daß es Dietrich wirklich um die Erhaltung des Luthergutes . . . ging, daß es ihm um die Sache ging und nicht um Befriedigung eines persönlichen Ehrgeizes" 26 . Die „Sache", die Dietrich dabei stets ein Anliegen war, dürfte er selbst am besten in seiner Widmung zum Druck der Stufenpsalmen formuliert haben: „Neque enim ulla causa dignior et ministerio nostro, quam ut sana doctrina etiam ad posteros propagetur. "27
20
Bei Freitag, Anteil, S. 195. Freitag, aaO., S.195. 22 Zu Vorwort und Druckort s.u. C.II. 23 Freitag, Anteil, S. 191; ebenso Klaus, Dietrich, S.339. 24 Dietrich sagt selbst „Nunc autem et wittenbergenses sollicitant nos, qui cupiunt tomum extare", s. Z H T h 1974, S. 123; bei Freitag, Anteil, S.193. 25 s. Klaus, Dietrich, S.343. 26 Klaus, aaO., S.339. 27 WA 40 111,9 Anm.l. 21
Prophetarum
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C. Der Druck
II. Die Herausgabe von Luthers Vorlesung über Psalm 90 (1541) 1541 erschien die Druckausgabe der Vorlesung über Psalm 90, die Luther sieben Jahre zuvor gehalten hatte, in Wittenberg bei Veit Creuzer unter dem Titel „Enarratio Psalmi XC. Per D. Doctorem Martinum Lutherum, In Schola Vitebergensi, Anno 1534. puplice absoluta. Vitebergae. M.D.XLI. "28 Luther hat zuvor das Druckmanuskript vor Augen gehabt, was daran zu erkennen ist, daß der letzte Satz seines hierzu verfaßten Vorwortes zum Anfang des Drucktextes überleitet: „Sed priusquam vel ad titulum vel ipsum Psalmum perveniamus, paulo copiosius de Argumenta praefandum est." (484,27ff). Da der Beginn dieses Vorwortes mit dem ersten Satz der Nachschrift inhaltlich und sogar zum Teil wörtlich übereinstimmt 29 , wird man angesichts der Tatsache, daß dieser Satz im Drucktext fehlt, davon ausgehen müssen, daß Luther außerdem entweder sein eigenes, heute verlorenes Manuskript oder aber Rörers Kollegheft vor sich liegen hatte. Kritische Äußerungen zu dieser Edition sind weder von Luther noch von anderen überliefert. Wenn man auch in der Wahl von Wittenberg als Druckort 3 0 eine Berücksichtigung des brieflichen Rates von Melanchthon vom 6.10.1538 31 sehen kann 32 , so bedeutet „ein Vorwort Luthers . . . noch längst nicht, daß Luther über eine genaue Kenntnis der neuen Gestalt verfügt und auch die Formulierungen im einzelnen billigt" 33 , wie z.B. die Existenz des Vorwortes zum später von Luther selbst kritisierten Druck des Hohenliedes belegt 34 . In seiner Widmung an Johann Heß weist Dietrich darauf hin, daß er aufgrund von Judicia aliorum"35 oft vor der Herausgabe weiterer Vorlesungen Luthers zurückgeschreckt sei, worin man einen Nachhall der Verstimmung bezüglich des Drucks von Psalm 51 vermuten kann. Dietrich fährt fort, daß „amici, quos Vitebergae habeo, novas operas mihi imponunt"^. Daß 28
W A 40 111,482. 4 8 4 , 1 3 - 1 7 ; vgl. 484,3f (Hs). 30 Die Stufenpsalmenedition erschien noch im Jahr zuvor in Straßburg, s. Klaus, Dietrich, S. 343. 31 s.o. C.I. 32 „Der Druckvermerk einer Wittenberger Druckerei galt als Garantie für Luthers Einverständnis mit dem Druck, so daß dadurch für Veit Dietrich eine Wiederholung jener ärgerlichen Vorkommnisse ausgeschlossen war, durch die er 1536 und 1539 so viel Kummer und Ärger erfahren hatte.", Klaus, aaO., S. 345, in Bezug auf den Druckvermerk der Edition von Psalm 2 (1544). 33 Meinhold, Genesisvorlesung, S. 248f; s.a. Winkler, Seelsorger und Prediger, S. 238: „Selbst die schon in Luthers Freundeskreis scharf kritisierte "Winterpostille" legitimierte Luther durch ein Vorwort, vermutlich ohne den Inhalt geprüft zu haben." 34 s. W A Br 8, Nr.3290, 3 5 4 , 1 2 - 3 5 5 , 1 ; Klaus, Dietrich, S.343. 35 Die Widmung findet sich in E.A. op.ex. XVIII, S. 262-264; Zitat s. S.262. 36 Ebd. 29
I. Das Urteil von Α. Freitag
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mit diesen „neuen Mühen" die Druckbearbeitung der Genesisvorlesung gemeint ist, geht aus folgendem hervor: „ Cum autem D. Lutherus, priusquam Genesin susciperet tractandam, orationem Mosi, quae inter psalmos Davidis exstat, explicarit, existimavi ab ea faciendum exordium. " 37 Damit erfaßt Dietrich den „Übergangscharakter" 3 8 der Vorlesung über Psalm 90 korrekt. Nachdem Luther von 1531 bis 1534 die Psalmen 2, 51, 45 sowie die Stufenpsalmen auslegte, sollte die Auslegung des „Mosepsalms" das verbindende Glied zur Auslegung des „1. Buches Mose" darstellen. Wie schon bei den vorhergehenden Editionen war auch bei dieser die Nachfrage stark. 1546 wurde eine deutsche Übersetzung des lateinischen Drucktextes in Nürnberg veröffentlicht, 1548 übersetzte ihn Spangenberg in Wittenberg. 39
D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift I. Das Urteil von A. Freitag 1930 erschien mit dem Band 40 III der Weimarer Ausgabe die von A. Freitag besorgte Edition der Vorlesungen Luthers über die Stufenpsalmen, Psalm 90, die Auslegungen von Jesaja Kap. 9 und 53 sowie Hosea Kap. 13. Wie bei den Stufenpsalmen gibt Freitag den Inhalt des Kollegs über Psalm 90 in doppelter Form wieder: zum einen mit dem 1894 wiederentdeckten Kollegheft Rörers, zum anderen durch die Druckausgabe Dietrichs. In seiner Einleitung zu dieser Vorlesung äußert sich Freitag zum Verhältnis der beiden Quellen. Obwohl er zunächst feststellt, daß „Dietrichs Druck mit verhältnismäßig kleinen Änderungen dem von Rörer festgestellten Wortlaut (folgt)" 1 , muß er bei seinen längeren Untersuchungen der von Rörer aus Cruciger und Dietrichs Kollegheften zitierten Aussagen und Formulierungen fünfmal anmerken, daß der Druck „sicher echtes Luthergut" 2 bzw. „echtestes Luthergut" 3 ausläßt. An zwei weiteren Stellen zeigt Freitag im Druck auf Dietrich zurückzuführende Abschwächungen von Aussagen „zweifellos echt Luthersche(r) Derbheit und Fülle" 4 . Ferner hat " AaO., S. 263. 58 Freitag, Vorwort, S. 477 Anm.l. 39 s. WA 40 III, S. 482 f. 1 Freitag, Vorwort, S. 477. 2 Freitag, aaO., S.478, mit Blick auf 510,3. 3 Freitag, aaO., S.479, bezogen auf 504,8; s.a. S.479 zu 506,1 und 561,7f; S.479f zu 527,2. ' Freitag, aaO., S.478, in Bezug auf 550,17f und 581,3f, wobei die letzte Angabe nicht als Beleg für das Urteil „Rörers Wortlaut ist wuchtiger" (Freitag, ebd.) angeführt werden darf, daß
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D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
Freitag wahrgenommen, daß „Dietrichs Druck ein geglätteteres Latein" 5 bietet und daß „Rörers W o r t l a u t . . . wuchtiger, Luthers gesprochenem Wort näher (ist)" 6 , doch führen diese Beobachtungen nicht zu einer Einschränkung des vorangestellten Urteils, nach dem Rörer Dietrich „ein sozusagen ausgearbeitetes Druckereimanuskript lieferte" 7 , was z.B. von Klaus als „das Urteil der Lutherforschung" 8 zum inhaltlichen Verhältnis des Drucks zur Nachschrift angesehen wird. Immerhin verspricht Freitag am Ende seiner Einleitung, offenbar eingedenk der von ihm bemerkten Unterschiede, daß „die Anmerkungen (seil, von Freitag zur Druckausgabe) auf beachtlichere Änderungen in dieser gegenüber der Handschrift Rörers hin(weisen), z.B. wo Dietrich schwierige Worte derselben fortläßt oder wo er inhaltlich, in Zitaten oder im Bibelwordaut, selbständig anderes bietet." 9 Da man „Parallelen zu all diesen Beobachtungen ... auch sonst allenthalben in den verwandten Stoffen der Lutherüberlieferung finden (kann) ... sollte hier einmal, wie an einem Beispiel, der Finger auf diese Erscheinungen gelegt werden." 10 Dementsprechend finden sich zu den 100 Seiten, die die Wiedergabe des Textes von Nachschrift und Druck in der WA einnehmen, zwölf Anmerkungen zu Aussagen innerhalb der Nachschrift, die im Druck fortfallen 11 , wobei allerdings die in der Einleitung von ihm besprochenen Auslassungen mit keiner Anmerkung versehen worden sind. Glaubt ein Leser den Worten aus Freitags Einleitung, gemäß der doch „beachtlichere Änderungen" angezeigt werden sollen, so dürften sich keine weiteren Auslassungen mehr aufzeigen lassen. Ähnliches gilt für den Fall, wo Dietrich im Druck Aussagen und Formulierungen selbständig, d.h. ohne Anhalt im Text der Nachschrift, hinzufügt. An fünf Stellen findet Freitag solches Vorgehen und merkt es an 12 . Auch hier wird der Leser annehmen dürfen, daß Dietrich an den nicht von Freitag mit einer Anmerkung versediese Formulierung vom letzten Vorlesungstag sich Dietrichs Nachschrift verdankt, die Rörer bekanntlich nur abgeschrieben hat. 5 Freitag, aaO., S.478. 6 Freitag, ebd. 7 Freitag, ebd. ' Klaus, Dietrich, S.344. ' Freitag, Vorwort, S. 481. 10 Freitag, ebd. 11 492 Anm.l zu Dr; 522 Anm.2 zu Hs; 529 Anm.2 zu Hs; 538 Anm.l zu Dr; 541 Anm.2 zu Hs; 545 Anm.l zu Dr; 547 Anm.7 zu Hs; 554 Anm.lf zu Hs; 556 Anm.2 zu Hs; 564 Anm.6 zu Hs; 573 Anm.2 zu Hs. 12 527 Anm.l zu Dr; 555 Anm.l zu Dr; 558 Anm.l zu Dr; 575 Anm.l zu Dr; 594 Anm.l zu Dr; weiter merkt Freitag an: zwei Abschwächungen 573 Anm.l zu Hs; 579 Anm.l zu Hs; eine Ersetzung eines von Luther gebrauchten Sprichwortes 547 Anm.l; eine Ersetzung einer Bibelstelle 547 Anm.2 zu Hs; eine Ersetzung eines hebräischen Wortes 588 Anm.2 zu Hs; eine „singulare Erzählung" 565 Anm.2; eine Korrektur 525 Anm.l zu Dr; zwei Zitatvervollständigungen 530 Anm.l zu Hs; 562 Anm.l zu Dr; ferner gibt Freitag acht Hinweise zur Bibelübersetzung im Druck 508 Anm.l; 514 Anm.l; 527 Anm.2; 551 Anm.l; 565 Anm.l; 568 Anm.l; 580 Anm.l; 583 Anm.l.
II. Zur Untersuchungsmethode
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henen Aussagen im Druck den Text der Nachschrift treu wiedergibt, verspricht doch die Einleitung, daß bei dieser Vorlesung „wie an einem Beispiel der Finger auf diese Erscheinungen gelegt werden" sollte. N u r im Vertrauen auf diese Aussagen Freitags ist es möglich, daß, wie die Einleitung dieser Untersuchung gezeigt hat, Ebeling den Satz in 524,24f und Pesch u.a. die Formulierung „aeternus Tyrannus" (488,17) als echte Lutherzitate wiedergeben konnten 13 . Freitag hat an diesen und - wie die folgenden Untersuchungen zeigen werden - anderen Stellen den besonderen Umgang Dietrichs mit der Nachschrift als Druckvorlage nicht gesehen. Hätte er ihn bemerkt, so müßte er seiner eigenen Einleitung zufolge dieses an den betreffenden Stellen angemerkt haben. Es ist demnach an der Zeit, die Beobachtungen Freitags, soweit sie sich in seinen vorhandenen bzw. nicht vorhandenen Anmerkungen niederschlagen, sowie sein Gesamturteil, nach dem „Dietrichs Druck mit verhältnismäßig kleinen Änderungen dem von Rörer festgestellten Wortlaut (folgt)" 14 , zu überprüfen. Dabei ist zu untersuchen, in welchem Umfang, in welcher Art und Weise und mit welchen Motiven Dietrich das Kollegheft Rörers, das ihm als alleinige Vorlage diente, bearbeitet hat, was zu einem Urteil über den Wert des Drucks für die Wiedergabe der Auslegung Luthers über Psalm 90 führen muß.
II. Zur Untersuchungsmethode Die Vorlesungstätigkeit Luthers an der Wittenberger Universität fällt in die Zeit vom Sommer 1513 bis zum November 1545 15 . In der Forschung werden davon die Vorlesungen der Frühzeit wie das letzte Kolleg über die Genesis besonders gewürdigt 16 . Das Interesse an den frühen Vorlesungen ist dadurch bedingt, daß Luther ihnen eine umfangreiche Vorbereitung zuteil werden ließ, wie sie sich zu seinen ab 1524 gehaltenen Vorlesungen nicht mehr findet 17 . Soweit diese Manuskripte noch erhalten sind, sucht die
13
s. Einleitung. Freitag, Vorwort, S. 477. 15 Gesamtübersicht bei Zöllner, Hochschullehrer, S.35. " Auch die Galaterbriefvorlesung von 1531 ist aufgrund der Vergleichsmöglichkeit mit dem von Luther selbst herausgegebenen Galaterbriefkommentar von 1519 ausführlich untersucht worden, s. Bornkamm, Auslegung. 17 „Die reformatorische Tätigkeit überschattete seine Lehre auch zeitlich. Publizistischwissenschaftliche Arbeiten, politische und theologische Verhandlungen, Reisen, Gutachten, Predigt, seelsorgerische Aufgaben und nicht zuletzt eine ausgedehnte Korrespondenz - das waren Belastungen, die nicht nur an Luthers Kräften zehrten, sondern auch zu Ausfällen und Pausen auf dem Katheder führten. So hielt er zwischen 1521 und 1524 überhaupt keine Vorlesungen. D a z u vermeinte er - angesichts der Größe der Aufgabe - in zunehmenden Maße qualitative Mängel zu spüren, was teilweise mit der Dispositions- und Präparationsschwäche der späteren Vorlesungen in Verbindung zu bringen ist."; Zöllner, Hochschullehrer, S. 34. 14
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D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
Forschung in ihnen Aufschluß zu Fragen wie dem Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis oder den Einflüssen verschiedener Traditionen wie die des Ockhamismus, des spätmittelalterlichen Augustinismus, des Humanismus, der Mystik oder der Person Johannes von Staupitz auf die sich ausbildende Theologie. Das Interesse an der Genesisvorlesung ist sowohl durch den Umfang und die Dauer von immerhin 10 Jahren geweckt worden als auch durch die Tatsache, daß Luther mit diesem Kolleg seine Vorlesungstätigkeit abschloß. Mit dieser Auslegung als Dokument des sogenannten „alten Luther" wird der Frage nach der Entwicklung von theologischen Anschauungen bei Luther nachgegangen. Hierbei tritt allerdings das eingangs angedeutete Problem auf, daß Vorarbeiten Luthers zu dieser Vorlesung nicht mehr erhalten sind, sondern - abgesehen von einigen Präparationszetteln und nachschriftlichen Fragmenten - nur noch die Druckbearbeitungen von ebenfalls verschollenen Nachschriften Rörers und Crucigers. Diese problematische Quellenlage ist für sämtliche Vorlesungen Luthers ab 1524 bezeichnend 18 . Vereinzelte Präparationsblätter Luthers finden sich lediglich zu Abschnitten der Vorlesungen über das Hohelied, den Galaterbrief, die Stufenpsalmen sowie die Genesis. Besser sieht es bei den Nachschriften aus. Von ihren unterschiedlichen Umfängen und Qualitäten einmal abgesehen, sind noch Vorlesungsmitschriften zum Prediger Salomo, dem 1. Johannesbrief, Titus, Philemon, Jesaja, dem Hohelied, dem Galaterbrief, Psalm 2, 51, 45, den Stufenpsalmen, Psalm 90 sowie zur Genesis erhalten. 19 Zu allen Vorlesungen - abgesehen von der über Titus und Philemon gibt es Druckausgaben, welche bis auf diejenigen über die Galaterbrief- und die späten Teile der Genesisvorlesung sämtlich von Dietrich herausgegeben worden sind. Die aus diesen Gegebenheiten resultierende Schwierigkeit hat Meinhold zutreffend als „doppelte Brechung" der Auslegungen Luthers beschrieben, „sowohl durch die Aufnahme des Nachschreibers als auch durch die Gestaltung des Redaktors" 2 0 . Da man daneben von Luther selbst verfaßte und herausgegebene Schriften in großer Zahl hat, werden bei der Darstellung von Luthers Theologie vorzugsweise diese herangezogen und die im Vergleich dazu bezüglich der Uberlieferung unsicheren Vorlesungen weitestgehend vernachlässigt. Genauerer Untersuchungen der Uberlieferungsfrage bzw. des Quellenwertes, die über knappe Bemerkungen in den Einleitungen der in Frage kommenden WA-Bände bzw. kurze Hinweise in Einzeluntersuchungen hin-
18
vgl. die Gesamtdarstellung bei Zöllner, Hochschullehrer. " s.o. B.II.1. 20 Meinhold, Genesisvorlesung, S. 184.
II. Zur Untersuchungsmethode
57
ausgehen 21 , erfreuen sich bis heute erst die Galaterbrief- sowie die Genesisvorlesung. Wenn in dieser Arbeit das Kolleg über Psalm 90 daraufhin betrachtet werden soll, ist eine Darstellung dieser Arbeiten und der darin angewandten Untersuchungsmethoden vonnöten. Vorab ist jedoch darauf hinzuweisen, daß bei der Galaterbrief- und der Genesisvorlesung wie auch beim Kolleg über Psalm 90 die Ausgangslage für die Forschung jeweils verschieden ist. Die Galaterbriefvorlesung von 1531 wurde von Rörer nachgeschrieben und von diesem auch herausgegeben. Das Kolleg über Psalm 90 wurde bekanntlich von Rörer bzw. am letzten Tag von Dietrich mitgeschrieben, welcher auch die Druckausgabe besorgte. Sind zu diesen beiden Vorlesungen die Kolleghefte Rörers noch erhalten, was einen Vergleich zu den jeweiligen Druckausgaben ermöglicht und erfordert, liegen für die Genesisvorlesung nur die Druckbearbeitungen vor, die von Dietrich, Besold und Roting aufgrund von Rörers und Crucigers Mitschriften hergestellt worden sind. Die Antwort auf die „Kardinalfrage", inwiefern „den von ihm (seil. Dietrich) bearbeiteten Werken Luthers ein Quellenwert" 22 eigen ist, wird bei dieser Vorlesung am schwierigsten zu ermitteln sein. Der Quellenwert des Drucks der Galaterbriefvorlesung wurde 1926 von G. Schulze erörtert. 23 Dabei untersuchte er zunächst die erhaltene Nachschrift Rörers auf ihre Zuverlässigkeit 24 , wobei er aufgrund formaler Kritierien wie der deutschen Sprache sowie aufgrund noch vorhandener Präparationen Luthers zu dieser Vorlesung urteilen kann, „daß H s treu das wiedergibt, was Luther vorzutragen beabsichtigte." 25 Obwohl die Nachschrift „sprachlich kein unbedingt zuverlässiger Zeuge" 26 ist, wird „Luthers Vortrag . . . durch eine Gedankenarbeit des Nachschreibers nicht irgendwie wesentlich getrübt" 27 . Die Nachschrift besitzt so einen „großen W e r t . . . als eine treue Wiedergabe von Luthers Gedanken und Stimmungen aus dem Jahr 1531" 28 . In einem zweiten Teil der Untersuchung führt Schulze einen Vergleich des Drucks mit der Nachschrift in Hinsicht auf „Erkenntnisse über Luthers persönliches Leben, seine zeitgeschichtlichen Beziehungen und seine theologischen Anschauungen" 29 durch. Das Kriterium, das zur Auswahl dieser drei Vergleichspunkte geführt hat, teilt Schulze allerdings nicht mit. Über 21 Die am häufigsten für die Uberlieferungsfrage herangezogene WA-Einleitung besorgte Koffmane in WA 13.XXII-XXVI; etwas ausführlicher ist Freitag, WA 40 111,747-754; äußerst knapp sind Krauses Bemerkungen in seinen „Studien zu Luthers Auslegung der Kleinen Propheten", S. 5 f. 22 Meinhold, Genesisvorlesung, S. 238. 23 Schulze, Galaterbrief, in: ThStKr 98/99, 1926, S. 18-82. 24 Schulze, aaO., S. 26-39. 25 Schulze, aaO., S.30. 26 Schulze, aaO., S.38. 27 Schulze, aaO., S.39. 28 Schulze, aaO., S. 82. 29 Schulze, aaO., S.22.
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D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
formale Unterschiede sagt er aus „Rücksicht auf den Raum" 30 lediglich, daß der Druck „als eine in lesbares Latein gefaßte Wiedergabe von Hs bezeichnet werden (kann); nur daß Dr ... manches, was dem mündlichen Vortrag charakteristisch ist, fortgelassen und anderes, wie vor allem exegetische Andeutungen in Hs breit ausgeführt hat." 31 Die Ergebnisse des thematischen Vergleichs ergeben, daß der „Quellenwert des Dr ... in verschiedener Hinsicht beeinträchtigt ..." ist: „Persönliche und zeitgeschichtliche Bemerkungen fehlen großteils, andere sind verallgemeinert oder entstellt". Zudem „... hat Luthers Theologie eine Annäherung an die spätmelanchthonische Gestaltung der reformatorischen Lehre erfahren" 32 , so daß Schulze abschließend urteilt, „daß von Rörer bearbeitete und herausgegebene 'Opera Lutheri' nur mit großer Vorsicht als Quelle für Luthers Anschauungen benutzt werden dürfen" 33 . Angeregt durch eine Arbeit von E. Seeberg34 hat P. Meinhold 1936 „Die Genesisvorlesung und ihre Herausgeber" 35 untersucht. Die Entscheidung über den Quellenwert ist - wie schon angemerkt - dadurch erschwert, daß zum einen keine Nachschrift Rörers oder Crucigers mehr erhalten ist, zum anderen drei Herausgeber an der Edition gearbeitet haben. Meinhold hat also nur den Druck und das Wissen um die drei Bearbeiter für seine Untersuchung zur Verfügung. Nachdem er in einem ersten Teil die „Wiedergabe, Überlieferungsgeschichte, Aufnahme und Beurteilung" 36 der Vorlesung darstellt, geht er methodisch so weiter, daß er im zweiten Teil die Personen der Herausgeber Dietrich, Roting und Besold vorstellt, ihr Verhältnis zu Luther betrachtet und abschließend ihre theologischen Anschauungen, soweit sie aus ihren eigenen Schriften bzw. weiteren Editionen ersichtlich sind, darlegt 37 . Im Gegensatz zu Seeberg, der die Genesisvorlesung mit der Theologie des sogenannten „jungen Luther" verglichen hat, stellt Meinhold zunächst die Theologie der Herausgeber vor, auf deren „Spuren" 38 er dann im letzten Abschnitt seiner Arbeit die Druckausgaben der Vorlesung untersucht. Zuvor äußert er sich im dritten Teil über den „Anteil Luthers" 39 , der im Druck überall dort sicher anzutreffen ist, wo sich deutsche Formulierungen finden. Für die ersten drei Kapitel der Genesis sind außerdem noch Präparationen von Luthers Hand erhalten, die „häufig sogar wörtliche(...) Übereinstim30
Schulze, aaO., S.39 Anm.2. Schulze, aaO., S.39. 32 Schulze, aaO., S.81. 33 Schulze, aaO., S.81 f. 31 Seeberg, Studien. 35 So der Titel von Meinholds Untersuchung. 36 Meinhold, Genesisvorlesung, S. 6-35; Zitat S. 6. 37 Meinhold, aaO., S. 36-117. 38 Meinhold, aaO., S. 370-428, Zitat S.370; Meinhold zu Seebergs Vorgehen s. aaO., S.53. " Meinhold, aaO., S. 118-202, Zitat S. 118. 31
II. Zur Untersuchungsmethode
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mungen zwischen dem Entwurf Luthers und dem gedruckten Text" 4 0 , aber auch Umstellungen wie das Phänomen der „doppelten Relation" 4 1 innerhalb des Drucks belegen können. In einem vierten Teil untersucht Meinhold den Charakter, den die Vorlesung in den Druckausgaben annimmt. Er stellt dabei eine Vermeidung der „Fiktion der Vorlesung" bei Dietrich 4 2 im Gegensatz zu Roting und Besold 43 fest und zeigt „die allmählich entstehende Tendenz der Herausgeber, ihrem Werke den Charakter eines Kommentars zu verleihen" 44 . Bei der Herstellung der Druckausgaben verarbeiten die Herausgeber ferner Werke Luthers und anderer 4 5 und vervollständigen bzw. ergänzen Zitate 46 . Die Frage, ob neben den „echt(en), weil deutsch(en)" 47 Formulierungen den anderen Aussagen der Genesisvorlesung ein Quellenwert für die Theologie Luthers zukommt, beantwortet Meinhold am Ende seiner Untersuchung wie folgt: „Man wird diese Frage weder mit einem glatten Ja, noch mit einem glatten Nein beantworten können. Unbedenklich für die Kenntnis Luthers kann man sie eben deshalb nicht heranziehen, weil einem auf Schritt und Tritt die Spuren der Bearbeitung begegnen. . . . Darüber hinaus haben die Redaktoren . . . viel 'gelehrtes' Material von sich aus hinzugefügt. Denkt man auf der anderen Seite an die Übereinstimmungen der Genesisvorlesung mit der Theologie des jungen Luther, so liegt der einzige Maßstab für ihre Echtheit, wie das E. Seeberg schon ausgesprochen hat, in der Theologie des jungen Luther. Versagt dieser Maßstab - und er versagt für die Genesisvorlesung allerdings häufig -, so kann sie als Quelle für die Kenntnis Luthers nicht herangezogen werden." 4 8 Wird in dieser Untersuchung zu Luthers Vorlesung über Psalm 90 der Wert der Druckausgabe zu ermitteln versucht, so kann hierzu wie bei der Galaterbriefvorlesung das erhaltene Kollegheft Rörers herangezogen werden. Da sämtliche Präparationen Luthers verschollen sind, mußte sich das Urteil über die Zuverlässigkeit der Nachschrift allein auf die darin enthaltenen formalen und inhaltlichen Kriterien wie z.B. die Charakteristika des Vorlesungsstils Luthers beschränken. Durch deren Bezeugung erwies die Nachschrift ihren hohen Quellenwert, so daß das Urteil über sie ähnlich positiv wie das von Schulze zur Nachschrift der Galaterbriefvorlesung lautet.
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Meinhold, Meinhold, 42 Meinhold, 45 Meinhold, 44 Meinhold, 45 Meinhold, 46 Meinhold, " Meinhold, 48 Meinhold, 41
aaO., aaO., aaO., aaO., aaO., aaO., aaO., aaO., aaO.,
S.201. S.201; 208f. S.261. S.255. S. 262-265; Zitat S.265. S. 341-370. S. 332-341. S. 170. S. 427 f.
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D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
D e r weitere Fortgang der vorliegenden Untersuchung setzt sich nun aber sowohl von Schulze als auch von Meinhold ab. Aus der besonders eingeschränkten Quellenlage sah sich Meinhold veranlaßt, einen Abriß der Theologie Dietrichs wie der anderen Herausgeber zu bieten. Wie in einem Subtraktionsverfahren zog er dann am Ende seiner Untersuchung die daraus gewonnenen „Formeln Dietrichs" 4 9 , d.h. alle „Züge einer melanchthonisierenden Theologie" 5 0 sowie die „Inkonzinnitäten" 5 1 vom Drucktext ab, um als Resultat Luthers eigene Anschauung darzustellen 5 2 . D a s Problematische dieser M e t h o d e liegt nicht so sehr in der versuchten Scheidung von Anschauungen Luthers und Dietrichs als vielmehr in der Darstellung der Theologie Dietrichs wie in dem zugrundeliegenden Lutherbild. B. Klaus hat in seiner Dietrich-Biographie gezeigt, d a ß Dietrich zwar als Freund Melanchthons auch theologisch von ihm beeinflußt w o r d e n ist, d o c h nicht in dem Maße, wie Meinhold glaubhaft machen möchte mit Aussagen wie der, d a ß Dietrich „nicht Schüler Luthers, sondern Melanchthons" 5 3 sei. Weiter weist Klaus darauf hin, d a ß Meinhold bei der A n f ü h r u n g von Zitaten zur Darstellung von Dietrichs T h e o logie deren 'Sitz im Leben' zu wenig berücksichtigt hat. N u r so war es Meinhold z.B. gelungen, „ein gewisses synergistisches M o m e n t " 5 4 bei Dietrich festzustellen. Dagegen betont Klaus, d a ß mit den dazu von Meinhold angeführten Zitaten aus den 'Kinderpredigten' „Dietrich . . . eben nicht als systematischer Theologe (schrieb), . . . , sondern als Prediger der Gemeinde" 5 5 . Was Meinholds Lutherbild betrifft, so sei als Paradigma der letzte Satz seiner Untersuchung zitiert: „Die Gedanken, in denen der alte vom jungen Luther abzuweichen scheint, sind in die Genesisvorlesung von ihren Bearbeitern eingetragen worden." 5 6 Es gehen z.B. „die starken Anklänge an die Inspirationslehre" 5 7 als die „am stärksten auffallende(...) Inkonzinnität" 5 8 auf das K o n t o der Bearbeiter: „So werden Mose und der Heilige Geist als U r h e b e r der Schrift geradezu gleichgesetzt. D a ß es sich hier wirklich um das Eindringen fremder Formulierungen handelt, zeigt die o f t unvermittelt gebliebene Nebeneinanderstellung einer W e n d u n g
4
> Meinhold, aaO., S.371. ° Meinhold, aaO., S. 370. Meinhold, aaO., S.373. 52 So besonders deutlich bei den Aussagen zum Thema des Todes, Meinhold, aaO., S. 392-399 („Geist der melanchthonischen Theologie", S. 392), S. 395-399 (Luthers eigene Anschauung). 53 Meinhold, aaO., S.40; s.a. S.53; S.249 Anm.42. Dagegen Klaus, Dietrich, S.310-331. 54 Meinhold, Genesisvorlesung, S. 83. 55 Klaus, Dietrich, S.315. 56 Meinhold, aaO., S.428. 57 Meinhold, aaO., S.371 f. 58 Meinhold, aaO., S.371. s
51
II. Zur Untersuchungsmethode
61
wie: 'spiritus sanctus describit' und 'Moses autem dicit'." 59 Auch wenn sich eine solche direkte Nebeneinanderstellung in keiner Vorlesung des sogenannten „jungen Luther" 6 0 nachweisen lassen mag, ist Meinhold dennoch eindeutig im Unrecht, wenn er meint, daß diese auf den ersten Blick widersprüchlichen Formulierungen den Bearbeitern zuzuschreiben sind, wie ein Blick in Rörers Nachschrift der Vorlesung über Psalm 90 zeigt. Luther sagt hier „Moses totum aliter exaggerat et amplificat mortem et calamitates huius vitae . . . " (486,12f), was ihn nicht hindert, sich wenig später folgendermaßen zu äußern: „Ideo spiritus sanctus ipse docet et exaggerat nostras calamitates." (492,7f). Nicht jede Inkonzinnität ist also per se ein Beleg dafür, daß die H a n d eines Bearbeiters die Auslegung Luthers nachträglich verändert hat. Das Lutherbild Meinholds, das auf die Kontinuität der theologischen Gedanken des sogenannten „jungen Luther" bedacht ist, wird in diesem Fall zum Hindernis für das Verständnis der in Aspekten sich stets weiterentwickelnden Theologie Luthers, die zu keiner Zeit in allen Punkten „fertig" gewesen ist. Die vorliegende Untersuchung über den Wert der Druckausgabe des Kollegs zu Psalm 90 wird aufgrund des vorhandenen Kollegheftes Rörers auf eine Darstellung der Theologie Dietrichs verzichten können. In einem ersten Schritt soll zunächst Dietrichs Umgang mit Rörers Vorlesungsnachschrift untersucht werden, und zwar in einem weitaus stärkeren Maße als Schulze dies, wenn auch durch Platzmangel bedingt, in seiner Arbeit tat. Vermeidet Dietrich hier wie in der Druckausgabe des Genesiskollegs den Charakter der Vorlesung, so wird sich das an seiner Bearbeitung der formalen und inhaltlichen Kriterien aufzeigen lassen, die gerade die Zuverlässigkeit der Nachschrift bezeugt haben. Wie Dietrich diese Charakteristika des Vorlesungsstils Luthers aufgenommen und bearbeitet hat, ist in D.III. 1.-8. (entsprechend B.II.2.a)-h)) zu erörtern. Dadurch, daß der Charakter einer Schrift verändert wird, entsteht zugleich ein neuer. Sollte Dietrich den Vorlesungscharakter, der so deutlich aus der Nachschrift hervorgeht, getilgt haben, so wird der an diese Stelle tretende neue Charakter der Druckausgabe in D.IV. untersucht werden, wobei der Blick besonders auf diejenigen Spuren der Bearbeitung Dietrichs zu lenken ist, durch die er diesen neuen Charakter herausstellt. Schulze wie Meinhold haben neben den formalen besonders die inhaltlichen Änderungen in den Druckausgaben hervorgehoben. Soweit sich diese auch in dem Druck der Vorlesung über Psalm 90 aufzeigen lassen, werden sie in D.V. dargestellt.
59
Meinhold, aaO., S. 372 f. Zur Problematik der Bezeichnungen „junger" bzw. „alter" Luther, s. Lohse, Einführung, S. 152, V.B.l. 60
62
D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
III. Dietrichs Bearbeitung der Vorlesungsnachschrift 1. D i e Anrede 6 1 D i e sich in Rörers Nachschrift findende Form der Höreranrede in der 2. P e r s o n Plural, die Luther bei den Zusammenfassungen seiner Auslegung gebraucht, wird v o n Dietrich entweder ausgelassen (z.B. 554,10; 569,13; 5 7 0 , 4 ) oder in die 1. Person Plural umformuliert 6 2 , z.B.: - H s 489,6f Audivistis Mosen in officio suo proprio agentem, i.e. terrentem peccatores . . . D r 489,18 . . . audimus Mosen in suo proprio officio terrentem peccatores . . . -
H s 568,1 l f A principio audivistis sic, quod Moses significat per omnes versus aliam esse vitam post hanc vitam. D r 568,25f AUdivimus hactenus a principio significari per Mosen, Quod post hanc vitam sit alia vita . . .
A u c h die direkte Anrede in der 2. Person Plural z u m Z w e c k der Betonung bestimmter Aussagen der Auslegung ist im D r u c k entweder ausgelassen (z.B. 490,8f; 533,6; 5 6 6 , 1 0 ) oder durch allgemeinere Formulierungen ersetzt w o r d e n 6 3 , z.B.: - H s 494,1 Of Ubicunque ergo ( < sicut dixi) agitur de usu 1. praeeepti, inclusum habetis fidem et spem resurrectionis mortuorum. D r 495,17ff Ita vera est Regula, quod ubicunque agitur de praeeepto primae tabulae ..., Ibi necessario includitur fides et spes resurrectionis mortuorum. -
Hs 513,12-514,1 Ibi videtis mortem in humano genere non ( < esse) temporalem ( < quae casu venerit), similem mortibus bestiarum.
61 Auf eine Unterstreichung der zu vergleichenden Formulierungen kann hier und in den folgenden Vergleichen verzichtet werden, da bei der Auswahl der Beispiele auf einfache Erkennungsmöglichkeit der betreffenden Textpartien Wert gelegt wurde. 62 Dieses Vorgehen hat auch Meinhold in der Druckausgabe der Genesisvorlesung gesehen, s. Meinhold, Genesisvorlesung, S. 160 f. Allerdings kann auch Luther gemäß der Nachschrift rekapitulierende Aussagen in der 1. Person Plural machen, s. 531,13-532,1. 63 „Wir sehen, wie Luther seine Hörer immer wieder lebendig anredet, während D r seinen Charakter als Kommentar schon dadurch erweist, daß er diese Anrede entweder fortläßt . . . oder ins Unpersönliche u m b i l d e t . . . " , Schulze, Galaterbrief, S. 27.
III. Dietrichs Bearbeitung der Vorlesungsnachschrift
63
D r 513,28f N o n igitur hominum mors est similis morti bestiarum, . . n e c est mors, quae casu accident aut temporalis esset, . . .
Somit bleibt als erstes Ergebnis festzustellen, daß Dietrich für seine Druckausgabe keine Anrede in der 2. Person Plural aus der Nachschrift übernimmt 64 . Gänzlich anders verfährt Dietrich mit der in der Nachschrift begegnenden Anrede in der 2. Person Singular, die Luther im Kolleg zur besonderen Betonung bestimmter Aussagen oder bei seelsorgerlichen Hinweisen verwendet hat 65 . Diese Form der Anrede wird von Dietrich nicht nur übernommen 66 , sondern sogar noch ausgeführt, d.h. sie wird von ihm in Aussagen eingesetzt, die diese gemäß der Nachschrift nicht beinhalteten, z.B.: - Hs 485,3 N a m ilia gravissima et horribilissima res, quae vocatur ( < est) mors, . . .
D r 485,13f N a m vide illam gravissimam et horribilem poenam, quae est mors . . .
- Hs 491,7 lam si quis dicat: . . .
D r 491,24 Sed inquies: . . .
- Hs 534,2 Econtra apud nos ( < ander ansehen, . . .
ists viel ein ander ansehen quam coram D e o ) anni ein
D r 533,29 At alia ratio est, si sequaris nostrum iudicium et rationem nostram.
Zudem finden sich Sätze, die Dietrich selbständig, d.h. ohne Anhalt in der Nachschrift, unter Verwendung der 2. Person Singular in den Drucktext einfügt, z.B.: - Hs — D r 503,29ff Blasphemia enim est, venire per Orationem in conspectum Dei, et tarnen statuere, quod frustra ores, quod non sit te auditurus Deus.
64
Die einzige A u s n a h m e bildet lediglich d e r Satz 593,32 (in H s 594,2f), d e r aber als Schlußsatz eine Sonderstellung hat. 65 Einen Sonderfall stellte die namentliche E r w ä h n u n g R ö r e r s in 580, lf dar; diesen Satz läßt Dietrich aus. " s . z.B. 5 4 1 , 8 f f / 2 2 f f ; 5 4 3 , 6 f / 2 2 f f ; 5 4 6 , l f / l l f .
64
D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
- Hs — D r 551,21f Haec quoque non multum absunt a blasphemia, Praesertim si cor intuearis, cum talia verba meditatur. - Hs — D r 574,14 Sed audi, quid addat. Redete Luther ursprünglich mit der 2. Person Singular die „Person" seiner Zuhörer an, so wendet er sich nun im Druck durch Dietrichs Bearbeitung an den Leser der Druckausgabe, was in einem von Dietrich hinzugeführten Hinweis auch deutlich ausgesprochen wird: - Hs — D r 522,15 Sed admonendus quoque lector est de Phrasi. Der Leser des Drucks wird hier wie an den anderen Stellen mit der Anrede in der 2. Person Plural direkt angesprochen und dadurch auf die Besonderheiten der Auslegung nachdrücklich hingewiesen 67 . Diese Art der „Reflexion auf den Leser" 68 hat schon Meinhold zur Bearbeitung der Genesisvorlesung angemerkt. Sie trägt in der Druckausgabe der Vorlesung über Psalm 90 dazu bei, daß sich der Leser angesprochen und in die Auslegungen Luthers durch dessen eigene Anrede miteinbezogen fühlt. Die Einbeziehung des bzw. der Leser erreicht Dietrich auch dadurch, daß er in der Druckausgabe Luther häufiger die Redeform der 1. Person Plural benutzen läßt, als dieser es gemäß der Nachschrift getan hat. Auch hier nimmt Dietrich also nicht nur eine bei Luther vorkommende Redeweise auf, sondern formuliert nach deren Muster weitere Aussagen der Nachschrift um bzw. fügt eigene Hinweise damit ein, z.B.: - H s 487,6ff Non de temporali morte, - Summum nec metuas diem nec optes, - sed ponit aeternam mortem, quia obiicit iram dei. ((* ... *)) D r 487,19-22 Si enim ea sola expectanda esset, diceremus cum Poeta: Summum nec metuas diem nec optes. At nos sustinemus aeternam mortem, siquidem iram Dei, quae a nobis vinci nequit, sustinemus. - Hs — D r 493,23 ... si rem recte aestimaverimus, ...
67
Zur näheren Spezifizierung der Person des Lesers bzw. des Leserkreises, s.u. D.IV.l.d). " Meinhold, Genesisvorlesung, S. 261.
III. Dietrichs Bearbeitung der Vorlesungsnachschrift
65
- Hs — D r 494,14f Altius nobis adscendendum est et dirigendi oculi ad divinam sapientiam, ... - H s 496,6f Nunc incipit orationem suam. D r 496,20 Nunc ad Psalmum veniamus. -
Hs — D r 502,16 Sed respiciamus hic iterum ad Titulum.
-
H s 503,7f Ergo 1. pars psalmi docet fidem oportere esse in oratione, quae triumphat ... D r 503,24f . . . videmus in Oratione vera necessariam esse fidem. Haec si adest, triumphamus.
-
H s 524,1 ... fingit se 30 ( < 100, 20) iar. D r 524,12 Nos fingimus nobis longum tempus esse septuaginta annos, ...
Ebenso nimmt Dietrich die Aussagen Luthers aus der Nachschrift auf, in denen Luther darauf hinweist, daß M o s e „uns" mit diesem Psalm etwas sagt bzw. in „unsere" Situation hineinspricht 69 . Diesen Bezug auf die Gegenwart trägt Dietrich von sich aus auch in andere bzw. eigene 7 0 Aussagen im Drucktext ein, z.B.: - H s 487,4 Et exponit iratum deum ... D r 487,15 . . . opponit nobis Deum iratum. - H s 492,7f Ideo spiritus sanctus ipse docet et exaggerat nostras calamitates. D r 492,22f Sentiamus igitur hunc Psalmum ab ipso Spiritu sancto factum et nobis propositum esse, In quo docet nos de nostris calamitatibus ... -
H s 514,8f Ideo ostendit ( < pingit conterrendos) personam irascentem ad conterendos (praefractos > ) Epicuraeos.
" s. z.B. 4 8 6 , 1 4 - 4 8 7 , 2 / 4 8 6 , 2 7 f f ; 4 9 7 , 1 l f / 2 3 f ; 5 3 3 , 1 2 / 2 5 ff. 70
s. z.B. 4 8 5 , 1 2 f ; 4 9 4 , 1 4 f ; 4 9 5 , 2 0 f .
66
D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
Dr 514,17ff Ab hac felicitate per peccatum excidit, Id quod Moses omnibus nobis conatur ostendere, dum Personam irascentem sie diligenter pingit ad terrendos securos et praefractos.
Auf eine auffällige stilistische Eigenheit im Text des Drucks, die auf Dietrich zurückzuführen ist, sei in diesem Zusammenhang noch hingewiesen. Die meisten Fragesätze, die sich im Druck finden, sind entweder von Dietrich selbst und ohne Anhalt in der Nachschrift hinzugefügt worden, oder er hat Ausagen Luthers in Form von Fragesätzen wiedergegeben. Auch damit erreicht Dietrich ein Ansprechen des Leser, z.B.: - Hs 494,8f ... orare deum contra mortem hoc est iam sperare vitam. Impossibile ( < est) hoc est ( < facere) nisi (est) ex fide et spe vitae, ...
Dr 494,28-495,15 Quid enim est orare? An non est quaerere spem? Quid est porro ad Deum orare in periculo peccati et mortis? An non est sentire, quod apud Deum sit locus veniae et certum auxilium contra ista exicialia mala? An non orare contra mortem est sperare vitam?
- Hs 497,5f ... ergo est Deus 'habitaculum' vivorum, non mortuorum. Non habebit suam vitam ( < se ipsum) eternam pro sepulchro, pro Cruce.
Dr 497,14f Quis enim Deum vocabit habitaculum mortuorum? Quis eum pro sepulchro aestimabit aut pro cruce?
- Hs — Dr 502,28 Quis iam neget Spiritum sanctum in suis esse optimum Oratorem?
- Hs 504,11 Ά generatione': ...
Dr 504,23 Sed cur addit: Α GENERATIONE IN GENERATionem?
Zu dem ersten Ergebnis, daß Dietrich die Anredeform der 2. Person Plural vermeidet, tritt als zweites die Beobachtung, daß er die Anrede in der 2. Person Singular nicht nur aufnimmt, sondern auch ausweitet. Dietrich will dadurch die Person des Lesers ansprechen und in die Auslegung Luthers miteinbeziehen. Zu diesem Zweck baut er auch die Rede Luthers in der 1. Person Plural aus und vermehrt eigenmächtig die Form der Fragesätze.
III. Dietrichs Bearbeitung der Vorlesungsnachschrift
67
2. Die Sprache „Wenn wir . . . die gedruckte Vorlesung ansehen, so ergibt sich bald, daß hier im allgemeinen ein geglättetes Latein verwandt und die Vermischung von Lateinisch und Deutsch durchaus vermieden ist. Und zwar gilt das besonders, wenn ich recht sehe, für die beiden von Veit Dietrich bearbeiteten Teile. N u r hie und da sind hier deutsche Ausdrücke oder Sätzchen - oft Sprichwörter - in den lateinischen Text eingestreut." 71 Diese Beobachtungen Seebergs zur Druckausgabe der Genesisvorlesung haben auch für den Druck des Kollegs über Psalm 90 Gültigkeit. Bis auf zwei Fälle, in denen Dietrich deutsche Sprichwörter, die Luther anführt, übernimmt 72 , hat er die deutsche Sprache in der Druckausgabe vermieden. Dieses Vorgehen erklärt sich aus der zur damaligen Zeit üblichen Methode, Vorlesungen in lateinischer Sprache herauszugeben, wobei allerdings darauf hinzuweisen ist, daß diese auch zumeist vollständig lateinisch gehalten worden sind. Luthers Vorlesungsstil, an dem sich seit seinen ersten Vorlesungen in steigendem Maße die Verwendung der deutschen Sprache aufzeigen läßt 73 , hat seine Schüler Rörer 7 4 und Dietrich nicht dazu veranlassen können, bei ihren Editionen mit der gewohnten durchgehend lateinischen Sprache für akademische Veröffentlichungen zu brechen. So hat Dietrich die anderen Sprichwörter, die Luther gemäß der Nachschrift im Kolleg über Psalm 90 äußerte, entweder ausgelassen 75 oder - zum Teil mit Ausmalungen - in lateinischer Sprache wiedergegeben: - Hs 546,8f In vitis Patrum: Hastu auch, vegel transvolantes; las fliegen, nicht nysteln. ( < Lasse sie fliegen, lasse sie nur nicht nistein)
D r 546,25-28 Simile quiddam legitur in Vitis Patrum. N a m ibi docet quidam huiusmodi cogitationes similes avibus in aperto coelo volantibus A c prohibere, ne hue vel illuc volent, dicit non esse in manu nostra, H o c autem in manu nostra esse, ne nidos figant in capillis nostris.
- Hs 563,10 (Sicut > ) Germanice etiam dicitur: D i e helle wird ( < einem seurer zuverdienen quam coelum) etc. . . .
71
Seeberg, Studien, S. lOf; s.a. Meinhold, Genesisvorlesung, S.261. „Die alten Narren die besten" (560 zu 17; s. 560,3f in Hs); „Was Himel, Hetten wir hie Melh!" (565,27f; s. 565,11 in Hs). 73 vgl. Ficker, Luther als Professor, S. 12, 39. 74 s. Schulze, Galaterbrief, S. 39f Anm.2. 75 so 537,2; 547,2. In 547,17 gebraucht Dietrich in seiner lateinischen Formulierung ein anderes Bild. 72
68
D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
D r 563,21f Et extat germanicum Proverbium Infernum maioribus sudoribus et laboribus parari quam coelum.
Dietrichs Umgang mit den deutschen Sprichwörtern kann als Paradigma für seine Bearbeitung der übrigen deutschen Wörter und Sätze in der Nachschrift gelten. Auch diese läßt er entweder aus oder - was seltener vorkommt - übersetzt sie, wobei die Genauigkeit der Ubersetzungen noch gesondert zu betrachten ist. Ein Motiv, das Dietrich bei seiner Entscheidung leitet, ob er eine Auslassung oder eine Ubersetzung vornimmt, läßt sich nicht entdecken. Unter die Auslassungen fallen deutsche Formulierungen verschiedenen Inhalts wie z.B. kurze Ausrufe Luthers (z.B. 488,9; 501,6; 556,9), Übersetzungen (z.B. 503,6) sowie ganze Aussagen (z.B. 533,2; 592,14; 593,lf). Bei den von Dietrich stammenden Ubersetzungen deutscher Wörter und Sätze sind zwei Arten zu unterscheiden. Zum einen kann Dietrich eine wörtliche Übersetzung für den Druck anfertigen, z.B.: - H s 486,2f pestilenz! frantzos!
D r 485,23f ... pestem, pustulas gallicas ...
- H s 528,4 Was bochen wir denn, ...
D r 528,18 Quid igitur superbimus?
- Hs 532,10 ... ut (das > ) Jar wandelt sich ...
D r 532,20 ... Sicut annus mutatur ...
Daneben finden sich aber auch Ubersetzungen, mit denen Dietrich auf Lateinisch mehr bzw. etwas anderes sagt, als Luther es ursprünglich auf Deutsch getan hat, z.B.: - H s 528,9-529,1 Ehe sich einer versihet, ist eingeschlafen;
D r 528,25f Prius enim, quam nos vivere scimus, vivere desinimus.
- H s 581,3f Alioqui quid esset petitio, dicere: Tu es iratus in aeternum, - gib mir ein stuck semel?
III. Dietrichs Bearbeitung der Vorlesungsnachschrift
69
D r 581,15f Alioqui quid aut cur peteret contra infinitam calamitatem alioquod leve et exiguum beneficium paucorum annorum?
- H s 588,7f Post so wollen wir komen und auch from sein, wenn uns unser Herr Gott vorhin hat from gemacht. Dr 588,26ff Post hoc tuum opus venimus etiam nos cum nostro opere, quando sie iustificati sumus et sanete vivimus in obedientia verbi tui idque tibi placet et gratum est.
Nach diesem Teil der Untersuchung der Bearbeitung der Vorlesungsnachschrift durch Dietrich erweist sich der einheitliche lateinische Text des Drucks in einem doppelten Sinne als trügerisch. Einerseits ist in ihm eines der auffälligsten Charakteristika des Vorlesungsstils Luthers in Anpassung an die literarischen Gepflogenheiten der Zeit unterdrückt worden. Die Auslegung verliert so im Druck an der Lebendigkeit und Anschaulichkeit, die sie innerhalb der Vorlesungsform der Nachschrift hatte. Vom Druck ausgehend kann deshalb keine Aussage über Luthers wahren Vorlesungsstil mehr unternommen werden. Erst recht ist bei Zitaten aus dem Druck Vorsicht geboten. Das gilt gerade auch in den Fällen, in denen Dietrich den deutschen Wortlaut nicht ausläßt, sondern ihn übersetzend übernimmt. Hier kommt das Problem hinzu, daß Dietrich nicht immer den Inhalt der deutschen Sätze im Lateinischen korrekt wiedergegeben hat, sondern durch seine Übertragung zugleich interpretieren, abmildern oder inhaltlich ergänzen konnte.
3. Rekapitulationen Die Form der Vorlesung wurde in der Nachschrift auch an den Rekapitulationen deutlich, die Luther zu Beginn einer Kollegstunde den Hörern geben konnte. Dietrich hat mit Rörers Kollegheft auch die Aufzeichnungen dieser Zusammenfassungen vor sich gehabt. Betrachtet man die Art und Weise, wie Dietrich mit ihnen bei der Erstellung des Drucktextes umgegangen ist, so fällt sofort auf, daß er die gewisse Zäsur innerhalb der Auslegung, die in der Nachschrift zwangsläufig durch Wiedergabe von Schlußsätzen, Daten und rekapitulierenden Formulierungen Luthers zutage tritt, vermeidet. Dietrich tilgt den damit deutlich hervortretenden Vorlesungscharakter, indem er Ende und Anfang der Auslegung zweier Vorlesungstage so miteinander verknüpft, daß es dem Leser des Drucks nicht mehr auffällt, wo Luther sein Kolleg unterbrochen hat. - Hs 499,4-11 Sic Moses, si non manifestis verbis, tarnen certis ( < potentibus) verbis indicat vitam et resurrectionem mortuorum, quia hoc reservandum fuit huic unico doctori
70
D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift Christo, ut ( < ille palam) doceret ( < resurrectionem mortuorum). Tarnen in veteri Testamento praesignatum ( < apertum fuit) in involuchris tarn figurarum quam verborum ( < sicut nunc palam). Hactenus pro exordio satis. 2. Novembris 1534 Dixi de argumenta et titulo huius psalmi seu orationis, quod ( < videlicet) Moses (hoc) studeat efficere hac oratione, ut homines metuant deum, terreantur (ab > ) ira et morte et ( < sie) humilientur ( < et praeparentur ad gratiam) ...
Dr 499,17-25 Ad hunc modum Moses, si non clare satis, tarnen significanti- bus verbis ostendit resurrectionem mortuorum et spem vitae contra mortem. Christo enim proprie reservari debuit, ut palam in novo Testamento remissionem peccatorum et resurrectionem mortuorum praedicaret, quae in veteri Testamento quibusdam ceu involucris proposita fuerunt. Moses quidem attingit ista et ceu digito monstrat, Sed postea in inculcanda ira est copiosior et apertior; hoc enim praeeipue studet efficere, ut discant homines Deum timere et territi ira Dei et morte humilientur coram Deo et praeparantur ad gratiam.
In diesem Beispiel verbindet Dietrich die Auslegung vom Schluß der ersten und vom Beginn der zweiten Kollegstunde unter Auslassung des Schlußsatzes „Hactenus de exordio satis" (499,7f), des Datums und der rekapitulierenden Wendung „Dixi de ..." (499,9). Die Betonung, die Luther durch die Wiederholung von Aussagen zu Beginn des Kollegs erreicht, wird von Dietrich beibehalten durch das von ihm hinzugefügte Wort „praeeipue" (499,23)76. Ähnlich ist Dietrich auch mit den folgenden Zusammenfassungen umgegangen. Rekapitulierende Formulierungen werden entweder ausgelassen („Diximus" 531,13; „Mansimus" 532,2; „nuper" 532,3; „Hactenus audivistis" 554,10; 570,3f) oder umgewandelt 77 . Zur Verknüpfung des Inhalts zweier Vorlesungsstunden kann Dietrich Wörter wie „ergo" (513,13) oder „porro" (532,14) verwenden. An zwei Stellen übernimmt Dietrich die Form der Zusammenfassung aus der Nachschrift (513,1-5; 568,9-570,11). Für den Leser des Drucks gibt Luther an diesen beiden Stellen eine kurze (513,13-17) bzw. - vor der Auslegung des „anderen Teils" von Psalm 90 (570,10f/27) - eine ausführliche Zusammenfassung (568,25-570,27) des zuvor Gesagten, allerdings in einer Art, die den ursprünglichen Charakter des Vorlesungsstils nicht mehr erkennen läßt.
76
vgl. die Hinzufügung von „proprie" in 500,25; 501,16. " s. 568,1 l f / 2 5 f.
III. Dietrichs Bearbeitung der Vorlesungsnachschrift
71
4. Aufzählungen und Vergleiche Die Aufzählungen, die Luthers Auslegung des 90. Psalms in der Nachschrift ihre anschauliche Art gegeben haben, sind von Dietrich für den Druck gekürzt worden. Einen H a n g zur Straffung erkannte Freitag schon in Dietrichs Kollegheft. Zählte Luther in der Vorlesung laut Rörers Mitschrift „ . . . ruten ..., Zuber Stangen, schwebel, donner, blitz, hellisch feur" (550,5f) auf, so faßte Dietrich in seiner Mitschrift das Gesagte unter „corporales poenae" (550 zu 5f) zusammen 7 8 . Auch bei seiner Druckbearbeitung ging Dietrich auf diese kürzende bzw. zusammenfassende Art vor, wie die folgenden Beispiele zeigen: - H s 503,5f 'Tu es habitaculum', hertzliche Zuflucht, ia herberg.
D r 503,21 T U E S H A B I T A C U L U M nostrum.
- H s 527,8f 'Scherem' (
) ruten non helffen ( < wil mus man nemen), Zuber Stangen, schwebel, donner, blitz, (( M a g i s t e r Vitus: Item, wenn corporales poenae nicht helffen, mus man > )) hellisch feur, ut iste insensatus terreatur.
D r 550,17ff
Sicut igitur Pueri, qui virga non possunt corrigi, fustibus corrigendi sunt, Ita q u o s corporales p o e n a e non emendant nec docent timorem Dei, H i igni infernali et h o c sensu irae frangendi sunt, ne maneant insensati.
Freitag, Vorwort, S.478; s.o. B.III.l. " F r e i t a g s Anmerkung, daß „Dietrich ... die charakteristischen Zeilen 5 - 8 der H s aus(läßt)", S. 545 Anm.l zu Dr, ist - wie noch ausführlicher in D.V.4. gezeigt wird - unrichtig. Dietrich läßt diese Zeilen der Nachschrift nicht aus, sondern formuliert deren Aussage nur in seinem Sinne neu um. 78
72
D . Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
- H s 567,6f . . . sie obruti et involuti ( < obnoxii) irae divine, morti ( < aeternae), inferno, malis corporalibus et spiritualibus, sub diabolo, et tarnen nemo credit ( < weil es), sentit. D r 567,16f sie oppressi sumus morte aeterna et peccatis et tarnen id non sentimus . . .
Ahnlich wie mit den Aufzählungen verfährt Dietrich mit Luthers veranschaulichenden Vergleichen. Obwohl er sie zwar einerseits ersatzlos streichen kann (z.B. 502,15; 561,1-4; 562,4), wobei als Grund zur Auslassung die Verständlichkeit der Auslegung auch ohne den von Luther angeführten Vergleich gedient haben mag, fügt Dietrich andererseits auch von ihm selbst stammende Vergleiche in den Text ein, z.B.: - H s 542,5f U t filius non inspicit virgam (sicut exhaeredationem > ) ut exhereditatem, sed ( < sihet über die ruten / et sperat) cogitans: wird auff hören.
D r 542,23-26 8 0 Sic filius, cum a parente castigatur, non aestimat virgam esse signum exhaeredationis, sed, etiamsi virgam patiatur, tarnen statuit Patrem esse et manere Patrem. Sic, qui gravi morbo implicitus est, morbo seposito videt et sperat salutem.
- H s 575,6f Prima sapientia est haec: 'incedere' in cognitione ire dei. ((* Prima sapientia *)) D r 575,19ff H a e c est summa sapientia, incedere in cognitione irae Dei. Ita enim paramur tanquam terra aratro ad suseipiendum semen illud divinum, cuius fruetus est aeterna vita.
Am Ende dieses Teils der Untersuchung lassen sich also zwei Ergebnisse festhalten. Zum einen finden sich nicht alle Aufzählungen und Vergleiche aus Rörers Kollegheft in Dietrichs Druckausgabe wieder, zum anderen sind aber nicht alle im Druck befindlichen Vergleiche aus Rörers Kollegheft übernommen. Dietrich hat vielmehr wieder Eigenes in den Drucktext eingefügt. Er hat so durch die Auslassungen charakteristische Vorlesungsmerkmale für den D r u c k entfernt und durch eigenmächtige Hinzufügungen auch wenn sie zum Zweck der Verdeutlichung eingeschaltet sein mögen Luther Vergleiche in den M u n d gelegt, die dieser in der Vorlesung nie geäußert hat.
80 Klaus, Dietrich, S. 379, stellt mit Blick auf Dietrichs Predigten fest, daß dieser „... eine Fülle von Bildern aus vielen Berufen seiner Zeit und seiner Stadt (verwendete). Besonders o f t wird der Beruf des Arztes genannt, und wir werden daran erinnert, daß Luther ihn einst vom medizinischen zum theologischen Studium gebracht hatte ..."
III. Dietrichs Bearbeitung der Vorlesungsnachschrift
73
5. Übersetzungen und Hinweise zur Auslegung Dietrich hat für den Druck die kritischen Äußerungen Luthers zur eigenen wie zur Vulgataübersetzung, die sich in der Nachschrift finden, gestrichen. Dieser Umgang ist bisher einzig zu der Aussage „'Dominus Maon': significat 'habitaculum' potius quam 'refugium', ..." (502,4) bemerkt worden. B. Lohse vermutete hierzu, daß „die kritische Freiheit", die Luther damit seiner eigenen Übersetzung entgegenbrachte, „nicht weiter bekannt gemacht werden (sollte)" 81 . Nun ist aber auch zu beobachten, daß Dietrich die kritischen Äußerungen Luthers zum Wortlaut der Vulgata ausläßt (559,1; 568,lOf; 570,12), was darin sein Motiv haben wird, daß Luther seine Kritik stets bei einer kurzen Anmerkung gelassen hat, die er bei der folgenden Auslegung weder weiter ausgeführt noch immer selbst berücksichtigt hat. So verhält es sich auch bei der selbstkritischen Aussage in 502,4. Obwohl er hier seine bisherige Übersetzung „refugium" durch „habitaculum" verbessert, verwendet er im Fortlauf der Vorlesung nicht, wie zu erwarten wäre, konsequent „habitaculum", sondern auch weiterhin noch das eben kritisierte Wort „refugium" (z.B. 502,1 lf; 505,1; 510,14f). Indem nun Dietrich die Aussage von 502,4 fortläßt, verbirgt er im Druck nicht nur Luthers „kritische Freiheit" in Hinsicht auf seine frühere Übersetzung, sondern auch bezüglich des Umgangs mit seiner neu gewonnenen und geäußerten Übersetzungserkenntnis. Bei der Erstellung des Drucktextes kann Dietrich auch Äußerungen Luthers über die Bedeutung der hebräischen Sprache auslassen (490,8f; 497,12f). Dieses Vorgehen ist um so bemerkenswerter, als Dietrich in der Bezugnahme auf den Urtext noch über Luther selbst hinausgeht 82 . Ein offensichtlicher Grund, der zur Auslassung dieser Aussagen führte, ist nicht zu erkennen. Verständlich ist dagegen die Auslassung bzw. Kürzung derjenigen Passagen, in denen Luther um eine angemessene Übersetzung gerungen hat (z.B. 503,5f; 563,2ff; 565,lf). Für den Druck kommt es Dietrich hier allein auf eine Übersetzung an, und zwar die, die er - in Ausschreibung von Luthers Kurzzitaten - den jeweils auszulegenden Versen voranstellt. Bei dieser Ausschreibung ist Dietrich nicht einer einzigen Übersetzung gefolgt, was schon Freitag zu den einzelnen Versen kommentierend angemerkt hat. Dietrich kann einmal den Wortlaut der Vulgata wiedergeben, aber auch Luthers deutsche Bibelübersetzung latinisieren 83 . 81
Lohse, G e s e t z , T o d u n d Sünde, S. 151. s. z.B. 509,17f.27f; 514,23ff; 551,18; 555,22f. Zu dieser Eigenart der Bearbeitung Dietrichs s.u. D . I V . l . d ) . 83 N a c h der Vulgata zitiert Dietrich die Verse 1 (496,22f), 4 (522,25f); 6f ( 5 2 8 , l l f ; 536,19), 9f (555,20f; 559,16ff), 13 (576,14f); als lateinische Ü b e r s e t z u n g erweisen sich die Verse 2f (508,15f; 514,21f), 5 (527,21f), 8 (551,12f), l l f (565,13f; 568,23f), 14-17 (580,15f; 581,30f; 583,23f; 588,17ff). 82
74
D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
Äußerungen Luthers bezüglich hermeneutischer Überlegungen, die ihn zu bestimmten Aussagen seiner Auslegung gebracht haben, läßt Dietrich aus (z.B. 521 zu 3; 577,3; 584,5f), was darin sein Motiv haben kann, daß Luther schon in der vorhergehenden Auslegung auf diese Weise Schlußfolgerungen gezogen hat, ohne besonders auf die dahinterstehende Überlegung zu verweisen (s. z.B. 567,1 l f / 2 3 f ) . Dennoch ist bei einem Vergleich zwischen Nachschrift und Druck der völlige Ausfall aller Aussagen über die „a contrario"-Schlußfolgerungen im Drucktext auffällig: - Hs 576,8ff Supra autem dixi per totum psalmum, quod loquitur ( < Mosen loqui) non solum de ira temporali sed eterna; ergo ( < certum est, quod) a contrario hic de (vita et > ) salute eterna, non consolatione seculi ( < carnis) . . .
Dr 576,19ff Sicut autem supra, cum totum humanum genus occidit, de morte et ira Dei aeterna locutus est, Ita hic quoque non de aliqua consolatione carnis in hoc saeculo, sed de aeterna vita.
- Hs 577,10-13 1. ( < parte tractavit) peccatum et poenam (aeternam) peccati originalis, ergo iam contrarium. Α contrario eternam mortem, iram infinitam ob oculos posuit. Ergo hic (de > ) eternam vitam petit ( < loquitur) et infinitam salutem proponit. ((alioqui esset, ac si quis velit rogare loco amovendi istius maximi terroris 1 par denarios))
Dr 577,25-578,17 Loquitur enim de conversione totius irae et mortis, non temporalis, sed aeternae. Quid enim aliud rogaret loco illorum terrorum? Quid solatii in eo esset, si unum aut alterum diem transigeremus hilarem? Ergo loquitur de vita et salute infinita.
- Hs 581,Iff Ergo cum nunc petat misericordiam, consequens est, quod petat misericordiam contrariam, quae sit medela et salus huius morbi.
Dr 581,13ff Cum itaque nunc petat misericordiam, certa consequentia sequitur eum talem misericordiam petere, quae sit medela huius communis et universalis mali.
Die Auslegungen, die Luther durch die Überlegung „vom Gegenteil her" gewinnt, werden zwar im Druck übernommen, aber an der Mitteilung dieser Art der Schlußfolgerung hat Dietrich kein Interesse. Dietrichs Umgang mit Luthers Übersetzungen und Hinweisen zur Hermeneutik ist somit nicht von der Art, daß man dem Drucktext sorglos, d.h. ohne vergleichenden Blick in die Nachschrift trauen könnte. Zuviele wichtige Äußerungen Luthers hat Dietrich aus eigenem Ermessen ausgelassen.
III. Dietrichs Bearbeitung der Vorlesungsnachschrift
75
6. Persönliche Äußerungen Sowohl Schulze als auch Meinhold haben in ihren Untersuchungen zu Luthers Galaterbrief- und Genesisvorlesung die darin enthaltenen persönlichen Äußerungen Luthers untersucht 84 . Beide kommen dabei zu dem Ergebnis, daß diese Äußerungen Luthers im Druck jeweils ausgelassen, überarbeitet oder eigenmächtig von den Bearbeitern Rörer bzw. Dietrich eingefügt worden sind 85 . Schulze kommt sogar zu dem Urteil, daß „der Luther der H s . . . ein anderer als der des D r (ist)" 86 . Ein Vergleich des Drucks der Vorlesung über Psalm 90 mit dem Kollegheft Rörers zeigt, daß Dietrich nur eine persönliche Äußerung Luthers sehr stark bearbeitet hat, wie der folgende Vergleich zeigt: - Hs 543 zu 6 ((Ego etiam sum Doctor, sed sensi me erigi uno vocabulo eius, qui forte nullum verbum in sacra scriptura didicit. . . . ) )
D r 543,25ff Sum quidem D o c t o r et fatentur multi se a me non mediocriter adiutos in sacris literis, Sed hoc mihi saepe usu venit, ut sentirem me adiuvari et erigi uno verbo Fratris, qui se mihi nullo modo putabat parem esse.
Luther, der nach der Aussage in Rörers Kollegheft nur auf sein Doktoramt hinweist, fügt durch Dietrichs Bearbeitung im Druck noch hinzu, daß viele Menschen „bekennen" (!), daß er sie „nicht wenig gefördert habe in der Heiligen Schrift". Sprach Luther ursprünglich von der Hilfe durch „uno vocabulo eius", so liest man im Druck „uno verbo Fratris", womit Dietrich zum einen den präziseren Begriff „verbum" wählt, zum anderen das unbestimmte „eius" durch „Fratris" ersetzt. Am Ende läßt Dietrich Luther im Druck nachdrücklich seine Größe im Vergleich zu dem dort bezeichneten „Bruder" herausstellen, die dieser sogar selber anerkennt („qui se mihi nullo modo putabat parem esse"). Hier ist Luther, der aus der Nachschrift spricht, tatsächlich ein anderer Luther als der des Drucks, in dem er als der unvergleichbar große Doktor der Theologie erscheint. Weitere persönlich-biographische Bemerkungen sind - wie in B.II.2.f) gesehen - nicht sehr häufig in der Auslegung des 90. Psalms. Von diesen hat Dietrich eine persönliche Notiz ausgelassen (561,7f) 87 , die anderen übernommen 88 und ausgestaltet, ohne jedoch Luther dabei in einem anderen Licht erscheinen zu lassen (501,1 l f f / 2 2 - 2 6 ; 540,7-10/17f; 564,69/22-27). Allerdings läßt Dietrich zweimal den Hinweis Luthers aus, nach 84
Schulze, Galaterbrief, S. 40-60; Meinhold, Genesisvorlesung, S. 158-180. Schulze, Galaterbrief, S. 41f; Meinhold, Genesisvorlesung, S. 173 f. 86 Schulze, Galaterbrief, S.42. 87 Diese Beobachtung machte schon Meinhold, Genesisvorlesung, S. 166 f. 88 Die persönliche Anmerkung Luthers betreffs seines Alters wird von Dietrich korrigiert, 5 2 4 , 1 1 / 2 6 - 5 2 5 , 1 3 ) ; s.u. D.IV.l.b). 85
76
D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
dem er selbst in der Anfechtung der Gotteslästerung „expertus" ist (540,8; 543,7). Das offene Bekenntnis Luthers vor seinen Hörern wird Dietrich für den Druck bzw. für das im Druck enthaltene Lutherbild als unpassend erschienen sein. Was Luthers dramatischen Auslegungsstil betrifft, bei dem er sich derart in die Situation und Gefühle biblischer Gestalten bzw. Gottes hineinversetzen kann, daß er an ihrer Stelle in der 1. Person Singular spricht, so zeigt sich Dietrich an der Wiedergabe dieser charakteristischen Auslegungsweise Luthers im Druck uninteressiert. Diesbezügliche Äußerungen Luthers werden von ihm entweder ausgelassen (z.B. 547,5f) oder allgemein formuliert, wie z.B.: - Hs 505,2ff . . . ut Eliae tempore ( < Abrahae tempore), qui amiserat Ecclesiam ex oculis, dicit: (altaria tua > ) 'prophetas tuos?' Cultum Dei video vastatum, gubernationem, populum, i.e. prophetas occisos.
Dr 505,18ff Sicut sub Elia, ubi impius Rex Ahab veris cultibus interdixerat et Prophetas magno numero crudeliter occiderat, Ita ut Elias quaereretur se solum esse reliquum servum veri Dei.
- Hs 533,4-7 Ibi subiungit 'mortem' in vitam et facit spem, quod post mortem resuscitabimur in vitam aeternam. Ego contero vos ( < Sed hic invertit ordinem); tarnen retinet suum verbum, ut homines iterum reviviscant. D r 533,16ff . . . in tertio versu primo loco mortem ponit et deinde subiungit de vita, ut spem occultam ostendat, quod post mortem resuscitabimur et mors illa corporalis in veram et aeternam vitam terminabitur.
- Hs 547,3ff Sed Deus promisit contritis ( < sie vulneratis cordibus) propitiationem et graciam in Christo: Ideo humiliari te, sagittari te permisi, ut gemeres ad me; quando suspirium mortis ad me ( < tunc veniam), etc.
Dr 547,19f Ille (seil. Deus) promisit sie vulneratis cordibus gratiam et ideo humiliari nos sinit, ut ad eum gemamus et suspiremus.
Neben diesen Auslassungen kann Dietrich aber häufig durch kurze Wendungen in der 1. Person Singular auf Luther als die Person des Auslegenden verweisen, z.B.: - Hs — Dr 514,24f . . . Itaque, cum hoc clarius esset, malui eo uti.
III. Dietrichs Bearbeitung der Vorlesungsnachschrift
77
- Hs — D r 529,20f H a e c si nos non satis de nostra vita docent, nescio quid possit dici plenius.
- H s 534,3 Ipse (seil. Deus) inspicit sigillum, ut geschnitten ( < ist).
D r 533,31-534,11 . . . (Deus, ut utar similitudine hac, ipsam gemmam inspicit, . . . )
Daneben finden sich des öfteren Wendungen wie z.B. „ut sie dicam" (z.B 513,30; 562,25); „ut sie loquar" (z.B. 534,20f; 560,16); „(ut) (supra) dixi" (z.B. 533,16; 552,17); „sicut antea dixi" (541,20); „(cum) dico" (498,20; 545,13). Der Leser wird durch diese zahlreichen von Dietrich eingefügten Formulierungen nachdrücklich daran erinnert, daß er eine Auslegung Luthers vor Augen hat. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß Dietrich die persönlichen Äußerungen Luthers aus Rörers Kollegheft zwar zum Teil übernommen hat, wenn auch einmal in völlig veränderter Form. Der dramatische Auslegungsstil findet sich im Druck dagegen nicht wieder. Stattdessen ist Dietrich daran interessiert, daß dem Leser der Auslegung im Druck stets Luther als Ausleger gegenwärtig ist.
7. Zeitgeschichtliche Bezugnahmen An drei Stellen lag in der Auslegung Luthers gemäß der Nachschrift eine zeitgeschichtliche Bezugnahme im Bereich des Wahrscheinlichen. Dietrichs Umgang mit diesen Aussagen ist beachtenswert: - Hs 505,8ff Observandum etiam, ne erremus cum Papistis et Schwermeris, qui imaginantur Ecclesiam ( < in sanetitate perfecta) sine scandalis, ruga et maculis ( < da wird nicht aus).
D r 505,28f . . . Ecclesia non est in sanetitate perfecta, sine omnibus scandalis et maculis, sicut Papistae somniant.
- Hs 506,7 Quod est reliquum peccati, offendit istos Schwermeros ( < dei).
spirituosos servos
D r 506,24ff Quod igitur peccati reliquum est, offendit quidem spirituosos Donatistas, Manicheos, Papistas, . . .
D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
78
- Hs 590,llf ... videmus, ne irruant sectae, pervertant Sacramentum, baptismum, depravent verbum. D r 590,28f ... videmus, ne irruant Sectae pervertentes Sacramenta et eorum usum, depravantes verbum etc. Dietrich hat im Druck an den Stellen, an denen in der Nachschrift eine Bezugnahme Luthers auf die Täufer angenommen werden kann, diese Bezugnahmen ausgelassen. Dieses Vorgehen ist von daher einsichtig, als daß im J a h r der Druckveröffentlichung (1541) die Täuferbewegung nicht mehr die Größe und Bedeutung hatte wie vor dem Ende des „Täuferreiches zu Münster". Der von Luther intendierte Zeitbezug ist so für Dietrich hinfällig geworden 8 9 , was sich in der Streichung der Bezugnahmen zeigt. Die Auslegung im Druck erhält dadurch einen „zeitlosen" Charakter.
8. Drastische Ausdrucksweise Zum U m g a n g mit Luthers drastischer Ausdrucksweise hatte Dietrich drei formale Möglichkeiten: er konnte derartige Aussagen übernehmen, auslassen oder neu formulieren. Tatsächlich hat er für den Druck keine der für Luthers Vorlesungsstil charakteristischen Äußerungen so übernommen, wie sie sich in der Nachschrift finden 9 0 . Viele von ihnen hat er ausgelassen (z.B. 5 0 1 , l f ; 536,3; 544 zu 2; 545 zu 8; 561,Iff; 567 zu 12), andere, wie die folgenden Beispiele zeigen, abgemildert: - H s 552,5 Ist unsers Herrn Gotts comoedia, sentire peccatum, mortem etc. D r 552,15f Haec est Epitasis eius Fabulae, quam nobiscum ludit Deus, ut ambulemus in sensu peccatorum nostrorum et mortis. - H s 573,2f Quot sunt, qui metuunt mortem? 10 inter ( < Zehen hundert tausent sind irgend 10)1000000.
D r 572,29-573,14 At diligentius intuenti haec apparet inter decern millia vix decern inveniri, qui haec sie aestiment, ... 8 9 Auf den ebenfalls zu beobachtenden Einfluß der veränderten Zeitverhältnisse auf die Erstellung des Drucks der Galaterbriefvorlesung durch R ö r e r weist Schulze, Galaterbrief, S. 6 4 - 6 7 , hin. , 0 Schulze, aaO., S. 28: „Besonders interessant ist eine Reihe kühner theologischer Formulierungen, die gerade deshalb für getreue Nachschrift zeugen, weil sie in D r abgeschwächt oder ganz fortgefallen sind . . . " .
III. Dietrichs Bearbeitung der Vorlesungsnachschrift
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- Hs 581,3f Alioqui quid esset petitio, dicere: Tu es iratus in aeternum, - gib mir ein stuck semel?
D r 581,15f Alioqui quid aut cur peteret contra infinitam calamitatera aliquod leve et exiguum beneficium paucorum annorum?
Zwar läßt sich die in der Nachschrift enthaltene Hauptaussage jeweils im Druck wiederfinden, allerdings in einer abgemilderten Formulierung, die z.B. in 573,2f/572,29-573,14 die Spitze der Aussage abbricht. Die für Luther typische Art der knappen, aber genau treffenden Schlußfolgerungen, die hier ebenfalls zur drastischen Ausdrucksweise gezählt werden, hat Dietrich entweder ausgelassen (s. 578,8f) oder in abgemilderter Formulierung wiedergegeben, z.B.: - Hs 495,7f Sic 1. Tabula dat simpliciter vitam et resurrectionem mortuorum.
D r 495,19 Ibi (seil, ubicunque agitur de praeeepto primae tabulae) necessario includitur fidem et spes resurrectionis mortuorum.
9. Ergebnis Die Untersuchung von Dietrichs Umgang mit der Vorlesungsnachchrift hat ergeben, daß er den größten Teil der in B.II.2.a)-h) näher betrachteten Charakteristika des Vortragsstils Luthers bei der Erstellung des Drucktextes fortfallen ließ. So findet sich darin weder die Anrede der H ö r e r in der 2. Person Plural noch die von Luther häufig benutzte deutsche Sprache. Aufzählungen und Vergleiche, die Luther zur Verdeutlichung verwendete, sind gekürzt oder ausgelassen worden, ebenso fehlen die kritischen Äußerungen zu Übersetzungen wie die Aussagen zur Bedeutung der hebräischen Sprache und hermeneutische Überlegungen. Gewisse persönliche Bemerkungen Luthers fehlen ebenso wie der für ihn charakteristische dramatische Auslegungsstil. Auch zeitgeschichtliche Bezugnahmen lassen sich im Druck nicht mehr ausmachen. Schließlich ist die bekannte drastische Ausdrucksweise entweder ausgelassen oder stark abgemildert worden. Neben diesen Auslassungen haben sich von Dietrich eigenmächtig vorgenommene Hinzufügungen aufzeigen lassen. Die Anrede in der 2. Person Singular ist stark ausgebaut worden mit Bezug auf den Leser des Drucks. In den Fällen, in denen Dietrich sich zu einer Übersetzung von deutschen (Teil)Sätzen Luthers entschlossen hat, sind mit diesen Übersetzungen teilweise neue Aussageinhalte entstanden. Wenn auch in seltener Zahl, so haben sich doch auch von Dietrich hinzugefügte Vergleiche im Druck gefunden wie eine von ihm mit neuen Zügen versehene persönliche Äuße-
80
D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
rung Luthers. Schon diese ersten Befunde beeinträchtigen den Quellenwert der Druckausgabe in nicht geringem Maße 9 1 . Als Hauptergebnis dieses Teils der Untersuchung bleibt festzuhalten, daß Dietrich an einer Wiedergabe der Vorlesungsnachschrift als solcher nicht interessiert gewesen ist. Demgemäß hat er alle Charakteristika des Vortrags : stils Luthers f ü r den Druck getilgt. D a ß diese Auslegung des 90. Psalms einst in Form eines Kollegs gegeben worden ist, kann der Leser nur noch der Drucküberschrift „Per D . Doctorem Martinum Lutherum in Schola Vitebergensi Anno 1534. publice absoluta." (484,lOf) entnehmen. Bezeichnenderweise verwendet Dietrich in dieser Überschrift nicht einmal mehr die Bezeichnung „praelectio", die Rörer an den Beginn seiner Mitschrift des ersten Vorlesungstages geschrieben hat. Statt „Praelectio . . . in orationem Mosi . . . " (484,1) betitelt Dietrich seine Druckausgabe „Enarratio Psalmi X C " (484,9) 92 . Unter diesem Titel konnte der Leser des Drucks eine vollständige („enarrare"!) und korrekte Darlegung des 90. Psalms erwarten. Dieser Enarratio-Charakter ist der ursprünglichen Auslegung innerhalb der Form einer Vorlesung, wie im folgenden anhand Dietrichs weiterer Bearbeitung der Nachschrift gezeigt werden kann, durchaus nicht eigen. Ziel der mehrschichtigen Bearbeitungsweise ist die Herstellung der „Enarratio Psalmi X C " , wie sie dem Leser mit dem Drucktext vorliegt. Die weitere Untersuchung wird dieser Bearbeitungstätigkeit Dietrichs nachgehen.
IV. Der Charakter der Auslegung im Druck 1. „Enarratio Psalmi X C " a) Vervollständigung der Auslegung An zwei Stellen hat Dietrich die Auslegung des 90. Psalms, wie sie in Rörers Kollegheft vorliegt, als nicht ausreichend empfunden. N u r so erklärt sich der folgende Zusatz im Druck: - Hs — D r 564,19ff Quod in altera parte versus est: TRANSITUS ENIM CELER est et avolamus, Non habet opus longa explicatione. Nam experientia discimus veram esse sententiam. " s.u. E. 92 Seine ersten Editionen der Wittenberger Zeit gab Dietrich noch unter dem Titel „Praelectio" heraus, sogar der Druck der Stufenpsalmen sowie Michas und Hoseas enthält im Titel die Aussage „(ex) praelectionibus". Erst seit der Nürnberger Zeit verwendete Dietrich vorzugsweise den Titel „Enarratio", vgl. Klaus, Dietrich, S. 14-19.
IV. D e r C h a r a k t e r der Auslegung im D r u c k
81
Luther hatte im Kolleg Ps 90,10b nicht gesondert ausgelegt, was für den auf Vollständigkeit der Auslegung innerhalb der „Enarratio" bedachten Dietrich ein Anlaß zur Einfügung dieses Zusatzes gewesen ist. Vor einer längeren Auslegung dieses Versteiles hält sich Dietrich aber zurück. Er verweist lediglich darauf, daß die Wahrheit dieser biblischen Aussage durch die „experientia" (564,20f) erwiesen wird. Gerade das hat Luther aber in diesem Zusammenhang weder an dieser noch an einer anderen Stelle gesagt. Luther verweist nur im Blick auf die Anfechtung der Christen - besonders durch blasphemische Gedanken - auf die bzw. seine eigene „experientia" (z.B. 515,7f; 540,7ff; 542,9f; 543,2 f.7). Was das kurze und schnell vergehende Leben der Menschen angeht, so betont Luther an mehreren Stellen seiner Auslegung, daß dieses nur von „geistlichen und durch das Wort erleuchteten Augen" wahrgenommen werden kann: „... humanum genus ( < ratio) ( < quae) prae sua caecitate non aestimat miseram calamitatem ( < iram), brevitatem, non sentit, et tarnen ob oculos. ... H o c vident spirituales oculi es illuminati per verbum, illam calamitatem et brevitatem." (524,6-9). Der Hinweis Dietrichs auf die Belehrungskraft der „experientia" hat somit auch inhaltlich in diesem Zusammenhang keinen Anhalt bei Luther. In Hs 526,5-527,4 gibt Luther eine Auslegung des Bildes der Nachtwache aus Ps 90,4. Er deutet dieses Bild als Gleichnis für die Kürze des Lebens: „Ideo nihil brevius quam nox" (526,9). Für den Druck übernimmt Dietrich diese Deutung (526,18-26), fügt ihm aber eine zweite von sich aus hinzu: - Hs — D r 527,11-19 N o n autem inepta est sententia, quam alii sequuntur, qui similitudinem de Vigilia nocturna eo a c c o m m o d a n t , q u o d , sicut vices sunt vigiliarum, Ita q u o q u e vices sunt in hac vita. Q u i hodie vixit et tanquam in statione sua vigilavit, per m o r t e m quasi evocatur et succedit alius. N o n enim excubiae semper p e r eosdem milities aguntur, Qui hac h o r a vigilavit, discedit et succedit alius. Ita, inquit, alii moriuntur, alii in vitam nascuntur et quasi succedunt, sed eadem conditione qua priores, ut completo vigiliae tempore discedant ipsi quoque. N u n c sequuntur aliae Similitudines.
Der Grund für diese Ergänzung mag darin liegen, daß Dietrich die Kenntnis dieser Deutung bei anderen Theologen („alii") vorgefunden hat. Im Druck legt Dietrich nun diese, ihm sicherlich zusagende Auffassung Luther in den Mund, der sie hier zustimmend vorträgt („Non autem inepta est sententia ..."). Inhaltlich steht diese hinzugefügte Deutung durchaus in Bezug zu Aussagen Luthers, die er bei der Auslegung von Ps 90,3 gemacht hat: „(Sic > ) Una sententia haurit et econtra constituit (universum > ) genus humanum, . . . Sic totum mundum 'in contentionem' ponit ( < vertit) et 'revertis' in generationem et vitam, sed calamitosam. Et qui novi, iterum ponuntur in contritionem, ..." (521,2-6). Dadurch, daß Dietrich diesen
82
D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
Gedanken kurz darauf mit der von ihm hinzugefügten Deutung des Gleichnisses am Ende von V.4 noch einmal von Luther äußern läßt, bekommt der Leser den Eindruck, daß Luther diesen Gedanken besonders betonen wollte, was aber nicht als ursprünglich gelten kann. Mit der von Dietrich besorgten Vervollständigung der Auslegung wird diese, wie zusammenfassend festgestellt werden kann, um eine kurze Versauslegung und eine Deutung reicher, die keinen Anhalt in dem von Luther ursprünglich Gesagten hat. b)
Korrekturen
Dietrich konnte den Text der Nachschrift nicht übernehmen, wenn dieser offensichtliche Fehler oder Ungenauigkeiten beinhaltete, die auf Luther zurückzuführen sind. Wo Dietrich diese erkannte, sah er sich zu Korrekturen veranlaßt, die er auf verschiedene Weise vornahm. - Hs 524,11 Ego (sum natus annos > ) 54, ist ( < hin gangen) quasi heut fru geborn.
Dr 524,26-525,14 Ego iam sum natus annos 51, hoc totum tempus, cum recte considero, sie abiit, ac si hoc die essem natus, ...
Dietrich gibt im Druck das richtige Alter Luthers zur Zeit der Vorlesung wieder, indem er die Angabe der Jahre korrigiert. - Hs 547,5ff Moses in mari rubro clamavit ( < Moses hat in mari rubro freylich auch geschrieren). ... 'Quid clamas?' Non schrey, sed Crede ( < credo);
Dr 548,lOf Ac sentit Moses periculum hoc, Itaque, cum ipse ore taceret, tarnen Dominus dicit: 'Quid clamas?'
Luther schließt im Kolleg aus der Frage Gottes an Mose in Ex 14,15, daß dieser in der Not tatsächlich zu Gott geschrien hat, auch wenn dieses Schreien nicht in der Schrift steht. Letzteres wird Dietrich veranlaßt haben, Luthers diesbezügliche Aussage insofern abzuändern, daß sie nicht mehr allzu frei über das in der Bibel Berichtete hinausgeht. Im Druck läßt Dietrich Luther nun ausdrücklich feststellen, daß Mose mit dem Mund geschwiegen hat („cum ipse ore taceret"). Die Frage Gottes bezieht sich, wie Dietrich nachträgt, auf das Schreien des Herzens von Mose: „Sicut igitur Moses in illo periculo non periit nec ideo tentatus est, ut periret, sed ut adiuvaretur per spiritum et corde suo clamaret ad Deum ..." (548,13f). Luthers Auslegung hat demnach für Dietrich an der Schrift ihr kritisches Korrektiv.
IV. Der Charakter der Auslegung im Druck
83
- Hs 568,llf A principio audivistis sic, quod Moses significat per omnes versus aliam esse vitam post hanc vitam.
D r 568,25f AUdivimus hactenus a principio significari per Mosen, Quod post hanc vitam sit alia vita . . .
Für die Übernahme dieses Satzes aus der Nachschrift in den D r u c k läßt Dietrich die Wendung „per omnes versus" (568,1 l f ) aus (vgl. 576,8f/19f). Es ist nämlich leicht festzustellen, daß Luther in seiner Auslegung nicht bei allen Versen darauf hinweist, daß Mose ein anderes Leben jenseits dieses Lebens bezeugt. Diese f ü r Dietrichs Empfinden zu ungenaue Formulierung wird f ü r den Druck per Auslassung korrigiert. c) Gliederung Luthers Auslegung des 90. Psalms gliedert sich im Kolleg wie im D r u c k zunächst nach den einzelnen Versen des Psalms. Bei der Kennzeichnung von darin enthaltenen Sinnabschnitten durch Absätze folgt Dietrich im Druck zum einen den diesbezüglichen Absatzzeichen, die Rörer in der Überarbeitung der Nachschrift angemerkt hat 9 3 . D e r überwiegende Teil der Absätze geht allerdings auf Dietrichs eigene Entscheidung zurück. N u r selten führt Luther während seiner Auslegung eine numerische Gliederung an (z.B. 526,4f). D a f ü r arbeitet Dietrich eine solche des öfteren von sich aus in den Drucktext ein, z.B.: - H s 505 zu 7 ((* D u o tenenda de Ecclesia: quod semper maneat et quod non sit in perfecta sanetitate *))
D r 505,25-28 . . . notandum est, Primum, Quod semper fuerunt, sunt et erunt, qui confitentur Deum, . . . . Secundum, Quod Ecclesia non est in sanetitate perfecta, . . .
- H s 520,3ff Ratio humana non intelligit iram Dei et calamitatem humanum, multominus, ubi sensit, novit (postea > ) remedium contra iram . . .
D r 520,17ff Ratio utrunque nescit, Primum Quod mors . . . per iram Dei homini arrogata sit, Deinde Quod contra iram hanc sit remedium . . .
- H s 541,6-10 Ibi ( < . . . ) prudenter gerenda conscientia, ne approbemus has cogitationes, ut faciunt impii: desperant. . . . Et invocemus Deum, quia istae cogitationes immittuntur, ((* . . . *)) non ut debeamus secundum eas iudicare, sed ut discas belligerare et luctari contra peccatum, mortem et iram divinam. " s. Freitag, Vorwort, S.481; in der Nachschrift s. z.B. 511 zu 8.
84
D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
Dr 541,19-22 Ibi consilium hoc sequendum est, Primum, ut non ideo desperemus de salute, sicut antea dixi, Secundo, ut reluctemur cogitationibus talibus nec eas approbemus aut eis indulgeamus, et simul, ut per Orationem seriam flagitemus a Deo auxilium.
Durch die von Dietrich eingeführte gedankliche Gliederung bekommt Luthers Auslegung im Druck für den Leser eine stärker gegliederte Form, als sie der ursprünglichen Vorlesung eigen war. d) Bezugnahmen
auf den
Urtext
Bei der Untersuchung der Nachschrift Rörers ist gezeigt worden, daß Luther in einem hohen Maße während der Vorlesung auf den Urtext zurückgegriffen hat 94 . An der ursprünglichen Bedeutung hebräischer Worte mußten sich in bestimmten Fällen sogar deren lateinische Ubersetzungen messen lassen (490,6-10; 502,4). Luther ließ es nur selten bei dem bloßen Hinweis, sondern nannte die entsprechenden Wörter in hebräischer Sprache, die Rörer bzw. Dietrich als Nachschreiber sodann in lateinischer Umschrift aufzeichneten. Für den Druck übernimmt Dietrich den Bezug Luthers auf den Urtext, wobei er in den Fällen, in denen Luther das hebräische Wort nicht genannt hat, dieses selbst in Umschrift einfügt, z.B.: - Hs 509,8ff ((* Cur dicit 'nascerentur' *)) Dicit montes 'natos' et terram et omnia etc., significat quasi proprietatem et conditionem creationis. Non utitur vocabulo 'creavit', 'fecit'. ((* Necessario significat proprietatem creaturarum, quod non vult dicere 'creavit' aut 'fecit' *))
Dr 509,17f Verbum (ijladu) significantius est, quam si dixisset: priusquam crearentur aut fierent montes.
- Hs 510,6 'Parturiretur': est ( < significat) formari, quemadmodum ( < sicut) foetus vel embryo in utero ( < nullo instrumenta adhibito). ((* 'Parturire' significat ambobus verbis facilitatem creandi *))
Dr 509,27f Verbum (holel) proprie significat formari, sicut embrio formatur in utero nullo adhibito instrumento.
Abgesehen von drei z.T. eher beiläufigen Anführungen hebräischer Ausdrücke 95 finden sich im Druck alle von Luther im Kolleg genannten wieder 96 . Zudem weist Dietrich mehrmals, wie schon bei den zwei letzten ,4
s.o. B.II.2.e). 504,12; 591,8; 593,4. " Dietrich kann dabei zuweilen die hebräische Aussprache Luthers verbessern: „scherem"/ "zaram" (527,8/528,13); „paul"/"paal" (583,12/25). Zu 588,2/20 s. 588 Anm.2 zu Hs. 95
IV. Der Charakter der Auslegung im Druck
85
Beispielen gesehen, auf den Urtext hin, wo Luther es ursprünglich nicht getan hatte: „ijladu" (509,17); „holel" (509,27); „halaph" (531,14f.22); „elymenu" (551,18); „panu" (555,22); „nabia" (574,16); „Naim" (590,15); „alenu" (590,24). Bemerkenswert ist ferner der Beginn der Auslegung von Ps 90,3 im Druck. Dietrich zitiert den Vers zunächst nach der deutschen Ubersetzung Luthers, die er für den Druck in lateinischer Sprache wiedergibt: „QUI FACIS H O M I N E S mori Et dicis: Revertimini, filii hominum." (514,21f). Danach läßt er Luther vor der eigentlichen Auslegung des Verses mit einer Rechtfertigung seiner eigenen Übersetzung im Vergleich zu der wörtlichen Übersetzung des Urtextes beginnen: - Hs — D r 514,23ff Quod in Ebraeo est: Facis hominem reverti ad contritionem, revera aliud nihil est, quam quod nos vertimus: Facis homines mori, Itaque, cum hoc clarius esset, malui eo uti.
Luther sagt damit im Druck, daß ihm die wörtliche Übersetzung aus dem Hebräischen, die sich schon bei Hieronymus findet - und Luther bei seiner ersten Psalmenvorlesung zitierte 97 - zwar bekannt ist, er aber mit seiner Übersetzung der Verständlichkeit Priorität einräumt. Mit dieser Aussage, die Luther von Dietrich in den Mund gelegt wird, trägt letzter folgendem Sachverhalt Rechnung: Luther geht in der Auslegung von Ps 90,3 des öfteren auf die wörtliche Urtextübersetzung ein (s. 516 zu l;6.11f; 521,6; 522 zu 4) 98 , ohne daneben die Frage der Berechtigung seiner eigenen, bekannten Übersetzung anzusprechen. Das Verhältnis beider wird deshalb von Dietrich im Druck mit dem Hinweis auf die Klarheit von Luthers Übersetzung geklärt. Damit hat Dietrich in der Tat einen leitenden Gesichtspunkt der Übersetzungsarbeit Luthers erkannt und benannt, den dieser selbst des öfteren, z.B. in den Dietrich sicherlich bekannten „Summarien über die Psalmen und Ursachen des Dolmetschens" 99 , geäußert hat, wenn auch nicht in der Vorlesung über Psalm 90. Die Bezugnahme auf den Urtext erweist sich, wie dargelegt, im Druck als über die ursprüngliche Auslegung gemäß der Nachschrift hinausgehend. Da sich Dietrich erst ab 1540 intensiv mit dem Erlernen der hebräischen Sprache beschäftigte 100 , darf man in der Druckbearbeitung aus dem Jahr 1541 einen ersten Niederschlag des neu Erlernten sehen. " s. 516 Anm.l zu Hs. 98 Luther kann auch übersetzen: „Vertis hominem in conflictionem" (516,1) bzw. „in humilitatem" (520,7), was Dietrich aber nicht aufnimmt. " vgl. z.B. die Ausführungen Luthers zur Übersetzung von Psalm 63,6 in WA 38,10,21-29; s.a. Stolt, Luthers Ubersetzungstheorie, S. 241-252. Zur Zeit der Entstehung der „Summarien" war Dietrich Luthers Amanuensis, s. Klaus, Dietrich, S. 96-110. 100 Klaus, Dietrich, S.345.
86
D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
Seine häufige Bezugnahme auf den hebräischen Text ermöglicht aber auch eine genauere Spezifizierung des von Dietrich anvisierten Leserkreises. D i e „Enarratio Psalmi X C " richtet sich an die des Hebräischen kundigen Pfarrer bzw. Theologen, „quos D e u s ad docendas Ecclesias vocavit" (484,13), wie sie Luther selbst in seinem Vorwort zur Druckausgabe ansprechen kann, richtete sich doch auch seine ursprüngliche Vorlesung an der Wittenberger Universität an die „futuri doctores Ecclesiarum" (490,8f). e) Umgang mit
Zitaten
D i e von Luther während der Vorlesung angeführten biblischen und klassischen Zitate werden von Dietrich für den Druck entweder übernommen oder ausgelassen. D i e Auslassungen können durch mehrere Faktoren begründet sein: Wenn Luther im Kolleg zwei Zitate nacheinander nennt, die sich inhaltlich entsprechen, übernimmt Dietrich, bei dem schon in D.III.4. ein H a n g zur Straffung erkannt worden ist, nur eines von ihnen, z.B.: - H s 485 zu 7 ( < Sicut Martialis: Summum nec metuas diem nec optes. Et Horatius: Quis seit, an hodiernae crastina tempora vitae) D r 485,16f ... Sicut ille dixit: Summum nec metuas diem nec optes, ... - H s 487,1 Off 'Da nobis, ut intelligamus numerum etc., ut erudiamur corde'. Sic David imitatus Mosen: 'Numerum, ut sciam, quid desit.' D r 487,25f ... docet (seil. Moses) orare, ut Deus 'ostendit illis numerum Dierum esse brevem' etc. Dietrich läßt außerdem einzelne Zitate aus, wenn ihm diese im Kontext überflüssig oder gar unpassend erscheinen. Auch Wiederholungen von Zitaten, die in Luthers Auslegung zu beobachten sind, sucht Dietrich durch deren Auslassung zu vermeiden, z.B.: - Hs 517,6-9 ((* Horatius: Pulvis et umbra sumus > *)) Poetae docuerunt, sicut milites mortem contemnere et calamitates. Horatius: Pulvis et umbra sumus. Summum nec metuas diem nec optes. Si mors contempta esset contenta, sed Quid prodest eam contemnere, si non datur (etiam > ) vincere, quam debemus in aetemum ferre? D r 517,20ff . . . sicut milites, qui palam contemnunt mortem. Sed quid profecisti, etiamsi mortem extreme contemnas? Num ideo etiam mortem vicisti?
IV. Der Charakter der Auslegung im Druck
87
- Hs 553,13-554,1 sic sis nur demutig ( < und sein mors davon), postea mutationem dextera excelsi erzeigen ( ( < Es sol nur momentanea tribulatio sein, quae operatur pondus eternae gloriae)) Ut habes: 'Momentaneum', 2. Cor. 4. D r 553,25ff ... contriti et humiliati ad moriendum speremus per gratiam Dei aeternum pondus gloriae. - H s 563,7f Cicero: ghen da hin, nichtig. Est rethoricum exemplum, wie man sol reden de sachen. Dr — In den Fällen, in denen Dietrich die von Luther genannten biblischen und klassischen Zitate aufnimmt, zitiert er diese jeweils im korrekten Wortlaut, z.B.: - H s 493 zu 11 (Nam verus est, quod Cato dixit > ) Qui metuit mortem? (Cato) ( < perdit id ipsum, quod vivit) D r 493,29f Verum enim est, quod Cato dixit: Qui metuit mortem, etiam id, quod vivit, perdit. - H s 506 zu 4 ((* Sed hec non est Ecclesia, quia debet manere sub oratione dominica et dicere: 'Dimitte' etc. *)) D r 506,18ff Nam Ecclesia vera est, quae orat et ex fide ac serio orat: 'Dimitte nobis debita nostra, sicut nos dimittimus debitoribus nostris.' - H s 530 zu 2 ((Optima quaeque fugit, subeunt seniumque pallorque)) D r 530,15ff Optima quaeque dies miseris mortalibus aevi Prima fugit, Subeunt morbi tristisque senectus Et labor, Et durae rapit inclementia mortis. Häufiger kann Dietrich aus eigenem Ermessen Zitate in die Auslegung einfügen, die von Luther gar nicht genannt worden sind. Dabei ist es Dietrich möglich, entgegen seiner sonst eher straffenden Bearbeitungsweise, mehrere Zitate aneinanderzureihen. Diese Besonderheit der Hinzufügung von Zitaten ist schon von Koffmane bei Dietrichs Editionen der Vorlesungen über Joel, Arnos und Obadja (Druckausgabe 1536) beobachtet worden und kann seither als ein Kennzeichen seiner Bearbeitungsweise gelten 1 0 1 . 101 Koffmane in W A 13, XXIVf: „ . . . das humanistische Interesse Dietrichs wirkt ein: er will die Edition mit mehr Eleganz der Sprache und Reminiscenzen aus dem klassischen Alterthum
88
D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
D u r c h die hinzugefügten Zitate wächst der gelehrte Charakter der „Enarratio Psalmi X C " b z w . das Bild Luthers als Gelehrten in nicht unerheblichen M a ß e , s. z.B.: -
Hs — D r 485,19f . . . extat notus sed depravatus versiculus ex Sardanapali Epitaphio sumptus: Ede, bibe, lüde, post mortem nulla voluptas.
-
H s 558,4f Ideo poetae (haben > ) fantasirt ex patribus, (quod > ) faciunt (Mercurium alatum > ) Mercurio alas in pedibus. (Hoc) Volat ( < quod volet) irrevocabile ( < verbum). D r 558,14ff H a e c causa fuit, Cur finxerint Poetae Mercurium alatum, Et notum est Epitheton Homericum: Alata verba, Et Ovidius: Volat irrevocabile verbum.
- H s 586,3f . . . ut non dubitemus, sed certificemur, videamus tuam redemptionem, vitam, salutem et iusticiam. Dr 586,2Iff . . . ut corda certa sint de sua redemptione, ut videant vitam, salutem et iusticiam suam, Sicut David petit in Psalmo 51. se 'confirmari spiritu certo'. Auf zwei Besonderheiten des U m g a n g s Dietrichs mit den v o n Luther verwendeten Zitaten sei n o c h hingewiesen. Dietrich kann Zitate derart umformulieren, daß es als solches nicht mehr zu erkennen ist: - H s 520,2f Ideo audiendum est verbum Dei, Ieremias: 'Non abiecit ( < 'filios') ex corde, sed miserebitur'. D r 520,15f Longe melius Moses docet, Quod, etsi abiecerit Deus hominem propter peccatum, Tarnen non sie abiecerit, quin etiam misereri et iuvare eum velit. - Hs 545,8-546,1 Salomon: (Sic sumus volle seu > ) sumus gar 'insensibiles'. D r 545,28102 Similes enim sunt porcorum et plane sine omni sensu . . .
ausstatten. Darum citirt er gelegentlich einen lateinischen Dichter mehr als Luther . . . " ; vgl. Meinhold, Genesisvorlesung, S. 332-341. Hinzuweisen ist dabei allerdings auf folgendes Versehen: jedesmal, wenn Meinhold, aaO., S. 334, die Vorlesung über Psalm 90 nennt, ist die Vorlesung über die Stufenpsalmen gemeint (vgl. aaO., S. 333 und die korrekten Zitate in den Anmerkungen S. 333f). 102 Zu diesem Vorgehen Dietrichs s.u. D.V.4.
IV. Der Charakter der Auslegung im Druck
89
Ferner ist festzustellen, daß Dietrich an einigen Stellen einen Zitatenaustausch vornimmt. Dabei ersetzt er ein von Luther angeführtes Zitat durch ein anderes, das ihm inhaltlich offenbar passender erscheint: - H s 505,5f ... ut (nusquam esset > ) nihil appareret nisi in oculis Dei, qui dixit: 'Reliqui mihi' etc. D r 505,21f ... ut nusquam esset nisi in oculis Dei, qui dicebat 'Se sibi servasse Septem millia, qui non adorarant Baal'. - H s 545,7f nihil terretur, sed tantum nur erger per straffen, ut multos 'percussi vos et non sensistis' ( < lere. 5), Et non doluistis. D r 545,26ff 1 0 3 ... tarnen non requirant Deum, Sicut apud Esaiam est: 'Et non est reversus populus ad percutientem se'. - H s 548,8f Sed nobis fit, ut humilientur, ut ex 'servili' ad 'filialem timorem' veniamus. D r 548,29f Nobis etiam obiiciuntur calamitates illae et omnes aliae tentationes, ut humiliemur, 'non ut damnemur'. Durch diese Art des Umgangs mit den Zitaten büßt der Druck erneut an Zuverlässigkeit hinsichtlich der Wiedergabe dessen ein, was Luther tatsächlich innerhalb der Vorlesung gesagt hat. f ) Präzisierungen
durch Begriffswechel
oder
Hinzufügungen
Ein Vergleich zwischen Rörers Kollegheft und dem darauf basierenden Druck läßt eine Vielzahl von Stellen erkennen, an denen Dietrich einen Begriff, den er in der Nachschrift vorgefunden hat, im Druck durch einen anderen ersetzt, z.B.: - H s 485,3 Nam ilia gravissima et horribilissima res, quae vocatur ( < est) mors, ... D r 485,13f Nam vide illam gravissimam et horribilem poenam, quae est mors ... - H s 512,7 Das ist ( < heisst) 'recte secare verbum' dei: Aliter praedicare (qui) superbis ... D r 512,26 Hoc est 'recte secare verbum', ut aliter doceas superbos ...
103
Zu Dietrichs Vorgehen an dieser Stelle s.u. D.V.4.
90
D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
- Hs 556,7f . . . Moses non solus aut primus dixit,...
Dr 556,18 ... Moses non primus nec solus docuit,...
- Hs 584,llf Das sind divina opera: Iustificare, salvare, dare bona etc.
Dr 584,27f Sunt enim haec vere divina opera: iustificare, vivificare, salvare.
- Hs 585,3f Alioqui diabolus non potuisset Hiob cruciare.
Dr 585,21 . . . nunquam Diabolus Hiobem sie afflixisset.
Schon anhand dieser Beispiele läßt sich zeigen, daß die von Dietrich für den Druck verwendeten Begriffe präziser sind als die von Luther genannten. Dietrich ist offenbar daran interessiert gewesen, Luther möglichst konkret und korrekt reden zu lassen. So nennt Luther z.B. den Tod im Druck nicht mehr „res", sondern „poena" (485,3/14), womit einerseits der unheilsgeschichtliche Zusammenhang, andererseits eine gesetzliche Komponente angedeutet wird. Anstatt ferner das allgemein zu verstehende „dare bona" (584,12) als göttliches Werk zu nennen, redet Luther im Druck von „vivificare" (584,28), das von Gott nach dem „iustificare" (584,28) am Menschen vollzogen wird. Mit dieser erst im Druck hergestellten Reihenfolge und der verwendeten Begrifflichkeit bahnt sich bei Dietrich schon die Betrachtungsweise des „ordo salutis" an. Weiter ist darauf hinzuweisen, daß mit diesen Präzisierungen durch Begriffsaustausch, die sich bei genauem Vergleich auf fast jeder WA-Seite aufzeigen lassen, Dietrich nicht nur die Ausdrucksweise mitsamt der dahinterstehenden theologischen Anschauung verengt, sondern auch inhaltlich zuspitzt z.B. auf sein eigenes Verständnis vom Amt der Kirche (praedicare/docere: 512,7/26) 104 oder vom Amt des Mose (dicere/docere: 556,7f/18) 105 . Insofern und inwieweit diese und andere von Dietrich unternommenen Präzisierungen gegen das von Luther selbst Gesagte zu stehen kommen, wird in D.IV. 1.-5. eigens zu untersuchen sein. Neben dem Austausch von Begriffen finden sich Präzisierungen, die Dietrich durch Hinzufügungen vorgenommen hat, s. z.B.: - Hs 506,7-507,1 Ideo oportet Ecclesiam credi, ubi sunt Sacramenta, verbum etc. et homines amantes, confitentes verbum. 104 Zum Kirchenverständnis im Druck s.u. D.V.3.; zur Verwendung des Wortes „docere" im Druck, s.u. D.IV.2.a). 105 s. den Exkurs „Exemplum Mosi", D.IV.2.a).
IV. D e r Charakter der Auslegung im Druck
91
D r 506,29ff . . . ubi est verbum purum, ubi est administratio Sacramentorum pura, ubi sunt homines amantes verbi et confitentes verbum coram mundo.
Dietrich kann den Satz nicht so für den Druck übernehmen, wie Luther ihn in der Vorlesung geäußert hat. Er präzisiert Luthers Ausdrucksweise durch kurze Hinzufügungen derart, daß der Satz über die Kirche im Druck an den Artikel VII der Confessio Augustana anklingt 106 . - Hs 583, lf ((* Orat adventum Christi *)) Ergo generalibus verbis orat adventum Christi, . . .
D r 582,29f . . . generalibus verbis orat Propheta adventum Christi in carnem.
Die von Dietrich stammende präzisierende Hinzufügung „in carnem" findet sich nicht nur in diesem Beispiel, sondern im Druck auch noch in 583,18; 588,13. Auch hier wird sich Luther für Dietrich nicht so konkret wie möglich ausgedrückt haben. Der eingefügte Titel „Prophet" für Mose hat an dieser Stelle keinen Anhalt in der Nachschrift. Gemäß dieser hat Luther Mose nur einmal so bezeichnet (576,12/24). Dietrich verwendete diese Bezeichnung aber schon vorher in 533,20. - H s 588,5f . . . liberet (seil. D e u s ) ab isto morbo, quem diabolus inflixit in A d a m , . . .
D r 588,24f . . . cum liberas ab e o morbo, quem Satan toti humani generi in A d a m o inflixit,
Luthers Aussage, daß der Teufel Adam den Tod zugefügt hat, ist Dietrich zu wenig weitgehend. Durch die Hinzufügung „toti humani generi" wird die Aussage derart erweitert, daß auch die Gegenwart des Lesers angesprochen ist 107 . - Hs 593,11 . . . est anima confirmanda usque ad mortem, . . .
D r 593,23 . . . Anima est confirmanda verbo D e i usque ad mortem, . . .
Durch den hinzugefügten Hinweis „verbo Dei" trägt Dietrich das Mittel zur Stärkung der Seelen in die Aussage Luthers ein. Diese verdeutlichende Hinzufügung stellt aber zugleich wiederum eine einengende Interpretation Dietrichs dar. 106 107
vgl. BSKL S.61,4ff; zu Dietrichs Kirchenverständnis s.u. D.V.3. s.a. u. D.rV.2.b), D.V.4.
92
D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
Bei der Herstellung des Textes zur „Enarratio Psalmi X C " fügt Dietrich von sich aus auch präzisierende Bemerkungen definitorischen Charakters hinzu, z.B.: - H s 584,13f Sed tarnen Esaias ita distinguit dicens: Non opera Dei, 'aliena', non propria. ((* Esa. 28. *)) Dr 584,31-585,14 Sed Esaias haec distinguit et dicit Quedam esse opera Dei, sed aliena, quaedam autem propria. Propria sunt ilia misericordiae opera, quod remittit peccata, Iustos pronunciat et salvat credentes in Christum. Aliena opera sunt: iudicare, damnare, affligere impoenitentes et incredulos.
Erwähnte Luther während der Vorlesung nur kurz die Scheidung der „fremden" von den „eigentlichen" Werken Gottes bei Jesaja, so nimmt Dietrich diese Erwähnung auf und fügt eine ausgeführte Definition der genannten, aber von Luther nicht weiter beschriebenen Begriffe hinzu. Diese fußt durchaus auf dem Boden von Luthers eigenen Anschauungen zu diesem Thema, zeigt allerdings in der Formulierung (z.B. „Iustos pronunciat") eine signifikante Nähe zu Melanchthons Theologie und Ausdrucksweise in bezug auf eine forensische Auffassung der Rechtfertigung. Daneben finden sich im Druck des öfteren von Dietrich formulierte definitions artige Sätze, die das von Luther an anderer Stelle Gesagte kurz und eingängig zusammenfassen bzw. in Erinnerung rufen (z.B. 513,26; 518,26; 5 2 5,20) 108 . Dabei finden sich auch Sätze aus Dietrichs Feder, die inhaltlich keinen Anhalt in Luthers Auslegung gemäß Rörers Kollegheft haben: „... Oratio est opus primae tabulae ..." (495,18); „Oratio est opus secundi praecepti, ..." (495,31). Besonders auffällig sind die vielen von Dietrich eigenmächtig hinzugefügten Begründungen, mit denen er - durch Luthers Mund - dem Leser gewisse Zusammenhänge verdeutlichen möchte, z.B.: - H s 503,7f Ergo 1. pars psalmi docet fidem oportere esse in oratione, quae triumphat usque in finem et facit, ut omnia accepta ( < angeneme). Dr 503,24ff109 ... videmus in Oratione vera necessariam esse fidem. Haec si adest, triumphamus. Nam propter fidem in Christum Oratio accepta est et placet et impetrat omnia.
- H s 589,8ff Petit ergo, ut reliquum malorum, etsi adsint lapsus etc., tarnen non velit contristari et vitam ac remissionem peccatorum tollere. 108 109
Zu diesem Vorgehen Dietrich s.u. D.IV.2.b). Zur Formel „propter fidem in Christum" s.u. D.V.3.
IV. D e r Charakter der Auslegung im Druck
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D r 589,23-25 Pertinet igitur hoc eo, ut D e u s non velit offendi in eo, quod propter carnem in nobis de peccato reliquum manet, ne velit ideo vitam et remissionem peccatorum nobis adimere, . . .
Die meisten der von Dietrich hinzugefügten Begründungen lauten „propter peccatum" und teilen dem Leser immer wieder nachdrücklich den Grund des Zornes Gottes bzw. des Todes der Menschen mit. Diese Begründung findet sich in gleicher Formulierung nur einmal im Text der ursprünglichen Mitschrift Rörers (519,4f/15). Im Druck findet sie sich zusätzlich an zehn weiteren Stellen, z.B. 110 : - Hs 502,10 'Domine' etc., quamquam sie iratus toti generi humano, . . .
D r 502,22f Ο D o m i n e , quanquam merito irasceris nobis propter peccata nostra . . .
- Hs 520,3f Ratio humana non intelligit iram D e i . . .
D r 520,17f Ratio utrunque nescit, Primum quod mors propter peccatum per iram D e i homini arrogata sit, . . .
- Hs 574,6f . . . (et meminerimus > ) ut semper memores, nos esse sub ira ( < tua), . . .
D r 574,21f . . . ut meminerimus nos esse sub ira tua propter peccatum nostrum.
Auf eine Besonderheit von Dietrichs präzisierender Bearbeitung sei noch gesondert hingewiesen: - Hs 533,4f Ibi subiungit 'mortem' in vitam et facit spem, . . .
D r 533,16f . . . in tertio versu primo loco mortem ponit et deinde subiungit de vita, ut spem occultam ostendat, . . .
Mit der Hinzufügung „occultam" präzisiert Dietrich die Aussage aufgrund anderer Äußerungen Luthers in der Nachschrift, in denen er selbst davon spricht, daß auf „verborgene Weise" („occulte", „obscure"; s. 488,9f; 489,7; 493,2f) das Heil angezeigt wird. In diesem Sinne ergänzt nun Dietrich die Aussagen, in denen Luther nicht ausdrücklich darauf hingewiesen hat (521,13f/27; 533,4f/16f). Ebenso präzisiert Dietrich Luthers Aussagen über die Art und Weise, mit der Mose auf den kommenden Christus hinweist. Daran anschließend, daß Luther in der Nachschrift sagt „Ergo 110 Neben den angeführten Beispielen begegnet die Wendung in 517,20; 519,17f; 520,15f; 536,16; 537,16; 546,11; 575,18f; s.a. u. D.IV.2.b).
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D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
(Et > ) haec (seil, adventum Christi; 583,If) oportuit sic obscuris verbis dici ..." (583,3; s.a. 583,7f) präzisiert Dietrich andere Äußerungen Luthers, in denen der Modus der Prophezeiung nicht derart bezeichnet worden ist111: - Hs 576,12-577,1 Hic propheta est Moses certissimus de (futuro > ) Christo.
Dr 576,24 Includit itaque haec petitio obscure Propheciam de Christo venture, ...
In diesem Zusammenhang kann Dietrich gar von „mysteria" reden (577,18; 579,20; 580,11; 582,31f) und damit einen Begriff einführen, den Luther in seiner Auslegung der Nachschrift zufolge an keiner Stelle verwendet hat 112 . Wie dieser Teil der Untersuchung gezeigt hat, präzisiert Dietrich die Auslegung Luthers durch Begriffsaustausch und Hinzufügungen zum Zweck der Vervollständigung, Verdeutlichung, Definition und Begründung theologischer Zusammenhänge. Diese Art der Bearbeitung läßt sich auf fast jeder WA-Seite nachweisen. Daran zeigt sich, wie intensiv Dietrich den ihm vorliegenden Text der Nachschrift bearbeitet hat. Auch wenn er sich dabei mit eigenen längeren Exkursen zurückhält, hat er doch auch durch diese kleinen Änderungen der Auslegung seinen Stempel aufgedrückt. Für die Beurteilung des Wertes der Druckausgabe hinsichtlich der Wiedergabe dessen, was Luther ursprünglich im Kolleg gesagt hat, wird dieses Ergebnis zu berücksichtigen sein. g)
Ausmalungen
Von Dietrichs Bearbeitung zur Vervollständigung der Auslegung, bei der er zu einem Halbvers eine eigene kurze Erklärung und zu einem von Luther gedeuteten Gleichnis eine weitere Deutung hinzufügte 113 , sowie von seinen Präzisierungen, bei denen er mittels Begriffsaustausch und Hinzufügungen Luthers Aussagen um einzelne Gedanken erweiterte 114 , ist seine ausmalende Bearbeitungsweise zu unterscheiden. Bei dieser nimmt Dietrich Äußerungen Luthers aus der Nachschrift auf und gibt sie im Druck wort- und detailrei111
Neben dem angeführten Beispiel s. 579,16.20. Daß Dietrich bei dem Einfügen von Begriffen, die an keiner Stelle in der Nachschrift zu finden sind, keine Bedenken hat, bezeugt z.B. auch seine Verwendung des Wortes „praesidium" (502,19; 504,14.16.21) oder „praemia pietatis" (500,14f). Im Vergleich von Nachschrift und Druck lassen sich sogar Wendungen und Begriffe entdecken, die Dietrich mit Vorliebe - und ohne Anhalt in der Nachschrift - verwendet, z.B. „Ad hunc modum" (487,23; 491,14; 494,18; 497,17; 498,18; 499,17; 500,13.19; 501,21; 506,18; 507,14; 511,19; 525,17; 526,22; 534,16; 535,22; 538,14; 542,27; 549,22; 570,15; 575,16; 579,15; 580,12; 584,16; 587,31; 591,30) oder „sustineo" (487,20f; 511,16.23; 515,27; 536,16; 537,15; 538,17; 544,27; 547,23; 556,21; 584,17). 113 s.o. D.IV.l.a). s.o. D.IV.l.f). 112
IV. Der Charakter der Auslegung im Druck
95
eher wieder. Genügte es Luther im Kolleg an den betreffenden Stellen, holzschnittartig den jeweiligen Hauptgedanken herauszustellen, gestaltet Dietrich durch eigene Hinzufügungen eine ausgemalte Darstellung 1 1 5 . - H s 505,2ff . . . ut Eliae tempore ( ( < Abrahae tempore)), qui amiserat Ecclesiam ex oculis, dicit: (altaria tua > ) 'prophetas tuos?' Cultum Dei video vastatum, gubernationem, populum, i.e. prophetas occisos. D r 505,18ff Sicut sub Elia, ubi impius Rex Ahab veris cultibus interdixerat et Prophetas magno numero crudeliter occiderat, Ita ut Elias quaereretur se solum esse reliquum servum veri Dei. Unter Auslassung der Rede Luthers in der 1. Person Singular schildert Dietrich mit Hinweis auf den „unfrommen König Ahab" den Grund des Sterbens der Propheten, wobei eine Aussage zu ihrer Zahl („magno numero") sowie der Art und Weise ihres U m k o m m e n s („crudeliter") ausmalend hinzugefügt wird. - H s 521,6 ... donec venerit ille dies ( < tum vere vivemus). D r 521,15ff Donec veniat expectata illa dies redemptionis nostrae, in qua vere vivemus. Tum enim non solum istae miserae carnis calamitates omnes auferentur, sed etiam revelabitur gloria Dei in filios eius. - H s 534,3f Ipse (seil. Deus) inspicit sigillum, ut (ist > ) geschnitten; (wir sehen es allein auff dem wachs > ) alia facies dextera et sinistra sigilli. Dr 533,30-534,12 ... aliud est, videre sigillum, quomodo in gemma aut auro sculptum est, Et aliud, quomodo in cera exprimitur (Deus, ut utar similitudine hac, ipsam gemmam inspicit, Nos tantum formam gemmae seu sculpturam in cera oculis nostris possumus videre), ... - Hs 565,10-566,1 Et quidam adeo repleti furiis, ut audeant optare ( < hanc vitam prae illa) 100 annos et unserm Herrn Gott celum lassen: (dicunt > ) Hie melh! et indignantur, quod creati ( < sint) ad aeternitatem ( < immortalitatem). Dr 565,24-28 Imo invenias, qui tarn calamitosam vitam prae illa optare ausint et indignentur se creatos esse ad immortalitatem, Sicut narrant de quodam Rustico. Is cum multa de coelo et Beatorum consortio audiret ex Parocho: Quid coelum, inquit, praedicas, si haberemus frumentum, Was Himel, Hetten wir hie Melh!
115
vgl. auch die ausgemalte persönliche Äußerung Luthers 543 zu6/25ff; s.o. D.III.6.
96
D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
Mit erkennbarer Freude am Detail beschreibt Dietrich in diesen Beispielen den von Luther nur kurz genannten „jüngsten T a g " und malt das Gleichnis vom Siegel sowie die von Luther zitierte Redensart weiter aus. - H s 547,5-9 Moses in mari rubro clamavit. ((Moses hat in mari rubro freylich auch geschrieren)) Ego diffisus et abiecissem virgam ( < und were davon geloffen); (quia omnium illorum mors > ) der tod aller lag im auffm hals ( < cum nusquam pateret effugium). 'Quid clamas?' Non schrey, Sed crede ( < credo); das hertz hab ( < sey) im schir (inn > ) ubir 1000 ( < stuck gesprungen) etc. Ibi tod cum omni populo. Ibi deus: schlag auff 'mehr', 'da gieng' etc. ... (Istic non fuit contritus Moses, ut periret ... > ) ...
D r 547,21-548,12 Sic deduxit Mosen in extremum discrimen ad Mare rubrum, Non ut ibi periret et Aegyptii deletis Judaeis redirent incolumes ad suos, Sed ut Moses oraret et liberaretur, qui solus sustinebat culpam, quasi ipsius voluntate populus in hanc calamitatem proiectus esset. Ac sentit Moses periculum hoc, Itaque, cum ipse ore taceret, tarnen Dominus dicit: 'Quid clamas?'.
Wie im vorigen Beispiel läßt Dietrich auch hier Luthers dramatischen Auslegungsstil fort und korrigiert die Aussage, d a ß Mose am Meer geschrieen hat 1 1 6 . Ebenfalls entfallen die Beschreibung der Angst des Mose sowie der Befehl und die Ausführung der Meeres Spaltung. Stattdessen wirft Dietrich im Drucktext einen Blick auf die die Juden verfolgenden Ägypter und auf die Person des Mose, „qui solus sustinebat culpam". Zusammenfassung und Ausmalung des von Luther ursprünglich Gesagten können also, wie dieses Beispiel zeigt, bei Dietrich H a n d in H a n d gehen. D e r Vergleich zeigt an dieser Stelle erneut, wie wenig der Leser des Drucktextes sicher sein kann, d a ß das, was er liest, auch von Luther stammt. h) Ergebnis Wie die Untersuchungen in D.III.1.-8. gezeigt haben, hat Dietrich den ursprünglichen Vorlesungscharakter der Auslegung im Druck vermieden. Statt einer Wiedergabe der „praelectio" hat der Leser eine „enarratio" vor sich. D a z u hat Dietrich die Auslegung, wie sie ihm mit Rörers Kollegheft vorgelegen hat, selbständig vervollständigt und darin enthaltene Fehler bzw. Ungenauigkeiten korrigiert. An einigen Stellen hat er sie zudem stärker gegliedert. Ebenfalls verstärkt hat Dietrich die Bezugnahmen auf den U r text. Den gelehrten Charakter der Auslegung vermochte er durch H i n z u f ü gung von weiteren biblischen und klassischen Zitaten zu vermehren. Dabei war festzustellen, d a ß Dietrich auch Zitate auslassen oder austauschen konnte. 116
s.o. D.IV.l.b).
IV. D e r Charakter der Auslegung im Druck
97
Durch Begriffsaustausch und Hinzufügungen verschiedener Art hat Dietrich ferner Luthers Auslegung in mehrerer Hinsicht präzisiert. Schließlich sind einige Ausmalungen im Druck zu beobachten. Wenn auch Dietrich durch diese Bearbeitungsweise für den Leser eine vollständige, fehlerfreie, gegliederte, präzis formulierte „Enarratio Psalmi X C " geschaffen hat, darf nicht unberücksichtigt bleiben, in welchem hohen Maß er dadurch den Wortlaut und gewisse Inhalte der ursprünglichen Auslegung Luthers verändert hat 117 .
2. „... Psalmus . . . continet . . . doctrinam utilem et necessariam . . . " Am Ende der Auslegung des 90. Psalms fügt Dietrich im Druck einen selbstformulierten Zusatz an: „Curabo volente Deo, ut idem Psalmus a piis, latinae linguae imperitis, in sua vernacula legi possit. Continet enim doctrinam utilem et necessariam, quam magnopere refert scire" (594,4ff). Dietrich teilt hierin seine - übrigens nie verwirklichte - Absicht mit, den Psalm in die deutsche Sprache („vernacula lingua") zu übersetzen. Mit „idem Psalmus" ist selbstverständlich nicht allein der Text des 90. Psalms gemeint, sondern die von Dietrich herausgegebene „Enarratio Psalmi XC". Eine solche Erklärung findet sich zu keiner seiner anderen Editionen. Das Motiv hierzu liegt für ihn allein in der Bedeutung des ausgelegten Textes: der 90. Psalm in der Auslegung Luthers „beinhaltet nämlich eine nützliche und notwendige Lehre, an der zu wissen sehr viel gelegen ist". Mit dieser Aussage beschreibt Dietrich treffend den zweiten Charakter, den Luthers Auslegung im Druck annimmt. Sie erscheint in ihm nicht nur als eine vollständige und korrekte „Enarratio", sondern auch als eine nützliche, notwendige und wissenswerte „doctrina". Von dieser Einschätzung Dietrichs aus lassen sich weitere Besonderheiten seines Umgangs mit der Nachschrift aufzeigen und erklären, die im folgenden zu untersuchen sind. a) Die Betonung
des Lehrcharakters
der
Auslegung
Mit der Meinung, daß der Psalm eine „nützliche und notwendige Lehre" beinhaltet, kann sich Dietrich durchaus auf Luther stützen. Dieser bezeichnete schon in den Summarien über die Psalmen" den 90. Psalm als „Lerepsalm" 118 sowie als „kurtz, fein, reich und voll gebetlin" 119 . Im Kolleg über Psalm 90 nennt Luther ihn an einer Stelle „utilissimus" (489,4). Dietrich fügt im Druck eine zweite von sich aus hinzu: 117
s.u. D.V.1.-5. WA 38,49,6. »" WA 38,49,17. 115
98
D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
- Hs — Dr 501,21f Ad hunc modum si Psalmum hunc accipias, dulcescet et in omnes partes videbitur utilissimus esse.
Ebenfalls nur einmal kann Luther mit Bezug auf den Inhalt des Psalms von einer „doctrina" reden (522,Iff). Daneben verwendet Luther den Begriff an einigen weiteren Stellen, aber jeweils in anderer Hinsicht (z.B. 495 zu 12 [möglicherweise eine Ausdrucksverbesserung von Rörer]; 504,5.9; 591,2f). Dietrich nimmt Luthers Rede von der „doctrina" auf 120 und fügt den Begriff mit eigenen Formulierungen an anderen Stellen der Auslegung von sich aus hinzu, z.B.: - Hs 488,9 Das ist ein Doctor, quamquam hoc facit obscurius, . . .
Dr 488,23f Ita coniungit (seil. Moses) Euangelii doctrinam cum lege, Quanquam Euangelium tractat paulo obscurius.
Die Aussage im Druck hat mit ihrer dogmatisch-präzisen Formulierung, die als „programmatische^..) Aussage(...)" Luthers zum Thema 'Gesetz und Evangelium' verstanden werden kann und wird 121 , keinen Anhalt in der Nachschrift. Es läßt sich aber in der Widmung Dietrichs an Johannes Heß, die Dietrich der „Enarratio Psalmi X C " vorangestellt hat, eine parallele Formulierung aufweisen: „Facit itaque Moses hie, quod alienum est ab officio suo, nam non solum tenet commemoratione irae Dei et mortis, sed etiam ostendit spem salutis, et Deum facit talem Deum, qui non velit peccatores perdere, sed servare et eis ignoscere, atque hoc modo pulcherrime conjungit doctrinam leges cum evangelio, sicut sunt haec necessario conjugenda, quoties de salute sua institui homines debent. ",22 Bei der Verwendung des Wortes „docere" folgt Dietrich Luther 123 , baut aber dessen Gebrauch im Druck weiter aus. Er kann z.B. Wörter wie „praedicare", „consolari", „dicere" durch „docere" präzisierend ersetzen (z.B. 512,7f/26f; 554,2f/553,28f; 556,7f/18; 570, lf/15-18). Dadurch und durch weitere eigene Hinzufügungen stellt Dietrich entsprechend seiner Uberzeugung, daß der Psalm eine Lehre beinhaltet, vor allem Moses betonter in das Amt des Lehrenden 124 , als Luther dies ursprünglich getan hat 125 , z.B.: 120
504,9 läßt Dietrich zusammenfassend den Begriff aus. So Pesch, Theologie des Todes, S. 776 Anm.201. 122 EA op. ex. XVIII, S.263f. 123 Übernahmen s. z.B. 490,3/18f; 542,3/19f; 590,7ff/23-26; nur 493,3/19 ersetzt Dietrich „docere" aus der Nachschrift durch „ostendere" im Druck, da das Lehren an dieser Stelle allein Christus vorbehalten ist, s. 488,10f/24f. 124 Neben den schon genannten Beispielen s. z.B. 492,25f; 520,15f; 572,25; 580,12f. 125 Der Nachschrift zufolge nannte Luther Mose in der Vorlesung „Doctor dei" (491,6) sowie „optimus Doctor" (501,4f) und konnte sogar lobend „Das ist ein Doctor" (488,9) 121
IV. Der Charakter der Auslegung im Druck
99
- H s 490,3 Est 'vir dei' vocatus, ut legem doceret; ((* 'Vir Dei' *)) D r 490,18f Vocatur autem Moses vir Dei, quod peculiariter a Deo sit missus ad docendam legem in populo. - Hs — D r 503,19 Quare nos hunc Doctorem sequamur ... - H s 515,12f Haec est ira divina super creaturam humanam, quae parata ad vitam aeternam. Ille favor ( < gratia) mutatus est et inflicta poena. D r 515,26f Sententia igitur huius loci haec est, Quod Moses vult nos docere per peccatum esse factum, quod homo gratia excidit et poenam mortis sustinet. Anders als in der Nachschrift lehrt laut Luther im D r u c k auch die „experientia" (564,20f) 1 2 6 ebenso wie der Teufel „in P a r a d y s o docuit hominem, ne esset contentus eo, quod Deus praeceperat . . . " (546,13ff). Das lehrhafte Schriftverständnis Dietrichs, das in diesen Spuren d e r Bearbeitung von Luthers Auslegung zum Vorschein kommt, ist schon von Meinhold und Klaus in ihren Untersuchungen zur Theologie Dietrichs gesehen u n d erörtert worden 1 2 7 . N e u k o m m t die in dieser Untersuchung gewonnene Erkenntnis hinzu, d a ß Dietrich von seinem Schriftverständnis aus bei der Edition des 90. Psalms häufiger, und dadurch betonter die Begriffe „doctrina" und „docere" verwendet. D e m Lehren korrespondiert das Lernen auf Seiten der Menschen. D e m entsprechend gebraucht Dietrich auch das W o r t „discere" ö f t e r , als er sich in der N a c h s c h r i f t findet, z.B.: - H s 499,10 ... Moses (hoc) studeat efficere hac oratione, ut homines metuant deum, ... D r 499,23f hoc enim praecipue studet efficere, ut discant homines Deum timere ... - H s 512,8f (Contra > ) Illis (seil, perterritis) tribuit Moses habitaculum infinitum ... D r 512,27f Hi (seil, territi) discant cogitare de habitaculo infinito ...
ausrufen. D a ß Mose mit dem 90. Psalm die Menschen belehrt, äußert Luther im Kolleg z.B. 488,14-489,2; 490,3f; 500,4f. 126 s.o. D.IV.l.a). 127 Meinhold, Genesisvorlesung, S. 54ff; Klaus, Dietrich, S. 366-381.
100
D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
- Hs — D r 553,24 Vult autem Moses haec a nobis disci et credi, ... Exkurs: „Exemplum
Mosi"
„Die Schriftauffassung, nach der die Schrift die Summe einer Lehre ist, findet nun innerhalb der Genesisvorlesung selbst in dem Begriff des Beispiels ihren Ausdruck. Zweierlei wird mit seiner Verwendung erreicht. Einmal, mit Hilfe dieses Begriffes wird die in der Schrift enthaltene Lehre auf die Gegenwart bezogen und so für sie fruchtbar gemacht. Er ist das exegetische Bindeglied zwischen der zu interpretierenden Schrift und der eigenen Zeit des Exegeten. Der Begriff des Beispiels dient sodann der Rechtfertigung des exegetischen Bemühens und des behandelten Stoffes selber. Es wird immer wieder in der Vorlesung gefragt: "warum schreibt der Heilige Geist solche unnützen Dinge?" Die Antwort auf die Frage wird mit dem Hinweis auf die Beispielskraft und den „Nutzen" des Stoffes für die Gegenwart gegeben. Man „lernt" aus seiner Betrachtung. . . . Wir haben solche Beispiele nötig, schreibt Veit Dietrich von der Genesis, damit auch wir an die Vergebung der Sünden glauben und Gott anrufen lernen." 128 Dieses Ergebnis, das Meinhold in seiner Untersuchung über die Bearbeitung der Genesisvorlesung gewonnen hat, läßt sich auch für Dietrichs Edition der Vorlesung über Psalm 90 übernehmen. In der Vorlesungsnachschrift findet sich der Begriff „exemplum" nur an einer einzigen Stelle, und zwar innerhalb der lateinischen Interlinearüberarbeitung Rörers, welche wie in B.II.3.b) festgestellt worden ist - nicht mit letzer Sicherheit auf das tatsächlich von Luther im Kolleg Gesagte zurückzuführen ist, von Dietrich im Druck aber an dieser Stelle aufgenommen wird: - H s 503,4f (Hic autem est exemplum > ) Claris verbis: 'Nemo' dicit ad deum 'nisi in spiritu sancto', i.e. in fide cordis.
D r 503,23f Necessaria autem doctrina est, quae in exemplo hoc proponitur, quod videmus in Oratione vera necessariam esse fidem.
Der Vergleich der Nachschrift weist dazu drei Stellen im Druck auf, an denen Dietrich ohne Anhalt in Rörers Kollegheft von einem „exemplum (Mosi)" spricht, was einen Befund darstellt, der die vorangestellte Beobachtung Meinholds zum Drucktext der Genesisvorlesung zu untermauern vermag: - Hs 487,llf Sic David imitatus Mosen: 'Numerum, ut sciam, quid desit.' 128
Meinhold, Genesisvorlesung, S. 378 ff.
IV. D e r Charakter der Auslegung im Druck
101
D r 487,24ff Qui autem conspectu peccatorum suorum et mortis territi sunt, hos suo exemplo docet (seil. Moses) orare, ut Deus 'ostendat illis numerum Dierum esse brevem' etc.
- Hs 496,2f (Es mus beydes sein, ut pavefacti erigantur > ) Illos vult terrere - et horrentes, paventes facere securos. Pavefacti orent ac invocent, ut sequitur.
D r 496,13ff Coniungenda enim haec sunt, ut securi terreantur et pavefacti erigantur et animentur, dum iubentur exemplo Mosi credere et orare.
- Hs 539,3 Ideo debemus moderari istum gemitum.
Dr 539,llf Diligenter itaque M o s i exemplum notandum est, U t discamus moderari et gubernare gemitum hunc cordis nostri positi in sensu irae D e i et mortis.
Bei jeder dieser Stellen hat Dietrich nicht nur den Begriff „exemplum (Mosi)" hinzugefügt, sondern auch ausdrücklich den Zusammenhang von diesem Beispiel und der Lehre („suo exemplo docet orare", 487,25; „iubentur exemplo Mosi credere et orare"; 496,14f) bzw. dem Lernen („Mosi exemplum notandum est, Ut discamus moderari", 5 3 9 , l l f ) in einem belehrenden Stil („Coniungenda ... sunt", 496,13f; „notandum est", 5 3 9 , I I ) ' 2 9 ausgesagt. Die Art und Weise, wie Mose im 90. Psalm betet, ist demnach für Dietrich ein einzigartiges Lehr-Beispiel. Diese Auffassung läßt sich auch in seiner deutschen Schrift „Was die Christe für gedancke haben sollen / wenn sie mit der Leich gehen ..." von 1545 aufzeigen, in der Dietrich mit Bezug auf Psalm 90 sagt: „Gleich nun wie Moses bettet / und mit seim exempel uns allen vorgeht das wir des letzten stündleins nicht vergessen / sondern jmerdar darum bitten solle / das er alß den mit seinen gnaden bey unns sey / ... Also lehret und heist uns unser lieber Herr Christus im Vatter unser auch betten I... "13°. b) Der Inhalt der „Lehre" In der Widmung der Edition an Johann H e ß gibt Dietrich eine zweifache Begründung, warum er Luthers Vorlesung über Psalm 90 zur Druckausgabe bearbeitet hat. Der erste Grund liegt in der chronologischen Tatsache, daß Luther vor der Genesisvorlesung diesen Psalm ausgelegt hat: „Cum autem D. Lutherus, priusquam genesis suseiperet tractandam, orationem Mosi, ..., explicarit, existimavi ab ea faciendum exordium. Bevor Dietrich die 129
Von Dietrichs lehrhaften Schriftverständnis her erklärt sich der belehrende Ton, der in der Druckfassung auch durch die häufige Leseranrede sowie die den Leser ansprechenden Fragesätze begegnet, s.o. D.III. 1. Dietrich, Schriften, S. 153 f. 131 EA op.ex. XVIII, S.263; s.o. C.II.
102
D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
Edition der Genesisvorlesung fertigstellen will, - eine Aufgabe, die ihm schon von seinen Wittenberger Freunden „aufgebürdet" worden ist132 möchte er das Kolleg über Psalm 90 nicht übergehen, sondern davon mit Blick auf die Genesisvorlesung ein „exordium" machen. Der zweite und vom Inhalt der Auslegung bestimmte Grund, der Dietrich zur Druckbearbeitung bewogen hat, wird von ihm im Anschluß an die obigen Aussagen in der Widmung wie folgt beschrieben: „Etiam earn ob causam, quod nihil in tota scriptum est, quod hujus vitae miseram conditionem et calamitates hominum tum corporales tum spirituales explicet diligentius. Hic enim diserte docemur, per peccatum Adae totum genus humanum irae Dei subjectum, et morti ac omnibus reliquis calamitatibus hujus vitae obnoxium esse factum. Solam autem hanc esse reliquam salutis rationem, quod dominus Deus agnoscentibus sua peccata, et rogantibus ac per Christum sperantibus veniam, velit ignoscere. "I33 Für Dietrich besteht demnach die Lehre, die aus dem 90. Psalm deutlich hervorgeht, zum einen in der Aufklärung des Menschen über seine Situation als Sünder vor Gott bzw. in der Einschärfung der Sichtweise des Menschen aus der Perspektive des Gesetzes, zum anderen in der Mitteilung des einzigen Mittels zur Erlangung des Heils bzw. in der Einübung der Sichtweise des Menschen aus der Perspektive des Evangeliums. Diese Darstellung der Lehre darf nicht als eine allein auf den 90. Psalm beschränkte verstanden werden. So kann Dietrich seine deutsche Schrift „Ein kurtze Auslegung des 32. Psalms . . f o l g e n d e r m a ß e n einleiten: „Diß ist die höchste unnd beste lehr unter den Christen / Denn weyl alle menschen sich für sünder bekennen müssen / und aber Got den Sündern drowet / nicht allein mit zeytlicher straff / sonder auch mit ewigem todt / So ist diß am höchsten von nöten / weyl niemand gern unter Gottes zom / un in ewigen verdammniß ist / dz man lerne / wie man von solche jamer könne erlöset werden. Solche lehr helt uns diser Psalm für / un weiset fein wie man umb Vergebung der sünden bitte sol... . "134 Auch hier stellt Dietrich den Inhalt der Lehre, die aus dem 32. Psalm zu ersehen ist, in der Sichtweise des Menschen unter dem Gesetz und unter dem Evangelium dar. Das Besonders des 90. Psalms besteht für Dietrich vor allem darin, „quod nihil in tota scriptum est, quod hujus vitae miseram conditionem et calamitates hominum tum corporales tum spirituales explicet diligentius"135. Dieser Auffassung folgend betont Dietrich - über Luther hinausgehend - die „gesetzlichen" Aussagen innerhalb der Auslegung, in denen die menschliche Not, d.h. die Ursünde, der Zorn Gottes und die 132 „... amici, quos Vitebergae habeo, novas operas mihi imponunt, et volunt etiam genesin, ..., a me describi ..."; EA op. ex. XVIII, S.262. 133 EA op. ex. XVIII, S.263. 131 Dietrich, Schriften, S.247. 135 EA op. ex. XVIII, S.263.
103
IV. Der Charakter der Auslegung im Druck
Strafe des Todes, dargestellt wird. Die meisten der von Dietrich stammenden Hinzufügungen finden sich zu diesbezüglichen Aussagen, wobei er sich nicht scheut, ihm wichtige, aber von Luther nicht betonte Inhalte eigenmächtig zu ergänzen. Wo Luther z.B. nicht die Wirkungen von Sünde und Tod auf „das ganze Menschengeschlecht" ausdrücklich erwähnt hat, wird dieser Gesichtspunkt von Dietrich im Druck häufig hinzugefügt, z.B.: - Hs 488,14 Exaggerat et amplificat tyrannidem mortis et ire divinae.
Dr 488,29f ... amplificat Tyrannidem mortis et irae Dei, cum ostendit aeternae morti esse subjectam naturam humanam, ...
- Hs 588,5f ... liberet ab isto morbo, quem diabolus inflixit in Adam, . . .
Dr 588,24f ... liberas ab eo morbo, quem Satan toti humano generi in Adamo inflixit ...
Das gleiche gilt für den Hinweise, daß sich jede menschliche Generation in derselben notvollen Lage befindet: - Hs 519,5f Sed (Nihilominus tarnen alios iubes nasci > ) sic non perdis, ut non recrees alios. Ideo 'revertimini', Id est: Iubes alios nasci.
Dr 519,16-19 Secunda pars versiculi: ET DICIS: REVERTIMINI, FILII H O M I N U M , eo pertinet, Quod, sicut moriuntur homines quotidie propter peccatum, Ita quoque interim nascuntur alii, sed eadem conditione qua illi, qui defuneti sunt.
- Hs — Dr 519,24f Et tarnen semper alli in hanc vitam nascuntur, eisdem calamitatibus obnoxii.
- Hs — Dr 527,17f Ita, inquit, alii moriuntur, alii in vitam nascuntur et quasi succedunt, sed eadem conditione qua priores ...
Schweigt Luther im Kolleg über die Art und Weise der Übertragung der Ursünde, weist Dietrich im Druck eigenmächtig auf deren „propagatio" hin 136 : - Hs 485,2f Tanta est miseria originalis peccato. 136 Allein 582,11 f redet Luther von den „mala nobiscum nata et durantia, i.e. originale cum suis poenis". Ahnlich äußert sich Luther in den „Summarien über die zu Psalm 90, w o er die „sunden . . . von Adam uns allen angeboren" (WA 3 8 , 4 9 , 7 f ) Zur Zurückhaltung Luthers bei der Frage der Übertragung der Erbsünde s. Ebeling,
peccatum Psalmen" anspricht. Erbsünde.
104
D . Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
D r 485,12f T a n t a est miseria ilia, quam ex peccato contraxerunt nostri primi Parentes et in Posteros propagarunt. -
H s 515,6f Pueritia ante Adolescentiam nihil seit de concupiscentia ( < Incipit 1. sentiri a pubescentibus, ergo mus peccatum originis da f u r sein), nec senes. Ideo aliud originale peccatum. Dr 515,17-20 At cum ea primum sentiri ineipiat a pubescentibus, sequitur peccatum Originis longe esse gravius quidpiam, quod etiam in iis est et vivit, qui aetate inferiores sunt, in infantibus, imo etiam in foetu adhuc vivente in utero, Sicut Psal. 51. ostendit.
-
H s 516,5 (illius similitudine esse beatus > ) das ist alius lapsus et iamer, (quando vacca moritur > ) quam gans etc., est longe Alia res. D r 516,19f H a e c profecto gravior mors et tristior casus est, quam cum vacca mactatur, praesertim si respicias propagationem mali.
A u f die S ü n d e als d e n G r u n d des g ö t t l i c h e n Z o r n s u n d die Strafe des T o d e s w e i s t D i e t r i c h nicht nur durch die z a h l r e i c h e n v o n ihm s t a m m e n d e n „propter p e c c a t u m " - E r g ä n z u n g e n h i n 1 3 7 , s o n d e r n auch durch H i n z u f ü g u n g e n d e f i n i t o r i s c h e n Charakters, z.B.: -
Hs 513,llf . . . q u a n d o Adam creatus ( < dictum est ei): ' N o n comedes' etc., 'quacunque die' etc., 'morte morieris'. D r 513,26f Sed mors peccati poena consituta est, Sicut Deus dixit ad Adam: 'Quocunque die comederis de ligno hoc, morte morieris'.
-
Hs
—
D r 513,30 Sed est mors, ut sie dicam, minata et profecta ab irato et alienato Deo. -
Hs
—
Dr 518,26 . . . mors non simpliciter concupiscentiae, sed totius peccati causa est. -
H s 525,2f Ideo Mose facit maximam iram, Intensive, quod est mors, calamitas et peior quam ferarum ( < animalium);
137
s.o. D.IV.l.f).
IV. D e r Charakter der Auslegung im Druck
105
D r 525,17-20 A d hunc m o d u m M o s e s iram D e i äuget praeter omnium hominum opinionem et iudicium, Primo . . . intensive, cum mortem hominum facit peiorem et graviorem omnium animantium morte, quod per iram D e i irrogata est;
Ebenfalls ist die Rede von der „lex", die sich bei Luther in ursprünglicher Auslegung gemäß der Nachschrift fast ausschließlich im Zusammenhang des Moseamtes findet, von Dietrich im Druck ausgeweitet worden. - Hs — D r 488,23 Ita coniungit Euangelii doctrinam cum Lege, . . .
- Hs — D r 553,28f Qui h o c m o d o contriti et humiliati sunt malleo Legis, hi possunt informari et doceri, . . .
- H s 579,4f Sic Iudei non intellexerunt ( < quanquam legerunt et cantaverunt) hunc psalmum nisi spirituales viri, qui habuerunt intellectum, . . .
D r 579,20f Ita sub Lege tantum spirituales haec mysteria obscure ostensa viderunt et intellexerunt, . . .
- Hs 591,lf D a s werck, lieber Herr Gott, hilff erhalten, ut lex Mosi non evertatur per hypocritas.
D r 591,17ff Confirma opus manuum nostrarum super nos, . . . N e tempore legis Lex Mosi per Hypocritas evertatur, . . .
In dem umfangreichen Maße, in dem Dietrich die Aussagen Luthers in der Nachschrift zur Beschreibung der Situation der Menschen unter dem Gesetz ergänzend bearbeitet hat, sind Luthers Aussagen zum Evangelium, d.h. zum Trost und zur Erlösung der Menschen, nicht von ihm bearbeitet worden. Zwar findet sich auch bei diesen Dietrichs Hand, doch eine vergleichbar ausführliche Ergänzungs-und Präzisierungsarbeit wie zur Darlegung der Situation des Menschen unter dem Gesetz läßt sich hier nicht aufzeigen 138 . Auch wenn aus dieser Beobachtung nicht etwa zu folgern ist, daß Dietrich an der Mitteilung des Evangeliums uninteressiert wäre oder das Gesetz dem Evangelium überordne, so läßt sich doch mit Sicherheit ein Interesse Dietrichs an deutlicher Belehrung der Menschen über deren Situation vor Gott aus der Perspektive des Gesetzes feststellen. 13
' Zur Bearbeitung der Aussagen über Christus, s.u. D.V. 1.
106
D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
Zwei Motive sind zu benennen, die für Dietrichs diesbezügliche Bearbeitung ausschlaggebend gewesen sind. Hingewiesen wurde schon auf den Satz aus der Widmung, „quod nihil in tota scriptum est, quod hujus vitae miseram conditionem et calamitates hominum tum corporales tum spirituales explicet diligentius"n9 und darauf, daß dieses Urteil Dietrich bei seiner Bearbeitung geleitet hat. D a s zweite Motiv, daß Dietrich veranlaßt hat, die Situation der M e n schen unter dem Gesetz in möglichst vielen Aspekten deutlich herauszustellen, läßt sich an den von ihm in diesem Zusammenhang am häufigsten eingefügten Begriffen erkennen. Das Gesetz, das M o s e mit diesem Psalm einschärft, richtet sich für Dietrich hauptsächlich gegen die „Sicheren" (securi) und deren „Sicherheit" (securitas), wie die folgenden Beispiele zeigen: - H s 496,4 (Primum > ) Das ist vox legis: Mitten: ... D r 496,16 Legis vox terret, cum occinit securis: Media vita in morte sumus. - H s 514,8f Ideo ostendit ( < pingit) personam irascentem ad conterendos ( praefractos > ) Epicuraeos. D r 514,18f ... Personam irascentem sie diligenter pingit ad terrendos securos et praefractos. - Hs — D r 545,25 Videmus enim, quam horribilis humanarum mentium sit securitas, . . . - H s 554,7f ... est utile ad contundendos ( < spiritum gratiae.
contorrendos) superbos et dirigendos ad
D r 554,20f ... ut prematur securitas et superbia nostra, in quam peccatum Originis nos deducit. - H s 568,3f Iam ineipit orationem: (behut uns fur dem volck > ) las ( < uns) nicht geraten, ut (non) tales stupidi lapides simus, sed da cor, quod credit iram tuam etc. ( < et omnia) D r 568,15f . . . optat Mose eximi ex suo et omnium hominum cordibus hanc pestiferam securitatem et accendi corda fide, ...
EA op. ex. XVIII, S.263.
IV. D e r Charakter der Auslegung im Druck
107
- H s 570,2f . . . ( < 1. tabula) dicit ( < esse) aliquem (principem > ) Caesarem ( < extra hunc mundum, qui potens sit irasci et misereri.
deum)
D r 570,15ff . . . prima Tabula, cum docet D e u m esse et misericordem timentibus eum et acerrimum iudicem in securos et impoenitentes, . . .
Mit dieser Frontstellung gegen die „Sicheren" in der „Enarratio Psalmi X C " , die sich auch in den eigenen, deutschen Schriften Dietrichs nachweisen läßt 1 4 0 , kann sich Dietrich zwar auf Aussagen Luthers in der Nachschrift stützen 1 4 1 , aber die Häufigkeit und die dadurch bewirkte Betonung geht doch weit über Luthers ursprüngliche Auslegung hinaus. Dagegen entspricht dieser Frontstellung die oben im Druck erkannte ausführliche Herausstellung der „gesetzlichen" Aussagen. Dietrich kann dabei so weit gehen, d a ß er das, was Luther als „Prior pars argumenti" bezeichnet, als das „Argumentum psalmi" wiedergeben kann: - H s 488,lf Prior pars argumenti pertinet ad conterendos induratos et securos Epicuros, . . .
D r 487,27f Argumentum itaque Psalmi est, quod Moses in h o c psalmo vult perterrefacere induratos et securos Epicuraeos . . .
Die durch die Nachschrift bezeugte Zweiteilung des argumentum, die in Luthers gesamter Vorlesungstätigkeit singulär ist, wird so von Dietrich an dieser Stelle rückgängig gemacht und damit der Akzent der Gesamtauslegung bereits zu Beginn auf die Perspektive der Menschen unter dem Gesetz gelegt. 142 c)
Ergebnis
Für Dietrich beinhaltet der 90. Psalm in der Auslegung Luthers eine „nützliche und notwendige Lehre" (594,ff). Dieser lehrhaften Auffassung entsprechend läßt Dietrich häufiger die Begriffe „doctrina", „docere" und „discere" verwenden. Zudem richtet Dietrich Luthers Auslegung in einem stark belehrenden Ton an die Person des Lesers. Von sich aus fügt Dietrich zudem die Auffassung ein, d a ß Mose mit diesem Psalm ein lehrhaftes „exemplum" gegeben hat. Die „doctrina", die der Psalm enthält, wird im Druck unter dem Aspekt von 'Gesetz und Evangelium' dargestellt. Dabei bearbeitet Dietrich vor allem die Aussagen Luthers, die die Situation der Menschen unter dem Gesetz betreffen. Diese werden von Dietrich vervollständigt, präzisiert 140
Dietrich, Schriften, s. z.B. S.174f, 248, 252, 271. z.B. 488,lf; 565,3f; 568 zu 2. 142 Zur Bedeutung des „argumentum psalmi" in der Vorlesung gemäß der Nachschrift, s.u. F.I.-III. 141
108
D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
sowie teilweise gar selbständig hinzugefügt. Die Herausstellung des Gesetzes erklärt sich von dem Hauptanliegen Dietrichs her, mit diesem Psalm (in Luthers Auslegung) die „Sicheren" über ihre Lage zu belehren, auf daß ihre „securitas" zerstört werde. Um sein eigenes Hauptanliegen auch in Luthers Auslegung laut werden zu lassen, ändert Dietrich die ursprüngliche Zweiteilung des argumentum psalmi insofern, daß er nur den ersten, gesetzlichen Teil als argumentum wiedergibt, ohne den zweiten, „evangelischen" Teil mitzunennen. Bei einer abschließenden Beurteilung des Wertes des Drucks für die Wiedergabe der ursprünglichen Auslegung Luthers sind diese Ergebnisse in Rechnung zu stellen.
V. Inhaltliche Veränderungen Ein Vergleich zwischen der Nachschrift und dem Druck zeigt nicht nur eine Umformung des Charakters der Auslegung, sondern auch inhaltliche Veränderungen, die Dietrich mittels Auslassung von Aussagen Luthers bzw. eigenmächtige Hinzufügungen erreicht hat. Gewarnt durch die mit Verstimmung in Wittenberg aufgenommene Edition des 51. Psalms 143 ist Dietrich hierbei äußerst vorsichtig vorgegangen. Die von ihm verantworteten Auslassungen und Hinzufügungen betreffen selten ganze Sätze, sondern meistens einzelne Formulierungen, deren Fortfall oder Ergänzung dem heutigen Leser erst bei einem genauen Vergleich mit der Nachschrift auffallen können. Solche inhaltlichen Änderungen sind zu Aussagen über Christus, die Auffassung von der Gnade sowie der Kirche, die Rede vom „genus humanum insensatum" sowie zur Polemik zu beobachten. Sie seien im folgenden anhand von Vergleichen zwischen den betreffenden Texten in der Nachschrift und im Druck aufgezeigt.
1. Christus als „Liberator" Schon A. Freitag ist bei seiner Kommentierung der Nachschrift und des Drucks zur Vorlesung Luthers über Psalm 90 folgende Auslassung aufgefallen144: - Hs 554,8f Christus missus, ut liberet tales ( < sie sollen gnad und hülff finden), et omnes tales 'tristicias' in corde suo posuit, ut absorberet pro nobis.
Dr — 143 114
s.o. C.I. 554 Anm.2 zu Hs.
V. Inhaltliche Veränderungen
109
Die durch Christus bewirkte Befreiung derjenigen, die einen durch den Teufel eingegebenen „motus blasphemiae et murmurationis" in sich verspüren, findet im Druck keine Aufnahme. Daß Christus diese Anfechtungsmühen „in sein Herz gelegt hat, daß er sie für uns verschlinge", will oder kann Dietrich nicht aussagen. Dennoch sieht auch er Christus als „liberator", was er durch eine eigenmächtige Hinzufügung dieses Titels am Schluß der Auslegung im Druck besonders betont: - Hs 593,16-594,2 Das gebe uns unser Herr allen. Amen. Postea suscipiam praelegendam Genesim, ut operemur quidquam et ita in verbo et opere dei moriamur.
D r 593,33ff Posthac Genesin explicabimus, dum Dominus vitam prorogaverit, ut sic tandem foeliciter moriamur in verbo et opere Dei, id quod faxit Deus et Liberator noster Christus Iesus, Amen.
Im Gegensatz zu Luther kann Dietrich nur in einem eng umrissenen Zusammenhang von Christus als „liberator" reden. Während er einerseits die Aussage über die Befreiung der Menschen von der schlimmsten Anfechtungsnot durch Christus nicht im Drucktext wiedergibt, übernimmt er andererseits die Aussagen Luthers, nach denen Christus die Menschen von Sünde und T o d befreit, z.B.: - Hs 583,8 . . . Christus, ut liberet ( < genus humanum) a peccato et morte.
D r 583,18f . . . ut Christus in carnem veniat et liberet mundum a peccatis et morte.
Durch dieses Werk der Befreiung ist Christus für Dietrich die „misericordia Dei" in Person. Diesbezügliche Äußerungen Luthers übernimmt Dietrich wiederum, ohne sich zu Änderungen genötigt zu sehen (s. 587,10f/28ff). An einer Stelle fügt Dietrich diese Beschreibung Christi sogar von sich aus in den Drucktext ein: - Hs 577,4f Iam prophetiam facit ( < Moses) per modum orationis, quia ista oportuit propter Epicureos usque in finem mundi.
D r 576,25-577,19 Oportuit autem mysteria haec salutis abscondi propter Epicuraeos et alios securos homines usque ad adventum Christi, in quo revelati sunt thesauri misericordiae Dei.
Durch Dietrichs Bearbeitung erscheint Christus im Druck als derjenige, der die Menschen allein von Sünde 145 und Tod befreit. Die darüber hinausgehende Aussage Luthers in 554,8f wird deshalb ausgelassen. 145
s. die H i n z u f ü g u n g „remissio p e c c a t o r u m " in D r 4 9 9 , 1 8 - 2 1 im Vergleich zu H s 499,4 ff.
110
D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
Dieser Befund läßt sich mit Blick auf Aussagen Dietrichs über Christus in eigenen deutschen Schriften auf eine breitere Basis stellen. Auch in ihnen wird von Christus mit Nachdruck als Befreier von Sünde und Tod geredet: „... bedencke auch / was des Sons Gottes eigentlichs ambt ist. Nemlich / das er die armen sünder suchen / jnen gnad erwerben / von sünden sie ledig un selig sol machen"146·, „Denn Christus ist ein heyland / er hat für meine sünde bezalet / und mich mit Got versönet / den todt uberwunden / unnd den eingang zum leben eröffnet / das ist gewis / unnd selig"147; „... das dises kindlin Gottes / Heiland sey / da durch Gott wider die sünd unnd den todt unns helffen wolle .. ,"148; „... wissen wir doch / das wir einen Heyland / oder Heljfer haben den Gott selb unns bereytet hat / das er wider sünde / und tod helffen soll.. ,"149; „... man soll solche erschrockene / blöde gewissen / damit trösten / das jre sünd durch Christum am Creutz bezalet / unnd Christus den todt für sie gelitten hab"150. Auch Meinhold nimmt in seiner Darstellung der Theologie Dietrichs diese Rede von Christus wahr: „Christi Amt ist ein doppeltes: Gott hat einmal die Sünden der Welt Christus auferlegt und ihn damit zum Sündenträger für die Menschheit gemacht. ... Aber Christus ist nicht nur der Sündenträger für die Menschheit, er ist zugleich ihr Lehrer und ihr Prediger."151 Veit Dietrich hat also die Aussage Luthers in 554,8f aufgrund seiner allein auf die Befreiung von Sünde und Tod eingeengten Anschauung vom Befreiungswerk Christi nicht in den Druck übernehmen können. Luthers weitere Auffassung wurde somit durch Auslassung dem Leser der „Enarratio Psalmi XC" vorenthalten.
2. Das Verständnis von der Gnade Betrachtet man das Vorkommen des Begriffes „gratia" in der Nachschrift und im Druck, so fallen im Vergleich Auslassungen bzw. Hinzufügungen auf, die in der Zusammenschau einen unterschiedlichen Gebrauch des Wortes und damit ein von Luther differierendes Gnadenverständnis erkennen lassen.
116
Dietrich, Schriften, S.156,32ff. Dietrich, aaO., S. 158,6ff. 148 Dietrich, aaO., S.167,15f; s.a. 2Iff. >4' Dietrich, aaO., S.174,17ff. 150 Dietrich, aaO., S.258,34-37. 151 Meinhold, Genesisvorlesung, S. 71. Durch die eigenmächtig von Dietrich eingeführte Rede von der „Lex Christi" (544,15) wird auch im Druck das Amt Christi als Lehrer angesprochen. Allerdings kann auch Luther vom Lehren Christi reden, s. z.B. 494,1 lf; 499,5 f. 147
V. Inhaltliche Veränderungen
111
Folgende signifikante Auslassungen im Druck sind festzustellen: - H s 571,5f ... ut necesse sit orare pro genere humano, ut (deus > ) det hominibus gratiam, ut cognoscant, (quam miseri sint > ) wie elend sie sind. Dr 571,20-23 ... ut necessaria sit oratio pro toto genere humano, ut ista cogitare possit, quae videt, imo quae experitur fieri, quod haec vita non solum brevissima, sed variis malis obnoxia est quodque post ilia corporalia incommoda expectanda sint aeterna. - H s 572,1 Ideo orat Moses: Dona tarnen gratiam nobis ( < et omnibus hominibus), ut 'numerent dies suos' ( < lere sich doch arithmeticam); D r 572,12 Orat itaque Moses, ut doceat Dominus nos numerare nostros dies. - Hs 5 7 3 , l l f Sed da nobis gratiam, ut videamus ( < numeremus ab unitate), quam paucissimi dies, ut fiamus Mathematici. Dr — N u r an einer Stelle kann Dietrich für den Druck die Bitte um die Gnade in diesem Zusammenhang übernehmen: - H s 574,3.5ff ... (da gratiam > ), ut vitam weislich füren. ... (ergo > ) da gratiam, ut ( < hoc) in humilitate et timore faciamus, (et meminerimus > ) ut semper memores, nos esse sub ira ( < tua) ... D r 574,20ff Da itaque gratiam, ut id faciamus sapienter, hoc est, in humilitate et in timore tuo, ut meminerimus nos esse sub ira tua propter peccatum nostrum. Auch die einmal vorkommende Rede von der „ersten Gnade" kann Dietrich übernehmen: - H s 576,7 ... habent igitur 1. gratiam ((* Prima gratia *)), quae est cognitio irae et sensus divini iudicii: ... D r 576,22f ... promittit iis, qui primam illam gratiam habent, ut intelligant iram Dei et senciant iudicium divinum. Im letzten Vergleichsbeispiel übernimmt Dietrich zwar den Begriff „gratia", verändert aber den Aussageinhalt durch ein von ihm vorgeschaltetes
112
D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
- H s 588,7-10 Post so wollen wir komen und auch from sein, wenn uns unser Herr Gott vorhin hat from gemacht. Sed tarnen haec etiam est gratia dei et procedit ex primo opere dei, Das ers gar allein habe et sit dominus. D r 588,26ff Post hoc tuum opus venimus etiam nos cum nostro opere, quando sie iustificati sumus et sanete vivimus in obedientia verbi tui idque tibi placet et gratum est. Sed tarnen hoc quoque est ex gratia tua et procedit ex primo opere tuo.
Überblickt man die aus den Vergleichen ersichtlichen Auffälligkeiten, so lassen sich gewisse Unterschiede im Gnadenverständnis zwischen Luther und Dietrich feststellen. Dabei wird auch hier von der Prämisse ausgegangen, daß Dietrich solche Aussagen Luthers inhaltlich teilt, die er nicht im Druck ausgelassen, erweitert oder völlig geändert hat 152 . So kann Dietrich die Bitte um die Gnade ohne Änderung im Druck übernehmen, solange sich sich auf ein weises, demütiges Leben bezieht (s. 574,3.5ff/20ff). Die Aussage, daß ein solches Leben selbst schon Gnade ist, kann Dietrich aber nicht übernehmen (588,7—10/26ff). Solches Leben geht für ihn lediglich „aus der Gnade" (ex gratia) hervor. Auffällig sind ferner die Auslassungen Dietrichs, welche die Aussagen Luthers betreffen, nach denen die Erkenntnis der Kürze des Lebens von dem Erhalt der Gnade abhängt (571,5f; 572,1; 573, l l f ) . Im Druck kann Dietrich höchstens von einer diesbezüglichen Belehrung der Menschen durch Gott reden (572,12). Die Verwendung des Begriffes „gratia" muß Dietrich demnach in diesem Zusammenhang unpassend erschienen sein, was auf ein eingeengtes Verständnis sowohl der Gnade als auch des Gesetzes bei ihm schließen läßt. Die Erkenntnis der Kürze des Lebens, die - wie gesehen 153 - für Dietrich auch durch die „experientia" erfahren werden kann, hat im Druck nichts mehr mit dem Wirken der Gnade zu tun.
152 Einen Sonderfall stellt die Aufnahme des Ausdrucks „prima gratia" (576,22) im Druck dar. Er stand Dietrich nicht nur im Text der unmittelbaren Mitschrift vor Augen (576,7), sondern auch in der Randüberarbeitung Rörers (576 zu 7). Dietrich übernimmt ihn, spricht aber wenige Druckzeilen später im gleichen Zusammenhang und ohne Anhalt in der Nachschrift von der „prima sapientia" (577,21). Wäre Dietrich besonders an dem Begriff „prima gratia" gelegen gewesen, hätte er ihn auch in 577,21 verwenden können. D a er dies aber unterläßt, darf gefolgert werden, daß die einmalige Rede von der „prima gratia" durch die doppelte Bezeugung im Text und am Rand der Nachschrift veranlaßt worden ist. Ansonsten vermeidet Dietrich in diesem Kontext die Rede von der Gnade. »" s.o. D.IV.l.a).
V. Inhaltliche Veränderungen
113
3. Die Auffassung von der Kirche Luthers Aussagen über die Kirche innerhalb der Vorlesung sind von Dietrich für den Druck stark überarbeitet worden. Wie schon gezeigt worden ist, hat Dietrich bei der Bearbeitung der Nachschrift die darin enthaltenen zeitgeschichtlichen Bezugnahmen getilgt 154 : - Hs 505,8ff Observandum etiam, ne erremus cum Papistis et Schwermeris, qui imaginantur Ecclesiam ( < in sanctitate perfecta) sine scandalis, ruga et maculis ( < da wird nicht aus).
D r 505,28f . . . Ecclesia non est in sanctitate perfecta, sine omnibus scandalis et maculis, sicut Papistae somniant.
- Hs 506,7 Quod est reliquum peccati, offendit istos ( < spirituosos servos dei) Schwermeros.
D r 506,24ff Quod igitur peccati reliquum est, offendit quidem spirituosos Donatistas, Manicheos, Papistas, . . .
Im Druck läßt Dietrich die Nennung der „Schwermer" fort und verstärkt dadurch - wie auch durch eigene Hinzufügung - die Polemik gegen die „Papisten" 155 . Schwerwiegender als die Auslassung des Zeitbezuges sowie einer drastischen Formulierung Luthers in 507,1 ist die Bearbeitung der folgenden Aussage: - Hs 506,7-507,1 Ideo oportet Ecclesiam credi, ubi sunt Sacramenta, verbum etc. et homines amantes, confitentes verbum.
D r 506,28-31 Quare cum de Ecclesia iudicare voles, nos respiciendum simpliciter eo est, . . . , . . . ubi est verbum purum, ubi est administratio Sacramentorum pura, ubi sunt homines amantes verbi et confitentes verbum coram mundo.
Zunächst ist ersichtlich, daß Dietrich die Eingangsformulierung „oportet Ecclesiam credi" nicht übernimmt, sondern unter Verwendung der Anredeform des Lesers eine Formulierung bietet, in der es um das „de Ecclesia iudicare" geht. D a ß nach Luthers hier und anderswo ausgesprochener Uberzeugung die Kirche ein Bestandteil des Glaubens ist 156 , findet im Druck keine Aufnahme. 154 155 156
s.o. D.III.7. Zur Polemik in Nachschrift und Druck, s.u. D.V.5. vgl. Althaus, Theologie, S.252.
114
D . D a s Verhältnis des D r u c k s zur N a c h s c h r i f t
Wo Luther an die Kirche „glaubt", kann Dietrich über sie anhand bestimmter Merkmale „urteilen". Dabei nimmt er die von Luther genannten Kennzeichen auf, ohne allerdings zu versäumen, sie bekenntnisgemäß zu ordnen und Luthers Ausdrucksweise bekenntnisgemäß zu präzisieren. Redet Luther lediglich von „Sacramenta, verbum etc.", so spricht Dietrich im Druck mit Anklang an CA VII von „verbum purum" sowie „administratio Sacramentorum pura". Durch diese Bearbeitung bekommen Luthers Ausführungen über die Kirche im Druck einen definitorischen Charakter, der durch weitere Formulierungen wie das dreimalige „ubi est/sunt" noch verstärkt wird 157 . Nicht übersehen werden darf eine weitere präzisierende Hinzufügung. Wo Luther von den „homines amantes, confitentes verbum" spricht, redet Dietrich von den „homines amantes verbi et confitentes verbum coram mundo", wodurch er die Aufgabe des öffentlichen Bekenntnisses der Gemeinde, an der ihm - wie schon Meinhold gezeigt hat 158 - in seiner eigenen Theologie sehr gelegen ist, in den Drucktext einfügt. Dietrich setzt aber noch eine weitere Aussage in den Drucktext ein, die weder an dieser noch an einer anderen Stelle in der Nachschrift einen Anhalt hat: - Hs — Dr 506,lOf C u m ad n o s respiciunt et scandala, quibus Satan nostras Ecclesias d e f o r m a t . . .
Nur im Druck spricht Luther davon, daß der Teufel die Kirche „verunstaltet". Meinhold hat allerdings bei Dietrich die Sichtweise der Kirchengeschichte als einer „Geschichte des Kampfes zwischen Gott und dem Teufel um das Fortbestehen der reinen Lehre" 159 aufzeigen können. Auch Luther kann diese Sichtweise vertreten 160 , doch muß gegen den Druck festgehalten werden, daß Luther es der Nachschrift zufolge an dieser Stelle nicht getan hat. Zudem unterscheidet sich Dietrichs Einfügung in einem wichtigen Punkt von Luthers Rede über den Teufel innerhalb der Vorlesung zu Psalm 90. Abgesehen davon, daß Luther den Teufel in Vergleichen (530 zu 5; 587,8), Sprichwörtern (552,1; 563,10-564,1), Aufzählungen (502,2f; 567,6f), Auseinandersetzungen gegen die manichiäische Lehre (517,1; 585,5f) und Aussagen über seine „Benutzung" durch Gott (519,3f; 585,3f) anführt, werden alle Aussagen über den Teufel und sein Wirken unter Heranziehung bzw. Zitierung einschlägiger Schriftstellen gemacht161. Das Wirken des Teufels 157
s. auch das dreimalige „Ecclesia (vera) est, quae ..." 506,18f.20.22. Meinhold, Genesisvorlesung, S. 84 f. 159 Meinhold, aaO., S.90. 160 s. Headley, Luther's view of Church History. 161 z.B. Eph 6,16: 504,7; 543,4f; 554,2.5f; Gen 3: 546,2f; 548,6; 1. Joh 3,8; Hebr 2,14: 584,7-10; 1. Petr 5,8: 543,4f. 158
V. Inhaltliche Veränderungen
115
wird von Luther im Licht der Schrift erkannt und dargestellt. Dietrich kann dagegen seine Aussage in 506,1 Of ohne Schriftverweis einfügen 162 . - Hs 506,7 Quod est reliquum peccati, offendit istos ( < spirituosos servos dei) Schwermeros.
D r 506,24ff Quod igitur peccati reliquum est, offendit quidem spirituosos Donatistas, Manicheos, Papistas, Deum autem non offendit, quia propter fidem in Christum id condonat et remittit.
An der Stelle, an der Luther laut der Nachschrift feststellt, daß die „Schwermer" an dem Rest der Sünde in der Kirche Anstoß nehmen, fühlt Dietrich sich zu einer eigenmächtigen Ergänzung genötigt, nach der Gott durch den Sündenrest nicht beleidigt wird, da er ihn „propter fidem in Christum" verzeiht und vergibt. Schon in D.IV.l.f) ist gezeigt worden, daß Dietrich häufiger kurze Begründungen in den Drucktext einfügt, um den Leser auf gewisse Zusammenhänge hinzuweisen. Auch an dieser Stelle verhält es sich so. Der Leser wird unterrichtet, daß Gott keinen Anstoß an dem Rest der Sünde „propter fidem in Christum" nimmt. Diese Formulierung findet sich an keiner Stelle innerhalb der Nachschrift, wohl aber an einer weiteren Stelle im Druck, in der Dietrich Luther sagen läßt, daß „propter fidem in Christum Oratio accepta est" (503,25). Auch wenn Dietrich die Aussage Luthers vom Sündenrest innerhalb der Kirche übernimmt, kann er doch diese negative Betrachtungsweise, auf die es Luther in der Auseinandersetzung mit den Donatisten und anderen gerade ankommt, nicht als einzige Aussage über die Kirche stehenlassen. So fügt er von sich aus mit Bezug auf Rö 8,23 die folgende, positive Beschreibung hinzu, die er im Druck vor die Aussage vom Sündenrest fügt: - Hs — D r 506,22f Ecclesia est, quae 'primicias spiritus', non decimas, multo minus plenitudinem in hac vita accipit.
Besondere Beachtung verdient zuletzt Dietrichs Umgang mit Luthers Bezugnahmen auf M t 16,18: „Ecclesia invicta contra omnes 'portas inferi'" (507,2f). Dieser Satz wird von Dietrich kurzerhand ausgelassen! Anders verfährt er mit der zweiten Anspielung auf diese Schriftstelle am Ende der Auslegung:
162
In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, daß Dietrich bei der Übernahme von Aussagen über den Teufel einmal den von Luther deutlich gemachten biblischen Bezug fortläßt, s. 504,7f/19f.
116
D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
- Hs 592,7-10 Ideo orat: 'Consolida opus tuum', das es gewis zu gehe, tarn in docentibus quam in recipientibus. Sic Ecclesia manet firmamentum solidum, contra quod 'portae inferi' nihil possunt, quia est certa de verbo et opere dei.
Dr 592,20-24 Orat itaque Moses non sine causa pro confirmatione seu consolidatione operum manuum nostrarum, ut sit certitudo tarn in docentibus quam in recipientibus, ut maneat in Ecclesia illud solidum firmamentum, contra quod 'portae inferorum' nihil poterunt, et ut omnes certi sint de verbo et opere Dei.
Kann Luther ursprünglich feststellen, daß die Kirche selbst die feste Stütze ist, gegen die die Pforten der Hölle nichts zu tun vermögen, so läßt Dietrich im Druck Mose dafür beten, daß in der Kirche jene feste Stütze bestehen bleiben möge. Gibt Luther gemäß der Nachschrift als Begründung an, daß die Kirche durch das Wort und Werk Gottes festgesetzt sei, löst Dietrich im Druck den Kausalsatz auf und läßt Mose jetzt zudem darum bitten, daß alle Menschen durch Gottes Wort und Werk bestimmt werden. Nimmt man beide Bezugnahmen Luthers auf Mt 16,18 und Dietrichs Bearbeitungen derselben zusammen, so läßt sich sagen, daß Luther das Schriftwort auf die Kirche selbst, Dietrich auf das Bekenntnis in der Kirche bezieht. Vor allzu ungeschützten Aussagen über die Kirche wie „Ecclesia invicta ..." oder „Ecclesia manet ...", die auch auf die sichtbare Kirche bezogen werden können, schreckt Dietrich zurück. Daher läßt er sie aus oder formuliert sie in seinem Sinne um, nach dem die Verheißung in Mt 16,18 „für alle Zeit dem Bekenntnis bzw. der bekennenden Gemeinde, die um ihres Bekenntnisses willen den Angriffen des Teufels standzuhalten hat (, gilt)"163. Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß Dietrich die Aussagen Luthers über die Kirche innerhalb der Vorlesung stark bearbeitet hat. Der Leser des Drucks hat so, ohne sich dessen bewußt zu sein, Dietrichs Auffassung von der Kirche vor Augen, die wohl auf Luther fußt, aber in verschiedenen Aspekten deutlich anders orientiert ist.
4. Das „genus humanum insensatum" Dem folgenden Abschnitt der Untersuchung seien zwei Vergleichstexte vorangestellt: - Hs 545,5-546,1 Istis turbis nos Deus obruit ( < wenn der calamitatem noch mher weren, tarnen non curat). Sunt aliis in exemplum, sed non terrentur aeterna morte, ira, Krig, Pestilentia, frantzos; nihil terretur, sed tantum nur erger per straffen, ut multos Klaus, Dietrich, S.333; s.a. S.332.
V. Inhaltliche Veränderungen
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'percussi vos et non sensistis' ( < lere. 5.), Et non doluistis. Salomon: (Sic sumus volle sew > ) sumus gar 'insensibiles'. ((* Quia sumus insensibiles, ideo deus sie nos terret *)) Non sentimus ( < advertimus) istas calamitates et inflictas ira divina ( < divinitus). Dr 545,25-29164 Videmus enim, quam horribilis humanarum mentium sit securitas, ut, quotidianis et durissimis calamitatibus suis et aliorum admoniti, tarnen non requirant Deum, Sicut apud Esaiam est: 'Et non est reversus populus ad percutientem se\ Similes enim sunt porcorum et plane sine omni sensu nec animi advertunt divinitus calamitates infligi. - Hs 566,3-9 Ideo conqueritur hoc Moses, quod humanum genus ( < sit sic) dementatum et insensatum, ut sua mala ( < summa incommoda, in quibus vivit et ob oculis cernit) non sentit. Mundus (tarnen > ) non emendatur flagellis, ut dicitur. Wenn ein knecht, magd schleg faul wird, (schemen sie sich nicht > ) ists alls verloren, quod plagis non emendatur, non verbis, (sumus nos omnes > ) Sic dicit Moses: (sumus tanquam > ) est stupor quidam in anima et corpore ( < corde et in peccatis et ipsa morte non videt iram), totum genus humanum, quod in peccato videt miseriam, mortem vitam, ipsas calamitates interpretatur voluptates. Dr 566,14-18 Hanc coecitatem deplorat hic Moses, quod homines sic sint dementati, ut sua summa incommoda non intelligant, etiam cum ea sentiunt, Sed sicut Servi assuefacti ad piagas ferendas nihil emendantur flagello Dei. Tales, inquit Moses, sumus nos omnes, laboramus incredibili stupore cordis, ut mala, quae sentimus, non intelligamus. Ein Vergleich dieser Texte zeigt, daß Dietrich die Aussagen aus der Nachschrift, in denen von Luther das Nicht-Fühlen (non sentire) bzw. die Unempfindlichkeit (insensibilitas) der Menschen in Bezug auf ihre N ö t e festgestellt wird, entweder ausläßt ( 5 4 5 , 8 - 546,1; 545 zu 8; 566,4) oder umformt ( 5 4 5 , 7 f / 2 8 f ; 5 6 6 , 4 / 1 5 ) . Bevor der Grund dieser Änderungen im Druck erörtert werden kann, ist auf eine zweifache Ausdrucksweise Luthers innerhalb der Nachschrift hinzuweisen. Einerseits kann Luther sagen, daß der Mensch seine N ö t e fühlt (sentit), auch wenn er sie in ihrer Bedeutung nicht versteht (non intelligit): „ . . . calamitates, quas sentit et patitur, non intelligit, . . . " (485,1); „ . . . humanum cor . . . sentit: quotidie ( < non credit) morimur, premimur calamitatibus. Sed ubi, qui hoc considerant?" (565,6f). Andererseits stellt Luther fest, daß der Mensch seine N o t nicht einmal mehr fühlt (non sentit): „ N o n sentimus istas calamitates . . . " (546,1). Schon Rörer hat offenbar bei diesem Satz Luthers Ausdrucksweise als sehr drastisch empfunden und über „sentimus" im Rahmen der Interlinearüberarbeitung „advertimus" (546 zu 1) geschrieben. Diese Milderung der Ausdrucks164
Zu Freitags Anmerkung S.545 Anm.l zu D r s.u. die weiteren Ausführungen.
118
D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
weise hat Rörer jedoch nicht an allen Stellen angebracht (s. z.B. 567,7f; 571,7f). Luther indes konnte sich während der Vorlesung tatsächlich so drastisch äußern. Im Wissen um den Unterschied zwischen „sentire" und „intelligere" (s. 485,1) unterstreicht Luther mit der Formulierung „non sentit" anstatt eines zu erwartenden „non intelligit" die Aussage besonders nachdrücklich. Diese zweifache Ausdrucksweise gleicht Dietrich im Druck nach einem bestimmten Schema aus. Überall, wo in der Nachschrift steht, daß der Mensch seine Nöte nicht fühlt (non sentit), liest man im Druck, daß er sie nicht versteht (non intelligit, non cogitet, non credit), s. z.B.: - Hs 567,7ff Si ergo non sentiunt corporalia et externa mala ( < mortem et alias huius vitae calamitates), quomodo spiritualia, mortem aeternam, iram divinam, peccatum?
Dr 567,18ff Nam cum temporalia illa de calamitatibus huius vitae non intelligamus nec credamus, Quanto credemus minus spiritualia de aeterna morte et aeterna vita?
- Hs 571,7ff ... ( < wir) non sentimus ( < sollen fulen) mortem, pestes, morbos et universas calamitates generis humani, sollen Gott noch erst drumb beten, ut det sensum, ut homo incipiat 'cogitare': (Ach > ) quid sum? D r 571,20ff ... necessaria sit oratio pro toto genere humano, ut ista cogitare possit, quae videt, imo quae experitur fieri, ...
- Hs 577,7f . . . dedisti ( < nobis (etiam)) hoc agnoscere, sentire. D r 577,20f . . . dedisti hanc primam sapentiam, ut agnosceremus iram, ...
Auch der in 545,7f/27 zu beobachtende Zitatwechsel (Hs: Jer 5,3; Dr: Jes 9,12) läßt sich von hier aus erklären: - Hs 545,7f 'percussi vos et non sensistis' D r 545,27f 'Et non est reversus populus ad percutientem se'
Da Dietrich das „non sensistis" nicht umformulieren konnte, weil es als Schriftzitat vorgegeben ist, wählte er ein anderes 165 . Nur in den Fällen, in denen Luther mit Blick auf die Kürze des Lebens, die Erbsünde und den Zorn Gottes von einem „non sentire" spricht, kann Dietrich es im Druck übernehmen, z.B.: 165
Ansonsten finden sich die Zeilen 5-8 der Nachschrift auf S. 545 durchaus im Druck wieder, so die Aufzählung der Nöte, der Vergleich mit den Schweinen, das Verb „terrere", das Adjektiv „insensibilis".
V. Inhaltliche Veränderungen
119
- H s 524,6f ... humanum genus ( < ratio) ( < quae) prae sua caecitate non aestimat miseram calamitatem ( < iram), brevitatem, non sentit, et tarnen ob oculos. D r 524,19ff ... homines suas calamitates, nempe iram Dei et brevitatem vitae non sentiunt, quam tarnen oculis vident et experiuntur. - H s 567,6f ... sie obruti et involuti ( < obnoxii) irae divine, morti ( < aeternae), inferno, malis corporalibus et spiritualibus, sub diabolo, et tarnen nemo credit ( < weil es), sentit. D r 567,16ff ... sie opressi sumus morte aeterna et peccatis et tarnen id non sentimus, nisi admoneamur, admoniti autem non credamus. - Hs 567,llf ... infinitus furor ( < ira), et tarnen hoc non sentit homo, ... D r 567,23ff ... infinitus furor et immensa ira, Et tarnen hoc homo non sentit, ... D e r G r u n d , warum Dietrich die eine Ausdrucksweise Luthers nicht f ü r den D r u c k übernommen hat, mag darin liegen, d a ß er sich - wie schon anderorts beobachtet 1 6 6 - um einen einheitlichen Sprachgebrauch müht. Auch Dietrichs Interesse an einer Milderung von allzu drastischen Formulierungen Luthers ist in Betracht zu ziehen. Es kann aber auch die Bearbeitung der Ausdrucksweise aus inhaltlichen Motiven nicht ausgeschlossen werden. Hierzu sei eine Passage aus Dietrichs deutscher Schrift „Was die Christe f ü r gedanke haben sollen / wenn sie mit der Leich gehen" von 1545 angeführt, in der er auf Ps 90,12 eingeht: „Darumb lere uns bedencken / das wir sterben müssen / auf das wir klug sind. Was ist das für ein gebet ? Soll uns unser Herr Gott allererst solches lernen. Sehen wirs doch teglich fur uns / Ja wir erfarens teglich an unns / das es jmmerdar mit uns zur gruben sich neyget? Warumb bitet denn Moses / das Got jn und uns alle solche sol leren? Antwort / War ist es / wir alle sehes alle tag für uns / aber es gehet uns nit allen zu hertzen / wir bedenckens nit mit ernst / das dergleiche alle augenblick mit unns sich auch kan zutragen / sonst würden wir unser leben wol anders anstellen ... Denn die gröste narrheit ists / das wir an Gott / an Gottes Gericht / an Gottes zom / Unnd die ewigen güter nicht gedencken ... "167 Dietrich sieht also in der täglichen Erfahrung „das es jmmerdar mit uns zur gruben sich neget" eine Grunderfahrung aller Menschen. Jeder einzelne hat diese N o t vor Augen, um deren Wahrnehmung es keiner besonderen s.o. D.IV.l.f) Dietrich, Schriften, S. 153,15-32.
120
D. Das Verhältnis des Drucks zur Nachschrift
Ausrüstung durch die Gnade bedarf. Von dieser Anschauung her ist die folgende Auslassung im Drucktext zu erklären: - Hs 524,8f H o c ( < Haec) vident spirituales oculi et illuminati per verbum, illam calamitatem et brevitatem.
Dr — Was aber das rechte Verstehen des Todes wie aller anderen menschlichen Nöte angeht, bedarf es der Belehrung, die Dietrich mit der Druckedition zu leisten versucht.
5. Polemik Betrachtet man Dietrichs Bearbeitung der polemischen Äußerungen Luthers innerhalb der Nachschrift, so lassen sich Beobachtungen anstellen, die auf eine inhaltliche Verschiebung der Polemik im Druck schließen lassen. - Hs 500,4ff Docet dialectica, ut bene dividatur ( < Das man so Mose nach sehe, wo er sein äugen hin wendet), ut Paulus ad Timotheum, 'ut secet ( < leret) recte' ((* 2. Timo. 2. *)), Ut non miscantur, ut Iudei et pseudapostoli ( < praedicatores).
Dr 500,16f Ideo Paulus quoque iubet recte 'secari' verbum, ne confundantur promissiones et minae, Sicut Iudaei olim solebant et Papistae hodie.
Neben der präzisierenden Ergänzung „ne confundantur promissiones et minae" fällt im Druck die Ersetzung der „pseudapostoli ( < praedicators)" durch „Papistae" auf. Durch ein hinzugefügtes „hodie" unternimmt Dietrich von sich aus einen Zeitbezug. Zur Nennung der „Papisten" mag sich Dietrich durch 500,7 veranlaßt gefühlt haben, wo Luther von den „tyrannici doctores Papistarum" spricht. An dieser Stelle nimmt Dietrich die Polemik auf (500,21). Durch seine selbständige Einfügung in 500,17 tritt die Polemik gegen die „Papisten" im Druck jedoch stärker hervor als in der Nachschrift. - Hs 503,Iff Quomodo ( < ille) oraret, (der sich nichts guts zu unserm Herrn Gott versihet > ) qui vel contemnit, vel desperat de Deo, ut sunt orationes Monachorum, sunt 'battalogentes', deblaterantes ( < sine fide) tantum syllabas.
Dr 503,13-18 Quomodo enim orabit ille, qui non putat in Deo tantum bonitatis esse, ut orantes audiat, sed vel contemnit Deum vel de Deo desperat? Cuius generis sunt omnes orationes Papatus. Non solum enim in fide orare non possunt, siquidem fidem non intelligunt, sed etiam postea in eo viciant orationem, quod sanctorum meritis et intercessionibus nituntur.
V. Inhaltliche Veränderungen
121
Die von Luther kritisierten „orationes Monachorum" werden unter Dietrichs Bearbeitung im Druck zu „orationes Papatus". Zudem fügt er die Aussagen hinzu, daß die „Papisten" nicht „in fide" beten können, da sie grundsätzlich „fidem non intelligent". Außerdem läßt Dietrich Luther im Druck sagen, daß sie das Gebet dadurch verderben, da sie sich auf „Verdienste und Fürbitten der Heiligen" verlassen. Somit hat Dietrich Luthers ursprüngliche Kritik an den wortreichen Mönchsgebeten durch Umformung und eigene Hinzufügungen in eine grundsätzliche Kritik an den Glauben der „Papisten" umgewandelt. - H s 506,7 Quod est reliquum peccati, offendit istos ( < spirituosus servos dei) Schwermeros. D r 506,24ff Quod igitur peccati reliquum est, offendit quidem spirituosus Donatistas, Manicheos, Papistas, . . .
Auf die Streichung der „Schwermer" aus zeitbedingten Motiven zur Zeit der Druckbearbeitung wurde oben schon des öfteren hingewiesen. Dietrich ersetzt den Begriff durch Aufzählung der drei von Luther zuvor in der Nachschrift kritisierten Gruppen, die eine falsche Kirchenauffassung vertreten: die Donatisten (506,1), die Manichiäer (506,2) sowie die „Papisten" (505,9). Zwar kann Luther in 505,9 „Papisten" und „Schwermer" zusammen nennen, aber eine Zusammenstellung wie in 506,25f hat in der Nachschrift keinen Anhalt. Zudem wird durch die erneute Nennung der „Papisten" die Polemik gegen sie im Druck unterstrichen. - Hs 515,5 Qui originis peccatum describunt, vocant ( < sie die pfaffen heissen) concupiscentiam.
D r 515,15f Inde fit, ut Papistae nostri, cum de peccato Originis disputant, etiam nihil intelligant quam concupiscentiam carnis.
Dietrich präzisiert das allgemeine „qui", das Luther der Nachschrift zufolge gesprochen hat, durch „Papistae nostri". - Hs — D r 570,18f Huiusmodi testimonia et certa sunt et non sunt sie rara, sicut Scholastici somniaverunt.
Die Kritik an den „träumenden Scholastikern" hat ebenfalls keinen Anhalt in der Nachschrift. Dietrich knüpft damit an seine Aussage „Est autem usitata sententia in Scholis Theologorum . . . " (569,23) an, die, was die Nennung der „Theologenschulen" angeht, ebenfalls keine Stütze in dem von Luther ursprünglich Gesagten aufweisen kann.
122
Ε. Der Wert des Drucks
Schon B. Klaus hat zu Dietrichs Bearbeitung der Vorlesungen über Joel, Arnos und Obadja angemerkt, daß Dietrich „gegen die Papisten . . . einen schärferen Ton angeschlagen (hat). Er hat antipapistische Wendungen hinzugefügt .. ." 1 6 8 . Mit diesen Ergebnissen schließt sich Klaus den Beobachtungen von Koffmane an 169 . Auch bei der vorliegenden Untersuchung läßt sich an Dietrichs Bearbeitung der Nachschrift zur Vorlesung über Psalm 90 feststellen, daß er die Kritik gegen die „Papisten" ausgebaut hat. Für den Leser des Drucks redet Luther so häufiger und ausführlicher gegen die „Papisten". Auf diese Weise polemisiert hier aber nicht Luther, sondern Dietrich.
E. Der Wert des Drucks Am Ende der Untersuchung über die Bearbeitung der Nachschrift durch Dietrich zum Drucktext der „Enarratio Psalmi X C " kann ein Urteil über den Wert des Drucks nicht ausbleiben. Dabei wird der Quellenwert kritisch zu betrachten sein, der dem Druck als Wiedergabe des Inhalts der Vorlesung Luthers über Psalm 90 zukommt. Die „Enarratio Psalmi X C " hat sich an den noch erhaltenen Nachschriften in Rörers Kollegheft messen lassen müssen, denen ein hoher Quellenwert bescheinigt werden konnte (s. B.II., III.). Dabei zeigte sich bald, daß das frühere Urteil von A. Freitag, nach dem „Dietrichs Druck mit verhältnismäßig kleinen Änderungen dem von Rörer festgestellten Wortlaut (folgt)" 1 7 0 , zu korrigieren ist. Es konnte gezeigt werden, wie intensiv Dietrich die Nachschriften bearbeitet hat, so daß am Ende alle Charakteristika des Vorlesungsstils Luthers getilgt worden sind, sei es durch Auslassung, sei es durch Umformulierung (s. D.III.). Dabei Hessen sich auch Einfügungen aus Dietrichs Feder nachweisen, mit denen er Luther Aussagen in den Mund legte, die dieser ursprünglich nie gesagt hatte. Nach Abschluß dieser Bearbeitung hatte Luthers Auslegung nun anstatt des Vorlesungscharakters den Charakter einer lehrhaften „Enarratio". Dietrich stellte diesen heraus, indem er jeden Satz seiner Vorlage sorgfältig prüfte, um ihn gegebenenfalls zu korrigieren, zu gliedern, zu präzisieren etc. (s. D.IV.). Aussagen Luthers, die ihm und seiner theologischen Auffassung widerstrebten, ließ er kurzerhand aus oder formulierte sie in seinem Sinne um (s. D.V.). Klaus, Dietrich, S. 340. » " Koffmane, WA 13, X X I V . 170 Freitag, Vorwort, S.477. 168
Ε. Der Wert des Drucks
123
Nach Wahrnehmung dieser Befunde kann dem Druck kein Quellenwert für die Wiedergabe dessen zugesprochen werden, was Luther einst in seiner Vorlesung von 1534/35 gesagt hat. Will man Luthers Auslegung von Psalm 90 studieren bzw. zitieren, was bis heute in der Lutherforschung oft und gern getan wird, so hat man sich an die Nachschriften Rörers der ersten sechs Vorlesungstage sowie an die Nachschrift Dietrichs vom letzten Vorlesungstag zu halten, die sich in Rörers Kollegheft finden. Auch Rörers Überarbeitung ist dabei teilweise zu berücksichtigen. Der Blick in den Drucktext ist nur für denjenigen von Interesse, der betrachten will, wie Luthers Auslegung 1541 von Veit Dietrich aufgenommen worden ist und welche Aussagen bei der Rezeption der Druckedition in der Geschichte der Lutherdeutung herausgestellt wurden. Die Frage, was Luther selbst zu Psalm 90 geäußert hat, ist dagegen ausschließlich aus Rörers Kollegheft zu beantworten. Das Urteil am Ende des ersten Teiles dieser Untersuchung, das der Druckbearbeitung jeglichen Quellenwert für die Wiedergabe von Luthers Auslegung abspricht, hat auch für die anderen Editionen Dietrichs eine kritische Relevanz. Die in dieser Arbeit im Vergleich zwischen Nachschrift und Druck des Kollegs über Psalm 90 gemachten Befunde sind auch bei den anderen Vorlesungen Luthers seit 1524, die von Rörer mitgeschrieben und von Dietrich herausgegeben worden sind, nachzuweisen. Auch dort ergänzt, präzisiert oder verwirft Dietrich von sich aus und nach eigenem Gutdünken Aussagen Luthers, wie sie die Nachschriften wiedergeben. Folglich ist auch diesen, d.h. allen Druckeditionen Dietrichs ein Quellenwert abzuerkennen. Da jedoch Rörers zuverlässige Nachschriften erhalten und verfügbar sind, ist der Fortfall der Druckeditionen für die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Theologie Luthers - abgesehen von der Genesisvorlesung - kein Schade. Zur Darstellung von Luthers Auslegungen können in Zukunft allein die Nachschriften, eingedenk der bei ihrer Heranziehung zu beachtenden, in dieser Untersuchung dargestellten Problematik, herangezogen und zitiert werden.
2. TEIL LUTHERS AUSLEGUNG VON PSALM 9 0
F. Luthers Vorgehen bei der Auslegung Zu Beginn seiner Vorlesung über den 90. Psalm 1 am 24.10.1534 teilt Luther den Zuhörern nach einer kurzen persönlichen Einleitung 2 sein beabsichtigtes Vorgehen bei der folgenden Auslegung mit: „Psalmus habet titulum: O r a t i o Mosi' etc. Antequam tractemus Titulum vel textum, videbimus de argumento huius psalmi vel orationis." 3 Diese Voranstellung von Darlegungen über argumentum4 und titulus vor die Textauslegung, begegnet häufig in Luthers Vorlesungen. Mit dem argumentum teilt Luther Inhalt 5 bzw. Botschaft 6 eines biblischen Buches, Buchkapitels oder Psalms bzw. die 1
Rörers Nachschrift bildet aufgrund der Ergebnisse des 1. Teiles der vorliegenden Arbeit die alleinige Grundlage für alle folgenden Untersuchungen. Zur Wiedergabe der Nachschrift s.o. B.IV. Randbemerkungen, die eindeutig als von Rörer selbst formulierte Teile der Randüberarbeitung anzusehen sind (Summarien, Stichworte, Verweise), werden nicht wiedergegeben. Zitate Luthers ohne Angabe des betreffenden WA - Bandes beziehen sich auf WA 40 III. 1 Bei aller Kürze der Äußerung läßt sich doch erkennen, daß Luther seine Vorlesungstätigkeit in einer Beziehung zu zeitgeschichtlichen Bewegungen wahrgenommen hat. Luther äußert zu Beginn, er wolle im Kolleg über Psalm 90 „Mosen tractare, donec vivimus, . . . " (484 zu 3), im Wissen um die sich immer mehr verhärtenden Papisten (484 zu 1) und in der Meinung, daß nach seinem T o d e viele Menschen die Theologie wie auch andere Studien geringschätzen werden und nur wenige bereit sind, Gott zu loben (484,3f). Die folgende Vorlesung hält Luther nicht nur im Angesicht dieser Zeiterscheinungen, sondern auch gegen sie, wie nicht allein aus den einleitenden Sätzen gefolgert werden kann, sondern auch von Luther selbst in seinem Vorwort zu Dietrichs Druckausgabe der Vorlesung deutlich herausgestellt wird (484,14-17). Solche am Anfang ausgesprochene Einbeziehung der Auslegung in einen zeitgeschichtlichen Kontext begegnet schon 1531 zu Beginn der Galatervorlesung (WA 40 1,39,4-8). Es wäre allerdings verfehlt, daraus zu folgern, daß sich Luther bei seinen Vorlesungen allein auf die Auseinandersetzung mit Gegnern oder die Herausstellung der evangelischen Lehre gegen Verfälschungen konzentrierte. Die Auslegung biblischer Schriften bedeutete für ihn mehr, wie nicht nur die Auslegungen im einzelnen zeigen, sondern auch von Luther ausführlich zu Beginn des Kollegs über Psalm 2 (1532) dargestellt wird: „... lectio scripturae nihil aliud est quam praedicatio divinae misericordiae, laus et gratitudo pro immensis et innumerabilibus beneficiis, quae etiam nos instruit de vera cognitione Christi et consolatur et munit adversus scandala et tentationes diaboli et confortat, ut perseveremus ad diem illum beatum adventus etc." (WA 40 11,194,9-195,1). 3 484,5 f. 4 Neben dem Ausdruck „argumentum" kann Luther in seinen Vorlesungen auch „summa" bzw. „summum" oder „subiectum" verwenden, s. Anm. 6 ff. 5 s. z.B. zur Philemonbriefvorlesung 1527: „Argumentum huius epistolae est, quod Onesimon servum Philemonis Paulus reconciliat suo domino, qui forte ei aliquid etiam furatus vel saltern sua fuga intermiserat servitium sui domini;" (WA 25,70,4ff). 6 s. z.B. Vorlesung über den 1. Johannesbrief, 1527: „Summa summarum Epistolae: Docere puram fidem adversus hereticos, ardentem charitatem adversus tepidos." (WA 20,601,5ff);
128
F. Luthers Vorgehen bei der Auslegung
Intention des Autors 7 mit, wobei zugleich der Skopus der folgenden Auslegung für die Zuhörer angezeigt wird. Meistens stellt Luther das argumentum in einem einzigen Satz vor, seltener in zwei oder drei Sätzen 8 . Rörer hebt oft bei seinen Nachschriften das argumentum durch eine Notiz am Rand seines Kollegheftes hervor9, womit er Luthers Absicht genau zu treffen scheint: Den Zuhörern gibt Luther in knapper Form das Grundthema an, die mitschreibenden Studenten können später auf der ersten Seite ihrer Nachschrift erkennen, „de qua re agat"10. Weniger häufig geht Luther auf den Titel eines Buches oder Psalms ein. Die Titelauslegung verbindet er - abhängig von der Titelaussage - mit Äußerungen über den Autor 11 , die Zeitumstände der Abfassung 12 oder - bei den Psalmen - Erklärungen zu den genannten hebräischen Melodien 13 . Auch diese Ausführungen hält Luther so knapp wie möglich.
Vorlesung über Stufenpsalmen (Ps. 120), 1532: „Argumentum est: Invocationem auxilii divini adversus malas linguas et contra damna malae linguae, praesertim hereticae, et quae docet adversus puram doctrinam verbi." (WA 40 III,15, Iff); (Ps. 121), 1532: „Exhortatur istam fidem esse argumentum huius psalmi." (WA 40 III,59,lf); (Ps. 130), 1533: „Argumentum est, docere nos veram viam ad iusticiam, vitam, salutem, veram evasionem, redemptionem a morte, peccato, diabolo. Est docere viam de hac vita in eternam. Das ist locus noster et principale thema." (WA 40 111,339,12-340,2). 7 s. z.B. Römerbriefvorlesung, 1515/16: „Summa et intentio Apostoli in ista Epistula est omnem Iustitiam et sapientiam propriam destruere . . . . Et hoc facit usque ad c. 12; ab hoc autem usque ad finem docet, que et qualia operari debeamus ex ipsa Iustitia Christi accepta." WA 56,3,6f. 1 Iff; Galaterbriefvorlesung, 1531: „1. tractandum subiectum vel argumentum i.e. de qua re (Paulus > ) ipse agat. Argumentum est, quod vult stabilire doctrinam illam iusticiae, fidei, gratiae, remissionis peccatorum, ut habemus perfectam cognitionem et differentiam inter iusticiam christianam et omnes iusticias alias." (WA 40 1,40,1-4); Pred. Salomo-Vorlesung, 1532: „Ante omnia ergo est summa istius libri, quod Salomon vult reddere nos quietos in animo, ut simus content! praesentibus, ut Paulus ait, sine avaritia, ambitione, cura et solicitudine." (WA 20,9,8-10,2); Psalm 2, 1532: „Argumentum: vult declarare vel prophetare de regno Christi dilatando per totum orbem terrarum invitis 'portis inferorum' et 'principibus aeris' et mundi." (WA 40 II,196,3ff). 8 s. Anm. 5 ff. ' s. z.B. WA 40 1,40 zu 2; WA 40 11,196 zu 3; WA 40 111,339 zu 12. 10 496 zu 6; vgl. WA 40 1,40,1. 11 s. z.B. Vorlesung über die Stufenpsalmen (Ps. 122), 1532: „Titulus indicat hunc psalmum esse canticum vel poema optimi poetae et summi, scilicet Davidis." (WA 40 III,74,lf); (Ps. 124), 1532: „Iste Psalmus, sicut habet titulus, est etiam 1 de Davidicis, sicut scitis, psalmos Davidicos praecipue habere illum superbum: et 1. affectum fidei in theologia et proprietatem in grammatica." (WA 40 111,134,1-4); (Ps. 127), 1533: „Psalmus iste habet Titulum Salomonis; et credo ipsum esse authorem huius psalmi, quia Salomo ferme per omnes libros suos est doctor politicus, tractat ut nullus philosophus et homo in terris, scilicet in fide, et refert, quidquid geritur sive politice et oeconomice, in divinam administrationem. H o c facit nullus alius scriptor." (WA 40 111,202,2 ff.7-10). 12 s. z.B. Jesajavorlesung, 1527: „Hic est titulus libri secundum Hebreorum morem, qui titulum faciunt inicium libri. Hic videmus, quo tempore prophetaverit Esaias, et reddimur certi de historiis, atque vice magni commentarii est hic titulus." (WA 31 11,2,19ff). 13 s. z.B. WA 40 II, 474,1-481,2.
I. De argumenta
129
Vergleicht man mit diesen Befunden nun die Darlegungen Luthers zu argumentum und titulus in der Vorlesung über Psalm 90, so kommt man zu einem auffälligen Ergebnis. Argumentum und titulus erstrecken sich nicht wie bei Luther üblich über einen oder zwei Sätze, sondern jeweils über mehrere Seiten 14 ! Diese Darlegungen nehmen über 10 % des Gesamtumfangs der Auslegung des 90. Psalms ein 15 . Niemals zuvor und auch nicht bei seiner folgenden, letzten Vorlesung über die Genesis hat Luther eine derart umfangreiche Erklärung von argumentum und titulus gegeben. Ob und mit welcher Intention für die Gesamtauslegung diese Ausführlichkeit von Luther beabsichtigt ist, werden die folgenden Untersuchungen an den betreffenden Texten zu erweisen haben.
I. De argumento 1. Aufbau und Inhalt Luther beginnt bei seiner Darstellung des argumentum nicht mit einer Inhalts- oder Intentionsangabe des Psalms, wie er es sonst zu tun pflegt 16 , sondern mit einer Erörterung über das menschliche Erkenntnisvermögen 17 . Schon mit dem ersten Satz macht Luther seine Meinung unmißverständlich deutlich: „Nostis universum genus humanum ita ( < tieff, horribiliter) lapsum et excaecatum originali peccato, ut non modo seipsum ignoret et deum, sed etiam suas ipsas calamitates, (in quibus vivit > ) quas sentit et patitur, non intelligit, neque unde sint, veniant, nec quo vadant, quid sint et habeant." 18 Die Menschheit lebt, so stellt Luther hier und in den folgenden Sätzen fest, in einem Zustand der Blindheit bzw. Verblendung 19 , der allein auf die Ursünde zurückzuführen ist 20 . Die Größe der daraus resultierenden Erkenntnisnotlage zeigt sich besonders in menschlichen Stellungnahmen gegenüber dem Tod, der „die schlimmste und schrecklichste Tatsache" im Leben ist, da er alle Menschen „on widderstand hinreisst und 14
4 8 4 , 7 - 4 8 9 , 8 (argumentum), 4 8 9 , 9 - 4 9 6 , 7 (titulus). Die Gesamtauslegung nach Rörers Kollegheft u m f a ß t in d e r W e i m a r e r Ausgabe 1326 Zeilen, d a v o n entfallen auf die D a r l e g u n g von argumentum u n d titulus 143 Zeilen. 16 s. die Beispiele Anm. 5 ff. 17 vgl. G.II. 18 4 8 4 , 7 - 4 8 5 , 2 . Die W e n d u n g , d a ß die M e n s c h h e i t „non m o d o seipsum ignoret et d e u m " , klingt wie die in ihr Gegenteil verkehrte Aussage Luthers über die A u f g a b e d e r T h e o l o g i e „ C o g n i t i o dei et hominis sapientia divina et propire theologica, . . . " (WA 40 11,327,11). Ähnliche Formulierungen finden sich bei L u t h e r häufig, s. z.B. „'sapientia' et Veritas' idem, q u o d cognosco d e u m et meipsum." (WA 40 11,393,2); „ P a p a e religio est haec: Debes nescire d e u m et teipsum." (WA 40 111,79,4); vgl. auch Ebeling, C o g n i t i o Dei et hominis. " 484,7f; 486,7.11. 20 484,7f; 485,2f; 486,7.11. 15
130
F. Luthers Vorgehen bei der Auslegung
auffrisst" 2 1 . Sämtliche bisherigen menschlichen Ratschläge, wie dem T o d e zu begegnen sei, ob sie von den weisesten Gelehrten oder einfachsten Soldaten stammen, die den T o d entweder gleichgültig oder verachtend wahrzunehmen raten 2 2 , laufen auf eine Verkleinerung (extenuatio) 2 3 der Realität des Todes hinaus. Alle diese Versuche, sowohl den T o d als auch die anderen N ö t e des Lebens 24 erträglich zu machen 2 5 , gehen schon deshalb fehl, da sie im Widerstreit zu Gefühl und Erfahrung stehen 26 . Menschlicherseits ist also ein Heilmittel (remedium) gegen den T o d und die N ö t e nicht gefunden worden 2 7 . Im Anschluß an diese Erörterung stellt Luther nun das „ganz anders" ausgerichtete Reden des Mose im 90. Psalm vor: „Moses totum aliter exaggerat et amplificat mortem et calamitates huius vitae et proprie ( < Mosissimus) Moses, vir legalis ( < in proprio officio), minister mortis 2 8 , irae, peccati." 2 9 W o die Menschheit den T o d verkleinert, vergrößert Mose ihn (exaggerat) 3 0 und stellt ihn „in vortrefflicher Ausübung seines Amtes" 3 1 besonders heraus (amplificat) 32 . Dabei wird der T o d nicht nur auf schreckliche Weise „gemalt" 3 3 , sondern vor allem mit einer „neuen Redeweise" 'Zorn Gottes' genannt 3 4 . Diesbezüglich betont Luther in seiner Darlegung des argumentum den 7. Vers des 90. Psalms, den er auch als einzigen zitiert 35 . Nach Luthers Anschauung werden die Menschen von Mose also nicht allein vor die volle Realität des Todes gestellt, sondern gerade vor den sich im T o d e widerspiegelnden „göttlichen J ä h z o r n " (iracundia) 3 6 , mit dessen Gewahrwerden sich die Perspektive über den zeitlichen T o d hinaus zum ewigen T o d öffnet 3 7 .
21
485 zu 3. 23 485,3-486,7. 486,4.8.12. 24 25 486,4.11. 486,1. 26 27 4 8 5,1; 486,7-10. 486,3f. 28 Diese Titulierung begegnet bei Luther an einer Stelle in der vorhergehenden Vorlesung über die Stufenpsalmen (Ps. 126): "Das ist os Mosi, qui habet linguam plenam mortis amaritudine, quia minister mortis." (WA 40 III, 181,15f). 29 486,12ff. 30 486,12f; 488,14. 31 486,14-487,1; Hinweis auf das „officium Mosi" s. 486 zu 13; 486,14; 488,6.12; 489,6. Zur Autorität des Mose äußert sich Luther bei der Auslegung des Titels, s. 489,9-492,11; s.u. F.II. 32 486,12f; 488,14. 33 487,1; zum Ausdruck „malen" in Luthers Vorlesungen s. Ficker, Luther als Professor, S. 16. 34 „... loquitur nova rhetorica, vocans mortem iram divinam ...", 487,2f. 35 „Et exponit iratum deum: 'In ira tua'." 487,4; s.a. 487,5-8. 36 487,5. 37 487,6 ff. Zur Anschauung des ewigen Todes s. Ebeling, Des Todes Tod, S. 168. 22
I. De argumenta
131
Luther beeilt sich, an diesem Punkt der Darlegung deutlich zu machen, auf wen die Rede des Mose zielt und welchem Zweck sie dienen soll 38 . Mose redet gegen die „induratos et insensatos" 39 bzw. „induratos et durae cervicis 40 hypocritas 41 " 42 . Die uneinsichtigen Menschen, egal ob sie dem Tod stoisch oder fluchend begegnen, will Moses „aufreiben" 43 , „erschrekken" 44 , „aufschrecken" 45 , „völlig einschüchtern" 46 und „demütigen" 47 . Die bisherige Darlegung faßt Luther nun überraschend als „Prior pars argumenti" 48 zusammen, dem er sogleich die Erläuterung der „altera pars psalmi" 49 anschließt. Die ungewöhnliche Zweiteilung des argumentum, die in keiner anderen Vorlesung Luthers begegnet, ist also durch eine Zweiteilung des Psalms begründet. Der 2. Teil des Psalms richtet sich an die durch den 1. Teil - „perterritos" 50 bzw. „humiliatos" 51 mit dem Ziel, daß die derart Erschrockenen „non perdantur" 5 2 und „non desperent" 53 . Dieses Ziel wird dadurch erreicht, daß Mose einen Trost bzw. einen „locus respirandi" 54 anzeigt, indem er auf Christus als den Erlöser hinweist 55 , wenn auch nur „obscurius" 56 , sowohl „quia Moses debet esse Moses" 57 , als auch „quia reservat meliori Doctori ( < praeceptori, qui erat eum secuturus), de quo pater: ( < Et Deute. 18) 'Ipsum audite'." 58 Auch diesen 2. Teil des Psalms faßt Luther am Ende seiner Darlegung zusammen, wobei er nochmals den Zusammenhang mit dem 1. Teil herausstellt 59 und als „Summa psalmi" angibt 60 . Mit der Wertung des Psalms als „utilissimus" 61 , beendet Luther seine Erklärung des argumentum62. Die ungewöhnliche Zweiteilung von Psalm und argumentum wird ein Grund 6 3 zur Erklärung dafür sein, warum Luther nach dem Ende der argumentum-
38 Ein möglicher Grund für Luthers deutliche Herausstellung von Adressat und Absicht des Psalms mag in einer persönlichen Erinnerung aus der Klosterzeit liegen, s. 501,12f, s.u. F.III. 39 487,10; Luther redet auch von „induratos et securos Epicuros, sadduceos, ..." 488,lf; „incredulos contemptores dei" 489,lf; „peccatores" 489,6f; „superbos" 489,7. 40 Anspielung auf Exodus 34,9. "Moses accusat populum durae cervicis." (WA 40 11,360,10). 41 Luther definiert in der Vorlesung über Ps. 51: „hypocrita est induratus, iustificat se operibus suis et nihil seit de peccato, contemptum dei non videt." (WA 40 11,351,5f). 42 488,4. 43 4 8 8 ; 1 _ 44 489,6. « 488,5. 46 47 4 8 8,3f; 489,2. 489,2.7f. 48 49 4 8 8,1. Zusammenfassung 488,1-6. 488,7; s.u. F.I.2. 50 51 488,8.12; „conterritos" 488 zu 12. 489,8. " 488,7. » 488,8; 489,3f. 54 55 488,8 f. 489,7f. 56 57 488,9.10.; 489,7. 488,9f. 58 4 8 8,1 1; s.a. 499,4ff. " 488,13 - 489,4. 60 61 488,13. 489,4. 62 63 „Hactenus argumentum." 489,4 f. s.u. F.III.
132
F. Luthers Vorgehen bei der Auslegung
und vor Beginn der i/iw/wi-Auslegung noch einmal das argumentum psalmi in knapper Formulierung wiedergibt 64 . Überblickt man abschließend Luthers Darlegungen zum argumentum, tritt der stringente Aufbau seiner Äußerungen deutlich zutage: 484,7-486,12 486.12-487,12 488,1-6 488,7-13 488.13-489,4 489,4 489,6ff
Grundlegende Aussagen zur menschlichen Erkenntnis Inhalt und Intention des 1. Teils des 90. Psalms Zusammenfassung: Prior pars argumenti Inhalt und Intention des 2. Teils des 90. Psalms Zusammenfassung: Summa psalmi (1. und 2. Teil) Wertung des Psalms Abschließende Zusammenfassung des argumentum psalmi
2. Der Skopus der Vorlesung nach dem argumentum Bei der Bestimmung des Skopus der Vorlesung ist es unmöglich, an dem argumentum vorbeizusehen. Die zentralen Aussagen des 90. Psalms sind hier von Luther in durchdachter Weise vor der eigentlichen Auslegung zusammengefaßt worden. Die Textuntersuchung des argumentum hat erbracht, daß für Luther der 90. Psalm nicht eine Einheit darstellt, sondern sich in zwei zu differenzierende Teile gliedert: „Haec duo sunt in toto psalmo" 65 . Seine weitere Auslegung wird zeigen, daß der 1. Teil die Verse 1 - 1 2 umfaßt, der 2. Teil die Verse 13 -17 66 , wobei jedoch festzustellen ist, daß Luther die inhaltlich zu unterscheidenen Psalmteile nicht immer mit der literarkritischen Trennung starr in eins setzt 67 Entsprechend diesem Befund teilt Luther auch das argumentum in zwei Teile. In seinen Zusammenfassungen am Ende der Darlegungen der jeweiligen Teile formuliert Luther deren Hauptgedanken und Intention: - „Prior pars argumenti pertinet ad conterendos induratos et securos Epicuros, sadduceos, qui putant scientiam ( < hoc negocii sibi dari), si contemnant (iram dei et > ) mortem et vivant ut ( < ... ) bruta ( < quibus nulla spes post mortem); sed facit mortem crudelem et atrocem Tyrannum, ut perterrefaciat istos induratos ( < obstinatos) et durae cervicis hypocritas, qui nec deum nec homines metuunt nec suas calamit-
64
489,6ff. 488 zu 13 66 Luther sagt am Ende der Auslegung von V.12: „Haec pars 1. Altera: ..." (575,1 lf; s.a. 576,4f) und schließt daran die Auslegung von V.13 an. Die Mehrheit der heutigen alttestamentlichen Exegeten unterscheidet in genau dieser Verseinteilung zwischen einem älteren Klagelied des Volkes (V.l-12) und einer jüngeren Hinzufügung (V.13-17), s. Müller, Der 90. Psalm, S.266ff; 279-282. 67 s.u. F.II. 65
I. De argumenta ates curant. officium, sie - „... pars 2.: relinquantur
133
Illi sunt conterrendi ( < ...). Istis exhibendum est legis ostendenda peccata et ira, Ro. 1. ((* . . . *))" 68 petere remedium contra istam desperationem, ne homines ita desperare (tantum)." 69
D a ß beide Teile aufeinander zu beziehen sind, wird von Luther deutlich herausgestellt: - „(Haec duo sunt in toto psalmo > ) Haec est Summa psalmi vel orationis < Mosi). Exaggerat et amplificat tyrannidem mortis et ire divinae. H o c est docere vel docere de aeterna morte, ira ( < damnatione et iudicio) dei, loquitur contra incredulos contemptores dei, ut perterrefiant et humilientur. Ubi hoc, est pars 2.: petere remedium contra istam desperationem ..." 7 0 . - „Audivistis Mosen in officio suo proprio agentem, i.e. terrentem peccatores et obscure significantem Redemptorem, ut humiliet superbos et humiliatos (consoletur et > ) mittat ad redemptorem." 71 Nimmt man die von Luther am Text gewonnene Zweiteilung ernst, gelangt man zu der Feststellung , daß der 90. Psalm nicht „einen" Skopus, sondern zwei Skopoi hat, deren prägnanteste Formulierung Luther am Ende der Darlegungen zum titulus psalmi gibt 72 . Der Skopus für die „prior pars psalmi" bzw. „argumenti" kann mit der ersten Zeile der mittelalterlichen Antiphona de morte 73 wiedergegeben werden: Media vita in morte sumus. Für die „altera pars" lautet der zweite Skopus wie die Umkehrung des ersten: Media morte in vita sumus. Beide Skopoi sind zwar - wie gesehen aufeinander bezogen, doch die Bezogenheit wird erst dann in ihrem Vollsinn erkannt, wenn zunächst der erste Skopus für sich wahrgenommen wird, an den der davon sorgsam zu unterscheidende 74 zweite Skopus anschließt. Da jede dieser beiden Zentralaussagen des Psalms für Luther eine bestimmte Wirkung bei den Menschen auslöst, - bei den Selbstsicheren eine erschreckende und bei den derart Erschrockenen eine tröstende -, stehen im Mittelpunkt des Psalms nicht zwei isolierte Themen, sondern ein zweiteiliges, erfahrbares Geschehen, das durch das Hören des „utilissimus
68
488,1-6. 489,2ff. 70 488,13-489,3. 71 489,6 ff. 72 496,4 f. Z u m Verhältnis von G e s e t z und Evangelium im Bezug auf die beiden Psalmteile s.u. F.II. 73 s. Schlißke, H a n d b u c h , S . 2 4 I f f . 74 „Sic ( < . . . ) si non recte dividitur verbum, gravissime peccatur." 5 0 0 , 9 f . 69
134
F. Luthers Vorgehen bei der Auslegung
psalmus" 7 5 ausgelöst wird! Mit seinen zwei Teilen ist der Psalm selbst das Mittel, durch das Gott der verblendeten Menschheit zu rechter Selbst- und Gotteserkenntnis verhilft. Zu wahrer Selbsterkenntnis gelangt man demzufolge, wenn man auf den 1. Teil des Psalms hört, in dem Mose mit göttlicher Autorität das Elend des menschlichen Lebens 76 und die Schrecklichkeit des Todes ausmalt, so daß jegliche Form der Lebensüberhöhung oder Todesverkleinerung unmöglich wird und den Menschen nichts weiter als Erschrecken und Verzweifelung übrig bleibt. Tritt dieses Gefühl ein, kommt der 2. Teil des Psalms zum Tragen, der mit der Vermittlung der rechten Gotteserkenntnis auf das Heilmittel gegen diese Verzweiflung angesichts von N o t und T o d hinweist. Ein Blick in die folgende Auslegung zeigt, d a ß Luther die im argumentum genannten Skopoi stets im Blick hat. In der Auslegung des Psalmtitels sowie fast aller Verse kommt Luther auf diese beiden Zentralaussagen des Psalms, wie sie im argumentum herausgearbeitet worden sind, zu sprechen, entweder in der Herausstellung eines der beiden Teile oder in der Betonung ihrer Zusammengehörigkeit, wie die folgenden Textbeispiele zeigen: Tit:
V.l
V.2
V.3 V.6
75
„Sic in ipso Titulo statim remedium indicat contra horribilem declamationem ( < doctrinam) de Deo ( < morte). Sicque temperat utrumque, ne desperent, qui ( < sunt) conterriti, - (ne indurentur > ) et qui insensati sunt. (Es mus beydes sein, ut pavefacti erigantur > ) Illos vult terrere - et horrentes, paventes facere securos 77 ." 78 „Sic Moses optimus D o c t o r est, qui vehementer amplificat iram dei contra istos praesumptuosos, (duros > ) praefractos . . . Sed qui sic metuunt ab ira et morte, ίIii doceri possunt et parati sunt ad (accipiendam > ) consolationem dei .. ." 79 „Praemisit ( < igitur) istum versum ad conterrendos ( < . . . ) superbos ( < nimpt ein grossen donner), quia sunt (hart > ) duri . . . . Contra pavidos ( < gehet das) est habitaculum ..." 8 0 „Verbum docet peccatum mereri iram et mortem, deinde iterum (postea > ) remedium; hoc 2. tantum scriptura!" 8 1 „Ibi subiungit 'mortem' in vitam et facit spem, quod post mortem resuscitabimur in vitam aeternam. (Sed hic invertit ordinem) Ego
489,4. Inwiefern diese Beschreibung des menschlichen Lebens „einen gewissen Lebenspessimismus" Luthers widerspiegelt (so Lohse, Gesetz, Tod und Sünde, S. 145) oder nicht eher einen zu seiner (!) Zeit gültigen Lebensrealismus, wird in G.IV. zu diskutieren sein. 77 Ähnliche Formulierung in der Vorlesung über Psalm 51: "Stat sententia firma, quod dominus vult consolatos afflictos et humiliatos securos." (WA 40 11,470,13f). 78 79 495,11-496,3. 501,4ff.l0f. 80 81 512,3 f.5. 520,5 ff. 76
I. De argumento
V.7
V.8
V.ll
V.12
V.13 V.15
V.16
135
contero vos; tarnen retinet suum verbum, ut homines iterum reviviscant. 82 „Es gehört ( < . . . ), ut insensatos ( < et), veterem hominem auffweckt. (quia > ) Si ruten non helffen ( < wil mus man nemen), Zuber Stangen, schwebel, donner, blitz, hellisch feur, ut iste insensatus terreatur. . . . Ibi perdura ( < halt fest, ne despera) et convertere ad Christum." 83 „Hoc doceo te ( < inquit Moses), quia alias non credis, u t . . . ( < das du dich) (da > ) fur entsetzets. Postea ( < dicet): Crede in Christum; sic sapias ( < Du solt nicht ewig drinn bleiben) et gerne et gemens invenies gratiam, ..." 8 4 „Ibi habetis, ( . . . > ) ubi applicet suam narrationem et sententiam, i.e. ad eos, qui dicuntur: 'non noverunt', insensatos, ignorantes ( < dei)." 85 „'Numerare dies' ( < ut Moses dicit) est doceri nos per spiritum sanctum et tentationibus mortis et periculis vexari, ut homo in s e ( < i p s u m ) schlag. ( < et dicat: Ach, wz bin ich, lob)." 8 6 „Illi 'timent' ( < te), 'numerant dies suos' et 'incedunt corde sapienti'. Ergo tröste uns ( < sie) 'iterum'. Das ist altera pars psalmi." 87 „Sic ostendit, quod et quantum remedium petat, scilicet aeternum, contra mala nobiscum nata et durantia, i.e. peccatum originale cum suis poenis." 88 „Sumus humiliati peccato, morte, mors perdit nos; 'ostende opus tuum' proprium: ...". 8 9
Bereits dieser knappe Überblick vermag zu zeigen, daß Luther während der gesamten Auslegung des 90. Psalms an der Herausstellung und Verknüpfung der beiden Skopoi gelegen ist 90 . In seiner langen Geschichte der Arbeit am Psalter kündigt sich diese Sicht des Psalms ansatzweise in den „Summarien über die Psalmen" von 1531/32 an 91 . Im Summarium über Psalm 90 stellt er fest, dieser „Ist ein Lerepsalm 92 , darinn Moses leret, wo der tod her kömpt ..., Und zeiget an, wie ein kürtz, dazu elend leben hie ist, das wol mag ein teglich sterben heissen." 93 Wie im argumentum der späteren Vorlesung weist Luther bereits im Summarium auf die Absicht des
82
83 533,4-7. 550,4ff.7. 85 " 553,9ff; s. 554,6 ff. 566,10 ff. 86 87 572,10-573,1. 576,3f; s.a. 580,3 f. 88 89 5 8 2,lOf. 585,6f. 90 Zum wahrscheinlichen Grund für Luthers Vorgehen s.u. F.III. 91 Summarien über die Psalmen und Ursachen des Dolmetschens, in WA 38,9-69; zu Psalm 90 s. 49,5-17. 92 Zu Luthers Definition eines Lehrpsalms, s. WA 38,17,28-31. 93 WA 38,49,6-9. 8
136
F. Luthers Vorgehen bei der Auslegung
Mose hin: „Doch . . . ists dazu gut, das wir dadurch vermanet werden, Gottes gnade und hülffe zu suchen, der uns von dem allen erlöse. Denn die nicht an den tod dencken und kein elend fülen, bleiben tolle narren .. ,"94. Die Besonderheit des Psalmschlusses wird von Luther zwar angezeigt 95 , allerdings ohne daß die Verknüpfung mit dem 1. Teil 96 des Psalmes schon derart herausgearbeitet würde wie im argumentum der späteren Vorlesung. Nachdem Luther im Summarium den 17. Vers kurz erwähnt und auslegt 97 , der im argumentum keine besondere Beachtung mehr findet 98 , schließt er mit der Wertung: „Ein kürtz, fein, reich und voll gebetlin" 99 , die die Bedeutung des Psalms ähnlich deutlich 100 unterstreicht wie die Bezeichnung „utilissimus"101 in der späteren Vorlesung. Im dortigen argumentum konzentriert sich Luther allerdings ganz auf die Darlegung des Inhaltes der beiden Psalmteile und das durch ihr Hören bewirkte Geschehen am „genus humanum . . . excaecatum" 102 , während er sich im Summarium noch mit der bloßen zusammenfassenden Nennung der wesentlichen Psalmaussagen begnügt.
II. De titulo Luther beginnt seine Darlegungen über den Titel „Oratio Mosi'", „'vir Dei'" 103 mit Bemerkungen zur im Psalter singulären Verfasserschaft des Mose 1 0 4 . Gegen Hieronymus vertritt Luther die Meinung, daß allein der 90.
,4
WA 38,49,10f£. Den „tollen narren" entsprechen in der späteren Vorlesung die „induratos" bzw. „insensatos", s.o. Anm. 39. 95 „Und beschleusset den Psalm mit der bitte, das er uns sein werck, das ist, hülffe von sunden und tod, erzeige, das ist Christum sende, . . . " WA 38,49,13ff. 96 Luther redet in dem Summarium über Psalm 90 auch noch nicht von „Teilen" des Psalmes wie in der späteren Vorlesung. 97 „Und weil wir hie leben, unser werck fordere, das ist, beide, geistlich und weltlich Regiment gnediglich befestige und erhalte." WA 38,49,15 f. 98 Die Auslegung des 17. Verses innerhalb der Vorlesung bleibt aber in der im Summarium angezeigten Unterscheidung von geistlichem und weltlichem Regiment, s. z.B. 590,3-6: „Bis repetit opus nostrum, credo propter diversitatem regni spiritualis et corporalis. Opera nostra sunt duplicia, aut in Ecclesia, aut politia et domo. In Ecclesia fiunt, quae ad animam, In politia et domo, quae ad corpus pertinent." 99 WA 38,49,16f. 100 Zu beachten ist, daß Wertungen in den „Summarien über die Psalmen" nur zu wenigen Psalmen geäußert werden, s. WA 38,28,13; 33,2; 36,25; 42,19; 52,35; 55,4f; 57,4. 101 489,4. 102 484,7; Das menschliche Erkenntnisunvermögen wird von Luther im Summarium nicht in seiner Totalität angezeigt, sondern nur in Hinsicht auf den Zusammenhang des Todes mit der Ursünde, „die alleine Gott weis und aller weit verborgen ist, . . . " (WA 38,49,7). 103 489,9; 490,3. 104 489,9-490,3. Zum Aufbau der Titelauslegung s.u. Anm. 117.
II. De titulo
137
Psalm und nicht auch die zehn folgenden Mose zuzuschreiben ist: „Non puto alium esse Mosi quam hunc." 1 0 5 Neben der Heranziehung eines Schriftzitats 1 0 6 für seine Annahme gilt vor allem der Inhalt, die Theologie und Redeweise des Psalms Luther als Beweis: „Moses est auctor huius orationis, convenit res, theologia ( < tota theologica dictio (Mosis), ut prius habuit), dictio in persona Mosi." 1 0 7 Nach den Bemerkungen zur Verfasserschaft stellt Luther die Frage nach der Autorität des Mose, ausgehend von der Bezeichnung „vir Dei" im Titel 108 . Mit Bezugnahmen auf Paulus 1 0 9 sowie Beachtung des hebräischen Wortlautes 1 1 0 stellt Luther mit Nachdruck die göttliche Beauftragung des Mose heraus, aufgrund der ihm zu glauben ist „ut ipsi Deo" 1 1 1 : „Sic est Moses ( < 'vir dei'), i.e. puplica persona dei, (quae est > ) Organum dei, cuius verba et facta accipiantur tanquam divinitus a Deo ( < per ipsum) gesta. 112 . . . Moses vir authoritatis et officii, ut credamus Mosi ( < ut ipsi deo), ac deus l o q u e r e t u r . 1 1 3 . . . D o c t o r dei, qui publice et divina authoritate vocatus, ut credatur ei, ut ipsi Deo debet credi." 1 1 4 Diesen Ausführungen schließt Luther einen Exkurs 1 1 5 zur Frage an, ob Mose seine Autorität durch seine Sünde am Haderwasser (Num 20,1-13) verloren habe. Luther antwortet darauf mit dem Hinweis, „ (... > ) Ubi non est peccatum ( < nec punitus), Ibi manet ( < Moses) legatus divinus et autoritas in omnibus" 1 1 6 . Nach diesen Darlegungen, in denen die Verfasserschaft und göttliche Autorität des Mose auch gegenüber kritischen Anfragen sichergestellt worden ist, kommt Luther auf die Bedeutung des „opus" 117 , d.h. des 90. Psalms, zu sprechen. Allen menschlichen Spekulationen gegenüber ist der 90. Psalm in unvergleichbarer Weise überlegen 118 , nicht nur in Hinsicht auf die Rede von N o t und Tod 1 1 9 , sondern vor allem mit Blick auf das Heilmittel gegen die daraus resultierende Verzweiflung. 120 Das wahre Heilmittel wird im 90. 105
489,13. 107 Hebr. 3,7: 489,14f. 4 90,2f. 108 ,OT 490,3-491,7. 490,4-7; 491,4. 110 111 490,7-10. 491,7; s.a. zu 3. 112 113 490,11-491,2. 491,2 f. 114 115 491,6 f. 491,7-492,4. 116 491,12 f. Dieser Hinweis ist auch auf die Person Davids anzuwenden, s. 492,2. 117 492,11-496,6. Dem Aufbau der Titulusauslegung liegt das von Luther selbst geäußerte Schema „Persona (auctor), authoritas et opus" zugrunde, s. 491,4; 492,11; 496,6: 489, 9-490, 3 „Persona" - Zur Verfasserschaft des Mose 4 9 0 , 3 - 4 9 2 , 1 0 „Authoritas" - Zur Autorität des Mose 492,11-496, 6 „Opus" - Zur Bedeutung der „Oratio" 118 „Sic superat ( < Moses) incomparabiliter omnes modos et speculationes hominum ( < gentium scripta)", 493,5 f. 119 492,6-11. 120 „Sie mögen wol rhetores sein, sed remedium non possunt dare" 494 zu 7. „Illa sapientia et cogitatio ( < cognitio) non est in corde humano nec fingitur ( < nascitur) in capite et cerebro 106
138
F. Luthers Vorgehen bei der Auslegung
Psalm schon im Titel121, der ihn als Gebet kennzeichnet122, und der damit gegebenen Beziehung zum 1. Gebot deutlich. Denn wer betet, der glaubt123, und wer glaubt, der entspricht dem 1. Gebot, das in Luthers Auslegung stets mit Mt 22,32 verbunden wird: „Regula et certus Canon: In quocunque loco scripturae agitur de 1. praecepto ( < ...), ... ( < ibi) applicandus est Christus, qui dicit Matth. 22: 'Non est Deus mortuorum' ( < 'sed viventium') 124 . Versteht man diese Beziehung zwischen Gebet und dem 1. Gebot (gemäß Mt 22,32), erkennt man die darin enthaltene Verheißung sowohl des ewigen Lebens125 als auch der Auferstehung der Toten 126 . Richtet ein Mensch sein Gebet an Gott, der nicht Gott der Toten, sondern der Lebenden ist, wird der Beter auch nach dem Tode zu den Lebenden gehören: „Sic simpliciter oratio, si fit sine Deo, non est oratio, sed sols ein oratio sein, so muss sein ad Deum, ..., Deus non est mortuorum Deus, ergo vivus et aeternus."127 Wer Gott auf diese Weise im Lichte des von Christus im
humano, sed 'isch'( < "Vir dei'), homo, mus da sein. ( < sonst) Ehe wir uns umbsehen ( < gewar werden), adest mors et rapit ( < vorat). Ideo ( < mus ein ander liecht leuchten) et e coelo revelandum ( < aperiendum), quid mors, quomodo consolandi moribundi." (494,4-7). Vgl. WA 40 III,76,5f: „Sunt res spirituales de celo revelatae, non crevit in humano corde nec in eim willen. Ideo oportet dari e coelo." 121 „Sic in ipso Titulo statim remedium indicat . . . " 495,11 f. 122 „In ipso Titulo ( < et vocabulo orationis) subindicat esse spem vitae ...", 494,7 f. 123 494,7-10; s.a. 502,5f; 503,1: „Nisi fides praecesserit, (homo > ) non orat." 124 492,11-493,1; s.a. 494,10-495,1; 495,8-11. M t 22,32 ist für Luther auch in anderen Vorlesungen wichtig s. WA 40 II,410,9ff: "Den spruch mus einer konen, . . . ut cor dicat: non irascitur, 'deus non mortuorum, sed vivorum'"; 40 11,458,10-459,2: „Deus non mortuorum sed viventium, non perditionis sed salutis, non hostis humilium, perditorum, sed amans vitae, salutis, quietatis, pacis, consolationis, leticiae."; s.a. 577,16 f. 125 493,Iff; 495,3 ff. 126 493,Iff; 494,1 Of; 495,7 f. 127 495,8-11; s.a. 497,1-5. Der Gedanke begegnet bereits in Luthers Vorlesung über die Stufenpsalmen (Ps. 125) an einer Stelle: „'Est vivorum Deus.' Ergo necesse est manere viventes, aliquoties laudantes. Si hoc, oportet faciat finem tentationi, ne iusti desperent et desperent cum ceteris.", WA 40 III 169,12ff. Luther stellt diesen Zusammenhang m.W. zum ersten Mal im „Confitemini" von 1530 heraus: „Denn weil sie (seil, die Heiligen im Psalter und der Schrift) klagen, das sie sterben und not leiden inn diesem leben, Und sich doch gleichwol trösten eines andern denn dieses lebens, nemlich Gottes selbs, der über und ausser diesem leben ist, so ists nicht muglich, das sie solten gantz und gar sterben und nicht widderumb ewiglich leben. Nicht allein darumb, das Gott, an dem sie hangen und sich sein trösten, nicht sterben kan und sie also inn ihm leben müssen, Sondern auch darumb, das Gott nicht kan sein ein Gott der todten und die nichts mehr sind, Sondern wie Christus sagt, Er mus ein Gott der lebendigen und nicht der todten sein, Drumb müssen sie ewig leben, sonst were er nicht ihr Gott, Und sie kondten auch nicht an ihm hangen, wo sie nicht lebeten, Also bleibt denn der tod bei diesem heüfflin nicht mehr denn ein schlaff," WA 31 1,154,16-155,9. Wie in der Vorlesung über Psalm 90 (492,11-493,1) kann Luther diese Argumentationskette bereits im „Confitemini" als „regel" bezeichnen, s. WA 31 1,154,8.
II. De titulo
139
Vollsinn ausgelegten 1. Gebots 128 erkennt, nimmt also bereits im Gottesbild selbst das Heilmittel der Hoffnung wahr: „Ubicunque ergo ( < ...) agitur de usu 1. praecepti, inclusum habetis fidem et spem resurrectionis mortuorum." 129 Da die Hoffnung auf die Auferstehung und das ewige Leben im Gottesbild ihren Ursprung hat, schließen alle Dinge, die von Gott ausgehen oder sich an ihn richten, diese Hoffnung mit ein: „Summa, quod fides, oratio, auditio verbi ( < cultus dei) includunt articulum resurrectionis mortuorum et vitae aeternae." 130 Insofern zeigt durch die Bezeichnung des Psalms als Gebet auch der Titel das Heilmittel an, das den durch den 1. Teil des Psalms erschrockenen Menschen zugedacht ist: „Sic in ipso Titulo statim remedium indicat contra horribilem declamationem ( < doctrinam) de Deo ( < morte)." 131 Die hier deutlich hervortretende Bezugnahme auf das zuvor im argumentum Geäußerte begegnet in der Titelauslegung auch an anderen Stellen. So äußert Luther, daß aufgrund der Unfähigkeit der Menschheit, weder ihre elende Lage noch einen Ausweg zu erkennen 132 , Mose 133 bzw. der Heilige Geist 134 die Not herausstellt (exaggerat) 135 , ohne sie zu verkleinern (non extenuare) 136 . Doch Mose erfüllt mit diesem Psalm nicht nur sein „officium ... (conterrendi e t > ) occidendi" 137 , sondern „semper subindicat esse spem salutis ( < solidae ), vitae et remedii contra mortem ( < desperationem), ne ad desperationem ducat conterritos ( < humiliatos)." 138 Ohne diese „altera pars psalmi" 139 wäre es besser, angesichts des Todes wie Epikur zu leben. 140 Mose aber „temperat utrumque, ne desperent, qui ( < sunt) conterriti ...". 141
128 „ H o c docuit Christus elicere ( < ex hoc loco) et iungere ex locis: 'Ego deus' etc., 'Ergo Abraham vivit'. Ex 1. praecepto fluit argumentum: Deus non est mortuorum.", 494,11-495,1; „Das hat nemo ex 1. praecepto gesogen, sed est inventum nostri doctoris e coelo venientis, is docet, ...", 495 zu 5. 129 494,lOf. 130 495,3 ff. 1)1 495,11-496,1; s.a. 494,6f. 132 „Gentes non intelligunt ... sua mala ( < in quibus vivunt, quae patiuntur), ... ", 492,6; „lila sapientia et cogitatio ( < cognitio) non est in corde humano nec fingitur in capite et cerebro humano, ...", 494, 4f; „Hoc etiam non humani cerebri, sic intelligere 1. tabulam, sed Christi doctoris . . . ( < Das hat nemo ex 1. praecepto gesogen, sed est inventum nostri doctoris e coelo venientis, is docet,) ...", 495,5f. 133 „Est enim minister legis ( < mortis, damnationis), peccati, ..., ut ostendat eis sua mala, non extenuare et occultare ( < ...)", 490,4f. 134 „Ideo spiritus sanctus ipse docet et exaggerat nostras calamitates.", 492,7 f. 135 492,7 f. 136 490 ; 5 ; 492,8f: „Er macht nicht einen gebresten draus, ..." 137 494,2. " · 494,2ff. 139 493,8. 140 4 9 3,6ff; s.a. 493,9-494,1. 141 496,1.
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F. Luthers Vorgehen bei der Auslegung
An das Ende der Darlegungen zum Titel stellt Luther eine Zusammenfassung, in der noch einmal die beiden Skopoi des Psalmes, wie sie im argumentum herausgearbeitet worden sind, in ihrer Bezogenheit dargestellt werden. Die Menschen, die in falscher Sicherheit leben, will Moses erschrecken 1 4 2 , und den Erschrockenen zu echter Sicherheit verhelfen. D a s erste Ziel erreicht die „vox legis" 143 , die die Menschen erkennen läßt, d a ß sie mitten im Leben vom T o d e umgeben sind. Gegen diese „schreckliche Rede" zeigt bereits der Psalmtitel das Heilmittel an 1 4 4 . Denn wenn sie auch zur Selbst- und Gotteserkenntnis notwendig ist, behält die „vox legis" nicht das letzte Wort. Nach 1 4 5 ihr erklingt die „Vox Euangelii" 1 4 6 , die verlauten läßt, d a ß die Menschen mitten im Tode im Leben sind, „quia remissionem peccatorum habemus" 1 4 7 . D e r Begriff der „remissio peccatorum" begegnet an dieser Stelle zum ersten Mal 1 4 8 in Luthers Auslegung. Mit ihm benennt Luther kurz und bündig den Sachgrund zur H o f f n u n g , warum G o t t nicht der G o t t der - ob der Ursünde - Toten ist, sondern der G o t t der - ob der Sündenvergebung - Lebenden. Es ist auffällig, daß Luther im argumentum überhaupt nicht und im titulus nur an dieser Stelle die Begriffe „Gesetz" und „Evangelium" in Beziehung zueinander setzt. Zwar weist er im Zusammenhang mit dem 1. Teil des Psalms auf das „officum legis" 149 hin bzw. nennt Mose „vir legalis" 150 , aber ohne diese Äußerungen besonders zu betonen 1 5 1 . An keiner Stelle seiner Gesamtauslegung bezeichnet Luther den 1. Teil des Psalms als „Gesetz", den 2. Teil als „Evangelium". M a n wird diesen Sachverhalt damit zu erklären haben, daß „Luther . . . viel zu sehr Schriftausleger gewesen (ist), als daß er einen Text wie den 90. Psalm in ein fertiges Schema hineingezwängt hätte" 1 5 2 . Genausowenig wie man das Alte Testament nur als „Gesetz" sowie das Neue Testament nur als „Evangelium" begreifen kann, sind auch die beiden Psalmteile auf je eine der beiden Kennzeichnun-
142
496,2 f. 496,4. 144 495,11-496,1. 145 Zur zeitlichen Abfolge von vox legis und vox euangelii s.u. Anm. 154. 146 496,4. 147 496,5. 148 Er findet sich daneben noch in 498,8; 506,5; 580,4; 582,13.16; 587,13; 589,9; s. hierzu wieder im „Confitemini": „Ist aber das war, das sie inn Gott leben, so mus das zuvor war sein, das sie Vergebung der sunden haben." WA 31 1,155,10 f. 488,6.12. 150 486,13. 151 So erwähnt Luther bei seiner Rekapitulation der betreffenden Kollegstunde mit keinem Wort das „officium legis" des Mose, s.o. B.II.2.c). 152 Lohse, Gesetz, T o d und Sünde, S. 147. 145
III. Die Funktion der Darlegungen über argumentum und titulus
141
gen zu reduzieren. Man betrachte hierzu Luthers Beginn der Auslegung der Anfangsworte des V.l und damit - aus literarkritischem Blickwinkel - des 1. Teiles des Psalms: „Hoc exordium est etiam vitale et pertinet ad resurrectionem mortuorum et vitam aeternam, quia valde vigilantibus ( < verbis utitur) et in singulis verbis loquitur ( < consolatorie)." 153 Weiter bedeutet bereits die Bezeichnung Gottes als „habitaculum" in V.l Trost für die Erschrockenen, im Gegensatz zu den Hochmütigen: „(Contra > ) Illis (seil, perterritis) tribuit Moses habitaculum infinitum, aeternum, omnipotentem, ubi nemo nocet. Illis (seil, superbis) tribuit nullum habitaculum, sed Deum, qui est super omnes ( < omnia), quem lateat nullus ( < eumque ponit iratum)." 154 Erinnert man sich in dem Zusammenhang der sehr seltenen Verwendung der Begriffe „Gesetz" und Evangelium" in der Auslegung daran, daß „Gesetz und Evangelium" für Luther nicht ein Thema der Theologie neben anderen, sondern in allen anderen Themen ist, da es die Situation des Menschen vor Gott beschreibt 155 , und bedenkt zudem Luthers Freiheit von jeder systematischen Fachterminologie in seiner Ausdrucksweise, so braucht das Fehlen der Begriffe nicht zu befremden.
III. Die Funktion der Darlegungen über argumentum und titulus innerhalb der Gesamtauslegung Die obigen Textuntersuchungen haben gezeigt, daß Luthers Darlegungen über argumentum und titulus, die in dieser Ausführlichkeit bei ihm einzigartig sind, nicht etwa auf seine „verbositas" 156 zurückzuführen sind, sondern - wie der durchdachte Aufbau der Darlegungen nahelegt 157 - von ihm selbst beabsichtigt gewesen sind. Als Motive für die Ausführlichkeit sind die ungewöhnliche Zweiteilung des Psalms wie die im Psalter singulare Verfasserschaft des Mose anzugeben, die - wie gesehen - in Luthers Äußerungen breiten Raum einnehmen. Ungeklärt bleibt jedoch der Tatbestand, daß Luther die im argumentum herausgearbeiteten Skopoi des Psalms sowohl in ihrer Eigenaussage als auch in ihrer Bezogenheit mehrfach wiedergibt. Entgegen seiner langjährig geübten Praxis, die Hauptaussage eines biblischen Textes im argumentum den Zuhörern in meist einem einzigen Satz 155
4 96,8 ff. 5 1 2 , 8 ff. Auch die Reihenfolge „Gesetz" und (danach) „Evangelium" kann Luther in der Auslegung von V.l mit Blick auf die bereits Erschrockenen ändern: „Antequam fulguret ( < tonat) horribiliter, satis praemunit pavidas conscientias, ut sciant habitaculum ( < deum esse) vivum et viventium.", 497,7 ff. 155 s. Lohse, Einführung, S. 164f; Ebeling, Lutherstudien I, 266. 156 WA Br XI, Nr. 4069, 20,20. 157 s.o. F.I., F.II. 154
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F. Luthers Vorgehen bei der Auslegung
mitzuteilen, schärft Luther bei dieser Vorlesung die Skopoi des 90. Psalms in argumentum und titulus je dreimal 1 5 8 sowie in fast jeder der folgenden Versauslegungen mindestens einmal dem Auditorium ein 159 . Mit N a c h druck, teilsweise gar beschwörend weist Luther während der gesamten Auslegung darauf hin, an welche Adressaten sich die Skopoi richten und welchen Effekt Mose bei ihnen zu beabsichtigen trachtet. M a n kann sich dem Eindruck nicht entziehen, als wolle Luther durch die häufigen Rekurse auf die Hauptintention und - adressaten diesen Psalm vor möglichen Fehldeutungen und seine Zuhörer vor schwerwiegenden Mißverständnissen und daraus resultierenden Anfechtungen schützen. Einen Anhalt z u r Bestätigung dieser Annahme gibt Luther selbst. In einer biographischen Äußerung kommt Luther auf sein früheres Mißverständnis gerade des 90. Psalms zu sprechen 1 6 0 . In Zeiten, da er sich aus Furcht vor dem Zorn Gottes und dem T o d wie vernichtet fühlte, geschah es, „ubi hunc psalmum legi, coactus sum deponere librum" 1 6 1 bzw. „non potui auslegen " 1 6 2 . Aus persönlicher schmerzlicher E r f a h r u n g mit dem 90. Psalm weiß Luther, wie wichtig bei dessen Lektüre das Wissen um die „dialectica" ist, „ut bene dividatur ( < D a s man so Mose nach sehe, w o er sein äugen hin wendet), . . . , 'ut secet ( < leret) recte', U t non miscantur, . . , " 1 6 3 . W e r vergißt o d e r nicht berücksichtigt, auf wen M o s e „sein äugen hin wendet", d.h. die erschreckenden und tröstenden Aussagen des Psalms richtet 1 6 4 , begeht den gleichen Fehler wie die „Iudei et pseudapostoli ( < praedicatores)" 1 6 5 sowie die „tyrannici doctores Papistarum" 1 6 6 . M i t N a c h d r u c k betont Luther, d a ß „si non recte dividatur verbum, gravissime peccatur" 1 6 7 . Dieser Hinweis ist Luther derart wichtig, d a ß er ihn nicht nur in der Auslegung von V . l , sondern auch in der nachfolgenden Versauslegung expliziert: „Das ist ( < heisst) 'recte secare verbum' dei: Aliter praedicare superbis et aliter perterritis." 1 6 8 158 Innerhalb der Darlegungen zum argumentum s. 488,1-6; 488,13-489,4; 489,6ff. Innerhalb der Titelauslegung s. 493,6ff; 494,1-4; 495,11-496,5. s.o. F.I.2.. 160 501,10-13. 161 501 zu 12. 162 5 01,13. 165 5 00,4 f. 164 500,2 ff. 165 500,6 f. 166 500,7 f. In der Vorlesung über die Stufenpsalmen (Ps. 126) bezeichnet Luther die rechte Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium als Erkennungszeichen f ü r die wahre Kirche: „Ex ista distinctione legis et Euangelii videtis, quam horribilis abominatio in Papatu, ubi nihil praedicatur quam stultae opiniones, ubi non 'audire vocem sponsi' etc., non risus, sed tristitia, observatio, quotidie vexabatur novis statutis, augebat regula regulam. Differentia inter Ecclesiam veram et falsam.", WA 40 111,184,4-8, s.a. 184,8-185,3. 167 500,9 f. "« 512,7 f.
III. Die Funktion der Darlegungen über argumentum und titulus
143
Die eigene schwere Erfahrung fehlender 'dialectica' ist demnach für Luther der Grund, gerade bei der Auslegung des 90. Psalms immer wieder auf die Skopoi und ihre Adressaten zu sprechen zu kommen. Seine ausführlichen Darlegungen zu argumentum und titulus stellen so in ihrer Grundsätzlichkeit das Vorzeichen vor der Klammer dar, die die folgende Auslegung umgibt. Jede der sich anschließenden Einzelaussagen ist nicht für sich allein zu betrachten, sondern unter dem Vorzeichen dessen, was in argumentum und titulus über das mit dem Psalm beabsichtigte Geschehen herausgestellt worden ist. Um die verblendete Menschheit zu rechter Selbstund Gotteserkenntnis zu bringen, knüpft Mose an die „schrecklichste Tatsache im Leben" 169 , den Tod, an, um anstoßend durch seinen Psalm die lebenserhöhenden und todesverkleinernden, d.h. die sich selbst überschätzenden und Gott mißachtenden Menschen zu rechter Wahrnehmung zu bringen. Nicht zufällig beginnt Luther seine Auslegung im argumentum mit Äußerungen über das menschliche Erkenntnisvermögen, folgt doch aus der Tatsache, daß die Menschheit in ihrer Wahrnehmungsfähigkeit geblendet ist, die Notwendigkeit allen theologischen Redens und somit auch seiner eigenen Auslegung. Wie nun die rechte Erkenntnis Gottes und des Menschen angesichts des Todes im Lichte von Psalm 90 im einzelnen aussieht, wird im folgenden zu beschreiben sein.
G. Mensch und Gott in Luthers Auslegung Aussagen Luthers zum Menschen- und Gottesbild, die er bei der Auslegung des 90. Psalms trifft, finden sich durch die ganze Vorlesung hindurch. In Abhängigkeit vom Inhalt der einzelnen Psalmverse kommt er dabei wiederholt auf bestimmte Aspekte beider Bilder zu sprechen. So finden sich z.B. zu Urständ und Fall längere Darlegungen innerhalb der Auslegungen von V.2,3 und 7, was aber nicht ausschließt, daß Luther kurze Bemerkungen zu diesem Thema auch bei der Auslegung anderer Verse gibt. Ebenso kann Luther z.B. die „magnitudo Dei" verschiedenenorts besprechen, sowohl in umfangreicheren Ausführungen wie in V.1,2 und 17 als auch mit knappen Hinweisen bei anderen Versauslegungen. In den folgenden Kapiteln wird die Aufgabe angegangen, die Fülle der Äußerungen Luthers zum Menschen- und Gottesbild zusammenzutragen und - geordnet nach darin enthaltenen systematischen Aspekten - darzustellen (G.II., G.III.). Zuvor ist jedoch der inhaltliche Einsatzpunkt von
485,3.
144
G. Mensch und Gott in Luthers Auslegung
Luthers Auslegung, wie er ihn selbst zu Beginn des argumentum und während der weiteren Vorlesung benennt, darstellend zu würdigen (G.I.).
I. Die Ausgangslage: Das „genus humanuni excaecatum" in der Anrede Gottes durch Mose im 90. Psalm D i e caecitas des genus humanum zeigt sich in dem Tatbestand, daß es weder sich noch G o t t zu erkennen vermag: „Nostis universum genus humanum ita . . . excaecatum . . . , ut . . . seipsum ignoret et deum, ,.." 1 . Selbst die schwersten Lebensnöte werden nur von den wenigsten Menschen „gefühlt" 2 , und auch diese kleine Zahl versteht nicht deren Herkunft, Ziel und Sinn 3 . Werden aber bereits die „corporalia et externa mala" nicht wahrgenommen, können erst recht nicht die „spiritualia mala" erkannt werden 4 . D e m z u f o l g e kann das theologische Urteil über die menschliche Erkenntnisfähigkeit nur harsch ausfallen: „In philosophia est h o m o animal rationale. (Sed > ) In theologia ( < non potest sic definiri; est) 'statua salis' ( < sicut uxor Loth), non videt, audit, non (habet > ) rationem, est plus quam cadaver;" 5 Ursache der menschlichen caecitas ist für Luther die Ursünde, wobei er die Verblendung einerseits als „poena peccati originalis" 6 , andererseits als „miseria originalis peccati" 7 und „fructus peccati originalis" 8 bezeichnen kann. Gerade die beiden letzten Formulierungen bringen zum Ausdruck, daß für Luther die Ursünde nicht allein als eine lediglich ererbte Straflast, die der Menschheit ob eines vergangenen Geschehens auferlegt wurde,
1 484,7f; s.a. Luthers Vorlesung über Psalm 51: „Est caecitas, nihil potest statuere nec de deo, verbo, vita, morte, . . . " 40 II, 326,3. 2 „... humanum genus ( < ratio) ( < quae) prae sua caecitate non aestimat miseram calamitatem ( < iram), brevitatem, non sentit, et tarnen ob oculos." 524,6f; „... non sentiunt calamitates, insensati." 566,2; „... sie obruti ( < obnoxii) et involuti ire divine, morti ( < aeternae), inferno, malis coporalibus et spiritualibus, sub diabolo, et tarnen nemo credit, ( < weil es) sentit." 567,6f; „Corporalia non sentit, illa non credit. Ille stupor non potest dici, qui sic movet Mosen" 567 zu 12; „Quot sunt, qui metuunt mortem? 10 inter ( < . . . ) 1000000." 573,2f; s.a. 560,3ff; 570,14-571,1.6-9.14 f. J „ . . . calamitates, (in quibus vivit > ) quas sentit et patitur, non intelligit, neque unde sint, veniant, nec quo vadent, quid sint et habeant." 4 8 5 , l f ; „Ratio humana non intelligit iram Dei et calamitatem humanam, multominus, ubi sensit, novit remedium contra iram." 520,3ff; „ . . . i s t a sensata paucissimi sentiunt, ut paucissimi, qui ( < senectutem) (ipsam > ) mortem impendentem et iram intentatam ( < sentiant esse poenam). Sic, qui senserunt, non habent pro poena etc." 560,4ff; „Illa omnia mala habentes pro nihilo; sic sunt homines." 566,2 f. 4 567,7ff; s.a. 552,8-553,3. 5 567,2ff; „Iam definit hominem: qualis stupor et insensatio, quae movet Mosen" 567,14-568,1. 6 571,1. 7 8 485,2f, 486,7. 486,11.
I. Die Ausgangslage: Das „genus humanuni excaecatum"
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aufzufassen ist, sondern als eine von den Menschen fortwährend erfahrene und vollzogene Lebenswirklichkeit. Leben in der Ursünde besteht in einer Sicht des Lebens, die in Konsequenz des menschlichen amor sui mit seinen Erscheinungsformen 9 der concupiscentia10 und superbia die Realitäten von Schuld, Not und Tod verkleinert oder leugnet: „Ista est caecitas et superaddita miseria originali peccato, quod ipsum peccatum, mortem et calamitates humani generis extenuamus et pugnamus contra sensum. Ex cordibus hominum volumus excutere hoc, quod experimur et sentimus ( < ...). Iste non est modus loquendi ( < ...) de morte et calamitatibus generis humani, sed caecitates ( < gentiles), fructus originalis peccati, qui sua mala extenuant." 11 Die Menschen, die die Realitäten des Lebens ob ihrer Selbstsucht nicht wahrhaben wollen, verdrängen die Nöte 1 2 , Gedanken an Sterben, Tod und Jenseits 13 . Auch die Gotteserkenntnis ist von dieser durch die Ursünde geblendeten Lebenssicht geprägt. Wo Not und Tod zugunsten einer fiktiven Lebensüberhöhung nicht beachtet werden, entsteht das Bild eines „lieben" Gottes, dem lediglich Förderung, aber keinerlei Beeinträchtigung des menschlichen amor sui zugebilligt wird 14 , und der daher auch keiner Ehrfurcht mehr bedarf 1 5 . Diese Gottesvorstellung ist für Luther nichts anderes als eine Gottesverachtung 16 . Die in der Ursünde stehenden Menschen leben und sterben verblendet und unheilvoll, „ghen hin ut (dz > ) fihe" 17 . Wenn Luther in seiner Auslegung an die Darlegung dieser Tatsache die Aussage anschließt, daß Gott durch sein „Organum" Mose 18 mit dem 90. Psalm die Menschen „aufwecken" 19 will, indem er durch Konfrontation mit der vollen Realität des menschlichen Lebens und Todes sowie Gottes die Verblendeten zu
9
s. Althaus, Theologie, S. 131-135. In d e r Auslegung von V.3 w e n d e t sich Luther ausdrücklich gegen die Gleichsetzung d e r U r s ü n d e mit d e r concupiscentia: „Qui originis peccatum describunt, vocant ( < sie die p f a f f e n heissen) concupiscentiam. Pueritia ante Adolescentiam nihil seit de concupisentia ( < Incipit 1. sentiri a pubescentibus e r g o mus peccatum originis d a f u r sein), nec senes. I d e o (senserunt) aliud originale peccatum." 515,5 ff. 11 4 8 6 , 7 - 1 2 ; s.a. 5 7 0 , 1 4 - 571,1. 12 „lila o m n i a mala habent p r o nihilo; sic sunt homines." 566,2 f. 13 „ . . . Itali faciunt m o r t e m contemptibilem ex hac causa, q u o d mors finis m a l o r u m , mors ultima linea r e r u m . " 486,5ff; „ . . . h o m o . . . p u t a t se eternum vivere;" 523,12; „ H o m o cogitat 100 a n n o s vitae, . . . " 572,3; „ N o s omnes ( < sumus) tales, qui promittimus ( < fingimus n o b i s ) infinitos annos." 572,6f; 573,2 f.10 f. 14 „ . . . p r a e s u m p t u o s o s , praefractos, qui pollicentur optima omnia apud D e u m : H a t nicht not. ( < unser H e r r G o t t ist nicht so zornig)." 501,5 f. 15 501,7f; s.a. 488,4 f. 16 s. z.B. 4 8 9 , l f ; 500,2ff; 501,3; 502,1 ff. " 565,7. " 491,1; s.o. F.II. 19 „ ( . . . > ) Es gehört, u t insensatos, (et > ) veterem hominem auffweckt." 550,4f. 10
146
G. Mensch und Gott in Luthers Auslegung
Erkennenden zu machen trachtet 20 , so steht dahinter die Grundannahme, daß Gott dem genus humanuni excaecatum nicht gleichgültig oder unversöhnlich feindlich gegenübersteht. Auch wenn Mose im 90. Psalm und Luther in dessen Auslegung wiederholt und mit Nachdruck auf den Zorn Gottes hinweisen, so geschieht das doch letztlich deshalb, um die Menschen dadurch zum erschreckenden Innewerden zu veranlassen21, zugleich aber die daraus resultierende Verzweiflung durch Hinweis auf den Trost der in Gott selbst begründeten Hoffnung aufzuheben. Luthers bekannte Äußerung aus der Genesisvorlesung, daß jeder Mensch unsterblich ist, den Gott anredet, „sive in ira, sive in gratia" 22 könnte als Überschrift für seine Auslegung des 90. Psalms dienen. Die durch das Wort Erschrockenen werden auf die tröstliche Hilfe des Evangeliums verwiesen, dessen Annahme nicht nur Erfüllung des 1. Gebotes, sondern auch zugleich Anteilnahme an dessen Verheißung für Leben, Tod und Jenseits bedeutet. Allein in dem (hypothetischen) Fall, daß Gott sein Wort nicht an die Menschen richten würde, könnte von einer Feindlichkeit Gottes gesprochen werden 23 . Dann aber wäre jedes theologische Reden, dessen alleinige Aufgabe ja die aus dem Wort zu entnehmende „cognitio dei et hominis" ist24, rein spekulativ.
II. Das Menschenbild des 90. Psalms in Luthers Auslegung 1. Der Mensch im Urständ, sein Fall und die Folgen Der Mensch ist von Gott im Ursprung als dessen Bild geschaffen worden, bestimmt zum Leben mit Gott und daher des ewigen Lebens teilhaftig 25 . Der Tod war dem Menschen nicht zugedacht 26 - im Gegensatz zu den
20 „(ut Moses dicit > ) 'Numerare dies' est doceri nos per spiritum sanctum et tentationibus mortis et periculis vexari, ut homo in se (Cipsum) schlag ( < et dicat: Ach, wz bin ich, lob)" 572,10-573,1. 21 „Iam incipit orationem: las ( < uns) nicht geraten, ( < behut uns vor dem volck), ut non tales stupidi lapides simus, sed da cor, quod credit iram tuam etc. ( < et omnia) Nos ( < sie orat) omnes horreseimus sensum mortis, irae dei. Sed orandum et optandum, quia facit 'sapientes' homines; qui Schemen, ( < die die schleg fulen), (da > ) wird ehr draus ( < bessern sich);" 568,3-6. 22 „Ubi igitur et cum quocunque loquitur Deus, sive in ira, sive in gratia loquitur, is certo est immortalis. Persona Dei loquentis et verbum significant nos tales creaturas esse, cum quibus velit loqui Deus usque in aeternum et immortaliter." WA 43,481,32-35. 23 Zur Auseinandersetzung mit Eiert s.u. H.II.l. 24 WA 40 11,327,11; s.u. G.IV. 25 „... creatura ad hoc creata, ut esset 'similis deo' et haberet eternam vitam et viveret (verbo > ) Deo ..." 513,9f; s.a. 514,6f; 516,2-5. 26 „Mors non fuit praescripta homini, ut animalibus ( < ...). 514,4.
II. Das Menschenbild des 90. Psalms in Luthers Auslegung
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Tieren, denen er von Beginn an „angeschaffen" wurde, da sie der menschlichen Natur unterworfen sein sollten 27 . Ihr Tod hat eine auf Gott zurückgehende „ordinatio" 28 , gemäß der sie „in innocentia" 29 nach Gottes „beneplacitum" 30 sterben. Mit dem Sündenfall änderte sich das menschliche Schicksal. Aufgrund von Adams Übertretung des göttlichen Gebotes in Gen 2,17 wurden durch Gottes Zorn aus den unsterblichen Menschen sterbliche: „... quando Adam creatus ( < dictum est ei): 'Non comedes' etc., 'quacunque die etc.', 'morte morieris'." 31 „... ( < Nam Adam) fuisset immortalis, si non comedisset;" 32 „... ex immortali homine factus ( < ...) est mortalis irascente Deo, quia: 'Quo die', - peccaverunt." 33 Gemäß der Strafankündigung in Gen 3,17ff ist das Leben für die Menschen zudem mühevoll geworden: ,,'Morte morieris'; 'In sudore' ( < 'vultus tui'), calamitates vitae; . . . 'Terra' etc., et quamdiu vives ( < 'In sudore'), habebis calamitosam vitam, quam Moses indicavit ( < aperuit nobis), ratio et phijosophia non ( < potuit). Man sucht gute tag auff Erden, nemo sudorem; sed non." 34 Im Gegensatz zu den unschuldigen Tieren und den unwissenden Heiden 3 5 sehen die Christen, soweit sie sowohl um den (verlorenen) Urständ wissen 36 als auch um den Zorn Gottes, der mit Adams Tod auch ihren fordert, dem Lebensende mit größtem Schrecken entgegen: „Nihil, quando hun, gans ( < stirbt), Nihil, quando Epicurus moritur. Sed (mors > ) Christianorum; sciunt ( < enim) hanc calamitatem esse iram divinam. (Da sol der arm mensch fechten contra deum > ) Quid ego contra deum? Ego prostratus et obrutus miseriis huius vitae ( < ...). Nullum animal ut Christianus, qui semper incedit in ira, morte, frisst sich usque ad mortem." 37 Auch wenn Gott die Menschen nach dem Fall mit dem Tod behaftet, steht er doch - wie Luther im Zusammenhang mit Ps 90,3 herausstellt - zu der Verheißung der Fruchtbarkeit und Fortpflanzung der Menschen: 'Vertis
27 „ . . . a n i m a l i b u s caeteris ( < aliis) est c o n c r e a t a m o r s , q u a e subiecta ( < s u n t ) h u m a n a e naturae." 514,2. 28 536,13. " 5 3 7 , 6 f ; s.a. 5 1 3 , 6 ff. 30 „ D a s ( < . . . ) t h i e r z a p p e l t ( < w o l , q u a n d o m a c t a t u r ) , sed m o r i t u r in b e n e p l a c i t o dei." 5 4 9 , l f ; s.a. 5 3 5 , 6 - 9 ; 5 3 6 , 1 3 . 31 5 1 3 , 1 1 f. 32 5 1 4,1. 33 5 1 6 , 8 f. 34 5 1 9 , 8 - 1 2 ; s.a. 5 2 6 , 1 I f f . 35 L u t h e r f ü h r t g e r n e d e n P h i l o s o p h e n E p i k u r f ü r die M e i n u n g d e r H e i d e n an, s. z u d i e s e m T h e m a 5 1 8 , 6 f f ; 5 4 4 , 7 f. 36 s. z.B. 5 1 3 , 8 - 1 2 ; 5 1 4 , 5 - 8 ; 5 1 6 , l O f . 37 5 4 4 , 7 - 5 4 5 , 1 ; s.a. 5 5 1 , I f f : „ Q u a r e sentio D e u m i r a t u m et (sic > ) p a v e o a m o r t e ( a u d i t a ) , p r a e s e r t i m C h r i s t i a n u s ? N u l l a alia c a u s a ( < q u a m q u i a p e c c a t u m est ibi, ' p e c c a t i a u t e m S t i p e n d i u m est m o r s ' ) : q u i a ibi p e c c a t u m ; " .
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G. Mensch und Gott in Luthers Auslegung
homines in humilitatem et dicis: revertimini' etc. 'In dolore' etc., 'multiplicabo' etc. Ibi confirmat ( < Deus in Genesi multiplicationem et involvit eam calamitatibus) benedictionem: 'Crescite'. Quamquam ira, tarnen non abstulit crescentiam generis humanis, ..." 3 8 . Im Licht von Ps 90,3 deutet Luther darüberhinaus das Gehen und Kommen von Generationen als ein Zeichen der H o f f n u n g dafür, daß nach dem Tod das ewige Leben folgt: „Das geborn ist, wird tod ( < Was tod ist, wird geporn). . . . Ibi subiungit 'mortem' in vitam et facit spem, quod post mortem resuscitabimur in vitam aeternam." 39
2. Das menschliche Leben coram homine et Deo Die menschliche caecitas führt nicht nur dazu, daß die „spirituala mala" 40 wie z.B. die Größe der Ursünde nicht erkannt werden können 4 1 , sondern bringt zudem mit sich, daß die Realitäten des menschlichen Lebens nicht wahrgenommen werden, was vor allem in bezug auf die Länge der Lebenserwartung gilt: „... homo . . . putat se eternum vivere;" 42 . Die Menschen befinden sich in der irrigen Meinung, 100 Jahre leben zu können 4 3 oder haben das trügerische Gefühl, daß 70 Jahre eine „unendliche" Zeitspanne darstellen 44 . Luther konzediert, daß bereits „60, 70 gros alter ( < nostro seculo)" 45 bedeutet, erreicht doch nach seiner persönlichen Einschätzung nur der kleinste Teil seiner Zeitgenossen das 40. Lebensjahr 46 . Aus diesem Grund schlägt Luther vor, die in Ps 90,10 genannten Lebensalter von 70 und 80 Jahren in Anbetracht der aktuellen Lebenserwartung zu reduzieren: „(Ergo > ) Ideo (nos > ) canimus istum versum: ('Anni nostri' > ) 40 vel 50; 'quicquid supra, labor et dolor', ... 4 7 . Das falsche Gefühl einer unendlich langen Lebenszeit ergibt sich für Luther, wenn man die Anzahl der
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5 2 0 , 7 - 5 2 1 , 1 ; s.a. 521,6-10. " 5 3 3 , 2 - 5 ; s.a. 5 2 1 , 1 0 - 5 2 2 , 1 . 40 567,7 ff. 41 552,9-553,3. 42 5 2 3,12; „(lila > ) Spes longioris vitae (steckt > ) in omnibus ( < cordibus) et ( < ideo) somniat quisque (longe > ) abesse mortem, et non aliter vivunt, (velint semper vivere > ) quam sint victuri eternum." 524,2ff; 566,1. 43 „ H o m o cogitat 100 annos vite, ..." 572,3; s.u. Anm. 47. 44 „humanuni cor . . . thut ( < lassen sich duncken) nicht anders, quam 70 ( < anni) sint infiniti ( < aeternitas)." 565,8ff; „ N o s omnes tales, qui promittimus ( < fingimus nobis) infinitos annos." 572,6 f. 45 5 61,8. 46 „ . . . minima pars hominum ( < attingunt) pervenit ad 40." 561,7. Luther äußert, hundertjährige Menschen gesehen zu haben: „Vidi 100 annorum, sed rara avis;" 561,7f; doch schon Menschen im Alter von 80 oder 90 Jahren sind sehr selten: „(Communis vita est 5 0 , 7 0 , 8 0 > ) Singularissima vita 80, 90." 559,10. 47 561,8 f.
II. Das Menschenbild des 90. Psalms in Luthers Auslegung
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Lebensjahre nur für sich betrachtet 48 , d.h. als „punctum physicum" in „geometrischer Vorstellung" 49 . Betrachtet man sie aber „ad comparationem aeternitatis et infinitatis" 50 , dann erscheint die menschliche Lebenszeit so, wie Gott sie sieht, d.h. als „Punctus mathematicus, i.e. nihil." 51 Die menschliche Verblendung in Hinsicht auf die Realitäten des Lebens wird durch Ps 90,4ff noch in einem anderen Punkt aufgehoben. Im Licht dieser Verse entpuppt sich für „spirituales oculi et illuminati per verbum" 52 die angebliche Lebens,.länge" als Lebens,,kürze". „Ego (sum natus > ) 54, ist quasi heut fru geborn" 53 kann Luther spontan und mit versehentlich falscher Altersangabe 54 bei der Auslegung von Ps 90,4 sagen. Das Leben ist „fuga et recessus" 55 , denn „Es sthet nicht ein augenblick stil" 56 . Es erscheint wie ein „breve poema, quod aus ist, ists aus" 57 oder „ut quando sehne ghet et platzregen, ein rausschend wasser, ut pfeil. ...; sicut der tag hin über rausscht, sic vita nostra. Sic est genus humanum." 58 Unter diesem Blickwinkel führt Luther in der kurzen Auslegung von Ps 90,5 den dort gegebenen Vergleich ,,'Somnus': Vita" 59 aus: „Sic comparat vitam somno, qui abierit ( < ...), Ehe ichs gewar werd, (das ich geschlaffen, ist der schlaff dahin; non potest observari, wie man einschlefft und auffwachet; sic est vita somnus > ) antequam auffwacht bin, etc.;" 60 . Das menschliche Leben ist derart von schneller Vergänglichkeit und Kürze gekennzeichnet, daß man es kaum noch „Leben" nennen kann: „Non est vita dicenda propter suam mirabilem brevitatem ( < tarnen et bona creatura)." 61 Es erscheint lediglich als „cursus ad mortem, non iter, ambulatio." 62 , wobei die Bezeichnung des Lebens als „cursus" für Luther noch zu ungenau ist: „... non est cursus sed iactus impetuosus ad mortem ( < quasi quidam impetus et raptus ad mortem)" 63 . Läßt man sich auf diese Sichtweise ein, kann das Urteil über
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"Inter se comparata cum oculis beluinis alius alio diutius vivit." 525,8; s.a. 559,1-5. " „(Sicut dicit > ) 'In ipsis': Wenn man ( < es) 'inn ein ander' helt, tum est vita humana 80 annorum. Das ist puncto physico, non mathematico, propositione geometrica etc." 559,4 ff. 50 559,4. 51 572,4f; s.a. 559,8. 52 5 2 4,8 f. » 524,11. 51 s.o. B.II.2.f). 55 555,1 1; 556,4f. 56 5 5 6 zu 4. 57 557,3; „Wir sterben ( < zu mal) bald, ...", 523,5. 5S 527,9-528,1. 39 528,7. 60 528,8f; „Ehe wirs uns umbsehen ( < gewar werden), adest mors et rapit.", 494,6. 61 526,13-527,1; s.a. 523,6f.9 f. 62 5 2 3,lOf; „Est ergo miserabilis cursus vitae humanae ad mortem.", 535,2. 65 5 2 3,1 Of; „Moses significat non cursum vitam nostram, sed impetum ( < raptum et iactum)." 527,7 f.
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G. Mensch und Gott in Luthers Auslegung
das menschliche Leben nur folgendermaßen ausfallen: „Sumus tantum ad mortem nati;" 64 Von den einzelnen Altersstufen, die die Menschen durchleben, ist allein die Kindheit positiv zu bewerten 65 : „Quando ( < adhuc sumus) in pueritia et ventre ( < in gremio materno), ist das beste Leben ( < ...); quando kneblein im 7.8. ( < iar), habet florem ..," 6 6 . Schon bei den Jugendlichen „werden (die > ) bletter geil et welck" 67 . Die Zeit der Ehe bzw. die „virilis aetas" ist nur noch von Beschwernissen, Sorgen und Erbitterungen gekennzeichnet: „Si maritus et virilis aetas: labores ( < fiunt curae), irae." 68 Der letzte Lebensabschnitt ist zugleich der schwerste von allen: „Senectus: (ist > ) der tod ( < Teufel gar) selb." 69 , denn „post 80 annos non schmeckt (weder > essen, (noch > ) trincken, tanz; (taug nirgend mher zu > ) est cadaver vivum, quia inutilis ad res gerendas ( < alitur ad poenam suam). Est ut puer, qui alitur lacte et potu. Est ipsa poena, non vita." 70 Sieht man das menschliche Leben mit Ps 90,10 als „'Muhe et erbeit'" 71 bzw. als „hertzeleid", so gilt das besonders für das Alter 72 . Diese Wahrnehmung des menschlichen Lebens, wie sie für Luther aus dem 90. Psalm hervorgeht 73 , ist - wie bereits erwähnt - den Menschen aufgrund ihrer Verblendung unbekannt: „... humanum genus prae sua caecitate non aestimat miseram calamitatem, brevitatem, non sentit, et tarnen ob oculos." 74 Die Menschen gehen infolgedessen „hin ut (dz > ) fihe, quasi simus in summa gratia, quasi (in > ) vita aeterna, (quasi omnia s i n t > ) laeta, pacifica etc.;" 75 . Gerade diese „Stupor et insensatio" sind es, die Mose zu den Aussagen der „prior pars psalmi" drängen 76 in der Hoffnung, daß die Menschen dadurch - im Sinne von Ps 90,12 - zu „'sapientes' homines" 77 werden. " 535,12f. 65 Luther deutet das „Mane floret" in Ps 90,6 auf die frühe Kindheit: „'Mane floret' ( < 'mutatur'): quando ( < 'Zu morgens') pueri sumus, (so > ) bluet es. Das ist flos vitae nostrae;" 529,12-530,1; „'Mane', i.e. pueritia floremus." 530,8. 66 530,2f. 67 530,2; „... Adolescens inquinari ( < inquinatur) incipit et mundana sapere." 530,3 f. 68 530,4f; s.a. 540,1 f. " 530,5. 70 559,12ff; s.a. 562,9-563,1; 563,5ff; 564,4. 71 563 zu 3. 72 563,5ff: „Est vita humana, i.e. hertzeleid, (sed > ) senectus maxime; senex ( < senilis) privatus ( < ...) (istis furiis > ) libidinis, sed impletur curis, solicitudinibus ( < ira, invidia), et infinita exempla ( < ...) eum ( < ...) discruciant. 73 Zur Frage eines etwaigen Lebenspessimismus bei Luther s.u. G.IV. 74 524,6f; s.a. 523,12. 75 565,7f; s.a. 566,12-567,1 76 „Iam definit hominem: qualis stupor et insensatio, quae movet Mosen;" 567,14-568,1; „Ibi habetis, ubi ( < ...) applicet suam narrationem et sententiam, i.e. ad eo, qui dicuntur: 'non noverunt', insensatos, ignorantes ( < dei)." 566,10ff; s.a. 566,6-9. 77 568,5.
II. Das Menschenbild des 90. Psalms in Luthers Auslegung
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3. Die Wirkung des Menschenbildes des 90. Psalms beim „genus humanum excaecatum" Die Aussagen über den Menschen, die der 90. Psalm in Luthers Auslegung trifft, sollten die verblendete Menschheit dazu bringen, die Realitäten des Lebens wahrzunehmen, besonders in Hinsicht auf die bisher unerkannten „corporalia et externa mala" 78 , um über sie die „spirtualia mala" zu erkennen. Wenn die Menschen die im Psalm dargestellten Nöte des Lebens wie z.B. dessen Kürze und Vergänglichkeit begreifen und daraufhin nach deren Grund fragen, werden sie auf den Zorn Gottes hingewiesen, der aufgrund der menschlichen Sünde besteht. Nicht zufällig bildet Luthers Darlegung von Ps 90,7 die umfangreichste Versauslegung in der gesamten Vorlesung 79 . Hatte Luther schon zuvor in den Auslegungen der Verse 4 und 6 festgestellt, daß die dort genannte Kürze des Lebens bzw. dessen Vergänglichkeit durch Gottes Zorn begründet sind 80 , so zieht er in seiner Kommentierung von Vers 7 die Summe: „Ideo calamitas ( < miseria) (humana > ) infinita et inaestimabilis, quod cum nostris calamitatibus sint coniuncta peccatum et ira divina. Das hat 1 hun, gans nicht, ..." 8 1 . „Satis grave, quod in terris habemus omnes piagas ( < mala) contra nos ( < et post mortem ipsam). (... > ) Insuper peccatum et ira divina drauff legt." 82 „... sciunt (seil. Christiani) ( < ...) hanc calamitatem ( < et mortem) esse iram divinam." 83 „Das heisst narrare, quod calamitas nostra sit super omnes ( < calamitates), quia sit coniuncta cum ira divina." 84 „(Das ist die recht mortificatio > ) Nos consumimur. Das wer ungluck gnug, sed: 'in ira tua'. Es ist dein zorn." 8 5 Über die Wirkung der Erkenntnis des göttlichen Zorns ist sich Luther durchaus im klaren. Wer die Not des Lebens mit Ps 90,7 als in Gottes Zorn begründet begreift 86 , der die Sünden - auch die unerkannten 87 - am Ende mit dem Tod vergilt 88 , wird entweder zum Gotteslästerer und versinkt in
" 567,8. " Im argumentum ist Ps 90,7 der einzige Vers, der von Luther zitiert und damit besonders hervorgehoben wird, s. 487,4. 80 „Non solum est ira divina contritio generis humani, sed etiam festinata ira. Wir sterben ( < zu mal) bald, Deus non seumet ( < ereylet)." 523,4f; s.a. 526,1; 535,5-9; 555,11-556,1.9f. 81 536,1 I f f . 82 5 3 8,1 ff. 83 544,8 f. 81 548,9-549,1; s.a. 546,1. 85 549,10 f. 86 Die menschliche ratio ist zu dieser Erkenntnis nicht fähig: „Ratio humana non intelligt iram Dei et calamitatem humanam, . . . " 520,3f. 87 s. Luthers Auslegung von Ps 90,8 551,1- 554,9. 88 „(Igitur > ) 'Sumus oves occisionis', subiecti morti propter ( < iram Dei ob peccatum) peccatum ex ira divina . . . " 519,4f; „Verbum docet peccatum mereri iram et mortem, . . . "
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G. Mensch und Gott in Luthers Auslegung
Verzweiflung 89 oder versucht, die Lebensnöte weiterhin verachtend zu verdrängen90, was allerdings nach Luthers Meinung nie gelingen kann91. Somit bleiben also allein Lästerung und Verzweiflung als einzige Auswege. An diesem Punkt seiner Darlegung ist Luthers seelsorgerliches Interesse deutlich zu bemerken92: Den Hinweis „Non est malum, hoc sentire"93 läßt er gleich mehrmals in der Auslegung von Vers 7 verlauten94 mit den Begründungen, daß diese Erfahrung zum einen alle Apostel und Propheten 95 sowie die Heiligen 96 gemacht haben, zum anderen Gott durch sie nicht beleidigt wird 97 , da er Geduld mit der menschlichen Schwachheit hat 98 , vor allem aber, weil dadurch die „lex" zu ihrem Ziel kommt: „... docuit (seil. Deus) in Prophetis, Mose, quod lex sie debeat nos perturbare, perterrefacerre ( < humiliare)."99 „(Sed discite > ) Non esse malum sentire (istos > ) sublimes motus blasphemiae et murmurationis, sed est utile ad contundendos ( < conterrendos) superbos et dirigendos ad spiritum gratiae."100 Es gilt nur, die Erfahrung lästerlicher Gedanken und der Verzweiflung im rechten Maß zu halten 101 , d.h. nicht mit Blick auf sie zu urteilen102, vor Gott nun gänzlich verworfen zu sein, denn mit dieser Absicht macht sich der Satan diese Anfechtungen zunutze: „(Deus > ) Seit Teufel paratum suis 'telis' et 'quaerentem devorare' ( < invadere), Istis praesertim tristibus
520,5f; 537,6f; „Quare sentio Deum iratum et paveo a morte (audita), praesertim Christianus? Nulla alia causa ( < quam quia peccatum est ibi, 'peccati autem Stipendium mors') . . . Peccasti, ergo morieris, i.e. deus est tibi iratus." 551,1 ff.5. 89 „Iam ( < ist der iamer da) ineipit sensus blasphemiae ( < ghet an). Hie wil der strick am hertsten halten; si entzwey breche, est blasphemia ( < desperatio) et mors aeterna; quando ista blasphemia venit, quod ( < das man unserm Herrn Gott) deo seinen iram exprobramus ( < so auffruckt), (kans nicht abghen sine murmuratione > ) non longe a blasphemia." 537,1-4. 90 539,1 ff.4f; 540,3f; 549,3f; 553,12; 554,1 f. 91 „Democritus et Epicurus ( < ...): Sis demens, i.e. ne sentias ( < ...), vel, si sentis, ne credas, i.e. non eures; Ut liberet se ab isto sensu ire, peccati et in morte et calamitate; (Das thuts aber nicht > ) facile est consulere: sis demens et incredulus. Quid, si, Epicure, tua sententia fallat et (... > ) inveniam iram post mortem?" 538,3-7. 92 Luther verweist in diesem Zusammenhang des öfteren auf seine eigene Erfahrung als Seelsorger bzw. als ein Seelsorge Erfahrender s. 540,8f; 542,9f; 543 zu 6.7. 93 539,9. 94 539,3f.9; 541,lf: „Non ideo peccas, peribis, quod sensis cogitationes blasphemiae ..."; V.8: 554,6ff. 95 549,5 f. 96 539,5f; 546,3 f. 97 „... iste obiectiones et (murmationes > ) blasphemiae non offendunt deum. Ipse seit meam infirmitatem . . . " 542,1 ff. 98 „... unser H e r r Gott hat ( < mus patientiam haben) patientiam." 540,1. 99 542,3f; s.a. 548,7 ff. 100 5 5 4,6ff. 101 s. 539,3; 540,3.9. 102 „Man sol sich nicht dran keren, quia a diabolo." 546,5 f.
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et desperationis et blasphemiae cogitationibus." 103 Zwar kann Luther in diesem Zusammenhang feststellen, daß Gott den Teufel „benutzt" 104 , allerdings ist das Ziel des Teufels, die menschliche Verzweiflung 105 , nur die Schwelle zum Ziel Gottes, das das Heil der Menschen ist: „Opus dei est in Antithesi contra opus diaboli positum." 106 Die Erkenntnis des göttlichen Zornes, die zunächst die Verzweiflung und Lästerung bewirkt, ist bereits, wie Luther sagen kann, „Gnade" 107 bzw. die „erste Stufe des Heils": „Nosse ergo iram dei, non est damnabile, sed salutare et 1. gradus ad salutem, imo caput ( < salutis)." 108 Abschließend kann festgestellt werden, daß Luther in der Auslegung des 90. Psalms die Erkenntnis des Zornes Gottes an die Erkenntnis der Realitäten des menschlichen Lebens bindet. „Lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen" (Ps 90,12) bedeutet für Luther, daß den Menschen die Einsicht vermittelt wird, wie sich ihr Leben vor Gott darstellt, und daß die Hoffnung, möglichst lang, ja ewig zu leben, auf Selbsttäuschung beruht: „Ideo orat Moses: Dona tarnen gratiam nobis ( < et omnibus hominibus), ut 'numerant dies suos' ( < lere sie doch arithmeticam); Die in corda ipsorum, ut ( < dz sie doch) rechen, wie lang ( < sie) sollen (wollen > ) leben, quia supra dixit: 'Umbra sumus', fugimus ( < ...) ut umbra. Homo cogitat 100 annos vitae ( < Ach wer da ein guter artihmeticus were und kund hoc totum, quid est centum anni, punctum mathematicum machen, dz nichts ist), ..." 109 . „'Numerare dies' ( < ut Moses dicit) est doceri nos per spiritum saneti et tentationibus mortis et periculis vexari, ut homo in se ( < ipsum) schlag ( < et dicat: Ach, wz bin ich, lob)." 110 Das in Ps 90,12 genannte Ziel „Auf daß wir klug werden" ist für Luther erreicht, wenn „iederman sich fur dem tod furchte" 111 bzw. „man sich vor Gott furchtet" 112 , d.h. die Kürze und Vergänglichkeit des Lebens sowie den drohenden Tod nicht verdrängt, den Zorn Gottes darin anerkennt, und daraufhin demütig lebt: „Ideo ( < dicit): 103
543,4 ff. „Diabolus n o n posset nisi D e o ( < licet Deus utitur diabolo); consilium eius est ira." 519,3f; 547,3ff; „ . . . iubet ( < permittit) enim diabolum nos excarnificare, . . . " 584,15; „ . . . vult, ut sciamus mala ista nobis non inferri nisi permittente ipso. Alioqui diabolus non potuisset H i o b cruciare." 585,2ff; s.u. G.III.3. 105 „Sic in spiritualibus habet Diabolus suum p r o p r i u m negocium: Desperationem. (wenn er sihet, d a s m a n wil ghen himel > ) Q u a n d o videt in homine verbum, h e r t z k l o p f t (seil, d e r T e u f e l ) an, ut cogitet de ira dei, . . . " 5 4 8 , 2 f f . 106 5 8 4,6f. 107 s. 571,6; 572,1; 573,5f; 574,5ff; „ d o n u m dei" 575,10. 108 575,8f; s.a. 5 7 5 , 1 - 4 . >°' 572,1 ff. 572,10-573,1. 111 573 zu 2. N a c h Luthers E i n s c h ä t z u n g ist die Zahl d e r M e n s c h e n , die den T o d in seiner ganzen B e d e u t u n g erkennen, verschwindend gering: „ Q u o t sunt, qui m e t u u n t m o r t e m ? 10 inter ( < Zehen h u n d e r t t a u s e n d sind irgend 10) 1000000." 5 7 3 , 2 f . 1,2 574,11. 104
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G. Mensch und Gott in Luthers Auslegung
da ( < nobis) gratiam, ut ( < dz wirs zelen) dies nostros numeremus. Non, ut numeremus praefinitum tempus, sed ( < ut consideremus) brevitatem, calamitatem, (brevissimam > ) vitam et singulis momentis impendentem mortem, i.e. eternam iram et divinam." 113 „... da ( < ergo) gratiam, ut ( < hoc) in humilitate et timore faciamus, (et meminerimus > ) ut semper memores, nos esse sub ira ( < tua), morte eterna, ..." I 1 4 . D a in Luthers Auslegung des 90. Psalms erst über die Erkenntnis der Lebensnöte der Zorn Gottes begriffen und damit verbunden nicht weniger als das „caput salutis" 115 erreicht werden kann, erfüllen die Aussagen zum Menschenbild die Funktion, die Luther in seinen Darlegungen zum argumentum der „prior pars argumenti (bzw.) psalmi" zugeschrieben hat: sie erschüttern die selbstsicheren und verblendeten Menschen, die die Lebensnöte und den T o d verdrängen 1 1 6 . Wie noch zu zeigen ist, kann Luther auch das Gottesbild, wie es in Ps 90,1-12 gezeichnet wird, in die Aufgabe der „prior pars argumenti (bzw.) psalmi" stellen, allerdings in einem auffallend geringeren M a ß , als er dies mit dem Menschenbild tut.
III. Das Gottesbild des 90. Psalms in Luthers Auslegung 1. „'Tu es nostrum habitaculum'" 1 1 7 (Das Wesen Gottes) Die Bezeichnung Gottes als ,,'Maon'" 1 1 8 im hebräischen Urtext macht den 1. Vers des 90. Psalms nicht nur zu einem „lebenspendenden Beginn" 119 , sondern prägt auch Luthers gesamte Auslegung, da sie den Hauptaspekt seines Gottesbildes, nämlich die Liebe als das Wesen Gottes 1 2 0 , gleichnisartig wiedergibt. Das W o r t , / M a o n ' " kann Luther als „refugium" 1 2 1 , „receptaculum" 1 2 2 sowie „Zuflucht" 123 wiedergeben. Weitaus häufiger übersetzt
1,3
573,5-8; s.a. 560,4f. 574,5ff; s.a. 499,9-12; 521,14-522,1; 548,7ff. 115 575,9. 116 s. 488,1-6. 117 504,1. 118 497,12; 502,4. „ H o c exordium est etiam vitale et pertinet ad resurrectionem mortuorum et vitam aeternam . . . " 496,8f. 120 Zur Bestimmung der Liebe als Hauptaspekt des Gottesbildes Luthers s. Althaus, Theologie, S. 107ff; Pesch, Hinführung, S. 259-263; Beintker, Gotteserfahrung, S. 41 ff. 121 s. z.B. 496,8; 498,10; 504,2. 122 498,10. 123 503,6; s.a. die bekannte Formulierung im Großen Katechismus: „Ein Gott heißet das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten.", BSLK S. 560,10-13. 114
III. Das Gottesbild des 90. Psalms in Luthers Auslegung
155
und interpretiert er es jedoch mit „habitaculum" 124 , „domus" 125 bzw. „haus(.. .)" 126 sowie „herberg" 127 , in der die Menschen immer schon leben und nicht erst durch eigenes Zutun Zuflucht nehmen müssen. Allein aus dieser Gottesbezeichnung folgert Luther die Bestimmung des Menschen zum ewigen Leben nach dem Tode und damit die Wirklichkeit der Sündenvergebung wie auch der Auferstehung der Toten: „Ergo aeterna vita statim in hoc vocabulo, quia si Deus ( < est habitaculum nostrum) (et Deus > ) est vita ( < et vivit) et nos 'habitatores', (... > ) tunc sumus in vita et vivimus in eo in eternum ..," 1 2 8 ; „Nos vivimus in deo, ipse est habitaculum nostrum, quo significatur certius ( < multo clarius) vita aeterna et remissio peccatorum ( < resurrectio mortuorum) quam contraria significatione." 129 In dieser Interpretation ergeben sich aus der Anrede Gottes als „'Maon'" dieselben Inhalte wie aus der Verbindung des ersten Gebotes mit Mt 22,32, die Luther in seiner Darlegung zum titulus psalmi ausführte 130 . So ist es nicht verwunderlich, daß Luther diese drei biblischen Stützen seines Gottesbildes in einem einzigen Satz miteinander verbinden kann: „... sumus in vita et vivimus in eo in eternum ex 1. praecepti virtute: 'Ego sum dominus' etc.; ex expositione Magistri nostri Christi, quod 'Deus non est mortuorum', ergo est Deus 'habitaculum' vivorum, non mortuorum." 131 Gott als „habitaculum" ist nicht nur Anlaß zur Hoffnung für die Menschen in Hinsicht auf die Sündenvergebung, Totenauferstehung und das ewige Leben 132 , sondern gleichzeitig der beste Trost 1 3 3 und die wirkungsvollste Stärkung 134 für die „ängstlichen Gewissen" 135 , die durch die „prior pars psalmi" erschreckt werden: „Antequam fulguret ( < tonat) horribiliter, satis praemunit pavidas conscientias, ut sciant, (deum esse > ) habitaculum vivum et viventium." 136 Die durch Vers 1 geschenkte Erkenntnis, ohne eigenes Zutun „'habitatores' (Dei)" und infolgedessen „in vita" zu sein 137 , ermöglicht es den Menschen, trotz der durch die „prior pars psalmi" vermittelten Einsicht, mitten im Leben vom Tode umgeben zu sein 138 , im Bewußtsein „media morte in vita sumus" 139 zu leben. Die Bezeichnung 124 s. z.B. 4 9 7 , 5 . 6 f . 8 f . l 2 . ; 502,4f; 504,1. Zu Luthers selbstkritischer Stellungnahme z u r eigenen Bibelübersetzung von Ps 90,1 (502,4f), s.o., sowie Lohse, G e s e t z , S. 150ff; ders., Aktualisierung, S. 20 f. 125 498,10; 512,6. 126 497 zu 11 f. 127 503,6. 128 4 9 7 , I f f ; s.a. 6f: „Si est 'habitaculum' h o m i n u m , ergo 'homines' oportet 'vivere' ( < . . . ) . " I2 ' 498,7ff; s.a. 499,4 f. 130 s. 4 9 2 , 1 1 - 4 9 3 , 3 ; 4 9 4 , 1 1 - 4 9 5 , 5 . Erinnert sei auch d a r a n , d a ß für L u t h e r bereits d e r Titel d a s „Heilmittel" anzuzeigen vermag, s. 4 9 5 , 1 1 - 4 9 6 , 1 . 151 497,3 ff. 152 498,3 ff. 502,4 f. 134 155 497,7ff. 497,8; s.a. 512,5; 587,4. 136 137 497,7ff; s.a. 5 1 2 , 7 - 1 1 . 4 97,2f. 138 139 4 96 zu 3. 496,3 f.
156
G. Mensch und Gott in Luthers Auslegung
Gottes als „habitaculum" gehört in diesem Sinne zur „vox euangelii" 140 bzw. zur „altera pars psalmi" 1 4 1 , die das „remedium" gegen die Wirkung der „prior pars psalmi" beinhaltet 1 4 2 . Nach Luthers bekannter, auch in der Auslegung von Ps 90,1 begegnender Formel „sicut credimus, ita habemus" 1 4 3 sind die Menschen, die an Gott als „habitaculum" glauben bzw. ihn im Gebet so anreden 1 4 4 , 'domini et habitatores' 1 4 5 des gnädigen und barmherzigen Gottes 1 4 6 . Vor Gottes Zorn und den damit verbundenen erfahrbaren Lebensnöten sowie dem bevorstehenden T o d brauchen die Menschen nicht länger zu verzweifeln 147 , selbst wenn „reliquias peccati in nobis esse" 148 . T r o t z weiterhin begegnender „occasionis tristiciae et infirmitatis fidei" 1 4 9 dürfen, ja sollen die Menschen mit Freude vor Gott leben: „Wenn ich denn so sauer sehe, tunc dicitur deus contristari, qui in hoc est mortuus, ut essemus sancti et iusti." 150 D a G o t t nach Ps 90,1 „'ab aetate in aetatem'" 1 5 1 der Menschen „habitaculum" ist, also immer schon die Wohnung der an ihn glaubenden Menschen, ergibt sich für Luther, d a ß die Kirche „a 1. hora usque ad novissimam" 1 5 2 besteht: „Semper ergo est Ecclesia ( < quod bene notandum est), qui confitebuntur et docebunt de D e o vero, etsi paucissimi." 153 D a die Existenz der Kirche für Luther somit im Gottesbild begründet ist, wird die Vorstellung einer Kirche, deren Existenz auf der Heiligkeit der ihr Angehörenden beruht, d.h. die sich ohne „scandalis, ruga et maculis" darstellt 1 5 4 , verworfen 1 5 5 . Die verbleibende Sünde hält G o t t nicht davon ab, die Kirche
140
496,4. 488,7; daß die Bezeichnung Gottes als „habitaculum" auch zum „prior pars psalmi" gehören kann, zeigt 512,9ff; s.u. G.III.2. 142 An dieser Verknüpfung (Ps 90,1 als Trost für die durch die „prior pars psalmi" Erschrockenen) zeigt sich, das Luther die beiden inhaltlich zu unterscheidenen Psalmteile - wie auch „Gesetz" und „Evangelium" - nicht strikt literarkritisch trennt. 143 503,9. 144 Luther verdeutlicht, daß bereits die Anrede Gottes als „habitaculum" im Gebet voller Glauben ist, s. 502,5-9. Ohne diesen Glauben wäre das Gebet „Corpus sine anima, membrum sine capite" (502,15). Der Glaube, der die Menschen dazu bringt, Gott als „habitaculum" zu „ergreifen" (502,12), ist „donum spiritus sancti in cordibus nostris" (503,6f). Wer Gott so anreden kann, glaubt demnach bereits und „hat" Gott als „habitaculum": „Si habitaculum esse credo, ( . . . > ) 'ita est'." (503,9). 145 146 4 9 7 , l l f ; s.a.497,2. 502,7. 147 148 5 21,13 - 5 22,3. 5 8 9,5. 145 150 5 8 9,15. 5 8 9,15 ff. 151 Luthers Übersetzung des hebräischen „'Dor'" s. 504,11 f. 152 5 05,1 f. 153 505,7 f. 154 505,10; zu Luthers Abwehr dieser Vorstellung, die er bei den Papisten und Schwärmern (505,9) sowie den Donatisten (506,1) und Manichäern (506,2) findet, s. seinen deutlich abzugrenzenden Exkurs in der Vorlesung 505,8-507,10. 155 Mit Hinweis auf M t 6,12 und Kol 3,9f, s. 506,5 f. 141
III. Das Gottesbild des 90. Psalms in Luthers Auslegung
157
weiterhin allein zu erhalten: „Sic Ecclesia semper manet, non humana conservatione sed divina." 156 Aus Gottes Sein als „habitaculum", d.h. aus seinem liebenden Dasein für die Menschen ergibt sich somit das Sein der Kirche, die alle Menschen einschließt, die an Gott als ihre „herberg" glauben.
2. Magnitudo Dei Innerhalb der Darlegungen Luthers zu Ps 90,1-4 finden sich viele Aussagen, die die Größe Gottes in zahlreichen Einzelaspekten ausführen. Uber die in den betreffenden Versen angesprochenen Eigenschaften des aeternum esse 157 und der omnipotentia 158 Gottes hinaus, weist Luther auf dessen immortalis esse 159 , invisibilis esse 160 , perfectus esse 161 , beatus esse 162 , verus esse 163 , sapiens esse 164 , sibi sufficiens esse 165 , facilis esse 166 , infinitus esse 167 sowie immensus esse 168 hin. Die alle diese Züge beinhaltende magnitudo Dei beschreibt Luther seinen Zuhörern mit Nachdruck, was ohne die Grundlage des 90. Psalms bzw. der Schrift unmöglich wäre, da Gott nicht nur „ante, supra et extra omnem creaturam" 169 , sondern auch „extra conspectum et cogitationes cordis humani" 170 existiert. Allein Mose „transfert ( < nos) a conspectu humano in ( < ad) conspectum divinum" 171 bzw. - wie Luther an einem Bild verdeutlicht - ermöglicht es den Menschen, neben dem Siegelabdruck auch das Siegel selbst zu sehen: „... apud nos ( < ist viel ein ander ansehen quam coram Deo) anni ein ander ansehen, . . . Ipse inspicit sigillum, ut geschnitten ( < ist); (wir sehen es allein auff dem wachs > ) alia facies dextera et sinistra sigilli. (Was > ) Quod apud nos nox ( < mors), apud ipsum dies ( < vita), apud nos temporale, ( . · • > ) apud ipsum eternum." 172 Mit seinem Psalm - und besonders dem 2. Vers, der ein „antigraphon Genesis" 173 darstellt - trennt Mose den wahren Gott von den Göttern der
156
507,8 f. s. bes. zu V . l ; 504,9f; 5 0 4 , 1 2 - 5 0 5 , 1 ; s.a. 5 0 8 , 3 f . 8 f . l 1.13; 509,5f; 512,8f; 578,12f. 158 s. bes. V.l u n d 4; 510,12f; 512,8f; 513,2f; s.a. 508,13; 511,10. 159 5 0 8,13. 161 160 508,6. 5 77,1; 578,11 f. 163 162 504,3.9; 508,3; 509,6. 508,6.13; 509,6. 165 164 5 09,1.4.7. 5 0 8,13. 167 166 512,8; 513,3f; 584,5 f. 5 1 0,9 ff. 12 f. 16 168 ' 509,7f; 511,5ff; 5 6 8 , 1 2 - 5 7 0 , 1 0 . 513,3f. 170 171 569,4 f. 522,10 (zu V.4). 172 173 534,2-5. 508,7. 157
513,2f;
158
G. Mensch und Gott in Luthers Auslegung
Völker. Werden diese als geboren 1 7 4 und rein diesseitig wirksam 1 7 5 vorgestellt, ist jener „verus, alt, 'ewig' Gott, a quo non weichen" 1 7 6 . Luther malt in seiner Auslegung die magnitude Dei nicht deshalb aus, um eine möglichst umfassende Aufzählung der Eigenschaften Gottes zu geben. An einer Darstellung von „Gott an sich" ist er nicht interessiert. Vielmehr beschreibt er die Größe Gottes mit Blick auf die Wirkungen, die diese Beschreibung bei den Menschen hervorrufen, da f ü r ihn der Grundsatz „effectus sequitur personae magnitudinem" 1 7 7 auslegungsbestimmend ist. Demgemäß stellt Mose in Luthers Auslegung die Größe der Majestät Gottes innerhalb der „prior pars psalmi" nur aus dem Grund vor, „ut iram discamus gros machen" 1 7 8 . Wenn nämlich der „ewige, allmächtige, unermeßliche und unendliche" Gott zürnt, ist folglich auch sein „furor immensus et infinitus" 1 7 9 , und „Si ergo ille irascitur, nullum est effugium." 1 8 0 Luther betont, daß Mose diesen erschreckenden Effekt des Gottesbildes auf die selbstsicheren, hochmütigen Menschen richtet: „(Igitur > ) Praemisit istum versum (seil. V.2) ad conterrendos ( < . . . ) superbos ( < nimpt ein grossen donner), quia sunt duri ( < hart), . . . Illis tribuit nullum habitaculum, sed Deum, qui est super omnes ( < omnia), quem lateat nullus ( < eumque ponit iratum)." 1 8 1 Dasselbe Gottesbild kann aber auch einen gegenteiligen Effekt erzielen. Die magnitude) Dei hat für die „ängstlichen Gewissen" eine unüberbietbare Trostwirkung, denn „ . . . magnitudo fiduciae crescit ex magnitudine ( < et Maiestate Dei) ..." 1 8 2 . „(Illa magnitudo et potentia divina nos consolari debebat in nostris periculis > ) Si hunc habemus, quis vult nobis nocere." 1 8 3 U n t e r dem Blickwinkel der „altera pars psalmi" kann Luther so auch in der Auslegung von V.2 G o t t als „habitaculum infinitum, aeternum, omnipotentem, ubi nemo nocet" 1 8 4 schildern.
174 „Ibi separat Deum ab omnium gentium diis, de quibus hoc non dicitur, qui nati et generantur, U t Perseus." 508,4 f. 175 „ ( . . . > ) U t videtur in omnium gentium libris: etiam si loquuntur de deo, (tarnen > ) loquuntur dubitative. Omnia, quae faciunt, quiequid colunt, colunt tantum propter hanc vitam, de futura ira, gratia non cogitant." 569,5 ff. 176 504,9 f. 177 513,5. 178 5 09,2 f. 179 513,3ff; s.a. 511,3ff; zu V.16: „Ibi Emphasis est in 'Tuum'. Man mus hoc pronomen auff die person ziehen. Wenn es auff unsern Herr Gott gehet, so ists pronomen infinitum." 584,5 f. 180 512,1; s.a.9f. 181 512,3 f. 9 f. 182 511,8. 183 5 1 0,15. 184 5 1 2 , 8 f.
III. Das Gottesbild des 90. Psalms in Luthers Auslegung
159
3. Das Wirken Gottes am „genus humanum excaecatum" Erkennen die Menschen durch die „prior pars psalmi" ihre wirkliche Lebenssituation, die durch Kürze und Vergänglichkeit gekennzeichnet und allein auf Gottes Zorn zurückzuführen ist, kann es geschehen, daß die „Conscientiae pavidae, ..., imaginantur deum, quasi sit diabolus, nullam dat ei bonam formam, sed gladium in manum et fulmen, Ut nihil sit foedius in coelo et inferis quam deus iratus." 185 Besonders bei der Auslegung von Ps 90,3a (,,'Vertis hominem in conflictionem' ( < 'contritionem'): annihilationem.") 186 weist Luther nachdrücklich darauf hin, daß der schreckliche „effectus mortis" allein von Gott her kommt 187 . Abzuwehren ist nämlich der manichäische Irrtum, in dem sich selbst Augustin neun Jahre lang befand 1 8 8 , der zwei Gottheiten 1 8 9 bzw. „2 principia" 190 postuliert, denen die menschlichen Erfahrungen des Guten und des Bösen zugeordnet werden: „Manichaeus ( < sie) delirat et multi hodie, quod imaginantur omnia bona (a bona Deo > ) venire, omnia mala a Deo malo ( < oriri)." 191 Wer sagt „Tu habitaculum et diabolus vertit ( < hominem in conflictionem ...)" 1 9 2 , unternimmt den erfolglosen Versuch, dem göttlichen Zorn „aus dem Weg zu gehen" bzw. vor ihm „zu fliehen": „hoc est declinare ( < iram divinam) et velle effugere, effugere iram divinam ( < Da mit kompt man nicht davon)." 193 Die Weltsicht des manichäischen Dualismus entpuppt sich so als eine theoretische Flucht vor der logischen Konsequenz des Monotheismus, wonach sowohl die guten als auch die schlechten Lebenswiderfahrnisse „ad unum et eundem Deum" 1 9 4 zurückzuführen sind. Auch die Auffassung vom Wirken des Teufels ändert daran nichts. Selbst wenn Luther Aussagen treffen kann, die ein von Gott unabhängiges Handeln des Teufels nahelegen 195 , läßt er keinen Zweifel darüber aufkommen, daß nach seiner Meinung der Teufel allein mit Gottes „Erlaubnis" tätig sein kann: „iubet ( < permittit) enim diabolum nos excarnificare. . . . Ne plures deos faciamus sicut Manichaeus: . . . Das wil unser Herr Gott nicht haben, sed vult, ut sciamus mala ista nobis non inferri nisi permittente ipso. Alioqui diabolus
1,5
587,4-7. 516,1. 187 „ ( . . . > ) Ipsi d e o ascribere illum horribilem effectum, . . . , q u o d ille effectus mortis venit ab ipso d e o . " 518,6 ff. 188 „ ( D a s ist secta, in q u a > ) Augustinus 9 annos (drin) studuit." 517,3 f. 189 516,13-517,1; 584,15-585,1. 1.0 517,3; 585,1 f. 1.1 5 1 7 , I f f ; s.a. 585,1 f. 192 5 1 7,1. 1.3 517,5. 1.4 517,11. 1.5 s. z.B. 504,7; 543,4f; 547,2; 5 4 8 , 2 - 5 ; 5 8 4 . 6 f . 8 f . 186
160
G. Mensch und Gott in Luthers Auslegung
non potuisset Hiob cruciare." 1 9 6 Es ist nicht an den Menschen, zu richten, warum Gott so handelt. Nur die menschliche „humiliatio" als Ziel dieses Handelns steht für Luther fest: „Nostrum non est iudicare ( < . . . ) , cur Deus (hoc > ) fecerit. Sed nobis fit, ut humiliemur, .. ," 1 9 7 . Wird die „humiliatio" durch die von der „prior pars psalmi" hervorgerufenen Anfechtungen erreicht, knüpft daran das weitergehende Wirken Gottes an, in dem das Wesen Gottes ganz zum Vorschein kommt, „quia deus est, qui vult vivificare praesertim mortificatos ( < . . . ) " 1 9 8 . Auch wenn Gott sich „zuweilen das Werk: 'Töten' anmaßt", gehört dies doch nur zu seinen vorläufigen und wesensfremden Werken, wie Luther mit Bezug auf Jes 28,21 aussagt: „Aliquando arrogat sibi opus: mortificare. . . . Sed tarnen Esaias ita distinguit dicens: Non opera dei, 'aliena', non propria." 1 9 9 In diesem Zusammenhang kann Luther ebenso Dtn 32,39 sowie 1. Sam 2,6f zitieren: „ ( . . . so heist sein reim: 'Ego occidam et vivere faciam'" > ) .. ," 2 0 0 , womit allerdings zugleich für ihn angezeigt ist, daß das Ziel des Wirkens Gottes in nichts anderem besteht als letztlich in der Vollbringung seiner wesenseigenen Werke, die den Menschen neues, befreites Leben erst ermöglichen: „ D a s sind divina opera: Iustificare, salvare, dare bona etc." 2 0 1 „Sumus humiliati peccato, morte, mors perdit nos; 'ostende opus tuum' proprium: significat recompensationem mortis et vitae, iusticiae et peccati. 'Tuum opus' i.e. vitam." 2 0 2 U m dieses Werk zu vollbringen und damit das Wesen Gottes darzustellen, ist Christus erschienen, den Mose im 90. Psalm bereits „obscure" 2 0 3 anzeigt. M o s e gibt diesen Hinweis nicht nur mit den Bitten in Ps 90,15f 2 0 4 , sondern auch dadurch, daß er durch die „prior pars psalmi" die Hochmütigen demütigt und sie so sensibel für den „spiritum gratiae" 2 0 5 macht, welcher den Gedemütigten allein in Christus begegnet. Ihre Anfechtungen hat er auf sich genommen und „verschlungen", womit Luther zwar unausgesprochen, aber dennoch deutlich auf Aspekte der „theologia crucis" Bezug nimmt: „Christus missus, ut liberet tales ( < sie sollen gnad und hülff finden), et omnes tales 'tristicias' in corde suo posuit, ut absorberet pro 1 , 6 5 8 4 , 1 5 - 5 8 5 , 4 ; s.a. 519,3f: „Diabolus non posset nisi D e o ( < licet Deus utitur diabolo)"; zu diesem Themenkomplex s. Obendiek, Teufel, S. 4 3 - 4 7 ; Ebeling, Lutherstudien I I / 3 , S. 263 ff. 548,7f. 1 , 8 577,16 f. 584,12 ff. 2 0 0 518 zu 6. 2 0 1 5 8 4,1 l f ; s.a. 577,16f; 585,8f; 587,1 ff. 202 585,6-9. 2 0 3 489,7; 493,3 ff. 204 V.15: „Ideo petitur occulte Christus, ut liberet a peccato et morte." 583,7f; V.16: „ E r g o est petitio de adventu Christi." 587,15 f. 2 0 5 554,7 f.
IV. Zusammenfassung: Gott und Mensch in Luthers Auslegung
161
nobis." 206 Zwar ist Gott schon „ewig" das 'habitaculum' der ihm vertrauenden Menschen, wobei allerdings erst Christus durch seine Verbindung des 1. Gebots mit Mt 22,32 die Wahrheit der sich aus der Bezeichnung Gottes als 'habitaculum' ergebenden Konsequenzen bestätigt hat 207 , doch kann er auch - wie oben beschrieben - „sicut diabolus, furia ultrix" 208 erscheinen. Allein in Christus erscheint er in „formam, in qua laeti simus, da wir In gern Inn sehen. Sic autem aspicitur deus in illa persona: Christus, ibi est summa misericordia, vita, salus, liberatio." 209 Durch die in ihm vollzogene Vergebung ist zugleich die „humiliatio", die der 90. Psalm mit der Erkenntnis der Lebensnöte geweckt hat, aufgehoben 210 , so daß die Menschen von nun an in spürbarer 211 Heilsgewißheit 212 leben können „aut in Ecclesia, aut in politia et domo" 213 .
IV. Zusammenfassung: Gott und Mensch in Luthers Auslegung des 90. Psalms Im Anschluß an Darlegungen zur menschlichen „caecitas" 214 trifft Luther in der Auslegung von Ps 51,2 die bekannte Aussage, nach der die „sapientia divina et proprie theologica" in der „cognitio dei et hominis" besteht 215 . Diese allein aus der Schrift zu gewinnende Erkenntnis vermittelt das Bild des „homo reus et perditus" sowie des „deus iustificans vel salvator" 216 . Das damit skizzierte Grundverhältnis von Mensch und Gott bestimmt Luther seit seiner Frühzeit und ist auch in der Vorlesung über Psalm 90 maßge-
206 5 5 4,8f; s.a. 5 4 2 , 1 0 - 5 4 3 , 2 : „Dionysius (seil. Aeropagita) ( < der fantast) scripsit de negativa et affirmativa ( < T h e o l o g i a ) , ludit (hat viel davon geschrieben, postea dicit > ): D e u s est Ens, est n o n ens. T h e o l o g i a negativa, das heist (das > ) heilig creutz, q u o d ( q u a n d o deus n o n cernitur et adest mera > ) eitel ira et t a n t u m ille gemitus."; z u r B e z u g n a h m e auf Aspekte d e r „theologia crucis" s. z.B. W A 2, 1 4 0 , 1 6 - 2 6 (Sermon von d e r Betrachtung des heiligen Leidens Christi); W A 2 , 6 8 8 , 1 - 6 9 1 , 2 1 (Sermon von d e r Bereitung zum Sterben); W A 7 , 2 5 , 2 6 - 2 7 , 1 2 (Von der Freiheit eines Christenmenschen). 207 4 9 4 , 1 1 - 4 9 5 , 1 ; s.o. G . I I I . l . 208 5 8 7 , 8. 209 5 8 7 , 9ff; s.a. 5 8 6 , 1 5 - 5 8 7 , 1 ; vgl. die diesbezüglichen Aussagen in d e n v o r h e r g e h e n d e n Vorlesungen ü b e r die Stufenpsalmen 40 111,53,3-6; 5 6 , 1 1 - 16; 303,13f; 337,1.1 If; 338,13-339,1; 400,lf; 475,4ff. 210 „Sic humiliatio et peccatum tolluntur per remissionem peccatorum, visio m a l o r u m per exultationem et salutem vel liberationem a p o e n a . " 5 8 2 , 1 5 - 5 8 3 , 1 . 211 585,9-12. 212 586,1-5. 213 590,4f; s. die A u s f ü h r u n g e n zu Ps 90,17 590,4-593,16. 214 „Est caecitas, nihil potest statuere nec de deo, verbo, vita, morte, quid oculos, m a n u s etc., quia nescit esse c r e a t u r a m dei et c o r r u p t a m peccato et p o e n a . " 40 I I , 3 2 6 , 3 f f ; s.a. 3 2 6 , 5 - 3 2 7 , 1 0 . 215 40 11,327,11. 216 40 11,328,1 f.
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G. Mensch und Gott in Luthers Auslegung
bend. Überwinden die Menschen mit Hilfe der „prior pars psalmi" ihre caecitas und nehmen sich daraufhin ungeblendet wahr, führt dieses bei ihnen zu der Einsicht, „reus et perditus" in einer kurzen und mühevollen Lebensexistenz zu sein, die jederzeit vom Tod bedroht ist. Die Aussage „Media vita in morte sumus" ist dabei nicht Anzeichen eines bei Luther anzutreffenden Lebenspessimismus, wie zuweilen angenommen wird 2 1 7 , wenn man bedenkt, daß z.B. aufgrund von Kriegen, Epidemien und Hungersnöten „Luthers Zeit . . . wie wenige sonst eine Zeit des Todes (war)" 218 . Nicht zufällig war diese Zeit des Todes zugleich eine Zeit der Frömmigkeit, in der die Menschen zu den verschiedensten „Formen der Wallfahrt, des Wunderglaubens und des Reliquienkults, der Heiligenverehrung und der Marienfrömmigkeit . . . Zuflucht" 219 nahmen, gerade aufgrund der Angst vor dem jederzeit möglichen Tod und der damit verbundenen Befürchtungen in Hinsicht auf das Jenseits 220 . Luther weist in der Auslegung von Psalm 90 mit Blick auf die Lebenserwartung auf die Tatsache hin, daß nur „minima pars hominum ( < attingunt) pervenit ad 40" 221 . Wer dieser Lebenssituation "zum Tode" ohne Verdrängung begegnete, konnte tatsächlich nur konzedieren, 'mitten im Leben vom Tode umgeben' zu sein. Das Gewahrwerden der Bedrohtheit der eigenen Existenz führt nach Luther in die Verzweiflung, aus der allein der Glaube zu befreien vermag. Zum einen bietet er mit dem Hinweis auf den Zorn Gottes über die Sünde einen einleuchtenden, wenn auch nicht erlösenden Grund für die notvolle Lebenssituation. Andererseits verweist gerade die „altera pars psalmi" auf den barmherzigen „deus iustificans vel salvator", in dem jeder Glaubende, der den Realitäten des Lebens nicht ausweicht und angesichts dessen ganz auf Gott hofft, bereits hier und jetzt -"sicut credimus, ita habemus" 222 „wohnt" (deus habitaculum). Luthers Vorlesung über den 90. Psalm steht demnach mit der Vermittlung der „cognitio dei et hominis" ganz in der Aufgabe der „sapientia divina et proprie theologica". Luther bietet daher in seiner Auslegung nicht eine „Theologie des Todes" 2 2 3 , sondern „Theologie" im evangelischen Sinne des Wortes. Neben der vollen Wahrnehmung der menschlichen Lebensnöte, gerade auch mit Blick auf die daraus folgenden blasphemischen Anfechtungen, ist vor allem zu würdigen, daß Luther in der Auslegung von Psalm 90 ganz darauf verzichtet, die Menschen auf ein kompensatorisches Jenseits hoffen zu lassen. Die Aussage „Media morte in vita sumus" bewirkt, bereits in der bedrohten Lebensexistenz aus spürbarer Heilsgewißheit heraus zu leben 217
s. Lohse, Gesetz, T o d und Sünde, S. 145. Pesch, Theologie des Todes, S. 710; s.a. Borst, Mittelalter, S.118- 121. 2 " Wallmann, Kirchengeschichte, S. 14. 220 s. Moeller, Zeitalter, S. 38 £. 221 561,7. 222 5 0 3,9. 223 Zur Auseinandersetzung mit Althaus s.u. H.II.3. 218
IV. Zusammenfassung: Gott und Mensch in Luthers Auslegung
163
und in Welt und Kirche zu handeln. Diese Gewißheit wird von Luther nie an einer im Menschen vorfindlichen Fähigkeit oder (Seelen)Substanz festgemacht, sondern resultiert allein aus der Beziehung zwischen Gott und den ihm vertrauenden Menschen. Schon die Bezeichnung Gottes als „habitaculum" zeigt den liebevollen und schützenden Charakter der Beziehung an, die Gott zu den Menschen hat. Luther kann diesen Tatbestand an Psalm 90 verdeutlichen, ohne sich dabei genötigt zu fühlen, sogleich auf das Christusgeschehen zu verweisen. Auch wenn die Gültigkeit der sich aus der Gottesanrede „Maon" ergebenden Folgerungen erst durch Christus bestätigt worden ist, findet sich in Luthers Auslegung kein Anzeichen einer neutestamentlich begründeten defizitären Sicht des alttestamentlichen Mosepsalms. Luther läßt im Gegenteil keinen Zweifel daran aufkommen, daß Mose im Besitz des Heiligen Geistes war, durch den er diesen Psalm in göttlicher Vollmacht formulieren konnte 224 .
H. Die Aufnahme der Auslegung Luthers von Psalm 90 in der Forschung Luthers Auslegung des 90. Psalms kann ohne Zweifel zu denjenigen seiner Werke gezählt werden, die häufig zur Darstellung und Interpretation seiner Theologie herangezogen werden. Themen wie z.B. Luthers Gotteslehre, Anthropologie, Schöpfungslehre, Schriftverständnis, Ekklesiologie oder Eschatologie werden dabei mit Zitaten oder Belegstellen aus der Vorlesung über Psalm 90 dargestellt 1 . Die Fülle der Themen überrascht zunächst angesichts der nicht gerade umfangreichen Auslegung, vermag aber nach den obigen Textuntersuchungen in den Kapiteln F. und G. erklärt zu werden. Da nach seiner Auffassung durch den 90. Psalm der verblendeten Menschheit das wahre Selbst- und Gottesverständnis vermittelt wird, kommt Luther auf viele Einzelaspekte der Gotteslehre 2 sowie der Anthropologie 3 zu sprechen. Zudem bietet die Auslegung des Psalmtitels neben Äußerungen zur Autorität des Mose - und damit einem wichtigen Aspekt von Luthers Schriftverständnis - Darlegungen zum Gebet - in Verbindung 224
492,5 f.7 f. 11; s.a. Luthers nachdrückliche Herausstellung der göttlichen Autorität des Mose in 490,11- 492,6; vgl. seine diesbezüglichen Aussagen im Vorwort zur Druckausgabe 484,19- 27. 1 2 3
s.o. Einleitung. s.o. G.III.l., G.III.2. s.o. G.I., G.II.1.-3.
164
Η. Die Aufnahme der Auslegung Luthers von Psalm 90 in der Forschung
zum 1. G e b o t und somit wieder zur Gotteslehre. Die große Menge der angesprochenen Themen zerfällt dank der durchgängigen Konzentration Luthers während der Auslegung auf das durch den Psalm ausgelöste zweiteilige Geschehen nicht in eine unzusammenhängende M a s s e , sondern stellt sich wie ein theologisches M o s a i k dar. J e d e einzelne Aussage ist darin in ihrer Stellung zum Gesamtbild zu sehen, d.h. in der Zugehörigkeit zu den beiden Psalmteilen, über deren Gewahrwerden G o t t dem genus hutnanum excaecatum zu heilvoller Erkenntnis verhilft. Die G r ö ß e der Lehraufgabe, die sich Luther mit dieser Vorlesung stellte, in der er den 90. Psalm in der dargestellten umfassenden Bedeutung und der daraus zwangsläufig folgenden Themenfülle auszulegen hatte, zwang ihn zu einer äußerst konzentrierten Redeweise. Ohne „verbositas" kann Luther viele theologische Einsichten und Folgerungen innerhalb der Auslegung in wenigen Sätzen auf prägnante, manchmal gar drastische Weise auf den Punkt bringen, was ihm die Lutherforschung bis auf den heutigen T a g durch häufiges Heranziehen dieser Vorlesung zu Zitatzwecken dankt. Soweit dabei Luthers Ziel der Auslegung, das mit seiner A u f f a s s u n g von der A u f g a b e des 90. Psalms zusammenhängt, im Auge behalten wird, ist daran nichts zu kritisieren. Allerdings ist darauf hinzuweisen, daß in Untersuchungen, in denen diese Vorlesung nur mit wenigen Zitaten angeführt wird, auf den Gesamtduktus der Auslegung bisher noch nie verwiesen worden ist 4 . Neben solcher Aufnahme der Vorlesung, die sich lediglich auf die Übernahme besonders prägnanter Zitate beschränkt, hat Luthers Auslegung auch spezielle Würdigungen durch W. Eiert, C. Stange, P. Althaus, D . L ö f g r e n sowie B. Lohse erfahren. N a c h einer Untersuchung der dabei benutzten Quellen ( H . I . ) wird eine kritische U b e r p r ü f u n g der bei den Würdigungen vorgenommen theologischen Gewichtungen unerläßlich sein (H.H.).
I. Zur Quellenwahl in der Forschung Bevor im J a h r 1930 die von A. Freitag verantwortete Edition von Luthers Vorlesung über Psalm 90 in W A 40 III erschien, war die Auslegung der Forschung in der Erlanger Ausgabe (E.A.) op. ex. X V I I I zugänglich, die allerdings nur Dietrichs D r u c k a u s g a b e der Vorlesung von 1541 bot. D i e den Vergleich zwischen der unmittelbaren Nachschrift Rörers und der späteren Druckbearbeitung Dietrichs ermöglichende Edition in W A 40 III erschien erst während des Drucks von W. Elerts „ M o r p h o l o g i e des Luthertums", was dieser in seinem Vorwort erwähnt 5 . Elerts Würdigung von
1 5
So z.B. bei Wagner, Gebet; Hebart, Theologie des Gebets; Ebeling, Todes Tod. Eiert, Morphologie I, S.V.
I. Zur Quellenwahl in der Forschung
165
Luthers Vorlesung basiert demnach allein auf der E.A., d.h. dem Drucktext Dietrichs, was nach Elerts Aussage aber kein Schade ist. Nach Durchsicht der Nachschrift in WA 40 III lautet sein Urteil: „Soviel ich sehe, bestehen . . . zwischen diesem (seil. Druck in der E.A.) und der in der Weimarer Ausgabe jetzt mitgeteilten Nachschrift nirgends ernstere theologische Differenzen - wie es ja sonst bei den Vorlesungen und Predigten leider oft genug der Fall ist." 6 Gerade angesichts der in der letzten Aussage mitgeteilten Kenntnis der Überlieferungsproblematik hätte Elerts Urteil über den Wert des Drucks im Vergleich zur Nachschrift differenzierter ausfallen müssen. Auch wenn auf den ersten Blick keine „ernstere(n) theologische(n) Differenzen" zu entdecken sind, bekommt doch Luthers Auslegung in der Druckfassung einen anderen, nämlich einen lehrhaften und auf systematische Begrifflichkeit und Klarheit ausgerichteten Charakter, der schon bei einem schnellen Vergleich mit der Nachschrift offenkundig wird, ganz abgesehen von den tatsächlich vorhandenen theologischen Unterschieden 7 . Alle Zitate, die Eiert bei seiner Würdigung der Auslegung heranzieht, werden deshalb daraufhin zu prüfen sein, ob er seine Darstellung gerade auf von Dietrich hinzugefügte oder veränderte Aussagen stützt. Das gleiche Verfahren ist bei der Diskussion von C. Stanges Untersuchung „Luthers Gedanken über die Todesfurcht" von 1932 anzuwenden. Stange zitiert bereits die Edition in WA 40 III, allerdings nur die Druckausgabe Dietrichs, was bereits in den Anmerkungen die parallelen Zitatangaben für E.A. op. ex. XVIII anzeigen. Ein Gewahrwerden von fehlenden, veränderten oder hinzugefügten Aussagen Luthers im Drucktext von 1541 ist in Stanges Würdigung nur an einer Stelle zu bemerken, wo er allerdings nach einem Quellenvergleich zu dem Urteil kommt, daß „dem Sinne nach Druck und Nachschrift überein(stimmen)" 8 . An anderen Stellen hat Stange einen Vergleich der Quellen jedoch unterlassen, da er viele Aussagen aus der Druckbearbeitung zitieren und würdigen kann, die keinerlei Anhalt in der Nachschrift haben 9 . 1957 erschien der Aufsatz „Luthers Wort vom Ende und Ziel des Menschen" 10 von P. Althaus. In ihm paraphrasiert Althaus Teile von Luthers Auslegung, wobei die zugrundeliegende Quelle nicht eindeutig festzustellen ist. Da Althaus aber in den 22 Zitaten aus der Vorlesung, die in „Die Theologie Martin Luthers" von 1962 begegnen 11 , teils nur die Nachschrift 12 , teils nur den Druck zitiert 13 , darf bei ihm eine Kenntnis der 6 7 8 9 10 11 12 13
Eiert, ebd. s.o. D.V.I.- D.V.5. Stange, Todesfurcht, S. 77. Stange, aaO., z.B. S.10; S. 17 Anm.l. Erschienen in Luther 28, S. 97-108. s.o. Einleitung. Althaus, Theologie, z.B. S. 149, Anm.34f; S. 155, Anm.24. Althaus, aaO., z.B. S.148, Anm.27.
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Η. Die Aufnahme der Auslegung Luthers von Psalm 90 in der Forschung
Unterschiede vorausgesetzt werden 14 , aus der er aber für die Quellenwahl keine eindeutigen Konsequenzen zieht. Der erste, der hauptsächlich 15 die Nachschrift als Quelle für Luthers Vorlesung über Psalm 90 in Anspruch genommen hat, ist 1960 D. Löfgren in „Die Theologie der Schöpfung bei Luther" gewesen. Neben vielen Zitaten aus der Nachschrift versucht Löfgren zudem eine kurze Charakterisierung der Vorlesung Luthers zu geben16. Die Diskussion über die bisherige Rezeption der Auslegung Luthers hat 1968 B. Lohse mit dem Aufsatz „Gesetz, Tod und Sünde in Luthers Auslegung des 90. Psalms" eröffnet 17 . Lohse stützt sich bei seiner kritischen Würdigung der - oben genannten - Interpretationen Elerts und Althaus hauptsächlich auf Dietrichs Druckausgabe, wobei er allerdings als erster Differenzen zwischen Nachschrift und Druck nicht nur wahrnimmt, sondern auch diskutiert 18 . Die Ergebnisse des 1. Teils der vorliegenden Untersuchung dürften gezeigt haben, daß ein Heranziehen des Drucktextes zur Wiedergabe und Interpretation von Luthers Auslegung des 90. Psalms als problematisch zu beurteilen ist. Basierend auf diesem Urteil sind die bisherigen Interpretationen in den Teilen kritisch zu überprüfen, in denen sie sich allein auf Aussagen des Drucktextes beziehen, die auf Dietrich zurückzuführen oder von ihm inhaltlich verändert worden sind. Zukünftige Bezugnahmen auf diese und andere Vorlesungen Luthers mit ähnlicher Quellenlage - z.B. die Vorlesungen über den Galaterbrief oder die Stufenpsalmen - werden sich nur den Nachschriften Rörers zu widmen haben 19 .
II. Interpretationen von Luthers Auslegung des 90. Psalms 1. Werner Eiert Die erste Veröffentlichung von Werner Eiert zur Theologie Luthers erschien 1924 unter dem Titel „Die Lehre des Luthertums im Abriß". Diese Arbeit zeigt bereits Elerts Kenntnis von Luthers Auslegung des 90. Psalms, 14
Althaus weist in seinem Aufsatz lediglich darauf hin, daß in der Nachschrift „Luthers lebendige Stimme noch viel unmittelbarer und oft wuchtiger als in der gedruckten Ausgabe" zu hören ist; Althaus, Luthers Wort, S. 98. 15 N u r einmal zitiert Löfgren allein den Drucktext, Löfgren, Theologie der Schöpfung, S. 32 Anm.38. Die Parallelstellen von Zitaten aus der Nachschrift im Druck gibt Löfgren nur dann an, wenn dort z.B. ein „Gedanke . . . weiter durchgeführt (wird)", Löfgren, ebd. 16 Löfgren, aaO., S.32 Anm.37; S.90 Anm.7, s.u. H.II.4. 17 Zuerst erschienen in der Festschrift H. Thielicke, Leben angesichts des Todes, S. 139-155. 18 s. Lohse, Gesetz, T o d und Sünde, S. 150 ff. " s.o. E.
II. Interpretationen von Luthers Auslegung des 90. Psalms
167
die im „Abriß" zu den drei am häufigsten zitierten Werken Luthers zählt 20 . Besonders im 1. Teil „Der Kampf mit Gott" zieht Eiert Luthers Auslegung mit mehreren Zitaten heran 21 . Eiert stellt in diesem Teil als „Lehre des Luthertums" dar, daß der Mensch, der sich durch den Besitz des Freiheitswillens von allen anderen Lebensformen unterscheidet, durch das „Schicksal" gehemmt wird 22 . Aus Faktoren wie den „natürlichen Gewalten", der „Flucht der Zeit", der „Begrenztheit unserer Aufnahmefähigkeit, unseres physischen und geistigen Könnens" 2 3 setzt sich das „Schicksal" zusammen. „Wird die Gewalt des Schicksals als Hemmung der Freiheit empfunden", führt dies zu „seelische(n) Verwicklungen" 24 wie z.B. Trotz, Angst oder Resignation. Nach dieser kurzen Darlegung über das Wesen der menschlichen Existenz und dessen Relation zum „Schicksal" sagt Eiert: „Es würde sich nichts Grundsätzliches einwenden lassen, wollte man bereits hier von der Gewalt Gottes statt von der Gewalt des Schicksals sprechen. . . . Wir befinden uns dabei im Einklang mit Luthers Lehre vom Verborgenen Gott, ,.." 2 5 Im „Schicksal" steht dem Menschen demnach nicht ein „blind wirkende.. .(s) Fatum..." gegenüber, sondern die „Hoheit und Freiheit des lebendigen Gottes" 26 . In dieser Situation des Gegenübers erlebt der Mensch den Abstand zu Gott sowohl im Bereich des „Empfinden(s)", als auch des „Erkenn e n ^ ) " sowie des „Können(s)" (d.h. des geistigen und tätigen Wirkens) 27 . Fragt der Mensch nach den Motiven des ihm entgegenstehenden „Schicksals" bzw. Gottes, „so drängt sich . . . als . . . beherrschendes Motiv eine Art von Feindlichkeit auf" 28 . Der in, mit und unter dem „Schicksal" feindlich handelnde Gott wirkt laut Eiert nicht irrational. „Versuchen wir uns in Gott hineinzudenken, so können wir seinem Verhalten uns gegenüber nicht Unrecht geben. Wir haben es durch unsern Trotz und seine Betätigung in unserem Widerspruch gegen unser Schicksal provoziert. Insofern müssen wir die Schuld bei uns selber suchen." 29 Aufgrund der so beschriebenen Schuld befindet sich jeder Mensch unter dem „Schicksal" im „Zustand der Knechtschaft" 30 . Dieser Zustand ist aber „nur ein Provisorium. Der Ver-
20
Daneben zitiert Eiert häufig „De servo arbitrio" und die Galatervorlesung von 1531. Eiert, Abriß, S.5 Anm.6; S.10 Anm.2; S.12 Anm.5; S.13 Anm.7; S.28 Anm.12. 22 Eiert, Abriß, S.3f. 23 Eiert, aaO., S.4. 24 Eiert, ebd. 25 Eiert, aaO., S.6. 26 Eiert, aaO., S.8. 27 Eiert, aaO., S.9f. 28 Eiert, aaO., S. 12. Als biblische Belegstellen des menschlichen „Ringens mit dem Schicksal" gibt Eiert Jakobs Kampf am Jabbok (Gen 32) sowie Jesu Gebet in Gethsemane (Mk 14) an, aaO., S.13. " Eiert, aaO., S.14f. 50 Eiert, aaO., S.27. 21
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Η. Die Aufnahme der Auslegung Luthers von Psalm 90 in der Forschung
nichtungswille Gottes überwiegt zuletzt . . . und veranlaßt ihn, uns zu töten" 31 . Den 1. Band seiner „Morphologie des Luthertums" von 1931 eröffnet Eiert wie seine „Lehre des Luthertums" mit einer Darstellung der menschlichen Lebenssituation unter der „Schicksalshoheit Gottes" 32 . „Unter dem Zorne Gottes" 3 3 erfährt jeder Mensch, wenn er der „beständige(n) Bedrohung des Lebens" 34 inne wird, sein „Urerlebnis" mit dem Deus absconditus. Der Begriff „Urerlebnis" ist - ähnlich wie der der „Uroffenbarung" bei Paul Althaus - zweideutig zu interpretieren. Er kann historisch, d.h. im Sinne eines einmaligen Ereignisses mißverstanden werden. Eiert trägt neben der Verwendung dieses Begriffes noch ein weiteres zu der Möglichkeit dieser Fehldeutung bei, wenn er z.B. von „Luthers Urerlebnis" spricht 35 , so daß man meinen könnte, hier wäre von einem individuellen Erlebnis Luthers die Rede. Der Begriff „Urerlebnis" ist aber in Elerts Sinne anders zu deuten. Eiert weist nicht nur am Rande darauf hin, „daß es sich hier nicht um eine Rekonstruktion des historischen Bekehrungsvorganges der Person Luthers handelt" 36 . Ausdrücklich sagt er, daß das „Urerlebnis . . . als Verhältnis des 'natürlichen Menschen' zu Gott verstanden sein (will)" 37 . Dabei setzt er jedoch nicht einfach das „Urerlebnis mit den Urerfahrungen heidnischer Religionen" gleich 38 . Auch der Christ erfährt es, und zwar nicht nur vor dem Vernehmen des Evangeliums, sondern je neu bis zum Tod: „... für den Glaubenden gibt es kein Überwundenhaben, sondern nur ein aktuelles Überwinden, weil die Realität des Zornes Gottes, die sich in der Todesordnung ausspricht, nicht hinweggedacht werden kann. Es muß gegen sie geglaubt werden, nicht wie gegen eine falsche Vorstellung, sondern gegen die Dunkelheit des Deus abconditus, die durch das Sterben in uns und um uns als schauerliche Wirklichkeit bezeugt wird." 39 Das „Urerlebnis" wird von Eiert mit Anklang an R. Ottos Darstellung des Heiligen 40 wie folgt beschrieben: „Mit einem Grauen fängt vielleicht jede Religion an. Aber hier ist es nicht ein bloßes Gefühl weltlichen Unbehagens, das Gefühl für die Unheimlichkeit, Rätselhaftigkeit, Irrationalität der Umwelt. . . . Es ist vielmehr das Grauen, das einer empfindet,
31
Eiert, aaO., S.27f. Eiert, Morphologie I, S. 25; vgl. den Beginn seiner Dogmatik, Der christliche Glaube. 33 So die Überschrift des ersten Kapitels, Eiert, aaO., S. 15. 31 Eiert, aaO., S. 17. 35 Eiert, aaO., S.52. 36 Eiert, aaO., S.15 Anm.l; s.a. S.39. 37 Eiert, aaO., S.25; vgl. S. 31 ff. 38 So Lohse, Gesetz, T o d und Sünde, S. 142. 39 Eiert, Der christliche Glaube, S.282. 40 vgl. Elerts positive Würdigung von Ottos Buch „Das Heilige" in: Der Kampf um das Christentum, S. 448 ff. 52
II. Interpretationen von Luthers Auslegung des 90. Psalms
169
wenn ihn in der Nacht plötzlich zwei dämonische Augen anstarren, die ihn zur Unbeweglichkeit lähmen und mit der Gewißheit erfüllen: es sind die Augen dessen, der dich in dieser Stunde töten wird. . . . Gott ist plötzlich aus einem Gegenstande des Nachdenkens, aus einem Paragraphen der Dogmatik zu einer Person geworden, die mich persönlich anruft. Und sie ruft mich an, um mir zu sagen, daß meine Zeit abgelaufen ist." 41 Wie in der „Lehre des Luthertums" stellt Eiert auch in der „Morphologie" seine Sicht des menschlichen Lebens unter „Gottes Schicksalsgewalt" 42 mit Bezug auf Luthers Auslegung des 90. Psalms dar. Für seine Ansicht bilden diese Auslegung, „die für den evangelischen Ansatz von grundlegender Wichtigkeit ist" 43 , sowie die Schrift „De servo arbitrio" das tragende Fundament. Dabei paraphrasiert Eiert ausgewählte Teile der Auslegung von Psalm 90 44 in der Annahme, daß Luther in ihr das reformatorische „Gesamtbild des Menschendaseins . . . erschöpfend, aber auch mit beispielloser Düsterkeit entwickelt ..." 4 5 . In dieser „Düsterkeit" sieht Eiert allerdings keine Uberzeichnung. Eventuelle Einwände gegen Luther, ob dessen Sicht „nicht ein ganz persönliches Zeugnis . . . ist, der gerade hier zeige, daß er zeitlebens Mönch geblieben sei" 46 , oder ob bei ihm eine „überreizte Mönchsphantasie" 4 7 redet, weist Eiert mit der Aussage ab, es handele sich um „keine Phantasie Luthers, sondern (um) eine unleugbare Tatsache" 4 8 . Für die Darlegung jener „unleugbare(n) Tatsache", d.h. des düsteren Menschenbildes ist die Auslegung des 90. Psalms von großer Wichtigkeit. In einer kurzen Inhaltsangabe, in der Zitat und Paraphrase ohne sichtbare Trennung vermischt sind, stellt Eiert seine Sicht der Auslegung dem Leser vor Augen: „Media vita in morte sumus, ist das Thema. Calamitates, miseria, brevitas vitae, angores conscientiae afflictae, desperado, mors temporalis, mors aeterna, mors und immer wieder mors - das sind die Variationen." 49 Betrachtet man das Zitat „Media vita in morte sumus" allerdings im Kontext der Eiert vorliegenden Druckausgabe Dietrichs, die die Nachschrift an dieser Stelle weiter ausführt 5 0 , so ergibt sich ein signifikanter Befund. Dort heißt es: „Legis vox terret, cum occinit securis: Media vita in morte sumus. At Euangelii vox iterum erigit et canit: Media morte in vita sumus." 51 Eiert hat bei der Wiedergabe des Zitates den zum richtigen Verständnis unentbehrlichen Kontext einfach ausgelassen. Sowohl die Bezugnahme auf die „lex" als auch die von Luther im gleichen Atemzug genannte, vom Evangelium bewirkte Erkenntnis „Media morte in vita 41 12 44 46 48 50 51
Eiert, Morphologie I, S.18. 43 Eiert, aaO., S.23. Eiert, aaO., S.V. 45 Eiert, aaO., S. 16 f. Eiert, aaO., S. 16. 47 Eiert, ebd. Eiert, aaO., S.24. 49 Eiert, aaO., S. 25 . Eiert, aaO., S. 16. Hs 496,3ff; Dr 496,16f; zu Dietrichs Intention s.o. D.IV.2.b). 496,16 f.
170
Η . D i e A u f n a h m e der Auslegung Luthers von Psalm 9 0 in der Forschung
sumus", auf die das Wirken der „lex" letztlich zielt, werden von Eiert bewußt unterschlagen. Auch nach den obigen Textuntersuchungen in F. und G. ist die Feststellung zu treffen, daß Elerts Inhaltsangabe bzw. Charakterisierung der Auslegung Luthers höchst einseitig ausgefallen ist. Zwar zeichnet Luther in der Tat ein Menschenbild, aber er tut dies innerhalb der „prior pars psalmi", um dadurch das genus humanuni excaecatum, das ansonsten unheilvoll leben und sterben würde, zum erschreckenden und gleichzeitg heilvollen Innewerden zu veranlassen. Denn „Ubi hoc, est pars 2.: petere remedium contra istam desperationem, ne homines relinquantur ita desperare (tantum). Ideo est utilissimus psalmus ..," 52 . Sowohl die „altera pars psalmi" als auch das durch den „utilissimus psalmus" ausgelöste Geschehen werden von Eiert an keiner Stelle beachtet. Selbst wenn man in Rechnung stellt, daß Dietrich durch seine Änderung die „prior pars psalmi" als „argumentum psalmi" bezeichnet, wodurch er die gesetzliche Ausrichtung des Psalms gegen die selbstsicheren Menschen betont, die er auch andernorts herauszustellen bemüht ist53, hätte Eiert die auch in der Druckausgabe zu erkennende doppelte Zielrichtung des 90. Psalms in Luthers Auslegung nicht übersehen können 54 . Zwar kann Eiert Luthers Auslegung auch für eine Aussage wie „Ohne das Evangelium ... endigt das Urerlebnis notwendig in Verzweiflung, Gotteshaß und Gotteslästerung" 55 zitieren, ohne aber auch nur eine „evangelische" Aussage Luthers aus der Vorlesung (z.B. zur Gottesbezeichnung „habitaculum") anzuführen. Es kann m.E. Eiert der Vorwurf nicht erspart bleiben, daß er aus Luthers Auslegung des 90. Psalms lediglich die Passagen würdigt, die sich mit seinem eigenen Menschen- und Gottesbild vertragen. Es ist zu konzedieren, daß Eiert, ausgehend von eigenen Erfahrungen, auf seine Art versucht, die Wirklichkeit Gottes mit der Wirklichkeit der Welt in Beziehung zu bringen. Ohne Zweifel war für ihn der 1. Weltkrieg, den er als Feldprediger erlebte, Anlaß, um nach neuen Weisen der Rede von Gott zu suchen. Denn „... als die große Probe auf die Offenbarung der Güte, Treue und Barmherzigkeit Gottes zu Lande, zu Wasser und in der Luft kam, ... da fiel sie sehr negativ aus. War es ein Wunder, wenn das Geschlecht des Krieges und des Zusammenbruches den christlichen Gottesglauben für Irrwahn erklärte, weil er durch die erlebten Schrecken und Verhängnisse widerlegt sei? Hätte jenes Geschlecht Luther gehört statt der Theologie des 19. Jahrhunderts und der von ihr zehrenden Predigt der Kirche - es hätte ihn und sein Urgrauen verstanden." 56 Hätte Eiert sein Bild vom Schicksalsgott und dessen feindli52
489,2ff; s.a. 489,6ff. 4 8 8;l/487,27; s.o. D.IV.2.b). Von Eiert wird dieses veränderte „argumentum psalmi" der Druckausgabe allerdings nicht zitiert. 51 s. im Druck z.B. 488,28- 489,20; 493,23ff. 55 Eiert, aaO.,S. 20, Anm.2. 56 Eiert, aaO., S.52. 53
II. I n t e r p r e t a t i o n e n v o n Luthers A u s l e g u n g d e s 90. P s a l m s
171
ches Verhältnis zu den Menschen allein in eigener intellektueller Verantwortung vorgetragen, wäre an diesem Versuch nichts auszusetzen, wenn er auch biblisch schwer zu vertreten sein dürfte. Daß Eiert dazu aber Luther als Gewährsmann anführt, insbesondere unter Bezugnahme auf die Auslegung von Psalm 90, kann ebensowenig akzeptiert werden, wie eine unwissenschaftliche Zitationspraxis, in der einzelne Aussagen aus dem Kontext gerissen werden.
2. Carl Stange Die Monographie von C. Stange „Luthers Gedanken über die Todesfurcht" von 1932 ist derjenige Beitrag innerhalb der Lutherforschung, in der bisher am häufigsten auf Luthers Auslegung des 90. Psalms Bezug genommen worden ist. Für seine Darlegung entnimmt Stange fast alle Zitate aus dieser Vorlesung, wie sie sich in Dietrichs Druckbearbeitung wiederfindet 57 . Dabei fällt allerdings auf, daß Stange im Text an keiner Stelle auf Luthers Auslegung besonders hinweist. Obwohl er sich bei der Gedankenführung in seiner Darstellung eng an die Luthers in der betreffenden Vorlesung hält, fehlt doch jeder Hinweis auf diese die Darstellung fundierende und strukturierende Quelle. Der Leser gewinnt den Eindruck, Stange stellt „Luthers Gedanken über die Todesfurcht" dar, ohne zu erfahren, daß er eine Wiedergabe einer Vorlesung Luthers vor Augen hat. Auch wenn dieser Bezug von Stange nicht genannt wird, bildet seine Arbeit in vielen Abschnitten eine sehr sorgfältige Wiedergabe von Luthers Auslegung gemäß der Druckausgabe. Getrübt wird diese gelungene Darstellung aber dadurch, daß Stange versäumt, den 90. Psalm als biblische Quelle dieser Erkenntnis zu erwähnen. Daß Luther zu seinen Aussagen in der Auslegung gerade dieses Psalms gekommen ist, wird nicht deutlich genug ausgeführt 58 . Das Entstehen einer Aussage wie z.B. „Die Auffassung Luthers von der Welt ist in tiefe Melancholie getaucht" 59 , die in dieser Allgemeingültigkeit falsch ist, läßt sich nur von der mangelnden Berücksichtigung des Auslegungskontextes her erklären. Der Aussagekomplex, in dem ein Bezug zum 90. Psalm unmöglich zu verbergen gewesen wäre, nämlich Luthers Auslegung der Gottesbezeichung 'Maon' in Ps 90,1, erscheint bei Stange nur ganz am Rande 60 . Allein aufgrund dieser knappen Würdigung wird Stange Luthers Auslegung mit
57
Zu Stanges indifferenten Umgang mit den Quellen s.o. H.I. Die knappen Hinweise bei Stange, aaO., S. 54 und 66 zeigen nicht, daß seine ganze Darstellung hauptsächlich auf Luthers Auslegung dieses Psalms fußt. " Stange, aaO., S. 8. 60 Stange, aaO., S.44. 58
172
Η. Die Aufnahme der Auslegung Luthers von Psalm 90 in der Forschung
ihrem prägnanten und das folgende prägenden 'exordium vitale'61 nicht gerecht. Hinzu kommt die Tatsache, daß Stange das "Wort 'habitaculum', das auch in Dietrichs Druckausgabe häufig zu finden ist und von Stange auch zitiert wird 62 , übergeht und 'Maon' allein mit „Zuflucht" wiedergibt 63 , womit die in der Ubersetzung 'habitaculum' gründenden Folgerungen Luthers übersehen werden. An anderer Stelle trägt Stange „das Gewissen" als die von Gottes Zorn und Todesfurcht betroffene innermenschliche Instanz in seine Darstellung ein64. Dieses geschieht ohne die Anmerkung, daß Luther in der Auslegung des 90. Psalms, die Stanges sonstige Darstellung trägt, über die Bedeutung und Funktion des Gewissens nicht reflektiert. Aufgrund dieser Einseitigkeiten ist Stanges Darstellung, trotz vieler gelungener Paraphrasen von Luthers Auslegung gemäß der Druckausgabe, nur unter Berücksichtigung der oben genannten Kritikpunkte zu verwenden. 3. Paul Althaus P. Althaus Aufsatz „Luthers Wort vom Ende und Ziel des Menschen" sowie das Kapitel „Das Sterben im Lichte von Gesetz und Evangelium" in „Die Theologie Martin Luthers" 65 basieren, wie Althaus im Gegensatz zu Stange zu Beginn seiner Darstellungen vermerkt 66 , vor allem auf Luthers Auslegung des 90. Psalms67. In beiden Arbeiten soll nicht Luthers Vorlesung wiedergegeben, sondern seine „Theologie des Todes" 68 dargestellt werden, für die allerdings die Auslegung des 90. Psalms „die wichtigste Quelle" 69 ist und mit zahlreichen Zitaten und Paraphrasen herangezogen wird. Der Wert der Darstellungen von Althaus ist bereits von B. Lohse herausgestellt worden 70 , der aber auch Kritisches anzumerken hat. Lohse bemerkt, „daß manche wichtigen Gedanken Luthers nicht berücksichtigt und Luthers Äußerungen einem ihnen nicht ganz gemäßen systematischen Ansatz unterworfen sind"71. Während Lohse seine m.E. berechtigte Kritik über den von Althaus
61
„Hoc exordium est etiam vitale ...", 496,8. Stange, aaO., S. 44 Anm.l. 63 Stange, ebd. 64 Stange, aaO., z.B. S.7f,15,21,39. 65 Althaus, Theologie, S. 339-343. 66 Althaus, Luthers Wort, S.97f; Theologie, S.339. 67 Zum indifferenten Umgang mit den Quellen, s.o. H.I. 68 Althaus, Theologie, S.339; Luthers Wort, S.97: „Zu dem Größten, was Luthers Auslegung des Evangeliums der Christenheit geschenkt hat, gehören seine Gedanken über den Tod des Menschen und das Leben aus dem Tode." 69 Althaus, Luthers Wort, S.97. 70 Lohse, Gesetz, Tod und Sünde, S. 139-141. 71 Lohse, aaO., S. 141. 62
II. Interpretationen von Luthers Auslegung des 90. Psalms
173
zugrunde gelegten „systematischen Ansatz", d.h. „das Doppellicht von Gesetz und Evangelium" 72 , ausführt mit den Hinweisen, daß zum einen „die Begriffe "Gesetz und Evangelium" . . . nicht häufig begegnen", zum anderen „Luther . . . viel zu sehr Schriftausleger gewesen (ist), als daß er einen Text wie den 90. Psalm in ein fertiges Schema hineingezwängt hätte" 73 , geht er nicht mehr darauf ein, welche „wichtigen Gedanken Luthers" von Althaus übergangen worden sind. Hier ist - wie schon bei Stange - das Fehlen der 'habitaculum'-Interpretation in Ps 90,1 zu erwähnen. Diese Auslassung ist umso erstaunlicher, als Althaus die in Luthers Auslegung begegnende Verknüpfung des 1. Gebotes mit Mt 22,32 darstellt 74 , deren theologische Konsequenzen Luther in seiner Übersetzung und Auslegung des Wortes 'habitaculum' prägnant zusammenfassen kann. Kritisch anzufragen ist aber vor allem die beide Publikationen von Althaus tragende Ansicht, nach der Luther in der Auslegung des 90. Psalms „seine Theologie des Todes . . . gegeben (hat)" 75 . Wie die obigen Textuntersuchungen in F. und G. gezeigt haben, knüpft nach Luthers Meinung Mose zwar mit dem 90. Psalm an das Faktum des menschlichen Todes an, aber dies geschieht letztlich aus dem Grund, um über das Aufzeigen der erschreckenden Realitäten von Lebensnot und T o d die verblendete Menschheit zu wahrer, aus dem 90. Psalm zu entnehmender Selbst- und Gotteserkenntnis zu leiten, die alleine den Menschen zu einem heilvollen Leben und Sterben verhelfen kann. Von daher erklärt sich die Fülle der vorfindlichen Aussagen zum Menschen- und Gottesbild in dieser Auslegung. Luther treibt in ihr „Theologie" und nicht „Theologie des Todes". Um lediglich den theologischen Grund des Todes und die christliche H o f f n u n g mitzuteilen, hätte es weitaus weniger Worte bedurft.
4. David Löfgren D. Löfgren bezeichnet in seiner Untersuchung „Die Theologie der Schöpfung bei Luther" aus dem Jahr 1960 die Vorlesung über den 90. Psalm als „eine der bedeutsameren Quellen für das Verständnis seiner Schöpfungstheologie" 76 . Obwohl „W. Elerts Kommentar zu dieser Schrift" von Löfgren dahingehend kritisiert wird, daß in ihm „nur das Düstere in Luthers Lebensauffassung hervorgehoben und von da aus deren Grundakkord Gesetz - Evangelium verstanden (wird)" 77 , kann er dennoch das Thema von 72
Althaus, Luthers Wort, S.97. Lohse, aaO., S. 147; s.a. 155. 74 Althaus, Luthers Wort, S. 106; Theologie, S. 344. " Althaus, Theologie, S.339. 76 Löfgren, Theologie der Schöpfung, S. 12. 77 Löfgren, aaO., S.32 Anm.37. 75
174
Η . D i e A u f n a h m e der Auslegung Luthers von Psalm 90 in der Forschung
Luthers Vorlesung mit Elerts Worten wiedergeben: „Das Thema der Auslegung ist "Media vita in morte sumus" und seine Variation „Calamitates, miseria, brevitas vitae, angores conscientiae afflictae, desperado, mors temporalis, mors aeterna" 78 . Löfgren bezeichnet „die Stimmung Luthers" als „pessimistisch, doch klingt ein heller Grundton seines Schöpfungsglaubens auf" 79 . In welchen Aussagen Luthers allerdings dieser „helle Grundton" besteht, wird ebensowenig klar wie die Bedeutung des Wortes „Stimmung", die „pessimistisch" sein soll. Man ist auf die Vermutung angewiesen, daß Löfgren damit das Thema der Auslegung in dem von ihm übernommenen Sinne Elerts meint. Nur so ist verständlich, daß er die Aussage „Der konkrete Mensch ist ein Ewigkeitswesen, dessen Tragödie es ist, sterben zu müssen."80 als den „Grundgedanke(n)" 81 in Luthers Vorlesung bezeichnen kann. Als einzige Belegstelle hierfür gibt Löfgren ausgerechnet die Titulusauslegung an82, an deren Ende - wie in F.II, gesehen von Luther die hoffnungschenkende Verbindung des 1. Gebotes mit Mt 22,32 dargelegt wird. Man kann Löfgren nicht den Vorwurf ersparen, bei der Charakterisierung von Luthers Vorlesung zu unkritisch der Interpretation Elerts gefolgt zu sein. Zudem wird von ihm die doppelte Zielrichtung des 90. Psalms, wie Luther sie darlegt, völlig übergangen. Es ist eine problematische Ignoranz des Auslegungskontextes, zu behaupten, „in Luthers Auslegung ... wird ... in wuchtigen Worten ... die Nichtigkeit alles Erschaffenen in dieser Zeit dargestellt" 83 , ohne die Absicht zu nennen, die im argumentum und titulus deutlich ausgesprochen als Vorzeichen vor Luthers diesbezüglichen Aussagen steht.
5. Bernhard Lohse In B. Lohses Untersuchung „Gesetz, Tod und Sünde in Luthers Auslegung des 90. Psalms" aus dem Jahr 1968 ist zum ersten Mal ansatzweise die Rezeptionsgeschichte der Vorlesung Luthers in der neueren Forschung untersucht worden. Während Lohse die Darstellungen von P. Althaus dahingehend kritisiert, daß in ihnen Luthers Auslegung zu sehr in das Schema „Gesetz und Evangelium" gepreßt werden, spricht er der Interpretation von W. Eiert ab, sowohl Luthers Auslegung als auch dessen Gottesbild überhaupt voll erfaßt zu haben. Elerts Begriff des „Urerlebnisses" faßt 78 Löfgren, Morphologie, " Löfgren, 80 Löfgren, 81 Löfgren, 82 Löfgren, 83 Löfgren,
ebd. S. 16. ebd. aaO., aaO., ebd. aaO.,
Man beachte, daß Löfgren nicht anmerkt, Eiert zu zitieren, s. Eiert,
S. 90. S.90 Anm.7. S. 32.
III. Zusammenfassung und Ausblick
175
Lohse historisch auf 8 4 und weist jeden etwaigen Versuch einer chronologischen Einordnung in Luthers Leben als unmöglich ab 85 . Sodann zeigt er durch die Darstellung wichtiger Partien der Auslegung, daß „eine isolierte Betrachtung allein des Todes" 8 6 nicht möglich ist. Schon daher erklingt bei Luther keine „Todesmelodie", wie Eiert meinte 87 . „Cantus firmus dieses Kollegs ist nicht der Tod, sondern die Auferstehung." 88 Hauptbeleg ist für Lohse die Tatsache, daß Luther diesen Psalm als vom Heiligen Geist verfaßt betrachtet 89 , auch in Hinsicht auf die gesetzlichen Aussagen, die dem Menschen, der „immer auf der Flucht vor der Erkenntnis seiner wahren Situation (ist)" 90 , die wahre Selbsterkenntnis erst erschließen. Mit Bezugnahme auf die späteren Antinomer-Disputationen belegt Lohse als Auffassung Luthers, daß „also das Evangelium vom Gesetz umschlossen (ist), es ist gleichsam der verborgene Kern des Gesetzes" 91 . Obwohl Lohse konzediert, daß „in dieser Vorlesung das Thema des Todes . . . vorherrscht" 92 , hat er es doch als erster verstanden, den durch Eiert, Stange, Althaus und Löfgren festgelegten Blickwinkel auf Aussagen zum Tod auf andere Punkte der Auslegung zu verlagern und dadurch sowohl Luthers Todesauffassung als auch dessen Gesamtinterpretation des 90. Psalms zu erweitern bzw. zu verändern. Zu vermissen ist bei Lohse lediglich die fehlende Würdigung der von Luther vorgenommenen, auslegungsbestimmenden Teilung des Psalms in „prior" und „altera pars". Weiter ist darauf hinzuweisen, daß die Auffassung eines bei Luther anzutreffenden „Lebenspessimismus" 93 , die Lohse - wie schon zuvor Eiert, Stange und Löfgren - äußert, nicht unkritisch übernommen werden kann.
III. Zusammenfassung und Ausblick Obwohl seit 1930 in der von A. Freitag erstellten Edition für die Weimarer Ausgabe Luthers Auslegung des 90. Psalms in Form der ursprünglichen Nachschrift Rörers und dem darauf basierenden Druck Dietrichs vorliegt, 84 Daß dieses ein auf Eiert selbst zurückzuführendes Mißverständnis ist, wurde in H.II.l. gezeigt. 85 Lohse, Gesetz, Tod und Sünde, S. 142. 86 Lohse, aaO., S.149. 87 Eiert, Morphologie, S. 16. 88 Lohse, Gesetz, Tod und Sünde, S. 149. 89 Lohse, aaO., S. 147; Der von Lohse hier zitierte Satz aus der Druckausgabe hat in dieser Formulierung („factum") zwar keine Parallele in der Nachschrift, doch finden sich auch dort ähnliche Aussagen z.B. 492,5 f.7 f. 11. 90 Lohse, aaO., S.149. 91 Lohse, ebd. 92 Lohse, aaO., S.143. 93 Lohse, aaO., S.145.
176
Η . D i e A u f n a h m e d e r A u s l e g u n g L u t h e r s v o n P s a l m 90 in d e r F o r s c h u n g
ist es bis heute versäumt worden, einen kritischen Vergleich beider Quellen zu unternehmen. Stattdessen wird vorwiegend nur aus dem Druck, seltener aus Druck und Nachschrift, aber niemals allein aus der Nachschrift zitiert. Die Motive für die bisherige Bevorzugung der Druckausgabe mögen zum einen in der besseren und auch bequemeren Lesbarkeit der Auslegung liegen, die Dietrich in seiner „Enarratio Psalmi XC" darbietet. Andererseits darf nicht vergessen werden, daß in der Geschichte der Lutherinterpretation seit Mitte des 16. Jahrhunderts alle späten Vorlesungen Luthers allein in Form der Druckeditionen bekannt waren. So blieb z.B. das Kollegheft Rörers mit der Nachschrift des Kollegs über Psalm 90 bis zum Jahr 1894 unentdeckt 94 und wurde erst mit Freitags WA-Edition der breiten Öffenlichkeit zugänglich. Dennoch unterblieb der seit diesem Zeitpunkt mögliche und notwendige Vergleich, wozu möglicherweise Elerts beschwichtigendes Urteil 95 im Vorwort zu seiner vielgelesenen „Morphologie des Luthertums I" von 1931 ein großteil beigetragen haben mag. Wie schon dargestellt, hat das Ergebnis am Ende des ersten Teils dieser Untersuchung, das Dietrichs Druckausgabe der „Enarratio Psalmi XC" im Vergleich mit Rörers Nachschrift jeglichen Quellenwert aberkennt, auch für die anderen Editionen Dietrichs eine kritische Relevanz. Wo die Weimarer Ausgabe zusätzlich zu den bekannten Druckbearbeitungen Dietrichs Nachschriften Rörers bietet, wird von nun an den Nachschriften volle Beachtung zu gewähren sein.96 Der zweite Teil der Untersuchung mit der Analyse von Luthers Vorlesungskonzeption und dem Ergebnis der besonderen Funktion der argumentum- und titulus-Darlegungen für die Gesamtauslegung hat gezeigt, daß die bisher übliche Konzentration auf ein Thema - wie z.B. das Menschenbild oder die Todesdeutung Luthers - der Auslegung nicht gerecht wird 97 . Die vorliegenden Interpretationen geben zwar ausgewählte Abschnitte der (Druck)Auslegung in einzelnen Aspekten korrekt wieder, ohne aber den Gesamtduktus der Vorlesung wissenschaftlich zu erörtern 98 und ihn bei der Darstellung einzelner Themen angemessen zu berücksichtigen. Ohne das von Luther in argumentum und titulus dargelegte Vorzeichen, d.h. ohne Kenntnis des von ihm beschriebenen, durch das Hören des Psalms ausgelöste Geschehen, bei dem die Hörer durch die „prior pars" erschreckt und durch die „altera pars" getröstet und zum heilvollen Leben und Sterben mit wahrer Selbst- und Gotteserkenntnis ausgerüstet werden, kann kein einzi-
94
s.o. B.I. Anm.2. s.o. H.I. 96 s.o. E. " Schon Lohse hat ein solches Vorgehen kritisiert, s.o. H.II.5. 98 Eiert und Löfgren setzen thetisch ein Thema der Auslegung, ohne dieses aber durch Textanalysen zu fundieren, s.o. H.II.1., H.II.4. 95
III. Zusammenfassung und Ausblick
177
ges der von Luther angesprochenen Themen und keine der Versauslegungen für sich allein dargestellt werden. In Kenntnis des Gesamtduktus der Auslegung wird es in Zukunft möglich sein, gewisse Einzelaspekte der von Luther in dieser Vorlesung besprochenen theologischen Sachverhalte weiter zu vertiefen, vor allem im Vergleich mit betreffenden Aussagen Luthers in den vorhergehenden Vorlesungen. Dabei ist jedoch auch diesen Vorlesungen dieselbe Aufmerksamkeit hinsichtlich des von Luther bestimmten Skopus (bzw. der Skopoi) zu widmen, was Einseitigkeiten in weiteren Darstellungen der Lutherforschung, die sich auf die späten Vorlesungen beziehen, zu vermeiden helfen kann.
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Stellenregister Gen
Ex Num Dtn l.Sam Jes Jer Ps
2,17 147 114 3 3,17 ff 147 167 32 14,15 82 20,1-13137 32,39 160 160 2,6f 9,12 118 28,21 160 118 5,3 51,2 161 90,1 29 f, 134, 141 ff, 154 ff, 157, 171 ff 90,2 30, 134, 143, 157 f 30, 81, 85, 134, 143, 90,3 147 f, 157, 159 81 f, 149, 151, 157 90,4 149 90,5 134 f, 149 ff 90,6
Mt Rö l.Kor Eph Kol l.Petr l.Joh Hebr
90,7 90,8 90,10 90,11 90,12 90,13 90,15 90,16 90,17 6,12 16,18 22,32 8,23 1,30 6,16 3,9f 5,8 3,8 2,14
130, 135, 143, 151 f 135, 151 81, 148, 150 135 132, 135, 150, 153 f 132, 135 135 135, 160 136, 143, 161 156 115 f 138 f, 155, 161 , 173 f 115 44 114 156 114 114 114
Namenregister Althaus, P. 11, 113, 145, 154, 162, 164 ff, 168, 172 f, 174f Augustin 159 Beintker, H. 154 Bornkamm, K. 55 Borst, A. 162 Brecht, M. 17 ff Bucer, M. 18 Buchwald, G. 19 Bugenhagen, J. 17, 19 Cruciger, C. 19 ff, 36, 38-41, 57 f Dietrich, V. 12f, 19ff, 35-58, 60-123, 164, 166, 169-172, 175 f Ebeling, G. 12ff, 55, 103, 129f, 141, 160 Eiert, W. 11, 146, 164-171, 173-176 Epikur 22, 139, 147 Ficker, J. 17, 19, 23, 27, 31, 67, 130 Freitag, A. l l f , 14, 17, 19, 21, 23, 25, 32, 35-38, 41 f, 45ff, 49, 51, 53- 55, 71, 83, 108, 122, 175f Headley, J.M. 114 Heb art, F. 11 H e ß , J. 35, 52, 98, 101 Hieronymus 136 Jauernig, R. 21 Jonas, J. 41, 49 Junghans, H. 17 Klaus, B. 21, 35, 41 f, 49-52, 54, 60, 72, 80, 85, 99, 116, 122 Koffmane, G. 39, 49, 57, 87, 122 Kolde, Th. 50 Krause, G. 57
Leder, H.G. 21 Lohse, B. 11, 19, 29 f, 34, 37, 50, 61, 73, 134, 140 f, 155, 162, 164, 166, 168, 172-175 Löfgren, D. 11, 164, 166, 173f, 175f Melanchthon, Ph. 18, 50, 52, 60, 92 Meinhold, P. 13, 17, 19, 21 ff, 30 ff, 52, 56-62, 64, 67, 75, 88, 99f, 110, 114 Moeller, B. 18, 162 Mühlpfordt, G. 33 Müller, H.P. 132 Nöther, I. 33 Obendiek, H. 160 Otto, R. 168 Pesch, O.H. 11, 13 f, 19, 55, 98, 154, 162 Pressel, Th. 20 Reiter, P.J. 17 Rörer, G. 12, 18-47, 49, 51-55, 57ff, 61 ff, 67, 71 f, 75, 77f, 89, 92f, 96, 100, 117f, 123, 127, 129, 164, 166, 175 f Schlißke, O. 133 Seeberg, E. 58 f, 67 Stange, C. 164 f, 171 f, 175 Stolt, B. 21, 23 f, 85 Schulze, G. 20-23, 25-29, 31-34, 36 ff, 57 ff, 62, 67, 75, 78 Vogler, G. 18 Wagner, R. 11 Wallmann, J. 162 Winkler, E. 52 Zöllner, W. 17, 55 f
Albrecht Peters
Kommentar zu Luthers Katechismen Herausgegeben von Gottfried Seebaß. Bei Subskription des Gesamtwerks (Bd. 1—5) 10% Nachlaß. Band 1: Die Zehn Gebote. Luthers Vorreden. 1990. 325 Seiten, kart. ISBN 3 - 5 2 5 - 5 6 1 8 0 - 6 Band 2: Der Glaube. Das Apostolikum. 1991. 2 6 6 Seiten, kart. ISBN 3 - 5 2 5 - 5 6 1 8 1 - 4 Band 3: Das Vaterunser. 1992. 198 Seiten, kart. ISBN 3 - 5 2 5 - 5 6 1 8 2 - 2 Band 4: Die Taufe. Das Abendmahl. 1993. 2 0 2 Seiten, kart. ISBN 3 - 5 2 5 - 5 6 1 8 3 - 0 Band 5: Beichte. Haustafel. Traubüchlein. Taufbüchlein. In ISBN 3 - 5 2 5 - 5 6 1 8 4 - 9
Vorbereitung.
Der historisch-systematische Kommentar von Albrecht Peters leitet zum theologischen Verständnis und damit zu rechter Lehre und Meditation des Katechismus an. Indem er den Katechismus von Schrift und kirchlicher Tradition her versteht und prüft, vollzieht er eine bleibende reformatorische und ökumenische Aufgabe. Daß damit zugleich eine Art Kompendium der Theologie Luthers in seelsorgerlicher Absicht vorgelegt wird, macht das Werk nicht nur für den Theologen, sondern für den interessierten Leser wertvoll. Die Aufgabe, Luthers Katechismen zu erläutern, läßt sich nicht lösen, ohne daß man das Gespräch mit der fachwissenschaftlichen Deutung der Theologie Luthers sucht. Dabei tritt ein Vorzug dieses Kommentars in klares Licht: Peters versteht es, auch weit ausholende Forschungsbeiträge auf den Punkt zu bringen.«
Lutherische
Theologie und
Kirche
»Albrecht Peters' Kommentar verbindet die nüchternen historischen und systematischen Darlegungen mit einer tiefen theologischen Besinnung über die Glaubenswahrheiten. Der Kommentar eignet sich deshalb am besten zum meditativen Lesen. Dazu kann er als ein vorzügliches Nachschlagewerk zu den vielen dogmatischen und ethischen Fragen gelten, die im Katechismus behandelt werden.«
Theologische
Literaturzeitung
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen und Zürich