Duellum mirabile: Studien zum Kampfmotiv in Martin Luthers Theologie 9783666551819, 3525551819, 9783525551813


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Duellum mirabile: Studien zum Kampfmotiv in Martin Luthers Theologie
 9783666551819, 3525551819, 9783525551813

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V&R

Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte

Herausgegeben von Adolf Martin Ritter

Band 73

Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 1999

Duellum mirabile Studien zum Kampfmotiv in Martin Luthers Theologie

von Uwe Rieske-Braun

Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 1999

Die Deutsche Bibliothek -

CIP-Einheitsaufnahme

Rieske-Braun, Uwe: Duellum mirabile: Studien zum Kampfmotiv in Martin Luthers Theologie / von Uwe Rieske-Braun. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1999 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte; Bd. 73) Zugl.: Hamburg, Univ., Habil.-Schr., 1997 ISBN 3-525-55181-9

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung vom Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft auf alterungsbeständigem Papier.

© 1999 Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. Printed in Germany. - Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Schwarz auf Weiß GmbH, Hannover

Proponitur igitur hoc in loco Christus, quod sit nostra defensio in omnibus calamitatibus tam spiritualibus quam corporalibus. Non possunt autem haec intelligi sine experientia, quae sola facit Theologum, haeretici sentient aliquando solem sine umbraculo, quia nudi erga nudam maiestatem procedunt abiecta carne Christi. Scholion zu Jes 4,6 (1532/34) WA 25, 106, 25-28

Susanne, Fabian und Thomas

Vorwort Die vorliegende Studie wurde im Sommersemester 1997 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg als Habilitationsschrift angenommen. Für den Druck wurde sie überarbeitet und ergänzt. Mit der Veröffentlichung gilt es mancherlei Dank abzustatten. Prof. Dr. Matthias Kroeger in Hamburg hat die Fragestellung angeregt und die Arbeitsergebnisse in vielen Gesprächen diskutiert, begleitet und das Vorankommen ermutigt. Prof. Dr. Inge Mager hat in ihrem Zweitgutachten detaillierte und weiterführende Hinweise angebracht. Dankbar bin ich auch für Anregungen, die der 1997 verstorbene Prof. Dr. Bernhard Lohse dem Vorhaben mit auf den Weg gegeben hat. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft gewährte eine großzügige Beihilfe zum Druck der Arbeit, Prof. Dr. Adolf Martin Ritter in Heidelberg gab seine Zustimmung zur Aufnahme in die Reihe der „Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte" und Frau Reinhilde Ruprecht sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Verlages Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen haben mir umsichtig, kompetent und freundlich zur Seite gestanden. Am Korrekturlesen der Druckfassung, bei der Literaturbeschaffung und bei den Registerarbeiten leisteten Ricarda Sohns und Thorsten de Jong wertvolle Hilfe. Von ihnen und den übrigen Aachener Studierenden habe ich im gemeinsamen Lernen während der vergangenen Jahre wertvolle Anregungen empfangen. Dr. Hildegard König hat zu Übersetzungen von patristischen und mittelalterlichen Texten gelungene „Diskussionsbeiträge" geliefert. Wegweisende metaphorische Anstöße verdanke ich den Gesprächen mit Prof. Dr. Günter Röhser. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Aachener Diözesanbibliothek, der Nordelbischen Kirchenbibliothek in Hamburg, der Bibliothek des Predigerseminars in Wittenberg sowie vieler weiterer Archive und Bibliotheken haben bei der Literaturrecherche freundlich geholfen. Meine Familie hat innere und oft auch äußere Abwesenheiten geduldig ertragen, die Freude über das Gelingen geteilt und mir in schwierigen Phasen Formen jener Lebensfreude geschenkt, denen sich Wissenschaft verstehend nähern will. Ihnen allen möchte ich herzlich danken. Aachen, im Dezember 1998

Uwe Rieske-Braun

Inhalt 1. Zur Zielsetzung und Vorgehensweise

11

2. Annonce: Das Motiv vom duellum mirabile

17

3. Deutungen: Stationen der Forschungsdebatte

23

3.1

Der Erlanger Disput zwischen Johann Chr. K. von Hofmann und Gottfried Thomasius

23

3.2

Theodosius Harnack: Entdeckung des Gotteszornes

31

3.3 3.4

Albrecht Ritsehl: Wahrnehmung der Gottesliebe Reinhold Seeberg: Lutherdeutung und „modern-positive" Theologie

36 41

3.5

Karl Holl: Luthers Anfechtungen und die Kohärenz seiner Christologie

44

3.6

Gustav Aulen: Das Kampfmotiv als Zentrum von Luthers Theologie und der christlichen Dogmengeschichte

52

3.7

Paul Althaus: Mächtekampf und satisfactio

57

3.8

Theobald Beer: Der fröhliche Wechsel und Luthers Dualisierungen

60

4. Christi Heilswerk als Kampf: Die Tyrannen und ihre Überwindung im Gal-Kommentar (1531/35) und in De servo arbitrio (1525)

66

4.1

peccatum

68

4.2

iraDei

74

4.3

lex

78

4.4

mors, iudicium Dei, infernum

81

4.5 4.6

diabolus Conclusio: Die Macht der Mächte und das Anfechtungsproblem in mittelalterlichen Traktaten

82 85

4.7

duellum mirabile - die Auslegung zu Gal 3, 13

89

4.7.1

Nähe und Differenz zur spätmittelalterlichen Imitatio-Christologie

100

4.8

Das duellum mirabile und die Frage der Willensfreiheit im Licht von De servo arbitrio

103

10

Inhalt

5. Genese und Entwicklung des Kampfmotivs 1514-45 115 5.1 Das Kampfmotiv in der frühen Theologie Luthers (1514-21) 116 5.1.1 Die Weihnachtspredigt von 1514 und die Dictata super psalterium 1513-16 117 5.1.2 Die Ostersermone von 1516 125 5.1.3 Exemplarische Aussagen der Rom-Vorlesung (1515/16) 129 5.1.4 Die Gal-Vorlesung (1516/17) 136 5.1.5 Die Hebr-Vorlesung (1517/18) und die Scholie zu Hebr 2, 14.. 139 5.1.6 Sermone von 1518/19 148 5.1.7 Luthers Soteriologie in der Heidelberger Disputation (1518), im Sermon de duplici iustitia (1518/19), in der Freiheitsschrift (1520), in der Auslegung von Ps 21 (22) von 1521 sowie im Antilatomus (1521) 156 5.1.8 Karfreitags- und Osterpredigten von 1521 164 5.1.9 Conclusio: Das Kampfmotiv in der frühen Theologie Luthers . 168 5.2 Der Teufel am Haken und Christi stellvertretende satisfactio: Das duellum mirabile und Luthers Rezeption der Tradition 171 5.2.1 Das Kampfmotiv als siegreiche Überlistung des Teufels 171 5.2.2 Luthers Rezeption der Anselm'schen Satisfaktionslehre 188 5.3 Das Kampfmotiv in den Osterpredigten 1523^45 201 5.3.1 Zusammenfassung: Das Kampfmotiv in Luthers Osterpredigten 1523^45 221 6. Das Kampfmotiv in diversen Texten - in den Katechismen, in den Osterliedern und in Vorlesungen der Jahre 1543-45 6.1 Das Kampfmotiv in verschiedenen Texten und Textgattungen 6.2 Das Kampfmotiv in den Katechismen 6.3 Das Kampfmotiv in Luthers Liedern 6.4 Das Kampfmotiv in Texten der Jahre 1543-^5

227 233 236 240

7. Conclusio: Das duellum mirabile in Luthers Theologie

246

Literaturverzeichnis

260

Personenregister

282

227

1. Zur Zielsetzung und

Vorgehensweise

Das Interesse der folgenden Studien gilt einem in der Lutherforschung vielfach analysierten, aber mit disparaten Deutungen belegten Motivzusammenhang in Luthers Christologie und Versöhnungslehre: In zahlreichen Textpassagen interpretiert der Wittenberger Reformator Kreuz und Auferstehung Christi als einen siegreichen Kampf mit den Verderbensmächten Sünde, Gesetz, Zorn Gottes, Teufel, Tod und Hölle - zuweilen wird auch das von ihnen angefochtene Gewissen unter die „Tyrannen" gerechnet. Der theologiegeschichtliche Horizont der diesbezüglichen Debatte reicht von den Anfängen kritischer Lutherforschung im Erlanger Luthertum des 19. Jahrhunderts bis zu den Auseinandersetzungen um Theobald Beers Studie „Der fröhliche Wechsel und Streit" von 1974/1980. Die systematisch- und historisch-theologischen Fragen, die aus der Interpretation des Kampfmotivs erwuchsen, galten dabei nicht nur dessen engerem Zusammenhang. Vielfach äußerten sich in ihnen unterschiedliche Formen der Lutherdeutung. Fundamentale Divergenzen wurden in Kontroversen deutlich, die zwischen Gottfried Thomasius und Johann Christian Konrad von Hofmann, Albrecht Ritsehl und Theodosius Harnack, Gustav Aulen und Paul Althaus ausgetragen wurden. Innovative Perspektiven wies die Luther-Interpretation Karl Holls, von der Arbeiten der Luther-Renaissance und in ihrem Umfeld angeregt wurden. In jüngerer Zeit wurde mit der Interpretation von Theobald Beer und der ihr folgenden Debatte das duellum mirabile auch in der katholischen Lutherforschung zum Gegenstand breiteren Interesses. Umstritten waren in verschiedenen Hinsichten Bedeutung und Aussagehalt des duellum mirabile: Gefragt wurde, ob im Horizont dieses Gedankenkreises der siegreiche Kampf Christi am Kreuz vornehmlich dem zu überwindenden Zorn Gottes über die menschliche Sünde gilt oder dem gottfeindlichen, verderblich-betrügerischen Wirken des Satans, der die anderen Mächte geschickt für seine Zwecke einsetzt. Intensiv wurde diskutiert, wie sich der durch Anselm von Canterbury klassisch entwickelte Gedanke vom aufgrund des Gewichts der Sünde unabdingbar notwendigen Strafleiden Christi in Luthers Theologie zum Kampfmotiv verhält. Behandelte Luther beide ihm theologiegeschichtlich überkommenen Aussageformen als gleichrangig oder gab er einer von beiden den Vorzug? Fraglich blieb bislang, ob das Kampfmotiv eher die frühe oder die späte Theologie Luthers kennzeichnet; ist das duellum mirabile ein Niederschlag von deren zunehmender „Massivierung" und vor allem aus zunehmenden Anfechtungserfahrungen Luthers zu erklären (Hans Thimme)? Zeigt sich in ihm nicht auch ein unüberwundenener dualistischer

12

Zur Zielsetzung und Vorgehensweise

Grundzug der Theologie Luthers, wie Albrecht Ritsehl meinte oder, so Karl Holl, eine deutliche Abweichung von den Glaubensaussagen der altkirchlichen Symbole? In der durch Holl eröffneten Fragestellung wurde auch diskutiert, inwiefern sich Luthers Anfechtungen an zentralen Aspekten seiner Theologie auswirken, zu denen auch das Kampfmotiv gehört. In diesem von Luther aus patristischen Quellen aufgegriffenen und neu akzentuierten Motiv erkannte Gustav Aulen - und mit ihm andere schwedische Theologen - nicht nur das genuine Zentrum der reformatorischen Theologie, sondern des Christentums überhaupt. Gewiß sind manche systematischen Fragestellungen in älteren Arbeiten inzwischen historisiert und von anderen Perspektiven abgelöst worden. In neueren Studien zur Christologie und Versöhnungslehre Luthers wurden manche Aporien der vorhergehenden Debatte relativiert,1 auch infolge von neuen Untersuchungen zur Bedeutung von Metaphern für Luthers Wortverständnis.2 Aber einige, fast „klassisch" anmutende Antagonismen der Lutherinterpretation, die auch seine diesbezügliche Rezeption der Tradition betreffen, verdienen weiterhin analytisches Interesse. So sollen in der folgenden Untersuchung Fragestellungen und Ergebnisse der bisherigen Lutherinterpretation aufgenommen werden, um mit Beobachtungen an einem exemplarischen christologischen Aspekt das rechtfertigungstheologische Proprium neu zu beleuchten: Eine historisch-theologische Studie, die Variationen des Kampfmotivs aus der reformatorischen Frühzeit bis in Predigten und Vorlesungen aus Luthers letzten Lebensjahren analysiert, liegt bislang nicht vor. Für die Interpretation von Luthers Theologie 3 behält die eingehende Be-

1

Vgl. hier vor allem: Hans-Martin Barth, Der Teufel und Jesus Christus in der Theologie Martin Luthers (=FKDG 19), Göttingen 1967; Ulrich Asendorf, Gekreuzigt und Auferstanden, Luthers Herausforderung an die moderne Christologie (=AGTL XXV), Hamburg 1971; Dorothea Vorländer, Deus Incarnatus, Die Zweinaturenchristologie Luthers bis 1521 (=UKG 9), Witten 1974; Marc Lienhard, Martin Luthers christologisches Zeugnis. Entwicklung und Grundzüge seiner Christologie, Göttingen 1979; Raymund Schwager, Der wunderbare Tausch, Zur Geschichte und Deutung der Erlösungslehre, München 1986, 192-214; Albrecht Peters (Hg. Gottfried Seebaß), Kommentar zu Luthers Katechismen, Bd. 2, Der Glaube - Das Apostolikum, Göttingen 1992, 122-139; Gerhard Ebeling, Des Todes Tod, Luthers Theologie der Konfrontation mit dem Tode, in: ZThK 84/1987, 162-194. 2 Eberhard Jüngel, Metaphorische Wahrheit. Erwägungen zur theologischen Relevanz der Metapher als Beitrag zur Hermeneutik einer narrativen Theologie, in: Paul Ricoeur / E. Jüngel, Metaphorische Wahrheit, Zur Hermeneutik religiöser Sprache, EvTh 34/1974,71-122, 102-104; Gerhard Ebeling, „Christus ... factus est peccatum metaphorice", in: Tragende Tradition, FS Martin Seils zum 65. Geburtstag, hg. von Annegret Freund, Frankfurt, Bern, New York, Paris, Wien 1992,49-73; Wilfried Härle, „Christus factus est peccatum metaphorice", Zur Heilsbedeutung des Kreuzestodes Jesu Christi, in: NZSTh 36/1994,302-315; Joachim Ringleben, Luther zur Metapher, in: ZThK 94/1997, 336-369. 3 Zur Frage des methodischen Vorgehens bei der Darstellung der Theologie Luthers vgl. Bernhard Lohse, Zur Struktur von Luthers Theologie. Kriterien einer Darstellung der Theologie Luthers, in: Festschrift zum 65. Geburtstag von Kurt Schmidt-Clausen (Hg. Hans-Walter Krumwiede), (=JGNKG 83/1985), 41-53, wiederabgedruckt in: (Bernhard Lohse), Evangelium in der

Zur Zielsetzung und Vorgehensweise

13

handlung von Teilaspekten gewiß eigenen Wert. An begrenzten Textcorpora, exemplarischen Passagen oder sogar einzelnen Wendungen aus reformatorischen Texten lassen sich grundlegende Themen, Perspektiven und Implikationen vielfach differenziert erhellen.4 Die Analyse unseres begrenzten Motivzusammenhanges soll die Interpretation eines christologischen Gedankens um die historisch-genetische Dimension erweitern: Sie untersucht das Kampfmotiv einerseits in seinen systematischen Nuancen und fragt andererseits nach erkennbaren theologiegeschichtlichen Entwicklungen - in Luthers Texten selbst und gegenüber den von ihm rezipierten Vorlagen. Die analysierten Variationen des duellum mirabile sollen zudem deren Kontextbezogenheit, die Anknüpfung und Differenz gegenüber patristischen und mittelalterlichen Texten, vor allem aber leitende Aspekte verdeutlichen, die das Kampfmotiv in Funktion und Interesse dominieren und prägen. Auf eine geklärte, systematisierende Annäherung an den in theologiegeschichtlichen und religionswissenschaftlichen Arbeiten oft verwendeten Begriff des „Motivs"5 konnte dabei nicht zurückgegriffen werden. Zwar hat

Geschichte, Studien zu Luther und der Reformation, zum 60. Geburtstag des Autors hg. von Leif Grane, Bernd Moeller und Otto Hermann Pesch, Göttingen 1988, 237-249. Lohse stellt heraus, „daß die systematisch angelegten Darstellungen von Luthers Theologie eigentlich alle in hohem Maße von der jeweiligen theologischen Ausgangsposition des Verfassers geprägt sind" (44), was er anhand einer Übersicht über die prominenten Lutherdarstellungen seit Theodosius Harnack belegt. Er moniert in diesem Zusammenhang, „daß es bislang an einer kritischen Erörterung der Methodik eines solchen Unternehmens fehlt" (46) und verweist einerseits auf die Chancen der „historisch-genetischen Form" einer Darstellung von Luthers Theologie (43). Andererseits aber sei auch darauf zu achten, welche unausgesprochenen Voraussetzungen, etwa mit der Übernahme des altkirchlichen trinitarischen Dogmas, in Luthers Theologie zu berücksichtigen sind. Vgl. auch ders., Martin Luther, Eine Einführung in sein Leben und sein Werk, 2. Aufl. München 1982, 149ff und ders., Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, 13-21. Zur Methodik der Lutherinterpretation vgl. auch Gerhard Ebeling, Art. „Luther II. Theologie", R G G \ Bd. IV, 495-520 (496): „Die Interpretation muß sich primär begrenzten Textkomplexen zuwenden, um Luthers theologische Denkstrukturen zur Geltung kommen zu lassen"; Karl-Heinz zur Mühlen, Art. „Luther II. Theologie", in: TRE, Bd. 21 (1991), 530-567, hier 531; Wilfried Joest, Ontologie der Person bei Luther, Göttingen 1967, 5 0 55. 4 Eberhard Jüngel, „Quae supra nos, nihil ad nos. Eine Kurzformel der Lehre vom verborgenen Gott - im Anschluß an Luther interpretiert", in: EvTh 32/1972, 197-240. Joachim Mehlhausen, Forma Christianismi, Die theologische Bewertung eines kleinen katechetischen Lehrstücks durch Luther und Erasmus von Rotterdam, in: ZThK 87/1990, 437-455. Reinhard Schwarz, „... mit Christus zusammengeschweißt", Vom Einssein des Christen mit Christus bei Luther, in: Zeitwende 60/1989, 94—102. 5 Markwart Herzog, „Descensus ad inferos", Eine religionsphilosophische Untersuchung der Motive und Interpretationen mit besonderer Berücksichtigung der monographischen Literatur seit dem 16. Jahrhundert (=Frankfurter Theologische Studien 53), Frankfurt am Main 1997, verwendet den Begriff des Motivs sowohl für den theologiegeschichtlichen Gedankenkreis der Höllenfahrt Christi wie für die mit ihm teilweise verbundenen Aspekte und biblischen Anknüpfungspunkte, wie die „Präsenz Jesu im Totenreich", das „Predigtmotiv" (1 Petr 3, 19) oder das „Kriegsmotiv" (Eph 4, 8-10). Meinolf Schumacher, Sündenschmutz und Herzensreinheit, Studien zur Metaphorik der Sünde in lateinischer und deutscher Literatur des Mittelalters (=MMAS

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Zur Zielsetzung und Vorgehensweise

Anders Nygren in seiner 1955 auf deutsch erschienenen Untersuchung „Eros und Agape" die „Motivforschung" als eigene theologiegeschichtliche Perspektive im Unterschied zur historisch-genetischen Forschung eingeführt. 6 Ebenso kann und soll nicht die gesamte Breite der sich in Luthertexten an verschiedenen Aspekten entfaltenden und anlagernden Kampfesthematik behandelt werden. In der vorliegenden Untersuchung wird dieser Begriff anders als bei Nygren und in späteren schwedischen Arbeiten nicht im Sinne einer zentralen christlichen Grundanschauung verwendet, „von dem aus der christliche Glaubensinhalt in seinem ganzen Reichtum in organischer Einheit zusammengehalten werden kann."7 Vielmehr wird mit dem als „Kampfmotiv" bezeichneten theologischen Gedankenkreis phänomenologisch deskriptiv ein situativ variabler, wiedererkennbarer Aussagezusammenhang bezeichnet, der in kreativer Kombination mit anderen theologischen Gedanken, Aspekten und geprägten Vorstellungen ein relativ konstantes Arsenal an biblischen, metaphorischen und mythologischen Elementen an einem Grundgedanken kristallisiert und vereinigt: Das „Kampfmotiv" beschreibt Christi Heilstat in Kreuz und Auferstehung metaphorisch als einen siegreichen Kampf mit anfechtenden Verderbensmächten, die seither ihre für Menschen existentiell gefährdende Macht eingebüßt haben, auch wenn sie in den wiederkehrenden tentationes weiterwirken. Die in diesem, begrenzten Motivzusammenhang begegnende Kampfesmetaphorik steht in engem Zusammenhang mit anderen Aspekten von Luthers reformatorischen Wirken, etwa seiner Erfahrung vom lebendigen Wirken des Teufels, der sich der Wiederentdeckung des Evangeliums als geschichtlich eminent wirksame und erfahrbare Potenz entgegenstellte.8 Diesen Bezügen gilt durchaus das Interesse der Studie, die aber aus der Konzentration auf das versöhnungstheologische Motiv erhellt werden soll. 73), München 1996, 565, verwendet den Begriff „Motiv" etwa für die bei Hugo de Folieto begegnende Metaphorik von Christus als dem Pelikan, der sein Herzblut gibt, um die Sünder damit reinzuwaschen. Für Balthasar Fischer ist auch der patristische Gedanke der Überlistung des Teufels ein wiedererkennbares „Motiv" und zugleich „eine weitverbreitete Vorstellung patristischer Spiritualität, nach der im Tode Christi der Teufel, getäuscht durch die menschliche Niedrigkeit des Gottesohnes, zugebissen und über dem Zubeißen habe erkennen müssen, daß in diesem Köder der Angelhaken der Gottheit verborgen war; der Biß wird für den Beißenden tödlich." (O mors, ero mors, tua. Eine Kurzformel der römischen Liturgie für das Paschamysterium, in: Eulogia. Miscellanea Liturgica in onore di P. Burkhard Neunheuser O.S.B. (=StAns 68), Roma 1979, 97-123, hier 107). 6 Eros und Agape, Gestaltwandlungen der christlichen Liebe, 2. Aufl. Berlin 1955, 13-26. Vgl. ders., Sinn und Methode, Prolegomena zu einer wissenschaftlichen Religionsphilosophie und einer wissenschaftlichen Theologie, Göttingen 1979, 404-422. 7 V. Lindström, Art. „Motivforschung", in: RGG 3 , 4. Bd., 1160-1163, hier 1161. 8 B. Lohse, Luthers Theologie, 270, betont zu Recht die eminente Rolle, die die mit der Teufelsvorstellung eng verbundene Kampfesthematik für Luther gewinnt: „sein Kampf gegen das Papsttum und gegen die Verfälschung des Evangeliums, die Luther den Päpsten vorwirft, ist zugleich ein Kampf gegen den Teufel und seinen Angriff auf die Christenheit." Der Teufel sei „letztlich bei allem, was gegen Gottes Willen gerichtet ist und was der Welt und den Menschen schadet, derjenige, der im Hintergrund wirkt." Dazu auch Heiko Augustinus Oberman, Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel, Berlin 1982.

Zur Zielsetzung und Vorgehensweise

15

Zur genaueren Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes wird am Anfang eine annähernde Annonce stehen, die in einer ersten, kurzen Vorstellung das duellum mirabile zunächst vorläufig skizziert (2.)· Aus den anschließend referierten Stationen der Forschungsgeschichte (3.) werden sodann detailliertere Kriterien und Gesichtspunkte für die vorzunehmende Analyse gewonnen. Darauf folgt die Erhellung von systematischen und historisch-genetischen Aspekten unseres Motivs: Zunächst wird eine systematisierende Differenzierung (4.) des theologischen Zusammenhanges vom duellum mirabile unternommen. Diese Analyse erfolgt an einer abgrenzbaren Textvorlage, in der es von Luther besonders prononciert behandelt wird: Die „Macht der Mächte", ihre Überwindung und die Zueignung der victoria Christi an die credentes werden im Spiegel der Gal-Vorlesung von 1531/35 dargestellt. Besonderes Augenmerk soll dabei die Passage der Auslegung von Gal 3, 13 finden. Zudem wird nach dem Verhältnis des reformatorisch verwendeten duellum mirabile zu mittelalterlicher Anfechtungsliteratur gefragt. In einem Exkurs wird anschließend anhand von Luthers Streitschrift gegen Erasmus (1525) der Frage nachgegangen, inwieweit die Ablehnung der Willensfreiheit sich am Kampfmotiv auswirkt und wie diesbezügliche, etwaige dualistische Implikationen in Luthers Gottesbild sich aus Konvergenzen zu De servo arbitrio näher bestimmen lassen. An die systematisierende Beleuchtung des immanent-theologischen Aussagezusammenhanges knüpft sich (5.) die historisch-theologische Analyse. Ihr erster Teil widmet sich der Aufnahme und Entwicklung unserer Thematik in der frühen Theologie Luthers. Betrachtet werden soll, welche Funktion und Bedeutung dem Kampfmotiv in frühen Vorlesungen, Predigten und Sermonen bis 1521 zuwächst, in denen es sich vor allem in Verbindung mit dem Gedanken vom „admirabile commercium" entwickelt. Besonderes Augenmerk findet hierbei die Scholie zu Hebr 2, 14 von 1517/18, in der Luther das duellum mirabile erstmals intensiver darstellt und dabei auch Einblick gibt in die von ihm benutzten und verarbeiteten theologiegeschichtlichen Quellen. Im Licht der Rezeption von altkirchlichen und mittelalterlichen Darstellungen der victoria Christi soll der Frage nach den Wurzeln und Traditionshintergründen von Luthers eigener Interpretation nachgegangen werden. Dabei ist auch zu untersuchen, inwieweit Luthers Versöhnungslehre die frühscholastische Satisfaktionslehre Anselms übernimmt oder überwindet. Im zweiten Teil der theologiegeschichtlichen Analyse wird im Spiegel der aus den Jahren 1523 bis 1545 erhaltenen Osterpredigten die Entwicklung des Motivs verfolgt. Diese in ihrer konstanten homiletischen Situation vergleichbare Textbasis, in der Luther mannigfach die Auferstehungsthematik mit Hilfe des Kampfmotivs behandelte, soll zeigen, ob mit Fortschreiten der reformatorischen Bewegung auch theologische Veränderungen oder „Massivierungen" zu verzeichnen sind, bzw. in welchen historischen Situationen das Motiv zurücktritt oder besonders exponiert behandelt wird. Zum Abschluß der Untersuchung werden die genannten Aspekte bündelnd

16

Zur Zielsetzung und Vorgehensweise

zusammengefaßt (7.). In die conclusio sollen auch Gesichtspunkte aus anderen Textzusammenhängen (6.) einfließen, etwa die Verwendungen des Motivs in Luthers Osterliedern - hier lassen sich vergleichende Beobachtungen zu Passions- und Ostersequenzen des Mittelalters anstellen - und in den Katechismen, sodann die Analyse von späten Texten der Jahre 1543-45. Das leitende Ziel der vorzulegenden Untersuchung ist es in allen diesen Abschnitten, das mit dem Kampfmotiv verbundene rechtfertigungstheologische Interesse und dessen hermeneutisch-theologische Bedeutung und Funktion in differenzierender, quellenorientierter Analyse zu erhellen. Die metaphorische Bildkraft des Kampfmotivs bewegt und regt an - auch zum Nachdenken über die besondere Tiefe und bewegende Eindringlichkeit der szenarischen Sprachbilder, die dem reformatorischen Wort eine verdichtete und ihm vielleicht besonders entsprechende Gestalt gaben.

2. Annonce: Das Motiv vom duellum

mirabile

„Also sehet Jr, was wir an Christo haben, nemlich den man, der uns von Gott geschencket ist, der da solt die sünde ausleschenn, den tod zerknirschen, die helle zerbrechen und den Teuffei gefangen nemen, unnd das alles unns zu guette". Diese Formulierung aus einer Predigt über Joh 20, 24-29 in der von Stephan Roth herausgegebenen Festpostille 1527' beschreibt bündig das duellum mirabile als Kerninhalt von Luthers Versöhnungslehre. Die mit Kampfesmetaphorik beschriebene Überwindung der gottfeindlichen Mächte Sünde, Gesetz, Tod, Teufel und Hölle durch Christi Tod und Auferstehung hat Luther in seinen Schriften und Predigten mannigfach in großer Variationsbreite und „mit offensichtlicher Freude" beschrieben.2 Mehrfach hat er auch betont, daß es sich bei diesem Motiv nicht nur um das Kernstück seiner Versöhnungslehre, sondern um den Inbegriff christlichen Glaubens handele: „In illam imaginem mus man hinsehen. Qui hoc credit, habet."3 Das Szenario des Mächtekampfes wird dabei mit wechselnden Termini bezeichnet.4 Im Blick auf das Kampfmotiv spricht Luther in der Freiheitsschrift von einem „stupendo duello",5 in der deutschen Fassung - das admirabile commercium mit einbeziehend - vom „froelich wechßel und streytt".6 Im Gal-Kommentar 1531/35 begegnet die Bezeichnung vom „duello mirabili",7 in einer Osterpredigt von 1524 die einer „pugna mirabili".8 Ostern 1528 wird es als ein „liplicher kämpf bezeichnet,9 in der Enarratio capitis noni Esaiae (1543/44, Druck 1546) als eine „suavissima et gloriosissima pugna".10 Zur 1 WA 17/11, 289-297, Predigt über Joh 20, 2 4 - 2 9 „Am tage Thoma des hayligen Apostels"; der von Luther autorisierte Text folgt teilweise einer Predigt in Erfurt aus dem Jahr 1521, vgl. WA 7, 808-813. Diese Predigt zum Thomastage 1527 gibt unser Motiv in übersichtlicher Darstellung seiner Aspekte wieder. 2 Karin Bornkamm, Luthers Auslegungen des Galaterbriefes von 1519 und 1531, Ein Vergleich (= AKG 35), Berlin 1963,128. Im Gal-Kommentar 1531/35 WA 40/1,266f bemerkt Luther zu diesem Motiv: „Ist ein seer schon phrasis". 3 WA 40/1,443, 12. 4 Die Derivate zu den Lemmata „pugna" und „duellum", zuweilen aber auch „bellum" werden synonym gebraucht, vgl. dazu das Sachregister zur WA 6 4 , 2 6 1 - 2 6 3 und demnächst in WA 67 zu „pugna" (der betr. Auszug wurde vom Tübinger Institut für Spätmittelalter und Reformation vorab zur Verfügung gestellt). 5 WA 7, 55, 16. 6 WA 7, 25, 34. 7 WA 40/1, 439, 11. 8 WA 15, 518, 4f. 9 WA 37, 28, 19. 10 WA 40/111, 645, 19.

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Annonce: Das Motiv vom duellum mirabile

thematischen Abgrenzung dieses christologisch-soteriologischen Gedankens dient eine Nachschrift der Oster-Predigt vom Sonntag, 9. April 1531 vormittags, in der unser Motiv ausführlich behandelt wird." „Credo, quod resurrexit a mortuis 3. die", leitete Luther diese Predigt ein und betonte einleitend die Bedeutung der Auferstehungsbotschaft, die ihren Ort nicht allein am Osterfest finde: „Est dives materia. Nos tractamus per totum annum."12 Fortfahrend beschrieb er die beiden „facies" Christi, die den Kontrast zwischen Karfreitag und Ostern verdeutlichen: „Da haben wir fur uns zu bilden den Herrn Jesum, wie er tod ist und lebend".13 Bei der Betrachtung der Gestalt Christi am Karfreitag sei entscheidend, daß man sich mit dem Schicksal Jesu am Kreuz und im Grabe zugleich vor Augen führe, daß Ursache seines Todes die Sünden des Betrachters seien, der sich das Bild des leidenden und sterbenden Christus vergegenwärtige.14 Es gehe bei der Konfrontation mit dieser facies keineswegs um ein vergangenes und in seiner Bedeutung verblaßtes Geschehen, sondern um eines, das die Glaubenden in unmittelbarer Aktualität und Gegenwartsbedeutung selbst betreffe. Nur die existentielle Aneignung und die entsprechend gegenüberstellende Konfrontation mit der anderen „facies Christi" am Ostermorgen lassen die Auferstehungsbotschaft in ihrer fundamentalen Bedeutung für die peccatores deutlich werden. Angesichts der facies mortis des Karfreitages und der ihr entsprechenden Todesverfallenheit menschlicher Existenz erscheint der Auferstandene als Inbegriff und Bild des Lebens: „In altera bild video ea abesse ablataque, ibi non peccatum, sed iustitita, non mors, sed vita." Die evidente Bildkraft des Kontrastes der gewandelten Erscheinungsformen Christi verleiht der Auferstehungsbotschaft ihre befreiende Macht.15 In ihr kristallisiert sich Essenz und Wirkung christlichen Glaubens: „Is est articulus inculcandus et facit conscientiam frolich". 16 Die Konfrontation der Bilder von Kreuz und Auferstehung Christi lenkt das Interesse näherhin auf das Geschehen, das den Wechsel der beiden „effigies Christi" ermöglicht.

" WA 34/1, 271, 20 - 285, 15. Die Predigttätigkeit Luthers 1531 wird durch Nachschriften Rörers („R") und im „Codex Solger 13" (Stadtbibliothek zu Nürnberg - Sigel „N") überliefert. „Über Luthers Urheberschaft besteht nirgends ein Zweifel", notierte Herausgeber G. Buchwald in den bibliographischen Angaben WA 34/11, 569-611, hier 572. 12 WA 34/1, 272, l f ( R ) . 13 WA 34/1,272,4f (R). Vgl. auch 2 7 5 , 6 - 8 (R): „1. facies: ibi iacet peccatum, mors, Satan am karfreitag. Sed auff den ostertag vide alteram imaginem. Ibi non peccatum, mors, lesterung, sed mera vita, iustitia, selickeit, freundlichkeit et omne bonum video in eo." 14 WA 34/1, 272, 6 - 8 (R): „Sic quando Christum inspicio in cruce, sepulchro, quod haec sint peccata mea, quae auff yhm liegen, sie inspicio mea peccata. Si so bleiben sol, were der anblick seer bos und schrecklich." 15 WA 34/1,272,14-18 (R): „1. ut abiieiam peccata mea per veram fidem et dicam: iste pro me mortuus et peccata mea in suo collo et 2. quod mea anima herlich und klar et quod verschwunden mea peccata nec in me manent per suam passionem, quam pro me." Vgl. 31f (N): „Deinde 2 effigies declarata indicat, das sie gar verschwunden sindt." 16 WA 34/1, 272, 18f(R).

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In dieser evidenten Verwandlung offenbart sich der Sieg im Ringen des Lebens mit dem Tode. Dieser Kampf wird in einer längeren Passage beschrieben:17 „Ibi considera luctam mortis et vitae, ut canitur: ,Mors et vita duello', 18 todt greyff das leben an, der leyb liß sich todten. Aber das leben war ewig, der todt vorgreyff sich, sicut et sathan. Do leyt er sich myt macht an und trifft eyne person an, die nicht sterben kan. Corpus quidem moritur, sed persona non moritur. Credas hanc personam simul mortuam et vivam. Homo moritur, aber der todt bleybet myt seynen zcenen hangen. Er ist alßo todt, das der todt muß untergehen." Tod und Satan haben sich zu Unrecht an Christus vergriffen. Die verderbenbringenden Tyrannen erkannten Christus nur nach seiner menschlichen Gestalt und nahmen seine kraft des Gesetzes 19 erfolgte Verurteilung durch Pilatus zum Angriffspunkt, um ihn zu vernichten. Sie sahen in Christus den Menschen als Sünder; die Macht seiner göttlichen, sündlosen Natur20 blieb ihnen zunächst verborgen. So konnte die unsterbliche Gottheit Christi die verderbenbringenden Mächte täuschen und erfolgreich niederringen. Mit der Auferstehung wird deutlich, daß das ewige Leben als Prädikat der Gottheit Christi den Sieg davontrug über die von Christus erduldete Macht der gottfeindlichen Mächte. Sie sind überwunden: zunächst die Sünde,21 dann der Tod als „der Sünde Sold"22, aber zugleich auch der Satan.23

" Hier wiedergegeben in der Fassung „N", WA 34/1, 273, 26 - 274, 21. 18 Luther verweist hier (vgl. die Nachschrift Rörers, S. 273, 12f) auf die „pugna vitae et mortis", die in der zweiten und dritten Strophe der mittelalterlichen „Sequentia paschalis" besungen wird: „Agnus redemit oves, Christus innocens patri reconciliavit peccatores. - Mors et vita conflixere duello mirando: dux vitae mortuus regnat vivus", vgl. Joseph Kehrein, Lateinische Sequenzen des Mittelalters aus Handschriften und Drucken, Mainz 1873, S. 81 Nr. 83, vgl. W 34/ 1, 273, Anm. 2 und die Erwähnung am Seitenrand der Nachschrift N), a.a.O., 274, 33. In anderen Variationen des Kampfmotivs verwies Luther häufig auf sein Osterlied: „Christ lag in Todesbanden: Es war ein wunderlich Krieg, Da Tod und Leben rungen, Das Leben behielt den Sieg, Es hat den Tod verschlungen." Vgl. etwa WA 34/1, 233, 20f, Anm. 1) - Vgl. dazu die Analysen zu Luthers Osterpredigten und Osterliedem. 19 Das Gesetz als den Menschen verklagende Macht findet in dieser Predigt von 1531 keine Erwähnung. Dies ist bereits ein Indiz dafür, daß die Aufzählung und Zusammenstellung der Mächte variieren kann. 20 WA 34/1, 276, 16f (R): „In Christo ist kein blutströpfflein, sundlein, sed mera sanctitas, et is est totus tuus, si fidis sua resurrectione ut tua." 21 WA 34/1, 274, 7 - 1 2 (R):"Unser sunde hengt an yhm. (...) Fatetur frey pro peccatore, quod peccatum auff yhm liege. Ideo bringt sie yhn da hin, ut moriatur, et non aliter moritur quam pro meo et tuo (...) Ideo wird sie matt und stirbt ynn seinem leib peccatum." 22 W A 34/1, 274, 29ff (N):"Nam mors summus thirannus advenit, greyfft sich an und trydt zw yhm hineyn. Christus autem videtur infirmus, sed sub specie infirma latet summa potencia, die künde er nicht zw dempfen, vorleust do myt alle seyne krafft, quia Christus resurgit et dicit: tu non est victor, sed victus. Ita Christus est victor mortis et peccati et fugat cum nomine suo." 23 WA 34/1, 274, 13-17 (R):"Sic legt Satan sein gewalt an ihn et vult vimeius potestati inferre, sinit Satanam potentem esse, ipse facit, quasi nihil possit contra Satanae potentiam, hinder des ist drunter aetema, unendliche potentia, quam Satan non videt, leufft also hin an et vult untertrucken potentiam, quam non potuit, ideo amittit potentiam. Er ligt zu gleich unter und ob."

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Die Beschreibung dieses siegreichen Kampfes hat der Wittenberger zuweilen mit dem an Hiob 40, 19ff anklingenden, altkirchlichen Motiv einer Täuschung und Überwindung Leviathans, bzw. des Teufels oder auch des Todes verbunden, die den Gedanken der listigen Täuschung in mythologischer Färbung gestaltet. Diese Aufnahme ist in einer Luther zugeschriebenen Osterpredigt von 1521 anzutreffen:24 „Eben wie der vischer den hamen sencket ins basser, das man in nicht siecht, mitt einem regenwurm, und kummet der visch, meinett, er woll in fressen, Schlecht mit dem rächen in hamen und wirt alßo gefangen. Szo auch hie mit Christo. Die angelschnur ist das geschlecht Jesu Christi von Abraham her, ist gebunden an die menschlich natur. Der angel ist die gotlich natur, die hat er anzcogen mit der Menschlich, die hat muessen leyden und ist voracht gewest wie ein regenworm. Do kam der todt und gedacht: har, ich wil in vorschlinden. Nymant sach, das er got waß: Szo meinett er, er woll den menschen fressen, Szo trifft er gotth. Do wirt er gefangen, und Christus zceucht in her fuer und macht in zcu schänden fur aller weltt." Auch die bildhaft-mythologische Gestaltung des Kampfmotivs zielt offenkundig auf die Wirkung des Sieges, die Zueignung im Glauben:25 „Et sol michs nicht anders annhemen, quam quod ipse ego resurrexissem a mortuis, et si hoc annhimpts et dicis: so wenig peccatum, tods, fluchen, lesterung, schmach, schand Christus an sich hat, so wenig etc. et hoc affert tibi fides. In extremo iudicio habebis. Quantum fidis, tantum es gleich wie Christus."26 Ziel und der Interesse des Mächtekampfes, dem die bildhafte und zuweilen mythologische homiletische Gestaltung zu dienen hat, liegt also im „admirabile commercium": „Ich sol mich seyn annhemen, gleych als ich selber gestorben und ufferstanden where, ut possim gloriari: Non habeo peccatum, mortem, iniusticiam. Ich byn eben wie Christus."27 Die befreiende Wirkung des Sieges über die Mächte entfaltet sich hier und sonst „sola fide". Außerhalb des Glaubens, „im Fleisch" des alten Menschen behalten die Sünde und der Tod weiterhin ihre Macht,28 bleiben eine ständige Quelle von Anfechtungen, bis eschatologisch der Glaube ins Schauen verwandelt wird.29 So wird das Bild des Sieges und Kampfes über die Tyrannen zum Inbegriff des „extra nos", auf das sich die peccatores immer neu ausrichten. Wenn die Kraft der fides zu ermatten droht,

24 WA 9, 657-661. Die Predigt vom Ostersonntag, 31. März 1521 stammt aus der von Joh. Graumann (Poliander) angelegten Sammlung von Lutherpredigten der Jahre 1519-21, die evtl. auf Nachschriften Agricolas zurückgehen, vgl. dazu die Einleitung von E. Thiele in WA 9, 314ff. 25 Vgl. dazu die Osterpredigt von 1521, W A 9, 660, 37 - 661, 9. 26 WA 34/1, 275, 10-14 (R). 27 WA 34/1, 275, 28ff (N). 28 WA 34/1, 275, 3Iff (N):"Aber nichts deste weniger bleybt in carne peccatum, ignominia, mors. Das mus bleyben, aber es gehet nicht weyter quam ad veterem hominem, et fide veniente cessat." 29 WA 34/1, 275, 17ff (R): „Si satan, mors, peccatum videt tuam fidem, fugit. In extremo die manifestabitur, wird der leib hin nach et quicquid mortis adest, mus auch auffhoren."

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hilft allein die Konzentration auf den „Christus Victor" 30 und der Hinweis auf seine Auferstehung im Zwiegespräch mit dem Teufel. 31 Sofern die Evidenz dieses Sieges an den Glauben gebunden ist, bleiben also die credentes in ihrer irdischen Existenz stets Sünder, 32 die das Verhängnis des peccatum weit tiefgreifender erfahren als die übrigen, in trügerischer Sicherheit befangenen peccatores. Entsprechend gilt von der Kirche: „Non est tarn magna peccatrix ut Christiana ecclesia". 33 Das Bekenntnis zu ihrer sanctitas bleibt ein Satz des Glaubens, der nur von den Heiligen selbst gesprochen werden kann in der Macht des Heiligen Geistes. 34 Allein die Christen als credentes spüren die nachhaltig befreiende Wirkung der Auferstehungsbotschaft, während sie „der Welt" ein „skandalon" bleibt. So konzis und klar diese Schilderung des Mächte-Kampfes aus der Osterpredigt von 1531 erscheint, stellen sich der Interpretation doch eine Reihe von Fragen: Die zunächst locker und zufällig erscheinende Aufzählung der Tyrannen Zorn Gottes, Sünde, Gesetz, Satan, Hölle und Tod läßt fragen, wie das systematische Verhältnis unter ihnen näher zu bestimmen ist: Sind sie nur aus der existentiellen Erfahrung erwachsene Chiffren für den Riß der Sünde zwischen Gott und Mensch, den Luther in seinen Anfechtungen schmerzhaft und bedrohlich erlebte, oder waltet unter ihnen auch eine konsequente systematisch-theologische Architektonik? Gibt es unter ihnen eine „Leitmacht", der die anderen Tyrannnen in ihrem Wirken unterzuordnen sind - etwa das Gesetz oder doch eher der Satan? Resultiert die Macht der Mächte vornehmlich aus dem unüberwindlichen, schuldhaften Verhängnis der Sünde? Sofern - wie in der patristischen Vorlage des „geköderten Leviathan" - vor allem der mit ihm symbolisierte diabolus als Gegner Christi auftritt, ergeben sich Fragen für Luthers Gottesbild: Sind im Motiv des Mächtekampfes dualisierende Tendenzen anzutreffen? Brechen sie auf zwischen dem Schöpfer und seinem diabolischen Gegenspieler oder eher zwischen Gottes Gerechtigkeit und seinem Zorn über die menschliche Sünde einerseits und der göttlichen Liebe in Christo andererseits? Wird Gottes Zorn durch eine stellvertretende satisfactio Christi 30 Vgl. den Titel der Studie von Gustav Aulen, Christus Victor, An historical study of the three main types of the idea of Atonement, London 1931, 10. Aufl. 1970; W A 34/1, 276, 18-21 (R): „Wo es noch mangelt und hab carnem am hals, dico, quod mein fides nicht hat in tota mea persona, da fur sey mir gut Christus, quia semper manet in corpore ein unflat, quod non ex corde fido deo etc." 31 W A 3 4 / 1 , 2 7 7 , 5 - 1 0 (R): „Ibi quando peccatum, mors, Satan me terrent, nihil potest efficere, ist zu schwach, et dico: scis, quid feceris in isto? Tu accusasti eum coram Pilato et Herode iniuste, ghe hin, klag yhn an. Cur vis te sein an nhemen? Ideo, quia dicit mea esse omnia sua. Las mich unverborren und flehst mit dem aus, da du dich an vergrieffen und das maul verbrennet hast." 32 W A 34/1, 276, 4 - 7 (R): „In fide habet omnia, item est sub morte, peccato, si cogitur mori, habet peccatum, ungluck mussens haben und sollens haben et libenter habent, et non est homo in terris, qui sic peccator sit ut Christianus: plus sentit peccatorum quam ullus homo." 33 W A 34/1, 276, 7f (R). 34 W A 34/1, 276, 9f (R): „Hoc nemo dicit, nisi qui sit sanctus, et spiritus sanctus ista loquitur verba."

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überwunden oder ist es die Liebe Gottes selbst, die sich gegen diabolische Verderbensmächte durchsetzt? Fraglich ist aber auch, welche Bedeutung Luthers Anfechtungen für bildhaft-mythologische Anleihen in soteriologischen Passagen gewinnen: Schlägt der existentielle Charakter von Luthers Theologie hier einseitig radikalisierend und massiv bis in die schriftgebundene Systematik seiner Aussagen durch und droht er diese sogar zu unterminieren? Die Fragen, die sich einer differenzierteren Interpretation des Motivs stellen, sind durch Aspekte aus der Forschungsdiskussion zu ergänzen. Auf ihrem Hintergrund ist die nähere Analyse des Motivs vorzunehmen.

3. Deutungen: Stationen der Forschungsdebatte 3.1 Der Erlanger Disput zwischen Johann Chr. K. von Hofmann und Gottfried Thomasius Unter den „Erlanger Theologen'" des 19. Jahrhunderts und im Kontext ihrer Bemühungen um eine vertiefte Lutherinterpretation war es vor allem Johann Christian Konrad von Hofmann, der mit seinem 1852/55 veröffentlichten „Schriftbeweis"2 die Versöhnungslehre zum Gegenstand von eingehenden Diskussionen werden ließ.3 Die Arbeiten Thomasius' und Hofmanns und insbesondere die durch Hofmann ausgelöste Kontroverse um eine differenzierte Interpretation der Gedanken des Reformators markieren einen theologiegeschichtlichen Neuansatz: Hofmann versuchte, Luthers Gedanken von der konfessionell-kirchlichen Theologie abzuheben und als eigene Autorität auch gegen die Lehraussagen der Bekenntnisse zu stellen. Damit provozierte er die Erlanger und andere deutsche Lutheraner.4 1 Karlmann Beyschlag, Die Erlanger Theologie (=Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns, 67. Bd.), Erlangen 1993; Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Die Erlanger Theologie, Grundlinien ihrer Entwicklung im Rahmen der Geschichte der theologischen Fakultät 1743— 1877, München 1960; ders., Gestalten und Typen des Neuluthertums, Beiträge zur Erforschung des Neokonfessionalismus im 19. Jahrhundert, Gütersloh 1968. 2 Johann Chr. Konrad v. Hofmann, Der Schriftbeweis, Ein theologischer Versuch, 2 Bde., Nördlingen 1852/55. Zweite, durchgängig veränderte Aufl. ebd. 1857/59 (nach dieser Ausgabe wird i. f. zitiert: „Schriftbeweis, 2. Aufl."). 1 Hofmann entwickelte die später mit Hilfe von Aussagen Luthers belegten Ansichten über die Versöhnungslehre im „Sechsten" und „Siebenten Satz" des 1. Teilbandes der zweiten Hälfte des Schriftbeweises (S. 186ff)· Die Debatte um Hofmanns Versöhnungslehre wird nachgezeichnet von Gunther Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit, Band 2, (=MUS 11/2) München 1986; unter der von Wenz aufgeführten älteren Literatur ist hervorzuheben Paul Wapler, Johannes v. Hofmann. Ein Beitrag zur Geschichte der theologischen Grundprobleme, der kirchlichen und politischen Bewegungen im 19. Jahrhundert, Leipzig 1914, 237ff; Bernhard Steffen, Hofmanns und Ritschis Lehren über die Heilsbedeutung des Todes Jesu (=BFChTh 14/1910, 5. Heft), Gütersloh 1910; Philipp Bachmann, J. Chr. K. v. Hofmanns Versöhnungslehre und der über sie geführte Streit (=BFChTh 14/1910, 6. Heft), Gütersloh 1910. Vgl. überdies K. Beyschlag, Erlanger Theologie, 73-77 und Friedrich Wilhelm Winter, Die Erlanger Theologie und die Lutherforschung im 19. Jahrhundert (=LKGG 16), Gütersloh 1995, 114-122. Allerdings geht Winter auf die Kontroverse zwischen Hofmann und Thomasius um die angemessene Interpretation der Versöhnungslehre Luthers und ihre Implikationen im Blick auf die weitere Lutherforschung nicht näher ein. 4 Vgl. dazu K. Beyschlag, Erlanger Theologie, 74f: „Das damalige Neuluthertum war der Hofmannschen Herausforderung jedenfalls nicht gewachsen". - „Hofmanns Anliegen - es setzt sich über Th. Harnack bis zu Elerts .Morphologie des Luthertums' fort - ging nicht dahin, dem

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Während Christoph Ernst Luthardt aus Leipzig 5 und Heinrich Schmid6 aus Erlangen Hofmann gegen diesen Angriff in Schutz nahmen, setzte sich auch sein Erlanger Kollege Gottfried Thomasius in einer kritischen Gegenschrift mit der Hofmann'schen Versöhnungslehre auseinander.7 Ihr gab Theodosius konfessionellen Luthertum im Namen Luthers den Prozeß zu machen, vielmehr allein dahin, die lutherische Theologie auf den echten Luther zurückzuführen. Nicht die kritische Lutherforschung, sondern die kirchliche Lutherautorität sollte eingebracht werden." Dazu auch F. W. Winter, Erlanger Lutherforschung, 72f, 119. - Der Rostocker Lutheraner Friedrich Adolf Philippi hatte sich zunächst im Vorwort der 2. Aufl. seines „Commentar über den Brief Pauli an die Römer" (Frankfurt a. M. / Erlangen 1856, Xf) gegen Hofmanns Interpretation gewandt. Hofmann antwortete in der Ζ. P. K. 31/1856, 175-192 mit dem Artikel „Begründete Abweisung eines nicht begründeten Vorwurfs", worauf Philippi eine eigene Schrift veröffentlichte: „Herr Dr. von Hofmann gegenüber der lutherischen Versöhnungs- und Erlösungslehre", Frankfurt a. M. / Erlangen 1856. Für Philippi war deutlich, daß Hofmann ausdrücklich verneine, „was die Kirche durch alle ihre Bekenntnisse hindurch einhellig und ausdrücklich bejaht". Dieser Widerspruch betreffe „nicht nur das lutherische, sondern auch das ökumenisch-katholische Bekenntniß, daß nämlich durch den Tod des Gottmenschen für die Sünde der adamitischen Menschheit der göttlichen Gerechtigkeit Genüge geleistet sei." Sein hartes Urteil begründete er damit, daß Hofmann „in der kirchlichen Versöhnungslehre die Lehre von der stellvertretenden Genugthuung und dem entsprechend in der kirchlichen Rechtfertigungslehre die Lehre von der Zurechnung der Gerechtigkeit Jesu Christi" tilge. Damit aber streiche er „eben die kirchliche Versöhnungs- und Rechtfertigungslehre selber, weil dieselbe eben in gar nichts Anderem als in diesen beiden, einheitlich miteinander verknüpften und sich gegenseitig fordernden Momenten selbst besteht. Er läugnet, daß das Blut des Sohnes Gottes dem Zorne Gottes als Lösegeld gezahlt worden ist, daß unser Herr und Heiland Jesus Christus die Schuld und Strafe unserer Sünden auf sich genommen und in seinem Tode gebüßt, und daß uns demnach Vergebung der Sünden oder Rechtfertigung nur dadurch zu Theil werde, daß wir im Glauben das allerheiligste und vollgültige Verdienst unseres Herrn ergreifen und uns so die durch sein unschuldiges, bitteres Leiden und Sterben, durch seinen Gehorsam bis zum Tod erworbene Gerechtigkeit zugerechnet werde." (Zit. nach Hofmann, Schutzschriften 1, S. 5; zu Philippis Angriff vgl. auch Ph. Bachmann, Hofmanns Versöhnungslehre (1910), 41ff). Hofmann wandte gegen Philippi das „Erste Stück" seiner „Schutzschriften für eine neue Weise, alte Wahrheit zu lehren, Die Versöhnung Gottes und Rechtfertigung des Menschen betreffend, und zwar, was ich angeblich über sie nicht lehre, in Wirklichkeit aber doch lehre, und angeblich über sie lehre, in Wirklichkeit aber nicht lehre." Sie erschien 1856 in Nördlingen, ist wiederabgedruckt bei K. Beyschlag, Erlanger Theologie, 225-248. 5 Die kirchliche Lehre von der Versöhnung nach altorthodoxer und nach Hofmann'scher Darstellung, 1858. Vgl. auch dessen Verteidigung Hofmanns gegen Angriffe Dieckhoffs und Kliefoths in seinem „Sendschreiben Dr. Luthardt's an Dr. v. Hofmann, das letzte Vierteljahresheft des fünften Jahrgangs der Kirchlichen Zeitschrift betreffend", in: ZPK 47, 1859, 224-272. 6 Dr. von Hofmann's Lehre von der Versöhnung in ihrem Verhältniß zum kirchlichen Bekenntniß und zur kirchlichen Dogmatik, Nördlingen 1856. 7 Das Bekenntniß der lutherischen Kirche von der Versöhnung und die Versöhnungslehre D. Chr. K. v. Hofmann's. Mit einem Nachwort von D. Th. Harnack, Erlangen 1857. Vgl. diesbezüglich auch die Ausführungen im dritten Band von Thomasius' Dogmatik: Christi Person und Werk, Darstellung der evangelisch-lutherischen Dogmatik vom Mittelpunkte der Christologie aus, Bd. 3, 1 der 1. Aufl.: Das Werk des Mittlers, Erlangen 1859, 257-281. Dort hat Thomasius nochmals die entscheidenden Punkte herausgestellt, in denen er von Hofmanns Anschauungen abwich, zunächst in seiner eigenen dogmatischen Beschreibung im Kap. I, § 57, S. 96-140. Hier geht Thomasius auf seinen Dissens zu Hofmann 133-140 ein. Die Anschauungen Luthers hat Thomasius als Abschnitt der „Geschichte der Versöhnung" 260-282 dargestellt und auch hier hervorgehoben (269), daß Luther auf die Lehre von der stellvertretenden Genugtuung entscheidenden Wert

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Harnack aus Dorpat ein Nachwort bei, weil sich die instruktive Erörterung Thomasius' so weitgehend mit seiner Ansicht decke, daß sich eine eigene Darstellung erübrige.8 An der aspektreichen Kontroverse9 soll hier nur die Frage nach den unterschiedlichen Deutungen von Luthers Versöhnungslehre interessieren, wie sie vornehmlich in der Hofmann entgegentretenden Darstellung von Thomasius und dem „Zweiten Stück" der „Schutzschriften" Hofmanns10 entworfen wurden. Beide haben in ihren Darstellungen lange Passagen der Versöhnungslehre Luthers gewidmet und kamen diesbezüglich zu diametral auseinanderliegenden Ergebnissen.11

lege: „Und erinnern wir uns an seine Lehre vom Zorn Gottes und von der richtenden Gerechtigkeit Gottes, so sieht man leicht, daß ihm diese Genugthuung nicht etwas Accidentielles ist, sondern eine wahrhaft centrale und fundamentale Bedeutung hat. Sie ist der Kern seiner Versöhnungs- und Erlösungslehre, denn ohne solche Satisfaktion wäre nach Luther die Menschheit rettungslos der Verdammniß verfallen, es gäbe zwischen Gott und ihr gar kein anderes Verhältniß, als das des diametralsten, ausschließenden Gegensatzes; erst auf Grund derselben ist in Christo Gnade und Leben für die Sünder und Erlösung von Tod und Teufel vorhanden." 8 Vgl. das Nachwort von Harnack bei Thomasius, Versöhnung, 113f. 9 Den Kern seiner Ansichten über die Versöhnungslehre, den Hofmann aus den biblischen Schriften und den kirchlichen Bekenntnissen, aber auch aus Luther-Schriften in seinem spezifischen theologischen Verfahren destilliert hatte, faßte er selbst in seinem Z.P.K.-Artikel von 1856 (S. 179f) zusammen: „Der dreieinige Gott hat sich in Folge dessen, daß sich der Mensch durch Satan's Wirkung zur Sünde hatte bestimmen lassen, welche ihn zum Gegenstande des Zornes Gottes machte, um das mit der Schöpfung gesetzte Verhältniß zwischen ihm und der Menschheit zur vollkommenen Liebesgemeinschaft zu vollenden, in den äußersten Gegensatz von Vater und Sohn begeben, welcher ohne Selbstverneinung Gottes möglich war, nämlich in den Gegensatz des um der Sünde willen der Menschheit zürnenden Vaters und des sündlos dieser Menschheit angehörenden, unter aller Folge ihrer Sünde bis in den durch Satan's Wirkung ihm widerfahrenen Tod des Verbrechers sich bewährenden Sohnes, so daß, nachdem Satan dieses Aeußerste an ihm gethan hatte, was er dem Sündlosen in Folge der Sünde zu thun vermochte, ohne etwas Anderes als die schlüßliche Bewährung desselben zu erreichen, nunmehr das Verhältniß des Vaters zum Sohne ein Verhältniß Gottes zu der im Sohne neu beginnenden Menschheit war, welches nicht mehr durch die Sünde des von Adam stammenden Geschlechts, sondern durch die Gerechtigkeit des Sohnes bestimmt war." (Zitiert nach G. Wenz, Versöhnungslehre 2, 41; das Zitat ist leicht verändert ebenfalls wiedergegeben bei Bachmann, Hofmanns Versöhnungslehre (1910), 37). 10 Johann Chr. Konrad von Hofmann, Schutzschriften für eine neue Weise, alte Wahrheit zu lehren, Zweites Stück, Christi Versöhnungswerk betreffend, und zwar, was die Kirche davon lehrt, und wie sich hiezu verhält, was ich davon lehre, Nördlingen 1857. Zwei Jahre später veröffentlichte Hofmann zwei weitere „Schutzschriften": „Drittes Stück, Christi Versöhnungswerk betreffend, und zwar, wie ich meine, daß man es die Unmündigen lehren soll." (Nördlingen 1859) und „Viertes Stück, Die Aufgabe der systematischen Theologie und der Schriftbeweisführung betreffend" (ebd.). 11 Thomasius stellte seinen Untersuchungen über die Frage, ob die Hofmann'sche Interpretation der Versöhnungslehre den Bekenntnissen der Reformationszeit und damit dem Desiderat der „Kirchlichkeit" gerecht werde, zunächst eine grundsätzliche Untersuchung voran, wie sich eine solche Frage überhaupt sinnvoll beantworten lasse (Versöhnung, 1-6). Es müsse dabei das Bekenntnis sorgfältig geprüft und „genau ermittelt werden, was eigentliche Bekenntnißsubstanz ist, und erst wenn dieß geschehen, kann geurtheilt werden, ob eine theologische Darstellung ihm entspreche oder nicht." (2) Dementsprechend widmete er sich zunächst eingehend den älteren

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Thomasius hob summierend hervor, bei Luther finde man „keine doctrinelle Entwicklung unseres Dogma, wohl aber einen Reichthum von Anschauungen und eine Fülle einzelner, in die Tiefe gehender Gedanken, im Zusammenhang einerseits mit seinem tiefen Bewußtsein von dem richtenden Ernst des Gesetzes und der göttlichen Gerechtigkeit, von der Sünde und der Todesschuld, andererseits mit seiner Lehre von der Person des Erlösers."12 Wie aber ließen sich diese vielfältigen Äußerungen pointierend systematisieren? Einleitend betonte Thomasius, daß Luther in seinen „mannigfaltigen Darstellungsweisen" den Ausgangspunkt „gewöhnlich von der Rechtfertigung" nehme. Diese aber habe „an der Versöhnung durch den Tod Christi ihren objektiven Grund; sie ist die causa meritoria derselben".13 Die Notwendigkeit dieser objektiven Voraussetzung habe Luther mehrfach erwiesen, wie etwa in einer Epistelpredigt von Neujahr 152214 zu erkennen sei. Luther betone darin, daß Gott uns unsere Sünden „aus lauter Gnaden" nicht zurechne. Doch er habe dies nicht tun wollen, „seinem Gesetz und seiner Gerechtigkeit geschehe denn zuvor aller Dinge und überflüssig genug". Dem „ewigen Zorn Gottes, den wir mit unsern Sünden verdienet", habe aber niemand anders als Gottes Sohn selbst „Abtrag thun" können, und zwar indem dieser „an unsere Statt trete, unsere Sünden auf sich nehme, und als selbstschuldig dafür antwortet".15 Die gleiche Anschauung finde sich auch andernorts in Luthers Schriften, vornehmlich im Galaterkommentar 1531/35, wo Luther von einem „Tausch" handle: „Christus tritt ganz an unsere Stelle im Gericht; er wird was wir sind, leidet, was wir leiden sollen, und schenkt uns dagegen seine Unschuld und Gerechtigkeit."16 Aus der Exegese von Luthers Auslegung zu Gal. 3, 13 aber sei zu folgern, daß „die Versöhnung wesentlich in der dem Gesetz geleisteten Genugtuung" bestehe: „Dadurch, daß Christus des Gesetzes Fluch an unserer Stelle trug, hat er ihn für uns aufgehoben."17 Es sei, so hatte Thomasius auch in

kirchlichen Bekenntnissen, in deren Zusammenhang er auch die Anschauungen der Reformatoren untersuchte. 12 Thomasius, Versöhnung, 22. 13 Thomasius, Versöhnung, 22. 14 Thomasius zitiert Luther - wie Hofmann - nach der ersten Erlanger Ausgabe oder, wie etwa den Gal-Kommentar von 1531/35 nach der „ersten Walchschen Ausgabe", Bd. VIII, 1522-2855. (D. Martin Luthers sowol in Deutscher als Lateinischer Sprache verfertigte und aus der letztern in die erstere übersetzte Sämtliche Schriften, 1. Aufl. hg. von Johann Georg Walch, Halle i. Magdeburgischen 1740-1753). Die hier erwähnte Predigt (E1, Bd. 7, S. 298) ist eine in der Weihnachtspostille von 1522 enthaltene Auslegung von Gal 3, 23-29, vgl. WA 10/1 1, 449-503. Die von Thomasius wiedergegebene Passage findet sich 468, 16ff. 15 Thomasius, Versöhnung, 24. Die Zitate sind Wiedergabe von Thomasius' Luther-Paraphrase. Im Bd. 3, 1 seiner Dogmatik hat Thomasius darauf hingewiesen, daß in dieser Fassung der kirchlichen Lehre von der Versöhnung „die Theorie Anselm's, ihrer Mängel und Einseitigkeiten entkleidet, selbst erst zu ihrer vollen Wahrheit kommt" (116). 16 Thomasius, Versöhnung, 26. Er gibt hier in deutscher Übersetzung die Passage WA 40/1, 435, 21ff (Auslegung zu Gal 3, 13) wieder, in der Luther auch auf Jes 53, 6 eingeht. 17 Thomasius, Versöhnung, 30. Auch hier wechseln sich Zitate nach der ersten Erlanger

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seiner Dogmatik hervorgehoben, von Luther durchgängig die Notwendigkeit der Satisfaktion und der stellvertretenden Genugtuung Christi betont worden. Diese gewinne für den Reformator „wahrhaft centrale und fundamentale Bedeutung".18 In diesem Kontext sei auch die Überwindung des Teufels zu verstehen, die Luther in diesem Zusammenhang oft beschreibe: Die „Ansicht der Väter von der Ueberwindung des Teufels auf dem Rechtswege oder von dem Selbstbetrug, mit dem sich der Teufel selbst betrog, als er Jesum dem Tode überantwortete", habe Luther zu einem „Rechtshandel" ausgemalt, in dem der Teufel an der überlegenen Gerechtigkeit Christi gescheitert sei.19 Luthers Sicht der Gerechtigkeit Gottes sei also durchweg konstitutiv für das Verständnis der Versöhnungslehre Luthers. Er gehe in seinen mannigfachen diesbezüglichen Äußerungen „allen Beziehungen und Wirkungen nach, welche Christi Tod nach oben und nach unten hin hat; aber die Versöhnung mit Gott durch die stellvertretende Genugthuung bildet ihm doch das Centrum für alle diese Radien."20 Insofern deckte sich der aus den Luther-Schriften gewonnene Befund für Thomasius mit dem „wesentlichen Inhalt des Bekenntnisses", den er in vier Sätzen programmatisch zusammenfaßte und gegen Hofmann wandte: Es sei auch bei Luther zunächst unzweifelhaft die Anschauung vertreten, „daß Christus die Schuld und Strafe unserer Sünden auf sich genommen und diese in seinem Leben und Sterben stellvertretend erlitten habe; Zweitens, daß er eben damit Gotte, näher der göttlichen Gerechtigkeit, die erforderliche Genugthuung für die Gesammtschuld und Sünde der Menschheit geleistet; Drittens, daß er durch diese Satisfaction den Zorn Gottes gesühnt und Gott mit der Welt versöhnt, und Viertens, ihr damit die Gnade Gottes, die Gnade der Sündenvergebung und Rechtfertigung erworben habe, welche dann dem Einzelnen unter

Ausgabe des „D. Martini Lutheri commentarius in epistolam S. Pauli ad Galatas", 3 Bde., Erlangen 1843/44 mit denen aus der ersten Walch'sehen Ausgabe. Die Auslegung zu Gal 3, 13, aus der Th. mehrfach deutsch und lateinisch zitiert, findet sich WA 40/1, 432, 20ff. 18 Christi Person und Werk, Bd. 3, 1, 269. Vgl. dazu F. W. Winter, Erlanger Lutherforschung, 100-104. 19 Thomasius, Versöhnung, 30: „Der Teufel hat, indem er Christum, den Heiligen und Göttlichen, erwürgte, sein Recht und seine Gewalt, die er an die Menschheit hatte, mißbraucht, so verliert er nun beides; die Sünde hat Christum, den Gerechten, mit Unrecht angeklagt und verdammt, so bringt sie sich selbst um ihre verdammende Macht; das Gesetz hat ihn, weil er mit unsern Sünden beladen war, als Sünder erfunden und behandelt, damit ist es in's höchste Unrecht umgeschlagen und hat es seinen Anspruch an diejenigen, die Christo angehören, verloren." In seiner Dogmatik skizzierte Thomasius die Lutherische Anschauung von der pugna maxima 2 7 3 282, indem er mehrere Variationen des Kampfmotivs zitierte und dabei auch Luthers Anleihen bei Gregor d. Großen bemerkte (274f)· Er ordnete dabei die satisfactio-Tradition und die pugnaTradition einander zu, indem er jene Betrachtungsweise als Luthers „Lehre von der Versöhnung" von dieser als dessen „Begriff der Erlösung" abhob. Diese Terminologie ist noch im Bd. 4, 1 von Reinhold Seebergs Lehrbuch der Dogmengeschichte anzutreffen (s. u.). 20 Thomasius, Versöhnung, 33.

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der Bedingung des Glaubens zu Theil wird."21 Auch das Kampfmotiv, so Thomasius, müsse in Luthers Versöhnungslehre vor dem Hintergrund der theologischen Konstituente der Gerechtigkeit Gottes interpretiert werden, die eine Satisfaktion als Sühne verlange, um die ira Dei zu versöhnen. Hofmann widersprach der Darstellung Thomasius' zunächst allgemein darin, daß die Bekenntnisschriften, insbesondere CA IV, sich lediglich klar äußerten, „daß uns die Sünden vergeben werden um Christi willen, welcher mit seinem Tode für sie genuggethan". Es sei der CA aber „nicht darum zu thun, in wie fern sein Tod eine Genugthuung gewesen, sondern darum, daß dann die Genugthuung für unsere Sünden ein für alle Mal geschehen ist, und in keinerlei Weise erst durch uns zu geschehen braucht."22 Auf welche Weise Christus für die Sünden den Menschen durch seinen Tod eine Genugtuung erwirkt habe, werde auch durch die Apologie nicht eindeutig festgeschrieben. Hier sei (AC III 58) kein „stellvertretendes Strafleiden Christi in dem Sinne ausgesagt, daß an ihm die Sünde mit eben dem gestraft worden sei, was sonst die nun durch ihn Versöhnten hätten erleiden müssen." Auch werde in der AC VI 43 nicht behauptet, „daß er den ewigen Tod selbst erlitten habe".23 Auch in den vielfältigen Äußerungen Luthers zu der Frage sei nichts zu finden, was in diesem Sinne zu interpretieren sei. Zunächst spreche Luther in den mannigfachen Belegstellen zur Versöhnungslehre „wohl zwanzig Mal von der Erlösung ..., ehe er ein einziges Mal das Wort Versöhnung gebraucht". Dieser Befund entspreche im übrigen dem in den neutestamentlichen Schriften, wo ebenfalls „Christi Werk insgemein als Erlösung bezeichnet wird, und nur selten als Versöhnung oder Sühnung".24 Tatsächlich war dies ein gewichtiger Interpretationsapekt der Theologie Luthers nach Hofmann: Der Reformator spreche weit engagierter von der erfahrbaren Wirkung des Werkes Christi, nämlich der durch Christus errungenen Erlösung als von einer „Versöhnung" des zürnenden Gottes. Und diese erfolge bei Luther keineswegs notwendig durch ein „stellvertretendes Strafleiden" Christi.25 Auch habe Luther - anders 21

Thomasius, Versöhnung, 93. Schutzschriften 2, 19. 23 Schutzschriften 2, 19. 24 Schutzschriften 2, 23. 25 Hofmann zitiert in den Schutzschriften 2, 34, die „Deutsche Auslegung des 67. (68.) Psalmes (Von dem Ostertag, Himmelfahrt und Pfingsten)", 1521 nach der 1. Aufl. der Erlanger Ausgabe, Bd. 39, 202 (Vgl. WA 8/1, 4-35), um zu belegen, daß der sündigen Menschheit die Gnade Gottes nicht dadurch erworben sei, „daß die Strafe ihrer Sünde in Christi Todesleiden stellvertretungsweise vollzogen ist". Zu derselben Anschauung gelangte er bereits in seiner exegetischen Überprüfung der betreffenden neutestamentlichen Texte im Schriftbeweis 2, 1, wie B. Steffen, Hofmanns und Ritschis Lehren, 67ff hervorhebt. So hatte er im Blick auf 1 Kor 15, 22 gefolgert, daß sich hieraus exegetisch keineswegs „die Bedeutung einer Stellvertretung" ergebe. Hier habe „der Apostel Christum nur ganz im Allgemeinen als den benannt, dessen Erscheinung und Geschichte Gotte dazu gedient hat, ihm die Welt zu versöhnen." (Schriftbeweis 2, 1, 328). Steffen (a.a.O., 70) interpretiert diese Hofmann'sche Exegese treffend: „Gott hat einmal in Christo die Welt mit sich versöhnt, nicht,dadurch daß' er ihr die Sünde nicht zurechnete, sondern 22

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als Anselm 26 - den Tod Jesu Christi in den Zusammenhang seines gesamten Lebens gestellt, somit als integrierenden Teil des Lebensgehorsams Christi interpretiert.27 Es sei in dieser „Darlegung Luther's ... Christi Tod nur gleicher Weise, wie seine Empfängniß und Geburt und sein ganzes damit anhebendes Leben, und nur als dieses Lebens gleichartiger Ausgang die Leistung, durch welche er Gottes Zorn von uns genommen hat". Von „einem stellvertretenden Leiden und Sterben, daß er den Tod der ewigen Verdammniß erlitten habe, den wir sonst hätten erleiden müssen", sei hier aber ebensowenig die Rede „als von einer stellvertretenden Empfängniß und Geburt".28 Unter den zahlreichen Texten, die Hofmann nach der „ersten Erlanger Ausgabe" der Werke Luthers29 zitierte, berücksichtigte er auch jene uns bereits begegnete Darstellung des Kampfmotivs aus der von Stephan Roth herausgegebenen Festpostille 1527, die auf den Thomastag 1521 datiert wird.30 In dieser Darstellung des Mächtekampfes, in dem Christus nach Roths LutherParaphrase in siegreichem Triumph „Gesetz, Sünde, Tod, Teufel und Hölle" überwunden habe „und ein Heerprangen daraus gemachet, wie Sankt Paulus

.anstatt' sie ihr zuzurechnen. (...) Von einer Strafe der Sünde ist damit nichts gesagt". - „Jesu Tod leistet nicht einer Notwendigkeit, sondern der Gnadenabsicht Gottes Genüge und ist für ihn der Durchgang zur Herrlichkeit, wie er aus der mit der Menschheit eingegangenen Gemeinschaft erwächst". 26 Vgl. Schutzschriften 2, S. 30: Für Anselm sei allein der Tod Christi „Leistung eines Ersatzes für unsere Bestrafung, welcher der Gerechtigkeit Gottes anstatt ihrer ein Genüge thut." 27 Dies folgerte Hofmann aus einer Wiedergabe der „Auslegung des andern Artikels des christlichen Glaubens von Jesu Christo" Ε 1 XX, 156ff (Gemeint sind die drei vermutlich am 16. u. 17. April 1533 gehaltenen Predigten, die unter dem Titel „Von Jesu Christo eine Predigt zu Hofe zu Torgau gepredigt" gedruckt worden sind. Sie sind wiedergegeben WA 37, 35-72; Die von Hofmann nach der Erlanger Ausgabe zitierten Passagen finden sich a. a. O., 56, 25ff). 28 Schutzschriften 2, S. 31. Ähnlich interpretiert Hofmann weitere Belege aus anderen Zusammenhängen: Luther mache „keinen Unterschied zwischen Christi Geburt und seinem Tode, als ob letzterer allein die Genugthuung für unsere Sünden gewesen wäre, noch kann er Christi Tod als einen stellvertretenden meinen, da er ihn eben so, wie seine Geburt, für uns geschehen sein läßt." (A. a. O., S. 32.) Diese Gedanken waren bereits in den exegetischen Passagen des „Schriftbeweises" ausgeführt. Ph. Bachmann, Hofmanns Versöhnungslehre (1910), 22f, faßt die frühen Hofmann'schen Ausführungen wie folgt zusammen: „H. entschlägt sich mit Bewußtsein und Absicht der Gewohnheit, die Leistung Christi so allgemein zu fassen, daß sie als die Gesamtheit des Menschengeschlechts erscheint, als ob Christus alles das geleistet und gelitten hätte, was die Menschheit hätte leiden und leisten sollen. Die Vorstellung einer stellvertretenden Genugtuung scheidet damit ohne weiteres und von selber aus." - „Das Wesentliche an der Leistung Christi" sei vielmehr „die Produktion einer in seiner Person verwirklichten Gerechtigkeit (Heiligkeit), welche von Gott als die gutmachende Leistung für die Sünde erachtet werden kann und wird und darum geeignet ist, das Heilsgut der Menschheit zu werden oder ihr den Zugang zur vollen Liebesgemeinschaft mit Gott zu gewähren." Es werde also mitnichten „ein Rechtsverhältnis dinglicher Natur" durchgeführt, sondern ein neues Gottesverhältnis werde „an uns hin vermittelt, daß wir etwas werden oder sind, was zu sein Gottes Liebeswille uns bestimmt hat." 29 Dr. Martin Luther's sämmtliche Werke, 1. Auflage, 65 Bände und zwei Registerbände, Erlangen 1826-1857. 30 Über Joh 20, 24-29, WA 17/11, 289-297. Hofmann zitiert nach E1 15, 56ff. Vgl. die Hinweise des Herausgebers Georg Buchwald WA 17/11, 518f.

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saget Kol 2,15",31 werde ausdrücklich dargelegt, „wie Christi Genugthuung zugegangen". Doch auch in dieser Predigt, so Hofmann, „lesen wir doch nichts von einer stellvertretenden Erleidung derjenigen Strafe, welche wir sonst hätten erleiden müssen, noch von einer dadurch geschehenen Sühnung unserer Sünden"; - auch der von Luther so oft beschriebene Mächtekampf sei nicht in diesem Sinne zu deuten. Dessen Interpretation sei vielmehr damit getroffen, daß Christus seine „Liebe Gottes und des Nächsten, welche seine Erfüllung des Gesetzes war", damit bewährt habe, „daß er den Anlauf der Sünde, des Todes und des Teufels wider sich ergehen ließ; dieser Anlauf war aber ein unberechtigter, weil er den betraf, welcher durch eben diese Liebe das Gesetz erfüllte; und deshalb hat er einen Sieg davon getragen über Sünde, Tod und Teufel, welcher sammt seiner Gesetzeserfüllung dadurch unser ist, daß er sich und das Seine uns geschenkt hat."32 Der zentrale Aspekt im erlösenden Werke Christi war also für Hofmann Gottes Liebe und der liebende Gehorsam Jesu Christi. Es sei bei Luther nichts zu spüren von der Form eines „Rechtsganges, wo Gott der strafende Richter, Christus der stellvertretungsweise Gerichtete wäre".33 Die gottfeindlichen Mächte, die lediglich unter Zulassung Gottes ihre Macht an Christus versuchen durften, hätten ihrem Herrn Unrecht getan, seien ihm deswegen unterlegen und sein Sieg werde nun als Erlösung den Glaubenden zugeeignet. Hofmann lag alles daran, die Einheitlichkeit des Gottesbildes zu wahren: Es könne nicht angehen, daß Gott als strafender Richter ein Sühnegericht über seinen Sohn verhänge und darin zugleich den Menschen seine Liebe erweise. In einem solchen Verständnis des Versöhnungswerkes liege ein unerträglicher Selbstwiderspruch Gottes, von dem bei Luther keine Spur zu finden sei. Luthers Darstellungen zeugten davon, daß die eigentliche gottfeindliche Intention nicht auf seiten Gottes, sondern bei den „Mächten" zu finden sei. Unter ihnen habe zuweilen, wie im Gal-Kommentar 1531/35, das Gesetz die Vormachtstellung inne,34 andernorts aber der Teufel.35 Luther verbinde gerade, indem er in seiner Versöhnungslehre den Aspekt der Überwindung des Teufels so stark hervorhob, „die beiden Gedanken, den anselmischen, daß Christus Gotte bezahlt hat, was wir ihm schuldeten, und den von Anselm abgewiesenen, daß er dem Teufel bezahlt hat, um was er uns gefangen hielt."36 Aber diese „Ueberwindung des Teufels, wie Luther sie meint", sei, so Hofmann, „mit einem stellvertretungsweise an Christo vollzogenen Strafgerichte

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Schutzschriften 2, 38. Schutzschriften 2, 39. 33 Schutzschriften 2, 41. 34 Hofmann zitiert den Gal-Kommentar in den Schutzschriften 2, 44-47, besonders instruktiv die Auslegung zu Gal. 4, 5. Die von ihm S. 45ff auf deutsch zitierte Passage findet sich WA 40/1, 564, 26ff (Dr). 35 Vgl. Schutzschriften 2, 61. 36 Schutzschriften 2, 62. 32

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unverträglich".37 Die „Versöhnung unserer Sünde" sei folglich ein Geschehen zwischen Gott und dem Satan, bzw. den feindlichen Mächten, eben nicht aber „ein Vorgang lediglich zwischen Gott und Christo".38 Nach Hofmanns Luther-Interpretation kam also keineswegs dem Zorn Gottes,39 sondern vornehmlich dem Teufel die Funktion einer Leitmacht unter den gottfeindlichen Mächten zu. Gerade in ihm als dem erklärten Gegenspieler Gottes enthülle sich der gottfeindliche Charakter der ihm unterstellten Mächte, der durch die Liebe Gottes in Christo besiegt und überwunden worden sei. Die prononcierte Hervorhebung des zu überwindenden Gesetzes, wie sie bei Luther ebenfalls zuweilen anzutreffen sei, zeige zudem, daß die Versöhnung keinesfalls legalistisch mißverstanden werden dürfe: Diese Mißdeutung verkenne den gottfeindlichen Charakter des Gesetzes. Nach Hofmanns Interpretation war die sich gegen die gottfeindlichen Mächte durchsetzende Liebe Gottes das systematische Zentrum in Luthers Schilderungen der pugna maxima. Mit diesen Divergenzen zwischen Hofmann und Thomasius sind im Blick auf unser Motiv markante Interpretationsaspekte formuliert: Hat Luther es unter positiver Adaption oder im Widerspruch zur Satisfaktionslehre Anselms reformuliert? Eignete dem Zorn Gottes oder dem Teufel die Funktion der „Leitmacht" unter den Verderbensmächten? Welche Funktion erhielt das Gesetz in seinem Verhältnis zur Liebe Gottes in Luthers Darstellungen des Kampfmotivs? Diese Fragen wurden in modifizierter Gestalt in der weiteren Forschungsdiskussion mehrfach reformuliert.40

3.2 Theodosius Harnack: Entdeckung des Gotteszornes Hofmanns Interpretation traf nach der Einschätzung des Dorpater Ordinarius Theodosius Harnack weder den Ernst der Rede Luthers vom Zorne Gottes, noch wurde sie dem umgreifenden systematischen Horizont des Versöhnungshandelns Gottes in Christo gerecht. Die weitere Diskussion um ein angemessenes Verständnis von Luthers Versöhnungs- und Erlösungslehre wurde fortan von seiner zweibändigen Darstellung bestimmt, welche 1862/1886 in Leipzig unter dem Titel „Luthers Theologie mit besonderer Beziehung auf seine 37

Schutzschriften 2, 63. Schutzschriften 2, 63. 39 Schutzschriften 2,65f. Er finde in den diesbezüglichen Stellen bei Luther lediglich, „daß es Gottes Zorn über Sünde und Sünder gewesen sei, welcher mit sich brachte, daß Christus das erlitt, was er erlitten hat, nicht aber ..., daß er Gottes Zorn nur dadurch habe versöhnen können, daß er, unsere Stelle vertretend, eben das erlitt, was sonst wir hätten erleiden müssen." 40 Zur Wirkungsgeschichte der Hofmann'schen Anschauungen auf Albrecht Ritsehl vgl. P. Wapler, Hofmann, 215, insbes. Anm. 1). 38

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Versöhnungs- und Erlösungslehre" erschien.41 Harnacks Werk, das neben den vorgestellten Arbeiten Hofmanns und Thomasius' auch die Studien von Ferdinand Chr. Baur42, Christian Hermann Weiße43 und Karl Friedrich Held44 berücksichtigte,45 setzte sich ein über die bisherigen Arbeiten hinausweisendes Ziel: Es komme bei der Luther-Interpretation darauf an, so Harnack, „sich in den Mittelpunkt seines Glaubens hineinzustellen und seine theologischen Grundanschauungen in Betracht zu ziehen, um von ihnen geleitet, seinen kühnen und reichen Expositionen nach allen Seiten hin sicher zu folgen und dieselben treu zu reproduzieren." Es gelte, „sich erst seiner Theologie nach allen denjenigen Hauptbegriffen zu vergewissern, mit denen Luther in jener seiner Lehre operiert und auf die er immer wieder zurückkommt."46

41 Sie wird i. f. nach der von Georg Merz und Wilhelm F. Schmidt besorgten, um ein Register vermehrten, 2. Auflage von 1927 zitiert. 42 Die christliche Lehre von der Versöhnung in ihrer geschichtlichen Entwicklung von der ältesten Zeit bis auf die neueste, Tübingen 1838. 43 In seiner Dissertation: M. Lutherus quid de consilio mortis et resurrectionis Jesu Christi senserit, Lipsiae 1845; Diese Abhandlung erschien in umgearbeiteter deutscher Fassung unter dem Titel: Die Christologie Luthers und die christologische Aufgabe der evangelischen Theologie. Zur dogmatischen Begründung der evangelischen Union, 1. Aufl. Leipzig 1852; 2., mit einer Abhandlung über progressive und conservative Union, Zusätzen und Verbesserungen vermehrte Ausgabe ebd. 1855. Weiße hat sich in der ersten Aufl. seiner Schrift ausgehend von Luthers Verständnis der „Gerechtigkeit des Glaubens" (6ff) entschieden dagegen ausgesprochen, dessen Versöhnungslehre mit dem Anselmischen Verständnis von der „vergeltenden Gerechtigkeit" Gottes zu vermengen, das sich in dessen Lehre von der Genugtuung und vom Opfer Christi ausspreche (17ff). Die Unterschiede gegenüber Anselm zeigten sich nicht nur in der von Luther übernommenen Vorstellung „von einem an den Teufel gezahlten Lösegeld" (28): Der „Kampf des menschgewordenen Gottessohnes mit dem Satan und mit allen Mächten der Hölle ist auch bei Luther die soteriologische Grundanschauung, die, von Anfang an, als ein Ergebniß seiner innersten, selbsteigenen Glaubenserfahrung in seiner Seele haftend, im Fortgange der Ausbildung seines theologischen Systemes immer mehr an Boden gewann, je gewaltiger die Kämpfe waren, die er bei der Durchführung des großen von ihm übernommenen Werkes so in seinem Innern, wie nach Außen zu bestehen hatte." (29) In diesem Zusammenhang aber werde als ein weiterer Unterschied gegenüber Anselm deutlich, daß „Luther wiederholt die Auferstehung Christi für den Hauptartikel des Christenglaubens" erkläre: „Die Predigt vom Leiden und Tod des Herrn" werde erst „durch den Inhalt der Osterpredigt aufgehoben und in Lust und freudigen Jubel verwandelt". (39) Insofern sei „nicht der Tod, sondern die Auferstehung Christi die eigentliche Erlösungst hat" (41), die aber nur durch die „Vereinigung der göttlichen und der menschlichen Natur in der Person des Erlösers" (40) ermöglicht werde. - Gerade mit diesen Hinweisen auf die Bedeutung der Auferstehung Christi hat Weiße wegweisende Anstöße für das Verständnis der Versöhnungslehre Luthers gegeben, der in den skizzierten Diskussionen der Erlanger Theologen wohl auch aufgrund der erklärten theologisch-kirchenpolitischen Intention des Verfassers kaum beachtet worden ist. 44 De opere Iesu Christi salutari quid M. Lutherus senserit demonstratur atque ex universa ipsius theologia illustrator, Theol. Liz.-Diss. Halle Wittenberg vom 18. Febr. 1860, unter diesem Titel gedruckt Göttingen 1860. 45 Vgl. zur Diskussion dieser Interpretationen, unter denen Harnack die Darlegungen v. Hofmanns und Weißes absprechend, Thomasius' dagegen i. w. zustimmend beurteilte, a. a. O., Bd. I, lOff und passim. 46 Luthers Theologie I, 11 f.

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Eine dieser Hauptkonstituenten, ohne die ein Zugang zu Luthers Theologie schlechterdings nicht zu finden sei, war für Harnack die Erkenntnis, daß Gott zur Welt in einer spannungsreichen, antagonistischen „Doppelbeziehung" stehe.47 Es sei, so Harnack bereits in der Disposition des ersten Bandes, für Luther „Gott und die Welt außer Christo" 48 von ihrer Phänomenologie „in Christo" 49 strikt zu unterscheiden. Im bestimmenden Zentrum der „Welt außer Christo" aber stand für Harnack der Zorn Gottes über die adamitische und die satanische Sünde. Dieser sei aus der göttlichen Gerechtigkeit, bzw. der Heiligkeit seiner Majestät abzuleiten. 50 Es müsse in einer Darstellung von Luthers Theologie unmißverständlich deutlich werden, mit „welchem erschütternden Ernst und mit welcher Energie Luther durchweg in seinen Schriften von dem Zorne Gottes zeugt". 51 Die „scheinbar kontradiktorischen Aussagen", in denen er gegen die Altgläubigen hervorhebe, daß Gott einzig ein Gott der Liebe sei,52 müßten in diesem Zusammenhang, im Weltverhältnis Gottes „außer Christo", zunächst unbedingt außer Betracht bleiben. Es komme entscheidend darauf an, „die Objektivität und Realität des göttlichen Zorns" als Tatsache anzuerkennen und die „objektive Wirklichkeit des Zorns in Gott nach seinem Weltverhältnis" keinesfalls zu schmälern. 53 Es sei folglich auch ein Mißverständnis, Luthers Rede vom Zorn Gottes a priori der Heilsökonomie zu subsummieren. Der Zorn Gottes über die Sünde sei nicht als Gottes opus alienum zu interpretieren, das letztlich dem Heilszweck des opus proprium zu dienen habe und ihm unterzuordnen sei. Ein solches, harmonistisch heilspädagogisches Verständnis werde Luthers Denken nicht gerecht: „Es ist klar, daß in diesem Zusammenhange an keinem Punkte für den Begriff der Strafe als Zucht- und Heilmittel Raum gegeben ist."54 Der unableitbare Zorn Gottes über die Sünde umgreift und übersteigt bei Harnack also den engeren systematischen Horizont der Versöhnungs- und Erlösungslehre. Er ist in den Tiefen von Luthers Gottesbild, zugleich als Grundkonstituente seiner Theologie wie als Erfahrungstatsache verankert. Der Dorpater Theologe hat die Gefahr eines daraus resultierenden „Dualismus zweier unendlicher Größen" in Luthers Gottesbild 55 selbst erkannt. 56 Der 47 S o im Titel des zweiten Kapitels im Bd. I des Harnack'sehen Werkes, nach dem systematisch konsequent im Kap. III die Frage nach der „Lehre von der Gnadenwahl" (Prädestination), vor allem anhand von de servo arbitrio behandelt wird ( 1 1 3 - 1 9 2 ) . 48 193-274. 49 277-362. 50 Vgl. Bd. I, 2 2 2 - 2 3 7 . 51 221. 52 222f. Harnack zitiert hier etwa eine Predigt von 1532 über 1. Joh 4 , 1 6 - 2 1 , W A 3 6 , 4 2 8 : „Bei Gott ist kein Zorn; er ist nicht ein Gott des Zorns." 53 Bd. I, 225. 54 248. 55 Bd. II, 67f. 56 Vgl. Otto Wolff, Die Haupttypen der neueren Lutherdeutung (=TSSTh 7), Stuttgart 1938, 66: Es sei zu fragen, ob Harnack „die organische Einheit im Gottesbegriff Luthers unter Festhal-

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Gegensatz zwischen Gottes Weltverhältnis außer Christo und demjenigen in Christo, sein Zorn und seine Liebe, drohten in einen nicht zu vermittelnden diastatischen Antagonismus zu münden, der offenbar auch für Hamack Luthers Grundintention zuwiderlief. Um dieser mißverständlichen Interpretation zu begegnen, griff er auf die immanente Trinitätslehre, bzw. den Gottesbegriff selbst zurück: Mit einem Zitat aus der Psalmenvorlesung 1534/35 („Deus solus sibi sufficit") wird begründet, daß Gottes Zorn seinen Raum allein in der operatio ad extra finde, dennoch aber begründet sei in der göttlichen Aseität.57 Die Diastase im Weltverhältnis Gottes „außer Christo" und „in Christo" findet ihre monistische Vermittlung somit im trinitarischen Miteinander der drei Hypostasen.58 Doch diese spekulative Vermittlung der sich zunächst diastatisch gegenüberstehenden Aspekte in Harnacks Interpretation von Luthers Gottesbild blieb eine untergeordnete Argumentation. Die materiale und gültige Ausgleichung erfolgte nicht mit Hilfe dieser Ableitung aus dem Gottesbegriff, sondern durch die „Versöhnung und Erlösung der Welt durch Christum"; ihr hat Harnack den zweiten Band seiner Darstellung gewidmet. Der systematische Aufbau dieses Bandes und die Gedankenfolge sind charakteristisch: Der durch die Sünde aufgerichtete Zwiespalt zwischen Gott und Mensch und die Diastase zwischen Gottes Zorn und seiner Liebe ergab eine „relative Notwendigkeit der Dahingabe des Sohnes":59 „Relativ", weil eine absolute Notwendigkeit mit dem Gottesbegriff unvereinbar sei. Gottes Freiheit, aber auch die Größe seiner Liebe seien „weit entfernt von aller Nötigung".60 Diese Liebe erschien im Erlöser Jesus Christus61, der als sündloser „Gottmensch"62 zum „Träger und Überwinder des

tung der Gegensätze nachzuverstehen und darzutun vermag". Er kam diesbezüglich zu einem negativen Ergebnis: bei Harnack werde „faktisch weder eine organische echte Einheit des Gottesgedankens erreicht noch die lebendige Spannung der Gegensätze wahrhaft gewahrt". Der Gottesgedanke klaffe dualistisch auseinander und das Zornmotiv gebe ihm „letztlich seine Färbung". 57 Bd. I, 231: „Die Selbstbejahung Gottes (die Liebe der Gerechtigkeit) und seine Selbsttreue (Wahrheit), diese ethische Bestimmtheit (Gutheit) seiner ewigen und allmächtigen Majestät ist die Gesetz und Regel... bestimmende Basis für sein Schöpferverhältnis". 58 Gerhard Rost, Der Zorn Gottes in Luthers Theologie, in: LRb 9/1961,2-32 (4), hat Harnacks Gedankenführung dahingehend kritisiert, sie stelle eine „an der geschichtlichen Offenbarung Gottes anknüpfende metaphysische Spekulation dar, durch die das Wesen Gottes begreiflich gemacht werden" solle. Auch Harnack räumte im Zusammenhang seiner Interpretation ein: „Luther selbst freilich drückt es nicht so aus." (Bd. I, 236). 59 Bd. II, 75-85. 60 Bd. II, 73. Dieser Gedanke, der sich bereits bei Anselm findet, zeigt, daß Harnack Luther mit Hilfe von dessen Schrift Cur Deus homo interpretierte: Vgl. Buch II, 5 (94): „Non enim haec est dicenda necessitas, sed gratia, quia nullo cogente illam suscepit aut servat, sed gratis." - Vgl. auch Buch II, 17 (135ff), wo Anselm das Axiom der „necessitas" für unvereinbar mit dem Gottesbegriff erklärt (zit. nach der Ausgabe von Franciscus Salesius Schmitt, Darmstadt 3. Aufl. 1970). 61 Der Titel des „Sechsten Buches" in Harnacks Darstellung lautet: „Jesus Christus der Erlöser" (89-193). Es handelt von „Christi Person" und den „beiden Ständen Christi". 62 Bd. II, 143-159.

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Konfliktes" wurde. Die Notwendigkeit einer Versöhnung von Gottes Zorn bezeichnet Harnack in seiner Interpretation von Luthers Theologie hinwiederum als „absolut"; - hierin postulierte er mit Thomasius gegen Hofmann eine Übereinstimmung zwischen Luther und Anselm: Die „Sühnung der Schuld, Stillung des Zorns" 63 konnte nach Harnacks Lutherbild als „geschichtliche Tatsache der Versöhnung" nur wirksam werden durch die „stellvertretende Genugtuung Christi". 64 Sie leiste - und hier kommt bei Harnack unser Kampfmotiv zu seiner Bedeutung - die „Erlösung von dem Zorne Gottes, von dem Fluche und dem Zwang des Gesetzes", sodann „von der Schuld der Sünde und von den tyrannischen Mächten". 65 So kommt in dieser wirkungstächtigen Darstellung von Luthers Theologie unser Kampfmotiv als Peripetie und Höhepunkt in der unausweichlichen, relativ und absolut notwendigen Vermittlung von Zorn und Liebe Gottes zu stehen: Im mythologischen Kampf der von Gottes gerechtem Zorn über die Sünde angeführten, zugleich göttlichen und gottfeindlichen Verderbensmächte mit der in Christus erschienenen Liebe Gottes erringt diese den Sieg, der dann in der Rechtfertigung den Glaubenden zugeeignet werden kann. 66 Damit ist das Kampfmotiv in Harnacks Darstellung allein vor dem Hintergrund der frühscholastischen Satisfaktionstheorie zureichend zu interpretieren. Erst angesichts der notwendigen Versöhnung des göttlichen Zorns gewinnt das duellum mirabile für Harnack seinen theologischen Ort und Sinn.67

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Bd. II, 242. Bd. II, 255ff. Dazu Anselm, Cur Deus homo II, XVIII, w o B o s o seinem Gesprächspartner Anselm einräumt: „Ad quod tu multis et necessariis rationibus respondens ostendisti restaurationem humanae naturae non debuisse remanere, nec potuisse fieri, nisi solveret homo quod deo pro peccato debebat." 65 Dies die Paragraphen-Titel im Kap. XIX: „Die Erlösung" (280ff). 66 Das achte und letzte Buch in Harnacks Darstellung trägt die Überschrift: „Christus unsere Gerechtigkeit" (Bd. II, 3 2 I f f ) . 67 Die Rezeptionsgeschichte der skizzierten Harnack'schen Darstellung von Luthers Versöhnungs- und Erlösungslehre, die Otto Wolff als „Zweisphärentyp" bezeichnet hat (Haupttypen, 63), würde eine eigene, detaillierte Studie lohnen: Die Kritik bei Albrecht Ritsehl und in der Ritschl-Schule, sodann die modifizierende und differenzierende Aufnahme in der Luther-Renaissance in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der schließlich auch die Radikalisierung der Harnack'schen Diastase und ihre Verbindung mit der Lehre von Gesetz und Evangelium, bzw. „Schöpfungsordnungen" und kirchlicher Verkündigung etwa bei Paul Althaus, Emanuel Hirsch und Werner Eiert zu beobachten ist. Vgl. dazu Heinrich Assel, Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance - Ursprünge, Aporien und Wege: Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Hermann ( 1 9 1 0 - 1 9 3 5 ) (=FSÖTh 72), Göttingen 1994; Reinhard Hauber, Die Lehre vom Zorn Gottes nach Werner Eiert, in: NZSTh 36/1994, 1 1 7 - 1 6 1 . 64

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3.3 Albrecht Ritsehl: Wahrnehmung der Gottesliebe68 Bereits im Vorwort zum zweiten Band seines Werkes, der bedingt durch persönliche Schicksalsschläge und Krankheit erst 1886, dreiundzwanzig Jahre nach dem ersten Teil in Leipzig erschien, hat sich Harnack fast ausschließlich und ausführlich mit den wirkungsträchtigen Arbeiten Albrecht Ritschis beschäftigt und gegen dessen Angriffe zur Wehr gesetzt. Er wandte sich hier neben anderen Kritikpunkten auch gegen jenen Teil von Ritschis Lutherinterpretation: „Gott sei die Liebe und zürne als solcher nicht, sondern lasse seine Gnade walten."69 Dagegen wollte der Göttinger Systematiker gegen die Ansichten der „konfessionalistischen" Lutheraner den eigentlichen reformatorischen Impuls Luthers herausarbeiten, um ihm in der Gegenwart zu seiner gebührenden Wirkung zu verhelfen.70 Diesem Zweck galt auch seine heftig umstrittene „Festrede am vierten Seculartage der Geburt Martin Luthers 10. November 1883", worin er ausführte:71 Luther sei einerseits „als Reformator der Kirche der Wegweiser zu der Deutung der Erlösung und ihrer Wirkungen geworden, welche nicht nur in den Urkunden des neuen Testaments hervorleuchtet, sondern auch als die gesunde Grundidee des Katholicismus nachgewiesen werden kann".72 Andererseits aber bleibe Luther vielfach hinter seiner ureigenen reformatorischen 68 Vgl. zum Folgenden Frank Hofmann, Albrecht Ritschis Lutherrezeption. Mit einer Bibliographie der neueren Literatur zu Ritsehl, Diss. Tübingen 1993 (vgl. jetzt auch die Druckfassung LKGG 19, Gütersloh 1998); besonders hilfreich ist die dort zusammengestellte Auflistung der Sekundärliteratur zu Ritsehl (319-337), die die ältere und unvollständige Bibliographie von Gösta Hök ablöst: Die elliptische Theologie Albrecht Ritschis nach Ursprung und innerem Zusammenhang, Uppsala/Leipzig 1942, XIII-XXXXIV; Karl Hammer, Albrecht Ritschis Lutherbild, in: ThZ 26/1970, 109-122. 69 Th. Harnack, Luthers Theologie II, S. 13. Vgl. dazu RuV I, 222. 70 Zu den Kontroversen, die Ritschis wirkungsträchtiger Ansatz auslöste, vgl. Moderne Theologie, Der Briefwechsel Adolf von Harnack - Christoph Ernst Luthardt (1878-1887), hg. u. eingeleitet von Uwe Rieske-Braun, Neukirchen-Vluyn 1996, 58ff. Auf die Bedeutung der Erkenntnistheorie für theologische Aussagen, die Ritsehl in seiner späteren Abhandlung Theologie und Metaphysik, Zur Verständigung und Abwehr, Bonn 1881, 2. Aufl. Bonn 1887, 3. Aufl. Göttingen 1902, herausgestellt hat und die auch für den Destillationsprozeß des „reformatorischen Proprium" wichtig ist, kann hier nur verwiesen werden. Vgl. dazu die treffende Feststellung von Bernhard Steffen, Hofmanns und Ritschis Lehren über die Heilsbedeutung des Todes Jesu, 50: „Ritsehl selber hat mit allem Nachdruck seine Gesamtanschauung vom Christentum auf seine Erkenntnistheorie zurückgeführt, obwohl er sich über die letztere erst ganz klar geworden ist, als sein System schon fertig vorlag. Daraus geht hervor, in wie hohem Grade er in ihr den Ausdruck seiner persönlichen Grundrichtung fand." 71 Die Festrede ist abgedruckt in dem Sammelband: Albrecht Ritsehl, Drei Akademische Reden am vierten Seculartage der Geburt Luthers 10. November 1883, zur Preisvertheilung 8. Juni 1887, zur Feier des 150jährigen Bestehens der Universität 8. August 1887 im Namen der Universität Göttingen gehalten, Bonn 1887; vgl. dazu F. Hofmann, Ritschis Lutherrezeption, 211-224. 72 Festrede 1883,7.

A l b r e c h t Ritsehl

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Erkenntnis zurück und bewege sich noch in Gedankengängen des mittelalterlichen Katholizismus; es lagere sich „eine Masse theologischer Ausführungen in den Schriften Luthers, in welchen die praktische Spitze oder das neue reformatorische Lebensideal außer Sicht bleibt." 73 Es sei auffallend, „daß Luther um seine eigene Heilsgewißheit immer wieder mit widerstrebenden mittelaltrigen Gedanken" zu kämpfen hatte, „die er im Allgemeinen als unrichtig erkannte". 74 Der reformatorische Impuls sei unter diesen Restbeständen mittelalterlicher Theologie verhängnisvoll verdeckt worden und bis ins 19. Jahrhundert nicht zu seiner vollen Wirkung gelangt. Insbesondere in den Werken der repristinierenden orthodoxen und modernen Lutheraner werde deutlich, daß der Protestantismus bislang „aus der Epoche der Kinderkrankheiten nicht herausgetreten" sei.75 Ritschis eigener und wirkungsträchtiger Versuch, das Proprium der Reformation systematisch zu entwickeln, ähnelte im methodischen Ansatz durchaus dem Entwurf Th. Harnacks: Auch er wollte die lutherische Theologie als Prinzip des Protestantismus, ausgehend von der „Mitte des theologischen Systems" interpretieren, als die er die „christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung" bestimmte. 76 Die Interpretation der Versöhnungslehre Luthers gab Ritsehl im ersten Band von R u V vor dem Hintergrund der Theologiegeschichte der bisherigen Rechtfertigungs- und Versöhnungslehre, speziell des Mittelalters. Die Grundzüge seiner Ansicht vom „reformatorischen Grundsatz von der Rechtfertigung durch Christus im Glauben" 77 und die „Principien der reformatorischen Lehre von der Versöhnung" 78 hat er jedoch bereits zuvor in einer detaillierten Analyse im Rahmen einer Aufsatzreihe unter dem Titel „Geschichtliche Studien zur christlichen Lehre von Gott" 7 9 entwickelt. Hier begründete Ritsehl seine etwa in der Festrede von 1883 nicht näher erläuterte These, w o und inwiefern Luther mit manchen Gedankengängen noch in den Bahnen der spätmittelalterlichen Theologie wandele, „wenn auch die in ihm wiederklingenden nominalistischen Motive durch die reformatorische Genialität des Mannes modificirt und zu Mitteln seiner neuen Gedankenbildungen herabgesetzt erscheinen." 80 Nicht nur in der Abendmahlslehre "

Festrede 1883, 17. Festrede 1883, 28. 75 Festrede 1883, 27. 76 RuV I, 1. Die drei Bände seines Hauptwerkes erschienen in erster Auflage 1870/1874 in Bonn. Erster Band: Die Geschichte der Lehre; Zweiter Band: Der biblische Stoff der Lehre; Dritter Band: Die positive Entwicklung der Lehre. Die zweite, verbesserte Auflage erschien 1882/83 in Bonn. Sie wurde 1978 (Hildesheim / New York) nachgedruckt. Nach dieser Ausgabe wird „RuV I, II, III" zitiert. 74

So der Titel des vierten Kapitels in RuV I, 141. So der Titel des fünften Kapitels in RuV I, 217. 79 In den Jahrbüchern für Deutsche Theologie: Erster Artikel, 10. Bd. Gotha 1865, 277-318. Zweiter Artikel,13. Bd. Gotha 1868, 67-133. Dritter Artikel, 13. Bd. 1868, 251ff. 80 Geschichtliche Studien 2, 69. 77

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bewege er sich weitgehend „auf dem Boden der scholastischen Theologie",81 sondern - folgenreicher noch - in seiner Lehre von Gott. Ins Zentrum seiner diesbezüglichen Lutherinterpretation rückte Ritsehl Luthers Schrift vom unfreien Willen. Auch Th. Harnack habe festgestellt, daß „die Schrift de servo arbitrio durch zwei verschiedene Gottesbegriffe beherrscht" sei.82 Bekanntlich entwickele Luther darin gegen Erasmus die Anschauung, daß Gott sub specie contraria handele und den Sinn dieses Handelns nur dem Glauben enthülle: So bleibe „seine ewige Barmherzigkeit unter ewigem Zorne, seine Gerechtigkeit unter Unbilligkeit" verborgen.83 Hier werde das Bild eines in seinem Zorn strafenden Gottes entwickelt, der für Menschen Unbegreifliches wirke und dem des offenbaren Gott gegenübergestellt, der sich in Christo als Liebe zu erkennen gebe. Doch mit dieser Unterscheidung des verborgenen und des offenbaren Gottes sei Luther 1525 viel zu weit gegangen. Es sei deutlich, „daß obgleich Luther einmal erklärt hat, der verborgene, auf das Schicksal der Einzelnen gerichtete Wille Gottes als verborgene und unerforschliche Größe gehe uns nichts an, er doch auch dies Gebiet des göttlichen Wirkens mit Ehrfurcht und religiösem Interesse umfaßt."84 In seinem diesbezüglich fehlgeleiteten Verständnis der Allmacht Gottes „stimme Luther fast wörtlich mit Biel überein"85, und hier dürfe man ihm nicht folgen: Er selbst werde, so Ritsehl, den Deus absconditus und die „Verschlossenheit jenes Gebietes für das Verständniß der Menschen in der Weise ehren, daß wir nur unsere Ahnung über die Grenze des offenbaren Heilswillens Gottes nach dem Hintergrunde seiner Allwirksamkeit hinüberschweifen lassen, um sie alsbald wieder unter die Gewißheit der Gnade Gottes in Christus zu beugen und weitergehende Fragen dadurch zu unterdrücken."86 Denn die „neue Theologie der Reformation" gründe auf der „Lehre vom offenbaren 81

Geschichtliche Studien 2, 74. Geschichtliche Studien 2, 79. 83 Geschichtliche Studien 2, 83. 84 Geschichtliche Studien 2, 86. 85 Geschichtliche Studien 2, 88. D i e Übereinstimmung zeige sich namentlich darin, „daß der Wille Gottes in seiner Allwirksamkeit in den Menschen zum Guten w i e zum Bösen keinen Grund habe, daß Gott an kein Gesetz gebunden, sondern sein Wille nur darum göttlich sei, weil er die oberste Richtschnur für Alles biete, daß nicht etwas gut und gerecht ist, sofern es Gottes Willen im Voraus bestimmt, sondern sofern es von Gott gewollt ist." 86 Geschichtliche Studien 2, 86. Mit diesem Vorschlag nahm R. eine Unterscheidung des Erasmus auf, der in seiner Einleitung zu „De libero arbitrio" ebenfalls zwischen Artikeln und Lehrsätzen differenzierte, die für das christliche Leben zu beachten und zu lernen seien, und jenen weitergehenden, wie etwa die nach der gottgewirkten necessitas allen Geschehens, deren Erörterung keinen Nutzen für die Seligkeit verspreche: „Haec omnibus ediscenda sunt, cetera rectius deo committuntur et religiosius adorantur incognita, quam discutiuntur impervestigabilia." (Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften, Vierter Band, De libero arbitrio DIATRIBE sive collatio - Gespräch oder Unterredung über den freien Willen; Hyperaspistes Diatribae adversus servum arbitrium Martini Lutheri. Liber primus. Erstes Buch der Unterredung ,Hyperaspistes' gegen den .Unfreien Willen' Martin Luthers", hg., übersetzt und eingeleitet von Winfried Lesowsky, Darmstadt 1969, 14). 82

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Gott, der durch Christus und die ganze Heilsgeschichte als allgemeiner Wille der Gnade, als Liebe erkannt wird." Dagegen habe Luther die „Lehre vom verborgenen Gotte... in doctrinärer Verfolgung eines secundären theologischen Momentes mit der Gottesidee der nominalistischen Schule ausgestaltet". 87 Ihm selbst sei „die Verschiedenartigkeit dieses Lehrelementes von seinen eigentlichen Grundsätzen der Theologie verborgen geblieben, und der Widerspruch, den wir uns nicht verbergen können, ist ihm nicht klar geworden". 88 Diesem Interpretationsansatz ist Ritsehl in der Luther-Interpretation seines Hauptwerkes gefolgt. 89 Er hatte weitreichende Folgen auch für die Analyse und Bewertung des Kampfmotivs in Luthers Versöhnungslehre. In RuV erneuerte Ritsehl seine in den „Geschichtlichen Studien" vorgetragene Interpretation zu De servo arbitrio 90 und wandte sich auch unserem Kampfmotiv zu. Er skizzierte, daß in diesem gedanklichen Zusammenhang die gleiche Inkonsequenz wie in De servo arbitrio zu analysieren sei. Auch hier werde deutlich, daß gemäß Luthers „Begriff der retributiven Gerechtigkeit Gottes ... das den Menschen verliehene Gesetz der Gerechtigkeit Gottes entspricht, und Gott als der Gerechte auf dessen Erfüllung durch die Menschen hält". So hasse Gott „aus seiner Art die Sünde und strafe dieselbe nothwendig. Und indem Christus zum Zweck der Befreiung der Menschen von dem verdammenden Zorne Gottes sich den Strafen, dem Zorne, dem Fluche unterworfen hat, so ist der göttlichen Gerechtigkeit genug geschehen, und der Tod ist im Recht überwunden worden. So hat Christus aus dem zornigen Richter einen barmherzigen Gott gemacht". 91 Auch mit dieser Übernahme „der im Allgemeinen der patristischen Ueberlieferung entsprechenden aber sie verschärfenden Formel" sei Luther in seinem an De servo arbitrio beobachteten Selbstwiderspruch befangen geblieben: Von einem wirklichen, der „retributiven Gerechtigkeit" entspringenden Zorn Gottes könne ausgehend von dem Gerechtigkeitsbegriff, der dem offenbaren Gott in Christus und Luthers Rechtfertigungserkenntnis entspreche,

87

Geschichtliche Studien 2, 88. Geschichtliche Studien 2, 90f. Den Antagonismus in den auch andernorts variierten Aussagen Luthers über den Deus absconditus und den Deus revelatus hat auch Julius Köstlin, Luthers Theologie in ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrem inneren Zusammenhange dargestellt. 2. Bd. der 3. Aufl. Darmstadt 1968, 63, hervorgehoben, ist dabei aber nicht auf Ritschis Deutung, sondern die des ihm nahestehenden Hermann Schultz eingegangen: „das Göttliche, wie es an sich ist, reicht immer unendlich weit über ihr Verständnis hinaus; ja, wir werden fragen müssen, ob nicht in den von Luther vorgetragenen Gedanken über Gott geradezu ein unlösbarer und auch nach seiner eigenen Meinung nicht zu lösender Widerspruch vor uns stehen bleibt." 89 Luthers Versöhnungslehre behandelt Ritsehl in RuV I, 218-235. 9 " RuV I, 220f. Sein Fazit: „Die Schrift Luther's de servo arbitrio ist und bleibt ein unglückliches Machwerk. Ihre befremdenden Elemente hat Luther selbst niemals wiederholt; indessen hat er doch nur indirect sich von ihnen losgesagt, indem er seinen ursprünglichen reformatorischen Gesichtspunkt wieder ergriff, daß man nur in seiner Offenbarung Gott erkennen könne und die Fragen zu meiden habe, welche unter die verborgene Majestät Gottes fielen." " RuV I, 221 f. 88

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nicht die Rede sein. Dann müsse gelten: „Allein die richtige aus dem Vertrauen auf Gott mögliche Erkenntniß besteht in der Erfahrung, daß Gott den Sünder liebt, ihm niemals in dem Sinne gezürnt hat, daß er ihn hat verdammen wollen, sondern nur in dem Sinne einer liebevollen Warnung und Anregung zur Buße." Im Lichte von Luthers eigenen Aussagen über die Liebe des Deus revelatus, „in der Erfahrung der Versöhnung mit Gott" ergebe sich, „daß der Mensch auch als Sünder niemals der Liebe Gottes entbehrt, daß er vielmehr als bekehrter Sünder in dem scheinbaren Zorne Gottes doch nur Beweise seiner zuvorkommenden Gnade empfangen hat."92 Eine solche „Veränderung der Begriffe vom Zorn Gottes und seiner Gerechtigkeit", dessen war sich Ritsehl klar bewußt, müsse auch „eine erhebliche Veränderung in der Lehre von der Sünde und von der Versöhnung durch Christus nach sich ziehen". Zunächst würde die Sünde nicht länger „als die einförmige in sich selbst gleiche Bestimmtheit aller Menschen gedeutet werden können". Damit aber falle eigentlich auch die Notwendigkeit für Luthers Übernahme des Kampfmotivs dahin: Denn wenn Gottes Zorn gegen die potentiell sündigen Menschen „nur den Schein von Verdammniß mit sich führt, so braucht auch Christus, um die Menschen zum Vertrauen auf Gott zu erlösen, nicht wirklich seiner Gerechtigkeit genug zu thun, oder die Verdammniß der Menschen an ihrer Stelle zu ertragen."93 Obwohl mit diesem Gedankengang nach Ritsehl das Kampfmotiv in Luthers Theologie letztlich als obsoletes und mit seinem reformatorischen Impuls unvereinbares Relikt des Mittelalters zu stehen kam, erkannte Ritsehl gerade in diesem Kernstück von Luthers Versöhnungslehre noch weitere Defizite: Denn Luther habe die „Correlate der retributiven Gerechtigkeit oder des Verdammungszornes Gottes, nämlich Gesetz und Tod, Teufel und Hölle ... oft genug als selbständige gottwidrige Mächte dargestellt." In diesem Zusammenhang gerate „folgerecht die Darstellung der Erlösung durch Christus in die Analogie mit dem patristischen Mythus von dem Rechtshandel mit dem Teufel, beziehungsweise seiner Ueberwindung durch die Unterwerfung Christi unter seine Mächte. Demgemäß versteht Luther die Genugthuung, welche Christus geleistet, nicht als etwas, was für Gott nöthig wäre, sondern als Leistung an jene Mächte." Auch hier aber sei „keine Verbesserung im Vergleich mit der mittelaltrigen Theologie" zu spüren. Es liege vielmehr nur eine weitere Inkonsequenz Luthers vor, und es sei lediglich „eine unsichere und unverständliche Veränderung der juristischen Haltung in der Versöhnungslehre, wenn Luther durchscheinen läßt, daß Christus eigentlich doch nicht von Gottes Zorn getroffen, von ihm verdammt und verlassen worden sei, weil er wie viele Heilige neben der maledictio externa die benedictio interna erfahren habe."94 92 93 94

RuV 1,222. RuV 1,223. RuV 1,224. Vgl. dazu das Fazit von F. Hofmann, Ritschis Lutherrezeption, 303: „Ritsehl hat

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Mit dieser Deutung hatte Ritsehl eine Reihe von provozierenden Fragen aufgeworfen, die das Zentrum von Luthers reformatorischer Theologie berührten: Er insistierte völlig zu Recht darauf, daß Luther vor dem Hintergrund der spätmittelalterlichen Theologie zu interpretieren sei. Doch fraglich wurde damit eben auch, welche seiner Gedanken zu seinen „mittelalterlichen Eierschalen" 95 gehörten, wie sie sich zu seinem reformatorischen Impetus verhielten und wie festzustellende Gemeinsamkeiten zu beurteilen seien. Waren, wie Ritsehl behauptete, auch das Kampfmotiv und seine Implikationen für die Sünden-, Versöhnungs- und Erlösungslehre letztlich mit seiner reformatorischen Erkenntnis unvereinbare Reste der noch nicht überwundenen mittelalterlichen Theologie? Mit dieser Abwertung des mythologischen Kampfmotivs, aber auch mit seiner theologischen Ablehnung einer fortbestehenden ira Dei sowie einer retributiven Gerechtigkeit Gottes setzte Ritsehl in der weiteren Diskussion um die angemessene Lutherinterpretation wirkungsträchtige Akzente, auch dort, wo seine Arbeiten nicht explizit aufgegriffen wurden.

3.4 Reinhold Seeberg: Lutherdeutung und „modern-positive"

Theologie

Im Blick auf die aufgeworfenen Aporien und Kontroversen in den Lutherdeutungen Hofmanns und Thomasius', Th. Harnacks und Ritschis lohnt ein Blick auf die Darstellung Reinhold Seebergs. Er fühlte sich einerseits dem Erbe der „Erlanger Theologie" verpflichtet. Zum anderen aber zeigte er sich bemüht, die Anforderungen an eine moderne, zeitgenössisch überzeugende Theologie in maßvoller Weise zu erfüllen: Sein theologisches Programm äußerte sich im Konzept einer „modern-positiven Theologie". 96 die systematische Struktur von Luthers Denken nicht hinreichend erfaßt". Auch seine „Ablehnung der Rede vom Zorn Gottes" beruhe „auf einer nur partiellen Wahrnehmung der religiösen Erfahrung". 95 Vgl. die ähnliche Formulierung Ritschis in Geschichtliche Studien 2, 90. 96 Vgl. zur Einordnung Reinhold Seebergs in die theologiegeschichtliche Entwicklung des 19. Jhdts. ders., An der Schwelle des zwanzigsten Jahrhunderts. Rückblick auf das letzte Jahrhundert deutscher Kirchengeschichte, Leipzig 1900; von der 4. Aufl. an unter dem Titel: Die Kirche Deutschlands im neunzehnten Jahrhundert, Leipzig 1903, 3. Aufl. 1910. Hier äußert sich Seeberg zu den „dogmatischen Aufgaben der Gegenwart", insbesondere 327ff: „Es wird daher nützlich sein zu betonen, daß eine moderne positive Theologie eines der dringendsten Bedürfnisse der Kirche ist" (334). Vgl. ders., Art. „Reinhold Seeberg. Die wissenschaftlichen Ideale eines modernen Theologenlebens und die Versuche ihrer Verwirklichung", in: Erich Stange (Hg.), Die Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 1, Leipzig 1925, 173-206. Überdies Robert Jelke, Das religiöse Apriori bei Reinhold Seeberg, in: Reinhold-SeebergFestschrift, Hg. Wilhelm Koepp, Bd. I: Zur Theorie des Christentums, Leipzig 1929, 81-97; Traugott Jähnichen, Art. „Seeberg, Reinhold", in: BBKL, Bd. IX, Sp. 1307-1310; Eberhard Poch, Modern und positiv. Die Verantwortung der Theologie gegenüber ihrer Sache und ihrer Zeit in Reinhold Seebergs dogmatischem Denken, Marburg 1973.

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Die Seeberg'sche Lutherinterpretation findet in seinem „Lehrbuch der Dogmengeschichte" im Band 4,1, der sich der „Lehre Luthers" widmete.97 Hier stellte Seeberg die Versöhnungslehre Luthers im Abschnitt zur „Christologie, Trinität, Werk Christi"98 auf konzisen zwölf Seiten dar, berührte die hier behandelten Aspekte aber auch in anderen Teilen seiner Darstellung. In der einleitenden Passage zur Darstellung vom „Werk Christi" unterschied der Berliner Systematiker die „erlösende" und die „versöhnende Tätigkeit Christi": „In dem einen Fall befreit Christus von der Sünde und dem Teufel, in dem anderen versöhnt er den Vater."99 Zwar räumte Seeberg in der kommentierenden Anmerkung zu dieser Differenzierung ein, daß „die Abgrenzung" von beiden Aspekten an den Texten Luthers „nicht ganz sicher" zu treffen sei. Doch ließen sich die beiden Perspektiven des Heilswerkes Christi einander „wie das Mittel zum Zweck" zuordnen: „Der positive Zweck des Wirkens Christi war, die Menschheit seiner Herrschaft zu unterwerfen und dadurch zu erneuern und zu beseligen. Dieser Zweck konnte aber nur so realisiert werden, daß der Zorn Gottes zuvor gestillt oder Gott Genugtuung für die Sünde dargebracht wurde."'00 Den übergeordneten Leitgedanken Luthers erkannte Seeberg mit deutlich vernehmbarem Anklang an Ritschis Deutung somit in der „Herstellung des Reiches Gottes"101. Doch betonte er mit Thomasius und Th. Harnack nachdrücklich, daß für Luther der stellvertretenden Genugtuung Christi als Mittel für diesen Zweck ein unabdingbar hoher Wert eigne: „Er hat sich als Priester zwischen Gott und die Sünder gestellt und hat sich selbst Gott als Opfer dargebracht. (...) Er ist Opfer und Bezahlung für der Welt Sünde."102 97

Berücksichtigt wird i. f. die 2. und 3., durchweg neu ausgearbeitete Aufl. Leipzig 1917. S. 179-200; Die Versöhnungslehre, bzw. das „Werk Christi" behandelt S. 188-200. 99 Seeberg, Dogmengeschichte 4, 1, 189. Diese Differenzierung ist auch bei Erich Seeberg anzutreffen, der aber das sachliche Gewicht stärker auf den Aspekt der Versöhnung legt, vgl. dazu Luthers Theologie in ihren Grundzügen, 2. Aufl. Stuttgart 1950, 95f: „Das Werk Christi tritt auch bei Luther unter die beiden Gesichtspunkte Versöhnung und Erlösung. (...) Dabei steht es logisch so, daß die Versöhnung der Erlösung vorausgeht, und sachlich verhält es sich so, daß der Versöhner, der von Schuld und Sünde befreit, Größeres tut als der Erlöser, der uns von ,Pein und Tod' losmacht. Die Versöhnung macht die Kräfte frei, in deren Wirken sich die Erlösung realisiert. Ohne Versöhnung keine Erlösung!" 100 Seeberg, Dogmengeschichte 4, 1, 191; zum Zorn Gottes vgl. 173ff. Hier betont Seeberg, es sei „Gottes Wesen, daß er das Böse und die Bösen haßt und straft" (173). Dies gelte allerdings nur für den Menschen unter dem Gesetz. Unter der Gnade, in Christo, sei Gottes Zorn gänzlich überwunden (175): „Vom Standpunkt des Christen her ist der Zorn Gottes überhaupt nur eine Anfechtung und Fiktion. (...) Wir haben also eine doppelte Betrachtungsweise bei Luther. Wo Gott sich offenbart und man sein Wesen wirklich erkennt, da ist er Gnade und Liebe ... W o man dagegen Gott nicht kennt oder ihn vergißt, da ist er Zorn. Hiernach wäre also der göttliche Zorn überhaupt keine besondere Betätigung Gottes, sondern nur das menschliche Empfinden von Gott, solange oder sofern er sich nicht offenbart oder schweigt." 101 Seeberg, Dogmengeschichte 4, 1, 190: „Der Zweck des Werkes Christi ist also die Herstellung des Reiches Gottes, d. h. er wird Herr, indem er die Sündenvergebung erwirkt und zu einem neuen Leben anregt." 102 Seeberg, Dogmengeschichte 4, 1, 191; vgl. 192: „Christus hat also genuggetan, geopfert 98

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Während Christus kraft seiner stellvertretenden Genugtuung nach Luther vom Zorn Gottes befreie, so Seeberg überdies, „werden wir auch der Gewalt des Teufels und des Todes entnommen." Dies ergebe sich „schon daraus, daß wir dieser Gewalt nur vermöge des göttlichen Zornes unterstehen." 103 Auch bei Seeberg eignete dem Zorn Gottes im Konsortium der Verderbensmächte eine hervorgehobene Leitfunktion, aus der erst die Macht der übrigen Mächte resultierte. In diesem Zusammenhang kam der „modern-positive" Systematiker auch auf das Kampfmotiv zu sprechen: Luther liebe es, „die Sache auch nach der alten Betrugstheorie auszudrücken", bei der Teufel, Tod und Sünde, aber auch das Gesetz in einem dynamischen Kampfgeschehen überwunden werden. Doch trete diese Anschauung von einer durch Christus vollzogenen Versöhnung Gottes zum Kampfmotiv keineswegs in systematischen Gegensatz, sondern entspreche dieser: „Luther hat in genialer Nachempfindung in seiner Weise ausgedrückt, was ... Paulus Kol 2, 14 gemeint hat. Christus mußte der Gesetzesordnung genug tun, weil sonst ihre moralischen Regeln ihr eine vermeintliche Überlegenheit und dadurch eine Fortwirkung hätten sichern können. Erfüllte er aber das Gesetz, und das Gesetz führte dennoch zu dem Widersinn, daß man aus Gesetzestreue den Gottessohn dem Fluch überantwortete, so war das Gesetz als ungenügende Lebensordnung erwiesen und damit zugleich das ganze System der Lebensregelung durch Gebote und Strafen aufgehoben." 1 0 4 Mit dieser Interpretation orientierte sich Seeberg zunächst und vor allem an Luther-Schriften, 105 die er nach der Erlanger oder - soweit bereits erschienen nach der Weimarer Ausgabe anführte. Er folgte damit der durch Gottfried Thomasius und Theodosius Harnack eingeleiteten Methodik der Lutherinterpretation, Luthers Theologie aus seinen Schriften heraus zu entwerfen und mit einer Fülle von Quellentexten zu belegen, 106 auch wenn er die zitierten Texte noch nicht wie Karl Holl und seine Schüler nach ihrer Authentizität differenzierte. Aber auch in den leitenden Aspekten seiner Darstellung traf sich

und bezahlt, um den Menschen aus dem göttlichen Zorn zu befreien und diesen zu stillen." Ähnlich 117f. I0 -' Seeberg, Dogmengeschichte 4, 1, 192. 104 Seeberg, Dogmengeschichte 4, 1, 193f. 105 Seeberg zitierte zum Kampfmotiv etwa den Gal-Kommentar 1531/35, WA 40/1,417. 565f; weiterhin WA 45, 635f (Predigten über Joh 14 und 15 (1537), im Druck überliefert, Vorlage unbekannt); WA 46, 556. 560 (Druckfassung der Predigten über Joh 1 und 2, 1537); WA 47, 80 (Predigtdruck vom 19.6. 1538 über Joh 3, 16); WA 4 4 , 6 6 . 6 9 7 (Vorlesungen über 1. Mose 153545); WA 24, 109 (Bearbeitung von Predigten über die Genesis, hier zu Gen 3, 15); WA 23, 714 (gedruckte Predigt vom Himmelfahrtstag 31. Mai 1527). 106 Diese Methodik entsprach seinem programmatisch vertretenen Bemühen, geschichtliche Forschung und dogmatische Theologie zu unterscheiden, insbesondere auch, die erstere von den Einreden dogmatisch orientierter Interessen freizuhalten: vgl. Die Kirche Deutschlands, 3. Aufl. 1910, 327f: „Es drängt dazu, die Geschichte ganz von der Dogmatik zu befreien, sie - sozusagen - energisch zu entchristlichen, und andrerseits die Dogmatik von allen besonderen geschichtlichen Stützen und Beziehungen los zu machen".

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Seeberg mit der durch Thomasius und Th. Harnack bestimmten Interpretation der Versöhnungslehre Luthers, wobei er, wie gesehen, implizit und maßvoll auch Intentionen aus Ritschis Lutherdeutung aufnehmen konnte. Daß er dabei eine eigenständige, aus seinem Quellenstudium erwachsene Deutung vornahm, zeigte Seeberg auch in seinem impliziten Vergleich von Luther und Anselm. Die „neue Ordnung des Evangeliums" sollte, so Seeberg, „nach Gottes Willen nur unter der Bedingung eintreten, daß der alten Ordnung der Schuld, des Gesetzes und des Zornes zuvor genug geschehen ist." Doch handele es sich bei der Versöhnung Gottes „keineswegs darum, daß Gott wie eine beleidigte Privatperson Bezahlung für eine ihm angetane Unbill erhält, sondern es soll, nach Gottes Verfügung, die Gnadenordnung erst dann in Kraft treten, wenn der alten Ordnung ihr Recht geworden und dabei zugleich ihre Unzulänglichkeit erwiesen ist."107 Doch hielt es Seeberg für „irreführend", daß Th. Harnack von einer „absoluten Notwendigkeit" dieser Versöhnung gesprochen habe: „Von einer Notwendigkeit der Versöhnung kann nach Luther nur in dem Sinn gesprochen werden, daß Gott es eben so und nicht anders gewollt hat, wie ja auch Duns Scotus und seine Nachfolger es sich dachten."108 Mit dieser Einordnung Luthers in den Kontext der nominalistischen Theologie109 hatte Seeberg einen wichtigen Interpretationsaspekt beigetragen, für den sich die Perspektive seiner Dogmengeschichte als hilfreich und fruchtbar erwies.

3.5 Karl Holl: Luthers Anfechtungen und die Kohärenz seiner Christologie Mit seinem großen Aufsatz „Was verstand Luther unter Religion?", den Karl Holl zunächst 1917 anläßlich des 400jährigen Reformations-Jubiläums in Berlin vorgetragen hat und alsdann in erweiterter Form im 1. Band seiner „Gesammelten Aufsätze zur Kirchengeschichte" abdruckte,110 veranlaßte er vor allem in zwei Hinsichten Diskussionen, die Aspekte unserer Thematik

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Seeberg, Dogmengeschichte 4, 1, 198f. Seeberg, Dogmengeschichte 4, 1, 199, ähnlich S. 195 und 200, Anm. 19. Vgl. auch im Abschnitt zu Luthers Gottesbegriff S. 140-145. 109 v g l . dazu den 3. Band von Seebergs „Lehrbuch der Dogmengeschichte" zur Dogmengeschichte des Mittelalters, Darmstadt 19535 und im Bd. 4,1 die „Prolegomena", 1-55, zur dogmenund religionsgeschichtlichen Stellung der Reformation. 110 2. und 3. verm. und verb. Aufl. Tübingen 1923, 1-110. Zu Holls theologischem Ansatz und seiner Entwicklung zwischen 1906 und 1926 vgl. das 1. Kap. bei H. Assel, Aufbruch (1994). Dort ist S. 59, Anm. 1 auch die neuere Literatur zu Holl verzeichnet. Besonders hinzuweisen ist auf Johannes Wallmann, Karl Holl und seine Schule, ZThK 75/1978, Beiheft 4: Tübinger Theologie im 20. Jahrhundert, 1-34. 108

Karl Holl

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berühren: So warf er die Frage auf nach der konstitutiven Bedeutung der Anfechtungserfahrungen für die Ausbildung von Luthers Rechtfertigungserkenntnis. In Zusammenhang damit aber erörterte Holl auch das Verhältnis seiner Anschauungen vom Werk Christi zur in den altkirchlichen Dogmen formulierten Christologie und Trinitätslehre. Die wirkungsträchtige Erörterung dieser Aspekte stand im Kontext eines kirchenhistorisch wegweisenden Forschungsansatzes, mit dem Holl theologie- und dogmengeschichtliche Entwicklungen quellenorientiert zu destillieren und zu pointieren verstand, wobei er mit seiner Frage nach den konstituierenden Faktoren von Luthers Theologie teilweise bis heute unüberholte Aspekte herausarbeitete. Dies galt insbesondere im Blick auf Luthers Anfechtungserfahrungen, auf die Holl in seinem Aufsatz prononciert hinwies. Diesen tiefen existentiellen Grenzsituationen, die der Reformator „immer aufs neue in einem zusammengeballten Gefühl durchlebt" hatte, sei bislang nicht die Aufmerksamkeit zuteil geworden, „die sie verdienen". 1 " Dabei hätten diese Erfahrungen, so Holl, für Luthers Theologie eine vergleichbar konstitutive Funktion „wie etwa die Visionen beim Mystiker". Diese oft beschriebenen tentationes seien für Luther eine ihn in den Konstituenten seines Personseins erschütternde Erfahrung, „ein ihn mit Vernichtung bedrohender Angriff, den Gott gegen ihn richtete". An ihnen seien zweierlei Charakteristika besonders hervorzuheben: Einerseits werde Luther von der Anfechtung völlig unvermutet und regelmäßig „überfallen"ohne daß ein spezifischer Anlaß dies erwarten ließe." 2 Andererseits sei für diese Situationen charakteristisch, daß „für Luther in der Anfechtung Gott und der Teufel durcheinandergehen". Über den letztlichen Urheber der Anfechtungserfahrungen gerate der Angefochtene in tiefen Zweifel. Verbunden damit wurde ihm unsicher, „was mit der Anfechtung letztlich gemeint war, ob sie eine bloße , Versuchung' war oder ein ernsthaftes Gericht." Sofern Luther den Satan als Urheber der tentatio ausmachen konnte, „war der Kampf für ihn rasch entschieden". 113 Doch wo er einen Vorwurf tiefergehend „als ein verdientes Gericht über sein ganzes Wesen empfand", stand ihm Gottes Zorn in seinem letztgültigen Ernst vor Augen - bis sogar Christus selbst „seinem Blick entschwand". Doch auch „der Satan" vermochte sich „in Christus selbst" zu verwandeln." 4 In diesem Zusammenhang, so Holl gegen Karl Heims Lutherdeutung, sei hervorzuheben, daß „Luthers Frömmigkeit keineswegs nur in dem Sinn Christusfrömmigkeit gewesen ist, als ob sein ganzer Glaube nur auf Christus gestanden wäre"." 5 Denn in diesen Situationen höchster Anfechtungsbedrängnis habe Luther nur noch eine Möglichkeit des Entrinnens gefunden: „Es war

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Holl, Luther, 67. Holl, Luther, 68. Holl, Luther, 69. Holl, Luther, 72f. Holl, Luther, 73. Bereits Otto Wolff, Haupttypen, 321 ff hat daraufhingewiesen, daß in

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das erste Gebot. An dessen Anfangsworte, an das: ,Ich bin der Herr dein Gott', hat er sich immer in seiner Todesnot geklammert." An keinem anderen Punkt seiner Theologie, so Holl, werde deutlicher, daß für Luther „das Gefühl eines Sollens die Grundlage seiner ganzen Frömmigkeit bildete und daß die Pflicht gegen Gott ihm als die erste unter allen Pflichten erschien"."6 Von daher näherte sich ihm in diesen Situationen auch allein aus dieser Richtung Rettung: Angesichts des lebendigen Gefühls, daß Gottes Zorn über ihn zu Recht sein Vernichtungsurteil spreche, wurde das Gebot zum Gehorsam gegenüber Gott nicht dispensiert; Holl hob hervor: „Selbst in der Hölle noch würde das Gebot, Gott für einen, für seinen Gott zu halten, für ihn fortbestehen.""7 Diesem ihm im ersten Gebot auch in der höchsten Anfechtung fordernd gegenübertretenden Gott konnte Luther, so Holl, aber nur dadurch die schuldige Ehre erweisen, daß er ihn für „gut" halte: „Der Mensch darf sich selbst, darf sein gewissen', darf das ihm im Gericht entgegentretende Gottesbild überwinden, weil er an den Gott, der es gut mit ihm meint, glauben soll."118 In diesen für Luthers Theologie konstitutiven Anfechtungssituationen werde deutlich, daß es gegen das eigene Gefühl eines Entschlusses bedürfe, an die Vergebung zu glauben. Der aus diesen durchlittenen Kämpfen immer neu erwachsene Glaube aber gipfelte nach Holl für Luther „in dem Bewußtsein einer völligen Einigung mit Gott."U9 Diese lediglich auf 14 Seiten dargelegten Ausführungen boten Anregungen für eine sich in zahlreichen Aufsätzen und Monographien vollziehende Diskussion.120 Sie galt insbesondere den Fragen nach der Bedeutung des Ersten

dieser Luther-Interpretation eine Nachwirkung von Holls intensiven Calvin-Studien zu spüren ist: „Die .Majestät' Gottes, das ,um Gottes willen' wird in dieser Lutherdarstellung groß gemacht. (...) Es ist sicherlich keine Konstruktion, wenn diese charakteristische Verständnisbildung Holls als durch sein Calvinstudium mitbedingt angesehen wird." In gleichem Sinne auch J. Wallmann, ZThK 1978, Beih. 4, 25 und H. Assel, Aufbruch, 89: „Bis zum Sommer 1909 hatte er die Antinomie und mit Calvin die notwendige Bedingung einer Lösung: Heil mußte radikal nichteudämonistisch verstanden werden - nicht persönliches Glück, nicht einmal persönliche Seligkeit, sondern Pflicht, Gehorsam, Bewußtsein eigener Werkzeuglichkeit in Gottes Plan war Inbegriff von Religiosität." - Dieser Einfluß ist auch an anderen Stellen in Holls Lutherbuch zu spüren, etwa in dem Aufsatz über Luthers Römerbrief-Vorlesung („Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesung über den Römerbrief mit besonderer Rücksicht auf die Frage der Heilsgewißheit", Ges. Aufsätze I, Luther, 111-154), in dem Holl die zentrale Kategorie der „Heilsgewißheit" bei Luther in zwei Hinsichten entfaltete. Sie umfasse „1. die Gewißheit, zur sittlichen Vollendung zu gelangen, 2. die Gewißheit, das ewige Leben zu gewinnen". Tatsächlich war die erste der genannten Fragen für Holl bei Luther „die wichtigere" (134). 1,6 Karl Holl, Luther, 73f. 117 Karl Holl, Luther, 76. In der u. folgenden Darstellung wird zu zeigen sein, daß Luther solches Empfinden des gerechten Zornes Gottes tatsächlich mit der „Hölle" identifiziert hat. 118 Karl Holl, Luther, 79. 1,9 Karl Holl, Luther, 81. 120 Außer den im Anschluß genannten Beiträgen berühren - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - folgende Veröffentlichungen die genannten Aspekte: Paul Althaus, Gottes Gottheit als Sinn der Rechtfertigungslehre Luthers, in: LuJ XIII/1931, 1-28; Otto Gühloff, Gebieten und Schaffen

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Gebotes im Verhältnis zur Offenbarung in Christus und der Funktion der Anfechtungserfahrungen für Luthers Theologie. Aber auch die Alternative, ob letztlich Gott oder der Satan die Anfechtungserfahrungen verursache, wurde Gegenstand einer lebhaften Debatte. Für unsere Untersuchung erwächst aus der Holischen Deutung die Aufgabe einer Verhältnisbestimmung von Luthers Anfechtungserfahrungen und den Ausgestaltungen des Kampfmotivs. Von erheblicher Wirkung waren auch Holls Ausführungen zu Luthers Verständnis des Werkes Christi, die er in einer über vier Druckseiten sich erstrekkenden Fußnote ausgeführt hatte.121 Zunächst habe, so Holl, Luther die Anselm'sehe Alternative „aut satisfactio aut poena" im Verständnis des Heilswerkes Christi überwunden: Der Übertretung des göttlichen Gesetzes im Sündenfall folge in Luthers Verständnis vom Heilswerk Christi sowohl die Satisfaktion als auch die Strafe. 122 Zum anderen beseitige Luthereine weitere Einseitigkeit, der die abendländische Theologie seit Anselm ebenfalls weithin verfallen gewesen war, indem für ihn „mit dem Tod die Auferstehung ganz eng zusammen" gehörte. Nicht allein mit dem stellvertretenden Sühnetod Christi vollziehe sich das Heilswerk Christi, sondern erst kraft seiner Auferstehung werde deutlich, „daß der Tod Christi, die Vollstreckung des Zornesgerichts, noch nicht das letzte Wort Gottes ist." Gerade an den Sieg Christi über den Tod knüpfe Luther „die weitere Bedeutung, daß Christus nun als Geist in dem Gläubigen gegenwärtig sein kann." Die so bezeichnete „Christusmystik" gehöre „mit zum Allerfrühesten, was bei Luther aus Paulus lebendig geworden ist." Mit dieser Interpretation des Werkes Christi erntete Holl überwiegend Zustimmung. Widerspruch fand dagegen seine Interpretation von Luthers Christologie in ihrem Verhältnis zu den altkirchlichen Dogmen. Luther selbst sei sich mit seiner „Auffassung der Person wie des Werkes Christi" zwar sicher, daß er damit „nur das alte Dogma in seinem wahren Sinn zum Ausdruck brächte." Doch enthülle sich dem rückblickenden Interpreten, daß

Gottes in Luthers Auslegung des ersten Gebotes, Diss. Göttingen 1939; Hans Joachim Iwand, Rechtfertigungslehre und Christusglaube. Eine Untersuchung zur Systematik der Rechtfertigungslehre Luthers in ihren Anfängen. Leipzig 1930; Franz Lau, Erstes Gebot und Ehre Gottes als Mitte von Luthers Theologie, in: ThLZ 73/1948, 719ff; Friedrich Karl Schumann, Gottesglaube und Anfechtung bei Luther (=ThMil 18), Leipzig 1938; Hans Thimme, Christi Bedeutung für Luthers Glauben. Unter Zugrundelegung des Römerbrief-, des Hebräerbrief-, des Galaterbriefkommentars von 1531 und der Disputationen, Gütersloh 1932; Gustav Aulen, Das christliche Gottesbild in Vergangenheit und Gegenwart, Eine Umrißzeichnung, Gütersloh 1930, S. 185f, Anm. 1. - Vgl. auch die weitere, in einem Forschungsüberblick zum „Thema der Anfechtung" genannte Literatur bei Hubertus Blaumeiser, Martin Luthers Kreuzestheologie, Schlüssel zu seiner Deutung von Mensch und Wirklichkeit, Eine Untersuchung anhand der Operationes in Psalmos ( 1 5 1 9 - 1 5 2 1 ) (=KKTS LX), Paderborn 1995, 32f, Anm. 19. Blaumeiser geht allerdings hier und in den betr. Passagen seiner Untersuchung 162-171 auf die Anregungen Holls nicht ein. 121 Anm. 4, beginnend auf S. 69. 122 "Der Uebertretung seines Gesetzes, über die er „zürnt", kann nur dadurch „Genüge geschehen", daß eine Strafe erduldet wird" (70).

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Luther „in Wahrheit ... das alte Dogma nicht nur aufgenommen, sondern fortgebildet" habe, „und zwar in einer Weise, die, wenn man den Standpunkt der alten Konzilien einnimmt, überall nahe an das Ketzerische anstreifte".123 In seinem Bestreben, „das Göttliche, den göttlichen Willen ganz unmittelbar in dem menschlich sich darstellenden Tun und Leiden Christi angeschaut" zu wissen, sei er „hart an den Monophysitismus heran" gekommen. Caspar Schwenckfeld habe aus Luthers eigenem Standpunkt „nur die letzte Folgerung gezogen".124 In der Trinitätslehre sei Luther in seinem Interesse, das „Handeln Christi" als ein „unmittelbares Gotteshandeln" zu beschreiben, einerseits dem Modalismus nahegerückt, der Christus nur als eine Erscheinungsform des Vaters ansah. Doch folgte aus dem gleichen Interesse „gleichzeitig (wider Willen) eine Unterordnung des Sohnes unter den Vater", sofern Christus für Luther nur „die Gabe Gottes an die Menschheit" war, „das Werkzeug, mit dem Gott arbeitete. (...) Das war eine Lehre, die zwar zu Paulus und Johannes, aber schlecht zum nicänischen Dogma stimmte." Doch aus diesen Abweichungen von Formeln und Inhalt der altkirchlichen Dogmen sei, so Holl, Luther durchaus kein Vorwurf zu machen: „Der Fehler lag bei alledem nicht bei Luther, sondern beim alten Dogma." Mit dieser theologiegeschichtlichen Einordnung von Christologie und Trinitätslehre Luthers hat Holl nicht nur von Seiten Reinhold Seebergs Widerspruch erfahren.125 Seine Interpretation und die sich daran anschließenden Deutungen sollen im Zusammenhang der Interpretation des Mächtekampfes im Kontext des Gal-Kommentars vorgestellt und diskutiert werden. Doch die sich an Holls Thesen anschließende Debatte um die Bedeutung der Anfechtungseifahrungen Luthers verdient an dieser Stelle noch eine nähere Beleuchtung. Als eine auf tiefgreifendem Mißverständnis beruhende, unzutreffende Alternative, die an der Erörterung der skizzierten Fragen vorbeiführe, erwies zunächst Heinrich Bornkamm126 die Streitfrage, ob Luther nach Holl in der Offenbarung in Christo die entscheidende Hilfe in der Anfechtung erfahren habe oder in der Konzentration auf das Erste Gebot.127 Die Diastase, die Hans 123

Karl Holl, Luther, 71. Karl Holl, Luther, 72. 125 Vgl. ders., Dogmengeschichte (1953) 4, 1, 236, Anm. 1: „Man darf dabei nicht vergessen, daß es sich hierbei für Luther nicht um eine theoretische Konstruktion handelt, sondern um den eigenartigen Inhalt erlebten Glaubens." - Vgl. dazu auch die detaillierte Untersuchung von Reinhard Schwarz, Gott ist Mensch. Zur Lehre von der Person Christi bei den Ockhamisten und bei Luther, in: ZThK 63/1966, 289-351, der Luthers Christologie auf dem Hintergrund der ockhamistischen Lehre von der „suppositalen Union" beider Naturen in Christus interpretiert. Die seitherige Forschungsgeschichte zeichnet Axel Schmidt, Die Christologie in Martin Luthers späten Disputationen (=Dissertationen, Theologische Reihe 41), St. Ottilien 1990, 7-14. Vgl. seine eigene Untersuchung zur Frage 178-323. 126 Christus und das 1. Gebot in der Anfechtung bei Luther. Zum Verständnis von Holls Lutherauffassung, in: ZSTh 5/1927, 453^*77. 127 Prinzipieller motiviert war die Einrede gegen Holls „Luther" von Friedrich Gogarten, Theologie und Wissenschaft. Grundsätzliche Bemerkungen zu Karl Holls „Luther", ChW 38/ 124

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Michael Müller 128 in Holls Lutherdarstellung zwischen Gebot und Verheißung erkannt haben wollte, sei schlechterdings nicht vorhanden: „So einfach diese Trennung erscheint, so falsch ist sie doch gehandhabt." 129 Denn die Bedeutung des ersten Gebotes bestehe für Luther nach Holl ja gerade darin, „daß der Glaube an Gottes Verheißung geboten ist." 130 Auf Bornkamms Aufsatz konnte später Horst Beintker verweisen, 131 als Paul Bühler Müllers kritische Einreden gegen Holl erneut aufnahm. 132

1924, 34ff; 7 Iff; 121 f. Er nahm Holls Aufsatz zum Anlaß, um an ihm die verhängnisvolle Mißachtung der Grenzen kritischer Wissenschaft zu demonstrieren, sofern sie ihren, von Kant in dessen Kritiken gewiesenen Horizont verlasse (35). Eine solche, sich selbst überschätzende Wissenschaft habe für das Proprium von Theologie kein Organ zur auch nur phänomenologischen Erkenntnis dessen, was diese als „Offenbarung" bezeichne: Dementsprechend versuche Holl in einer Darstellung von Luthers Glauben, die zugestandenermaßen, „wie Holl sie auf Grund der Quellen gibt, auf das genaueste den Gegenstand trifft" (39), den Kern dessen prinzipiell unzutreffend als ein „sittliches Grunderlebnis" zu kategorisieren (71). Damit aber sei der Kern des Rechtfertigungsvorganges bei Luther nicht angemessen zu beschreiben. Die in diesem Zusammenhang von Gogarten geäußerte Kritik an Holls Differenzierung zwischen Christusfrömmigkeit und Gottesglaube übertraf damit weit die von Müller geäußerte Kritik. Gogarten lehnt auch das Vorhandensein jeder „Christusmystik" bei Luther ab: „Denn die Betonung eines solchen Erlebnisses würde wieder mitten in die Werkgerechtigkeit hineinführen" (71). Niemals, so Gogarten gegen Holl, werde „einem das Evangelium Evangelium bleiben, wenn man nicht vorher grundsätzliche Klarheit darüber gewonnen hat, daß das Evangelium und seine kritische Wahrheit des Gegebenen einem anderen Kreise angehört als die Wissenschaft und ihre kritische Wahrheit des Nichtgegebenen" (80). 128 Der christliche Glaube und das erste Gebot, in: ThBl 6/1927, 269-281; hier hatte sich Müller dagegen gewandt, daß in der höchsten Anfechtung etwas anderes als die Offenbarung in Christo die rettende Hilfe bedeuten könne: „Holls Argumentation: weil Gott einem Menschen zuweilen Christus entzieht, deshalb könne der Glaube letztlich nicht auf Christus sich gründen ,und erst da komme das Allerinnerste seiner Frömmigkeit zutage' - sie beruht Luther gegenüber auf einer vorgefaßten Meinung, gestützt von einer unverantwortlichen Art des Zitierens" (272). Vgl. auch ders., Glaube an Gott den Schöpfer als Glaube an Christus bei Luther. Die Frage der Erfüllbarkeit des ersten Gebotes, in: ThBl 7/1928, 37^-8. Ders., Erfahrung und Glaube bei Luther, Leipzig 1929. 129 H. Bornkamm, ZSTh 5/1927, 458: „Daß für Luther die Worte ,ich bin der Herr dein Gott' Zusage-Charakter haben, d. h. Gott als Vater zeigen, sahen wir oben." In gleichem Sinne Paul Althaus, LuJ XIII/1931,4. 130 Ebd. - Vgl. auch 460f: „Es ist also unmöglich, im 1. Gebot Verheißung und Gebot voneinander scheiden zu wollen. Nur weil beides hier als Einheit gegeben ist, hat es Luther in der Anfechtung geholfen. Glaube ist mithin Gehorsam, Gehorsam gegen das Gebot, in dem der Schöpfer von uns fordert, ihn als Gott zu nehmen, d. h. als den gerecht Richtenden, aber auch zugleich als den im Zorn Liebenden, so wie er sich im Spiegel seines Herzens, in Christus geoffenbart hat." Müller hat in ThBl 7/1928 seine Kritik an Holl erneuert und auch gegen Bornkamm darauf insistiert, daß dem Ersten Gebot und damit dem Gesetz abgesehen von Christus keine eigenständige Funktion bei der Überwindung der Anfechtung zukommen dürfe: „Nein, Jesus Christus ist der Herr und er allein gibt nach Luther die Antwort auf jene Frage des Glaubenkönnens: er selbst ist dann diese Antwort, die je und je mit dem Offenbarungsgeschehen identisch ist. Christus selbst kehrt zu dem Angefochtenen zurück, nicht aber entläßt ein .standhaltender' Restglaube nach der Entscheidung den Christusglauben aus sich" (44). ,31 Überwindung, 33f. 132 Paul Bühler, Die Anfechtung bei Martin Luther (=ThDiss 3), Zürich 1942, 121f. Hier

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Einem unausweichlichen Problemhorizont galt dagegen die auch bereits hinter dieser Debatte stehende Frage nach der Einheit von Luthers Gottesbild. Hatte Luther als treibendes Movens hinter den Anfechtungen den Satan oder doch - eventuell in diesem als instrumentum der ira Dei - Gott selbst erkannt? Für die letztere Sicht verbunden mit einer strikten Subordination des teuflischen Wirkens trat Paul Bühler ein. Der Teufel sei eine „Kreatur Gottes", auch alle durch ihn ausgelöste Anfechtung diene Gottes Heilswillen, sei „nur von ihm geschickt: Das gilt es gerade zu erkennen, sonst macht man ja selber aus Gott den Teufel".133 Ihm und den Bühler diesbezüglich zustimmenden Arbeiten von Harmannus Obendiek134, Lennart Pinomaa135 und Walter von Loewenich136 hat Horst Beintker entschieden widersprochen. Man dürfe zwar formulieren, daß Gott die Anfechtung schaffe, „um aus der Sünde zu erretten". Doch, so fragte er pointiert: „Schafft aber Gott das Böse selbst, um daraus zu erretten?" Beintker hat diese sich aufdrängende Konsequenz sogleich abgelehnt: „Wir weisen den Gedanken der Urheberschaft für das Böse ab."137 Beintker selbst wollte aufgrund seiner Analyse der Operationes in Psalmos (1519-1521) 138 dem Satan eine eigenständige Macht zuerkennen: „Gegenüber der in der Literatur vertretenen Meinung von der Teufelsvorstellung bei Luther betonen wir, daß dem Bösen schon innerhalb der Lutherschen Lehre vom Menschen eine von Gott unabhängige Existenz zukommt und doch Gottes Monarchie davon nicht betroffen wird."139 Wie diese Verhältnisbestimmung zu treffen sei, bleibe eine theologischem Denken letztlich unzugängliche Frage.140 erneuerte Bühler die auf einem Mißverständnis beruhende obsolete Abweisung der Position des Tübinger Kirchenhistorikers: Es ließe sich „Holls weitere Meinung nicht aufrecht erhalten, als fände Luther im 1. Gebot einen andern Grund des Glaubens neben Christus, sodaß in diesen entscheidenden Augenblicken äußerster Bedrängnis der Glaube nicht mehr auf Christus, sondern auf dem 1. Gebot als Forderung stehen würde." 133 Anfechtung, 211. 134 Der Teufel bei Martin Luther. Eine theologische Untersuchung (=FurSt 4), Berlin 1931. Allerdings versuchte auch Obendiek, „für das rechte Verhältnis zwischen Gotteswirken und Teufelswirken die sprachlichen Ausdrücke derart zu wählen, daß von der furchtbaren Macht des Teufels, die geistlicher- und leiblicherweise in die Erscheinung tritt, nichts abgehandelt wird und die Majestät des monarchen Gottes trotzalledem unangetastet bleibt." (41f) Sein Ergebnis: „Aber die Alleinwirksamkeit Gottes wird erst dann zu ihrer Ausschließlichkeit geführt, wenn in dem Tun des Teufels das Handeln Gottes gesehen wird." (46) 135 Lennart Pinomaa, Der existentielle Charakter der Theologie Luthers. Das Hervorbrechen der Theologie der Anfechtung und ihre Bedeutung für das Lutherverständnis (=AASF Ser. B. XXXXVII, 3), Helsinki 1940. 136 Luthers Theologia crucis. (=FGLP, 2. Reihe, Bd. 2) München 1939 3 , 186. 137 Überwindung, 101. 138 WA 5, 19-676. 139 Beintker, Überwindung, 102. Eine ähnliche These formuliert Obendiek, 41ff. 140 Beintker, Überwindung, 102: „Die Omnipotenz Gottes schließt zwar den Gedanken von einer realen Macht, die nicht auf Gott selbst zurückgehen soll, aus. Aber solche Erörterungen, die sich das Wesen Gottes im Bereich des absoluten Denkens vorzustellen suchen, bleiben für das Problem der Anfechtung besser außer Betracht."

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Doch dispensierte diese Erkenntnis Beintker nicht von der Aufgabe, der Frage nach der Urheberschaft der Anfechtungen in eigener Quellenanalyse nachzugehen. Mit dem von ihm formulierten „Ergebnis der Arbeit in einer kurzen These", die er mit einer genauen Analyse von Luthers Auslegung von Ps 13, 1-3 begründete, stand er tatsächlich materialiter am Ende nicht weit entfernt von den zunächst abgelehnten Positionen: „Gott ficht an, um gerecht zu machen. (...) Gott selbst ist der eigentliche Urheber der Anfechtung. Dem Satan kommt nicht mehr als die lügnerische Tätigkeit des Versuchers zu, sich in das Werk Gottes einzuschleichen, sich darin anzusiedeln und es zu verdrehen."141 Beintker analysierte ausgehend von dieser These auch das Problem der „Anfechtungsmächte", ihrer Herkunft und ihrer Funktion in den Anfechtungen. Der von Günter Jacob142 und Paul Bühler angenommenen „satanischen Oberhoheit über die Anfechtungsmächte" vermochte Beintker nicht zuzustimmen.143 Sie seien in ihrem Recht und ihrer Funktion keineswegs selbständig, sondern eher anthropologisch zu deuten und stellten sich „als nichts anderes heraus denn als Begriffe und Termini zur Unterscheidung der Anlässe und vielleicht zur Ordnung der Anfechtungsarten." Ihre „Mächtigkeit" resultiere erst und allein aus der Sünde. Sie seien aber zweifellos „nicht die Urheber der Anfechtung. Dies ist mit, in und unter den Mächten immer Gott, der uns wegen unserer Sünde schlägt."144 Im Blick auf den Legitimationsgrund für die anfechtenden „Mächte" und ihre Funktion in den von Holl zu Recht herausgestellten Grenzerfahrungen Luthers erbrachte die Debatte kein konsensfähiges Ergebnis. Generell zeigt die Erörterung dieser Aspekte von Luthers Theologie, daß sich die Diskussion in den genannten Untersuchungen von einer quellenorientierten Interpretation der Texte Luthers zumindest teilweise zu lösen hatte, um die aus möglichen Mißdeutungen resultierenden Konsequenzen und Inkonvenienzen systematisch-theologisch diskutieren zu können; nicht selten wurde der aus eigenen Überlegungen resultierende Ertrag auf die jeweilige Luther-Interpretation reprojiziert. Damit aber blieb eine textorientierte Analyse, welchen Wirkmechanismus Luther bei der Konfrontation mit den „Anfechtungsmächten" erkannte und wie Ursprung, Umfang und Ziel des Wirkens der gottfeindlichen Mächte in seiner Sicht zu beschreiben sind, auch nach den durch Holl angeregten Arbeiten ein offenes Desiderat.

141 142 143 144

Beintker, Überwindung, Der Gewissensbegriff in Beintker, Überwindung, Beintker, Überwindung,

98. der Theologie Luthers (=BHTh 4), Tübingen 1929. 103, Anm. 2. 104.

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3.6 Gustav Aulen: Das Kampfmotiv als Zentrum von Luthers Theologie und der christlichen Dogmengeschichte In der reichen Tradition der schwedischen Theologie und Lutherforschung und innerhalb der „Lunder Schule" gebührt dem theologischen und dogmengeschichtlichen Ansatz Gustav Aulens für unsere Frage besondere Aufmerksamkeit.145 Er entdeckte das „dualistische Kampfmotiv" nicht nur als Leitgedanken der Theologie Luthers, sondern stellte es auch in das Zentrum seiner Interpretation der christlichen Dogmengeschichte. Das ursprünglich Neue, das das Christentum gegenüber dem Judentum prägend auszeichnete und seinem „siegreichen Zug durch die antike Welt" die Lebenskräfte zuführte,146 bestand für Aulen in einer grundlegenden „Wandlung" der religiösen Anschauung. Diese manifestierte sich gegenüber dem Judentum zunächst „in einer Durchbrechung und einer Aufhebung der Religiosität der Rechtsordnung",147 die auch eine „Revolution"148 für das Gottesbild bedeute. Das christliche Evangelium zeige einen Gott, der den Legalismus kraft seiner eigenen Tat durchbreche: „Nicht die Rechtsordnung offenbart das innerste Geheimnis des Herzens Gottes, sondern die spontan gebende, freie und souveräne Liebe gibt, weil es ihre Natur ist, zu geben, und ergreift die Initiative, den Verlorenen zu suchen und sich selbst dem Sünder zu geben."149 Dieses lebenskräftige christliche Zeugnis von der siegreich sich durchsetzenden Macht der Liebe Gottes aber sah Aulen verbunden mit „dualistischen und eschatologischen Gedankengängen": „Das dualistische Element läßt sich nicht vom Evangelium absondern. Die ganze Lebensordnung ist durchwoben von dem Gedanken des Gegensatzes zwischen Gotteswillen und den dunklen und 145

Folgende Publikationen Aulens kommen diesbezüglich in Betracht: Den kristna Försoningstanken. Huvudtyper och Brytningar. Stockholm 1930; engl. Übersetzung: Christus Victor, 11. Aufl. 1980 (nach der letzten Aufl. wird zitiert); ders., Das christliche Gottesbild; ders., Die drei Haupttypen des christlichen Versöhnungsgedankens, in: ZSTh 8/1931, 5 0 3 - 5 3 8 ; ders., The Faith of the Christian Church. Translation from the 4th Swedish edition, Philadelphia 1948; ders., Das Drama und die Symbole, Die Problematik des heutigen Gottesbildes, Göttingen 1968. Zu Darstellung und Kritik der Lunder Anschauungen vgl. die systematische Studie von Harm Alpers, Die Versöhnung durch Christus, Zur Typologie der Schule von Lund (=FSÖTh 13), Göttingen 1964; H.-M. Barth, Der Teufel und Jesus Christus, 5 4 - 6 1 und die jüngere, eingehende Studie von Joseph J. Anderlonis, The soteriology of Gustav Aulen: The Origins, Development and Relevancy of the Christus Victor Atonement View, Text and Bibliography (Roma, Pontificia Uni versitas Gregoriana, Theol. Fak. Diss. 1987), 2 Bde. Roma 1988. Anderlonis bemüht sich nicht nur um eine Gesamtschau des Werkes von Gustav Aulen, den er 1977 noch selbst kennengelernt hat, sondern stellt dieses auch in den schwedischen Kontext hinein (I, 13-108). Auch für Aulens Lutherbild sei „the importance of the Luther renewal in twentieth century Sweden" mit in Betracht zu ziehen (I, 332). 146

Gottesbild, Gottesbild, 148 Gottesbild, u ® Gottesbild, 147

9. 21. 22. 24.

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geheimnisvollen bösen Mächten, die diesem Willen entgegenstehen." Die „Inkarnation all dessen, was dem Gotteswillen widerspricht", aber finde das Evangelium im Satan. 150 So sei nach christlichem Verständnis „das ganze Dasein ... bestimmt durch einen dramatischen Kampf zwischen diesen beiden einander feindlichen Mächten", der den „Schwerpunkt des Erdenlebens" bilde und ihm seinen „eigentlichen Inhalt" gebe.151 Die dualistische Perspektive sei eng verbunden mit der Eschatologie: Beide verliehen dem „Gottesbild des christlichen Grundmotivs" die prägenden Züge: „Der Gott, der sich nicht innerhalb der von der Rechtsordnung gezogenen Grenzen einzwängen läßt, sondern sie durchbricht, bekämpft durch die souveräne freie Tat dieser Liebe das Satansreich und läßt die Kräfte des überweltlichen Gottesreichs mächtig wirksam werden." 152 Die Geschichte der Umformung und Ersetzung dieses Grundmotivs verfolgte Aulen durch die Dogmengeschichte, 153 um den „klassischen" christlichen Versöhnungsgedanken dann in wiedergewonnener ursprünglicher Kraft und sogar in vertiefter Lebendigkeit 154 erneut bei Luther anzutreffen. Bei ihm zeige sich einerseits eine „unerhörte Stärke, mit der die ganze Skala der religiösen Motive sich geltend macht, und zugleich die Energie, mit der die scheinbar entgegengesetzten Motive synthetisch miteinander verbunden werden". 155 Andererseits aber sei in diesem Reichtum das bestimmende theologische Interesse Luthers unverkennbar und „seine Tendenz ist vollkommen klar. Er will von keiner anderen göttlichen Macht wissen als der reinen Liebe. Sie, und nur sie allein, ist des Daseins souveräne Macht." 156 Diese Liebe als der beherrschende Grundzug im Gottesbild Luthers manifestiere sich in dessen Christozentrizität: „... die Qualität des Gottesbildes ist für Luther prinzipiell durch Christus bestimmt." 157 150

Gottesbild, 28f. Gottesbild, 30. 152 Gottesbild, 33f. Er widmete sich der altkirchlichen Dogmengeschichte mit spezieller Betrachtung Marcions (Gottesbild, 5 9 f f ) und des christologischen Dogmas (83ff), sodann der Position Augustins (95ff>Die Haupttypen des christlichen Gottesbildes im Mittelalter (125ff) fand er bei Thomas von Aquin, Wilhelm v. Ockham und den Mystikern, insbesondere bei Meister Eckhart. Den Typus der „lateinische(n) Bußlehre", deren „Baumaterialien" Anselm von Canterbury in Tertullians Begriffen satisfactio und meritum fand, beschrieb Aulen in seinem Aufsatz in der ZSTh 8/1931, 513ff. Den breitesten Raum widmete er in seinem Hauptwerk aber dem Abschnitt über die Reformation, der fast ausschließlich von der Luther-Interpretation bestimmt war (Gottesbild, 158-247). In der Neuzeit galt Aulens Augenmerk zunächst der Orthodoxie (248ff), sodann der Theologie seit der Aufklärung bis hin zur Ritschl'schen Theologie: In dessen Ansatz kulminiere der „dritte Haupttypus" in der Geschichte des christlichen Versöhnungsgedankens, sofern dieser von dem Zorne Gottes „überhaupt nichts wissen" wolle, statt „des besänftigten Gottes ... den sanften Gott" predige und den Sündenbegriff relativiere (ZSTh 8/1931, 527f)· 151

154 155 156 157

So Aulen in der ZSTh 8 / 1 9 3 1 , 5 2 5 . G. Aulen, Gottesbild, 164. Gottesbild, 169. Gottesbild, 176.

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Luthers Gottesbild, mit dem die religiösen „Wege der Spekulation, des Legalismus und der Rechtsordnung" zugleich ablehnte,158 erhielt für Aulen seine charakteristische Gestalt erst durch eine Neuentdeckung und Wiederbelebung des altkirchlichen Kampfmotivs: „Christus wird mit Vorliebe als Gottes Streiter und Sieger betrachtet. Seine Liebestat wird unter dem Gesichtspunkt des Kampfes und des Sieges gesehen. Der Jubel des Urchristentums und der alten Kirche hallt wider."159 Christi Kampf richte „sich gegen die ,Tyrannen': Sünde, Tod, Gesetz, Zorn, Hölle, Teufel: ,Der wunderliche Krieg, da Tod und Leben rungen.'" So erscheine bei Luther nicht anders als im Urchristentum das „ganze Dasein" als ein „Drama, in dem der Gotteswille in Christo den entscheidenden Kampf führt."160 Der „Hauptgesichtspunkt von Christi Erlösungs- und Versöhnungswerk" sei „bei Luther dramatischer Art. Christus ist der große Kämpfer und Sieger, der mitkämpft, siegt, niederschlägt und zunichte macht all die Tyrannen, unter denen die Menschheit leidet".161 Dieses Kampfmotiv sei in seiner Bedeutung „für die Totalanschauung Luthers ... bis jetzt nicht gebührend bewertet" worden.162 Dessen Bedeutung manifestierte sich für Aulen auch in tragenden Implikationen und Konsequenzen dieses neugewonnenen „klassischen" christlichen Grundmotivs. Zunächst sei durch Luther der vor allem bei Anselm von Canterbury ausgeprägte Typus der legalistischen oder „lateinischen" Versöhnungslehre überwunden worden: Der „lateinische Gedankengang ... legt das Hauptgewicht unbedingt darauf, was Christus als Mensch ausrichtet". Gott werde dementsprechend „grundsätzlich als Objekt des Versöhnungswerkes gedacht und die Satisfaktion wird ihm als von unten her gekommener Ersatz für den Sündenschaden geboten".163 Die damit verbundene Betonung der Rechtsordnung im Gottesverhältnis wurde durch die Lutherische Erneuerung des urchristlichen „klassischen" Motivs wieder beseitigt, sofern Christus das Gesetz endgültig überwunden und besiegt habe: „This victory of Christ over Law is the most pointed of all expressions of Luther's opposition to the moralism of Latin Christianity."164 Damit aber wurde die Bedeutung des Gesetzes ausgehend von der Versöhnungslehre bis hinein in die Rechtfertigungs- und Erlösungslehre grundlegend abgetan, sofern diese theologischen Topoi für Luther 158

Gottesbild, 178. Gottesbild, 187. 160 Gottesbild, 187. 161 Gottesbild, 208. 162 Gottesbild, 209. Dieser Erkenntnis verdankt sich Aulens Monographie „Das Drama und die Symbole", die das durch die Dogmengeschichte verfolgte und bei Luther angetroffene Motiv für die kirchliche Gegenwart fruchtbar machen will. 163 Gottesbild, 90. 164 Christus Victor, 113; ähnlich ders., Gottesbild, 205 u. ö. In ZSTh 8/1931, 532 bringt Aulen den Unterschied zwischen den beiden Haupttypen des christlichen Versöhnungsgedankens auf die bündige Formel: „Das Kriterium des klassischen Typus ist vor allem die ungebrochene Gottestat und die durchbrochene Rechtsordnung. Das Kriterium des lateinischen Typus ist umgekehrt: die ungebrochene Rechtsordnung und die durchbrochene Gottestat." 159

Gustav Aulen

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nicht zu trennen seien: „For him salvation is atonement and atonement salvation." 165 Während die Anselmische Anschauung die Versöhnung nur teilweise als Gottes Tat interpretiere und die Forderung nach einem meritum des Gottmenschen erhebe, mit dem die erstrebte göttliche satisfactio verdient werden müsse, bleibe für den hier lauernden Moralismus und jegliches legalistisches Handeln bei Luther kein Raum: Zwar habe Luther die Anselmschen Begriffe satisfactio und meritum benutzt. Doch seien sie bei ihm durchweg anders interpretiert oder sogar nachträglich interpoliert. 166 Auch wenn Luther in seinem Gal-Kommentar 1531/35 vielfach die Anselmsche Gedankenführung und sogar die scholastischen Termini „merita de congruo und de condigno, satisfacere" aufnehme, 167 zeige eine genauere Analyse, „daß der Kernpunkt zu tief liegt, um in die Kategorien der Rechtsordnung eingereiht werden zu können". 168 Luther stehe „der scholastischen Weisheit vollkommen fern, die ausrechnet, daß die Satisfaktion von der ,menschlichen Natur' in Christus ausgeführt werden muß. (...) Bei Luther liegt alles Gewicht darauf, daß die göttliche Macht, der göttliche ,Segen', die göttliche Liebe, das Erlösungs- und Versöhnungswerk ausführt." Damit aber werde der moralistische Zug beseitigt und „der Grundpfeiler der legalistischen Betrachtungsweise aufgehoben, denn sie ist unauflöslich mit dem Gedanken verbunden, daß Gott eine Kompensation von unten her bekommt." 169 In diametralem systematischen Gegensatz gegen die Anselmische und die spätere scholastische Auffassung sei im Blick auf Luthers Kampfmotiv der Grundgedanke völlig deutlich, unabhängig davon, welche „Dunkelheiten sich auch in den Lutheraussagen" fänden: „Der Kampf, welcher hier gekämpft und gewonnen wird, wird Gottes wegen gekämpft und gewonnen, ja er ist im Grunde Gottes eigener Kampf und Sieg." 170 Von diesem Grundmotiv der sich gegen die Macht der Tyrannen behauptenden Liebe Gottes aus verstand Aulen auch Luthers Rede vom Zorn Gottes. Dieser stand nicht nur „in unauflöslichem Zusammenhang mit der Liebe", sondern letztlich in deren Dienst: „Der Zorn des Erbarmens läutert und reinigt, er bricht nieder, um wieder aufzurichten. So ist der Zorn nicht von der Liebe geschieden, noch weniger ein Gegensatz zu ihr: die Liebe leuchtet hinter dem

165

Christus Victor, 119. Christus Victor, 119f. In diesem Zusammenhang verweist Aulen auf die Dissertation seines Schülers Ragnar Bring, Dualismen hos Luther, Lund 1929. Darin hatte dieser die Aulensche Deutung durch eine quellenorientierte Untersuchung zu erhärten versucht, indem er zeigte, daß im Gal-Kommentar 1531/35 Rörer seine Vorlesungsmitschrift für die Drucklegung dem „lateinischen Typ" angenähert habe. 167 Gottesbild, 202. 168 Gottesbild, 214, Anm. 1: Dies gelte, so Aulen, nicht nur „vom Satisfaktionsbegriff selbst", sondern auch „für den Begriff meritum": „Das Entscheidende für Luther ist nicht die als Ersatz gefaßte Leistung, sondern weit mehr die Größe und Effektivität der Tat, ihre Göttlichkeit." 169 Gottesbild, 213. Vgl. Christus Victor, 118: „The satisfaction is made by God, not merely to God." 170 Gottesbild, 211. 166

56

Deutungen: Stationen der Forschungsdebatte

Zorn hervor. Ja, nicht nur dies, sie ist mitten im Zorn in Funktion."171 Damit wandte sich Aulen gegen die Luther-Deutung Th. Harnacks: Es treffe nicht zu, „von Gottes Liebeswillen und seinem Zorneswillen zu sprechen, als von zwei ewig gültigen Ordnungen in Gott". Man dürfe trotz der bei Luther vorhandenen dynamischen Spannung in seinen Aussagen nicht ,„den Zorn' in gleicher Dignität wie die Liebe Ausdruck von Gottes , Wesen' sein" lassen.172 Es sei zu beachten, daß Luther den Zorn als Gottes „,fremdes', sein ,uneigentliches' Werk, die Liebe dagegen" als „sein ,eigenes', sein .eigentliches' Werk" bezeichne.173 An dieser Stelle war für Aulen bei Luther also kein dualistischer Hintergrund anzutreffen, anders als im Blick auf den Teufel als von ihm erfahrene Inkarnation des Bösen. Er bewährte seine Deutung auch an einer Interpretation von De servo arbitrio, wo für ihn deutlich wurde, „daß der Gotteswille keine indifferente Kraft ist, Gott ist der durch und durch qualifizierte Wille, der durch seinen Geist Kampf mit dem Teufel führt."174 Doch zeige ein Vergleich mit der Anschauung Marcions, daß Luthers „dualistisches Element" den „Dualismus nicht zwischen Schöpfer- und Erlöser-Gott" aufrichte, „sondern zwischen dem Gotteswillen und den bösen Mächten, die ihm entgegenstehen".175 In diesem Kontext verzichte der Reformator darauf, den Dualismus durch rationale Erklärungen aufzulösen: „Der Glaube erträgt es, vor ungelöste Rätsel gestellt zu werden."176 Aber er könne dies nur, sofern er in den Sieg Christi über die Mächte hineingezogen werde und dieser somit im Glauben immer neu Ereignis werde: „Es handelt sich im Glauben nicht nur um ein einmal in der Vergangenheit Geschehenes, sondern immer zugleich um ein immerwährend ,ewiges' Geschehen. Die , Versöhnung' ist nicht nur ein Werk, das einmal vollbracht wurde, sondern sie wird ständig in der Gegenwart verwirklicht."177 Dies sei der tiefe Sinn der bei Luther anzutreffenden „Christusgemeinschaft": Dieser schildere in seiner Auslegung des Gal-Kommentars von 1531/35 sehr

111

Gottesbild, 200. Gottesbild, 212, Anm. 2). 171 Gottesbild, 199. Doch hat Aulen in „Christus Victor", 11 Iff der Rede vom „wrath of God" bei Luther eine eingehendere Untersuchung gewidmet, in der er vor einer Unterschätzung des Zornes Gottes als tatsächlichem Ausdruck von Gottes Willen warnte (114): „The Wrath of God is the expressive phrase that shows God's will in its immediate and direct reaction to man's sin." Zugleich aber sei er „even the most awful and terrible of all the tyrants". Erst im Licht des in Christus errungenen Sieges werde der Zorn Gottes von der Liebe Gottes überwunden: „But the fact that the Wrath is overcome means not at all that it is to be regarded as only a pretended wrath, or that it ceases to exist; rather, through the Atonement it is aufgehoben, transcended, in the Hegelian sense - that is, it remains latent in and behind the Divine Love, and forms the background of the work which the Love fulfills." 174 Gottesbild, 224. 175 Gottesbild, 197. 176 Gottesbild, 198. 177 Gottesbild, 238. 172

Paul Althaus

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lebendig, „wie Christus in den Menschen spricht, wirkt und allerhand Taten ausübt".178 Mit dieser Darstellung der Versöhnungslehre Luthers hat Aulen weit über die Grenzen Schwedens hinaus Beachtung gefunden, wie auch die Übersetzungen seiner Werke zeigen. 179 Aber gegen seine Deutung, die nicht nur das Kampfmotiv selbst profiliert interpretierte, sondern auch dieses selbst als den genuinen Grundgedanken des Christentums herausstellte, regte sich auch Widerspruch. 180 In Deutschland war es maßgeblich Paul Althaus, der Aulen in seiner „Theologie Luthers" entgegentrat.181

3.7 Paul Althaus: Mächtekampf

und

satisfactio

In seinem Aufsatz „Das Kreuz und der Böse" von 1938 182 , der mit „Bemerkungen zu Karl Heims Lehre vom Werke Christi" diesem kritisch antwortete, konnte Paul Althaus Gustav Aulens Werk „Den Kristna Försoningstanken" noch zustimmend aufgreifen. 183 Doch in seiner 1962 erschienenen Theologie Luthers, mit der er „in der Darstellung den Reformator so viel als möglich 178 Gottesbild, 237f. Generell destillierte Aulen seine Interpretation der Versöhnungslehre Luthers vor allem aus dieser von Georg Rörer 1535 edierten Vorlesung des Jahres 1531. Hinzu nahm er die Lieder Luthers (Gottesbild, 238) und zitierte die Katechismen. 179 Vgl. dazu in „Christus Victor", XI-XIX das „Foreword to 1970 Edition" von Jaroslav Pelikan, die Besprechung von „Den kristna Försoningstanken" durch E. Hirsch in ThLZ 25/1930, 294-297 und die finnische Studie von Osmo Tiililä, Das Strafleiden Christi, Beitrag zur Diskussion über die Typeneinteilung der Versöhnungsmotive (=AASF, Ser. Β XLVIII, 1), Helsinki 1940; hier wird die skandinavische Diskussion um den Ansatz von Aulen beschrieben (8-27) und die „Behandlung der Strafleidenslehre in der neueren Theologie" von Schleiermacher bis zu Emil Brunner und Erich Vogelsang instruktiv nachgezeichnet (28-70). Zu den Stellungnahmen zu Aulens These vgl. auch J. J. Anderlonis, The Soteriology I, 378^109. 180 H.-M. Barth, Der Teufel und Jesus Christus, 56, erkannte in Aulens Deutung eine leicht modifizierende Erneuerung der Ritschl'schen Anschauung: „Hinter dem schwedischen Ansatz scheint, so gesehen, eine im Sinne des ausgehenden vorigen Jahrhunderts liberale theologia gloriae zu stehen." - Differenzierte Kritik äußert auch H. Alpers in seiner Studie, vgl. etwa 177f; hier hebt er hervor, daß Aulen die Gegenüberstellung der Motive und die Abweisung der christologischen Sühnetod-Gedanken um einen „teuren Preis erkauft" habe: „Nur wenn Christus unsere Sünde geworden ist, kann auch sein Sieg unser Sieg werden. Dem Wesen der personalen Stellvertretung entspricht es, daß das Resultat, der Sieg Christi über das Böse, nicht unser Sieg werden kann, wenn die Person Christi nicht wirklich an unsere, des Sünders Stelle getreten ist und nicht nur mit Gott unter der gottfeindlichen Welt, sondern auch an Gott in unmittelbarer Betroffenheit des Gewissens durch sein Gericht über die Schuld der Sünde gelitten hat." Auch die Abweisung des Satisfaktionsdenkens, bzw. der rechtlichen Gedanken habe systematische Inkonvenienzen zur Folge (179ff)· Luther könne jedenfalls „das Werk Christi weiterhin häufig als satisfactio" beschreiben" (1930· 181 Gütersloh 1962. 182 ZSTh 15/1938, 165-193. 181 Zwar beurteilte Althaus Aulens „Abwertung Anselms" in der Einleitung seines Aufsatzes kritisch (165), nahm dessen Deutung des Mächte-Kampfes aber auch positiv auf (vgl. 180, Anm.

2).

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Deutungen: Stationen der Forschungsdebatte

selber zu Worte kommen" lassen wollte, 184 trat er in dem einzigen Abschnitt seines Buches, der sich explizit der Sekundärliteratur zur Lutherinterpretation zuwandte, Gustav Aulens Deutung entgegen. Nach dessen Darstellung solle bei Luther das „Entscheidende an Christi Werk" nicht „die Beziehung auf Gottes Gerechtigkeit und Zorn, sondern die auf die den Menschen bedrohenden Mächte sein". Eine solche Auffassung aber habe bereits Albrecht Ritsehl vertreten, dessen Thesen Th. Harnack „als Verzeichnung Luthers" erwiesen habe. 185 So konnte Althaus nicht umhin, als ausgehend von Harnacks Interpretation Aulen entschieden zu widersprechen. Zum einen sei es unzutreffend, in Luthers Darstellung des Mächtekampfes dem Gesetz und dem Teufel die Funktion der Leitmächte zuzuerkennen: Die „Mächte, mit denen Christus gerungen habe, haben Recht und Macht nur durch Gottes Zorn". Auch das Gesetz sei „unter allen Mächten am offenkundigsten Gottes Werk und Wille, am unmittelbarsten Träger und Mittel seines Zornes und Gerichts". So gebühre folgerichtig „an Christi Werk die Beziehung auf den Zorn Gottes, also auf unsere Schuld, die entscheidende Stelle, vor und über der Beziehung auf die Mächte." 186 Damit aber zeigte sich zum andern für Althaus auch, daß Aulen die systematische Beziehung zwischen Anselm von Canterburys „Cur Deus homo" und Luthers Versöhnungslehre unzutreffend bestimmt habe: „Daß die Idee der Genugtuung für Luthers eigenes Denken schlechthin unwesentlich ist ..., ist ein Vorurteil, das durch die Texte nicht bestätigt wird." Sofern Luther Anselmische Gedankengänge und seine Terminologie aufgreife, sei doch zu fragen, warum „das nicht auch theologisch-ernst von Luther gemeint sein" solle.187 Es bedeute also, so Althaus zusammenfassend, „eine beträchtliche Verzeichnung Luthers, wenn man ihn einseitig dem .klassischen' Typus, wie die Lunder ihn verstehen, einordnet. Vielmehr verbindet Luther - in den Begriffen Aulens zu reden - die .klassischen' und die .lateinischen' Gedanken, aber so, daß er entscheidend in der lateinischen Linie geht." Zwar nehme Luther die griechisch-altkirchliche Theologie auf, indem er Christus, „den Gekreuzigten und 184

So im Vorwort, 8. Theologie Luthers, 191. 186 Theologie Luthers, 192f. Ähnlich bereits E. Hirsch in der ThLZ 25/1930,295f. Er vermochte das „klassische" Versöhnungsmotiv nur unter der Voraussetzung als echten „Ausdruck des Christlichen" anzuerkennen, „wenn der Zorn Gottes als die entscheidende der zu überwindenden Mächte gedacht wird". Sofern man nun in der Alten Kirche „die Versöhnung auf die Mächte von Sünde, Tod und Teufel bezogen" habe, nicht aber „auf Gesetz und Zorn", sei „die Entwicklung ins lateinische Versöhnungsmotiv hinein ein Fortschritt, und Luther ist nicht einfach zum .klassischen' Versöhnungsmotiv zurückgekehrt, sondern hat es vertieft und umgebildet zu einem neuen Typ, der aus dem .klassischen' und dem .lateinischen' Versöhnungsmotiv Momente in sich vereinigt, dem .klassischen' in der Weise des Ausdrucks, dem .lateinischen' aber in der verarbeiteten Reflexion näher stehend." - Mit dieser Anschauung Hirschs hat sich Aulen bereits im ZSThAufsatz von 1931 auseinandergesetzt und hier von einer „Vertiefung" des altkirchlich-klassischen Motivs durch Luther gesprochen (525). 187 Theologie Luthers, 193. 185

Paul Althaus

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Auferstandenen, als den Überwinder der gegenwärtig die Menschheit zerstörenden Verderbensmächte" verstehe, doch gelte zugleich: „Mit Anselm bezieht er Christi Werk entscheidend auf Gott."188 Es ist unverkennbar, daß Althaus in Aulens Deutung und in seiner eigenen Interpretation von Luthers Versöhnungslehre und insbesondere des duellum mirabile Aspekte aufnahm, die nicht nur Theodosius Harnack und Albrecht Ritsehl, sondern bereits Gottfried Thomasius und Johann Chr. Konrad von Hofmann diskutiert hatten. Insbesondere die Frage nach dem systematischen Verhältnis des Mächtekampf-Motivs zur Anselmischen Satisfaktionstheorie sowie deren Bedeutung für Luthers Versöhnungslehre rückte auch in dieser Kontroverse in den Mittelpunkt des Interesses.

188 Theologie Luthers, 194. In ähnlicher Weise hat O. Tiililä, Strafleiden Christi, Aulens Ansatz kritisiert. Es sei die geforderte „Befreiung von der Strafe eine conditio sine qua non für die christliche Freude, denn die Anfechtungen der Christen - über die Luther die schwerwiegendsten durch eigene Erlebnisse eingegebenen Worte ausgesprochen hat - gründen sich zutiefst auf die Furcht Gottes. Sie lässt sich wohl nicht trennen von seinem Zorn und von seiner Strafe und aufseiten des Menschen von seiner Schuldnotlage" (27). Tiililä hat dementsprechend das Existenzrecht der Mächte aus der durch die Sünde verursachten Schuld gegenüber Gott abgeleitet. Diesen Aspekt der Schuldverhaftung des Menschengeschlechts gegenüber Gott nicht genügend herausgearbeitet zu haben, sei ein Defizit in der Aulen'sehen Darstellung der Theologie Luthers: „Wenn Luther besonders in seinen späteren Schriften auch die .klassische' Kampflinie, auf der er die Versöhnung als Kampf Christi gegen die Mächte erblickt, vertieft, bewegt er sich dennoch fortgesetzt im Grunde auf der jetzt dargestellten Schuldlinie." Die Mächte oder Tyrannen seien also „sozusagen Schuldmächte. Sie sind durch die Schuld veranlaßt" (215). So hat Tiililä auch das Verhältnis Anselm-Luther differenzierter zu fassen versucht: Zwar handle Gott bei Luther nicht nach „dem ,Recht' der Leistungen der Menschen", aber damit sei „keineswegs gesagt, dass die Heiligkeit Gottes nichtsdestoweniger höchste Rechtlichkeit einschlösse": Es enthalte „das oft von Luther gebrauchte Wort Satisfaktion ... auch gerade eine präzise Beachtung dieser höchsten Rechtlichkeit", die allerdings „etwas ganz anderes" sei als die Intention von Anselms Satisfaktionslehre: „aber sie ist dennoch Satisfaktion - Selbstverwirklichung der Heiligkeit Gottes" (2240Im Einklang damit sei es unangemessen, die Versöhnung vornehmlich als eine Tat zu betrachten, die Christus entweder qua homo oder qua deo ausgeführt habe: Es liege die Spitze des Arguments gerade darin, daß Christus „als Versöhner sowohl qua deus als auch qua homo gewirkt" habe: „Die Zweinaturenlehre mag als durch das Kreuz veranschaulicht begriffen werden: Christus ist sowohl Gott als auch Mensch, Richter und Gerichteter, Herr und Knecht, Sündloser und der Sünde wegen Verfluchter, Beherrscher der Welt und der in den Tod gehende Mann der Leiden - ganz wie der durch ihn erlöste Mensch demgegenüber in seinem inneren paradoxen Dualismus zugleich iustus et peccator ist!" (252) Ohne die Ergebnisse der Luther-Interpretation hier vorwegzunehmen, zeichnet sich in Tiililäs Deutung m. E. die Überwindung der durch Aulen vorgetragenen Alternativen in der Interpretation des Lutherschen Versöhnungsgedankens bereits ab. Sie ermöglichte zugleich die Herausstellung des spezifischen Interesses der finnischen Lutherdeutung an dem Gesichtspunkt der „Erkenntnis des Sündengefühls" (6), ohne die Luther-Deutung damit in dieser Richtung zu verengen.

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Deutungen: Stationen der Forschungsdebatte

3.8 Theobald. Beer: Der fröhliche Wechsel und Luthers Dualisierungen Doch zeigte sich mit der Veröffentlichung einer in jahrzehntelanger Arbeit des Leipziger Pfarrers Theobald Beer189 gereiften Studie zum Motiv des „fröhlichen Wechsels", daß Luthers Christologie und Versöhnungslehre weitere strittige Interpretationsaspekte impliziert. Beers 1974 in erster und 1980 in zweiter, erweiterter und umgearbeiteter Fassung erschienene Monographie,190 die im Untertitel eine Orientierung über „Grundzüge der Theologie Martin Luthers" versprach, veranlaßte eine Reihe von kritischen Stellungnahmen und Rezensionen.191 Beer wollte mit seiner Studie das bestimmende Zentrum der Theologie Luthers in den Blick nehmen. Er suche, so die Einleitung, nach dem „Herzstück seiner Theologie, dem Ausdruck seiner höchsten Angst und Freude, in dem sich alle wichtigen Begriffe wie in einem Brennspiegel treffen. Als solches bietet sich uns ,der fröhliche Wechsel und Streit' dar. Dessen Kern ist das ,pro me', das alle wichtigen Probleme der lutherischen Theologie enthält."192 Diesen zentralen Gedanken von der siegreichen Überwindung der gottfeindlichen Mächte und der Übereignung dieses Sieges an die Glaubenden traf Beer zunächst in der Freiheitsschrift von 1520 an,193 fand ihn aber auch in

189 Vgl. die biographischen Angaben bei Peter Manns, „Katholische Lutherforschung in der Krise"?, in: ders. (Hg.), Zur Lage der Lutherforschung heute, Wiesbaden 1982, 90-128 (112f). 190 Der fröhliche Wechsel und Streit, Grundzüge der Theologie Martin Luthers, 1. Aufl. 2 Bde. Leipzig 1974, 2. Aufl. (=SlgHor, NR 19), Einsiedeln 1980. 191 Vgl. die Auflistung bei Otto Hermann Pesch, Neuere Beiträge zur Frage nach Luthers „Reformatorischer Wende", in: Bernhard Lohse (Hg.), Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, Neuere Untersuchungen (=VIEG, Abt. Religionsgeschichte, Beih. 25), Stuttgart 1988, 245-273; 274-341, S. 258, Anm. 22; überdies die beiden weiteren Stellungnahmen von Pesch zu Beers Buch: ders., „Um Christi willen...", Christologie und Rechtfertigungslehre in der katholischen Theologie: Versuch einer Richtigstellung, in: Catholica 35/1981,17-57; ders., „Ketzerfürst" und „Vater im Glauben" - die seltsamen Wege katholischer Lutherrezeption, in: Hans Friedrich Geißer (Hg.), Weder Ketzer noch Heiliger: Luthers Bedeutung für den ökumenischen Dialog, Regensburg 1982, 123-174 (143-146); Ulrich Asendorf, Die Grundzüge der Theologie Luthers im Lichte seines Ansatzes vom „admirabile commercium", in: Martin Luther - R e f o r m a t o r und Vater im Glauben', Referate aus der Vortragsreihe des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Hg. Peter Manns, Stuttgart 1985, 262-279; Raymund Schwager, Der wunderbare Tausch, 192-196; Johannes Brosseder, Das heutige katholische Lutherbild, in: Una Sancta 37/1982, 281-292; (284). Positiv über das Beer'sehe Werk äußerten sich Remigius Bäumer, Um Luthers Theologie. Zur Diskussion um Theobald Beer, Der fröhliche Wechsel und Streit, in: MThZ 34/1983, 146-156; 224-231; Jürgen Schlömann, in: LM 21/1982, 529; kritische Repliken auf diese Anzeige veranlaßten die Redaktion der Luth. Monatshefte, den Straßburger Reformationshistoriker Marc Lienhard um eine eingehendere Rezension zu bitten: Luthers Theologie bleibt im Gespräch, Anmerkungen zu einem umstrittenen Buch, in: LM 22/1983, 6 7 70. 192 193

Beer, Wechsel und Streit, 15. WA 7, 25, 26ff. Dazu Beer, Wechsel und Streit, 15f.

Theobald Beer

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zahlreichen anderen Schriften und Predigten der Weimarer Ausgabe in allen Schaffensperioden Martin Luthers.194 Während Beers Textbehandlung in Rezensionen wiederholt kritisiert wurde,195 fand er mit dieser ihn leitenden Beobachtung durchaus Zustimmung.196 Auch Raymund Schwager konstatierte, „daß mit dem fröhlichen Wechsel und Streit tatsächlich ein ganz zentraler Gedanke der Theologie Luthers angesprochen wird."197 Darauf beschränkte sich bei Schwager und anderen Rezensenten aber auch die Zustimmung zu der Beerschen Interpretation:198 Hatte er doch im systematischen Grundgerüst von Luthers Theologie eine ganze Reihe von gedanklichen Trennungen, bzw. systematischen Verdoppelungen wahrgenommen, die fragen ließen, ob nicht vielmehr Beer selbst „die Aussagen Luthers in einen dem Reformator fremden Denkrahmen zu pressen versucht" habe. Die Vermutung liege nahe, so Schwager, „daß bei ihm Mißverständnisse vorliegen".199

194 Vgl. die aneinandergereihten Belege bei Beer, Wechsel und Streit, 16-30. Bei diesen wird allerdings nicht nach dem Grad ihrer Authentizität (Predigt-Nachschrift, eigenhändige Darstellung, autorisierter Nachdruck, Vorlesungsnachschrift, etc.) und ebensowenig nach literarischen Gattungen differenziert; Adressaten und historische Bezüge werden selten beachtet. Auch wird die Problematik der sich entwickelnden Theologie Luthers nicht reflektiert, vgl. etwa das Kapitel zur „doppelten Gerechtigkeit" 37ff, wo Beer Luthers Randbemerkungen zu Augustins De Trinitate IV, 3 von 1509 auswertet (39ff). Beer meint im Galaterkommentar von 1519, WA 2,504, 8-11 in der Auslegung zu Gal 2, 21 das „Bild vom geköderten Leviathan" zu finden (a.a.O., 22), das dort nicht erwähnt wird. Die Formulierung lautet: „At in Christo peccata iusticiam vincere non possunt sed vincuntur: ideo in ipso consummuntur." 195 Erwin Iserloh, Der fröhliche Wechsel und Streit, Zu Theobald Beers Werk über die Grundzüge der Theologie Martin Luthers, in: Catholica 36/1982, 101-114 (102): „Nicht selten sind direkte Fehldeutungen auf Grund verkürzter Zitation oder falscher Interpretation festzustellen". Jared Wieks, Revision des katholischen Lutherbildes?, Zu Theobald Beers Grundzüge der Theologie Martin Luthers, in: ThRv 78/1982, 1-12 (5); Marc Lienhard, LM 22/1983, 67: „Statt Zitate aneinanderzureihen, wäre ein Eingehen auf die Gattung eines Textes, auf den Addressaten und den theologisch-geistlichen Kontext sinnvoller gewesen." 196 J. Wieks, Revision des katholischen Lutherbildes?, ThRv 78/1982, 1 - 1 2 (6): „Zentral für Luthers Verständnis der Erlösung ist die Sicht, daß Christi Menschheit heimgesucht und ergriffen wurde durch die feindlichen Mächte von Sünde, Tod und Zorn. Durch die unbesiegbare Gottheit wurden jedoch in Christus diese Todesmächte erwürgt und entmächtigt"; E. Iserloh, Catholica 36/ 1982, 105: „Mit Recht glaubt Beer, hier ein Herzstück der Theologie Luthers gefunden zu haben, ,in dem sich alle wichtigen Begriffe wie in einem Brennspiegel treffen'." Ähnlich Werner Löser S. J., Ein katholischer Versuch zu Luther, Bemerkungen zu Theobald Beer, Der fröhliche Wechsel und Streit. Grundzüge der Theologie Martin Luthers, in: ThPh 56/1981,565-573 (569). Vgl. auch die Feststellung bei Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Christusgemeinschaft und Rechtfertigung, Luthers Gedanke vom fröhlichen Wechsel als Frage an unsere Rechtfertigungsbotschaft, in: Luther 35/1964, 34—45 (35f): „Alles liegt daran, daß es zur wirklichen Übereignung der Güter Christi an mich kommt, daß Christus und mein Gewissen eins werden. Darum allein geht es. (...) Hier schlägt das Herz der theologischen Leidenschaft Luthers." 1,7 Tausch, 195; vgl. auch die von ihm angeführten Belege aus der Lutherforschung, Anm. 21. 198 Johannes Brosseder konstatierte allerdings in seinem Aufsatz (Una Sancta 37/1982, 284), daß es sich „schlicht wissenschaftlich" nicht lohne, sich mit Beers Buch auseinanderzusetzen. Es müsse darin „fast jeder Satz ... über Luther richtiggestellt werden". 199 Schwager, Tausch, 196.

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Deutungen: Stationen der Forschungsdebatte

Nach Beer verdoppelte Luther etwa in der Rechtfertigungslehre den Begriff der iustitia, wo er augustinische termini aufnehme: „Durch Augustins Unterscheidung zwischen sacramentum und exemplum wurde Luther angeregt, eine doppelte Gerechtigkeit anzunehmen."200 Demgemäß rede Luther im Blick auf die Christen auch von einer „doppelten Heiligkeit",201 von denen die eine rein äußerlich und dem Menschen stets fremd bleibe, die andere aber, die sich im Handeln des Menschen zu erweisen habe, keine Heilsrelevanz beanspruchen dürfe. Verdoppelungen seien demgemäß auch in anderen Schlüsselbegriffen der Theologie Luthers anzutreffen: Im Galaterkommentar von 1531/35 spreche Luther von einer „doppelten Kreuzigung" der Christen, der eine „doppelte conscientia" entspreche,202 und noch in einer Predigt vom Juli 1544 „wird das doppelte Sterben der Christen ein doppeltes Totschlagen genannt".203 Verdoppelungen analysierte Beer auch in Luthers Gnadenlehre,204 mit denen sich dieser von den theologisch normativen Gedanken der Scholastik entferne, in seiner Sündenlehre205 und in seiner Gotteslehre.206 Derlei Inkonvenienzen der Theologie Luthers würden nur durch Gedankengänge gemildert, in denen sich in der „Beziehung von gratia und donum", in der „theologischen Anthropologie" und in der „Christologie" eine „glückliche Inkonsequenz" zeige.207 Durch sie habe Luther selbst zuweilen das „Prinzip des Kontrastdenkens" gemildert oder überwunden.208 In unserem Zusammenhang ist die Analyse Beers zu Luthers Christologie von Interesse.209 Diese sei vom Gedanken des „fröhlichen Wechsels" bestimmt und beherrscht, der seine Zuspitzung in der christologischen Formel finde:

200 Beer, Wechsel und Streit, 37. Eine konzise Zusammenfassung der Beerschen Studie findet sich etwa in der Rezension von W. Löser S. J., ThPh 56/1981, 5 6 6 - 5 6 9 . 201 Beer, Wechsel und Streit, 55. 202 Beer, Wechsel und Streit, 56f. 203 Beer, Wechsel und Streit, 58f; er bezieht sich auf eine Passage aus W A 49, 518, aus einer Predigt am 20. Juli 1544 über Rom 6, in der Luther anschaulich seine Tauflehre entwickelt: Hier heißt es in Rörers Nachschrift Z. 4 - 1 2 : „Si enim credis, quod mors Christi tua potentia et in eum baptisatus, si Diabolus terret, dicis: Ego baptisatus. Quid ad me? Sed in mortem Christi. Da stehet er nicht. Iudaei quidem etiam baptisantur, mater alle tage das kind. Sed meus baptisatus factus in krafft und macht des tods Christi. Ob wir ein wenig angefochten et Diabolus terret, sed si scis dicere, ad te redies. N u m scis me baptisatum in mortem Christi? Ideo, das mein tods sol erwürget und tod sein per mortem Christi und du am Galgen hengst? Christus hat mich dir tod geschlagen. Ich werd on unterlas todgeschlagen. Nihil vivit quam mors et resurrectio Christi." 204

Beer, Wechsel und Streit, 73ff. Beer, Wechsel und Streit, 177: „Mit dem Begriff der doppelten Gerechtigkeit ist der Doppelbegriff der Sünde gegeben." 206 Beer, Wechsel und Streit, 455ff; in diesem Kap. nahm Beer auch auf De servo arbitrio Bezug, vgl. 470f. 207 Beer, Wechsel und Streit, 4 8 1 ^ - 8 5 . Beer nimmt hier eine in anderem Zusammenhang von Gerhard Heintze verwendete Formulierung auf, vgl. Luthers Predigt von Gesetz und Evangelium, München 1958, 135. 208 Beer, Wechsel und Streit, 481. 209 Die diesbezügliche Darstellung Beers findet sich im 4. Kap., 323^455. 205

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„Christus ist tot und lebendig zugleich." 210 Das „Aussageziel" dieser Formel sei dahingehend zu bestimmen, daß „Christus und die Christen ,voll Sünde und ohne Sünde' sind". 2 " In dieser Konformität von Christologie und theologischer Anthropologie, bzw. von Christus und dem Glaubenden kulminiere die Vorstellung vom fröhlichen Wechsel und zugleich die Pointe der Christologie Luthers. Doch habe Luther gerade in diesem Zentrum seiner Theologie eine bedeutsame theologiegeschichtliche Anleihe vorgenommen: Das „Anschauungsbild, das dieser Formel zugrunde liegt", habe Luther aus dem ihm theologiegeschichtlich überkommenen „Bild des geköderten Leviathan genommen". 212 Es sei nicht zu übersehen, daß dieses Bild vom durch Täuschung überwundenen Teufel/Leviathan, für das Beer eine ganze Reihe von Belegstellen aus der Weimarer Lutherausgabe anführte, 213 nicht nur die bestimmende Intention der Christologie Luthers widerspiegele, sondern überdies „an allen kontroverstheologisch entscheidenden Punkten der Theologie Luthers angewandt" werde. 214 Es sei „bestimmend für Luthers Exegese und Schriftverständnis", aber kraft seiner Evidenz erhalte bei Luther auch das Chalkedonense „einen neuen Sinn": „Er will nicht die Wirksamkeit der Verderbensmächte anschaulich, personifiziert darstellen, sondern vor allem die Alleinwirksamkeit der Gottheit, ohne Mitwirkung der Menschheit Christi, betonen." Allerdings sei die „Eigenwirksamkeit und die Ideenmächtigkeit des Bildes, das den Vätern nur als katechetische Anschauung" diente, dem Reformator „nicht mehr zum Bewußtsein" gekommen: 215 „Nicht nur gegen die Schwärmer, sondern gegen alle Scholastiker oder Sophisten verteidigt Luther den Artikel von der Rechtfertigung mit Hilfe des Bildes vom geköderten Leviathan." 216 Mit der Adaption dieses Bildes gehe in Luthers Christologie eine ganze Reihe von Widersprüchen einher. Zunächst sei es eine Verkürzung der traditionellen Zwei-Naturen-Christologie, daß Luther gemäß der Aussagekraft dieses

2,0

Beer, Wechsel und Streit, 331. " Beer verweist hierzu auf das Scholion zu Rom 7 , 1 8 im Röm-Kommentar 1515/16, W A 56, 343, 16-21, w o Luther auf die Analogie zwischen dem Christen und Christus hinweist. Jener sei zugleich „spiritualis et carnalis, Iustus et peccator, Bonus et malus", dieser „simul mortua et viua, simul passa et beata, simul operata et quieta etc. propter communionem Ideomatum". Zu dieser Passage vgl. auch Marc Lienhard, Luthers christologisches Zeugnis, Entwicklung und Grundzüge seiner Christologie, Göttingen 1980, 48. Während Beer in einer solchen Formulierung einen Beleg für Luthers christologische Verdoppelungen erkennt, ist Lienhard bemüht zu zeigen, daß die im Gedanken der communicatio idiomatum betonte „Mitteilung der Eigenschaften", also der Einheitsaspekt, die Unterscheidung zwischen den Naturen Christi nicht nivelliert: Luther halte zugleich „den Unterschied zwischen den beiden Naturen aufrecht". 212 Beer, Wechsel und Streit, 339. 211 Die „wichtigsten Belegstellen" nennt Beer 3 4 0 - 3 4 4 . 214 Beer, Wechsel und Streit, 348. 215 Beer, Wechsel und Streit, 351. 216 Beer, Wechsel und Streit, 349. Vgl. auch andere Erwähnungen dieses Bildes bei Beer, 25, 41, 57, 151, 154, 264, 328, 339, 361, 364, 380, 382, 4 0 6 u. ö. 2

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Deutungen: Stationen der Forschungsdebatte

Bildes die überwindende Macht allein der Gottheit zuschreibe, sofern sie als „Angelhaken" den Teufel überliste: „Von einer inneren Aktivität der Menschheit Christi kraft der hypostatischen Union ist nicht die Rede, die Menschheit wird vielmehr als tot, d. h. als nicht-wirkend vorgestellt."217 Auch sei die Differenzierung zwischen dem status exinanitionis und dem status exaltationis der zweiten Person der Trinität, also zwischen Erniedrigung und Erhöhung Christi nicht stringent getroffen218 und die Einheit der Naturen in Christus nicht eng genug gefaßt: „Von einer theandrischen, d. h. gottmenschlichen Handlung ist nicht die Rede."219 Somit sei bei Luther eine „Verfremdung der Idiomenkommunikation" anzutreffen, die Vereinigung der Naturen sei nur „als ein Kompositum bezeichnet": „Damit schwindet sowohl der Blick auf die passive Heiligung der Menschheit in Christus, die mit der Inexistenz des Logos im Fleisch gegeben ist, als auch auf die aktive Heiligungsaktion der Menschheit in Christus bei dem Werk der Erlösung."220 Aber auch bei der Zueignung des Heilswerkes Christi seien Luther Inkonvenienzen unterlaufen: „er verwendet für die Darstellung der Verbindung des Sünders mit Christus vor allem mechanische Ausdrücke".221 Im Blick auf die bei Luther häufig anzutreffende christologische Brautmystik, die auch in der zentralen Passage in der Freiheitsschrift anklingt,222 erläuterte Beer: „Unum corpus und copulatio bedeutet dasselbe wie conglutinatio (Zusammenleimen)."223 An dieser letztgenannten Interpretation wird die Problematik der Beer'schen Position besonders deutlich. Doch finden sich neben derlei problematischen 217

Beer, Wechsel und Streit, 88; ähnlich 264, 328, 329, 367, 374f, 432, 446. Beer, Wechsel und Streit, 367: „Erhöhung und Vollendung bedeuten also nicht Verwandlung und Vollendung der Menschwerdung, sondern Aufhören und Ablegen der Knechtsgestalt. Christus ist selig seiner Menschheit nach, ehe er sich entäußert. Die Entäußerung und Erniedrigung erfolgt nach der Menschwerdung und geht wieder vorüber. Sie ist ohne innere Verbindung, ja in einem gewissen Gegensatz zu ihr." 219 Beer, Wechsel und Streit, 329. 220 Beer, Wechsel und Streit, 380. Er konzediert dagegen 405, „daß auch die hellenistische Philosophie keinen Begriff bereit hatte, der den Gedanken der personalen Einheit der göttlichen und der menschlichen Natur der Offenbarung gemäß hätte ausdrücken können. Weil es in der Philosophie keinen Begriff für ein Suppositum gibt, deshalb meinte Luther, die Aussagen der Heiligen Schrift, die die personale Einheit der beiden Naturen in Christus betonen, aufspalten zu müssen." Erwin Iserloh hat in seiner Rezension darauf aufmerksam gemacht, daß Beers diesbezügliche Kritik nicht ausreichend begründet ist (Catholica 36/1982, 103): „Umgekehrt scheint aber Beer selbst unklare Vorstellungen von der Lehre der Kirche bezüglich der Inkarnation zu haben, wenn er die Idiomenkommunikation ,als Regel für den Austausch der Eigenschaften der Naturen' versteht..., wo doch nach der Grundregel der Idiomenkommunikation die Attribute nicht zwischen den Naturen, sondern zwischen den Personennamen getauscht werden." 221 Beer, Wechsel und Streit, 422, ähnlich 135. 222 WA 7, 25, 26-30: „Nit allein gibt der glaub ßovil, das die seel dem gottlichen wort gleych wirt aller gnaden voll, frey und selig, sondernn voreynigt auch die seele mit Christo, als eyne brawt mit yhrem breudgam. Auß wilcher ehe folget, wie S. Paulus sagt, das Christus und die seel eyn leyb werden ..." Dazu Beer, S. 15f. 223 Beer, Wechsel und Streit, 422. 218

Theobald Beer

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Deutungen auch überlegenswerte Aspekte in seiner Darstellung. So stellte sich auch Beer die Frage nach dem Verhältnis der Anselmischen Satisfaktionstheorie zur „Kampfestheorie" und konstatierte, daß diese Frage nicht alternativ beantwortet werden dürfe: „Luther hat verschiedene Versöhnungstheorien miteinander verbunden. (...) Man kann für die Interpretation der Theologie Luthers nicht eine einheitliche Christologie zugrunde legen." Auch hierin liege ein Anlaß zur Kritik: In Luthers „Erlösungs- und Versöhnungstheorien" sei nicht nur „eine Spannung" anzutreffen, sie seien mehr noch „von verschiedenen, sich widersprechenden Anschauungen gebildet". 224 Zweifellos hat Beer mit seiner Analyse die Lutherforschung auf zentrale Aspekte der lutherischen Theologie aufmerksam gemacht und das Desiderat einer quellenorientierten Analyse zum Kampfmotiv, bzw. zum „fröhlichen Wechsel und Streit" deutlich werden lassen. Doch gilt zugleich, daß sowohl die von ihm behandelte Textbasis, die theologiegeschichtliche Analyse, die Luthers Adaption des altkirchlichen Kampfmotivs mit dem Bild des „Leviathan am Haken" betrifft 225 als auch seine Urteile im Blick auf Luthers Christologie einer kritischen Überprüfung bedürfen, um das von ihm herausgearbeitete „Herzstück" der Theologie Luthers angemessener in den Blick zu bekommen. Beers Studie zeigt aber ihrerseits die möglichen kontroverstheologischen und ökumenischen Implikationen, die mit der nun zu analysierenden reformatorischen Reformulierung des Konzeptmotivs verbunden sind.

224

Beer, Wechsel und Streit, 438f. Vgl. den „Exkurs zur Geschichte und zur Beurteilung des Bildes vom geköderten Leviathan" 346-351. 225

4. Christi Heilswerk als Kampf: Die Tyrannen und ihre Überwindung im Gal-Kommentar 1531/35 und in De servo arbitrio 1525 In vielen Schilderungen des duellum mirabile begegnen die zu überwindenden feindlichen Mächte Sünde, Tod, Zorn Gottes, Fluch, Gesetz, Satan und Hölle in summierenden Aufzählungen; einzelne tyranni1 werden von Luther nach erstem Anschein zufällig aneinandergereiht. So heißt es etwa in einer Osterpredigt von 1529: „Audistis in passione, quod Christus sich lassen creuzigen und begraben et peccatum, mors eum conculcarunt pedibus. Satan ligt auff yhm et peccatum mundi ligt auff yhm im grab, peccatum, mors, Satan est dominus suus."2 Im Gal-Kommentar 1531/35 werden zu Gal 2, 16 etwa Gesetz, Sünde, Teufel und Tod kombiniert: „Si accusat lex, peccatum, pavefacit diabolus, mors, oportet Christianus her fare et respiciat Christum; tunc habet in suo corde eum qui est victor mortis, peccati, qui habet legem in manu et dicit: Tu mors, lex et peccatum, sitis damnata." 3 Zu Gal 3, 13 hob Luther hervor, daß es sophistischer Blindheit entspringe, im Vertrauen auf eigene Werke gegen die Tyrannen zu kämpfen. Dies gelte von „morti, peccato, inferno, maledictioni".4 Aufzählungen von einzelnen Tyrannen und ihre Reihenfolge variieren, ohne daß ein offenkundiger Anlaß für eine jeweils begegnende Reihung erkennbar wäre. Entsprechend gewann Hans-Martin Barth über das anzutreffende „Gefüge von Mächten" den Eindruck, „daß Luther diese Mächte - aus Angst vor ihrer Bedrohung oder aus Freude über ihre Überwindung - in wahlloser Reihenfolge nacheinander aufzählt, wie es ihm gerade einkommt."5 1

Vgl. zur Terminologie etwa WA 40/1, 85, 5f: „peccatum tyrannum potentissimum". Veit Dietrich spricht in seiner Bearbeitung zu Gal 3,13 (WA 40/1,24-30) von „monstra illa: peccatum, mortem, maledictum". 2 Predigt vom Ostersonntag Vormittag 28. März 1529, Nachschrift Georg Rörer, C1 7 118132, hier 127 R. 3 WA 40/1, 235, 5 - 8 (Hs). 4 WA 40/1, 442, lf. 5 Der Teufel und Jesus Christus, 68f. Barth sieht bei Luther „zwei, bzw. drei Begriffsketten", deren erste „in ihrer Grundstruktur aus ,lex', .peccatum' und ,mors"' bestehe. Die beiden anderen kombinieren Sünde, Tod und Teufel oder beziehen den Zorn Gottes mit ein. Die Zuweisung der Belegstellen läßt aber diese Reihenbildung als nicht recht überzeugend erscheinen. Auch läßt Barth offen, warum ihm die „dritte Kette, die unter all die zu beseitigenden teuflischen Mächte auch den Zorn Gottes mit einbezieht", am „interessantesten und theologisch gewichtigsten" erscheint. - Überdies können auch andere Erfahrungsmächte zu Quellen der Anfechtung werden, vgl. etwa die Auslegung zu Gal 1,3 WA 40/1,73, lOf (Dr): „Duo diaboli nostri qui nos excruciant,

Christi H e i l s w e r k als K a m p f

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Oft liegt das argumentative Gewicht auf der kontrastierenden Gegenüberstellung eines variablen Mächte-Konsortiums zum Heilswerk Christi, ohne daß die systematische Differenzierung ihres Wirkungszusammenhanges eingehenderes Augenmerk fände. Deutlich ist jedenfalls, daß die theologiegeschichtliche überkommene bereits bei Augustin begegnende, in mittelalterlichen Texten häufig als causa von tentationes genannte Reihe der Verführungsmächte caro, mundus, diabolus in Luthers Kampfesdarstellungen nicht aufgenommen wird.6 An vielen Variationen des Kampfmotives in Osterpredigten wie in der GalVorlesung 1531/35 ist überdies auffällig, daß aus der existentiellen Erfahrung des angefochtenen Glaubens erwachsene Schilderungen der gegenwärtig spürbaren Macht der Mächte, die bildkräftige Beschreibung ihrer Überwindung sowie systematisch-theologische Erwägungen nahtlos ineinander übergehen. Die Galaterbrief-Vorlesung, die Luther vom 3. Juli 1531 bis zum 12. Dezember 1531 hielt7 und die in einer von Georg Rörer bearbeiteten Druckfassung 1535 mit einem Vorwort des Reformators erschien, erlaubt eine eingehendere Analyse des Wirkungszusammenhanges und der existentiell erfahrbaren Macht der Mächte, zumal Luther sich einzelnen Tyrannen in verschiedenen Passagen eingehend widmet.8 Zwar handelt es sich beim größ-

sunt Peccatum et Conscientia, Vis legis et stimulus peccati. Haec duo monstra Christus vicit et conculcavit in hoc seculo et futuro." 6 Vgl. Reinhard Schwarz, Art. „Anfechtung II. Mittelalter", in TRE, Bd. 2 (1978), 691-695, hier 692. 7 WA 40/1, 39, 1; WA 40/11, 164, 9. Luther las i. d. Regel zweimal wöchentlich, vgl. die Angaben dazu in Rörers Hs, WA 40/1, 39, 4; 51, 10; 72, 4; 98, 1; 115, 3; 145, 7; 168, 10; 190, 9; 214, 7. 8 Zur Textüberlieferung vgl. die Einleitung in WA 40/1, 1 - 1 3 von A. Freitag. Diese Vorlesung ist als Quelle für Studien zum Kampfmotiv bereits vielfach benutzt worden, vgl. bereits G. Thomasius, Christi Person und Werk, Bd. 3, 1, Erlangen 1859, 276-280; P. Althaus, Theologie Luthers, 1. Aufl. 1962, 183, Anm. 32 nennt im Abschnitt „Christi Werk als Kampf mit den Mächten" als „Hauptquelle die große Galatervorlesung 401,432ff, dazu die Predigten"; Th. Beer, Wechsel und Streit, 349. Luther selbst verweist in einer Tischrede von 1544 auf den Wert des GalKommentar für eine Darstellung seiner Theologie und lobt in der Praefatio die Zuverlässigkeit der Wiedergabe durch die Redaktoren (WA 40/1, 2; 33). - Bereits im 16. Jahrhundert erschienen von Luthers Darstellung 15 Nachdrucke, vgl. die Auflistung von Robert Kolb, The Influence of Luther's Galatians Commentary of 1535 on Later Sixteenth-Century Lutheran Commentaries on Galatians, in: ARG 84/1993, 156-184 (159, Anm. 8). Kolb untersucht die Einflüsse von Luthers Kommentar auf die zwischen 1542 und 1595 erschienenen Gal-Auslegungen von Christoph Corner, Niels Hemmingsen, Tilemann Heshus, Georg Major, Erasmus Sarcerius, Nikolaus Seinecker und Johannes Wigand (vgl. die bibliographischen Angaben 156) und kommt zu differenzierten Ergebnissen. Einerseits ist deutlich, daß alle genannten Kommentatoren Luthers Darstellung kannten und benutzten, sie auch in hohen Ehren hielten, in ihrer eigenen exegetischen Methodik aber weit stärker Melanchthons Auslegungs-Prinzipien folgten. Auch bleiben zentrale Topoi von Luthers theologischer Behandlung des Textes bei seinen Schülern im Hintergrund, wie „the two Kinds of Righteousness" (170ff), „The , Joyous Exchange'" (172ff), die lutherische Sicht des Glaubenden als eines „Simul justus et peccator" (175f) und auch die besonders wichtige

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Christi Heilswerk als Kampf

ten Teil des von der Gal-Auslegung überlieferten Textes9 um eine Vorlesungsnachschrift, bzw. um eine auf ihrer Grundlage ausgearbeitete Druckfassung Georg Rörers, die vielleicht unter Mitwirkung Caspar Crucigers entstand.10 Während dieser zuweilen offenbar eine „melanchthonisierende Tendenz" eignet," kommt den Mitschriften des Wittenberger Diakons, wie Matthias Schlicht in einer Analyse von Luthers Vorlesung über Ps 90 (1534/35) herausgearbeitet hat, ein hoher Grad an Zuverlässigkeit zu.12 So läßt sich der GalKommentar von 1531/35 als hinreichend authentische Quelle für die Interpretation unseres Motivs nutzen. Sofern an einzelnen Stellen weitere Texte zum Verständnis herangezogen werden, geschieht dies unter Beachtung des jeweiligen historischen und hermeneutischen Zusammenhanges.

4.1 peccatum An der eminenten Bedeutung seiner radikalisierten Auffassung von Sünde hat Luther selbst die Differenz markiert, die ihn von der älteren Theologie unterschied:13 „Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, daß die neue Auffassung

Differenzierung im Blick auf „The law of God" (176ff). Zwar gebe es, so Kolb, „no doubt in reading any of these seven commentaries that they were written by disciples of Martin Luther", doch gelte insbesondere im Blick auf Melanchthon: „other influences shaped their theology as well as that of their theological hero." (182) 9 WA 40/1, 15-22 finden sich Präparationen Luthers zu Vorlesung und 22, 13 - 2 3 , 22 eine handschriftliche Vorarbeit Luthers zu Gal 5, 6; WA 40/1, 33-37, 20 findet sich die Praefatio Luthers zur Druckausgabe. 10 Davon berichtet ein Brief Bucers an Bullinger vom Frühjahr 1535, vgl. WA 40/1, 2. 11 So Gerhard Schulze, Die Vorlesung Luthers über den Galaterbrief von 1531 und der gedruckte Kommentar von 1535, in: ThStKr 98/99/1926,18-82. Aus einer Fülle von Detailstudien zum Verhältnis von Hs und Dr schließt Schulze insbesondere im Blick auf tragende theologische Aussagen, „daß der große Galaterkommentar nicht durchweg das rein Lutherische Verständnis der Rechtfertigungslehre wiedergibt, sondern vielfach von seinen Bearbeitern deutlich in melanchthonischem Geiste gestaltet worden ist." (75, vgl. auch S. 66, 68, 78 u. ö.). 12 Zur Qualität der Nachschriften Rörers im Vergleich mit denen Veit Dietrichs vgl. Matthias Schlicht, Luthers Vorlesung über Psalm 90, 40f: Er belegte anhand der Vorlesungsnachschrift Rörers zu Luthers Auslegung von Ps 90 (1534/35), daß „in ihr viele Charakteristika des Vorlesungsstils Luthers enthalten sind, was als Zeichen ihrer hohen Zuverlässigkeit zu werten ist. Rörer mühte sich, möglichst alle Äußerungen Luthers mitzuschreiben, ohne während des Schreibens wichtige und nebensächliche Aussagen (...) zu trennen (...). Auch wenn sie nicht in allen Aspekten ein ungetrübter Spiegel des Lutherschen Wortes ist und sein kann, darf diese Nachschrift unter Einbeziehung eines Teiles der Überarbeitung doch als eine solche Wiedergabe der Auslegung gelten, die nicht nur die meisten Aussageinhalte, sondern diese sogar noch zu einem großen Teil im ursprünglichen Wortlaut bietet." " So bereits in der Röm-Vorlesung 1515/16 im Scholion zu Rom 5, 14 (WA 56, 312 - 314, 19), in der Luther sich gegen die „subtilitates Scolasticorum theologorum" wandte, die das peccatum originale lediglich als „priuatio seu carentia Iustitiae originalis" bezeichnet hätten. Vgl. dazu Berndt Hamm, Was ist reformatorische Rechtfertigungslehre?, ZThK 83/1986, 1-38, hier 15: „Für scholastisches Verständnis ist das Leben des Menschen immer irgendwie durch die

peccatum

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von der Sünde das eigentliche Motiv für so gut wie alle anderen wichtigen Themen in Luthers reformatorischer Theologie darstellt."14 Im Kontext der Gal-Auslegung enthält Rörers Nachschrift zu Gal 1, 4a „Qui dedit Semetipsum pro peccatis nostris" einen Exkurs zu Luthers Sündenverständnis, an dem sich wichtige theologische Implikationen beobachten lassen.15 Die Sünde wird im Anschluß an Paulus als ein tyrannus bezeichnet, der Menschen zu „captivos et servos peccati" degradiert. Menschliche potentia und sapientia, aber auch die der Engel vermag gegen diesen überwältigenden Machthaber nichts auszurichten. Die Macht der Sünde kann nur durch Gott selbst überwunden werden.16 Allein die vorherrschende potentia dieser zugleich verhängnisvollen wie schuldhaften Entfremdung verleiht also den übrigen Tyrannen ihr Herrschaftsrecht über den Menschen. Es ist dabei hervorzuheben, daß für Luther im Unterschied zu mittelalterlichen Erwägungen, wie sie sich zunächst im wirkungsträchtigen Sentenzenkommentar des Alexander von Haies, später aber auch bei Duns Scotus finden, über die Formen menschlicher Sünde, ihre Bedeutung und Überwindung in rational differenzierender Distanz nicht angemessen zu theologisieren ist.17 Eine eingehende Systematik der mittelalterlichen Sündenlehre im Zusammenhang der Lehre „de malo" findet sich im zweiten Teil des Buches II der wirkungsträchtigen Summa Theologica des Alexander von Hales (1 185-1241): 1 8 Der Pariser Franziskaner entwickelte im Tractatus Tertius „De peccato hominis" zunächst eine detaillierte Analyse des peccatum originale und seiner Wirkungen; an die hier getroffene Differenzierung

Sündhaftigkeit geprägt. Aber die von Gott trennende Sünde, die Erb- und Todsünde, die ihrem Wesen nach die Liebe zu Gott ausschließt, ist ein reparierbarer Defekt des Menschen. Der eingegossene Gnadenhabitus ersetzt den Mangel, indem er den Menschen zum Gott-Liebenden macht, der so auf dem Wege der Gesetzeserfüllung dem Leben Gottes entgegengeht." 14 B. Lohse, Luthers Theologie, 264. 15 WA 40/1, 82, 1 2 - 9 3 , 8 . 16 WA 40/1, 84, 8ff (Hs): „Et concludit iste textus omnes homines captivos et servos peccati, quod peccatum est crudelissimus, potentissimus tyrannus super omnes homines et quod non possit expelli omnium angelorum et creaturarum potentia, sapientia, sed tantum infinita potentia, scilicet, Iesu Christi, filii dei pro eo traditi". 17 Vgl. Magistri Alexandri de Haies Glossa in Quatuor Libros Sententiarum Petri Lombard), Tom. IV, Quaracchi 1957, 222-385, Distinctiones XV-XXII. Johannes Duns Scotus, Commentaria Oxoniensa ad IV. libros Magistri Sententiarum, Tom. IL, Quaracchi 1914, 638-646, bes. n. 721: „Ad primum pro opinione opposita [vgl. n. 717a] dico quod mortale plus repugnat, et quoad intentionem, et quoad necessitatem, illi rectitudini, non solum habituali, sed etiam actuali, quam venialis obliquitas; quia ista potuit stare cum summa rectitudine habituali tunc possibili viatori: sicut cum certitudine intellectus de aliqua conclusione potest stare opinio de alia, quia non repugnant; et forte etiam non repugnabat actuali: sicut nunc actum maximum meritorium et valde excellentem potest nunc sequi aliqua vana gloria, quae est peccatum veniale; nec veniale illud tolleret meritum istius actus sic meritorii." Zur spätscholastischen Sündenlehre vgl. überdies die Belege bei Friedrich Loofs, Leitfaden zum Studium der Dogmengeschichte, 2. Teil, 5. Aufl. hg. von Kurt Aland, Halle/Saale 1953, 447-451. 18 Alexandri de Haies Summa Theologica, Tomus III (Secunda Pars Secundi Libri), Quaracchi 1930, 205-831.

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Christi Heilswerk als Kampf

von peccatum originale und p e c c a t u m actuale knüpfte Alexander die Inquisitio tertia d i e s e s Bandes, die sich der P h ä n o m e n o l o g i e „ D e speciebus peccati actualis" zuwandte. Von den Definitionen und Deskriptionen der läßlichen Sünden werden die peccati mortales abgehoben; e i g e n e Traktate gelten den „ S e p t e m capitalibus peccatis" (Tractatus Quintus) und den Sünden g e g e n Gott, g e g e n den Nächsten und g e g e n sich selbst (Tractatus Octavus).

Im Unterschied zu den Erwägungen des Alexander von Haies und des Duns Scotus geht es Luther nicht um eine anthropologisch angemessene Erfassung der menschlichen „potestas peccandi",19 sondern um die „potentia infinita peccati", die als personifizierte Macht die conscientiae hominum gefangenhält, weil sie fundamentale Entfremdung von Gott bedeutet. Sie muß stets in ihrer existentiellen Bedeutung als eigene Sünde begriffen werden.20 Nur wo diese anzunehmende individuelle Bedeutung der am Kreuz Christi überwundenen Sünde deutlich ist und sie als aktuelle Sünde des Betrachters empfunden wird, ist sie auch theologisch-phänomenologisch recht gewürdigt.21 Also lasse sich erst im Licht von Joh 1, 29 „Ecce agnus Dei qui tollit peccata mundi" ermessen, inwiefern die „vocabula frigide" gesprochen werden könnten: „.nostra'; davon handeln wir, quid agendum cum peccatis non aliorum sed etiam nostris."22 Die Bedeutung des tiefen Zwiespaltes, der mit dem Sündenfall zwischen Gott und Mensch eingetreten ist, ist nach reformatorischer Ansicht kaum zu überschätzen. Luther wehrt sich unermüdlich gegen die flagrante Unterschätzung der Sünde, die mit einer Überschätzung der menschlichen Möglichkeiten coram Deo einhergeht.23 Ihre für Menschen unübersteigbare Macht, die das Sein der Person grundlegend von Gott entfremdet und gegen den Schöpfer kehrt, wird aber vollends deutlich erst im Lichte ihrer Uberwindung, angesichts des Kreuzes Christi: „Sed inspice magnitudinem pretii et infinitatem, quod peccatum tarn potens, grande, ut opus filii dei propter illud traditus etc. qui hoc perpendit, intelliguit peccatum kein scherz."24 Die Größe dieses Preises, nämlich das Blut des Gottessohnes, mache hinlänglich klar, daß alle

19 Vgl. Allan B. Wolter O. F. M. (Ed.), Duns Scotus on the Will and Morality, Selected and Translated, Catholic University of America Press, Washington 1986, 458, zum ganzen vgl. Part VIII, Sin, 458-533. 20 WA 40/1, 86, If: „Credo pro peccato Petri, sed non dignus, ut pro meis etc. Drum mus .nostra' heissen, qui loquimur et audimus." 21 Vgl. dazu auch Lennart Pinomaa, Sieg des Glaubens, Grundlinien der Theologie Luthers, bearb. und hg. von Horst Beintker, Berlin/Göttingen 1964, 84. 22 WA 40/1,83. 21 WA 40/1, 83, 13ff (Hs): „Ergo peccata nostra tam magna et invicta, infinita, quod impossibile omnibus hominibus pro uno satisfacere". Zum Thema vgl. auch Gerhard Ebeling, Theologie zwischen reformatorischem Sündenverständnis und heutiger Einstellung zum Bösen, in: ders., Wort und Glaube, 3. Band, Beiträge zur Fundamentaltheologie, Soteriologie und Ekklesiologie, Tübingen 1975, 173-204, bes. 179-194. 24 WA 40/1, 64, 6 - 8 .

peccatum

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satisfaktorischen merita nicht hinreichten, um über die Sünde Herr zu werden.25 Er selbst habe sich „20 annis cum peccatis meis gebissen", so Luther, habe dabei aber erkennen müssen, daß die Überwindung der Sünde eben durch keine im Rahmen des Bußsakramentes eingeforderten 26 eigenen Werke zu erlangen sei: „Es heist aber: ie lenger, erger." 27 Die potentia peccati ist von seiten des Menschen nicht durch die der habitualen Gnade entsprechenden Tugenden in Werken und Verdiensten zu überwinden, sondern wird einzig durch den Kreuzestod des Gottessohnes bezwungen: Darin zeigt sich das Ausmaß ihrer Herrschaft. Das stellvertretende Heilswerk Christi sei der einzig gewisse Grund, der im bedrohlichen Zustande der Anfechtung helfen könne. 28 Gefährlich sei es folglich, daß der Teufel versuche, die Macht der Sünde zu verschleiern: „Du heiliger Teufel, vis me sanctum facere. Ideo quod hec vera peccata sunt, ideo traditus." 29 Von hier aus läßt sich die in anderen Textzusammenhängen häufig anzutreffende Redeweise Luthers verstehen, „daß die Sünde geradezu geglaubt werden muß". 30 Erst in diesem Glauben, der sich angesichts ihrer Überwindung die Macht der Sünde einzugestehen vermag, läßt sich sprechen: „gratias ago tibi, mi Satan; Est peccatum meum in colle Christi, submersit, Sic vincitur diabolus et mors." 31 Der Wirkungszusammenhang zwischen peccatum und den anderen Mächten wird deutlich. 32 Ihre verderbliche Macht entfaltet die Sünde vor allem in Korrelation mit dem Gesetz. Die lex wird zur „vis peccati" 33 , sofern der seiner Sünde inne werdende Mensch versucht, sich durch Orientierung am Gesetz aus ihr zu befreien. Damit wird die Entfremdung von Gott nur vergrößert. Dies gilt sowohl vom Indizialgesetz als auch vom alttestamentlichen Zeremonialgesetz wie von den Geboten: Im Stande der Sünde kann eine Verwendung des Gesetzes nur gegen die Gnade streiten. 34 Während die lex also der irdischen

25 WA 40/1 84, 2f (Hs): „Magnitudo et ipsum pretium quod impensum, satis declarat nos servos peccati non posse satisfacere". Im Druck heißt es (12ff): „Peccata nostra tarn magna, infinita et invicta esse, ut impossibile sit toti mundo pro uno satisfacere. Et certe ipsa pretii magnitudo, nempe sanguis Filii Dei satis declarat nos non posse satisfacere neque dominari peccato." 26 Die Notwendigkeit der satisfactio in tugendhaften Werken wird von mittelalterlichen Theologen im Kontext des Bußsakramentes hervorgehoben, vgl. etwa Alexander von Haies, Glossa IV, Dist. XV und XXII. 21 WA 40/1, 85, 9f. 28 WA 40/1, 87, 4—6: „Ideo disce, ut in tentatione possit dicere: Christus est mortuus pro conscientia, remissione peccatorum. Si essem sine peccato, non indigeam." 29 WA 40/1, 88, lf. 30 B. Lohse, Luthers Theologie, 265. 11 WA 40/1, 89, 9f. 32 Vgl. auch WA 40/1, 92, zum durch die Sünde bedingten Erschrecken vor der lex Mosis. 33 Herbert Olsson, Schöpfung, Vernunft und Gesetz in Luthers Theologie (=SDCU 10), Uppsala 1971,54. 34 Vgl. WA 40/1, 218, 3f.

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Obrigkeit dazu dient, die eigensüchtigen „impii" im Zaum zu halten35, ist sie als Mittel zur Befreiung von der Sünde kontraindiziert.36 Angesichts dieser latenten Gefahr wandte sich Luther in der Gal-Vorlesung unermüdlich gegen alle Versuche einer Verharmlosung und Abschwächung der Sündenmacht. Das Erschrecken vor dem Gesetz und die Anschauung Christi als Richter, die durch Einflüsterungen des Teufels unterstützt werden, provozieren die Bemühungen des Menschen, durch eigenes, am Gesetz orientiertes Handeln von der Sünde frei zu werden; ihr müsse man immer wieder entgegentreten. Im Gal-Kommentar 1531/35 kritisierte er mannigfach, daß dieser Irrweg von der scholastischen Sünden- und Gnadenlehre unterstützt werde. In der Auslegung zu Gal 2, 16 („Scientes autem, quod non iustificatur homo ex operibus legis") wandte er sich der mittelalterlichen Gnadenlehre explizit und ausführlich zu: Während „Türken und Juden" von Gott annähmen, daß ihm ein verdienstliches Werk des Menschen im Stande der Sünde gefalle, so sei dies für Ohren von Christen ein „horrendum".37 Die scholastische Differenzierung der merita de congruo und de condigno,38 aber auch die thomistische Lehre von der fides caritate formata seien samt entsprechenden anderen scholastischen Differenzierungen zu verwerfen, weil sie sich über die Größe der Sünde täuschten:39 „Nulli dedit gratiam et vitam aeternam pro 35

Auslegung zu Gal 3, 23, W 40/1, 519, 5 - 9 . „Opus legis per Antithesin et contrarium contra gratiam: quicquid non gratia, est lex, sive sit ceremoniale, Iudiciale, praeceptorum etc." (WA 40Λ, 217, 12ff (Hs) zu Gal. 2, 16). 37 WA 40/1, 220, 3 (Hs). 38 Alexander von Haies, Glossa in Quatuor Libros Sententiarum, Bd. IV, 298, n. 19: „Respond e n t s quod duplex est misericordia: in remissione culpae et remissione poenae. Primam nullus meretur ex condigno, licet congruum sit quod Dominus misereatur secundum contritionem. Secundam vero potest mereri, et de ilia intelligitur hie; quae fit post dimissionem culpae et reatus poenae aeternae." Dazu auch F. Loofs, Leitfaden der Dogmengeschichte, 448f der unter Verweis auf die Stufenfolge in der Summa theologiae des Alexander von Haies hervorhebt, daß im „facere, quod in se est" bei diesem keineswegs eine „an sich und eigentlich wertvolle Leistung gesehen" wird: „facere quod in se est non praevenit gratiam meritorie, sed dispositive." Allerdings bleibe davon der Eindruck eines „neu aufgeputzten Neo-Semipelagianismus" unberührt. 39 Vgl. K. Bornkamm, Luthers Auslegungen, 90ff; sie hebt hervor, daß Luther mit seiner umfassenden Alternative zwischen Gesetzes- und Gnadengerechtigkeit „die gesamte innere Stufenfolge, die die occamistische Rechtfertigungslehre trägt", aufhebt. Er fasse „den Gegensatz jedoch so tief, daß jede andere scholastische Lehrausprägung zugleich in ihr getroffen ist" ( 9 1 ) . Vgl. zum Verhältnis Luthers zur scholastischen Gnadenlehre auch Bengt Hägglund, Die Voraussetzungen der Rechtfertigungslehre Luthers in der spätmittelalterlichen Theologie, in: LR 11/ 1961, 28-55; Leif Grane, Contra Gabrielem, Luthers Auseinandersetzung mit Gabriel Biel in der Disputatio contra Scholasticam Theologiam 1517, Kopenhagen 1962; ders., Modus loquendi theologicus, Luthers Kampf um die Erneuerung der Theologie (1515-18), Leiden 1975; Reinhard Schwarz, Fides, Spes und Caritas beim jungen Luther unter besonderer Berücksichtigung der mittelalterlichen Tradition (=AKG 34), Berlin 1962; Werner Dettloff, Die Entwicklung der Akzeptations- und Verdienstlehre von Duns Scotus bis Luther; mit besonderer Berücksichtigung der Franziskanertheologen, Münster 1963; Wilfried Joest, Ontologie der Person bei Luther, Göttingen 1967; Β. Hamm, Was ist reformatorische Rechtfertigungslehre, ZThK 83/1986, 5 - 1 1 zur diesbezüglich „systemsprengenden" Bedeutung der Rechtfertigungslehre; H. Blaumeiser, Luthers Kreuzestheologie, 412-423, vgl. auch die dort 413f, Anm. 88 angegebene Literatur. 36

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congruo et charitate; eitel speculationes et fabule".40 Die entsprechenden Deduktionen der nicht näher bezeichneten „Sophistae" täuschten sich fundamental über die Sünde, sofern sie meinten: „homo ex opere operato potest deo facere obedientiam."4' Luther verwarf also die mittelalterliche Unterscheidung von „läßlichen" und „Todsünden"42 und radikalisierte das Sündenverständnis wie die ihr entsprechende Gnadenlehre: Im Stande der Todsünde befinde sich seit dem Sündenfall latent jeder Mensch. Eine jede theologische Rede von einem Verdienst des Menschen wird ausgehend von diesem reformatorischen Begriff von „Todsünde" sinnlos.43 Es ist zu beachten, wie eng Luther demnach das überindividuelle Verhängnis des peccatum originale und die jeweilige Aktualsünde verbindet, wie nahtlos aber auch Erörterungen über die scholastische Theologie, über spätmittelalterliche Frömmigkeit und eigene existentielle Erfahrungen ineinanderfließen. 44 Der dominante Tenor in allen aspektreichen Variationen bleibt stets: Aus dem Stande der Erbsünde gibt es durch Konzentration auf menschliche Tugenden und eigenes Bemühen kein Entrinnen. Das Dilemma der peccatores wird erst durch den siegreichen Mächtekampf Christi überwunden: Zuvor bleibt die Sünde personifizierte Verderbensmacht, die auch und vor allem die besonders hervorragenden Werke und gesellschaftlich angesehenen Menschen korrumpiert, gerade weil diese beachtliche Leistungen erbringen können.45

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WA 40/1, 223, 6f. W A 4 0 A , 219, 3f. 42 WA 40/1, 221, 4ff (Hs): „Peccatum mortale heisse (ich), quod hostis dei sum, odium, displicentia, invidia contra deum, quod nihil possum cogitare nisi quae valent contra deum et pro diabolo. Ipsi vocant peccatum mortale adulterium." Dagegen Duns Scotus, Commentaria Oxoniensa, Tom. II, 640, n. 719: „Circa quod sciendum quod peccatum mortale non distinguitur a veniali in hoc quod unum est respectu Jinis, ut mortale, et aliud eorum quae sunt ad finem, ut veniale\ sed utrumque potest esse et circa ea quae sunt ad finem, et circa finem. Sed in hoc distinguuntur, quia peccatum mortale est deordinatio opposita ordinationi sine qua finis non potest sequi aliquo modo; quae quidem ordinatio habet praeceptum contra quod deordinatio fit, et ideo omnis deordinatio cadens sub praecepto avertit a fine necessario." 41 Vgl. WA 40/1, 222f. 44 Vgl. die Passage W A 40/1, 223, 10-224, 6: „Tu es arbor mala et omnia quae facis, cogitas, pugnant contra tuum deum; damnat opus condigni et congrui meritum; da bleibt kein Munch nicht, quia omnes dicunt: volunt induere cucullum et deus dabit mihi gratiam; hoc feci et humilio, ergo mereor de condigno gratiam, et tempore gratiae tarn vivo, ut aliis merita etc., id est Sanctitatem haben contra Christum. Nos: per hoc facis malum peius, quia vis per peccata mereri, offerre opera peccati pro iusticia et velle eum reddere operibus peccati. qui ergo confessus fuerit legem veram et dicit: Non invenio in membris unicam micam dilectionis deo, infernum, mortem merui, - das ist Christianismi 1. pars, ubi praedicatur lex ad resipiscentiam sui et penitentiam." 45 Vgl. WA 40/1, 439, 5ff (Hs) zu Gal 3, 13: „et peccatum, quod est dominans, regnans, nihil potentius in membris, est maximus deus. ilia maxima persona in mundo, quae absorbet omnes Reges, Sanctos ..."; vgl. auch 95, 7 - 1 0 ; 219, 22. Gerhard Ebeling, Die Rechtfertigung vor Gott und den Menschen, Zum Aufbau der dritten Thesenreihe Luthers über Rom 3, 28, in: Lutheriana, Zum 500. Geburtstag Martin Luthers, hg. von Gerhard Hammer und Karl-Heinz zur Mühlen, ( = A W A 5 ) 1984, 103-130, hier 116: „Es soll gar nicht bestritten werden, daß der Mensch von sich aus Großes und Edles zustandebringt. Aber das behält qualitativ den Charakter der Menschenge41

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4.2 ira Dei Gottes Zorn entsteht unabweisbar als Folge der menschlichen Ursünde. Dem peccatum originale folgt anders als beim Lombarden also nicht allein die der iustitia Dei entspringende poena peccati, die von dem Anschein freigehalten werden muß, als sei sie eine iniusta poena.46 Wie beim peccatum ist der konfrontative und existentielle Charakter der Rede Luthers vom Zorn Gottes und dessen Machtcharakter hervorzuheben, der die reformatorischen Erwägungen von denen der Tradition unterscheidet. Im Zusammenhang der Auslegung von Gal 2, 20 („Vivo autem, iam non ego, sed vivit in me Christus. Quod autem nunc vivo in carne, in fide filii Dei vivo") insistiert Luther auch hier nachdrücklich auf dem ,„Me', ,pro me', ut possimus certa fide concipere et non dubitare: ,pro me'". 47 Es nütze nichts, zu verstehen, daß Christus für die Sünden von anderen gelitten habe, sondern dem zuzueignenden Sinn dieser Heilstat entspreche das Unvermögen, vor der Erkenntnis auszuweichen: „Quod sum unus de peccatoribus, peccatum adae perdidit, fecit me reum mortis aeternae, fecit me irae et iudicium reum". Dem Glauben, daß die Heilstat Christi pro me geschehen ist, bleibt die Erkenntnis komplementär zugeordnet, daß auch die ira Dei unentrinnbar meiner persönlichen Verhaftung an die Sünde gilt: „Sic peccatum ablatum est, ergo ira, mors et in locum istorum stat gratia etc."48 Nur so läßt sich auch über diese Verderbensmacht theologisch angemessen reden. Gott kann nicht anders als Sünde und Sünder hassen,49 sofern sein Wesen Gerechtigkeit ist und ihm die Liebe zur Gerechtigkeit entspricht. Der Zorn Gottes, dessen Recht der Mensch im Gewissen fühlt, wird ihm damit zum Fluch, dem er nicht entrinnen kann: Die Gal 3, 13 erwähnte maledictio ist für Luther existentiell gleichbedeutend mit der divina ira.50 Dieser Zorn Gottes wird dem Menschen aus der Konfrontation mit dem Gesetz deutlich. Das Gesetz demaskiert die Sünde und verdammt zum Tode."

rechtigkeit und erreicht durch quantitative Steigerung nie den Umschlag in die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt." 46 Vgl. Magistri Petri Lombardi Sententiae in IV Libris Distinctae, Grottaferrata 1971, Lib. II, Dist. XXXVI, Cap. V (241). 47 WA 40/1, 299, 8-13 (Hs). 48 WA 40/1, 261, 5f (Hs) zu Gal 2, 17. 49 WA 40/1, 371, 13 - 372, 2 (Hs) zu Gal 3, 6: „quia deus odit peccatum et peccatorem, et necesse, quia alioqui deus iniustus et amator peccati. et tarnen verum: sum peccator, habeo odium dei; nihil intercedit nisi Christus." 50 Auslegung zu Gal 3, 13, 440, 2 (Hs): „Sic maledictio, i. e. divina ira est in toto orbe." 51 WA 40/1, 260, Ausl. zu Gal. 2, 17: „Quando Christus legislator est peccati, aggravat homines; ergo idem ministerium est irae, quia lex praestat iram dei, mortem: Non servas praecepta, ergo deus irascitur et tibi contrarius etc. Peccavi; ergo deus irascitur, quando opponitur misero; peccatum non potest ferre. Sic ministerium legis est mortis, quia conscientia dictat: ego sum damnatus. Peccavi, ergo deus occidit, si iratus; damnatus."

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Im Gal-Kommentar 1531 sind damit die theologischen Aussagen über die ira Dei an die Erfahrung coram lege gebunden und haben ihren Ausgangspunkt in der conscientia, „quae tenerrima res".52 Das Widerfahrnis der Gefangenschaft unter dem durch die Sünde bedingten Zorn Gottes ist eine Glaubenserfahrung des Gewissens, dem anthropologischen Ort, von dem aus die christliche Freiheit sich entfaltet.53 Den Glaubenden ist die ira Dei zwar kraft der Heilstat Christi überwunden, doch bleibt sie in den fortdauernden Anfechtungen eine eminente Realität als an den usus elenchticus legis gebundene Perspektiverfahrung: Im „Streit des Gewissens", so führt Luther etwa zu Gal 5, 5 unter Hinweis auf seine eigenen Anfechtungen aus, dominiere kräftig die Empfindung der Sünde, des Gotteszorns, des Todes, der Hölle und aller Ängste: 54 Der subjektive „sensus" des Gotteszornes wie der anderen angreifenden tyrannischen Mächte ist mit ihrer objektiv vorhandenen Macht und ontologischen Qualität identisch. 55 Dies zeigt sich an der Auslegung von Gal 5, 4 („A gratia exceditis"): Diese

52 In der Ausl. zu Gal. 3, 23 heißt es im Zusammenhang mit der Wirkmacht des Gesetzes WA 40/1, 521, lOff (Hs): „concluditur conscientia, quae tenerrima res; et talis career, das einem himel et erden zu enge wird, quia conscientia tenerrima res; ubi illa concluditur, nusquam patet exitus, quia deus ist da, qui est infinitus. eius manum nemo potest fugere." In der Druckfassung interpretiert Rörer die Erfahrung der Gegenwart des „unendlichen Gottes" als die des Zornes Gottes: „Sentit enim tunc iram Dei qui infinitus est, cuius manum effugere non potest..." (521, 36f, Hervorhebung v. Verf.). 55 WA 40/11, 3 (Hs). Zur conscientia vgl. Gerhard Ebeling, Lutherstudien, Band II, Disputatio de homine, Dritter Teil: Die theologische Definition des Menschen, Kommentar zu These 20-40, Tübingen 1989, 461^166, hier 464: „Die Verleihung eines guten Gewissens - das ist für Luther der Inbegriff des Christlichen. (...) Der Glaube gibt nicht nur ein gutes Gewissen, er ist es." 54 WA 40/11, 24, lOf (Hs): „In hoc negotio, ut scimus experti, ibi sensus merus peccati dominatur, irae dei, mortis, inferni et omnium pavorum". Im Druck (Z. 25-27) heißt es: „In illo enim certamine conscientiae, ut experientia docti scimus, fortiter dominatur sensus peccati, irae Dei, mortis, inferni et omnium pavorum." Dieser Befund deckt sich mit der Analyse von H. Blaumeiser anhand der Operationes in Psalmos; auch dort wird von Luther „in einer ausgesprochen subjektbezogenen Redeweise vom Zorn Gottes gesprochen" (Luthers Kreuzestheologie, 180). Doch weist Blaumeiser den sich aufdrängenden Eindruck ab, als handele es sich bei der Erfahrung von Gottes Zorn lediglich um eine subjektive Erfahrung des Menschen (a.a.O., 182): „Die Texte erweisen das Gegenteil. (...) Solche Bezugnahme auf das Subjekt bedeutet jedoch nicht, daß der Reformator all das, was die Bibel in objektiv-geschichtlichem Rahmen als Handeln zwischen Gott und Mensch darstellt und was jedermann angesichts der Welt- und Lebenswirklichkeit schmerzlich erfährt, allein in die menschliche Subjektivität auflösen wollte. Gott steht nicht nur scheinbar, sondern wirklich gegen den Menschen auf." 55 Zum damit implizit berührten Problem des von römisch-katholischen Theologen erhobenen „Subjektivismus"-Vorwurfs an Luther vgl. den Aufsatz von Otto Hermann Pesch: Theologische Überlegungen zum „Subjektivismus" Luthers; Zur Frage: Über Lortz hinaus?, in: Zum Gedenken an Joseph Lortz (1887-1975), Beiträge zur Reformationsgeschichte und Ökumene, hg. von Rolf Decot und Rainer Vinke, Stuttgart 1989, 106-140. Pesch schließt sich den Ergebnissen evangelischer Forschung an, wie sie etwa von Matthias Kroeger, Oswald Bayer und Wolfgang Schwab formuliert wurden (115): „Nicht das Gefühl, gar das Wissen, gerechtfertigt zu sein, hat ihm über seine Anfechtungserfahrungen hinweggeholfen, sondern gerade der von sich, vom .Subjekt' absehende bedingungslose Glaube an die Verheißung des Wortes Gottes."

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paulinische Rede solle keine theologische Spekulationen über rätselhafte Prädestinationsentscheidungen Gottes nähren, sondern enthülle sich als Komplementär-Erfahrung dessen, der versuche, sich mit Hilfe des Gesetzes von der Sünde zu befreien; auf diesem Wege müsse man notwendig Schiffbruch erleiden und sich in die gewisseste Gefahr des ewigen Todes werfen. Was aber, so fragte Luther rhetorisch, sei größere Torheit und Sünde, als Gnade und Gunst Gottes fahren zu lassen, das Gesetz des Mose aber zurückzubehalten und sich damit den Zorn Gottes und alle Übel aufzuhäufen? 56 Diese PaulusInterpretation zeigt also, daß erst das Nachgeben in der latenten Versuchung, sich mit Hilfe des Gesetzes selbst vom peccatum zu entlasten, den Zuspruch der göttlichen Gnade gefährdet. Diesen naheliegenden Irrweg bedroht Gott mit seinem Zorn, weil er seine Gottheit antastet.57 Im Licht des Gal-Kommentars läßt sich zwischen dem subjektiven sensus der Überantwortung an die ira Dei und ihrem theologisch-objektiven Recht, ihrer ontologischen Wahrheit und Wirklichkeit also nicht sinnvoll differenzieren. Aus der erfahrungsgebundenen Subjektivität von Luthers Theologie läßt sich im Blick auf die Rede von der ira Dei keine Einschränkung ihres Geltungsanspruches ableiten. Ritschis Interpretation, im Lichte der Heilsgewißheit Luthers könne angemessen nur noch von einem nur „scheinbaren" Zorn Gottes gesprochen werden oder Gustav Aulens Rede von einer divina ira im Dienst der Liebe verkennen die unauflösliche Komplementarität, mit der im „pro me" die ira Dei und die fides Christi einander zugeordnet bleiben. Ähnlich wie die Sünde „simul" neben dem Glauben real fortbesteht und der circulus vitiosus der Gesetzesgerechtigkeit sich stets neu aufdrängt, bleibt die ira Dei eine ungemilderte Perspektiverfahrung der conscientia peccatorum, angesichts derer erst die Konzentration auf die Heilstat Christi stets neu aus der Angst befreit. Doch läßt sich gegen die klassischen Interpretationen von Theodosius Harnack und Paul Althaus einwenden, daß zumindest im GalKommentar 1531/35 über die ira Dei keine Aussagen anzutreffen sind, die Glaubenserfahrungen spekulativ zu abstrahieren suchen, ihre Realität remoto Christo aus dem Gottesbegriff ableiten oder mit diesem vermitteln wollen. Jede theologische Rede über den Zorn Gottes wie über die anderen Mächte bleibt gebunden an die existentielle Anfechtungserfahrung in der conscientia peccatoris, wo die tyrannischen Mächte mit der Gnade Gottes, bzw. die Gesetzesgerechtigkeit mit dem Glauben streiten und ringen. Der Versuch, Gottes Majestät und seinen Zorn aus einem theologischen Apriori zu deduzie56

W A 40/11, 2 1 , 3 - 9 ; im Druck Z. 14-20. Die Galater seien nur deshalb aus der Gnade gefallen, so führt Luther in einer summierenden Zusammenfassung am Beginn des Kollegs vom 20. November 1531 zu Gal 5 , 4 aus, weil sie aus dem Gesetz gerechtfertigt werden wollten, „quia de iustificando tota res agitur", vgl. W A 40/11, 2 2 , 6 - 8 (Hs). Im Druck paraphrasiert Rörer: „Qui excidit a gratia, amittit simpliciter expiationem, remissionem peccatorum, iusticiam, libertatem, vitam etc., quam Christus sua morte et resurrectione nobis emeruit, Et vicissim acquirit in locum illorum ira et iudicium Dei, peccatum, mortem, servitutem diaboli ac damnationem aeternam." 57

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ren, ist für Luther zum Scheitern verurteilt und überdies eine höchst gefährliche Ursache von qualvollen Anfechtungen. 58 Die explizite Bindung der Rede vom Zorn Gottes an die Glaubenserfahrung entspricht der Gegenüberstellung von „Bildern" des Todes und des Lebens.59 Eigenständige theologische Ausführungen zur systematisch-theologischen Valenz der Rede vom Zorn Gottes aber finden sich im Gal-Kommentar nicht.60 Ebensowenig gibt Luther einen eigenen Exkurs, wie er sich zur Hamartiologie in der Auslegung zu Gal 1,4 findet, aus dem sich die systematische Beziehung der ira Dei zu den anderen Mächten deduzieren ließe. Unbestreitbar fungiert im Gal-Kommentar 1531/35 nicht der Zorn Gottes als pointiert hervorgehobene Leitmacht unter den tyrannischen Verderbensmächten, sondern das Gesetz. Es entspringt nicht das Gesetz dem Zorne Gottes, sondern im usus elenchticus legis werden umgekehrt die auf das Handeln konzentrierten peccatores mit der Realität des Zornes Gottes konfrontiert.61 Es geht in Luthers Gal-Kommentar, so läßt sich gegen die Deutung Aulens urteilen, nicht um ein kosmisches Drama, in dem Zorn und Liebe Gottes kämpfen und ringen, sondern eher um ein anthropologisches Kampfgeschehen, in dem die Existenzsicherung mittels gesetzlichem Handeln und die des glaubenden Vertrauens auf die Gnade in Christo wider einander streiten.62

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Zu Gal. 1, 3, WA 40/1, 77, 5f (Hs): „Et in actione contra peccatum et mortem, las gott faren, quia iste intolerabilis hic." 59 Vgl. Ausl. zu Gal. 5, 1, WA 40/11, 4, 27: Hier paraphrasiert Rörer Luther dahingehend, daß man angesichts der Anklage des Gesetzes, des Schreckens der Sünde, der Angst vor dem Tode sowie des Zornes Gottes „illa tristia spectra ex oculis removeat" und an ihre Stelle die Freiheit in Christus setze: diese Gegenüberstellung der Bilder begegnete ebenfalls in der Osterpredigt 1531. 60 Theodosius Harnack bringt im 5. Kap. seiner Darstellung zu „Wesen und Wirkung des göttlichen Zorns" (S. 221-251) unter 171 Belegen nur drei marginale aus dem Gal-Kommentar (S. 232, Anm. 55; S. 237, Anm. 81; S. 240, Anm. 28); P. Althaus in seinem Kap. „Der Mensch unter dem Zorn Gottes" (Theologie Luthers, 19632, 151-158) zitiert aus unserer Quelle gar nicht. Das Register WA 67, 158-161 nennt zum Stichwort „ira Dei" zwar aus dem GalKommentar eine Reihe von Einzelbelegen, die aber keinem ausführlicheren Exkurs zum Thema entstammen. 61 Vgl. WA 40/1, 606, 24f (Dr): „Ideo ista lex: ,Diliges Dominum' etc. non iustificat, sed accusat et damnat omnes homines, Iuxta illud: ,Lex iram operatur' etc." (nach Rom 4, 15). Im gleichen Sinne auch 481, 2-4 und die bei Hermann Kleinknecht, Gemeinschaft ohne Bedingungen, Kirche und Rechtfertigung in Luthers großer Galaterbrief-Vorlesung von 1531 (=CThM, Reihe B, 7), Stuttgart 1981, 29-32 genannten Textpassagen. 62 Vgl. W. Joest, Ontologie der Person bei Luther, 304-310, hier 307f: „So ist das Ziel der Gesetzesforderung nicht, vom Menschen erfüllt zu werden (...), sondern von Gott im Menschen erfüllt zu werden."

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4.3 lex Wie gesehen, entfalten Sünde und Zorn Gottes ihre tyrannische Macht erst, sofern sie in die Dialektik der Gesetzes-Erfahrung Luthers einbezogen werden. Seine spezifische Frontstellung im Gal-Kommentar 1531/35 gegen die mittelalterlich-scholastische Gnadenlehre und die hermeneutische Basis einer Auslegung des Galaterbriefes legten die Zuspitzung auf die vorrangige Behandlung des Gesetzes als Leitmacht der Tyrannen nahe.63 Darüberhinaus aber eignet der lex auch im systematisch-existentiellen Zusammenhang des Mächte-Kampfes eine Prävalenz. Denn sofern es, wie beschrieben, im Kampf der Mächte um den Widerstreit von zwei unterschiedlichen Formen der Gerechtigkeit geht,64 ist es vornehmlich das Gesetz, das dem Menschen eine scheinbare Chance an die Hand gibt, sich der Sünde zu entledigen und durch aktives Handeln Gerechtigkeit zu erlangen.65 Doch dieser Weg führt nicht zum Ziel, sondern stets zu Heuchelei,66 wie Luther nicht müde wird zu wiederholen.67 Am usus elenchticus legis bricht das Verhängnis dieser Versuchung auf; Luther versinnbildlicht dies etwa im Zusammenhang der Auslegung von Gal 2, 17 mit einer allegorischen Auslegung von Ex 20, 19:68 Hier wird berichtet, daß das Volk Israel am Sinai angesichts der Theophanie Gottes bei der Offenbarung des Dekaloges geflohen sei. Diese Erzählung, so Luther, zeige, wie das Gesetz das Gottesvolk aus den Zelten führe, „i. e. nostra fiducia". Weil das Gewissen aber erkenne, daß es das geoffenbarte Gesetz nicht erfüllen, Gott nicht „genugtun" könne, offenbare das Gesetz den Zorn Gottes, führe vor Gottes Angesicht, was der sündige Mensch nicht ertragen könne, ohne sogleich zu sterben. Deshalb, so deduzierte Luther in der Auslegung zu Gal 3, 20, habe Mose als Mittler zwischen das Volk und das Gesetz treten müssen.69 Aber nicht Mose sei der geeignete „mediator", um

63 Vgl. zum Thema auch Lennart Pinomaa, Das Gesetz und seine Dialektik in Luthers großer Galaterbriefvorlesung, in: Vierhundertfünfzig Jahre lutherische Reformation 1517-1967, FS Franz Lau zum 60. Geburtstag, hg. von Helmar Junghans, Ingetraut Ludolphy und Kurt Meier, Göttingen 1967, 252-263 und H. Kleinknecht: Gemeinschaft ohne Bedingungen, 19-46. 64 Vgl. WA 40/1, Ausl. zu Gal. 3,2, 329, Z. 7f (Hs): „Non sunt enim aliae viae ad iustitiam: vel spiritus vel verbum Euangelii, vel lex". Vgl. auch 41, 2 - 4 (Hs); 114, 15-17 (Dr). 65 Vgl. die Ausl. zu Gal 4, 9, 613, 1 Iff (Hs): „Sic in ista relatione legem intellige, tunc dicem legem esse elementum infirmum, ist eitel armut, beteley, Schwachheit active et passive. Non habet per se opes donandae iustitiae: active reddit infirmiores, egentiores, quia est paupertas, infirmitas per se. (.··) Si ego pestem habeo et dat alius morbum comitilem; quando ein betler zum alium kompt, - sie est lex." Ähnlich WA 40/1, 115, 23-25 (Dr). 66 WA 40/1, Ausl. zu Gal. 3, 10, 404, 4ff. 67 Vgl. auch WA 40/11, 14 (Dr): „Hoc cancri more est ingredi et sordes sordibus abluere". 68 Die Passage findet sich in WA 40/1, 259, 1-6; hier paraphrasiert nach Hs. 69 WA 40/1,501, 16ff(Dr): „Sic Moses generali definitione est mediator, quia mediatorem agit inter legem et populum, qui non potest ferre Theologicum usum legis. Oportet igitur novam legis faciem parari et vocem eius mutari, Hoc est, oportet Theologicam vocem legis vel vivam legem in affectu induere larvam et fieri tolerabilem et audibilem per vocem humanam Mosi."

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zwischen Gesetz und Zorn Gottes zu vermitteln, sondern Christus. Dies werde spätestens in der Todesstunde offenbar, wie Rörer in der Druckfassung zu Gal 2, 19 paraphrasierte; ein jeder werde in die Krisis geführt, wenn nicht im Leben, so doch im Sterben, wo das Gesetz auftrete und anklage: „Peccasti".70 Wer also im Stande der Sünde angesichts des fordernden Willens Gottes seine Zuflucht zum Gesetz nimmt, wird auf diese Weise nicht gerecht, sondern doppelt ungerecht,71 empfängt sein Leben nicht vom Schöpfer, sondern aus der geschaffenen Welt72 und widerspricht damit dem Gebot wie der Verheißung Gottes.73 Auf diesem Wege aber wird der Bruch des Ersten Gebotes unausweichlich, denn wer sich selbst von Tod und Sünde befreien will, setzt sich nicht nur contra, sondern „supra deum".74 Damit aber wird das Mißverständnis, als sei das Gesetz ein Heilsweg, vollends demaskiert.75 Denn der Mensch gelangt mit seiner Hilfe nicht zur Liebe Gottes, sondern zum „odium Summum Dei."76 So kann man die Wirkungsmacht des Gesetzes mit L. Pinomaa nach seiner „ostensiven Art" und nach seiner „effektiven Art" unterscheiden: In seiner ostensiven Funktion deckt das „Gesetz ... ein tatsächlich vorhandenes Verhältnis auf, nämlich dass der Mensch dem Zorngericht unterworfen ist. Das 10

Ausl. zu Gal. 2, 19, W A 40/1, 275, 23ff (Dr): „Ut certe unusquisque tentatur, si non in vita, tarnen in morte, ubi lege accusante et ostendente peccatum, conscientia statim dicat: Peccasti." In der Hs heißt es: „Maxima consolatio, Si cui incideret is textus cum vero intellectu, quantumcunque ingruerunt pericula mortis: - Peccasti! - verum. Damnabit, lex dicit. Nihil ad me; ego habeo aliam legem quae hanc cogit tacere" (Z.3-6). Es ist bezeichnend, daß auch hier, vornehmlich in der Hs, das Andringen der Gesetzesmacht aus der Konfrontation mit der Macht der Gnade heraus entwickelt wird: Schauplatz des Wortgefechtes zwischen Gesetz und Gnade ist das Bett eines Sterbenden. 71 WA 40/1,614,9ff: „Eorum, qui ambulant in iustitia temporali, qui fiunt per legem non modo non iusti, sed dupliciter iniustus". Vgl. zum Dilemma der incurvatio in seipsum bereits die RömVorlesung (1515/16), v. a. die bekannte Passage WA 56, 356, 4 - 6 : „Et hoc consonat Scripturae, Quae hominem describit incuruatum in se adeo, ut non tantum corporalia, Sed et spiritualia bona sibi inflectat et se in omnibus querat" (ähnlich WA 56, 362, 15-19). Vgl. zum Thema Matthias Kroeger, Rechtfertigung und Gesetz, Studien zur Entwicklung der Rechtfertigungslehre beim jungen Luther (=FKDG 20), Göttingen 1968, 87 (dort auch Hinweise auf andere Texte): „Das Böse ist der Drang, sagt Luther, ja der Zwang fast, das Eigene und was dem Menschen selber nutzt und sich selbst über alles, vor allem und in allem zu lieben ... Diese Art beherrsche den Menschen bis in seine tiefsten Tiefen und verschließe ihn so in sich selber, daß er alles, was es gibt und was ihm begegnet, in diesen Kreis zieht und es nur noch als Mittel für sich selber mißbraucht". Dieser circulus vitiosus wird erst durch die Gesetzeserfahrung angesichts Gottes iudicium erkennbar. 72 WA 40/1, Ausl. zu Gal. 4, 3, 555,3f (Hs): „Ergo est lex elementum mundi, nihil dat divinum de coelo ..." 73 Ausl. zu Gal 3, 10, WA 40/1, 400, wo diese Behauptung wie bei Paulus mit der AbrahamsVerheißung begründet wird, Z. 4—10. Selbst wenn der Mensch im Stande wäre, das Gesetz zu erfüllen, so hebt Luther zu Gal 3, 17 hervor, sei dies ganz unnütz, weil Gott die promissio der lex heilsgeschichtlich übergeordnet habe (WA 40/1, 466). 74 WA 40/1, Ausl. zu Gal 3, 10, 404, 9f. 75 Es gelte von denen, die das dennoch versuchten: „Ergo necesse, ut maneant sub maledicto." (WA 40/1, 400, 1, Hs). 76 WA 40/1, zu Gal. 3, 19, 487, 7f (Hs): „Odium ist odium Summum dei; hoc venit ex lege."

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Gesetz kommt in diesem Falle erst nach der Sünde. Die Sünde ist schon da, das Gesetz stellt sie nur bloß. Im zweiten Fall dagegen führt das Gesetz zur Sünde, seine Rolle ist also andererseits effektiver Art. Das Gesetz besteht vor der Sünde und ruft diese erst hervor. Dabei aber kommt das eigentliche Merkmal des Gesetzes als einer Verderbnismacht zum Vorschein, denn es ist angreifend tätig und bestrebt, zur Sünde zu treiben."77 In seiner „effektiven Art" fungiert das Gesetz, wie gesehen, als vis peccati: Der Mensch versucht mit Hilfe des Gesetzes vor Gott gerecht zu werden und verbreitert so den mit der Sünde eingetretenen Riß. Die „ostensive Art" aber beschreibt Luther mit Jer 23, 29: „Verbum meum malleus conterens petram."78 Doch wird auch im Gal-Kommentar das Gesetz lediglich in seiner geistlichen Funktion als Mißbrauch tituliert. In seiner ihm entsprechenden Weise angewandt, so deduziert Luther Paulus folgend, ist es eine gute Gabe Gottes: „At Lex bona, iusta et sancta est".79 Es ist im usus politicus Gottes Instrument zur Regelung des irdischen Friedens,80 als Zeremonialgesetz regelt es Sitten und Gebräuche sowie das religiöse Handeln vor Gott. In Gestalt des Dekaloges81 gewinnt es auch für Christen wichtige Bedeutung, sofern sie simul iusti et peccatores bleiben und die Gnade Christi nicht „bis ins Fleisch reicht".82 Diese Gerechtigkeit des Dekaloges, so Luther, lehre auch er, sofern die Fundamente recht gelegt seien - nach dem articulus iustificationis.83 In diesen Hinsichten behält das Gesetz also eine wichtige ordnende und orientierende Funktion. Es kann sie aber nur wahrnehmen, wenn es im Gewissen nicht den Platz des Evangeliums besetzen und dem latenten Versuch dienen soll, sich die 77 Lennart Pinomaa, Der Zorn Gottes in der Theologie Luthers, Ein Beitrag zur Frage der Einheit des Gottesbildes bei Luther, Helsinki 1938,43f. 78 WA 40/1, Ausl. zu Gal. 3, 19, 482, 2 (Hs). 79 WA 40/1, Ausl. zu Gal. 2, 16, 240, 27, (Dr); ähnlich 395, 21; 168, 15. 80 Vgl. die Ausl. zu Gal. 3, 12, WA 40/1, 429, 10 - 430, 3. 81 Vgl. WA 40/1, 329, 27f (Dr): „Non tantum autem lex ceremoniarum distincta est ab Evangelio, sed etiam decalogus." 82 WA 40/1, 270, Ausl. zu Gal. 2, 19, 29 (Dr): „Iustitia gratiae non pertinet ad carnem." In der Hs lautet dieser Gedanke: „Seponenda Iustitia legis et gratiae, quae non sol komen ad carnem, quia ilia debet manere in sepulchro, grabato, carcere et exerceri per Aegyptios." (Z. 11-13) Ähnlich WA 40/1, 50, 5 - 9 ; dagegen aber 288, 3 - 289, 11, wo Luther zu Gal. 2, 20 („Quod autem nunc vivo in came, in fide filii Dei vivo") hervorhebt, daß der mit Christus im admirabile commercium vereinigte Mensch zwar „in carne, sed non secundum carnem" lebt (288, lOf). Beide Aussagereihen laufen bei Luther nebeneinander her und dienen unterschiedlichen Aussageintentionen: Die erste dient der Ortsbestimmung des Gesetzes, das sich nicht auf das Gewissen beziehen darf, aber immer wieder „den alten Menschen" austreiben muß, die andere auf die umfassende Bedeutung der Vereinigung von Christus und fides; Dazu K. Bornkamm, Luthers Auslegungen, 336. 83 Die drei Arten von Gerechtigkeit unterscheidet Luther in der Einleitung zum Gal-Kommentar, W A 40/1,40,4 - 41, 5 (Hs). Vgl. zu dieser Unterscheidung auch L. Pinomaa, Das Gesetz und seine Dialektik, FS Franz Lau, 260: „Die zwei Funktionsweisen des Gesetzes, die positive und die negative, das Gesetz als Offenbarer des Willens Gottes und das Gesetz als Verderbensmacht, scheiden sich dort, wo der von dem bösen Gewissen geknechtete und angefochtene Mensch Christus findet und zur Rechtfertigung kommt."

mors, judicium Dei, infernum

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Gerechtigkeit vor Gott durch eigenes Handeln zu erwerben, statt sie sich in Christus als „donum" schenken zu lassen.84

4.4 mors, iudicium Dei, infernum Der Tod ist für Luther wie für die kirchliche Tradition85 unabweisbare Folge der Sünde. Zur Verderbensmacht wird die mors, sofern sie mit dem Gericht Gottes konfrontiert, das die Sünder der Hölle überantwortet.86 Weil sich mit dem Tod die durch die Sünde verschuldete poena peccati endgültig manifestiert, steht er in engem Zusammenhang mit dem Gericht und der Hölle. Die Krisis des Todes markiert die letztgültige Entscheidung zwischen passiver und aktiver Gerechtigkeit. Letzere überantwortet die peccatores dem Gericht Gottes und führt in die Hölle. Auch diese Verderbensmächte entfalten ihre das Gewissen anfechtende potestas erst mit der aus der Sünde resultierenden Dialektik des Gesetzes. So wie das Gesetz die Sünde aufdeckt, ist es sein Amt, in die Verzweiflung zu führen, zu erschrecken, aber auch zu töten, zu verdammen und anzuklagen:87 Denn Mose, so Luther zu Gal 1, 16, offenbare eben nicht den Sohn Gottes, sondern das Gesetz, die Hölle, den Zorn und das Gericht Gottes sowie die Sünde.88 Die subjektive Empfindung der Verdammnis und des Verderbens hat ontologische Qualität und entspricht der tatsächlichen Realität jenseits der Todesstunde. Diese erhält als existentiell konfrontierende Situation nicht nur im Gal-Kommentar eine entscheidende Bedeutung:89 Wer mittels der aktiven 84 Vgl. WA 40/1, Einl., 43, 18-28 (Dr). Dazu auch K. Bornkamm, Luthers Auslegungen, 331333, wo sie zu „Luthers Begrenzung der Geltung des Zeremonialgesetzes" ausführt: „Sein Widerspruch wendet sich nicht gegen den Ritus selbst, sondern gegen den Zwang" (331). Andernorts interpretiert sie die Vermittlung der beiden usus legis in der Weise, daß der usus theologicus „in Luthers Zusammenhang als Vertiefung des usus civilis erscheint ... Der usus civilis schlägt also dort in den usus theologicus um, wo das Gesetz das Gewissen des Menschen so trifft, daß er sich vor Gott schuldig bekennen muß. Hier kann es sich nur um eine Unterscheidung in der Funktion, nicht aber im Inhalt des Gesetzes handeln." (349f) Die grundlegende Spannung zwischen den beiden usus, die in engem Zusammenhang der Funktionen von Gesetz und Evangelium stünden, machten „deutlich, daß die Distinktion eines duplex usus legis sachlich möglich ist, die eines triplex usus nicht" (351). 85 Vgl. Lombardus Lib. II, Dist. XXX, Cap. 1(191) unter Verweis auf Rom 5, 12. 86 WA 40/1, 260, 18-20 (Dr): „Estque haec consequentia inseparabilis: Peccavi, ergo moriar. Ita per consequens ministerium peccati est ministerium etiam irae Dei et mortis." Vgl. dazu G. Ebeling, Lutherstudien II, Disputatio de homine 3. Teil, 125-129, hier 125: „Außerordentlich häufig begegnet bei Luther die Verbindung ,peccatum et mors'. Theologisch gesehen, ist es ein einziger Sachverhalt." Zum Thema auch Bernhard Lohse, Gesetz, Tod und Sünde in Luthers Auslegung des 90. Psalms, in: Helmut Thielicke, Leben angesichts des Todes, Beiträge zum theologischen Problem des Todes, FS zum 60. Geburtstag, Tübingen 1968, 138-156. 87 WA 40/1, 551, 4 - 6 (Hs). Ähnlich 260, 2-7 (Hs); 267, 3 (Hs): „lex nos occidit, damnat". 88 WA 40/1, 140, 11-141, 1 (Hs). 89 Vgl. den Anfang der Invocavit-Predigt vom 9. März 1522, WA 10/III/I, 1,7-10: „Wirseindt

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Gerechtigkeit des Gesetzes vor Gott zu bestehen sucht, in der Todesstunde ob seiner Sünden verzweifelt und das remedium Christi aus den Augen verliert,90 fällt dem Zorn Gottes und der ewigen Verdammnis anheim.91 So geht es bei dem Evangelium Christi zugleich um die Entscheidungen zwischen irdischem Herzensfrieden und gegenwärtiger Verzweiflung wie zwischen ewigem Leben und Tod92 - Gegenwart und Eschaton koinzidieren. Der subjektive sensus der Sünde ist identisch mit der sicheren Aussicht des ewigen Verderbens, der Versuch, das Gewissen durch eigenes Handeln zu salvieren und so Gott zu gefallen, verfällt tatsächlich dem Zorn und Gericht Gottes.93 Angesichts des richtenden Gottes führt allein der Glaube an Christus, das Vertrauen auf die geschenkte Gerechtigkeit zur acceptatio. Zweifel an der rettenden Macht der Botschaft, daß Christus die Verderbensmächte überwunden habe, überantworten die peccatores der Hölle.94

4.5 diabolus Die naheliegende menschliche Versuchung, coram Deo auf das eigene Handeln und auf die aktive Gerechtigkeit zu vertrauen und die suggestive Kraft, mit der sich die iustitia legis stets neu in den Vordergrund spielt, hat bei Luther einen identifizierbaren Namen und personale Qualität: Sofern er tatsächlich einmal in der Meinung der passiven Gerechtigkeit in Christo fest stehe, so Luther in der Auslegung zu Gal 5, 5, komme alsbald der Teufel und versuche, die Lehre auszutilgen und mit Macht zu unterdrücken.95 Doch ist der Teufel allsampt zu dem tod gefedert und wirt keyner für den andern sterben, Sonder ein yglicher in eygner person für sich mit dem todt kempffen. In die oren künden wir woll schreyen, Aber ein yglicher muß für sich selber geschickt sein in der zeyt des todts"; Sermon von der Bereitung zum Sterben, WA 2, 685-697. 90 W A 40/1, Einl. 49, 33f (Dr): „Quia in hora mortis vel aliis agonibus conscientiae proprius concurrunt hae duae iustititae, quam tu optes aut velis." 91 In der Ausl. zu Gal. 2, 17, WA 40/1,258,6-10 (Hs); 3 2 - 3 5 (Dr) berichtet unter Bezugnahme auf die Vitae Patrum von einem Eremiten, der in der Observation des Gesetzes lebte und doch angesichts des Todes das Vertrauen in seine guten Werke verlor. 92 W A 40/1, 147, 30 (Dr): „In summa, agebatur de vita et morte aeterna." 93 WA 40/1.576,2-8 (Hs). Vgl. auch den umgekehrten Schluß in W A 40/11,26, 10-27, 1 (Hs): „Si credo in Christum et verwag mich toto corde, ut suscipiam, quod tarnen sine voluntate non fit, ibi sum iustus hac sententia." 94 WA 40/1, Ausl. zu Gal. 4, 6, 578, 5 - 7 (Hs): „Si sentit dubitare, An sit in gratia, an placeat persona cum operibus, studeat, ut luctetur contra illam luctam et dubitationem et collocet in certitudinem." 95 WA 40/11, 27, 2 (Hs). Im Druck paraphrasiert Rörer: „Sic fide seu hac noticia me iustificato statim venit diabolus et nititur extinguere fidem Dolis, mendacio, erroribus et haeresibus, Vi, tyrannide et caedibus." (Z. 16-18) Zu den Konsequenzen dieser perturbatio vgl. auch K. Bornkamm, Luthers Auslegungen, 334 (Zu WA 40/11,66, 3f (Hs)): „Hat der Satan das Fundament des Glaubens zerstört, so ist auch der Brauch der rechten Werke dahin, wo der Baum abgeschlagen ist, fehlen auch die Früchte, die Täufer geraten in Heu und Stoppeln."

diabolus

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nicht nur der auctor jedes individuellen Versuches, in der gegen die fides streitenden activitas sich die Gerechtigkeit vor Gott zu verdienen. Er versteht es überdies auch, die handelnden geschichtlichen Institutionen und Personen, den Papst, die Bauern, die Ketzer und Sektierer 96 in Dienst zu nehmen, um die Predigt des Evangeliums zu verhindern. 97 Diese Macht des Teufels, der sich Luther bekanntlich persönlich ausgesetzt wußte und die er zugleich als geschichtlich wirksame Potenz begriff, wird eindrücklich im 1535 für den Druck verfaßten Vorwort der Gal-Vorlesung beschrieben. 98 Im ersten Abschnitt seiner Vorlesung vom Juli 1531, den Rörer später als „Argumentum S. Pauli ad Galatas" betitelte, 99 schilderte Luther die von ihm häufig erwähnte Erfahrung, daß der Teufel zum Urheber der Anfechtung werde, indem er Worte Christi über die Notwendigkeit der Werke vor Augen rücke: „Tum halt ich Christum pro legislatore, so bin ich verloren." 100 Luther benannte den Satan als machtvollen Antagonisten Christi im Kampf um die Durchsetzung der Glaubensgerechtigkeit, der „nicht feiere", die Wahrheit des Rechtfertigungsartikels zu verdunkeln. 101 Zu diesem Zwecke verstehe es der Widersacher auch, sich dem Gewissen in die Gestalt Christi zu verwandeln.102 Er handhabe das Gesetz des Mose geschickt, daß es immer neu das Gewissen anfechte und benutze hierfür auch Worte Christi „contra peccatores", bis die conscientia sich vor Christus selbst als dem künftigen Richter fürchte. Andererseits gelinge es ihm auch, den usus elenchticus legis außer Kraft zu setzen, indem er sich geschickt maskiere, die Gewissen salviere und bewirke, daß die Menschen sich über die Größe ihrer Sünde täuschten. 103 Zu seinen Zwecken verstehe er die ganze Welt in Dienst zu nehmen, damit das Evangelium verhindert werde: Deshalb sei die Welt das „regnum diaboli", 104 in dem die Unkenntnis Gottes, Verachtung, Blasphemie, der Haß gegen Gott und der Ungehorsam gegen alle seine Worte und Werke herrschten. Aber dennoch gelte, daß der Teufel zwar verwirren, aber das Evangelium Christi nicht auslöschen könne. Die Wahrheit sei zwar latent gefährdet, aber

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Vgl. W A 40/1, 109, 2 2 - 3 2 (Dr). Vgl. auch zu Gal 1, 2, W A 40/1, 66, 12 - 67, 3: „Das ist der leidige Teuffei: semper pseudapostoli veniunt ad eos qui Euangelium diligunt, etiam in principatibus impiorum, ut sub Ferdinando et Bayern: den fuchs wollen sie nicht beissen, allein die schaff." 98 W A 40/1, 3 3 - 3 7 . 99 W A 40/1, 40, 14. 100 W A 40/1, 50, 3 - 5 (Hs). ιοί ^ A 4 0 / 1 , 5 3 , 3 - 5 (Hs): „Deinde Satan conculcatur [sc. durch die Predigt des Evangeliums], mors et peccatum ei eripitur et transferuntur sui captivi in Regnum libertatis; hoc pati non etc. Satan et sui Apostoli non feiern." Ähnlich 80, 3 - 7 . 102 W A 40/1, 92, 3 - 93, 8 (Hs), 103 Vgl. W A 40/1, 108, 5 - 9 : „da sehet ir die Schelk und boswichte: Nullus hereticus venit sub titulo erroris et Satanae, ut diabolus, praesertim albus. Imo diabolus niger, quando ad manifesta flagitia impellit, facit speciem peccatori: homicida non videt homicidium in furore, habet suum operculum, Adulter habet suas blanditias et opercula." 104 W A 40/1, 94, 4f (Hs), zum beschriebenen Zusammenhang vgl. 94, 3 - 95, 4. 97

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untergehen könne sie nicht gemäß der Verheißung Christi in 1 Petr 1, 25, daß das Wort Gottes in Ewigkeit Bestand haben werde.105 So galt also Luthers Rede von der potestas diaboli vornehmlich immer wieder dem Ziel, seine auditores über die epochale Bedeutung des Kampfes zwischen Christus und dem diabolus zu unterrichten: Der zeitgeschichtliche Widerstand gegen die Predigt des Evangeliums resultiere aus dessen Wahrheitsanspruch.106 Man habe also, wie Rörer in der Druckfassung der Auslegung zu Gal 1,12 ausführte, im reformatorischen Aufbruch die stärksten, tapfersten und hartnäckigsten Feinde gegen sich, „unser Fleisch, alle Gefahren der Welt, sodann das Gesetz, die Sünde, den Tod, den Zorn und das Gericht Gottes sowie den Teufel selbst, der niemals ruht, uns inwendig durch feurige Pfeile, von außen durch Pseudapostel anzufechten, damit er, wenn auch nicht alle, so doch die meisten von uns umwerfe".107 Aus der von Luther lebendig erfahrenen Wirkmacht des Widersachers Christi wird auch seine offensichtliche Freude an dynamischen Variationen des Kampfmotivs verständlich. Sofern er in der Reformation den Kampf zwischen Christus und dem Teufel erkannte, konvergierte das traditionsgeschichtlich überkommene Motiv von der Überlistung Satans mit Luthers geschichtlicher Grundstimmung. Mit ihm ließ sich nicht nur die befreiende Rechtfertigungsbotschaft bildhaft und erfahrbar pointieren. Auch die zeitgeschichtlichen Erfahrungen der Zersplitterung der protestantischen Bewegung und der zunehmenden altgläubigen Widerstände gegen die Predigt des Evangeliums ließen sich im Lichte des Kampfmotivs in einen theologisch umfassenden Zusammenhang rücken:108 In ihnen übte der überwundene diabolus weiterhin seine listige Macht, um die Wahrheit des Triumphes Christi zu verdunkeln. Im Gal-Kommentar 1531/35 hat Luther im Zusammenwirken der Mächte das Treiben des Teufels eng dem Streit der beiden Gerechtigkeiten, bzw. der Dialektik des Gesetzes zugeordnet. Er ist die Kraft, die das Mächte-Konsortium unter der vorrangigen Bedeutung des Gesetzes mit suggestivem Geschick zur Überlistung der Gewissen zu handhaben versteht gegen den victor Christus. Diese Potenz gewinnt eine geschichtlich wirksame Bedeutung.

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WA 40/1, 115, 14f (Dr). ' Vgl. dazu auch H.-M. Barth, Der Teufel und Jesus Christus, 112-123 und unten 5.2. 107 Ausl. zu Gal. 1, 12, WA 40/1, 130, 26-30 (Dr). 108 G. Ebeling, Lutherstudien II, Disputatio de homine, 3. Teil, hat darauf hingewiesen, daß dieser geschichtstheologische Zusammenhang, der den Antagonismus von Teufel und Christus, bzw. Gott aufnimmt, bereits in Augustins Civitas-Konzeption vorgebildet war (249f). Auf diesen für Luther wirksamen traditionsgeschichtlichen Kontext verwies auch Bernhard Lohse in einem Gespräch. I0