Luthers Auffassung vom christlichen Leben 9783161535161, 9783161535154

Martin Luthers Ethik - oder besser gesagt: seine Auffassung vom christlichen Leben - hat die reformatorischen Kirchen bi

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German Pages 560 [562] Year 2014

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Vorwort
Inhalt
Einleitung
Erster Teil: Die Zeit vor der ersten Psalmenvorlesung
1. Luthers früheste überlieferte Predigten über Mt. 7,12 und Joh. 3,16 von 1510
2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund
2.1. Elternhaus und kirchliche Sozialisation in den Mansfelder Jahren (1483–1497)
2.2. Trivialschulbildung (etwa 1490–1501)
2.3. Philosophische Ethik im Rahmen von Luthers Erfurter Artes-Studium (1501–1505/11)
2.4. Streben nach der Verwirklichung des neutestamentlichen Ideals christlicher Existenz in der Erfurter Klosterzeit (1505–1511)
2.5. Die Aneignung der theologischen Ethik während Luthers theologischen Studiums und seiner Lehrtätigkeit als Magister (1507–1511)
Zweiter Teil: Die frühen Vorlesungen und das neue Bußverständnis (1513–1519)
3. Die Entwicklung von Luthers Auffassung vom christlichen Leben von der ersten Psalmenvorlesung bis zum Sermo de duplici iustitia (1513–1519)
3.1. Die Dictata super Psalterium (1513–1515)
3.2. Die Römerbriefvorlesung (1515/16)
3.3. Die frühen Disputationen (1516–1518)
3.4. Die Hebräerbriefvorlesung (1517/18)
3.5. Der Sermo de duplici iustitia (1519)
4. Ethische Konkretionen der Frühtheologie (1517–1519)
4.1. Schriften zu Ablaß und Buße (1517–1519)
4.2. Die frühe Dekalogauslegung (1518)
Dritter Teil: Luthers programmatische Darstellung des christlichen Lebens 1519/20
5. Die Rechtfertigung als Grundlage des christlichen Lebens
5.1. Der Glaube als das opus unicum
5.2. Der neue Mensch
6. Der Vollzug des christlichen Lebens
6.1. Strukturen des christlichen Lebens
6.2. Gute Werke
Vierter Teil: Die Entfaltung der Grundideen und Konkretionen von Luthers reformatorischer Auffassung vom christlichen Leben in den 1520er Jahren
7. Die Entfaltung der Grundideen des Lebens aus dem Glauben in der Welt
7.1. Leben aus dem Glauben in der Welt I: Das Problem der Mönchsgelübde
7.2. Leben aus dem Glauben in der Welt II: Das Problem der weltlichen Obrigkeit
8. Die Entfaltung der Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt
8.1. oeconomia
8.2. politia
Zusammenfassung
Quellen und Literatur
Quellen
Literatur
Indizes
Bibeltexte
Personen und Orte
Sachen
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Luthers Auffassung vom christlichen Leben
 9783161535161, 9783161535154

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Beiträge zur historischen Theologie Herausgegeben von

Albrecht Beutel

175

Andreas Stegmann

Luthers Auffassung vom christlichen Leben Perspektiven eines europäischen

Mohr Siebeck

Andreas Stegmann, geboren 1975; Studium der Evangelischen Theologie in HalleWittenberg, Marburg und Tübingen; 2005 Promotion; 2011 Habilitation; Privatdozent für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin.

e-ISBN 978-3-16-153516-1 ISBN 978-3-16-153515-4 ISSN 0340-6741 (Beiträge zur historischen Theologie) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http:// dnb.dnb.de abrufbar. © 2014  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwer­ tung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck­­papier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Vorwort

Das vorliegende Buch ist die für den Druck überarbeitete Fassung meiner 2011 der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin vorgelegten kirchengeschichtlichen Habilitationsschrift. Nicht enthalten ist der erste Teil der Habilitationsschrift, der die Geschichte der Erforschung von Luthers Ethik darstellt. Dieser erste Teil ist in überarbeiteter Form im Lutherjahrbuch 2012 erschienen. Gegenüber der ursprünglichen Fassung der Habilitationsschrift haben sich ansonsten keine wesentlichen Veränderungen ergeben. Der Text wurde inhaltlich und sprachlich durchgesehen und an einigen Stellen umformuliert, erweitert oder gekürzt. Ich danke Prof. Dr. Dorothea Wendebourg, Prof. Dr. Albrecht Beutel und Prof. Dr. Friedrich Lohmann, die als Gutachter im Habilitationsverfahren dem Fakultätsrat der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität die Annahme der Arbeit empfohlen und mir wertvolle Hinweise für die Überarbeitung gegeben haben. Mein Dank gilt auch Prof. Dr. Albrecht Beutel und Dr. Henning Ziebritzki für die Aufnahme dieses Buchs in die Reihe Beiträge zur Historischen Theologie. Eine große Ehre war es, daß mir die Martin-Luther-Gesellschaft für das vorliegende Buch den Martin-LutherPreis für den akademischen Nachwuchs 2014 zuerkannt hat. Ich danke Prof. Dr. Dr. Johannes Schilling, der mir als Präsident der Gesellschaft am 26. September 2014 in der Wittenberger Schloßkirche die Urkunde überreicht hat, und ich danke der Sparkasse Wittenberg, die das Preisgeld zur Verfügung gestellt hat. Ein Dank geht auch an PD Dr. Matthias Deuschle sowie an den Kreis der Berliner Doktoranden und Habilitanden, die die Entstehung der Arbeit begleitet und mir auf vielerlei Weise weitergeholfen haben. Ich danke Dr. Carina Brumme, Dr. Christof Rudolf Kraus und Bettina Schön für die Hilfe bei der Druckfertigmachung des Bands. Dank auch an Ilse König, die von Seiten des Verlags Mohr Siebeck die Drucklegung betreut hat. Dank auch und vor allem an meine Familie, meine Frau Hanna Sommer und meine drei Kinder Heinrike, Justus und Elisabeth, die es über Jahre hingenommen haben und weiter hinnehmen, daß die wissenschaftliche Arbeit ein wesentlicher Teil meines Leben ist. Berlin, 30. Oktober 2014

Andreas Stegmann

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Erster Teil: Die Zeit vor der ersten Psalmenvorlesung . . . . 15 1. Luthers früheste überlieferte Predigten über Mt. 7,12 und Joh. 3,16 von 1510 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2.1. Elternhaus und kirchliche Sozialisation in den Mansfelder Jahren (1483–1497) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Vermittlung des bürgerlichen Ethos in Luthers Elternhaus 27 – Vermittlung des religiösen Ethos durch die spätmittelalterliche Kirche 28 (richtender Christus 29 – Bußfrömmigkeit 31 – ethische Unterweisung 37)

2.2. Trivialschulbildung (etwa 1490–1501) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 religiöse Unterweisung im Rahmen des Grammatikunterrichts 39 – Lektüre der lateinischen Klassiker und der Bibel 44 – Begegnung mit dem monastischen Ideal in Magdeburg 45 – Kontakt mit der Devotio moderna 46

2.3. Philosophische Ethik im Rahmen von Luthers Erfurter Artes-Studium (1501–1505/11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Äußerer Verlauf von Luthers Studium der Artes 55 – Überblick über die wichtigsten Inhalte der im Artes-Studium kommentierten moralphilosophischen Aristotelesschriften 59 – Verschmelzung dieser aristotelischen Inhalte mit der augustinisch-frühscholastischen Tradition und Integration in die hoch- und spätscholastische Philosophie und Theologie 64 (Moralphilosophie der Frühscholastik 65 – die 1a 2ae der Summa theologiae des Thomas von Aquin als Beispiel für die Moralphilosophie der Hochscholastik 66 – neue Akzente bei Wilhelm von Ockham 70 – Gregor Reischs Margarita Philosophica als Beispiel für die lehrhafte Aufbereitung des moralphilosophischen Stoffs 71)

2.4. Streben nach der Verwirklichung des neutestamentlichen Ideals christlicher Existenz in der Erfurter Klosterzeit (1505–1511) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

VIII

Inhalt Monastisches Selbstverständnis der spätmittelalterlichen Augustinereremiten anhand der Konstitutionen der deutschen observanten Reformkongregation von 1504 74 – monastisches Selbstverständnis anhand der Programmschriften der Augustinereremiten 77 – Verwirklichung des monastischen »status verae poenitentia« durch religiöse Erfahrung (Innendimension) 82 – Verwirklichung des monastischen »status verae poenitentia« durch asketische Selbstdisziplinierung und Nächstenliebe (Außendimension) 88

2.5. Die Aneignung der theologischen Ethik während Luthers theologischen Studiums und seiner Lehrtätigkeit als Magister (1507–1511) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Die Quellenbasis für die Rekonstruktion von Luthers moraltheologischem Studium 95 – Grundanschauungen der scholastischen Moraltheologie anhand der Summa theologiae des Thomas von Aquin (2a 2ae) 96 – Eigenart der frühscholastischen Moraltheologie und ihr Verhältnis zur spätfranziskanischen Schultheologie 100 – Darstellung der fünf Hauptpunkte der scholastischen Moraltheologie anhand der Sentenzen des Lombarden und des Collectorium von Gabriel Biel 103 (1. Horizont der christlichen Praxis: Eschaton 103 – 2. Bedingungen der christlichen Praxis: Mensch 104 – 3. Normen der christlichen Praxis: Gesetz 111 – 4. Ermöglichung der christlichen Praxis: Gnade 115 – 5. Strukturen der christlichen Praxis: Tugenden 125) – sozialethische Konkretionen 131 – Abschluß 136

Zweiter Teil: Die frühen Vorlesungen und das neue Bußverständnis (1513–1519) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 3. Die Entwicklung von Luthers Auffassung vom christlichen Leben von der ersten Psalmenvorlesung bis zum Sermo de duplici iustitia (1513–1519) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 3.1. Die Dictata super Psalterium (1513–1515) . . . . . . . . . . . . . . . . 140 Einleitung 140 – Konstitution des ethischen Subjekts 142 – Zusammenhang von Konstitution des ethischen Subjekts und dessen Handeln 152 – Konkretionen der ethischen Praxis 161 – Abschluß 166

3.2. Die Römerbriefvorlesung (1515/16) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Einleitung 168 – Forschungsgeschichte 169 – Grundzüge von Luthers Anschauung vom christlichen Leben anhand der Überblicke über den Römerbrief in der Auslegung zu Röm. 1 und 12 173 – die Rechtfertigungslehre der Römerbriefvorlesung 180 – der negative Aspekt des christlichen Lebens (nihil nisi penitentes) 185 – der positive Aspekt des christlichen Lebens (vita curationis a peccato) 193 – Abschluß 203

3.3. Die frühen Disputationen (1516–1518) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

Inhalt

IX

Einleitung 207 – Scholastikkritik in der Römerbriefvorlesung 208 – Quaestio de viribus et voluntate hominis sine gratia (1516) 211 – Disputatio contra scholasticam theologiam (1517) 214 – Heidelberger Disputation (1518) 217

3.4. Die Hebräerbriefvorlesung (1517/18) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Einleitung 221 – Grundzüge der Rechtfertigungslehre der Hebräerbriefvorlesung 222 – Das Scholion zu Hebr. 2,3 229 (das Verhältnis von Rechtfertigungsglaube und guten Werken 230 – das Gleichförmigwerden mit dem Gekreuzigten als Inbegriff des christlichen Lebens 231 – Buße 234 – Gesetz 236) – Abschluß 239

3.5. Der Sermo de duplici iustitia (1519) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Einleitung 239 – iustitia als »fromkeyt« 240 – die Unterscheidung von zweierlei Gerechtigkeit 242 – Verständnis und Funktion der christlichen Praxis 245

4. Ethische Konkretionen der Frühtheologie (1517–1519) . . . . . . . . . 248 4.1. Schriften zu Ablaß und Buße (1517–1519) . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Luthers Auseinandersetzung mit der spätmittelalterlichen Bußfrömmigkeit 249 – das christliche Leben als Vollzug der poenitentia evangelica 251

4.2. Die frühe Dekalogauslegung (1518) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Einleitung 258 – der rechtfertigungstheologische Rahmen der Decem praecepta 261 – das geistliche Verständnis des Dekalogs 265 – erstes Gebot 269 – zweites und drittes Gebot 271 – Zusammenhang von Sakrament und christlichem Leben im Tauf- und Abendmahlssermon von 1519 273 – viertes Gebot 277 – fünftes Gebot 279 – sechstes Gebot 281 – siebtes Gebot 282 – Abschluß 283

Dritter Teil: Luthers programmatische Darstellung des christlichen Lebens 1519/20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 5. Die Rechtfertigung als Grundlage des christlichen Lebens . . . . . . 290 5.1. Der Glaube als das opus unicum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 5.2. Der neue Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Exkurs De spe et passionibus in den Operationes in Psalmos zu Ps. 5,12 294 – vita passiva als Gleichförmigwerden mit dem Gekreuzigten 295 – die innere Erneuerung des Menschen durch den Glauben anhand des ersten Hauptteils der Freiheitsschrift 302 (Einleitung 302 – erster Unterteil: Glaube und Wort 304 – zweiter Unterteil: Glaube und Gott 307 – dritter Unterteil: Glaube und Christus 308 – weitere Ausführungen zum zweiten und dritten Unterteil: Glaube als Erfüllung des ersten Gebots und Anteilhabe an Christi Königtum und Priestertum 310)

X

Inhalt

6. Der Vollzug des christlichen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 6.1. Strukturen des christlichen Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Das Selbst- und Weltverhältnis des Glaubenden anhand des zweiten Hauptteils der Freiheitsschrift 313 (erster Abschnitt des ersten Unterteils: Selbstdisziplinierung 314 – zweiter Abschnitt des ersten Unterteils: Hervorgehen der guten Werke aus dem durch den Glauben innerlich erneuerten Menschen 315 – zweiter Unterteil und Anhang zur lateinischen Fassung der Freiheitsschrift: Werke gegenüber dem Mitmenschen 317) – Abschluß der Freiheitsschrift 328

6.2. Gute Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 Einleitung 330 – Der Sermon Von den guten Werken 330 (Widmungsvorrede 332 – erstes Gebot: Innendimension des christlichen Lebens 333 – zweites und drittes Gebot: Frömmigkeitspraxis 337 – viertes Gebot: innerweltliche Verantwortung 344 – fünftes bis zehntes Gebot: Selbstdisziplinierung 350) – Abschluß 353

Vierter Teil: Die Entfaltung der Grundideen und Konkretionen von Luthers reformatorischer Auffassung vom christlichen Leben in den 1520er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 7. Die Entfaltung der Grundideen des Lebens aus dem Glauben in der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 7.1. Leben aus dem Glauben in der Welt I: Das Problem der Mönchsgelübde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 Einleitung 360 – Luther zum Mönchsgelübde im Sommer und Herbst 1521 361 – Auseinandersetzung mit dem Mönchtum als Inbegriff christlichen Lebens in De votis monasticis 364 – Luthers Berufsethik und Ständelehre in den Postillenpredigten von 1521 372 – Grundzüge von Luthers Berufsethik und Ständelehre 377 (Quellen 377 – traditionsgeschichtlicher Hintergrund 378 – Luthers Sprachgebrauch 380 – die drei Stände 380 – Berufspflichten innerhalb der Stände 382 – Unterschiedlichkeit der Ausgestaltung des konkreten Lebensvollzugs in den Ständen 384 – Besonderheit des christlichen Berufsgehorsams in den Ständen 385) – Abschluß 389

7.2. Leben aus dem Glauben in der Welt II: Das Problem der weltlichen Obrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Einleitung 391 – die Entwicklung von Luthers politischer Ethik 1521/22 392 – Luthers Brief an Melanchthon De gladii iure 394 – die Unterscheidung der beiden Regimente und Reiche in den Weimarer Predigten 1522 397 – Von weltlicher Obrigkeit (erster Hauptteil) 402 – Abschluß 413

Inhalt

XI

8. Die Entfaltung der Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 8.1. oeconomia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Ehe und Familie 415: Entwicklung von Luthers Anschauung bis 1522 415 – Grundzüge von Luthers Anschauung in Vom ehelichen Leben 1522 418 (Ehe als schöpfungstheologische Gegebenheit 420 – weltliches Regiment und Recht als Schutz der Schöpfungsordnung gegen die widergöttliche Unordnung 422 – religiöse Dimension des weltlichen Dings Ehe 428) Besitz und Arbeit 434: Luthers wirtschaftsethische Urteilsbildung 435 – Grundzüge von Luthers Anschauung anhand von Von Kaufshandel und Wucher 1524 437 (Besitz und Arbeit als schöpfungstheologische Gegebenheiten 437 – weltliches Regiment und Recht als Schutz der Schöpfungsordnung gegen die widergöttliche Unordnung 440 – der christliche Umgang mit Besitz und Arbeit 446)

8.2. politia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 Einleitung 454 (Quellen zur politischen Ethik 454 – Luthers ethische Urteilsbildung 457) – Struktur und Funktion der politia 466 (Notordnung angesichts der Sünde 467 – positive Abzweckung 468 – Grundstruktur 470 – Aufgabe 471 – Wahrung des Friedens mittels des Rechts 471 – Wahrung des Friedens mittels der Gewaltanwendung nach außen und innen 478 – Krieg 479 – Aufruhr 480 – Widerstand 481 – Religionspolitik 484) – der Christ und die weltliche Obrigkeit 487 (Gehorsam 488 – Grenzen des Gehorsams 488 – Christ in obrigkeitlicher Funktion 490 – Besonderheit der inneren Motivation und des geschichtstheologischen Horizonts 492 – Religionspolitik 495) – Abschluß 499

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 Indizes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibeltexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personen und Orte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung Die reformatorische Auffassung vom christlichen Leben, wie sie Luther 1520 in seinen reformatorischen Hauptschriften programmatisch dargestellt hat, war und ist ein wichtiger Teil des Erbes der Reformation. Von Anfang an erwies sie sich zugleich als umstritten und wirkmächtig. Schon Anfang der 1520er Jahre begann angesichts der Öffentlichkeitswirkung Luthers und der Ausbreitung der reformatorischen Bewegung die Kritik an seiner Konzeption der vita christiana. Die altgläubigen Kontroverstheologen und ein Teil der Humanisten betrachteten Luthers Behauptung der Rechtfertigung allein aus Glauben und der damit zusammenhängenden christlichen Praxis skeptisch bis ablehnend.1 Luther schien die menschliche Beteiligung an der Heilszueignung und der christlichen Lebensführung nicht angemessen zu würdigen: Er stelle die ethische Freiheit, Verantwortlichkeit und Fähigkeit des einzelnen infrage, er relativiere die sittliche Erziehung und Lenkung durch das Gesetz und die Kirche, und er richte das christliche Leben nicht mehr am neutestamentlichen Ideal aus. Bei den Kritikern stieß Luthers Grundgedanke der Entflechtung von Heil und christlicher Praxis, von göttlichem und menschlichem Handeln, von Soteriologie und Ethik auf Widerspruch. Eine solch weitgehende Depotenzierung und Entfunktionalisierung der Eigenaktivität des Menschen schien gerade der von Luther als normativ behaupteten Bibel zu widersprechen. Nach wie vor galt für die Gegner der Grundsatz, daß die göttliche Gnadengabe auf die eigenverantwortliche und an Gottes Gebot orientierte christliche Praxis ziele und dieser Praxis zu ihrer vollen Entfaltung bedürfe. Immer wieder wurde behauptet, daß weder die Reformatoren in ihrem persönlichen Lebenswandel noch die reformatorischen Kirchen in ihrer Vermittlung und Durchsetzung der ethischen Normen den neutestamentlichen und mittelalterlichen Standards entsprächen, und man prangerte den vermeintlichen Quietismus, Libertinismus und Antinomismus der Reformation an. Schon das Wormser Edikt stellte im Frühjahr 1521 fest, daß alles, was Luther schreibe, »zu aufrur, zertrennung, krieg, totsleg, rauberei und prand und zu ganzem abfall des christlichen glaubens reich und diene«.2 Das Edikt sah in Luthers Person und Schriften gerade nicht das Programm eines wahrhaft christlichen Lebens verwirklicht: 1 D. Bagchi: Luther’s Earliest Opponents. Catholic Controversialists, 1518–1525, 1991, 147–152.168–173 u.ö. 2 DRTA.JR 2,647,9–11.

2

Einleitung

»Denn wie er [sc. in seinen Schriften] lernet ain frei, aigenwillig leben, das von allem gesetz ausgeschlossen und ganz vihisch, also ist er [sc. in seiner Person] ain frei, aigenwillich mensch, der alle gesetz verdambt und undertruckt«.3

Ja, in Luther sei der Teufel selbst gegenwärtig, dem am Evangelium als Leitlinie für christliche Lehre und christliches Leben gerade nichts liege: »Und damit alle ander des Luthers unzalpar bossheiten umb kürze willen unerzelt beleiben, so hat dieser ainiger, nit ein mensch, sonder als der böss veinde in gestalt eins menschen mit angenomer münchskuten, manicher ketzer aufs höchst verdampter ketzereien, die lange zeit verborgen beliben sein, in ein stinkende phützen zusamen versamelt und selbs etliche von neuem erdacht, in schein, das er predig den glauben, den meniglichen [jedermann] mit solichem hohen vleis einbildet, damit er den waren, gerechten glauben zerstöre und under dem namen und schein der ewangelischen lere allen ewangelischen frid und liebe, auch aller gutten ding ordnung und die allerzierlichst christlich gestalt umbkere und niderdrucke«.4

Und Johannes Cochläus warf Luther wenig später vor, er habe es mit seinem Kampf »widder die gutten wergk« dahin gebracht, »das yetz bey uns Tewtzschen vil leuthe leben ynn tag hineyn, wie das viehe, on andacht, on forcht Gottes, on vorehrung der heiligen sacrament, on allen vleys und ubung gutter wergke, allein in wollust des leibes und freyheit des fleischs«.5

Luther selbst schien der Kritik am Ethos der Reformation rechtzugeben, wenn er im Herbst 1533 in einer Tischrede bemerkte: »Vita est mala apud nos«.6 Hatte die Reformation im Bemühen um die Wiederentdeckung und Verwirklichung des wahrhaft christlichen Lebens dieses nicht vielmehr erschwert oder sogar unmöglich gemacht? Die reformatorische Bewegung und die werdenden reformatorischen Kirchen sahen das nicht so. Luthers Konzeption der vita christiana wurde als integraler Bestandteil seiner reformatorischen Theologie in der reformatorischen Bewegung von Anfang an rezipiert, und ihre Grundgedanken wurden von den reformatorischen Kirchen zur Norm für Theorie und Praxis des christlichen Lebens gemacht. Während anderes zwischen den unterschiedlichen Richtungen der Reformation strittig war, bildete sich in den Fragen der Ethik und der christlichen Lebensführung ein theoretischer und praktischer Grundkonsens heraus. Die Confessio Augustana und ihre Apologie fassen 1530/31 knapp zusammen, worin dieser ethische Konsens der Reformation besteht:7 Die dem Glauben ohne jede Beteili3 4

DRTA.JR 2,647,11–14. DRTA.JR 2,648,9–19.

5 Johannes Cochläus: Sieben Köpfe Martin Luthers von acht hohen Sachen des christlichen Glaubens (in: Flugschriften gegen die Reformation (1525–1530), hg. v. A. Laube, Bd. 2, 2000, 1023–1044.1044–1050, hier: 1035,36–40). 6 WATR 1,294,19 f.* (Nr. 624). Dabei fügt er allerdings an: »sicut apud papistas«, was seine Kritiker gerade nicht behaupten. 7 CA 4.5 (BSLK 56.58); CA 6.20 (BSLK 60.75–81); CA 16 (BSLK 70 f.); CA 27 (BSLK

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gung von Seiten des Menschen durch das Gotteswort zugeeignete Rechtfertigung erneuert den Menschen innerlich. Sie bringt mit innerer Notwendigkeit gute Werke hervor, die dem Gesetz entsprechen und ohne irgendeine andere Motivation getan werden als nur um Gottes willen. Der Ort dieser christlichen Praxis aus dem Glauben ist die Welt mit ihren Gegebenheiten. Das Leben aus dem Glauben vollzieht sich in der Welt als Praxis der Nächstenliebe im Spannungsfeld von Christus- und Weltreich. Beiden gehört der Christ gleichzeitig an, muß ihnen aber in jeweils unterschiedlicher Weise gerechtwerden. Abgelehnt wird damit ein Ideal des christlichen Lebens, das die christliche Vollkommenheit als eine gleichermaßen soteriologisch wie ethisch relevante menschliche Leistung versteht. Abgelehnt wird auch die Konkretion dieses Ideals durch Weltdistanzierung und elitäre Leistungsfrömmigkeit. Die Vertikal- und Horizontaldimension christlichen Lebens sind für die Reformation streng unterschieden, und die innerweltliche Existenz ist damit frei für die verantwortliche Mitgestaltung der Welt. So wird die vom Glauben getragene Nächstenliebe in den vorfindlichen Strukturen der Welt zum Inbegriff des christlichen Lebens im Verständnis der Reformation. Daß die unterschiedlichen Richtungen der Reformation diesen Konsens in einzelnen Punkten anders als Luther akzentuierten,8 ändert nichts an den gemeinsamen Grundüberzeugungen.9 Schon die von Melanchthon 110–119); Apol. 4: De Dilectione et Impletione Legis (BSLK 185–196); Apol. 16 (BSLK 307–310). Zur Ethik des Augsburgischen Bekenntnisses und ihrer Apologie (sowie vergleichend zur Ethik Calvins und der reformierten Bekenntnisschriften): K. Bockmühl: Gesetz und Geist. Eine kritische Würdigung des Erbes protestantischer Ethik, Bd. 1: Die Ethik der reformatorischen Bekenntnisschriften, 1987, Kap. 2–5. 8 Man kann zwei Typen reformatorischer Ethik unterscheiden, die die von Luther formulierten gemeinsamen Grundanschauungen unterschiedlich entfalteten: zum einen das lutherische Glaubensethos der christlichen Gesetzesfreiheit, das den Vollzug des christlichen Lebens als Spontaneität der Liebe aus dem Glauben in der Christusnachfolge versteht; und zum anderen das vom Humanismus beeinflusste oberdeutschschweizerische Liebesethos des durch den Geist vermittelten christlichen Gesetzesgehorsams. Siehe dazu die Skizze in A. Stegmann: Ethische Unterweisung in der deutschen und englischen Reformation (in: D. Wendebourg u. A. Ryrie [Hgg.]: Sister Reformations II, 2014, 23–44, hier: 28 f.). Siehe auch den Vergleich der lutherischen und reformierten Bekenntnisschriften und der in ihrem Hintergrund stehenden theologischen Grundkonzeptionen hinsichtlich der Ethik bei K. Bockmühl (s.o. Anm. 7). 9 Selbst die radikale Reformation hat einen Teil dieser Grundüberzeugungen aufgegriffen. Allerdings unterscheiden sich die täuferischen und spiritualistischen Protagonisten und Gruppen hinsichtlich ihrer Auffassungen vom christlichen Leben sowohl vom Hauptstrom der mitteldeutschen, oberdeutschen und schweizerischen Reformation als auch untereinander. Dabei gilt: Während die dem Spiritualismus zuzuordnenden Positionen (Thomas Müntzer, Sebastian Franck, Caspar von Schwenckfeld u.a.) nur geringe Schnittmengen mit dem ethischen Grundkonsens der Mehrheitsreformation aufweisen und auch untereinander stark divergieren, lassen sich beim Täufertum grundlegende Gemeinsamkeiten sowohl mit der Mehrheitsreformation als auch unter den täuferischen

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verfasste Confessio Augustana mit ihrer gegenüber Luther deutlicheren Unterscheidung zwischen Rechtfertigung und christlicher Praxis und ihrer Betonung des Gesetzes ist ein Zeugnis dieser Ausdifferenzierung. Luthers Konzeption war für die reformatorische Bewegung und die sich formierenden reformatorischen Kirchen zu komplex. Mit ihrer Verschränkung von Rechtfertigung und Christusbeziehung, ihrer Betonung des selbstverständlichen Hervorfließens guter Werke aus dem Glauben, ihrer scheinbar paradoxen Verbindung von Gesetzesfreiheit und Orientierung am Dekalog oder ihrer Spannung von schöpfungstheologischer Weltzuwendung und radikalem Bergpredigtethos konnte sie nicht in all ihren Teilen überzeugen. Aber auch wenn man Luthers Auffassung vom christlichen Leben nicht in allen Punkten teilte und unterschiedliche Folgerungen aus ihr ziehen konnte, so wußte man sich ihr doch verbunden und wiederholte vielfach Luthers Grundeinsichten. Das zeigt sich an den zahlreichen reformatorischen Schriften der 1520er Jahre zu ethischen Themen – von den Programmschriften führender Reformatoren wie Melanchthons Loci 10 oder Zwinglis Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit 11 bis hin zu den zahlreichen von Theologen wie von Laien verfaßten Flugschriften12 genauso wie an den Schriften der Reformatoren der zweiten Generation, etwa an denen Calvins,13 und an den reformatorischen Bekenntnissen14 und Kirchenordnungen.15 Richtungen ausmachen (H. Hillerbrand: Die politische Ethik des oberdeutschen Täufertums, 1962; J. Stayer: Anabaptists and the Sword, 21973). In welchem Verhältnis das von Peter Blickle postulierte Ethos der »Gemeindereformation« der 1520er Jahre (Gemeindereformation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil, 21987) zum reformatorischen Grundkonsens steht, bedarf weiterer Untersuchung. 10 MStA 2I,60–64.131–144.179–182 u.ö. 11 Z 2,458–470.471–585. Hinsichtlich des Verhältnisses von Luthers und Zwinglis ethischen Grundkonzeptionen muß man sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede wahrnehmen. Die Gemeinsamkeiten zwischen Zwinglis Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit und Luthers Obrigkeitsschrift verdanken sich wahrscheinlich der Luther-Rezeption Zwinglis (siehe Ch. Gestrich: Zwingli als Theologe. Glaube und Geist beim Zürcher Reformator, 1967, 174–186, hier vor allem 176–178 mit Anm. 208). 12 Die Forschung zum inhaltlichen Profil der reformatorischen Flugschriften der 1520er Jahre hat – wenn auch nicht schwerpunktmäßig – den ethischen Themenkreis behandelt und auf den vielfach engen Zusammenhang mit Luthers reformatorischen Grundanschauungen hingewiesen: G. Blochwitz: Die antirömischen deutschen Flugschriften der frühen Reformationszeit (bis 1522) in ihrer religiös-sittlichen Eigenart (ARG 27, 1930, 145–254); P. Russell: Lay Theology in the Reformation. Popular Pamphleteers in Southwest Germany 1521–1525, 1986; M. Arnold: Handwerker als theologische Schriftsteller. Studien zu Flugschriften der frühen Reformation, 1990; M. Edwards: Printing, Propaganda, and Martin Luther, 1994, 100–106; Th. Hohenberger: Lutherische Rechtfertigungslehre in den reformatorischen Flugschriften der Jahre 1521–22, 1996; B. Moeller, K. Stackmann: Städtische Predigt in der Frühzeit der Reformation, 1996, 323–326.340–350; H. R. Schmidt: Die Ethik der Laien in der Reformation (in: B. Moeller [Hg.]: Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, 1998, 333–370).

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Dieser ethische Grundkonsens der Reformation wurde im Zusammenhang der reformatorischen Bewegung popularisiert. Dadurch, daß er Eingang in die Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen fand, wurde er normativ für die werdenden reformatorischen Landeskirchen und gewann so große wirklichkeitsprägende Kraft.16 Angesichts des engen Zusammenhangs von Rechtfertigung und christlicher Praxis wurden die ethische Unterweisung und die Durchsetzung elementarer Verhaltensstandards zu einem wichtigen Feld kirchlicher Arbeit. Die Kirchenordnungen und Visitationsakten zeigen, daß sich die reformatorisch-nachreformatorische Kirche intensiv darum bemühte, das im Glauben gründende neue Leben auch äußerlich Gestalt gewinnen zu lassen. Die ethische Lehrpredigt und die Zurechtweisung von der Kanzel und im Seelsorgegespräch waren selbstverständliche Aufgaben des Pfarrers. Unterstützt wurde die Kirche dabei 13

Beispielsweise in der letzten Bearbeitung seiner Institutio christianae religionis von 1559 (Joannis Calvini Opera selecta, Bd. 3–5) in den Abschnitten Legis moralis explicatio (II,8: 3,343–398) De vita hominis Christiani (III,6: 4,146–150; hierzu gehören auch die weiteren Ausführungen in III,7–10: 4,151–181), De libertate Christiana (III,19: 4,282– 296) De politica administratione (IV,20: 5,471–502). 14 Für die lutherischen Bekenntnisschriften siehe das Sachregister in BSLK s.v. Beruf, Buße, Christus, Ehe, Eid, Eigentum, Erneuerung, Freiwilligkeit, Früchte, Gebote Gottes, Gehorsam, Geist, Gerechtigkeit des Menschen, Gesetz, Glaube, Heiligung, Leben, Liebe, Obrigkeit, Stand, Vollkommenheit, Werke, Wille, Zeremonien (hierzu: G. Wenz: Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Bd. 1, 1996, § 5.1, § 9.9, Bd. 2, 1997, § 10.7–9, § 11.10, § 13.1–3). Für die reformierten Bekenntnisschriften sind exemplarisch zu nennen (wobei die Abschnitte über das Gesetz und die Buße in der Regel weitere relevante Aussagen enthalten): Art. 5.6.23 der Confessio Tetrapolitana von 1530 (BSRK 59f.78); Art. 22 der Confessio Gallicana von 1559 (BSRK 226 f.); Art. 16 der Confessio Helvetica posterior von 1562 (BSRK 193–195); Art. 11–14.37–39 der 39 Artikel der Anglikanischen Kirche von 1562 (BSRK 509 f.519–521); Frage 86 bis 115 des Heidelberger Katechismus von 1563 (BSRK 706–715); hierzu: J. Rohls: Theologie reformierter Bekenntnisschriften, 1987, Kap. 8.16. 15 Zu diesem vergleichsweise wenig erforschten Aspekt der reformatorisch-nachreformatorischen Kirchenordnungen: M. Seils: Glaube und Werk in den reformatorischen Kirchenordnungen (ZKG 89, 1978, 12–20). Schon der von Melanchthon und Luther gemeinsam verantwortete Unterricht der Visitatoren an die Pfarrherrn im Kurfürstentum zu Sachsen von 1528 (WA 26,175–194.195–240) betont die bleibende Bedeutung des Gesetzes für die Rechtfertigung und die Buße und stellt Grundstrukturen des christlichen Lebens aus dem Glauben vor Augen. In den späteren Kirchenordnungen spielt die moralische Unterweisung und Disziplinierung der Gemeinde und des einzelnen eine zentrale Rolle. 16 Die reformationsgeschichtliche Forschung hat diesen Zusammenhang in unterschiedlicher Weise thematisiert. Aus der Fülle der einschlägigen Literatur seien nur die Überblicke zum neueren Forschungsstand genannt: TRE 13,1–13 (Art. Gesellschaft / Gesellschaft und Christentum. VI. Reformationszeit von Hans-Christoph Rublack), H. R. Schmidt: Konfessionalisierung im 16. Jahrhundert (1992), R. van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit (2/31999), Enzyklopädie der Neuzeit 10,489–493 (Art. Konfessionalisierung von Thomas Kaufmann) und 12,220–229 (Art. Sozialdisziplinierung von Lars Behrisch).

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von der Obrigkeit mit ihrer umfassenden Kontrolle des gemeinschaftlichen und individuellen Lebensvollzugs. Und dieses Bemühen hatte durchaus Erfolg: Die Gemeinde vergegenwärtigte sich das Leitbild des christlichen Lebens in katechetischen und erbaulichen Schriften und im geistlichen Liedgut; und die Menschen bemühten sich, im Alltag diesen Vorgaben entsprechend zu leben. Mit Blick auf diese geschichtliche Wirkung von Luthers reformatorischer Theologie wird in einem neueren reformationsgeschichtlichen Lehrbuch festgestellt: »Nie zuvor oder danach in der Geschichte der Kirche hat sich theologische Erkenntnis als eine so tiefgreifend und rasch die Lebensorientierung vieler Menschen und dann auch Institutionen, Recht und Politik verändernde Kraft erwiesen«.17

Daß diese Behauptung der modernen Forschung trotz der von Luther selbst eingestandenen Defizite richtig ist, hängt mit der durch die theologische Erkenntnis geschaffenen Veränderungsdynamik zusammen. Luther selbst weist in der oben zitierten Tischrede darauf hin, daß das empirische Ethos in der reformatorischen Kirche Anfang der 1530er Jahre zwar hinter dem Ideal zurückbleibe, daß aber die Reformation dank ihrer »doctrina« über den entscheidenden Hebel verfüge, die »vita« zurechtzubringen: Die Verwirklichung des reformatorischen Ethos beginne mit der doctrina. Denn »quando manet verbum purum, etiamsi vitae aliquid deest, so kan vita dennoch zu recht kommen. Es ligt alls in verbo«.18 Die vom Gotteswort getragene Überzeugungskraft der reformatorischen Theologie werde, so erwartete es Luther, wahrhaft christliches Leben schaffen. Die ethische Dimension von Luthers reformatorischer Theologie wurde in der Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts immer wieder behandelt.19 Diese Forschung wurde erst durch die frühneuzeitliche Verselbständigung der theologischen Ethik und den neuzeitlichen Moralprotestantismus mit seiner Leitfrage nach dem Verhältnis von Religion und Sittlichkeit möglich. Die auf dieser Entdeckung der ethischen Dimension des Protestantismus aufbauende Forschung zu Luthers Ethik im 19. und 20. Jahrhundert umfaßt drei Phasen: von den 1860er bis zu den 1880er Jahren, von den 1890er bis zu den 1930er Jahren und von den 1930er Jahren bis heute. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts entstand eine Reihe umfangreicher und wichtiger kirchen- und theologiegeschichtlicher Forschungsbeiträge, die bis zum Jahrhundertende und zum Teil darüber hinaus von Bedeutung waren. Unter ihnen 17

R. Mau: Evangelische Bewegung und frühe Reformation 1521 bis 1532, 2000, 6. WATR 1,294,19*; 295,2 f.* (Nr. 624). Die folgende Skizze der Forschungsgeschichte faßt eine ausführliche Darstellung zusammen, die auch die bibliographischen Nachweise zu den genannten Autoren enthält: A. Stegmann: Die Geschichte der Erforschung von Martin Luthers Ethik (LuJ 79, 2012, 211–303). 18 19

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waren zum einen die stärker historisch interessierten Darstellungen (Ch. E. Luthardt, J. Köstlin, Th. Harnack, A. W. Dieckhoff) wichtig, die Luthers Ethik aus dem Zusammenhang seiner Theologie und Zeit rekonstruierten, und zum anderen die stärker systematisch-theologisch interessierten Darstellungen (A. Ritschl, W. Herrmann), die sich mit Blick auf die zeitgenössische theologische Diskussion eher kritisch mit Luther auseinandersetzten. Sowohl bei der historischen als auch bei der systematisch-theologischen Schwerpunktsetzung verschränkte sich die Rekonstruktion des Vergangenen mit der Stellungnahme zur eigenen Gegenwart. Als das Forschungsfeld auf diese Weise vorbereitet und in einem ersten Anlauf erschlossen war, wurden die etablierten Forschungsansätze um die Wende zum 20. Jahrhundert in einer Vielzahl von Arbeiten weiterentwickelt. Neben die immer weiter ausdifferenzierte Forschung zu Einzelaspekten von Luthers Ethik trat nun auch die Beschäftigung mit dem Verhältnis von christlichem Glauben und Welt: die Sozialethik Luthers wurden zum neuen Forschungsschwerpunkt. Zugleich sorgten die religionsgeschichtliche Schule und die ›theozentrische Wende‹ dadurch für eine Verschiebung der Interessen und Diskussionszusammenhänge innerhalb der evangelischen Universitätstheologie, daß Luther und die Reformation nun in neuartiger Weise thematisiert wurden und sich die für die Geschichte der evangelischen Theologie des 20. Jahrhunderts folgenreiche »Lutherrenaissance« anbahnte. Die beiden Schlüsselwerke der durch diese Entwicklungen um 1900 geprägten zweiten Phase der Forschung sind die bis heute wegweisenden Beiträge von Ernst Troeltsch20 und von Karl Holl21. Beide verbinden auf unterschiedliche Weise die konsequent historische Perspektive mit der systematischen Rekonstruktion: Troeltsch stellt Luthers Ethik in den Zusammenhang der Gesamtentwicklung der kirchlichen Soziallehren, untersucht sie auf das Wechselverhältnis von kirchlicher Wirklichkeit und theologischer Reflexion hin und problematisiert sie hinsichtlich ihrer inneren Struktur; Holl rekonstruiert Luthers Ethik aus der Entwicklung seiner Theologie und weist ihre immanente Kohärenz und systematisch-theologische Relevanz auf. Die Veränderungen der kirchlichen Verhältnisse und der theologischen Diskussionslage im Gefolge des Ersten Weltkriegs markierten für die Forschung zu Luthers Ethik vorerst keine Zäsur. Bis in die 1930er Jahre hinein wurden die im 19. und frühen 20. Jahrhundert entwickelten Ansätze weiterverfolgt. Die theologischen Herausforderungen der 1920er und 1930er Jahre drängten die Forschung aber in eine neue Richtung. Seit Mitte der 1930er Jahre zog die Luther zugeschriebene ›Zweireichelehre‹ immer größeres Interesse auf sich. Die Diskussion um ihre fundamentaltheologischen und sozialethischen Implikationen wurde nach 1945 – auch dank der Vorarbeiten der nordischen Lutherforschung – zum Medium der historischen und systematischen Selbstreflexion des deutschen Protestantismus und der Formulierung seiner politischen Ethik. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es zwar zu neuen Ansätzen und zu einzelnen wichtigen Beiträgen, doch die Konzentration auf die ›Zweireichelehre‹ und die immer auch – oft sogar vorrangig – gegenwartsorientierte Lutherinterpretation führten zu einer Vereinseitigung der Forschung. Forschungsgeschichtlich bedeutsam war die kontroverse Diskussion der 1950er Jahre mit ihren beiden konkurrierenden Typen der Interpretation von Luthers Unterscheidung zweier Regimente und Reiche Gottes, 20

E. Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, 1912, 427–

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K. Holl: Der Neubau der Sittlichkeit [1919] (Holl 1,155–287).

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wie sie etwa von Johannes Heckel und Heinrich Bornkamm ausgearbeitet wurden. Wichtig waren aber auch die unterschiedlichen Neuansätze der Lutherdeutung seit den 1960er Jahren, wie sie etwa von Gerhard Ebeling oder Ernst Bizer und ihren Schülern entwickelt wurden. Die Forschung seither interessiert sich zwar immer noch stark für Luthers ›Zweireichelehre‹, versucht aber die konkurrierenden Interpretationstypen zu verbinden und die Beschäftigung mit Luthers Ethik thematisch wieder breiter aufzustellen, etwa durch die Berücksichtigung der Ständelehre oder durch die Zuwendung zu einzelnen materialethischen Themen.

Angesichts dieser Forschungsgeschichte scheint es auf den ersten Blick, daß kaum mehr Neues über Luthers Ethik gesagt werden kann. Doch wenn man sich den Quellen zuwendet und die bisherige Forschung als Hilfsmittel der Quellenarbeit nutzt, ergeben sich doch neue oder wenigstens ungewohnte Einsichten. So zeigt sich, daß die bisherige Forschung die ethische Dimension von Luthers reformatorischer Theologie nicht in jeder Hinsicht befriedigend oder gar abschließend behandelt hat. Vor allem die Frage nach der historischen Genese von Luthers Ethik und ihrer systematischen Ausformulierung in den Umbrüchen der frühen Reformationszeit ist nicht ausreichend bearbeitet worden. Und die wichtigsten Arbeiten hierzu – vor allem die Aufsätze von Karl Holl – entsprechen nicht mehr dem gegenwärtigen Stand der Forschung. Hier sieht die vorliegende Arbeit ihre Aufgabe: Sie stellt die historische Genese und die systematische Struktur von Luthers Ethik vor dem Hintergrund der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Lebenswelt Luthers dar. Dabei geht es zwar auch um die Rekonstruktion einer Theoriegestalt theologischer Ethik; im Vordergrund steht aber die an den Quellen und ihren geschichtlichen Kontexten orientierte Nachzeichnung von Luthers Anschauungen über das christliche Leben. Die im Folgenden vorgenommene Nachzeichnung der Genese und Struktur von Luthers Ethik orientiert sich an der dieser innewohnenden Systematik, wie sie sich aus der Arbeit an den Quellen ergibt. Drei Themen sind besonders wichtig: Die Konstitution des ethischen Subjekts, der Zusammenhang von Glaube und Werken und die ethischen Konkretionen des Lebens aus dem Glauben. Die Rede vom ›ethischen Subjekt‹ und seiner ›Konstitution‹ ist eine moderne, Luther aber entsprechende Redeweise. Zurecht hat Trutz Rendtorff darauf hingewiesen, daß es der reformatorischen Ethik nicht nur um die »ethische[] Ordnung des weltlichen Lebens«, sondern gerade auch um den »Menschen als ethisches Subjekt der Lebensführung« gehe, weshalb es »unzutreffend, weil unzureichend« sei, »die protestantische, speziell lutherische Ethik allein nach ihrer Hochschätzung des bürgerlichen Ethos zu beurteilen und dabei die ebenso folgenreiche Neubewertung des Subjekts zu unterschlagen«.22 Für die Genese und Entwicklung von Luthers reformatorischer 22

T. Rendtorff: Ethik, 32011, 18.

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Ethik bis 1520, die in Teil II und III dargestellt wird, ist dieses Thema darum von zentraler Bedeutung. Inhaltlich geht es dabei um die Verankerung des christlichen Ethos im rechtfertigenden Christusglauben. Weil Luthers Ethik nicht ohne diese rechtfertigungstheologisch zu explizierende Konstitution des ethischen Subjekts zu verstehen ist, werden im Folgenden ausführlich seine Aussagen über den Rechtfertigungsglauben und die Christusgemeinschaft des Glaubenden berücksichtigt. Daneben werden aber auch die beiden anderen Themen – nämlich der Zusammenhang von Glaube und Werken, den Luther zwar konstatiert und als notwendig qualifiziert, aber nicht psychologisierend erklärt, sowie die aus dem Glauben hervorgehenden Werke – behandelt. Verfolgt man diese drei Themen durch die Quellen hindurch, dann zeigt sich, daß Luthers Ethik von einer Grundspannung geprägt ist, die man als Zweiheit von rechtfertigungstheologischer Innen- und schöpfungstheologischer Außendimension oder von Nachfolge- und Haustafel-Ethos kennzeichnen kann.23 Grundlegend ist die rechtfertigungstheologische Innendimension, die das Sein und Handeln des Christen bestimmt: Christliches Leben ist die Konfrontation mit dem richtenden und rettenden Gott; es ist die den Menschen gerechtmachende existentielle Christusgemeinschaft; es ist das eine und einzige gute Werk des Glaubens; es ist die innere Erneuerung durch die Rechtfertigung; es ist das Leiden in der Kreuzesnachfolge und das Gleichförmigwerden mit dem Gekreuzigten; es ist die Freiheit vom Gesetz in der Bindung an Gott; es ist der sich ganz dem Nächsten hingebende Liebesradikalismus im Gehorsam gegenüber der Bergpredigt; es ist das Leben im eschatologischen Horizont des anbrechenden Gottesreichs. Diese Innendimension ist aber aufs engste verbunden mit der schöpfungstheologischen Außendimension. Denn das Leben aus dem Glauben, die Christusnachfolge realisiert sich für Luther gerade in der Welt. Ja, Luthers Ethik läßt sich geradezu als »Bekehrung zur Welt«24 verstehen, als Anerkenntnis und verant23 Zu der als zweites genannten Unterscheidung: O. Bayer: Nachfolge-Ethos und Haustafel-Ethos. Luthers seelsorgerliche Ethik (in: O. Bayer: Freiheit als Antwort. Zur theologischen Ethik, 1995, 147–163). Nach Bayer war Luthers Aufgabe als Ethiker, »das Leben im Haus, in der Welt, der Welt der Arbeit, Familie, Politik – dieses Leben im ›Haus‹ zusammenzuhalten und zu durchdringen mit dem Leben in der Nachfolge auf den Ruf Jesu Christi hin, und das heißt für Luther: mit dem Gehorsam des ersten Gebotes, Gott über alle Dinge zu fürchten, zu lieben und ihm zu vertrauen. Es ist Luthers große Leistung, das Problem, das in der Kirchengeschichte verschiedene Lösungen gefunden hatte, in unüberbietbarer Schärfe formuliert und die nötigen Bestimmungen angemessen zur Geltung gebracht zu haben« (aaO 158). 24 O. Bayer: Angeklagt und anerkannt. Religionsphilosophische und dogmatische Aspekte (in: H. Ch. Knuth [Hg.]: Angeklagt und anerkannt. Luthers Rechtfertigungslehre in gegenwärtiger Verantwortung, 2009, 89–107, 107). Die »Bekehrung zur Welt« ist nach Bayer der dritte der drei »Grundzüge der Rechtfertigungslehre« neben »Grund

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wortliche Mitgestaltung der gegebenen weltlichen Ordnungen und Strukturen als des Orts christlichen Lebensvollzugs. Die vorliegende Arbeit wird sowohl die rechtfertigungstheologische Innendimension als auch die schöpfungstheologische Außendimension von Luthers Ethik herausarbeiten und der theologischen Bewältigung der Spannung zwischen beiden nachgehen. Die Gliederung der Darstellung folgt der geschichtlichen Entwicklung von Luthers Auffassung vom christlichen Leben, die sich in zwei Schritten vollzog: den Jahren zwischen 1510 und 1520, in denen er die Grundgedanken seiner reformatorischen Ethik entwickelte (Teil II), und den Jahren zwischen 1520 und 1526, in denen er diese Grundgedanken programmatisch darstellte (Teil III), sie weiterentwickelte und sie in sozialethische Konkretionen überführte (Teil IV). Um Luthers Anschauungen vom christlichen Leben historisch einzuordnen und den Blick für das Ineinander von Kontinuität und Diskontinuität in Luthers theologischer Entwicklung zu schärfen, geht diesen Teilen eine Darstellung des spätmittelalterlichen Hintergrunds voran (Teil I). Warum aber kommt in dieser Gliederung der ›späte Luther‹ nicht vor? Daß die letzten beiden Lebensjahrzehnte Luthers nicht ausführlicher behandelt und die Quellen der 1530er und 1540er Jahre nur ergänzend herangezogen werden, hat inhaltliche Gründe. Der wichtigste inhaltliche Grund für den Verzicht auf eine eigenständige Thematisierung des ›späten Luther‹ ist, daß sich seit Mitte der 1520er Jahre keine grundsätzliche Weiterentwicklung von Luthers Auffassung vom christlichen Leben erkennen läßt. Was in Teil III und IV anhand der Quellen der Jahre 1519 bis 1526 dargestellt wird, gilt auch für den späten Luther. Allerdings akzentuierte Luther seit Ende der 1520er Jahre seine reformatorischen Grundanschaungen anders, indem er immer stärker die schöpfungstheologische Außendimension, also das Leben des Christen in der Welt und seine der Eigengesetzlichkeit der Welt folgende verantwortliche Mitgestaltung der Schöpfung thematisierte.25 In der For-

und Mitte« (Rechtfertigungspredigt in Gesetz und Evangelium) und »sein dürfen« (von Gott geschenkte Existenz): »Die durch die Rechtfertigung des Sünders geschenkte Neuschöpfung betrifft die ganze Schöpfung. Sie stiftet einen neuen Zugang zur Welt, die Bekehrung zur Welt« (aaO 107). Bayer hat auf diesen für Luthers reformatorische Ethik zentralen Gesichtspunkt bereits in seinem Aufsatz Natur und Institution. Luthers Dreiständelehre (in: O. Bayer: Freiheit als Antwort. Zur theologischen Ethik, 1995, 116–146) hingewiesen und ihn im Abschnitt Das geistliche Gewicht des Weltlichen (aaO 125–133) entfaltet. 25 Eine durch ihre Interpretationsperspektive zugleich anregende und nicht ganz unproblematische Darstellung dieser schöpfungstheologisch umakzentuierten Ethik Luthers anhand der Katechismen und ihrer Folgen für die schöpfungstheologisch enggeführte Ethik der lutherischen Bekenntnisschriften und des bis ins 20. Jahrhundert lebendigen protestantischen »Milieus der Moral« bietet K. Bockmühl (siehe oben Anm. 7, hier zu Luther: 27–120). Daß Bockmühl sich auf Luthers Katechismen als Quellenbasis beschränkt, hat damit zu tun, daß ursprünglich eine Fortführung des Werks mit einer Untersuchung »der Ursprünge protestantischer Ethik im Schrifttum Martin Lu-

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schung wurde diese Umakzentuierung nur selten in den Blick genommen und wenn, dann sehr unterschiedlich bewertet. Einerseits ist auf Ernst Troeltsch hinzuweisen, der bei Luther eine Entwicklung sieht, die während der 1520er Jahre dazu führt, daß Luther seine grundsätzlich dem »Kirchentypus« zuzuordnende, zugleich aber auch Momente des Typus der »Sekte« und der »Mystik« umfassende Ethik immer stärker im Sinne des Kirchentypus entfaltet. Die dabei auftretenden Spannungen bringe er durch eine problematische, Person und Amt des Christen unterscheidende und zugleich der Nachfolgeforderung der Bergpredigt und der Kulturorientierung des Dekalogs folgende »Doppelmoral« zum Ausgleich.26 Andererseits ist auf Karin Bornkamms Vergleich der beiden Galaterbriefauslegungen Luthers von 1519 und 1531 zu verweisen. Dieser Vergleich zeigt zwar auch jene Akzentverschiebung auf, relativiert sie aber angesichts der beiden Kommentaren gemeinsamen Grundanschauungen. 27 In dieser Frage nach der Entwicklung von Luthers Ethik während der 1520er Jahre ist Karin Bornkamm Recht zu geben. Für die vorliegende Arbeit heißt das: Luthers reformatorische Anschauungen vom christlichen Leben sind ausgehend von den reformatorischen Programmschriften des Jahres 1520, deren exegetischen Vorarbeiten im Galaterbriefkommentar von 1519 und der zweiten Psalmenvorlesung sowie den Schriften der Zeit bis 1526 zu entwickeln. Durch die Schriften aus Luthers beiden letzten Lebensjahrzehnten wird diese reformatorische Ethik Luthers zwar ergänzt und teilweise umakzentuiert, aber nicht grundsätzlich verändert.28 thers« (aaO 26) geplant war. Diese nicht verwirklichte Untersuchung unter Berücksichtigung von Luthers Schriften von vor 1529 hätte Bockmühls »Würdigung des Erbes protestantischer Ethik« wohl weniger kritisch ausfallen lassen und die bei der Analyse der Katechismen und der Schmalkaldischen Artikel herausgestellten Stärken von Luthers Ethik betont. 26 E. Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, 1912, 427– 512. Allerdings gibt Troeltsch lediglich eine grobe Skizze von Luthers ethischer Position um 1520 und deren Entwicklung hin zu dem für den Kirchentypus charakteristischen Ethos. 27 K. Bornkamm: Luthers Auslegungen des Galaterbriefs von 1519 und 1531. Ein Vergleich, 1963, 358 (sowie die dieser Zusammenfassung zugrundeliegenden Ausführungen in Kap. 2 und Kap. 4). 28 Als Beleg dafür kann eines der schönsten Summarien von Luthers Ethik dienen, das sich in der 1539 entstandenen Schrift Von den Konziliis und Kirchen findet und das zugleich die oben genannte Unterscheidung von Innen- und Außendimension zu illustrieren und pneumatologisch zu explizieren vermag: »Christliche heiligkeit oder gemeiner Christenheit heiligkeit ist die, Wenn der heilige Geist den Leuten glauben gibt an Christo und sie dadurch heiliget, Act. 15[,9]., das ist, er macht neu hertz, seel, leib, werck und wesen, und schreibt die gebot Gottes nicht in steinern Tafeln, sondern in fleischliche e hertzen, 2. Cor. 3[,3]., als das ich groblich rede. Nach der ersten tafel gibt er recht erkentnis Gottes, das sie, von jm erleucht mit rechtem glauben, allen Ketzereyen widder e stehen, alle falsche gedancken und jrthum uber winden konnen und damit rein im glaue e ben wider den Teuffel bleiben. Er gibt auch stercke und trostet die bloden, verzagten, schwachen gewissen wider das anklagen und anfechtung der sunden, damit die seelen nicht verzagen odder verzweiveln, auch nicht erschrecken fur der marter, pein, tod, zorn e und gericht Gottes, sondern, in der hoffnung gesterckt und getrost, kecklich und frolich den Teuffel uber winden, also gibt er auch rechte furcht und liebe gegen Gott, das wir e e Gott nicht verachten und wider seine wunderliche gerichte nicht murren noch zurnen, e Sondern in allem, was furfellet, guts oder boses, jn lieben, loben, dancken und ehren.

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Die einzelnen Kapitel und Unterkapitel der folgenden vier Teile entfalten die Entwicklung und Ausgestaltung von Luthers Anschauungen vom christlichen Leben anhand bestimmter Leittexte und belegen die einzelnen Aspekte soweit möglich anhand zusammenhängender Textkomplexe. Das führt dazu, daß die wichtigsten Quellen zu Luthers Auffassung vom christlichen Leben im Laufe der Arbeit ausführlich vorgestellt werden. Wo dieses Leittext-Verfahren nicht ausreicht, um Luthers Position darzustellen, dienen teilweise auch Zitate aus unterschiedlichen Schriften und Schaffensperioden als Belege. Allerdings orientiert sich die Darstellung auch in diesem Fall – das gilt vor allem für Teil IV – an einzelnen Schlüsselschriften, von denen ausgehend Luthers Position rekonstruiert wird. Die Darstellung beruht also auf einer Untersuchung von Luthers Gesamtwerk, konzentriert sich aber auf die Quellen, die für den Nachvollzug der Entwicklung und Ausformulierung von Luthers reformatorischer Ethik besonders wichtig sind. Generell gilt, daß die von Luther selbst verfaßten Quellen gegenüber Nachschriften und Bearbeitungen bevorzugt werden. Nicht direkt von Luther stammende Quellentexte sind mit einem Sternchen gekennzeichnet und werden nur ergänzend herangezogen. In Einzelfällen, wie der Hebräerbrief-Vorlesung, ist es freilich unumgänglich – und wegen der Textgattung auch möglich –, mit solchen sekundären Quellen zu arbeiten. In der Regel wird nach WA zitiert. Wo in anderen LutherAusgaben bessere Editionen vorliegen, sind jedoch diese zugrundegelegt. Einfügungen in eckigen Klammern innerhalb von Zitaten gehören nicht zum Zitat, sondern stammen vom Verfasser. Wörtliche Zitate sind durch Anführungszeichen markiert. Lateinische und frühneuhochdeutsche Wörter und Formulierungen ohne Anführungszeichen sind in der Regel der Quelle entnommen, können aber durch Kürzung, Umstellung und Anpassung der Flexionsformen verändert sein. Das Literaturverzeichnis beschränkt sich auf die in Text und Fußnoten genannten Titel.29 Solchs heisst ein neue heilig leben in der seele nach der ersten Tafel Mosi, Man heists auch Tres virtutes Theologicas, die drey heubt tugent der Christen, als Glaube, Hoffnung, Liebe, Und der Heilige geist, der solchs (uns von Christo erworben) gibt, thut und wirckt, heisst darumb Sanctificator oder vivificator. Denn der alte Adam ist tod und kans nicht thun, und mus es dazu noch durchs Gesetz lernen, das ers nicht thun kunde e und tod sey, sonst wuste er solchs auch nicht von jm selbs. In der andern Tafeln und nach dem leibe heiliget er die Christen auch, und gibt, das sie williglich den Eltern und e Oberherrn gehorsam sind, friedlich, demutig sich halten, nicht zornig, noch rachgirich e oder boshafftig, sondern gedultig, freundlich, dienstlich, bruderlich, lieblich sind, Nicht e e unkeusch, ehebrecher, unzuchtig, sondern keusch, zuchtig, mit Weib, kind und gesind, oder on Weib und Kind, Also fort nicht stelen, wuchern, geitzen, ubersetzen etc. Sone dern ehrlich arbeiten, sich redlich neeren, gern leihen, geben, helffen, wo sie konnen, e Also nicht liegen, triegen, affterreden, sondern gutig, warhafftig, treu und bestendig sind, und was mehr in den geboten Gottes gefoddert wird. Solches thut der heilige Geist, der heiliget und erwecket auch den Leib zu solchem neuen leben, bis es volbracht werde e in jenem leben. Und das heisst die Christliche heiligkeit, Und solche Leute mussen jmer auff erden sein, und solten gleich nur zween oder drey oder allein die kinder sein« (WA 50,626,15–627,13).

Einleitung

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Alle weitere Literatur zu Luthers Ethik, die zwar für die Darstellung ausgewertet wurde, nicht aber in den Fußnoten angeführt wird, findet sich in der Bibliographie zur Forschungsgeschichte. 30

Noch ein Wort zum Titel der Arbeit: Bewußt ist statt von Luthers ›Ethik‹ von seiner ›Auffassung vom christlichen Leben‹ die Rede. Luther selbst verwendet den Ethik-Begriff nur selten und nicht in dem Sinne, in dem man seit dem 19. Jahrhundert von einer theologischen Ethik spricht.31 Er kennt aber nicht nur den Begriff der theologischen Ethik im heutigen Sinne nicht, sondern strenggenommen auch nicht den damit bezeichneten Sachverhalt. Obgleich seine Schriften reiches Material bieten, das sich in einem vom modernen Ethikverständnis her konzipierten Schema darstellen ließe, verweigern sie sich doch einer heutigen Ansprüchen genügenden Systematisierung. Die gängigen Unterscheidungen wie die von Ethik und Ethos, von Tugend-, Güter- und Pflichtenethik, von Meta-, Individualund Sozialethik, von deskriptiver und präskriptiver Ethik oder von Verantwortungs- und Gesinnungsethik wirken in ihrer Anwendung auf Luther gezwungen. Auch die in den Lutherdarstellungen seit dem 19. Jahrhundert gängig gewordenen Schemata wie Religion und Sittlichkeit, Gesetz und Evangelium oder die ›Zweireichelehre‹ eignen sich nur für bestimmte Teilbereiche und Darstellungszwecke. Auch wenn im Folgenden der Ethikbegriff nicht preisgegeben wird, so wird er doch eingeordnet in den größeren Zusammenhang des gelebten Ethos und seiner theologischen Reflexion. In Luthers Sprachgebrauch gibt es dafür eine zwar nicht durchweg, aber doch an wichtigen Stellen programmatisch verwendete Themaformulierung: Es geht um das christliche Leben.32 29 Lexikonartikel wurden nur in Ausnahmefällen ins Literaturverzeichnis aufgenommen. Wo in Fußnoten auf solche Artikel verwiesen wird, ist der Verfasser angegeben. 30 A. Stegmann: Bibliographie zur Ethik Martin Luthers (LuJ 79, 2012, 305–342). 31 Siehe unten 3.2., Anm. 124 f. 32 So bezeichnet Luther seine Freiheitsschrift als »summa [...] vitae christianae compendio congesta« (WA 7,48,36–49,1). Die Ablaßthesen von 1517 handeln von der vita fidelium (WA 1,233,11). Einen Überblick über Luthers Verwendung des Begriffs »Leben«, wo weitere wichtige Stellen aufgeführt sind, bietet das Sachregister zur Weimarer Ausgabe: WA 68,623–649 (hier v.a. 625) und WA 71,433–448 (hier v.a. 433 f.444 f.). – Im Hintergrund dieser Themaformulierung der Ablaßthesen oder der Freiheitsschrift stehen die frömmigkeitstheologischen und humanistischen Diskurse der Zeit um 1500, für die das christliche Leben ein wichtiges Thema war. Für die Frömmigkeitstheologie sei verwiesen auf B. Hamm: Was ist Frömmigkeitstheologie? (in: Religiosität im späten Mittelalter. Spannungspole, Neuaufbrüche, Normierungen, 2011, 116–153). Für den Humanismus sei verwiesen auf Erasmus’ Enchiridion: Erasmus sieht seine Aufgabe darin, »ut quamplurimos ad Christianam vitam pelliciamus« (ed. Holborn 5,12 f.), weshalb er das Echiridion als »compendiariam quandam vivendi rationem [. .. ] qua instructus posses ad mentem Christo dignam pervenire« verfaßt habe (aaO 22,6–8). Es erscheint nicht ausgeschlossen, daß Luther mit seiner Bezeichnung der Freiheitsschrift als »summa [...] vitae christianae compendio congesta« auf diese und andere Formulierungen des Erasmus Bezug nimmt.

Erster Teil

Die Zeit vor der ersten Psalmenvorlesung 1. Luthers früheste überlieferte Predigten über Mt. 7,12 und Joh. 3,16 von 1510 Schon die zwei ältesten bekannten Predigten Luthers von 1510, die er in Erfurt als Bakkalaureus biblicus hielt, greifen das Thema des christlichen Lebens auf.1 Sie sind mit ihrer der spätmittelterlichen Frömmigkeit und Theologie verpflichteten Darstellung des christlichen Lebens als eines Ineinanders von göttlicher Gnadengabe und menschlichem Handeln gewissermaßen das programmatische Gegenstück zur zehn Jahre später entstandenen Freiheitsschrift. Im einzelnen handelt es sich um eine Predigt zu Mt. 7,12 und eine zu Joh. 3,16.2 Für das inhaltliche Verständnis ist nicht nur auf die Texte selbst zu achten, sondern auch der wahrscheinliche Sitz im Leben zu berücksichtigen. Denn wenn sich der mönchische Prediger mit seinen beiden Übungspredigten im Raum der Theologischen Fakultät Erfurt oder des Augustinerklosters an eine Gemeinde von Weltklerikern und Mönchen wandte, so stehen die Texte im Zusammenhang monastischer Frömmigkeit. Was Luther zur vita christiana zu sagen wußte, ist darum geprägt vom Ideal monastischer Existenz als der elitären Verwirklichung christlichen Lebens. Die »doctrina unica« der Predigt über Mt. 7,123 ist, daß es gemäß der Goldenen Regel der Bergpredigt für das Erreichen des Heils nicht genügt, 1 Die Statuten der Theologischen Fakultät Erfurt verpflichten die Bakkalare zur Predigt in den akademischen Gottesdiensten; die Predigt gehört auch zu den Übungen im Vorfeld des Erwerbs der licentia (Die Statuten der Theologischen Fakultaet der Universitaet Erfurt, ed. Meier: 91,16–92,3; 106,9 f.; 120,2 f.; Scheel 2,552 f.). 2 Edition: WA 4,590–595.595–604; Cl 5,20–26.26–37. Die Datierungsvorschläge schwanken zwischen 1510 und 1516. Vogelsang (Cl 5,19 f., im Anschluß an ihn WA 59,333) nimmt für die Predigten eine Entstehung um 1510 in Erfurt an. Er verweist dabei vor allem auf den Inhalt, »welcher in der Unselbstständigkeit der Problemstellungen und -lösungen das früheste, nahezu ungebrochen scholastische Stadium der Theologie Luthers zeigt«. Daraus folgt: »In alledem sind sie z.T. noch scholastischer als die Randnoten zu Augustin und dem Lombarden 1509/10. Sie sind also so früh wie möglich anzusetzen, vermutlich die allerfrühsten erhaltenen Predigten. [...] Später als 1513 sind sie kaum denkbar«. Vogelsangs Datierung aufgrund innerer Kriterien ist zwar nicht zwingend, aber plausibel. 3 Gliederung: [1] WA 4,590,1–10: Einleitung; [2] 590,11–591,2: Unterscheidung drei-

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I. Die Zeit vor der ersten Psalmenvorlesung

dem Nächsten nicht zu schaden – also vom Bösen abzulassen –, sondern daß es notwendig ist, sich ihm positiv zuzuwenden – also das Gute zu tun. Und dies in umfassender Weise hinsichtlich aller drei denkbaren Arten von Gütern: der äußerlichen wie Besitz oder Familie, der die Person betreffenden Güter wie Gesundheit oder guter Ruf und der geistlichen und innerlichen wie Tugend, Liebe oder Glaube.4 Der Mittelteil der Predigt entfaltet diese strenge Forderung der umfassenden Zuwendung zum Nächsten anhand weiterer biblischer Texte. Die Umsetzung der Goldenen Regel beginnt mit dem intrare in cor suum: Man hat zu prüfen, was man vom Nächsten erwartet und was demnach für das eigene Verhalten dem Nächsten gegenüber gefordert ist.5 Verdienstlich hinsichtlich des ewigen Lebens ist dabei nur das tatsächliche Handeln aufgrund der Goldenen Regel,6 weshalb mehrfach betont wird, daß das Nicht-Schaden nicht ausreicht (non sufficit).7 Wie das synoptische Gleichnis von den Talenten zeigt, setzt das verdienstliche Handeln des Menschen hinsichtlich aller drei Arten von Gütern das von Gott empfangene, nicht vom Menschen selbst herkommende Vermögen (possibilitas nostra) voraus.8 Das zur Begründung der doctrina angeführte Gleichnis vom Acker9 unterstreicht diese Angewiesenheit des Menschen auf Gottes Gabe, indem die bona, hinsichtlich derer der Mensch am Nächsten handelt, als dona bestimmt werden, so daß sowohl das grundsätzliche Vermögen des Menschen wie dessen Konkretion auf Gottes Gabe bezogen sind. Diese Angewiesenheit des Menschen auf Gottes Gabe relativiert jedoch nicht die Strenge der Bergpredigtforderung, sondern unterstreicht sie gerade, wie auch die wohl nicht ohne Grund ins Deutsche übertragene Zitatkombination aus 1.Petr. 4,10 und 1. Kor. 7,17 einprägsam zusammenfaßt: »ein iglichs sol dem andern behülffen sein, darnach im Got verlihen hat«.10 Und dieses Handeln am Nächsten aufgrund der göttlichen Gabe ist als Praxis der Nächstenliebe das wahrhafte Christenleben: »Hoc est omnium charitas et vera vita Chrier Arten von Gütern; [3] 591,3–594,19: Auslegung von Mt. 7,12 ([3a] 591,3–6: »doctrina unica«; [3b] 591,6–10: Begründung der doctrina mit der Vernunft; [3c] 591,11–592,35: Begründung der doctrina mit der Schrift; [3d] 592,36–593,16: Begründung der doctrina mit Gleichnissen; [3e] 593,17–594,19: sechs konkretisierende Folgerungen aus der doctrina); [4] 594,20–595,10: Auflösung dreier Fragen. 4 »non sufficit ad salutem, quod aliquis proximo suo non nocet aut non malefacit in his tribus bonis, sed requiritur etiam, ut in ipsis et prosit et benefaciat« (WA 4,591,3–5). Die drei bona werden in der Einleitung der Predigt erläutert (WA 4,590,11–591,2). 5 WA 4,591,15–18. 6 WA 4,591,18–21. 7 WA 4,591,3.14.26.27; 594,26. 8 WA 4,591,31–33. 9 WA 4,592,36–593,3. 10 WA 4,591,36 f.

1. Luthers früheste überlieferte Predigten

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stianorum«.11 Weil das christliche Leben die Nächstenliebe ist, darum ist der Verzicht auf die etwa in Mt. 25,31–46 geforderte konkrete Praxis guter Werke nicht nur als neutral zu bewertende Unterlassung, sondern vielmehr mit Augustin gleichsam als Tun des Gegenteils zu werten.12 Das Gegenbild zum wahrhaft christlichen Leben in der Praxis der Nächstenliebe ist aber nicht nur das Unterlassen guter Werke, sondern auch das unchristliche Leben in den Todsünden, in Raub, Wucher, Betrug, Lüge, übler Nachrede oder Verführung zur Sünde. Wo man sich in dieser Weise nicht um Gesetz und Propheten kümmert, wo man den Kampf gegen die Todsünde und die Laster nicht aufnimmt, da ist nulla vita christiana.13 Die den Mittelteil abschließende Begründung der doctrina mit Hilfe von Gleichnissen,14 die Auflistung von sechs die doctrina weiter ausführenden Folgerungen15 sowie die abschließend aufgegriffenen Fragen16 variieren die drei wichtigsten Aussagen: die Betonung des konkreten Tuns des Guten in Gestalt der Nächstenliebe entsprechend der Goldenen Regel, die Heilsrelevanz dieses Tuns und die Voraussetzung der göttlichen Gabe für die menschliche Praxis. Weil die Goldene Regel dieses Beziehungsgefüge von göttlicher Gabe, menschlichem Liebeshandeln und ewigem Heil enthält, gilt von ihr, daß die ganze Schrift in ihr zusammengefaßt ist und daß sie als Orientierung für die christliche Existenz dient: »Ecce in quam brevi verbo habetis omnem scripturam! Sit ergo hoc verbum cuilibet speculum et in ipso et secundum ipsum videat in omnibus operibus suis, an sic faciat proximo suo, sicut sibi vellet fieri, et an sic vellet sibi omitti, sicut ipse alii omittit. Quod si se talem invenerit, speret, quod salvabitur«.17

Das in der Predigt über Mt. 7,12 immer wieder angesprochene Moment der allem menschlichen Handeln gegenüber dem Nächsten vorausliegenden Gabe Gottes wird in der wohl in derselben Zeit in Erfurt entstandenen Pfingstmontags-Predigt über Joh. 3,16 ausführlich behandelt. Ist die Auslegung der Goldenen Regel mit ihrer »unerbittliche[n] Verschärfung der sittlichen Maßstäbe gegenüber der Scholastik (vgl. das immer wiederkehrende ›non sufficit . .. ‹) und de[m] eben daraus folgende[n] Gerichtsernst« »die eindringlichste Gesetzes- und Gerichtspredigt, die wir von dem jungen Luther haben«,18 so behandelt die Auslegung von Joh. 3,16 11

4,591,37 f. 4,591,38–592,35. 4,593,32–594,7. 4,592,36–593,16. 4,593,17–594,19. 4,594,20–595,10. 4,594,12–16. 18 E. Vogelsang: Zur Datierung der frühesten Lutherpredigten (ZKG 50, 1931, 112– 145, 115). WA WA 13 WA 14 WA 15 WA 16 WA 17 WA 12

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I. Die Zeit vor der ersten Psalmenvorlesung

den Rahmen, innerhalb dessen das mit solchem Ernst geforderte menschliche Liebeshandeln steht.19 Der Predigttext richtet den Blick in eine scheinbar ganz andere Richtung als die Goldene Regel, nämlich auf die Liebe Gottes zur Welt, die dazu führt, daß er seinen Sohn für sie hingibt, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben. Die Erlangung der vita aeterna, des Heils, scheint hier also gerade nicht in engem Zusammenhang mit dem menschlichen Handeln zu stehen, sondern das Heil wird primär als Gabe Gottes verstanden. Die heilvolle Zuwendung Gottes vollzieht sich gemäß Joh. 3,16 in der Hingabe des Sohnes für die Welt, wie die einleitende Entfaltung des Predigttexts in gleichermaßen gedanklich klaren wie rhetorisch gestalteten und zu Herzen gehenden Wendungen erläutert:20 Der Bibelvers enthalte wunderbare Worte – welch ein Geber, welch eine Gabe, welch notwendiger Zweck, welch nicht zu übertreffender Beweggrund, welch große Not.21 Doch dieser Lobpreis der göttlichen Zuwendung zur seins-, gnaden- und herrlichkeitswidrigen Welt, zum sich gegen Gott stellenden Menschen thematisiert nur einen Aspekt der göttlichen Gabe. Der Hauptteil der Predigt entfaltet weit über den Predigttext hinausgreifend zum einen die schöpfungstheologische, anthropologische und heilsgeschichtliche Fülle der göttlichen Gabe und macht zum anderen deutlich, daß sich die Erlangung des Heils innerhalb dieser göttlichen Gaben und mittels ihrer als menschliche Mitwirkung vollzieht.22 Nur kurz erwähnt Luther, daß Gottes Wort in Gestalt der Bibel und der kirchlichen Auslegung gnädige Gabe zum Heil der Menschen ist.23 Ausführlicher behandelt er die Schöpfung als Gabe Gottes, die gemäß Röm. 8,28 als cooperatio mundi zum ewigen Leben verhilft, indem sie dem dreifachen 19 Auch hier schwankt die Datierung in der Forschung, wobei die Ansetzung Vogelsangs auf Pfingstmontag 1510 angesichts des Inhalts wohl zutreffend ist. – Die Gliederung des Texts erschließt sich nicht unmittelbar, deshalb sei hier eine Skizze des Gedankengangs gegeben: [1] WA 4,595,15–27: hermeneutische Vorüberlegung; [2] 595,28– 596,19: Auslegung von Joh. 3,16a, erste Entfaltung der Gabe; [3] 596,20–32: Notwendigkeit des Heilsgeschehens in seinen zuvor aufgeführten Aspekten; [4] 596,33–597,7: aus der Größe des Heilshandelns Gottes für den Menschen folgt die Verpflichtung des Menschen, zu seinem Heil selbst etwas beizutragen; [5] 597,8–601,6: zweite, an Joh. 3,16a anschließende, aber darüber hinausgehende Entfaltung der heilvollen göttlichen Gabe in drei Schritten ([5a] 597,9–599,9: die erste Gabe sind Gottes Wort und die Schöpfung; [5b] 599,10–35: die zweite Gabe ist der Mensch selbst; [5c] 599,36–600,21: die dritte und entscheidende Gabe ist Christus); [6] 601,7–602,23: die sich aus Gottes Gabe ergebende cooperatio des Menschen durch den Glauben; [7] 602,24–604,30: Textteile, deren Verhältnis zum Haupttext nicht deutlich ist (es könnte sich teilweise um den Abschluß, teilweise um Notizen für weitere mündliche Ausführungen handeln). 20 WA 4,595,28–596,19. 21 WA 4,596,20–24. 22 WA 4,597,8–601,6. 23 WA 4,597,9–15.

1. Luthers früheste überlieferte Predigten

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Zweck »ad usum, ad intellectum et ad affectum«24 dient: Sie ermöglicht die Existenz des Menschen, sie unterrichtet ihn »in practicis« und »in speculativis«,25 indem sie über sich hinaus auf Gott verweist, und sie richtet ihn affektiv auf Gott aus. Die Schöpfung erweist sich so als eine aufwärts führende Leiter (scala), die letztlich auf die willensmäßig-affektive Gemeinschaft mit Gott in der Gottesliebe hinführt. Diese liegt jenseits der Schöpfung, so daß es gilt, die Schöpfung auf den Schöpfer hin zu transzendieren.26 Neben der Schöpfung hat Gott aber dem Menschen auch sich selbst zu seinem Heil gegeben. Sowohl die Schöpfung als auch der Mensch selbst gehören zu den Grundbedingungen für die Erlangung des ewigen Lebens – das Heil realisiert sich im Zusammenhang und unter Beteiligung von Welt und Mensch. Der Mensch ist ein Mikrokosmos, und seine Seele ist in ihrer Beziehung zum Leib und zur Umwelt Abbild der Trinität in ihrer Beziehung zur Welt. Der Mensch ist darin allen anderen Geschöpfen – einschließlich der Engel – überlegen, daß er den freien Willen hat und mit seinem freien Willen handelt. Die Erlangung des ewigen Lebens wäre gar nicht möglich, wenn dem Menschen nicht der freie Wille gegeben wäre, weil sich das Heil nach mittelalterlichem Verständnis im Beteiligtsein des Menschen als »sui mundi compos, liber, rector, sub solo Deo«27 vollzieht. Erst vor dem Hintergrund von Schöpfung und freiem Willen kann darum die Hingabe Christi als das zentrale Heilsereignis recht gewürdigt werden. Denn Gott hat Christus als die größte Gabe gegeben, da die beiden anderen Gaben noch nicht »ad collaborandum Deo nostro pro nostra salute« geführt haben. Christus ist die Erfüllung alles dessen, was der Mensch nicht selbst leisten kann. Zur zweimaligen Auslegung von Joh. 3,16a in der Predigt mit ihrer Behandlung der Gabe Gottes gehört jeweils die daran anschließende Aus24 Luther differenziert diesen dreifachen Zweck (WA 4,597,22) weiter, wendet ihn aber exemplarisch nur auf die Schöpfung, nicht auch auf den Menschen und Christus an: »Et sicut declarata sunt illa tria, scilicet usus, instructio, affectio in creaturis, quodlibet dupliciter, scilicet usus blandus et asper, instructio practica et speculativa, affectio amoris et odii, quid scilicet nolle et velle debeamus: ita potest melius in secundo, i.e. homine ipso, idem declarari, sed optime adhuc in Christo. Sed relinquo aliis id« (WA 4,600,14– 18). 25 WA 4,598,23 f. 26 »Deinde tertio affectum nostrum provehunt [...]. Sic enim habent creaturae maximam cooperationem ad amandum Deum, dummodo non ibi sistitur. Sic ascendens scalam non ideo premit gradus, ut ibi quiescat. Sic nostri pedes sunt suavitates et affectus in creaturis, qui cum sic signantur, non debent ibi quiescere, ne forte ruat, sed ascendere in Deum« (WA 4,598,29–599,2). Diese Stelle ist der deutlichste Hinweis auf die vorauszusetzende zentrale Bedeutung der Gottesliebe für das christliche Leben in den beiden Predigten. 27 WA 4,599,25.

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I. Die Zeit vor der ersten Psalmenvorlesung

legung von Joh. 3,16b, die das menschliche Beteiligtsein an der Heilsaneignung durch den Glauben in den Blick nimmt.28 Denn aus der Größe des Heilshandelns Gottes für den Menschen folgt die Verpflichtung des Menschen, zu seinem Heil selbst etwas beizutragen.29 Im Indikativ von Gottes Heilszuwendung ist der Imperativ (excitatio, provocare) der Forderung dementsprechenden menschlichen Verhaltens enthalten, es geht um das dem göttlichen operari entsprechende menschliche cooperari. Und dies ist nach Joh. 3,16b der Glaube.30 Luther führt nicht näher aus, was er unter Glaube versteht, allerdings lassen sich einige wichtige Punkte des Glaubensverständnisses dieser Predigt rekonstruieren. Die Aussage »Credere igitur sufficit: hoc est nostrum cooperari«31 erinnert an das mehrfache non sufficit der Predigt über Mt. 7,12: Es genügt nur das tatsächliche Handeln gemäß der Goldenen Regel. Während also im zwischenmenschlichen Verhältnis die positive Zuwendung zum Nächsten gefordert ist, gilt im Gottesverhältnis, von dem die Predigt über Joh. 3,16 handelt, daß der Glaube als Handeln des Menschen Gott gegenüber genügt. Was mit diesem Glauben genauer gemeint ist, läßt sich mit Hilfe der Aussagen über den Unglauben32 erschließen. Wenn Luther hier vom Unglauben sagt, er verkehre den Gebrauch der göttlichen Gabe in ein damnum, die instructio in coecitas und die affectio in malitia,33 dann heißt das für den Glauben, daß dieser die rechte Weise des Umgangs mit der leiblichen Ermöglichung der Existenz durch Gott und die rechte verstandes- und willensmäßige Ausrichtung des Menschen mit seinem freien Willen auf Gott ist. Der rechte Gebrauch der Welt und die rechte Ausrichtung von Erkenntnis und Wille auf Gott im Glauben bestehen näherhin darin, daß der Glaube den Menschen über das Irdisch-Sichtbare hinaus zu Gott führt. Wichtig ist, daß dieser Glaube für sich allein genommen nicht ausreichend ist, sondern durch das operari erwiesen werden muß. Denn ohne äußeres Zeichen kann Glaube nicht erkannt und belohnt werden.34 Obwohl die Gültigkeit des Glaubens abhängig von seinem Erweis im Handeln gedacht ist, fällt dennoch die starke Betonung des Glaubens in dieser Predigt auf. Wer nicht glaubt; wer in den Gaben Gottes, vor allem in der Schöpfung, nicht Gottes Angebot und Hilfe sieht, die ihm gemäß Röm. 8,28 zum Heil helfen wol28 29

WA 4,596,33–597,7; 601,7–602,23.

»ut et nos ipsi pro propria saltem salute faciamus aliquanta« (WA 4,596,35). Zum Glaubensbegriff in der Predigt über Joh. 3,16: R. Schwarz: Fides, spes und caritas beim jungen Luther unter besonderer Berücksichtigung der mittelalterlichen Tradition, 1962, 72–75. 31 WA 4,601,8 f. 32 WA 4,601,26–603,23. 33 WA 4,601,28–30. 34 WA 4,601,10–25. 30

1. Luthers früheste überlieferte Predigten

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len; wer sie entgegen dem rechten usus, der rechten instructio und dem rechten affectus zu verkehrter leiblicher Existenz sowie zu falscher Verstandes- und Willensausrichtung mißbraucht – der sieht sich dem richtenden Gott gegenüber, der angesichts des im bösen Gewissen bezeugten gottwidrigen Gebrauchs des freien Willens den Unglauben mit der Verdammnis straft. Luther sieht den Menschen hier angesichts der überwältigenden Gabe Gottes und der entsprechenden Forderung an den Menschen vor die Alternative von Glaube und Unglaube, Heil und Verdammnis gestellt. Die Predigt läßt nun aber offen, ob und inwieweit die Entscheidung dieser Alternative Sache des Menschen ist. Einerseits ist deutlich, daß der Glaube eben das ist, was der Mensch selbst zu seinem Heil beiträgt, nämlich das dem göttlichen Handeln am Menschen entsprechende Handeln des Menschen Gott gegenüber. Andererseits weiß die Predigt darum, daß solcher Glaube mit seiner Abkehr vom Irdisch-Sichtbaren dem Menschen schwer fällt. Eben darum aber schenkt der Geist den Glauben, wie es das Pfingstlied »Nun bitten wir den heiligen Geist« erfleht, auf das Luther gegen Ende der Predigt anspielt.35 Die Ausrichtung des menschlichen Seins, Verstehens und Wollens auf den transzendenten Gott durch den Glauben ist also sowohl strenge Forderung an den Menschen wie Geistesgabe. Obwohl angesichts der schwer erfüllbaren Forderung des Glaubens gilt, daß das diesseitige Leben sich in der Gottferne vollzieht und gleichsam ein Tränental (Ps. 83/84,6) ist,36 so gilt doch – wie es zu Beginn dieser Pfingstpredigt heißt –, daß im Schriftwort Joh. 3,16 der heilige Geist selbst gegenwärtig ist und daß er diesem Wort Wirkkraft verleiht. Der Geist sorgt dafür, daß der Predigthörer von der göttlichen 35 Die Fassung dieses Liedes, wie es Pfingsten 1510 wohl gesungen wurde, ist eine einstrophige Leise des 13. Jahrhunderts und lautet: »Nuˆ biten wir den heiligen geist / umb den rehten glouben aller meist, / daz er uns behüete an unserm ende, / soˆ wir heim suln varn uˆz disem ellende / kyrieleis« (Berthold von Regensburg: Vollständige Ausgabe seiner Predigten, 1,43,15–19; s. auch P. Wackernagel: Das deutsche Kirchenlied, Bd. 2, 1867, 44). 36 »Vita haec exilium est et vallis lachrymarum« (WA 4,603,16). Möglicherweise spielt diese Aussage im gegebenen Zusammenhang auf das oben genannte Pfingstlied an, in dem es um die Heimkehr zu Gott aus dem irdischen Elend geht. Luthers wenige Jahre später entstandene Auslegung von Ps. 83,6 f. in den Dictata super Psalterium (WA 55II,638–643) handelt wie die zweite Predigt vom Glauben und der Glaubensexistenz, die in der Welt keine Heimat hat. Hier verweist Luther auch auf das Incipit des ihm möglicherweise schon 1510 bekannten Traktats De spiritualibus ascensionibus des Gerhard Zerbolt von Zütphen, der mit eben diesem Psalmzitat beginnt und das Thema der irdischen Existenz im Tränental mehrfach aufnimmt. Im Hintergrund steht auch die von der Devotio moderna gepflegte Vorstellung der Pilgerschaft im Geiste, die aus dem Exil in der Welt zu Gott führt (dazu: R. van Dijk: Ascensiones in corde disponere. Spirituelle Umformung bei Gerhard Zerbolt von Zutphen, in: N. Staubach [Hg.]: Kirchenreform von unten, 2004, 287–305, hier: 293–296).

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I. Die Zeit vor der ersten Psalmenvorlesung

Heilsmacht in Schriftwort, Schöpfung, freiem Willen und Christusereignis erreicht wird und mit praktisch bewährtem Glauben zum Heil kommt. Was die beiden frühesten Predigten Luthers zur christlichen Existenz zu sagen haben, wurde in der Forschung unterschiedlich verstanden. Sind die Texte in Form und Inhalt doch einerseits der spätmittelalterlichen Theologie und Frömmigkeit verpflichtet, scheinen sie doch andererseits darüber hinausführende Entwicklungen anzudeuten. Blickt man nun aber sowohl von Luthers reformatorischer Theologie als auch von Luthers spätmittelalterlichem Hintergrund her auf die beiden Predigten, so zeigt sich deutlich, wie stark sie mittelalterliches Gepräge tragen. Das gilt gerade auch für ihre scheinbar spätere Entwicklungen vorbereitenden Aussagen, etwa wenn der Glauben, die göttliche Gabe oder die Nachordnung des menschlichen gegenüber dem göttlichen Handeln betont werden. Beide Predigten behandeln dasselbe Thema aus unterschiedlichem Blickwinkel: Luther will seinen Hörern anhand von Mt. 7,12 und Joh. 3,16 zeigen, wie man ein christliches Leben führt und das ewige Leben erlangt. In typisch mittelalterlicher Weise wird dabei das Christenleben und das Heil sowohl in Verbindung mit Gottes Gabe als auch mit dem menschlichen Handeln gesehen. Beides schließt sich nicht gegenseitig aus. Die soteriologische Relevanz des von der Bergpredigt mit allem Nachdruck geforderten menschlichen Liebeshandelns setzt die göttliche Befähigung des Menschen dazu voraus. Andererseits gilt, daß die göttliche Gabe in Form von Schöpfung, freiem Willen und Christusereignis ihre Heilsbestimmung nur mit und durch die menschliche Beteiligung realisiert. Daß der Mensch, dem diese Predigten gelten, von der Sünde gezeichnet ist und die göttliche Forderung nicht oder nur unzureichend praktiziert, ermäßigt nicht die Erwartung an das menschliche Handeln und führt nicht zu einer Gewichtsverschiebung zugunsten der göttlichen Gnade. Vielmehr unterstreicht das nur die Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit der göttlichen Forderung und den unbedingt verpflichtenden Charakter der göttlichen Gabe. Die Predigten selbst geben allerdings nicht genügend Hinweise, um diese der Gnadenlehre zuzurechnenden Aussagen traditionsgeschichtlich einzuordnen. Ob dieses Ineinander von göttlicher und menschlicher Aktivität nun stärker in den Bahnen franziskanischer oder dominikanischer Schultheologie gedacht ist, ob hier ein meritum de congruo oder ein meritum de condigno gelehrt wird, ob wir es gar mit Behauptungen zu tun haben, die in die Nähe eines der spätfranziskanischen Schultheologie unterstellten »Semipelagianismus« führen, läßt sich angesichts des schmalen Quellenfundaments nicht beantworten. Es liegt wohl auch nicht in der Absicht dieser Predigten, eine den unterschiedlichen Ausprägungen der zeitgenössischen Gnaden- und Verdienstlehre klar zuzuordnende Bestimmung des

1. Luthers früheste überlieferte Predigten

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Verhältnisses von göttlichem und menschlichem Handeln vorzulegen.37 Es geht vielmehr um die Anleitung zu christlichem Leben für eine Zuhörerschaft, die vor allem aus spätmittelalterlichen Weltklerikern und Mönchen bestand. Und für deren christliches Leben gilt, was seit jeher auf den Kanzeln gepredigt wurde: Gottes Gabe in seinem Schöpfungs- und Erlösungshandeln ist zentral für die christliche Existenz, sie wirkt sich in Gestalt des Glaubens und der im Handeln konkretisierten Gottes- und Nächstenliebe des einzelnen aus; und dieses Handeln des Menschen hat wiederum Heilsbedeutung. Darum machen die beiden frühesten Predigten Luthers diese beiden Gesichtspunkte jeweils so stark: die göttliche Gabe einerseits und die dem göttlichen Gebot entsprechende menschliche Praxis andererseits. Mt. 7,12 und Joh. 3,16 enthalten beide, freilich mit je unterschiedlicher Akzentuierung, das für die mittelalterliche Theologie und Frömmigkeit charakteristische spannungsreiche Beziehungsgefüge von Gott und Mensch, Mensch und Gott. Will man die – für diesen Zweck eigentlich nicht vorgesehenen – Grundaussagen beider Predigten in einen systematischen Zusammenhang bringen, so ergibt sich, daß Luthers früheste erhaltene Predigten das christliche Leben als die der Goldenen Regel entsprechende Praxis der Liebe in der Beziehung zum Mitmenschen und als die die Welt transzendierende, sich als Glaube und Liebe realisierende Beziehung zu Gott bestimmen. Diese Beziehungen zu Gott in Glaube und Gottesliebe einerseits und zum Mitmenschen in der umfassenden Nächstenliebe andererseits setzen die Zuwendung Gottes zum Menschen voraus und eröffnen das ewige Leben. Sie sind also in ein prozeßhaftes Geschehen der in gott-menschlicher Kooperation sich realisierenden Transzendierung der Welt eingebunden. 37 Zwar geben andere Quellen aus der Zeit vor Beginn der ersten Psalmenvorlesung – etwa die Randbemerkungen zum Lombarden – Hinweise zu Luthers damaliger theologischer Position innerhalb der spätmittelalterlichen Diskussion. Weil aber keine direkten Verbindungen zwischen diesen anderen Quellen und den hier behandelten Predigten erkennbar sind, sollte man die Behandlung beider Komplexe – der fachtheologischen Diskussion einerseits und der kirchlichen Verkündigung andererseits – trennen. – Hinsichtlich der beiden frühesten Predigten hat die Forschung bisher entweder den Aspekt des menschlichen Handelns und seiner Heilsrelevanz betont und ihn mit der scholastischen Theologie in Verbindung gesehen (E. Vogelsang: Zur Datierung der frühesten Lutherpredigten, 112–116; H. Bluhm: The Significance of Luther’s Earliest Extant Sermon, in: Ders.: Studies in Luther, 1987, 7–14; L. Grane: Contra Gabrielem, 1962, 282; M. Seils: Der Gedanke vom Zusammenwirken Gottes und des Menschen in Luthers Theologie, 1962, 28–32; R. Schwarz: Fides, spes und caritas beim jungen Luther, 1962, 5–7.72–75) oder den Aspekt der göttlichen Gabe und der menschlichen Angewiesenheit herausgestellt und darin eine gewisse Kontinuität zur späteren Theologie Luthers erblickt (P. Kaufman: Luther’s »Scholastic Phase« Revisited: Grace, Works, and Merit in the Earliest Extant Sermons, in: ChH 51, 1982, 280–289; A. Raunio: Summe des christlichen Lebens, 2001, 125–146).

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I. Die Zeit vor der ersten Psalmenvorlesung

Was alles an religiösen und theologischen Vorstellungen über die vita christiana in den beiden frühesten Predigten Luthers mitschwingt, zeigt der Blick auf die weiteren Kontexte. Wenn Luther von der biblischen Forderung »ein iglichs sol dem andern behülffen sein, darnach im Got verlihen hat« sagt: »Hoc est omnium charitas et vera vita Christianorum«, und wenn er die Beziehung zu Gott als dem in der Liebe zu erstrebenden Endzweck menschlicher Existenz mit dem Satz zusammenfaßt: »Credere igitur sufficit: hoc est nostrum cooperari«, bewegt er sich im Rahmen spätmittelalterlicher Theologie und Frömmigkeit. Es ist aber zu beachten, daß Luthers früheste Predigten – als streng textbezogene Bibelauslegung – das, was an Theologie und Frömmigkeit im Hintergrund steht, nur andeutungsweise oder nicht explizit thematisieren. Richten wir unseren Blick auf den mittelalterlichen Hintergrund, dann wird Luthers Betonung der Nächstenliebe und des Glaubens als Charakteristika christlicher Existenz bestätigt. Zur Beschreibung des christlichen Lebens gehören aber auch andere, in den Predigten nicht im Mittelpunkt stehende Charakteristika wie die Gottesliebe, die Weltdistanzierung, der geistliche Aufstieg oder das Gegenüber von Tugenden und Lastern. Diese müssen bei einer systematisch ausgewogenen, nicht auf die Auslegung einzelner biblischer Texte zugespitzten Darstellung des christlichen Lebens gleichberechtigt mit oder sogar vor den Themen Nächstenliebe und Glaube genannt werden. Im Mittelalter bilden alle diese Bestimmungen des christlichen Lebens den Vorstellungskomplex der christlichen Vollkommenheit. Und in diesem weiteren Zusammenhang müssen auch Luthers früheste Predigten gelesen und ihre Aussagen über die vita christiana verstanden werden. Die moderne Forschung hat sich bemüht, die unter der Überschrift perfectio christiana zusammengefaßten Anschauungen zusammenzustellen und zu systematisieren. So zeigt Karl Suso Frank,38 daß das mittelalterliche Verständnis christlicher Vollkommenheit geprägt ist vom contemptus mundi 39 und bei aller Wertschätzung der innerweltlichen Existenz allein in der – üblicherweise als monastisch verstandenen – Weltdistanzierung den sicheren Heilsweg erblickt. Frank arbeitet fünf für das ganze Mittelalter geltende Charakteristika der Vollkommenheitsvorstellung heraus: Erstens ist das Ziel der Vollkommenheit die als eschatologische Gabe jenseits der vorfindlichen Welt, in dieser Welt jedoch nicht vollständig erreichbare Christus- und Gottesgemeinschaft in der Liebe und Kontemplation. Zweitens ist die äußere Gestalt der Vollkommenheit die Weltdistanzierung in 38 39

DSp 12I,1118–1131.

Zur Bedeutung des contemptus mundi für das Mittelalter: LMA 3,186–194 (L. Gnädinger, G. Silagi, W. Th. Elwert, D. Briesemeister, U. Schulze, K. Reichl).

1. Luthers früheste überlieferte Predigten

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der Christusnachfolge. Das bedeutet gemäß 1.Joh. 2,16 die Abkehr von der dreifachen concupiscentia zugunsten von Keuschheit, Armut und Verneinung des Eigenwillens, wie es auch die drei Mönchsgelübde beinhalten. Drittens gehört zur Vollkommenheit die Unterscheidung von vita activa und contemplativa, wobei die Kontemplation als Zuwendung zu Gott konstitutiv für die Vollkommenheit ist. Hierzu gehört aber notwendig die praktische Betätigung und der praktische Beweis in Form der Nächstenliebe. Viertens ist die Vollkommenheit aufs engste verbunden mit der Liebe,40 die nicht nur Aufgabe eines bestimmten Standes der Vollkommenheit, sondern aller Getauften, ja überhaupt aller Menschen ist und die mit der »personalisation et [...] inte´riorisation de la perfection« einhergeht. Fünftens ist die mittelalterliche Vollkommenheitsvorstellung geprägt von der pseudo-dionysischen Systematisierung der Vollkommenheit als der dynamischen Bewegung weitestmöglicher Angleichung an Gott, die in das Bild des aufwärtsführenden Wegs oder der Leiter gefaßt wird. Die einzelnen Momente dieser Konzeption christlicher Vollkommenheit lassen sich aus den mittelalterlichen Quellen überreich belegen. Man denke an die Vorstellung der Himmelsleiter, die den Aufstieg zu Gott als stufenweise Vervollkommnung in der Erkenntnis und den Tugenden darstellt;41 an die Unterscheidung von Geboten und Räten und die damit einhergehende Unterscheidung von unterschiedlichen Graden christlicher Vollkommenheit; an die Auslegung der für das Mönchtum so wichtigen Texte Mt. 5–7 und Mt. 19,16–30; an den Streit um die Bettelorden im 13. Jahrhundert, dem wir eine Reihe theologisch gewichtiger Darstellungen der christlichen Vollkommenheit verdanken;42 an die Auseinandersetzungen um das im Hochmittelalter – durchaus in Spannung mit dem kirchlich-monastischen 40 »Pas de perfection sans l’amour donne´ par Dieu, et toute perfection n’est qu’un effet de l’amour« (DSp 12I,1129 f.). 41 ´ mile Bertaud, Andre´ Rayez); C. Heck: L’e´chelle ce´leste dans l’art DSp 4I,62–86 (E du moyen aˆge, 1997. Der platonisch-neuplatonische Hintergrund der Vorstellung vom Aufstieg zu Gott (DSp 4I,78) ist auch in Luthers zweiter Predigt bemerkbar. Das Himmelsleitermotiv war auch in Luthers unmittelbarer Umgebung präsent, nämlich in Gestalt eines um 1510 entstandenen Cranach-Holzschnitts, der den Weg des Christen als Aufstieg von der »Furcht ewiger Pein« zur »Lieb ewiger belonung« beschreibt. Dieser vollzieht sich in steter Selbstdisziplinierung (»Messigkeit in gluckseligen dingen«, »Gedult in widderwertigen dingen«) über die drei Stufen von »Verschmehung der welt«, e »Sein selbs kleinmechtigung« und »Demutige lieb gottes« (G. Seebass: Die Himmelsleiter des hl. Bonaventura von Lukas Cranach d.Ä. Zur Reformation eines Holzschnitts, 1985, 44). 42 Thomas von Aquin: De perfectione vitae spiritualis (sowie die Ausführungen über die christliche Vollkommenheit in der Summa theologiae [2a 2ae, q. 184], die zu ergänzen sind durch die Ausführungen über die Zweckbestimmung des Menschen sowie über die beatitudo und die charitas); Bonaventura: De triplici via und De perfectione vitae ad sorores. – Zum Hintergrund: DSp 12I,1126–1128.

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

– aufblühende laikal-semireligiose Vollkommenheitsideal;43 oder an die spätmittelalterliche Anleitungs- und Erbauungsliteratur mit ihrem vielfältigen traditionsgeschichtlichen Hintergrund.44 Liest man nun Luthers früheste Predigten im Zusammenhang dieser Quellen, so geben sie sich als Darstellung von Teilaspekten christlichen Vollkommenheitsstrebens zu erkennen. So verweist Mt. 7,12 auf den Aspekt der vita activa, die sich im Gehorsam gegen das Gebot der Nächsten- und Feindesliebe als der Praxis der Vollkommenheit im Widerstreit von Tugenden und Todsünden vollzieht. Joh. 3,16 wird auf die Überwindung der Welt durch Gottes Liebe gedeutet, in die der Mensch hineingezogen wird, indem er durch den Glauben und die vita contemplativa zur Vollkommenheit der Gottesliebe aufsteigt. Als erstes Fazit ist festzuhalten: Luthers älteste erhaltene Predigten zeigen, daß er sich schon früh für das christliche Leben interessierte – und daß er seine Anschauungen vom christlichen Leben im Rahmen der spätmittelalterlichen Frömmigkeit und Theologie explizierte.

2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund Luthers früheste Predigten von 1510 skizzieren ein Programm des christlichen Lebens, das als typisch mittelalterlich zu klassifizieren ist. Weil diese Auffassung vom christlichen Leben der Ausgangspunkt von Luthers theologischer Neuorientierung war und diese auf vielerlei Weise mitbestimmt hat, sind die beiden Predigten auch der Ausgangspunkt der Darstellung. Für die Frage nach der Entstehung von Luthers reformatorischer Auffassung vom christlichen Leben genügt es aber nicht festzustellen, daß Luther in seinen frühesten Predigten ein spätmittelalterliches Ideal des christlichen Lebens vertrat, und einige wenige Momente dieses Ideals zu skizzieren. Um die Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen Luthers spätmittelalterlichem und dem reformatorischen Verständnis des christlichen Lebens bestimmen und die allmähliche Entwicklung des reformatorischen Ethos bis 1520 verstehen zu können, braucht es eine ausführlichere Beschäftigung mit dem, was Luther bis 1510 als Ideal des christlichen 43

Z.B. auf dem Konzil von Vienne (1311/12) in der Konstitution Ad nostrum qui gegen die Irrtümer semireligioser Gruppen über den status perfectionis (DS 891–899). Zum frömmigkeitsgeschichtlichen Hintergrund: A. Angenendt: Geschichte der Religiosität im Mittelalter, 1997, 54–61. 44 Hier wären beispielsweise das Malogranatum (dazu: M. Gerwing: Malogranatum oder der dreifache Weg zur Vollkommenheit, 1986) oder De spiritualibus ascensionibus von Gerhard Zerbolt zu nennen.

2.1. Elternhaus und kirchliche Sozialisation

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Lebens kennengelernt und verinnerlicht hat. Um den Hintergrund und Ausgangspunkt von Luthers theologischer Entwicklung seit 1510 genauer zu bestimmen, ist im Folgenden zu fragen, mit welchen Vorstellungen von der vita christiana Luther zwischen 1483 und 1510 in Berührung gekommen ist und was ihn davon beeinflußt hat oder beeinflußt haben könnte. Behandelt werden die Prägung durch das Elterhaus und die kirchliche Sozialisation während der Mansfelder Jahre (1483–1497), die Trivialschulzeit in Mansfeld, Magdeburg und Eisenach (1490–1501), das Artes-Studium an der Universität Erfurt (1501–1505), die Erfurter Klosterzeit (1505– 1511) und das Theologiestudium in Erfurt (1507–1511). Angesichts der Quellenlage ist es unumgänglich, das, was wir von Luthers früher Biographie wissen, mit dem zu verbinden, von dem wir mit mehr oder minder großer Wahrscheinlichkeit annehmen können, daß es Luthers persönliche und theologische Entwicklung bis 1510 geprägt oder beeinflußt hat. Nur so läßt sich Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund bestimmen und die Entwicklung seiner reformatorischen Anschauung vom christlichen Leben verstehen. 2.1. Elternhaus und kirchliche Sozialisation in den Mansfelder Jahren (1483–1497) Was Luther 1510 in seinen Erfurter Predigten als Ideal christlicher Existenz vortrug, verdankte sich zwar auch den Prägungen der Kindheit und Jugendzeit, doch führt keine direkte Linie von den Mansfelder Jahren zum monastischen Vollkommenheitsideal. Die Welt von Luthers Kindheit und Jugend war zwar durch Religion und Kirche geprägt, sie ging aber darin nicht auf. Wenn auch im einzelnen kaum genau zu sagen und zu belegen ist, wie Luthers persönliche Entwicklung in den Mansfelder Jahren verlief und welche Vorstellungen vom menschlichen Leben im allgemeinen und vom christlichen Leben im besonderen sich in ihm entwickelten, so läßt sich doch feststellen, daß Luther in eine gleichermaßen von weltlichen wie religiösen Momenten geprägte laikale Existenz hineinwuchs. Grundlegend war die Prägung durch das Elternhaus,45 in dem Luther das bürgerliche Ethos des Spätmittelalters, und zwar vor allem das alltagssprachliche Vorverständnis des Moralischen und die elementaren Grund45 Trotz der schlechten Quellenlage sind aufschlußreiche Einblicke in Luthers frühe Lebensjahre möglich, wie neben Brecht (1,13–24) nach wie vor Scheel (1,1–32) zeigt. Die archäologischen Untersuchungen an Luthers Elternhaus in Mansfeld bestätigen die bekannten Hinweise auf den ökonomischen und sozialen Aufstieg von Luthers Vater (H. Meller [Hg.]: Luther in Mansfeld. Forschungen am Elternhaus des Reformators, 2007).

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

sätze menschlichen Verhaltens, vermittelt wurden. In Luthers Hinweisen und Berichten zu seiner Kindheit und Jugend spiegelt sich dieses Hineinwachsen in das vorfindliche Ethos wieder. Züge von Luthers früher Lebenswelt, die die erhaltenen Nachrichten über Luthers Elternhaus erkennen lassen und die sich auch in Luthers Charakter und Lebensführung wiederspiegeln, sind etwa die Verpflichtung gegenüber der engeren und weiteren Familie und dem heimatlichen Gemeinwesen, der Gehorsam und die Ehrerbietung gegenüber den Eltern, die Schätzung der Ehe und die Verpflichtung zur Fortpflanzung, das Streben nach materieller Sicherung und sozialem Aufstieg, das Bedürfnis nach repräsentativem Ausdruck des erreichten materiellen und sozialen Status nach außen, die aktive gesellschaftliche Teilhabe, Selbstdisziplin und Strenge in der persönlichen Lebensführung und anderes mehr. Diese Orientierungen und Werte wurden aber wohl nicht nur durch das unmittelbare Vorbild vermittelt, sondern wie üblich auch in Gestalt elementarer sprachlicher Vermittlungs- und Reflexionsformen des gelebten Ethos. Hier sind vor allem die Sprichwörter, Spruchweisheiten und Verhaltensregeln zu nennen, die Luther lebenslang im persönlichen Bereich wie in der theologischen Argumentation wichtig waren und die er souverän handhabte.46 Ein Stück aus der Tischredenüberlieferung illustriert, welche Rolle diese elementaren Forderungen für den alten Luther und seine Familie spielten: 1541 soll er sentenzenartige Lebensregeln an die Wand hinter dem Ofen in seiner Stube geschrieben haben, die zur Treue im Kleinen, zur Wertschätzung des Pfennigs, zur ökonomischen Nutzung der Zeit, zu Sparsamkeit und zum Maßhalten mahnten.47 Die Lebenswelt des Elternhauses war von der für das spätmittelalterliche Leben zentralen religiös-kirchlichen Dimension durchdrungen. Es bestand aber keine Konkurrenz oder gar ein Widerspruch zwischen der bürgerlichen und der religiös-kirchlichen Lebenswelt. Von frühester Kindheit an wuchs Luther in die Frömmigkeit des Elternhauses und das kirchliche Leben der Parochie und der Stadt hinein. Für die Religiosität dieses Umfelds galt ebenso wie für das in den Erfurter Predigten vorauszusetzende klerikal-monastische Milieu die Orientierung am Ideal der perfectio christiana, nach der man auf der laikalen Stufe allerdings in engerer Verbindung mit der Welt und darum unter größeren Erschwernissen strebte. Und auch dieses Vollkommenheitsstreben war geprägt durch das Ineinan46 Deutsche Sprichwörter, Spruchweisheiten und Lebensregeln finden sich in Luthers gesamten Werk, bevorzugt jedoch in ethischen Zusammenhängen. Dieses Erbe war Luther so wichtig, daß er wohl in den 1530er Jahren eine eigene Sprichwörtersammlung anlegte (WA 51,634–644.645–662.663–726). 47 WATR 4,520 f.* (Nr. 4801).

2.1. Elternhaus und kirchliche Sozialisation

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der von göttlicher Gnadengabe und auf sie hinführender und von ihr herkommender menschlicher Aktivität. Luthers eigene Rückblicke auf seine ersten Lebensjahrzehnte geben zahlreiche Hinweise auf religiöse Anschauungen und praktizierte Frömmigeitsformen, aus denen im Folgenden ein Punkt herausgegriffen werden soll, der für Luthers Biographie und Theologie von Bedeutung war: der richtende Christus und seine Bedeutung für das christliche Ethos.48 Für die Vorstellung vom richtenden Christus ist das Ineinander von göttlicher Gabe und Forderung an den Menschen charakteristisch. Luther »lernte Christum als den kennen, der zwar die überschwengliche Genugtuung durch das Opfer am Kreuz beschafft hatte, der aber wiederum vom sündig gewordenen Christen Genugtuung fordert, falls er vor ihm bestehen wollte. Er ist ihm als Erlöser und Retter, als Heiland und Seligmacher kund geworden. [...] Aber er erfuhr zugleich, daß dieser Christus der unbestechliche Richter der Toten und Lebendigen sei«.49 Christi Heilswerk, das in der Liturgie gefeiert wurde, das im Rhythmus des Kirchenjahres präsent war, das man sich in der täglichen Frömmigkeit vergegenwärtigte, verband sich stets mit der angesichts dieses Heilswerks nur umso größeren Forderung eines entsprechenden menschlichen Verhaltens. Christus war dann »nicht mehr allein dein Heiland und Seligmacher, sondern dein zorniger Richter, fur des Richtstuel du must erscheinen und rechenschafft geben aller deiner Sunden. [...] Wen wir gleich gehort haben, auch darvon gesungen haben, das Christus gestorben, begraben und von den todten aufferstanden sei, so haben wir doch nichts darvon verstanden und anders nicht gedacht, den ehr hat nur fur die ersten Sunden gnung gethan, nun hinfurder taug ehr dir nichts mehr«.50

48 O. Scheel (Hg.): Dokumente zu Luthers Entwicklung (bis 1519), 21929, Nr. 62.65. 71.103.127.145.181.182.194.279.312.346 f.358.360.364.377.383.403.406.426.429.501.503. Eine Auswertung dieser Nachrichten mit Blick auf die Mansfelder Zeit gibt Scheel 1,20–24. Aufschlußreich ist auch der polemisch eingefärbte Rückblick auf die spätmittelalterliche Frömmigkeit, den Luther 1530 in seiner Vermahnung an die Geistlichen, versammelt auf dem Reichstag zu Augsburg gibt (WA 30II,235–267.268–356). Im folgenden werden auch Quellen verwertet, die Luther selbst auf die Klosterzeit bezieht oder die zeitlich nicht näher spezifiziert sind. Die Heranziehung solcher Zeugnisse für die Mansfelder Zeit ist nicht problematisch, solange es um Luthers spätmittelalterlichen Hintergrund im allgemeinen geht, der während der unterschiedlichen Phasen seiner ersten Lebensjahrzehnte jeweils nur in anderer Ausdrucksgestalt erscheint. Allerdings muß man sich der Wertung der eigenen Vergangenheit in Luthers Rückblicken bewußt sein, die die Wahrnehmung und Darstellung beeinflußt. – Zum frömmigkeitsgeschichtlichen und theologischen Hintergrund: R. Schwarz: Die spätmittelalterliche Vorstellung vom richtenden Christus – ein Ausdruck religiöser Mentalität (GWU 32, 1981, 526–553); A. Angenendt: Geschichte der Religiosität im Mittelalter, 136–138 und Kap. 23. 49 Scheel 1,22. 50 WA 47,576,3–13* (1539).

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

Dieser Christus würde am Jüngsten Tag fragen, wie der mit dem Heil beschenkte Mensch die zehn Gebote gehalten und in seinem gottgegebenen Stand verantwortlich gelebt habe.51 Die weltlich-bürgerliche Existenz in ihrer religiös überformten Eigenständigkeit war eingebunden in die näheren und weiteren heilsgeschichtlichen Zusammenhänge und war letztlich auf den richtenden Christus hin orientiert. Der Alltag stand unter der steten Forderung, auf Grundlage des empfangenen Heils und Gebots hinsichtlich des Zeitlichen wie Ewigen ein gottgefälliges Leben zu führen. Die bildliche Ausgestaltung der Kirchen stellte das nachdrücklich vor Augen, und die erbauliche und katechetische Literatur schärfte das in ihrer Betrachtung der vier novissima – Tod, Gericht, Höllenstrafen, Himmelsfreuden – energisch ein. Der Christ wurde auf ein Gericht vorbereitet, in dem Christus in Gerechtigkeit und Barmherzigkeit seine universale Rechenschaftsforderung zur Geltung bringen würde. Angesichts dessen lastete ein hoher Anspruch auf dem christlichen Leben. Die sich hier aufbauende Spannung zwischen der göttlichen Forderung und der vom Laien wegen seiner Verstrickung in die Welt kaum zu leistenden Vollkommenheit in der Bekämpfung der Laster und in der Praxis der Tugenden wurde durch die Marienfrömmigkeit und die Heiligenverehrung gemildert, ohne daß aber der Ernst der Erwartung des Richters Christus ermäßigt wurde. Luther berichtet in seinen Rückblicken auf die Konfrontation mit dem richtenden Christus von dieser Zuflucht zu Maria und den Heiligen: Es ist »ein schedlich ding, das man in papatu die leute geleret hat fur Christo zu fliehen. Ich horet in nicht gern nennen, quia eram sic doctus, das ich must gnug thun fur mein sunde, und das Christus werde in novissimo die sagen: quomodo servasti decem praecepta? ordinem tuam? wenn ich in gemalt sahe, so erschrack ich fur im als fur dem Teufel, quia ich kunde sein gericht nicht leiden. Wenn man es pertinacibus hette geprediget, fuisset aliquid, sed uns armen leuten ists der Teufel gewest. Et alia etiam accesserunt de adoratione Sanctorum. Furchten uns fur dem e man, rufften unser liebe frawen an und vermaneten sie der bruste, die sie Christo gegeben hat, sie wolte iren son bitten, das er uns wolt gnedig sein umb irer furbit willen. Sic viximus, docuimus. Wenn unser fraw nicht war, namen wir Apostolos, bis man zu letzt kam auff die heiligen, die nie gewesen sind, Christophorus, Georgius, Barbara, Et tamen stund unser zuversicht auff sie, lieffen gen Rom, gen S. Jacob, da gab der Bapst ablas zu«.52

Unter den Heiligen, an deren Verehrung Luther sich in seinen Rückblikken erinnert, werden immer wieder der Heilige Georg und die Heilige Anna genannt, zwei Heilige, die in Mansfeld mit seiner Georgskirche und seinem Bergbau intensiv verehrt wurden. Aber auch wenn die Gottesmutter und die Heiligen angesichts der strengen Forderungen und des 51 52

WA 41,198,1 f.* (1535). WA 41,197,5 f.; 198,1–12* (1535).

2.1. Elternhaus und kirchliche Sozialisation

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unausweichlichen Gerichts eine Zuflucht waren, ist doch auch für ihre Verehrung das Ineinander von Gnaden- und Forderungsaspekt kennzeichnend. Maria war das unerreichbare Vorbild der demütigen Ergebung in den Gotteswillen; die Heiligen waren Vorbilder, die in jeder denkbaren Hinsicht Vollkommenheit erreicht hatten, und das zwar als in besonderer Weise begnadete Menschen, aber eben doch als Menschen. Und die Verehrung Marias und der Heiligen stellte nicht nur Ideal- und Vorbilder vor Augen, sondern verlangte als solche besondere Leistungen, die von der andächtigen Versenkung in die Vita des Heiligen bis zur Wallfahrt reichen konnten. Das Hilfsmittel zur Bewältigung der Spannung von Vollkommenheitsanspruch und durch die Verstrickungen in die Welt gehemmter menschlicher Alltagsexistenz war die Buße.53 Ihre Bedeutung für das kirchliche Leben und die christliche Existenz im Spätmittelalter ist schwerlich zu unterschätzen. »Das ganze religiöse Leben hat seinen Mittelpunkt am Bußinstitut. Hier wird der Glaube bekannt und werden die Sünden erlassen, hier werden die verdienstlichen Werke aufgetragen und wird der Mensch gerechtfertigt, hier kann man aber auch sich von den Bußwerken freikaufen«.54 Die bedeutsame hochmittelalterliche Neuerung der alljährlichen Pflichtbeichte im Vorfeld der österlichen Pflichtkommunion, die das vierte Laterankonzil 1215 festgeschrieben hatte,55 war im Spätmittelalter zur Selbstverständlichkeit geworden. Im 15. Jahrhundert hatte die 53 Luthers Rückblicke auf sein Verständnis und seine Praxis der Buße sind zahlreich und beginnen früh, weil die Buße ein Schlüsselproblem von Luthers religiöser und theologischer Entwicklung war. Aber wegen dieser Bedeutung lassen sich aus Luthers Rückblicken kaum mehr Verständnis und Praxis der Buße in der Zeit vor 1505 erschließen. Die Klostererfahrung mit der vita poenitentialis und die spätere scharfe Kritik haben die Erinnerungen an das Frühere überlagert. An Quellentexten läßt sich folgende Auswahl nennen: O. Scheel (Hg.): Dokumente zu Luthers Entwicklung (bis 1519), 21929, Nr. 9. 22.68.84.121.129.151.241.242.312.336.386.400.517. Siehe auch die Abschnitte zu Beichte und Buße in der Vermahnung an die Geistlichen, versammelt auf dem Reichstag zu Augsburg (1530): WA 30II,287–292. Das Folgende schöpft darum aus weiteren Quellen und der reichen Forschungsliteratur zu Theologie und Praxis der Buße. An grundlegender Literatur sind zu nennen: R. Seeberg: Dogmengeschichte, Bd. 3, 41930 (§ 48,1–9; § 55,1–9; § 59,4; § 66,12–20; § 69,5–7); T. Tentler: Sin and Confession on the Eve of Reformation, 1977; M. Ohst: Pflichtbeichte. Untersuchungen zum Bußwesen im Hohen und Späten Mittelalter, 1995; R. Schwarz: Probleme in der spätmittelalterlichen Rechtfertigungslehre als Anstoß zur Reformation (MThZ 50, 1999, 25–42). 54 R. Seeberg: Dogmengeschichte, Bd. 3, 41930, 617. 55 Die zentralen Bestimmung von const. 21 lauten: »Omnis utriusque sexus fidelis, postquam ad annos discretionis pervenerit, omnia sua solus peccata confiteatur fideliter, saltem semel in anno proprio sacerdoti, et iniunctam sibi poenitentiam studeat pro viribus adimplere, suscipiens reverenter ad minus in Pascha eucharistiae sacramentum: [...] alioquin et vivens ab ingressu ecclesiae arceatur, et moriens Christiana careat sepultura« (DS 812–814).

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

Kirche das Bußsakrament abschließend definiert, als das Florentiner Konzil 1439 im Decretum pro Armeniis als Materie des Sakraments die contritio cordis, confessio oris und satisfactio operis durch die drei traditionellen Frömmigkeitswerke Beten, Fasten und Almosengeben bestimmte und als Form die priesterliche Absolution benannte. Allerdings ohne theologisch zu präzisieren, was unter den einzelnen Elementen zu verstehen und wie ihr Zusammenhang beschaffen war – was die kontritionistischen und die attritionistischen Bußtheologien in unterschiedlicher Weise ausdeuteten.56 Genaueren Einblick in die spätmittelalterliche Buße gewähren uns die Bußbücher und Beichtsummen. Die spätmittelalterlichen Beichtbücher sind in ihrem Kern Dekalogauslegungen, die als Materialsammlungen und Leitfäden für Beichtväter den Stoff der Beichtunterweisung aufbereiten. Als Beispiel für die Beichtbücher dient uns im Folgenden das in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhundert entstandene und 1478 erstmals gedruckte e Beichtbuchlein des Frankfurter Pfarrers Johannes Wolff.57 Die Elementarunterweisung hinsichtlich des Bußsakraments leitet dazu an, im Beichtgespräch anhand bestimmter Listen seine Sünden zu erkennen und zu benennen. Diese Listen, die zur Selbstprüfung und zur Benennung der zu bereuenden und beichtenden Sünden verwendet werden, enthalten im späten Mittelalter vor allem den Dekalog58 und die sieben Todsünden,59 die 56 »Quartum sacramentum est paenitentia, cuius quasi materia sunt actus paenitentis, qui in tres distinguuntur partes. Quarum prima est cordis contritio; ad quam pertinet, ut doleat de peccato commisso, cum proposito non peccandi de cetero. Secunda est oris confessio; ad quam pertinet, ut peccator omnia peccata, quorum memoriam habet, suo sacerdoti confiteatur integraliter. Tertia est satisfactio pro peccatis secundum arbitrium sacerdotis; quae quidem praecipue fit per orationem, ieiunium et eleemosynam. Forma huius sacramenti sunt verba absolutionis, quae sacerdos profert, cum dicit: Ego te absolvo; minister huius sacramenti est sacerdos habens auctoritatem absolvendi vel ordinariam vel ex commissione superioris. Effectus huius sacramenti est absolutio a peccatis« (DS 1323). 57 Vgl. auch die beiden um 1475 wohl in Nürnberg und 1504 in Augsburg gedruckten Beichtbüchlein in: F. Falk (Hg.): Drei Beichtbüchlein nach den zehn Geboten aus der Frühzeit der Buchdruckerkunst, 1907, 76–80.81–95. – Zur spätmittelalterlichen Laienkatechese im allgemeinen und Wolff im besonderen: R. Bast: Honor Your Fathers: Catechisms and the Emergence of a Patriarchal Ideology in Germany 1400–1600, 1997, e 1–52. – Die im Folgenden genannten Texte finden sich in Wolffs Beichtbuchlein in dem Teil »Vor die anhebenden kynder und ander zu bichten in der ersten bijcht« (1–5) sowie in der darauf folgenden ausführlichen Behandlung der Reihungen in dem Teil »Vor die zunemende gelerten ond ungelerten vorstendigen mentschen zu bychten etc.« (6–39), wo mit besonderer Ausführlichkeit der Dekalog behandelt wird (6–21). 58 Wolffs Beichtbuechlein gibt den Dekalog in einer lernbar aufbereiteten Fassung wieder: »[1.] Eyn got soltu anbeden. gleuben. liephan uber alle creature / hoffen. dyenen. und eren. / [2.] Und bij synem namen nit sweren. / [3.] fyertag fier. [4.] und in eren habe dyn eldern. / [5.] Nyemant intod slagen syn leben nym. / [6.] Und unkusch werck nit volnbrenge. / [7.] Nyemant saltu stelen. [8.] und falsch gezugniß nit geben. / [9.] Eyns

2.1. Elternhaus und kirchliche Sozialisation

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mit der Unterscheidung von Wort-, Tat- und Gedankensünden verbunden werden.60 An weiteren Reihungen werden genannt: die fünf Sinne, mit deren Betätigung man gegen einzelne Dekaloggebote verstoßen kann,61 das Vaterunser, das Ave Maria, die zwölf Artikel des apostolischen Glaubensbekenntnisses, die neun fremden Sünden,62 die fünf himmelschreienden Sünden,63 die sieben Barmherzigkeitswerke,64 die sechs Sünden wider den Heiligen Geist65 die sieben Sakramente,66 die acht Seligpreisungen67 und die sieben Gaben des Heiligen Geistes.68 Das Doppelgebot der Gottesund Nächstenliebe spielt keine herausgehobene Rolle, vielmehr erscheint es der konkreten Füllung durch den Dekalog bedürftig.69 Die Vielzahl dieser Reihen, die der Selbsterforschung dienen, werden in Wolffs Beichte buchlein auf den Dekalog als die Basisreihe der Gebote Gottes und auf die sieben Todsünden als die Basisreihe der menschlichen Verfehlungen zurückgeführt. Gerade die besondere Betonung des Dekalogs ist ein Charakteristikum spätmittelalterlicher Frömmigkeit, die diesen Text in weit andern hußgenoße nit begern salt. / [10.] Und fremde gut in diner begirde nit halt« (6). Der Dekalog soll auch im Gottesdienst behandelt werden, um die bessere Erfassung der ethischen Unterweisung in der Predigt zu ermöglichen, zur rechten Beichte anzuleiten und durch Vertiefung der Sündenerkenntnis zu wahrer Reue und damit zu Erlangung e des Heils zu verhelfen (42–45). Allerdings weiß das Beichtbuchlein auch um die Schwierigkeiten der Vermittlung des Dekalogwissens an Laien und Kleriker. 59 Merkwort für die lateinische Reihe ist das Akrostichon Saligia (superbia, avaritia, luxuria, invidia, gula, ira, accidia). Die deutsche Reihe lautet: »Hoffart. Gyczikeyt. Czorn. Unkuscheyt. Ueber essen uber drincken. Nyd haß. An gotes dinst dragheyt«. e Die ausführliche Behandlung (Wolff: Beichtbuchlein, 23–28.34–39) zeigt, daß das e Beichtbuchlein ein theologisch vertieftes Verständnis der Sünde hat. Jede Sünde ist letztlich dem Willen Gottes widersprechendes Verhalten. 60 AaO 35f. 61 AaO 21–23. 62 Lateinisch: »Iussio consilium consensus palpo recursus. Participans mutus non obstans non manifestans«; deutsch: »Heyßen. raden. willen. smeychelunge und zulauffen. deylhafftigkeyt. swigen. nit widdersteen und nit offenbaren«. Fremde Sünden heißen sie wegen der Beteiligung an der Sünde anderer (aaO 28 f.). 63 »Usura zodoma merces homicidaque preda«. Üblicherweise kennt man nur vier himmelschreiende Sünden (Mord an Verwandten, Beraubung von Witwen und Waisen, Vorenthalten des verdienten Lohns, Homosexualität), Wolff fügt noch den Wucher hinzu (aaO 21). 64 AaO 31 (»Visito cibo poto redimo tego colligo condo«). 65 AaO 29–31. Nämlich Verzweiflung, Trotz, Mißgunst, Widerspruch, Verhärtung und Unbußfertigkeit; in der lateinischen Fassung: »Impugnans verum presumens spemque relinquens. Hinc induratus odiensque fratris amorem. Emendam spernens impugnans pneuma beatum«. 66 AaO 32f. (»Unctio crisma thorus contricio fons cibus ordo«). 67 AaO 33f. (»Pacificacio. Mititas. Luctus. Pati persecucionem propter justiciam. Esuries et sitis pro justicia. Mundicia cordis. Misericordia. Paupertas spiritu«). 68 AaO 34 (»Sapiencia. Intellectus. Consilium. Fortitudo. Sciencia. Timor. Pietas«). 69 »decem precepta intellecta sunt spiritus illorum pretactorum preceptorum« (aaO 44).

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

höherem Maße als das Früh- und Hochmittelalter zum Leittext der vom Bußsakrament geforderten Rechenschaftsablegung über das christliche Leben machte. e Für die im Beichtbuchlein gegebene Anleitung zu dieser Selbstprüfung ist aber nicht nur die Konzentration auf die einzelne Tatsünde, die einzelne Gesetzesübertretung wichtig, die mit Hilfe differenzierter Schemata zu benennen und zu beichten ist, sondern auch die – wenn auch knappe – Behandlung der Innendimension des Bußsakraments, der contritio.70 Da die Todsünde die dem Menschen eingegossene geschaffene Gottesliebe beseitigt, muß das damit verwirkte Heil durch Reue und Beichte wiederhergestellt werden. Als Reue genügt aber nicht die Einsicht in den Widerspruch von falschem Verhalten und tugendhaftem Leben und die Furcht vor zeitlichen und ewigen Sündenfolgen, sondern es kommt auf die Einsicht an, daß die Todsünde eine Übertretung von Gottes Gebot ist und damit Gottes Ehre als des Schöpfers und Erlösers verletzt: »So dan der mensche dar uß eynen smertzen entpheht in sin hertze und starcken festen vorsacz nummer widder sin gotliche ere und glorien zu thun und vorsacz die sunde zu bichten und penitencz zu dragen. und dan eyn hoffenunge hait zu der gruntloßen barmhertzikeyt gotis und zu dem lijden unsers heren ihesu xpi So werden yme die dotsunde abegedilget von syner sele und vergeben und die erscaffen lieb gottis widder ingegoßen und gegeben der sele da durch dan die sele wirt hubschlich geczieret gesmocket und gecleydet und eyn tempel gotes. Zu der ruwe und leyt sal sich eyn igliche mentschen schicken vor. und in der bicht«.71

Während das eher nach einer kontritionistischen Position klingt, fügt Wolff Ausführungen im Sinne einer attritionistisch-skotistischen Position hinzu: »So aber das missefaln rue und leyt nit genung ist das dem mentschen sine sunde vergeben werden voree er zu dem priester kommet darnach vor dem priester uß crafft und macht des heyligen sacraments der bichte und absolucze uß den vorigen missefallen die er hait gehabt vor der bicht die nit genung sint gewest zu der vergebunge der sunde wirt recht ruwe und leyt da durch dem mentschen mit der absolucze und selbige rue leyt werden vergeben die sunde und wirt ingefurt eyn lebendig glidt der heyligen kyrchen etc.«72

Gleichwohl hält Wolff die contritio für so wirkmächtig, daß sie auch ohne den Priester Vergebung bewirkt, so etwa im Falle eines Todes ohne geiste lichen Beistand. Das wird auch dadurch unterstrichen, daß das Bußbuch70

AaO 36–39.39–41. AaO 38. 72 AaO 38. Es folgt ein entsprechendes Scotuszitat (aaO 39). Im 15. Jahrhundert finden sich durchaus in ein- und demselben Werk kontritionistische und attritionistische Akzentuierungen des Bußsakraments – mit ihrer je unterschiedlichen Forderung menschlicher Beteiligung und der je unterschiedlichen Funktionsbestimmung der Absolution – nebeneinander (R. Seeberg: Dogmengeschichte, Bd. 3, 41930, § 69.6). 71

2.1. Elternhaus und kirchliche Sozialisation

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lein betont, die Buße beziehe ihre rechtfertigende Kraft aus dem Leiden Christi und nicht aus menschlichen Werken oder der Fürsprache der Heiligen.73 Weitere Charakteristika der Praxis und des Verständnisses des Bußsakraments im späten Mittelalter ergeben sich aus den an Umfang und kanonistisch-theologischer Durchdringung weit über die Beichtbücher hinausgehenden Beichtsummen, etwa der im 15. Jahrhundert weit verbreiteten und später auch Luther bekannten Summa Angelica des italienischen Franziskaners Angelus de Clavassio.74 In diesen Werken wird viel deutlicher als in den Beichtbüchern, daß die Beichte eine Art kirchliches Gerichtsverfahren ist. Es betrifft in umfassender Weise sowohl die religiöse als auch die weltliche Dimension menschlicher Existenz und zielt auf die Heilssicherung und die sittlich-religiöse Neuausrichtung des der sakramentalen Gnade bedürftigen Christen ab. Dazu erforderlich ist sowohl die regelmäßige sorgfältige Selbstprüfung und Benennung aller Gesetzesübertretungen vor dem Priester, und zwar hinsichtlich der sündhaften Einzeltat wie hinsichtlich der sündhaften inneren Einstellung, als auch die innere Beteiligung des Poenitenten. Im Mittelpunkt des Bußverständnisses steht die Absolution, die gemäß der seit dem Hochmittelalter ausgebildeten Anschauung von der sakramentalen Buße einerseits die menschliche Disposition in Gestalt der Reue aufnimmt und gnadenhaft vervollkommnet sowie andererseits die göttliche Vergebung wirksam gewährt. Der menschliche Beitrag zum Bußverfahren ist neben der Reue und der Beichte die Erbringung von Satisfaktionsleistungen. Für diese gilt zwar nach wie vor der frühmittelalterliche Grundsatz der Tarifbuße, der für jede Sündentat eine entsprechende Satisfaktionsleistung vorsieht. Dieser Zusammenhang ist aber in mehrfacher Hinsicht aufgeweicht: Da die Beichte primär Gnadenmittel ist und nicht der Sozialdisziplinierung dient, gilt der Satisfaktion ein nachrangiges Interesse; zudem bietet der Ablaß ein kirchliches Heilsangebot, das an die Stelle der herkömmlichen Bußsatisfaktionen tritt, freilich auch wieder eine gewisse Beteiligung des Menschen erfordert. Im Ganzen ist das Bußsakrament nach der Summa Angelica bestimmt von dem die ganze spätmittelalterliche Frömmigkeit prägenden Ineinander von kirchlich vermittelter göttlicher Gnade einerseits und der durch den Menschen zu leistenden Disposition auf dieses Geschehen und dessen Fortführung im alltäglichen Leben andererseits. Zwar blieben Unsicherheiten hinsichtlich der Kompetenz und Zuverlässigkeit des Beichtvaters und der Wolff: Beichtbuechlein, 40 f. Das Folgende lehnt sich an die Darstellung der Summa angelica bei M. Ohst: Pflichtbeichte, 1995, 221–295, an. 73 74

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

Suffizienz der Reue des Beichtenden, die sich bei einzelnen durchaus zu schweren Erschütterungen des Vertrauens in die Gültigkeit und Wirksamkeit der Absolution steigern konnten; doch boten die Kirchenfrömmigkeit und die institutionellen Heilsgarantien Entlastung. Obgleich nicht für die Sozialdisziplinierung75 gedacht, bewirkte das Bußsakrament doch auch Verhaltenskontrolle und sittliche Besserung: »Die sakramentale Hilfe der Kirche auf dem Heilsweg desavouiert nicht ihr Drängen auf sittliche Bewährung des Christenstandes, sondern bleibt immerfort positiv darauf bezogen. [...] In diesem Bestreben der katholischen Kirche, die weltliche Sittlichkeit einerseits zu leiten und emporzubilden, sie andererseits jedoch sakramental zu überhöhen und so den Menschen, die in ihr leben müssen, den Weg zum ewigen Heil zu eröffnen, obwohl die Ansprüche, die Sittlichkeit und Recht an ihn stellen, immer höher und komplizierter werden, hat auch die alljährliche Pflichtbeichte ihren Platz. Sie ist die Gelegenheit, bei der der Einzelne sein faktisches Ethos im Beichtgespräch an der kirchlichen Forderung, die ihm sonst vielleicht gar nicht in angemessener Weise bekannt würde, messen kann. Hier wird ihm seine faktische Schuld, die er wohl vielfach aus sich heraus noch gar nicht empfindet, weil ihm das Wissen darum fehlt, was alles in seiner Lebensführung objektiv sündhaft ist, vor Augen geführt. Hier wird ihm aber nicht nur das Gewissen geschärft, sondern gleichzeitig wird ihm nahegebracht, daß eben die Kirche, die Hüterin der Sittlichkeit, ihn als Verwalterin der Sakramente trotz seines sittlich verfehlten Lebens ins ewige Reich führen kann«.76 Diese anhand exemplarischer Beichtbücher und Beichtsummen geschilderte übliche Praxis und Auffassung des Bußsakraments im Spätmittelalter ist auch für Luther vorauszusetzen. Der Heranwachsende fand übergenug Anlässe, sein Wollen und Handeln kritisch in den Blick zu nehmen: die jährliche Beichte in der Fastenzeit, möglicherweise auch die eine oder andere spontane Beichte in der Zeit zwischen den Pflichtterminen; die das kirchliche und alltägliche Leben begleitende Präsenz des göttlichen Gesetzes; die ständige Gefahr der Gesetzesübertretung, die zu einer steten inneren Selbstprüfung anhand der gängigen Gebots- und Sündenschemata führte. Das Bußsakrament und die es begleitenden innerlichen und äußerlichen Momente der Reue einerseits und der auferlegten Genug75

Diesen Aspekt hat besonders T. Tentler herausgearbeitet: The Summa for Confessors as an Instrument of Social Control (in: C. Trinkaus, H. A. Oberman [Hgg.]: The Pursuit of Holiness in Late Medieval and Renaissance Religion, 1974, 103–126); Sin and Confession on the Eve of Reformation, 1977. Diese Arbeiten weisen allerdings methodische und inhaltliche Schwächen auf, wie vor allem die Kritik von M. Ohst: Pflichtbeichte, 1995, 221 f. u.ö., deutlich macht. 76 M. Ohst: Pflichtbeichte, 1995, 219.

2.1. Elternhaus und kirchliche Sozialisation

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tuungsleistungen und gnadenmehrenden Beichträte andererseits waren im Spätmittelalter der Sitz im Leben der ethischen Reflexion und der Rahmen des an sittlichen und rechtlichen Normen orientierten ethischen Handelns. Aus dieser Schilderung der Bußfrömmigkeit ist deutlich geworden, daß die Nichtübereinstimmung von Vollkommenheitsanspruch und Alltagswirklichkeit in der Erwartung des richtenden Christus durch das kirchlich vermittelte und auf die Beteiligung des Menschen konstitutiv angewiesene göttliche Gnadenhandeln bewältigt wurde. Damit diese Verbindung von institutionell abgesicherter Teilhabe an der Gnade und menschlicher Eigenaktivität heilswirksam werden konnte, bedurfte es der Unterweisung der Heranwachsenden. Mindestens die elementaren Gebete und Bekenntnistexte sowie die für das Bußsakrament unverzichtbaren Reihen der Gebote und Sünden mußten bekannt sein. Dieses Wissen wurde im Mittelalter zwar im Laufe der Zeit immer umfassender von der Kirche gefordert, jedoch nicht in Form eines eigenständigen kirchlichen oder schulischen Religionsunterrichts vermittelt.77 Primäre Verantwortung trugen hier Eltern und Paten. Aber auch die Predigten oder die Verlesung des Dekalogs im Gottesdienst machten mit dem notwendigen Wissen vertraut.78 Die kirchliche Unterweisung in der Predigt wollte im Mittelalter auch gezielt ethische Unterweisung sein und konfrontierte die Gemeinde anhand der biblischen Texte, aber auch am Beispiel von Heiligenlegenden oder erbaulichen Geschichten mit den Idealen christlichen Lebens und durchaus auch mit Kritik an gegenwärtigen sittlichen Mißständen.79 Die Homiletik wie die Predigtpraxis betonten darum seit dem frühen Mittelalter das Moment 77 P. Browe: Der Beichtunterricht im Mittelalter (Theologie und Glaube 26, 1934, 427–442). 78 Unterstützt wurde die sprachliche Vermittlung des Glaubenswissens durch andere mediale Formen, vor allem durch Bilder, die im späten Mittelalter zu einem selbstverständlichen Teil der Innenausstattung des Kirchengebäudes wurden. Zu den im Spätmittelalter verbreiteten Beichttafeln, die Gebote, Tugenden und Laster sowie die Warnung vor dem Jüngsten Gericht vor Augen stellen: R. Slenczka: Lehrhafte Bildtafeln in spätmittelalterlichen Kirchen, 1998, 25–63. 79 TRE 27,248–262 (Isnard W. Frank). Die auf religiös-moralische Ermahnung konzentrierte Predigt der Bettelorden wirkt sich auf die seit dem 15. Jahrhundert aufblühende weltgeistliche, oftmals in Form von Prädikaturen institutionalisierte Predigt an den städtischen Kirchen aus. Ein anschauliches, wenn auch nur mit Vorbehalten auf die Mansfelder Verhältnisse Ende des 15. Jahrhunderts übertragbares Bild dieser spätmittelalterlichen Predigt bietet die Forschung zum Straßburger Münsterprediger Johannes Geiler von Kaysersberg: J. Douglass: Justification in Late Medieval Preaching. A Study of John Geiler of Keisersberg, 1966; B. Hamm: Zwischen Strenge und Barmherzigkeit. Drei Typen städtischer Reformpredigt vor der Reformation: Savonarola – Geiler – Staupitz (in: Ders.: Religiosität im späten Mittelalter, 2011, 391–424); R. Voltmer: Wie der Wächter auf dem Turm. Ein Prediger und seine Stadt. Johannes Geiler von Kaysersberg (1445–1510) und Straßburg, 2005.

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

der praktisch-moralischen Unterweisung in der Predigt. An gängigen Predigtschemata begegneten dem Zuhörer dabei die Unterscheidungen von Glaubenswissen und sittlicher Unterweisung (fides und mores bzw. charitas) sowie von Tugenden und Lastern (virtutes und vitia), die anhand unterschiedlicher biblischer Bezugstexte oder anderer Erzählungen und Legenden auf unterschiedliche Weise ausgestaltet werden konnten.80 Dabei läßt sich allerdings kaum eine scharfe Grenze gegenüber der Bußpredigt ziehen; eine von den lebendigen frömmigkeitsgeschichtlichen Zusammenhängen isolierte »Gesetzespredigt« gab es jedenfalls nicht. Auch die Dekalogpredigten dienten der Vorbereitung auf die Buße und thematisierten die Gebote Gottes nicht, abgesehen von dem Ineinander von sakramentaler Gnadengabe und menschlichem Handeln. 2.2. Trivialschulbildung (etwa 1490–1501) Die Grenzen zwischen der kirchlichen Unterweisung und dem Unterricht an der Trivialschule waren im späten Mittelalter fließend. In Mansfeld befand sich die Schule direkt neben der Georgskirche, und die Trivialschüler waren eng in das kirchliche Leben eingebunden. Doch war der Schulunterricht gerade deshalb weder in besonderer Weise religiös geprägt noch gab es einen selbständigen Religionsunterricht. Vielmehr ging es hier 80 Zu Predigtverständnis und homiletischer Theorie des Mittelalters: D. Roth: Die mittelalterliche Predigttheorie und das Manuale Curatorum des Johann Ulrich Surgant, 1956. Das in dieser Monographie verarbeitete Quellenmaterial bietet einige prägnante Formulierungen. So bestimmt Alain v. Lille knapp: »Praedicatio est, manifesta et publica instructio morum et fidei, informationi hominum deserviens, ex rationum semita, et auctoritatum fonte proveniens« (PL 210,111). Die Doppelaufgabe der Glaubens- und Sittenunterweisung faßt er in das Bild der zur Vollkommenheit führenden Jakobsleiter: »praedicatio nunc in divinis instruit, nunc in moribus; quod significatur per angelos ascendentes et descendentes: angeli enim sunt hi praedicatores qui tunc ascendunt cum coelestia praedicant; descendunt quando per moralia se inferioribus conformant« (ib.). Der Mauritius-Traktat formuliert im 15. Jahrhundert: »Tante namque virtutis est praedicatio quod revocat ab errore ad veritatem, a viciis ad virtutes, prava commutat in recta et asperea convertit in plana. Instruit fidem, erigit spem, inflamat caritatem, evellit nociva, plantat utilia et fovet honestum. Est enim via vite, scala virtutum et ianua paradisi« (zitiert nach Roth aaO 120f.). Ulrich Surgant faßt die Predigtinhalte schließlich 1503 so zusammen: Zu predigen ist, »quid sit credendum, faciendum, fugiendum, timendum et appetendum« (zitiert nach Roth aaO 158, die darin die Zweiteilung von Glaubens- und Sittenunterweisung ausgeführt sieht, wobei letztere vierfach entfaltet wird). – Was das im Spätmittelalter konkret hieß, zeigen Einzelstudien wie beispielsweise F. Landmann: Das Predigtwesen in Westfalen in der letzten Zeit des Mittelalters. Ein Beitrag zur Kirchenund Kulturgeschichte, 1900, Teil 3; H. Martin: Le me´tier du pre´dicateur en France septentrionale a` la fin du moyen aˆge (1350–1520), 1980, Kap. 10; B. Patton: Preaching Friars and the Civic Ethos: Siena, 1380–1480, 1992; A. Thayer: Penitence, Preaching and the Coming of the Reformation, 2002; s. auch die vorangehende Anmerkung zu Johannes Geiler.

2.2. Trivialschulbildung

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um die gründliche Aneignung der lateinischen Sprache und des elementaren antiken Bildungsguts.81 Der grundlegende Grammatikunterricht vermittelte aber nicht nur Sprachkenntnisse, sondern er diente auch – und das nicht nur nebenbei – der Einführung in die Ethik.82 Obwohl nicht überliefert ist, welchen Lese- und Lehrbüchern Luther in Mansfeld begegnete, so zeigt der Blick auf das in den ersten Trivialschuljahren im Spätmittelalter übliche Curriculum, daß darunter die für den ganzen mittelalterlichen Schulunterricht grundlegenden Spruch- und Fabelsammlungen gewesen sein müssen. Eine der gängigen, im 15. und 16. Jahrhundert durch den Druck weitverbreiteten Zusammenstellungen der unterschiedlichen teils aus der Antike überlieferten, teils im Mittelalter bearbeiteten oder verfaßten Lehrwerke ist mit dem bezeichnenden Titel Auctores octo morales überschrieben.83 Ob Luther dieser Sammlung von Texten im Unterricht begegnet ist, wissen wir nicht. Aber er weist in einem Rückblick anerkennend auf zwei von den acht auctores hin, die er in seiner Schulzeit kennengelernt haben muß und die selbstverständlicher Bestandteil der ersten Schullektüre waren: »Dei providentia factum est, quod Catonis et Aesopi scripta in scholis permanserunt, nam uterque liber est gravissimus; hic verba et praecepta habet omnium utilissima, ille res et picturas habet omnium iucundissimas. Si moralia adhibeantur adolescentibus, multum aedificant. Summa, post biblia Catonis et Aesopi scripta me iudice sunt optima«.84

Mit »Cato« sind die Disticha Catonis gemeint, eine spätantike Sammlung von sprachlich einfachen lateinischen Lebensregeln und Spruchweisheiten, die seit dem Frühmittelalter im Anfängerunterricht Verwendung fand.85 Inhaltlich gehen diese Texte kaum über das hinaus, was bereits als für Luther vorauszusetzendes alltagssprachliches Vorverständnis des Moralischen in der geschichtlichen Gestalt der spätmittelalterlichen bürgerlichen Lebens- und Weltsicht skizziert wurde. Die Disticha Catonis wollen die Leser unterrichten, »in via morum« so zu gehen, »ut gloriose viverent et 81 Die umfassendste und informativste Darstellung von Luthers Trivialschulzeit findet sich in Scheel Bd. 1, §§ 3–9. 82 P. Delhaye: L’Enseignement de la Philosophie Morale au XII e Sie`cle (in: Ders.: Enseignement et Morale au XII e Sie`cle, 1988, 59–81); »Grammatica« et »Ethica« au XII e Sie`cle (aaO 83–134); R. Köhn: Schulbildung und Trivium im lateinischen Hochmittelalter und ihr möglicher praktischer Nutzen (in: J. Fried [Hg.]: Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters, 1986, 203–284). 83 LMA 1,1189 f. (Günter Bernt). Diese Sammlung erfuhr durch den Buchdruck noch einmal weite Verbreitung. Der Humanismus kritisierte sie allerdings und verdrängte sie allmählich aus dem Schulunterricht (dazu knapp: A. Buck: Der italienische Humanismus, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 1, 1996, 1–56, 11). 84 WATR 3,353,22–27* (Nr. 3490). 85 LMA 3,1123 (Günter Bernt).

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

honorem contingerent«.86 Diesem Zweck dient eine Reihe von kurzen Sentenzen mit elementaren Forderungen: »Deo supplica«, »parentes ama«, »cognatos cole«, »datum serva«, »mundus esto«, »maiori concede«, »magistrum metue«, »verecundiam serva«, »diligentiam adhibe«, »familiam cura«, »iusiurandum serva«, »pugna pro patria«, »libros lege«, »quae legeris memento«, »virtute utere«, »aleam fuge«, »aequum iudica«.87

Darauf folgen in vier Büchern Lebensregeln und moralische Weisungen in Form von Distichen, die die in den Sentenzen genannten Themen weiter ausführen. So heißt es zu Beginn der ersten Buchs in Parallelität zur ersten Sentenz: »Si deus est animus nobis, ut carmina dicunt, hic tibi praecipue sit pura mente colendus«.88

Für die Sentenzen wie für die Distichen finden sich jeweils zahlreiche antike Quellen und Parallelen, die zeigen, daß die Disticha Catonis ein Kompendium griechisch-römischer Alltagsweisheit waren, das wegen seiner zeitlosen Gültigkeit ohne Weiteres im Spätmittelalter der Einführung in die moralische Unterweisung dienen konnte. Die Distichen mahnen zu strenger leiblicher und geistiger Selbstdisziplinierung und zu gemeinschaftsförderndem Verhalten. Obwohl der Lebenserfolg des einzelnen nicht immer in seiner Hand liegt – weshalb man das widrige Schicksal geduldig ertragen soll –, hat der Mensch entscheidenden Anteil an seinem Wohlergehen. Als Leitgrößen menschlichen Handelns werden das iustum und honestum genannt,89 und immer wieder wird die Pflege der Tugenden der Geduld, der Bescheidenheit, des Maßes, der Tapferkeit, der Freigebigkeit oder der Klugheit empfohlen. Auch der Wert des Lernens und Lesens wird mehrfach herausgestrichen: »Instrue praeceptis animum, ne discere cessa; nam sine doctrina vita est quasi mortis imago«. »Disce sed a doctis, indoctos ipse doceto: propaganda etenim est rerum doctrina bonarum«.90

Wie die erhaltenen mittelalterlichen Kommentierungen zu den Disticha Catonis zeigen, wurde diese antike Moralweisheit allerdings durchweg christlich ausgedeutet.91 Diese geistliche Deutung und die Einbindung in 86

Ed. Boas, 4. AaO 11–30. Es finden sich auch Sentenzen, die nicht recht für den Trivialschulunterricht der Sieben- bis Zehnjährigen geeignet scheinen (»vino tempera«, »meretricem fuge«). Da es im Spätmittelalter unterschiedliche Ausgaben und Bearbeitungen von Spruchsammlungen gibt, läßt sich nicht im einzelnen sagen, ob Luther dieses oder jenes Wort kennengelernt hat. 88 AaO 34. 89 AaO 70. 90 AaO 152.219. 87

2.2. Trivialschulbildung

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die gängigen religiösen Denkformen – etwa in den Gegensatz der Tugenden und Laster oder in die Kontrastierung von Weltzuwendung und Weltverachtung – wird wohl auch Luther kennengelernt haben. Und obgleich die Spuren dieser antiken Moralweisheit in Luthers Werk nicht allzu offen zutageliegen, hat Luther doch das, was er hier an rerum doctrina bonarum gelernt hat, weitergegeben. Verband sich diese Lebenskunde doch ohne Weiteres mit der Prägung durch das Elternhaus einerseits und mit der spätmittelalterlichen Frömmigkeit andererseits. Für diese sind die Hochschätzung der gegebenen Verhältnisse, die Selbstdisziplinierung des in diese Verhältnisse gestellten Menschen, seine aktive Verantwortung für das menschliche Miteinander und eine Verbindung pflichten- und tugendethischer Motive charakteristisch. Doch Luther lernte die antiken Lebensregeln nicht nur in Gestalt des »Cato« kennen, sondern auch in der literarisch eingängigeren und deshalb von Luther höher geschätzten Form der äsopischen Fabel. Begegnet sind ihm die im Mittelalter in unterschiedlicher Gestalt umlaufenden Fabeln des »Esopus« wohl in der auch in den Auctores octo morales belegten Gestalt des Esopus moralisatus, einer mittelalterlichen Versifikation der spätantiken Prosafassung der Fabeldichtung des Phaedrus.92 Während die Sentenzen und Distichen des »Cato« ihre popularphilosophisch und stoisch eingefärbte moralische Belehrung direkt vortragen, kleiden die Fabeln ihre Sachaussagen in eine kunstvoll gestaltete Erzählung. Diese bedurfte der interpretierenden Auflösung durch mündliche Deutung oder durch Erläuterungen, die an die Fabel angehängt wurden. Es war üblich, die literarisch verfremdeten Sachaussagen der äsopischen Fabeln mit den Mitteln der allegorisierenden und moralisierenden Interpretation auszudeuten und zu verchristlichen. Gerade die Fabeldichtung verband das Erlernen von Vokabeln, Formen- und Satzlehre und die Nach- und Umdichtung der Lektüretexte mit der ethischen Unterweisung. Luther hat die Mittelbarkeit der ethischen Unterweisung durch die Fabel lebenslang hoch geschätzt. Die literarische Verfremdung diente seiner Meinung nach der e umso nachdrücklicheren Wirkung der Inhalte: »wie kundte man ein feiner buch jnn weltlicher Heidnisscher weisheit machen, denn das gemeine [allgemeinverständliche], albere [einfache] kinder buch ist, So Esopus heisst?«93 Unzufrieden mit den seiner Meinung nach nicht immer guten und für Kinder geeigneten Äsop-Fassungen seiner Zeit begann Luther auf 91 R. Hazelton: The Christianization of »Cato«: The Disticha Catonis in the Light of Late Medieval Commentaries (Mediaeval Studies 19, 1957, 157–173). 92 WA 50,433. Zum mittelalterlichen »Äsop«: LMA 4,201–203 (Erwin Rauner). 93 WA 51,243,31–33. »alber« ist hier im älteren, positiven Sinne verwendet (DWb 1,201 f.).

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

der Coburg 1530 mit einer Nachdichtung, die allerdings bruchstückhaft blieb und zu seinen Lebzeiten nie gedruckt wurde.94 Was Luther über »Cato« und »Äsop« hinaus in den ersten Trivialschuljahren kennengelernt hat, ist schwer zu sagen. Eine Sammlung wie die Auctores octo morales enthielt weitere Werke, die stärker noch als der der antiken Tradition verpflichtete »Cato« und »Äsop« biblisch-kirchliche Inhalte vermittelten: etwa die nach dem Incipit auch als Chartula bezeichnete Hexameterdichtung De contemptu mundi oder die Nachdichtung des biblischen Tobiasbuchs in Distichen.95 Was die Trivialschule des 15. Jahrhunderts an religiösem Wissen vermittelte, zeigt das Liber Floretus betitelte anonyme Lehrgedicht aus dem 15. Jahrhundert. Dieser Text behandelt schwerpunktmäßig die Tugenden und Laster, gibt aber auch einen Überblick über das gesamte religiöse Grundwissen in sechs Abschnitten. Am Beginn steht das apostolische Glaubensbekenntnis, das die grundlegenden Glaubensinhalte zusammenfaßt. Der Glaube als solcher ist für die christliche Existenz Basis und Ausgangspunkt; er verlangt aber die Betätigung und Entfaltung im menschlichen Handeln, um heilsrelevant zu sein: »Vera fides salvat, quam vita decens bene format; Namque fides aliqua sine factis mortua dicta Non prodest, sed obest; si post sit agens bona, prodest. Omne malum vita, bona fac: hec est bona vita. Sic bene credendo salvaberis et faciendo«.96

Wie dieses menschliche Handeln aussieht, zeigen das im zweiten Kapitel behandelte Naturgesetz und die zehn Gebote des Mose. Naturgesetz meint die Goldene Regel in ihrer negativen Fassung, also nicht entsprechend Mt. 7,12, sondern Tobias 4,16. Die nähere Entfaltung geschieht dann mittels der Dekaloggebote, die wiederum durch die elementaren Forderungen des Naturrechts – kein Böses tun, das honestum tun, niemandem schaden, jedem sein Recht widerfahren lassen – und durch das neutestamentliche Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe (Mt. 22,37–40) zusammengefaßt werden:

94 Etliche Fabeln aus Äsop (1530): WA 50,432–440.440–460. Dieses Werk enthält auch eine Vorrede, in der Luther seine Fabeltheorie vorträgt. In Luthers Werk finden sich weitere Fabeln und vergleichbare Erzählungen, etwa die von Luther selbst verfaßte Fabel vom Löwen und Esel (WA 26,547–550). Einen Überblick gibt: Martin Luthers Fabeln und Sprichwörter, hg. v. R. Dithmar, 21995. 95 Im einzelnen enthält die Sammlung folgende Werke: Disticha Catonis (s.o.), Ecloga Theoduli (LMA 3,1552), Facetus (LMA 4,215 f.), De contemptu mundi (LMA 3,188), Liber parabolarum (verfaßt von Alain v. Lille), Thobias (verfaßt von Matthäus v. Vendoˆme), Fabuli Esopi (s. o.), Liber Floretus (LMA 4,565). 96 Ed. Orba´n, 3. Die Textform in den Drucken der Auctores octo weicht an einzelnen Stellen von der hier zitierten Edition der Handschrift ab.

2.2. Trivialschulbildung

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»Ad mala vitandum necnon bona continuandum / Sunt data precepta, que commoda sunt et honesta. / Primo nature lex vult sic vivere pure: / Non facias aliis ea, que fieri tibi non vis; / Hec facias aliis, que tu fieri tibi poscis. / Postea lex Moysi data vult subscripta teneri: / Sperne deos plures, non per Dominum iures, / Sabbata sanctifices, venerare tuosque parentes, / Non interficias, non mechus corpore fias, / Non facias furtum, non testeris quoque falsum, / Non cupeas sponsam nec rem, quam sis alienam. / Sic quoque ius scriptum prohibet mala, mandat honestum: / Ius mandat cuique, quod vivat semper honeste / Et nullum ledat, cunctis iura suaque reddat. / Inde Iesus cuncta precepta reduxit ad ista: / Dilige corde Deum toto super omnia verum, / Dilige quemcumque, sicut te diligis ipse: / Istis conplete pendent lex atque prophete. / Sic non offendas Dominum, fratrem neque ledes, / Semper gaudebit, Domini qui iussa tenebit, / Sed male peccavit, qui iussa Dei violabit. / Non fit peccatum nisi per iussum violatum«.97

Es folgt im dritten Kapitel die Behandlung der Sünden als Übertretungen der göttlichen Gebote. Zwar wird der durch die Erbsünde gezeichnete Mensch durch die Taufe von dieser gereinigt. Gleichwohl steht sein weiteres Leben unter der steten Bedrohung durch die Todsünde und die läßliche Sünde. Beides wird ausführlich behandelt, vor allem die Reihe der sieben Todsünden sowie die Sünden gegen den Heiligen Geist. Innerhalb der Behandlung der Sünden wird auch die Frage von deren Vermeidung – »Te bene conante, Domino simul auxiliante« – erörtert. Die eigentliche Abhilfe gegen die Sünde wird im vierten Kapitel behandelt, wo es um die sieben Sakramente geht, vor allem um das Bußsakrament. Das dient nämlich dazu, die im Lebensvollzug aufbrechenden Spannungen zwischen dem für die christliche Existenz grundlegenden Glauben, dem menschlichem Handeln entsprechend den göttlichen Geboten und dem angesichts der Strenge der göttlichen Forderung unvermeidlichen Verfehlen des Gebots und damit des Heils zu lösen und die bona vita zu ermöglichen. Im fünften Kapitel geht es dann besonders ausführlich – mit fast der Hälfte des Gesamtumfangs – um die Tugenden und Laster. Dieses Kernstück des Liber Floretus kann nicht aus dem Gesamtzusammenhang gelöst werden: Denn das Bemühen um die Tugenden ist die konkrete Ausgestaltung des durch Glaubensbekenntnis, Dekalog und sakramentale Sündenbewältigung gesetzten Rahmens. Christliches Leben in seinem gegenwärtigen Vollzug ist am göttlichen Gebot orientiert, es ist durch sakramentale Gnade abgesichert und getragen und es konkretisiert sich in tugendhafter Praxis. Wenn Luther diese moralische Unterweisung im Schema der drei theologischen Tugenden Glaube, Liebe und Hoffnung und der vier Kardinaltugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maßhaltung mitsamt ihren Ergänzungen durch die Geistesgaben, Frömmigkeitswerke und evangelischen Räte und den weiteren Untergliederungen und Erläuterungen 97

AaO 3f.

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nicht anhand des Liber Floretus kennengelernt hat, dann auf anderem Wege; etwa durch die zahlreichen Einzelwerke, die sich der Gattung der Tugendschriften zuzählen lassen oder durch Werke, die die Tugendlehre in übergeordnete Zusammenhänge einbinden, wie die für die Laien bestimmten Beichtspiegel. Seinen Abschluß findet der Liber Floretus als Zusammenfassung des im Trivialschulunterricht vermittelten religiösen Grundwissens im sechsten und letzten Kapitel, in dem es um die Vorbereitung auf das Sterben und die letzten Dinge geht. Die göttliche Gnadengabe und ihre Bewährung im Glauben und im tugendhaften Handeln entsprechend Gottes Geboten geschehen in einem eschatologischen Horizont. Wohl noch in Luthers Mansfelder Trivialschulzeit, gewiß aber im Magdeburger und Eisenacher Unterricht schloß sich die Beschäftigung mit den lateinischen Klassikern an. Und das hieß vor allem die Beschäftigung mit der lateinischen Dichtung, etwa mit Vergil und Ovid, aber durchaus auch mit moralpädagogischen Werken wie Senecas Briefen an Lucilius oder Ciceros De officiis oder De amicitia.98 Allerdings läßt sich der Umfang und die Tiefe dieser moralphilosophischen Schullektüre kaum abschätzen. Vermutlich gehört die intensivere inhaltliche Beschäftigung etwa mit Cicero in die Erfurter Studienzeit, die im Anschluß an dieses Kapitel zu behandeln ist. Seine Kenntnis an Sprichwörtern und Sentenzen hat Luther wohl auch anhand der in der Trivialschulzeit gelesenen Klassiker und Florilegien erweitert.99 Die Bibel wurde dagegen in der Trivialschule wohl nicht umfassender behandelt. Wenn überhaupt religiöse Texte Verwendung fanden, dann eher gängige Gebetstexte, liturgische Stücke oder Gesänge, die die Trivialschüler für ihre Beteiligung am Gottesdienst kennen mußten. Daß Luther bereits in der Schulzeit – aber wohl noch nicht in Mansfeld – selbständig biblische Texten las, geht auf seine Eigeninitiave zurück. Er kaufte sich nämlich angeregt durch die im Gottesdienst verlesenen Bibeltexte eine postilla, womit entweder eine Postille – eine Sammlung erbaulich ausgelegter Predigttexte – oder ein Evangelienbuch – eine Sammlung von gottesdienstlichen Evangelien-, Epistel- und Prophetentexten – gemeint ist.100 98 R. Köhn: Schulbildung und Trivium im lateinischen Hochmittelalter, 235.237. – Zu Luthers guter Kenntnis der lateinischen und griechischen Klassiker, die in der Schulzeit grundgelegt wurde: O. G. Schmidt: Luther’s Bekanntschaft mit den alten Classikern, 1883; R. Schwarz: Beobachtungen zu Luthers Bekanntschaft mit antiken Dichtern und Geschichtsschreibern (LuJ 54, 1987, 7–22). 99 In Luthers Werk finden sich zahlreiche sentenzenhafte Wendungen aus den zur Schullektüre gehörenden lateinischen Klassikern, besonders aus Terenz (O. G. Schmidt: Luther’s Bekanntschaft mit den alten Classikern, 1883, 23–25), Vergil (aaO 26–31), Ovid (aaO 31–33) und Horaz (aaO 33–36). Weitere Autoren sind nachgewiesen im Zitatenregister zu den Tischreden (WATR 6).

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Über Luthers Magdeburger Schuljahr 1497/98 ist wenig bekannt. Doch geben zwei Nachrichten Anlaß, weitere Aspekte von Luthers Frömmigkeits- und Bildungshintergrund zu vertiefen. Beide haben mit Luthers ersten tieferen Eindrücken von der vita monastica zu tun. So berichtet Luther 1533 von seiner Begegnung mit Prinz Ludwig von Anhalt-Zerbst, der als Franziskanerbruder bettelnd durch die Magdeburger Straßen zog: »Ich habe gesehen mit diesen augen, da ich bey meinem vierzehenden jar zu Mage e deburg jnn die Schule gieng, einen Fursten von Anhalt, [...] der gieng jnn der Barfussen kappen auff der breiten strassen umb nach brot und trug den sack wie e ein Esel, das er sich zur erden krummen muste. Aber sein gesel bruder gieng neben e e jm ledig, auff das der from Furst ja allein das hohest exempel der Grawnen beschornen heiligkeit der welt einbildete. Sie hatten jn auch so uberteubet [zugesetzt], das er alle andere werck im Kloster gleich wie ein ander bruder thet, Und hatte sich also zu fastet, zu wacht, zu Casteyet, das er sahe wie ein todten bilde, eitel bein und haut, Starb auch balde, denn er vermocht solche strenge leben nicht ertragen. Sume ma, wer jn ansahe, der schmatzt fur andacht und muste sich seines weltlichen standes schemen, Und ich halt, das noch viel leute zu Magdeburg leben, die es auch gesehen haben«.101

Luther führt diese Erinnerung später als Beispiel für die irrtümliche Hochschätzung des Mönchsstandes an, die »die Leyhen sampt jrem stande verdampt gemacht« habe,102 und zwar so sehr, daß selbst die führenden Laien – die Fürsten und Herren – auf dem Totenbett die Mönchskutte anzogen oder sogar vor dem Tod den Laienstand gänzlich aufgaben. Der vierzehnjährige Luther hat – anders als der ›gewesene Mönch‹ Luther – das Mönchtum, das ihm bei dem Fürsten in der Franziskanerkutte begegnete, nicht als Verleugnung Christi, der Taufe und der Sakramente gesehen.103 Vielleicht hat er tatsächlich Scham über seinen weltlichen Stand empfunden. Denn es war ihm als kirchentreuem spätmittelalterlichem Menschen selbstverständlich, daß die conversio zum Mönchtum eine Distanzierung vom weltlichen Stand war und der Mönch – wenn auch nicht »allen«, so doch besseren – »trost und zuversicht auff die heilige kappe und mittey100 Scheel 1,92 f. Luther Aussagen über sein Verhältnis zur Bibel in seiner Jugend sind nicht ganz einheitlich: Er behauptet in Rückblicken zum einen, er habe bis zu seinem 20. Lebensjahr nie eine Bibel gesehen und er habe gemeint, es gebe keine anderen Evangelien- und Episteltexte außer den in der Predigt verwendeten (WATR 3,598,10–12* [Nr. 3767]), und zum anderen, er habe als »puer« aus Interesse an der Geschichte der Mutter des Propheten Samuel (1. Sam. 1) eine Bibel zu besitzen gewünscht und habe sich wenig später eine postilla gekauft, die ihm sehr gefallen habe, weil sie mehr Evangelien enthielt, als in der Predigt behandelt wurden (WATR 1,44,16–20* [Nr. 116]). 101 WA 38,105,8–21. Dieses und die folgenden Zitate sind der Schrift Verantwortung der aufgelegten Aufruhr entnommen, die im Zusammenhang der Auseinandersetzungen mit Herzog Georg von Sachsen um die reformatorischen Bestrebungen in Leipzig entstanden ist. 102 WA 38,105,1. 103 WA 38,105,3 f.

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lung der guten werck des ordens« setzen durfte, um so leichter in den Himmel zu kommen.104 Die Begegnung mit dem Mönchtum in seiner ganzen Vielgestaltigkeit, wie es in der Metropole Magdeburg unvermeidlich war, und zwar gerade auch mit den rigorosesten und darum besonders angesehenen Gestalten wie dem Bettelmönchtum, hat in Luther wohl nicht den Wunsch nach dem Klostereintritt wachgerufen, aber sie hatte doch zwei Seiten: Zum einen stellte sie dem ernsthaften Laienchristen das Mönchtum als den konsequenteren und erfolgversprechenderen Weg des christlichen Vollkommenheitsstrebens vor Augen. Es relativierte und entwertete damit die laikale Existenz in gewisser Weise und motivierte zu strengerer Frömmigkeitspraxis. Zum anderen versicherte sie den Laienchristen der Legitimität seiner laikalen, innerweltlichen Existenz, die zwar als solche in der Regel weniger vollkommen war, aber durch – vor allem materielle – Unterstützung des Mönchtums an dessen größerer Vollkommenheit partizipierte. Luther konnte sich nach spätmittelalterlicher Anschauung also zugleich in seinem weltlichen Stand bestätigt und zu energischerem Vollkommenheitsstreben aufgefordert finden. Beides implizierte, die weltlichen Stände als heilsgefährdend zu betrachten und sich eng an die kirchliche Institution und ihre Amtsträger anzuschließen. Denn dann konnte man mit dem »gross schiff« der heiligen christlichen Kirche, das von der kirchlichen Hierarchie gelenkt und von den Priestern und Mönchen gerudert »zum himel zu« fuhr, als Laie an einem zugeworfenen Seil »am schiff klebend und hangend auch mit gen himel« kommen.105 Die zweite Nachricht aus der Magdeburger Zeit, die nähere Beachtung verdient, betrifft ebenfalls Luthers Verhältnis zur vita monastica. In Magdeburg, wo Luther wohl die Domschule besuchte, wohnte er nämlich bei den Brüdern vom gemeinsamen Leben.106 Ob und inwieweit Luther in der Magdeburger Zeit vom quasi-monastischen Leben der der Devotio moderna zuzurechnenden Brüder vom gemeinsamen Leben beeinflußt wurde, 104 105 106

WA 38,105,4–7. WA 38,104,17–38.

Luther schreibt am 15. Juni 1522 an den Magdeburger Bürgermeister Nikolaus Sturm, er sei diesem während seiner Magdeburger Schulzeit begegnet, »da ich mit Hans Reinecke zu der Zeit zu den Nullbrüdern in die Schule ging« (WAB 2,563,6 f. [Nr. 510]). Die Deutung der Formulierung, daß Luther bei den Nullbrüdern in die Schule ging, ist umstritten. Da keine Schule der Brüder in Magdeburg belegt ist und die Brüder üblicherweise auch keine Schulen betrieben, sondern Schülern Unterkunft und geistliche Betreuung anboten und teilweise auch an Schulen unterrichteten, ist es wahrscheinlich, daß Luther in einer Art Schülerwohnheim bei den Brüdern wohnte und möglicherweise an der Domschule von Angehörigen des Fraterhauses unterrichtet wurde. – Zu Luthers Magdeburger Schulzeit: Scheel 1,60–97; Brecht 1,27 f.; TRE 8,611 (Reinhold Mokrosch); R. R. Post: The Modern Devotion. Confrontation with Reformation and Humanism, 1968, 628–630.

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ist nicht genauer zu sagen. Er läßt jedenfalls in den frühen Vorlesungen, Predigten und Schriften Kenntnisse zentraler literarischer Zeugnisse der Devotio moderna erkennen;107 und er ist in späterer Zeit, als es um die Frage der Schließung des Herforder Fraterhauses geht, aufgeschlossen gegenüber den sich dort zur Reformation bekennenden Brüdern.108 Im städtischen Milieu, in dem Luther sich in Magdeburg, Eisenach und Erfurt bewegte, waren semireligiose Frömmigkeitsformen – gleich ob beeinflußt von der Devotio moderna oder im Anschluß an die Bettelorden oder im Rahmen frommer Stiftungen – allgegenwärtig. Auch wenn sich über die Bedeutung der Magdeburger Zeit für Luthers Biographie nichts Genaueres sagen läßt, so bietet diese Nachricht doch den Anlaß, die Nachzeichnung von Luthers spätmittelalterlichem Hintergrund um eine weitere Facette zu bereichern. Das soll in Form einer Beschreibung der in den norddeutschen Fraterhäusern praktizierten Schülerbetreuung und des darin vermittelten semireligiosen Vollkommenheitsstrebens geschehen. Weil für das Zusammenleben im Magdeburger Fraterhaus die Quellen fehlen, muß dazu auf Quellen zum Herforder und Hildesheimer Fraterhaus zurückgegriffen werden. Die dortigen Verhältnisse dürften in den Grundzügen den Magdeburger entsprochen haben.109 Ergänzend werden die programmatischen Schriften der Devotio moderna von Gerhard Zerbolt von Zütphen und Thomas von Kempen herangezogen, deren Ideal christlichen Lebens Luther in der Magdeburger Zeit kennengelernt haben dürfte. Die in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts im städtisch-bürgerlichen Milieu der Niederlande aufblühende Frömmigkeitsbewegung der Devotio moderna110 bemühte sich angesichts der Verweltlichung von Kle107 Zu Gerhard Zerbolt und Thomas von Kempen siehe unten; zu Luthers Kenntnis und Rezeption des Rosetum exercitiorum spiritualium et sacrarum meditationum des Johannes Mauburnus: M. Elze: Züge spätmittelalterlicher Frömmigkeit in Luthers Theologie (ZThK 62, 1965, 381–402); M. Nicol: Meditation bei Luther, 21991, 34–37.42 (wo mit guten Gründen infragegestellt wird, daß Luther das Rosetum als Meditationsanleitung im Kloster kennengelernt hat). 108 Dazu die Arbeiten von R. Stupperich: Luther und das Fraterhaus in Herford; Devotio moderna und reformatorische Frömmigkeit; Das Herforder Fraterhaus und die Reformation. 109 Ein von diesen beiden Häusern ausgehender Rekonstruktionsversuch für Magdeburg findet sich bei Scheel 1,72–76.82–97. 110 An Literatur zur Devotio moderna im allgemeinen und dem Herforder und Hildesheimer Fraterhaus im besonderen sind zu nennen: TRE 7,220–225 (Robert Stupperich); TRE 8,605–609 (E´mile Brouette); TRE 8,609–616 (Reinhold Mokrosch); R. Stupperich: Die Herforder Fraterherren als Vertreter spätmittelalterlicher Frömmigkeit in Westfalen (in: Dona Westfalica, 1963, 339–353); H. A. Oberman: Spätscholastik und Reformation, Bd. 2, 31989, 56–71; T. Klausmann: Consuetudo consuetudine vincitur. Die Hausordnungen der Brüder vom gemeinsamen Leben im Bildungs- und Sozialisationsprogramm der Devotio moderna, 2003 (zu den Herforder consuetudines: 250–262;

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rus und Mönchtum einerseits und der Veräußerlichung laikaler Frömmigkeitspraxis andererseits um einen neuen Weg christlichen Vollkommenheitsstrebens, der ins Innere des Menschen und durch dieses hindurch zu Gott führen sollte. Ihre institutionelle Form gewann diese Bewegung in bewußt nicht als monastische Orden betrachteten Gemeinschaften: den Konventen der »Brüder und Schwestern vom gemeinsamen Leben«. Zur kirchenrechtlichen Absicherung der nicht durch die Mönchsgelübde, sondern nur durch ein Versprechen des caste, concorditer et in communi vivere 111 gebundenen und darum der kirchlichen Hierarchie und den konkurrierenden Orden verdächtigen Brüder und Schwestern wurden auf Grundlage der Augustinusregel seit 1387 mehrere Chorherrenstifte – später zusammengeschlossen in der Windesheimer Kongregation – gegründet, die eng mit den Brüder- und Schwesternhäusern verbunden waren. Das Frömmigkeitsleben der Brüder und Schwestern vom gemeinsamen Leben war durch von Ort zu Ort unterschiedliche consuetudines geregelt. In diesen Ordnungen wurde als Ziel des gemeinschaftlichen Leben das sich in der Gottesliebe erfüllende Vollkommenheitsstreben festgeschrieben, das im Kampf gegen die Sünden und Gebrechen des Menschen sowie in der Stärkung und Praxis der Tugenden – besonders der Demut – bestand. Die Consuetudo domus presbiterorum et clericorum in Heruordia faßt dieses Ideal christlichen Lebens prägnant so zusammen: »verus profectus vite spiritualis consistit in cordis puritate, qua neglecta frustra ad perfectionem nitimur, que est in caritate, sit igitur summum et cotidianum studium et exercitium nostrum proficere in cordis puritate. ut videlicet primo omnium discamus nosipsos cognoscere, vicia et passiones animae sine dissimulatione diiudicare et eas totis viribus extirpare, gulam domare, concupiscentias refrenare, superbiam deprimere, temporalia contempnere, proprias voluntates frangere et alia queque vicia impugnancia expugnare. Et inter hec pro veris virtutibus acquirendis summum studium adhibere, ut videlicet humilitatem, caritatem, castitatem, pacientiam, obedienciam ac alias virtutes, in quibus beneplacitum est domino deo, possimus obtinere. Ista enim est verior et tutior via et modus proficiendi in vita spirituali, prout sancti patres determinarunt«.112 Das im Hintergrund dieser Aussagen stehende Frömmigkeitsprogramm der Devotio moderna wurde Ende des 14. und Anfang des 15. Jahrhunderts von Ger-

im Anhang sind auch die Ordnungen der Fraterhäuser in Münster und Wesel ediert); N. Staubach: Zwischen Kloster und Welt? Die Stellung der Brüder vom gemeinsamen Leben in der spätmittelalterlichen Gesellschaft (in: Ders. [Hg.]: Kirchenreform von unten. Gerhard Zerbolt von Zutphen und die Brüder vom gemeinsamen Leben, 2004, 368–426); J. v. Engen: Sisters and Brothers of the Common Life. The Devotio Moderna and the World of the Later Middle Ages, 2008. 111 Consuetudo domus presbiterorum et clericorum in Heruordia (in: Das Fraterhaus zu Herford, Teil 2, ed. Stupperich, 1984, 56–98 [lateinischer Text], 98–131 [niederdeutscher Text]), 57. 112 AaO 57f.

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hard Zerbolt von Zütphen (1367–1398) in seiner Schrift De spiritualibus ascensionibus 113 und von Thomas von Kempen (1379/80–1471) in seinen vier Büchern De Imitatione Christi 114 formuliert. Diese beiden Schriften wurden innerhalb der Devotio moderna115 und darüber hinaus zu wirkmächtigen und weitverbreiteten Erbauungsbüchern, und auch Luther begegnete ihnen.116 Für Gerhard Zerbolt hat der Mensch seine ursprüngliche Unversehrheit verloren und findet sich im Tränental des irdischen Lebens vor, aus dem er »per ascensiones et gradus virtutum in corde« zum ursprünglichen status naturalis rectitudinis zurückstrebt (c. 1). Weil sein Traktat diesen profectus virtutum nicht nur beschreibt, sondern auch zu dessen Praxis anleitet und ihn sich in der meditativen Lektüre des Traktats bereits anfangsweise

113 Ge´rard Zerbolt de Zutphen: La monte´e du coeur. De spiritualibus ascensionibus, ed. Legrand, 2006. – Literatur: R. Schwarz: Vorgeschichte der reformatorischen Bußtheologie, 1968, 138–149; G. H. Gerrits: Inter Timorem et Spem. A Study of the Theological Thought of Gerard Zerbolt of Zutphen (1367–1398), 1986; R. Schwarz: Die Umformung des religiösen Prinzips der Gottesliebe in der frühen Reformation (in: B. Moeller [Hg.]: Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, 1998, 128–148); K. Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik Bd. 4, 1999, 165–173; R. van Dijk: Ascensiones in corde disponere. Spirituelle Umformung bei Gerhard Zerbolt von Zutphen (in: N. Staubach [Hg.]: Kirchenreform von unten, 2004, 287–305). 114 In: Thomas a Kempis: Opera omnia, ed. Pohl, 2,3–263 (Abdruck des von Thomas geschriebenen Brüsselers Manuskripts von 1441; die neueste Edition von Tiburzio Lupo, Vatikanstadt 1982, ist dagegen wegen ihrer Sicht der Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte und der sich daraus ergebenden editorischen Grundentscheidungen nicht unproblematisch). In den Fragen der Autorschaft, Datierung und Überlieferung der Imitatio Christi hat sich mittlerweile ein Forschungskonsens herausgebildet, der im Brüsseler Autograph von 1441 den maßgeblichen ältesten Textzeugen sieht und eine sich von den 1420er bis zu den 1440er Jahren hinzuziehende sukzessive Sammlung und Redaktion des Textmaterials durch Thomas von Kempen annimmt (TRE 33,480–483 [Ulrich Köpf]; N. Staubach: Eine unendliche Geschichte? Der Streit um die Autorschaft der ›Imitatio Christi‹, in: U. Bodemann, N. Staubach [Hgg.]: Aus dem Winkel in die Welt. Die Bücher des Thomas von Kempen und ihre Schicksale, 2006, 9–35). 115 In den Fraterhäusern und Chorherrenstiften der Windesheimer Kongregation wurden die programmatischen Werke der Gründergeneration der Devotio moderna (Geert Groote, Florens Radewijns, Gerhard Zerbolt) und ihrer Schüler (hier vor allem Thomas von Kempen) in den Skriptorien, deren Handschriftenproduktion eine wichtige Einnahmequelle war, vervielfältigt, in den Bibliotheken der Häuser gesammelt und von den Brüdern und Schwestern intensiv rezipiert. Zu den am weitesten verbreiteten und heute noch in zahlreichen Abschriften erhaltenen Werken gehörten dabei Zerbolts Traktate. Darum ist davon auszugehen, daß zu Luthers Zeit im Magdeburger Fraterhaus die Programmschriften der Devotio moderna vorhanden waren. 116 Allerdings ist es unwahrscheinlich, daß der Schüler Luther sie in Magdeburg gelesen hat, aber zumindest wird er im Umgang mit den Brüdern ihrem Gedankengut begegnet sein. Zerbolts De spiritualibus ascensionibus wird zweimal in Luthers frühen Vorlesungen erwähnt (WA 55II,638,244; WA 56,313,13–16). Auch für eine Kenntnis von De imitatione Christi lassen sich Hinweise in Luthers Werk finden (dazu mit starken, wenn auch nicht zwingenden Argumenten: H. Rix: Luther’s Debt to the Imitatio Christi, in: Augustiniana 28, 1978, 91–107). Aus Luthers Erfurter Klosterzeit sind Randbemerkungen zu Zerbolts anderer programmatischer Schrift De reformatione virium animae überliefert. Bei dem von Luther glossierten Text handelt es sich allerdings um einen Bonaventura zugeschriebenen Auszug, weshalb ihm der Zusammenhang mit der Devotio moderna hier nicht bewußt gewesen dürfte (AWA 9,139 f.).

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

vollziehen läßt, entspricht die Gliederung des Texts der Struktur des christlichen Lebens. Das vorchristliche Leben ist durch einen dreifachen descensus gekennzeichnet: Adam ist aus dem Stand der Rechtschaffenheit gefallen, und nun findet sich jeder Mensch im Tränental der Sündenexistenz mit ihrer Verkehrung aller inneren Kräfte und Affekte vor, insbesondere ist der Sünder durch die Unreinheit des Herzens und die Neigung zu den Begierden und sein Leben durch die denkbar größte Gottesferne in der Todsünde gezeichnet (c. 3–5). Das christliche Leben dagegen vollzieht sich in einem diesen dreifachen Abstieg überwindenden dreifachen geistlichen Aufstieg (c. 11–63) und einem diesen begleitenden zweifachen geistlichen Abstieg (c. 64–70). Grundlegend ist der erste, wegen seiner Selbstverständlichkeit und bloß vorbereitenden Bedeutung nur kurz behandelte Aufstieg: die Beseitigung der Todsünde durch das Bußsakrament (c. 12–14). Wichtiger ist der zweite geistliche Aufstieg: die Reinigung des Herzens und der Kampf gegen die Begierden (c. 15–46). Dieser Aufstieg vollzieht sich auf den drei Stufen von Furcht, Hoffnung und Gottesliebe. Und von der Gottesliebe als der dritten Stufe gilt: »Hic est status perfectionis, hic est mons puritatis et perfectus ascensus perfectionis vere caritatis« (c. 26). Allerdings macht Gerhard auch deutlich, daß die geistlichen Aufstiege mit ihren einzelnen Stufen im diesseitigen Leben nicht zur dauerhaften Vollkommenheit und Gemeinschaft mit dem Deus ipse führen, sondern allenfalls zu einer Annäherung, und das auch nur für die, die sich unterstützt von der göttlichen Gnade darum bemühen. Die Erhebung vom timor über die spes zur caritas bedient sich der von der Devotio moderna weiterentwickelten Frömmigkeitstechniken von lectio, meditatio und oratio (c. 43–46): Die incipientes lernen durch die Lektüre erbaulicher Bücher den rechten Blick auf sich selbst und auf Gott; die proficientes werden zur meditativen Erschließung des Gottes- und Selbstverhältnisses geführt; und die in der Vervollkommnung Begriffenen gelangen schließlich im Gebet zur Gottesgemeinschaft. Im Mittelpunkt dieser lesenden, meditierenden und betenden Frömmigkeitspraxis steht die Erkenntnis der menschlichen Sünde und der göttlichen Barmherzigkeit. Besonders wichtig ist der Devotio moderna die meditative Versenkung in das Wirken und Leiden Christi, die darum von Gerhard ausführlich behandelt wird (c. 27–41). In dieser Christi Leben und Leiden in allen Einzelheiten vergegenwärtigenden und mitvollziehenden Passionsmeditation geht es aber nicht nur um die göttliche Barmherzigkeit und das Heilswerk Christi, sondern auch um die Erkenntnis der menschlichen Sünde und der Verpflichtung zu einem ihm entsprechenden Handeln. Auf diese Weise werden die sündlichen Begierden allmählich zurückgedrängt und beherrscht und so zugleich das Herz rein gemacht, um den dritten geistlichen Aufstieg zu bestehen. Dieser dritte Aufstieg (c. 47–63) folgt strenggenommen nicht auf den zweiten,117 sondern ist das ihn voraussetzende und begleitende aktive Tugendbemühen im Kampf gegen die Sünden und Laster. Hier greift Gerhard die zeitüblichen Gegenüberstellungen der acht vitia principalia und der ihnen jeweils entgegengesetzten virtutes auf. Die einzelnen Laster werden durch den dreifachen Aufstieg im Herzen in timor, spes und caritas bekämpft. Dabei kommt dem Kampf gegen die superbia als der regina vitiorum, auf die sich alle Laster zurückführen lassen, besondere Bedeutung zu – und damit der humilitas (c. 63). Nicht ohne Grund endet die Darstellung der drei geistlichen Aufstiege mit 117 »Non est autem ista ascensio supra premissas ascensiones altior, sed collateralis, vel certe una et eadem est ascensio diversis respectibus et modis variis exercitandi« (302,25– 28).

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der Anleitung zur Demutspraxis als dem Inbegriff christlichen Lebens im Diesseits. Abschließend behandelt Gerhard das in der Vorstellung der Jakobsleiter (Gen. 28,12) enthaltene Motiv des dem geistlichen Aufsteigen zur Seite gestellten geistlichen Hinabsteigens, das er einmal als descensus ad seipsum in drei Stufen (c. 65–67) und zum anderen als descensus ad proximum in drei Stufen (c. 68–70) darstellt. Gemeint ist mit diesem Hinabsteigen nicht die der menschlichen Schwäche und Sterblichkeit geschuldete Gegenbewegung zum Aufstieg. Vielmehr handelt es sich um descensiones utiles, das heißt um ein dem Ziel des Aufstiegs dienliches Hinabsteigen. Es verwirklicht sich zum einen darin, mit dem eigenen Vollkommenheitsstreben immer neu auf den bereits bewältigten unteren Stufen anzusetzen und durch äußere Betätigungen wie die Handarbeit das notwendige Gegengewicht zur selbstgenügsamen Vergeistigung zu setzen; und zum anderen darin, seine eigene geistliche Vervollkommnung zeitweise zugunsten des Nächsten zurückzustellen. Allerdings wird dadurch die Weltdistanzierung und die Konzentration auf die persönliche Vervollkommnung nicht relativiert oder gar aufgehoben. Beides hat keinen Wert an sich, sondern dient dem dreifachen geistlichen Aufstieg. So kann es nicht wundern, daß Thomas von Kempen von Gerhard Zerbolt berichtet, dieser habe sich von der Welt abgewandt und sich vor allem meditierend und schreibend in seiner Zelle aufgehalten, ganz den interna exercitia hingegeben.118 Während es Gerhard Zerbolt vor allem um die Anleitung zur devoten Frömmigkeitspraxis im methodischen Tugendfortschritt geht, konzentrieren sich die vier Bücher De imitatione Christi des Thomas von Kempen auf die meditative Einübung der Christusnachfolge. Diese hat ja der Systematik bei Gerhard Zerbolt zufolge zentrale Bedeutung für den profectus virtutum und steht darum im Zentrum des zweiten geistlichen Aufstiegs. Thomas bietet dazu eine in vier Bücher gegliederte Sammlung von mehr als 2500 Einzelworten, die darauf zielt, schrittweise von der Einübung in das geistliche Leben (I: Admonitiones ad spiritualem vitam utiles, II: Admonitiones ad interna trahentes) über die Christusbegegnung in der sakramentalen und geistlichen Kommunion (III: Devota exhortatio ad sacram communionem) zur Gottesgemeinschaft der inneren Tröstung (IV: Liber internae consolationis) zu gelangen.119 Grundlegend ist die Abwendung von der Welt (contemptus mundi) und die Hinwendung zu Christus: »Summum [...] studium nostrum sit: in vita Iesu Christi meditari« (I,1). Das führt in die Gleichgestaltung mit Christus (»oportet ut totam vitam suam illi studeat conformare«) und ermöglicht das allmählich die vitia überwindende proficere in virtutibus (I,12.25). Christusnachahmung ist aber nicht nur die auf das ewige Leben ausgerichtete »virtuosa vita« (I,1), sondern vielmehr die die ganze Existenz umfassende Kreuzesnachfolge auf der regia via sanctae crucis (II,12) durch Selbstnegation (abnegare semetipsum) und Gleichförmigwerden mit dem Gekreuzigten (se conformare crucifixo in vita). Das Aufsichnehmen des Kreuzes führt durch vielerlei Bedrängnisse zum jenseitigen Heil, und auf dem Weg dahin auch zur diesseitigen fiducia divinae consolationis. Denn durch die Christusgemeinschaft in der Kreuzesnachfolge und im Sakrament hat der Christ bereits hier Anteil an der Gottesgegenwart. Die Formulierun118

Dialogus noviciorum lib. IV, cap. 8, ed. Pohl, 277. Schon relativ früh in der Rezeptionsgeschichte haben das dritte und vierte Buch ihren Platz getauscht, so daß in der seither üblichen Fassung die innere Tröstung zum asketischen Hilfsmittel einer auf die sakramentale Christusbegegnung zielenden Frömmigkeit wird. 119

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

gen und Sachaussagen hinsichtlich dieser Gottesgemeinschaft erinnern zwar teilweise an die spätmittelalterliche Mystik, die die Devotio moderna durch persönliche Kontakte – man denke nur an den über Jan van Ruusbroec vermittelten Einfluß Meister Eckharts, Taulers und Seuses auf Geert Groote – und mystische Literatur beeinflußt hat; die Devotio moderna steht aber der Mystik insgesamt distanziert gegenüber. Denn ihr geht es mehr um den Weg als um das Ziel geistlichen Lebens, mehr um die praktische Anleitung zur alltäglichen Frömmigkeit als um religiöse Grenzerfahrungen. Unter den diesseitigen Bedingungen bestehen »profectus et perfectio hominis« (III,25) in der getrosten Ergebung in Gottes Willen und im Christus entsprechenden Leiden. Trotz aller Ausrichtung auf die mystische Gottesgemeinschaft vertritt die Devotio moderna letztlich eine »moralisierende[ ] Kreuzestheologie«.120

Die Devotio moderna bildete eine praxisorientierte, auch den Laien zugängliche Meditationspraxis aus, die das Vorbild Christi verinnerlichen und den Menschen zu wahrer innerer Buße und Demut sowie zur äußeren Bewährung dieser inneren Haltung im alltäglichen Leben führen sollte. Diese moderne Frömmgkeit wollte bewußt nicht elitär sein, sondern einfach und methodisch, leicht zu erlernen und zu praktizieren, mehr an der inneren Selbstvervollkommnung als an äußerem Kult und Werk interessiert. Dabei wurden gerade auch die Bedürfnisse und Interessen der Laien, und zwar vor allem der bildungsaffinen Stadtbewohner berücksichtigt. Obwohl die Devotio moderna ein besonderes Interesse an den persönlichen geistlichen Übungen – hier vor allem die Meditation und die Lektüre der Bibel und mystisch-erbaulicher Schriften – entwickelte, legte sie dennoch großen Wert auf die Einbindung der persönlichen Vervollkommnung in das Leben der Gemeinschaft. Und auch über die exercitia spiritualia in der eigenen Zelle und die Gottesdienste und das Zusammenleben in der Hausgemeinschaft hinaus trugen die Fraterhäuser Verantwortung. Vielerorts nahmen sie sich der angesichts des starken Wachstums der Stadtschulen dringlichen Aufgabe der Unterbringung und geistlichen Versorgung auswärtiger Schüler an. Eigene Schulen unterhielten dagegen nur sehr wenige Häuser; betrachtete die Devotio moderna die weltliche Gelehrsamkeit doch kritisch und der Ergänzung und Überformung durch das Streben nach wahrer Weisheit bedürftig. Es war ein tiefes Verantwortungsgefühl für die Heranwachsenden und ein besonderes pädagogisches Interesse, das die Bemühungen um die Ergänzung des Trivialschulunterrichts durch fromme Übungen – institutionalisiert als collationes mit biblischen Ansprachen, erbaulicher Lektüre und seelsorgerlichen Gesprächen – und das Leben im Kreis der Brüder trug. So sollten die jungen Leute in die geistliche Aufstiegsbewegung durch den profectus virtutum und die imi120

334.

W.-D. Hauschild: Lehrbuch der Kirchen- und Dogmengeschichte, Bd. 1, 1995,

2.2. Trivialschulbildung

53

tatio Christi hineingezogen werden: anfangs als incipientes im Rahmen des ersten Aufstiegs, dann aber auch je nach Möglichkeit und Eignung als proficientes auf den unteren Stufen des zweiten Aufstiegs in lectio und meditatio. Aus den Fraterhäusern in Herford und Hildesheim – von wo aus 1482 auch das Magdeburger Haus gegründet wurde – wissen wir von der Gestalt dieser Einbeziehung der Trivialschüler in das Leben der Brüder. Im Herforder Fraterhaus schreiben die consuetudines von 1437 vor, daß an Feiertagen für die »Fremden« Kollationen stattfinden sollen, in denen in deutscher Sprache aus der Bibel vorgelesen und zur Besserung des Lebens gemahnt wird. Das geschieht – diese Reihe ist prägnanter Ausdruck des mittelalterlichen Vollkommenheitsstrebens, das die vita christiana durch drei Spannungsfelder charakterisiert sieht – erstens durch die für die mittelalterliche Unterweisung und Ethik im allgemeinen wie für die Frömmigkeitspraxis der Devotio moderna im besonderen wichtige Behandlung der Laster und Tugenden, zweitens durch die Aufforderung zur Abkehr von der Welt und der Zuwendung zu Gott und drittens durch die Gegenüberstellung der für alle Christen verbindlichen zehn Gebote und der die Semireligiosen und Religiosen auszeichnenden evangelischen Räte der Bergpredigt.121 Die Brüder sprechen die Teilnehmer persönlich an (»privata et familiaris allocutio« »secundum statum et exigenciam cuiusque«), um deren Herzen zu erreichen, ihren Willen zum Besseren zu bewegen und so für die salus animarum zu sorgen. In den monatlichen Besprechungen der Brüder wird das Leben der Schüler regelmäßig über121

»Festivis diebus quarta uel competenti hora legetur siue exponetur alienis aliquis passus sacre scripture in teutonico, si fuerint praesentes, de plana materia qu(a)e ad emendationem vite eos poterit prouocare. videlicet de viciis, de virtutibus, de contemptu mundi, de timore dei, decem praecepta et consilia« (Consuetudo domus presbiterorum et clericorum in Heruordia, ed. Stupperich, 63). Ein solch ausführlicher Abschnitt über die Kollationen wie in der Herforder Ordnung (ed. Stupperich, 63 f.107 f.) findet sich in den anderen erhaltenen niederdeutschen consuetudines nicht. Allerdings geben die Annalen des Hildesheimer Fraterhauses Einblick in die Schülerbetreuung und die Praxis der Kollationen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts (Annalen und Akten der Brüder des gemeinsamen Lebens im Lüchtenhofe zu Hildesheim, ed. Doebner, 56–58.108–110.123– 126; W. Brüggeboes: Die Fraterherren (Brüder des gemeinsamen Lebens) im Lüchtenhofe zu Hildesheim, 1939, 76 f.106–110). Bei den Kollationen müssen die nur innerhalb der Gemeinschaft stattfindenden von den für die Auswärtigen bestimmten unterschieden werden. Zu den Teilnehmern der für die Auswärtigen bestimmten Kollationen gehören Erwachsene wie Schüler. Letztere sollen einerseits geistlich betreut, andererseits aber auch an die Brüderhäuser herangeführt werden, um vielleicht selbst später einmal einzutreten. – Die Betreuung von Schülern und die seelsorgerlich-erbauliche Unterrichtung von Auswärtigen waren zwei seit dem 14. Jahrhundert belegte Arbeitsfelder der Devotio moderna. Siehe dazu: G. Epinay-Burgard: Die Wege der Bildung in der Devotio Moderna (in: H. Boockmann u.a. [Hgg.]: Lebenslehren und Weltentwürfe im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, 1989, 181–200); T. Klausmann: Consuetudo consuetudine vincitur, 2003, 147 f.185.319 f. u.ö.

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

prüft.122 Wichtig war, gerade auch den Heranwachsenden die Schwerpunkte der Frömmigkeit der Devotio moderna einzuprägen, wie sie Thomas von Kempen in seinem vor allem für den monastischen Zweig der Devotio moderna gedachten Doctrinale iuvenum zusammenfaßt, nämlich die Heilige Schrift und Christus: »ante omnes artes disce sacram scripturam legere et recte intelligere, firmiter credere, bene ac iuste vivere: ut ad vitam aeternam possis Christo favente feliciter pervenire. Nam ignorantia divinae legis mater est erroris et ianua mortis: privatio honoris, virtutis et salutis. Verbum autem Dei et doctrina Christi lumen vitae; salus mundi, porta caeli, cibus animae: iucunditas cordis, Deum super omnia amantis«. »Nil ergo sacrae scripturae praeponendum nil Christo superponendum«.123

Luthers Begegnung mit der Devotio moderna in Magdeburg wird ihn allenfalls in die Anfangsgründe dieser Frömmigkeit eingeführt haben. Aber sie muß ihm als Fortführung und Vertiefung der aus dem Elternhaus und der Mansfelder Schulzeit vertrauten Frömmigkeit erschienen sein. Die Brüder leiteten im Anschluß an Traktate wie die Zerbolts zu vertiefter Selbstwahrnehmung – und zwar gerade auch der eigenen Sündhaftigkeit und pronitas concupiscentiarum – an und wiesen auf das Bußsakrament, vor allem aber auf Gottes Gericht und Barmherzigkeit hin, wie sie in Christus offenbar waren. Das Vollkommenheitsstreben stellte sich als Zusammenwirken von Gott und Mensch dar, in dem es darauf ankam, sich durch lectio, meditatio und oratio zu reinigen und im Streit der Tugenden mit den Lastern umzugestalten. Teil der geistlichen Aufstiege war auch die Zuwendung zum Nächsten, in der sich die erreichte Vollkommenheit in Demut und Nächstenliebe bewährte. Luthers Magdeburger Jahr bei den Brüdern vom gemeinsamen Leben war biographisch gesehen nur eine kurze Zwischenstation vor den Jahren auf der Eisenacher Lateinschule. Der Unterricht ging hier den eingeschlagenen Weg weiter. Eine stärker humanistische Akzentuierung läßt sich für die Eisenacher Schulzeit nicht erhärten. Luther wird immer stärker mit den lateinischen Klassikern vertraut geworden sein und sich sprachlich vervollkommnet haben. Besondere Prägungen durch das Lebensumfeld lassen sich nicht erkennen. Luther lebte in der Nähe der Thüringer Verwandten, kam wohl im bürgerlichen Haus der Familie Schalbe unter und begegnete deren Interesse an franziskanischer Spiritualität.124 Er lebte wie in Mansfeld in einer bürgerlichen Welt mit den ihr eigentümli122

Consuetudo domus presbiterorum et clericorum in Heruordia, ed. Stupperich, 89. Doctrinale iuvenum, ed. Pohl, 181,9–19; 182,4 f. Die Quellen zu Verhältnis Luthers zur franziskanischen Spiritualität sind spärlich. Eine tiefere Beeinflussung Luthers durch sie ist wenig wahrscheinlich, was nicht nur für die Erfurter Klosterzeit gilt, während derer er sich auch mit franziskanischer Literatur beschäftigte (s.u. S. 84), sondern erst recht für die Zeit vor dem Klostereintritt. 123 124

2.3. Artes-Studium

55

chen Werten und ihrer selbstverständlichen Einbindung in die kirchliche Heilsinstitution und ihrer Praxis persönlicher Frömmigkeit. 2.3. Philosophische Ethik im Rahmen von Luthers Erfurter Artes-Studium (1501–1505/11) 1501 bezog Luther die Universität Erfurt und begann ein Artes-Studium. Im Herbst 1502 absolvierte er das Bakkalarexamen und Anfang 1505 die Magisterprüfung.125 Zum Studium gehörte einerseits der Besuch der vorgeschriebenen Lehrveranstaltungen (Vorlesungen, Disputationen, Übungen) und die Erarbeitung der grundlegenden Studientexte, andererseits die nach dem Bakkalar- und Magisterexamen beginnende eigene Lehrtätigkeit im Rahmen der Artes-Fakultät und – bei den Ordensangehörigen – des Generalstudiums. Auch nach 1505 beschäftigte sich Luther mit den Artes, weil er als Magister philosophische Lehrveranstaltungen übernahm. Von einer dieser Vorlesungen wissen wir: 1508/09 wurde Luther vom Erfurter Konvent der Augustinereremiten an den Wittenberger Konvent überstellt, um am dortigen Ordensstudium vertretungsweise über die Nikomachische Ethik des Aristoteles zu lesen und Übungsdisputationen abzuhalten.126 Obwohl er sich wohl lieber ganz auf sein Theologiestudium konzentriert hätte – der im März 1509 erworbene Grad des Baccalaureus biblicus und der im Herbst folgende Grad des Sententiarius verlangten ein intensives Studium und verpflichteten darüber hinaus zu theologischen Vorlesungen über die Bibel und die Sentenzen –, beschäftigte er sich in seinem Wittenberger Jahr noch einmal gründlich mit der aristotelischen Ethik. »violentum est studium, maxime philosophiae, quam ego ab initio libentissime mutarim theologia«, schreibt er im Frühjahr 1509 in einem Brief.127 Auch wenn wir nur wenig über diese zweite Phase von Luthers Beschäftigung mit der Philosophie während seiner Zeit als Student und 125 Die nach wie vor ausführlichste und auch hinsichtlich der Inhalte von Luthers Artesstudium reichhaltigste Darstellung bietet Scheel 1,121–234. Die wenigen unmittelbar auf Luthers Studium bezogenen Quellen sind der Immatrikulationsvermerk 1501 (Acten der Erfurter Universität, ed. Weissenborn, Teil 2, 1884, 219) sowie die Vermerke zu Luthers Bakkalarexamen Michaelis 1502 und Magisterprüfung Epiphanias 1505 (J. Köstlin: Die Frage über Luthers Geburtsjahr und eine neue Frage über Luther in den Jahren 1509 bis 1511, ThStKr 47, 1874, 315–324, hier: 319 f. [aufgrund der Handschrift der Matrikel]; s.a. R. Schwinges, K. Wriedt [Hgg.]: Das Bakkalarenregister der Artistenfakultät der Universität Erfurt 1392–1521, 1995, 272 f.). Die feierliche Promotion zum Magister fand entsprechend den Statuten Anfang Februar 1505 statt. 126 Scheel Bd. 2, § 8. 127 WAB 1,17,41–43 (Nr. 5). Die Bevorzugung der Theologie hat hier noch nichts mit einer Distanzierung von der Philosophie zu tun, sondern mit dem Bemühen um eine »theologia, quae nucleum nucis et medullam tritici et medullam ossium scrutatur« (WAB 1,17,43 f.).

56

2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

Dozent der Theologie bis 1513 wissen, so ist dennoch zweierlei deutlich: Luther hat sich nach dem Beginn des Artes-Studiums 1501 ein Jahrzehnt lang lernend und lehrend mit der Philosophie beschäftigt und er hat als »›Moralphilosoph‹ [...] seine Wittenberger Tätigkeit begonnen«.128 Welche Gestalt der philosophischen Ethik Luther in seinem Studium kennenlernte und in seiner eigenen Lehrtätigkeit vermittelte, soll im Folgenden erkundet werden. Im Studium setzte sich die in der Trivialschule begonnene Beschäftigung mit den lateinischen Klassikern fort, die Melanchthons Rückblick auf Luthers Erfurter Jahre besonders betont: Luther habe Cicero, Vergil, Livius und andere nun nicht mehr zur Vervollkommnung seiner Beherrschung des Lateinischen gelesen, sondern um der vorbildhaften Darstellung der humanae vitae doctrina willen, und er habe das Gelesene und Gehörte als dauernd bleibendes Bildungsgut verinnerlicht.129 In der Tat muß ein Gutteil von Luthers Klassikerkenntnis auf die ersten Erfurter Jahre zurückgehen, als Luther im Artes-Studium und dank der Bibliothek seiner Burse – der Georgenburse oder des auch Porta Coeli genannten Collegium Amplonianum – seine Kenntnisse der antiken Literatur vertiefte.130 Dabei ist Cicero der lateinische Autor, der Luther wohl am stärksten geprägt hat.131 In späteren Rückblicken gibt Luther an, er habe Cicero als adolescens studiert, und er zieht mehrfach die Moralphilosophie des Cicero der des Aristoteles, die das spätmittelalterliche Artes-Studium beherrschte, vor.132 Allerdings ist dieses rückschauende Lob des Cicero an128

Scheel 2,360. Ph. Melanchthon: Praefatio zum zweiten Band der Wittenberger Lutherausgabe (1.6.1546): »Cumque mens avida doctrinae, plura et maiora requireret, legit ipse pleraque veterum Latinorum scriptorum monumenta, Ciceronis, Virgilii, Livii et aliorum. Haec legebat, non ut pueri verba tantum excerpentes, sed ut humanae vitae doctrinam, aut imagines, Quare et consilia scriptorum et sententias propius aspiciebat, et ut erat memoria fideli et firma, pleraque ei lecta et audita in conspectu et ob oculos erant« (CR 6,157 f.). 130 Ausgehend von dem Melanchthon-Zitat und unter Einbeziehung anderer Quellen rekonstruiert Scheel 1,231–233 Luthers Beschäftigung mit den antiken Klassikern während seines Artes-Studiums und bringt es vorsichtig in Verbindung mit humanistischen Bestrebungen und mit dem akademischen Studium der Moralphilosophie. 131 O. G. Schmidt: Luther’s Bekanntschaft mit den alten Classikern, 1883, 12–15. 132 »Mirari non possum, cur nunc laudent adeo Aristotelis philosophiam et non magis Ciceronis, viri, qui in negotiis maxime conversatus est, quod Officia eius testantur, quae longe praestant libris Ethicorum Aristotelis« (WATR 2,456,21–24* [Nr. 2412]). – »Officia Ciceronis multum praestant Ethicis Aristotelis, et Cicero, homo plenus curarum et onerum civilium, tamen longe excellit otiosum asinum Aristotelem, qui abundabat pecunia et otio« (WATR 2,456,30–32*). – »Aristotelis scripta olim se diligenter legisse dicit Doctor Lutherus, et quia methodum exacte observat, diligendus, alioqui non magna tractat, nam de anima, de Deo et immortalitate animae nihil novit. [...] Summa, Cicero longe superat Aristotelem, nam in Tusculanis quaestionibus et natura Deorum praeclarissima 129

2.3. Artes-Studium

57

gesichts von Luthers theologischer Entwicklung seit dem Artes-Studium mit Vorsicht aufzunehmen. Luther hat als Artes-Student Cicero sehr wohl gekannt und geschätzt. Die bei diesem begegnende Verbindung von Stoa und altrömischer Moralität lagen ihm wohl auch von Hause aus näher als die stärker theoretisch reflektierende und weniger konservativ ausgerichtete Ethik des Aristoteles. Aber für das statutengemäße Studium und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit moralphilosophischen Fragen war der lateinische Aristoteles entscheidend. Und diese Prägung begleitete Luthers theologische Entwicklung in Anknüpfung und Widerspruch lebenslang. Der Studiengang des Artes-Studiums war in den Statuten so geregelt, daß als Vorbereitung auf das Bakkalarexamen der Besuch von Vorlesungen, Übungen und Disputationen zur Grammatik, Rhetorik, Naturphilosophie und vor allem Logik, für die Vorbereitung auf das Magisterexamen die weitere Vertiefung der Logik und Naturphilosophie, das Studium des Quadrivium sowie die Beschäftigung mit den beiden anderen philosophischen Teildisziplinen der Metaphysik und Moralphilosophie verlangt wurde.133 Das für die zweite Hälfte der Vorbereitung auf das Magisterexamen anzusetzende Studium der philosophischen Ethik umfaßte drei Teilbereiche: In den Vorlesungen wurden die Nikomachische Ethik des Aristoteles im Zeitraum von acht Monaten, die aristotelische Politik in sechs Monaten und die – im Mittelalter Aristoteles zugeschriebene – Ökonomik in einem Monat behandelt.134 Das Aristoteles-Studium konnte sich im Spätmittelalter allerdings in unterschiedlicher Weise vollziehen: Teils stand die Beschäftigung mit dem Text des Aristoteles latinus im Mittelpunkt, der in Form der expositio erläutert wurde, teils wurde der Stoff in Gestalt von quaestiones vorgetragen und diskutiert, teils wurde nicht der Aristotelestext selbst, sondern ein gängiger Kommentar zugrundegelegt. In jedem Fall wurde der Student systematisch in die Grundlagen der scholastischen Moralphilosophie eingeführt. Was Luthers Studiengang im einzelnen betrifft, gibt es keine Quellen. Wir wissen nicht einmal, bei welchen Magistern er Vorlesungen, Übungen scribit de anima et illius immortalitate. Ethica Aristotelis aliquid sunt, tamen Officia Ciceronis excellunt ipsa« (WATR 3,451,18–24* [Nr. 3608d]). – »Cicero est multo doctior Aristotele et perspicue sua docet. Philosophiam bene docuit, sed officia, das ist ein köstlich buch! Si ego adolescens essem, dicarem me Ciceroni, sed firmato tamen iudicio in sacris literis« (WATR 4,612,28–30* [Nr. 5012]). 133 Die detaillierte Rekonstruktion von Luthers Studiengang anhand der Statuten und weiterer Quellen bei Scheel 1,157–166.170–173. 134 »ethicorum per octo menses, politicorum per sex menses, yconomicorum per unum mensem« (Statuten der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt von 1412/1449, in: Acten der Erfurter Universität, ed. Weissenborn 134,10 f.).

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

und Disputationen besucht hat. Da sich ein Artes-Student in der Regel einem Magister besonders anschloß und da Luther unter den zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Erfurt lehrenden Magistern zu zweien ein engeres Verhältnis gehabt zu haben scheint, legen sich Jodokus Trutfetter und Bartholomäus Arnoldi von Usingen als philosophische Lehrer Luthers nahe.135 Die Werke beider lassen aber kaum Rückschlüsse auf den moralphilosophischen Unterricht in Erfurt zu. Überhaupt gibt es nur wenige Quellen und Forschungsbeiträge für die Frage nach der in Erfurt gelehrten philosophischen Ethik während Luthers Studienzeit.136 Die Forschung zur Erfurter Universitätsgeschichte hat gezeigt, daß im 15. Jahrhundert für Erfurt die Aristoteleskommentierung des Mitte des 14. Jahrhunderts in Paris lehrenden und der via moderna zuzurechnenden Magisters Johannes Buridanus von großer Bedeutung war.137 Allerdings wurde bislang noch nicht geklärt, inwieweit die Erfurter Moralphilosophie des 15. Jahrhunderts buridanisch geprägt war und ob dieser Einfluß auch für die Zeit um 1500 anzunehmen ist.138 Da gerade seit der Mitte des 15. Jahrhunderts die Aristotelesübersetzungen und -kommentierungen von Autoren wie Johannes Versor, Johannes Argyropoulus oder Faber Stapulensis durch den Druck weite Verbreitung fanden, und zwar auch im mitteldeutschen Raum in unmittelbarer Nähe zu Erfurt und Wittenberg,139 kann für Luthers Aristotelesstudium weder die Verwendung der seit der Mitte des 13. Jahrhunderts eingebürgerten Aristoteles-Übersetzungen von Robert Grosseteste 135 Zu Arnoldi und zu seinen möglichen Wirkungen auf Luther: S. Lalla: secundum viam modernam. Ontologischer Nominalismus bei Bartholomäus Arnoldi von Usingen, 2003. 136 Unterschiedliche Aspekte von Luthers moralphilosophischem Erfurter Studium werden bei Scheel 1,203–221 und R. Schwarz: Luthers Lehre von den drei Ständen und die drei Dimensionen der Ethik (LuJ 45, 1978, 15–34), behandelt. 137 Hier sind vor allem die Arbeiten von Mieczysław Markowski zu nennen, die aufgrund der Handschriften der Bibliotheca Amploniana die Präsenz des Buridanismus an der Erfurter Universität bis in die zweite Hälfte des 15. Jahrhundert erweisen. Zur Bedeutung Buridans im 15. Jahrhundert: B. Michael: Buridans moralphilosophische Schriften, ihre Leser und Benutzer im späten Mittelalter (in: J. Miethke [Hg.]: Das Publikum politischer Theorie im 14. Jahrhundert, 1992, 139–151). Zu Buridans Moralphilosophie: G. Krieger: Der Begriff der praktischen Vernunft nach Johannes Buridanus, 1986; J. Zupko: John Buridan, 2003, 227–270. 138 Daß Luther bei seinen Wittenberger moralphilosophischen Vorlesungen 1508/09 den Kommentar Buridans zur Nikomachischen Ethik benutzte (Th. Dieter: Der junge Luther und Aristoteles, 2001, 225), ist angesichts von dessen weiter Verbreitung plausibel, bleibt aber eine Vermutung. 139 R.-A. Gauthier: Introduction (in: Aristoteles: L’E´thique a` Nicomaque, Bd. 1, 2 1970, hier: 140 f.147–159). An der Universität Leipzig wird Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts anhand der Argyropoulos-Übersetzung und unter Heranziehung scholastischer wie humanistischer Kommentatoren über die Nikomachische Ethik gelesen (aaO 158 f.).

2.3. Artes-Studium

59

und Wilhelm von Moerbeke noch eine bestimmte inhaltliche Prägung einfach vorausgesetzt werden. Dieses methodische Problem legt es nahe, die in Luthers späteren Schriften zu beobachtende Aristotelesrezeption vor dem Hintergrund der philosophischen und theologischen Ethik des hohen und späten Mittelalters zu betrachten. Auf diese Weise entsteht ein Bild zwar nicht von Luthers Erfurter moralphilosophischem Studium im besonderen, jedoch von dessen weiteren geistesgeschichtlichen Zusammenhängen im allgemeinen. Aristoteles ist in Luthers Schriften von Beginn an präsent, und zwar ganz überwiegend in kritischer Abgrenzung.140 Luther kennt die Hauptschriften des lateinischen Corpus Aristotelicum, und das gewiß aus eigener Lektüre während der Studienzeit, sowie einige kleinere Schriften. An Schriften zur praktischen Philosophie werden von ihm vor allem die Nikomachische Ethik und die Politik herangezogen, seltener die Ökonomik und die anderen ethischen Schriften. Die ausdrücklichen Verweise auf Aristoteles und die eindeutigen Zitate und Anspielungen lassen jedoch kaum die für Luther vorauszusetzende umfassende und tiefgehende Beschäftigung mit dem philosophus erkennen. Seine theologische Entwicklung seit der Sentenzenvorlesung 1509/10 hatte ihn schnell und umfassend über Aristoteles hinausgeführt, so daß Kenntnis und Verständnis des Aristoteles nur aus verstreuten Spuren erschlossen werden können.141 Dabei lassen sich der ursprüngliche Aristoteles, seine lateinische Übersetzung, seine hoch- und spätmittelalterliche Interpretation und Luthers Wiedergabe und Verständnis dieses vielgestaltigen »Aristoteles« kaum präzise auseinanderhalten. Was Luther in scharfen Formulierungen kritisiert, ist vielfach eher eine polemische Zuspitzung oder Verzerrung als eine dem mittelalterlichen oder gar dem antiken Aristoteles gerechtwerdende Wiedergabe. Da sich weder aus Luthers späteren Schriften noch aus anderen Quellen ein verläßlicher Eindruck von Luthers Aristoteleskenntnis und -verständnis während der Erfurter Studienzeit gewinnen läßt, aber ein Überblick 140

Die Nachweise sind gesammelt in Registern zu den einzelnen Abteilungen der WA (WAB 15,16; WATR 6,522 f.; WA 63,41–47), allerdings nicht vollständig und nicht immer mit einer genauen Identifizierung. Ein wichtiger, bisher nicht ausreichend identifizierter Beleg für Luthers Kenntnis und Anwendung der Oeconomica findet sich beispielsweise in der Obrigkeitsschrift, wo Luther zwei der ps.-aristotelelischen Oec. (I,6: 1344b35– 1345a5) entnommene Sprichwörter aufgreift (WA 11,275,31–276,1; s.a. WA 10III,384,6 f.* und WAB 9,585,222–227). 141 Daß man dennoch einiges zum Verhältnis Luthers zu Aristoteles sagen kann, zeigt eine systematisch-theologische Arbeit, die Luthers Frühtheologie vor dem Hintergrund der hoch- und spätmittelalterlichen Aristotelesrezeption in Philosophie und Theologie interpretiert: Th. Dieter: Der junge Luther und Aristoteles. Eine historisch-systematische Untersuchung zum Verhältnis von Theologie und Philosophie, 2001.

60

2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

über das, was Luther hier wohl gelernt hat, für die Nachzeichnung der Genese und Entwicklung seiner Ethik wichtig ist, werden im Folgenden die für Luthers Erfurter Studium vorauszusetzenden Inhalte seines moralphilosophischen Studiums wenigstens in allgemeiner Weise skizziert. Dazu bedarf es erstens eines Überblicks über die wichtigsten Inhalte der im Artes-Studium kommentierten moralphilosophischen Aristotelesschriften und zweitens der Darstellung der Integration dieser aristotelischen Inhalte in die hoch- und spätmittelalterliche Philosophie und Theologie. Als Ausgangspunkt der Darstellung der elementaren Inhalte der aristotelischen Ethik dient das naturphilosophische Lehrbuch des Erfurter Magisters Bartholomäus Arnoldi von Usingen. Dieses gibt in seiner 1511 veröffentlichten Fassung in der Einleitung einen Überblick über die philosophischen Teildisziplinen. Arnoldi bestimmt die Ethik als die Lehre von den Tugenden und Lastern sowie als Lehre von der Umsetzung des Urteils der praktischen Vernunft in konkretes Handeln, also als Lehre von der tugendhaften Person und dem tugendhaften Werk: »Ethica est quae tractat de rebus humanis cum studio bene vivendi. Docet enim discernere virtutes a vitijs et facere ea quae conformia sunt dictamini rectae rationis inducit: et contraria declinare: ista enim operantes virtuose et laudabiliter vivimus: cum virtus habentem perficiat et opus eius laudabile reddat«.

Er unterscheidet drei Gebiete der Moralphilosophie: »Et dividitur in tres species, quae sunt monastica, politica et economica«.

Die auf den Einzelmenschen bezogene ethica monastica lehrt anhand der Nikomachischen Ethik die Tugenden und die ihnen entgegenstehenden Laster und zeigt dabei den Zusammenhang von Tugendhabitus und dem der praktischen Vernunft entsprechenden Gewissen im Lebensvollzug auf: »Monastica docet qualiter homo apud se debet virtuose vivere et pura conscientia secundum dictamen rectae rationis. [...] traditur in decem libris ethicorum aristotelis in quibus agitur de undecim virtutibus moralibus cum suis vitijs oppositis etc.«142

Diese knappe, auf die Momente der Tugend und der praktischen Vernunft konzentrierte Charakterisierung der Nikomachischen Ethik des Aristoteles (NE) ist aber nicht ausreichend, um ein auch nur umrißhaftes Bild der aristotelischen Grundlegung der Ethik zu gewinnen. Darum sollen im Folgenden weitere wichtige Gesichtspunkte zusammengestellt werden. Die Nikomachische Ethik143 geht von der Unterscheidung zweier Arten von 142 Bartholomäus Arnoldi: Parvulus philosophie naturalis, 1511, fol. 4r. Auf diesen Text hat erstmals R. Schwarz: Luthers Lehre von den drei Ständen und die drei Dimensionen der Ethik, 21–23, aufmerksam gemacht. 143 Zugrundegelegt sind zum einen die von Wilhelm von Moerbeke überarbeitete lateinische Übersetzung von Robert Grosseteste (ed. Gauthier, Aristoteles Latinus

2.3. Artes-Studium

61

Glückseligkeit aus: felicitas meint zum einen die höherwertige Schau (contemplatio, speculatio), d.h. das selbstzweckhafte Betrachten des Seienden als solchen (EN X,6–9), und zum anderen die vita civilis, d.h. die Betätigung der ethischen Tugend (virtus) zur Realisierung des erstrebten Guts (EN II-VI). Für die vita civilis gilt, daß sich menschliches Handeln im Spannungsfeld von Streben (desiderium, appetitus) einerseits und Glückseligkeit als Strebensziel andererseits abspielt. Das menschliche Streben einerseits und das Erreichen des Ziels andererseits sind vermittelt durch konkrete Einzelakte, die ihrerseits Ergebnis des Zusammenwirkens der den Einzelakten voraus- und zugrundeliegenden ethischen Handlungsvorprägung (virtus als habitus), die durch wiederholte Akte erworben wird,144 mit der in der dianoe¨tischen Tugend der Klugheit (prudentia) sich verwirklichenden praktischen Vernunft (intellectus practicus) sind. Das Streben nach Glückseligkeit erweist sich so als die auf das Individuum bezogene Selbstverwirklichung; der Mensch handelt primär um seiner selbst, nicht um anderer willen. Der Sozialaspekt menschlichen Handelns – der etwa in den Theorieelementen iustitia (EN V) oder amicitia (EN VIII-IX) thematisiert wird – ist demgegenüber sekundär. Da aber der Mensch nicht Gott ist, bedarf er zur Erreichung der Autarkie (autarchia) der Gemeinschaft mit anderen. Im einzelnen vollzieht sich menschliches Handeln nach Aristoteles aufgrund von Impulsen, die von außen oder von innen

XXVI 1–3, Fasc. 4; zur Zuschreibung an Wilhelm von Moerbeke: J. Brams: The Revised Version of Grosseteste’s Translation of the Nicomachean Ethics, Bulletin de philosophie me´die´vale 36, 1994, 45–55) und zum anderen der 1271/72 entstandene, maßstabsetzende Kommentar des Thomas von Aquin (Sententia libri ethicorum, in: Opera omnia iussu Leonis XIII p. m. edita, Bd. 47I u. 47II, 1969; dazu: J.-P. Torrell: Initiation a` Saint Thomas d’Aquin. Sa personne et son œuvre, 22002, 331–334). Da der Kommentar des Thomas und mit ihm der Text des Aristoteles Latinus durch den Index der MariettiAusgabe (ed. Spiazzi, 1949) sehr gut erschlossen ist, werden nur vereinzelte Nachweise gegeben. Herangezogen wurden auch die gängigen Hilfsmittel zum Studium des griechischen Originals: O. Höffe (Hg.): Aristoteles-Lexikon, 2005; U. Wolf: Aristoteles’ ›Nikomachische Ethik‹, 22007. Die von der NE vielfach vorausgesetzten und in ihr nicht im einzelnen explizierten Grundgedanken der aristotelischen Moralphilosophie, die in die folgende Darstellung selbstverständlich mit einfließen, wurden bereits in den mittelalterlichen Kommentaren anhand des Corpus Aristotelicum ergänzt und gehören darum selbstverständlich zur Kommentierung der NE hinzu. – Luther hat mit großer Wahrscheinlichkeit während seines Theologiestudiums die Zusammenfassung der aristotelischen Moralphilosophie in Gabriel Biels Collectorium studiert (Coll. III, q. 1, a. 1, not. 1–4 [A-Q]), die als repräsentativ für das hoch- und spätscholastische Verständnis der aristotelischen Seelenlehre und Ethik gelten kann. Die Grundgedanken der philosophischen Ethik sind zudem überall in Biels Collectorium präsent, vor allem im Zusammenhang der Gnaden- und der Tugendlehre (s. dazu unten 2.5.). 144 »ex similibus operationibus habitus fiunt« (EN II,1: 1103b21 f.); »Bene igitur dicitur quoniam ex iusta operari iustus fit et ex temperata temperatus« (EN II,3: 1105b9 f.); Thomas von Aquin: Sententia libri ethicorum zu EN II,1+2.

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

auf den Menschen wirken, etwa aufgrund der Einwirkung eines Affekts (affectus), der das Bestreben zur Beibehaltung des Angenehmen und zur Vermeidung des Unangenehmen auslöst. Im Strebevermögen, das das rationale Moment der voluntas und die irrationalen Momente des concupiscibile und des irascibile umfaßt, entsteht eine Strebung in Richtung auf das Erstrebte, auf die felicitas. Die praktische Vernunft beurteilt die Realisierbarkeit und die Mittel zur Realisierung der Strebung. Das geschieht, indem zum einen das consilium als analytisches Verfahren der Feststellung der zur Erreichung des Ziels tauglichen Mittel die Handlungsoptionen i.S. einer eher technischen Rationalität bewertet; und zum anderen die prudentia als ethisch, d.h. im Rahmen der Tugenddisposition, verantwortete Bestimmung des konkreten Handlungsziels sie i.S. der moralisch-praktischen Rationalität bewertet. Das Ergebnis der Beurteilung durch die praktische Vernunft ist die handlungsleitende recta ratio (οÆ ρϑοÁ ς λο γος) als situationsorientierte Festlegung des ethisch idealen Mittleren (medium). Die recta ratio wirkt nun auf das Strebevermögen zurück, das sein Streben entsprechend der praktischen Vernunft konkretisiert. Die ethische Einzelhandlung realisiert sich im Beziehungsgeflecht von Streben, Tugendhabitus und praktischer Vernunft in zwei Schritten: erstens in der Handlungsentscheidung der electio als eines appetitus consiliativus, in dem sich voluntatives und kognitives Element zu einer reflektierten Wahl und damit zur Handlungsursache verbinden. Die vortreffliche Handlungsentscheidung setzt voraus, daß das kognitive Moment der Vernunft wahr und das voluntative Moment des Strebens richtig ist.145 Zweitens realisiert sich die ethische Einzelhandlung in der tatsächlichen ethischen Handlung (actus, opus, operatio), die mit Lust (delectatio) verbunden ist (EN VII,12–15; X,1–5). Die tatsächliche Handlung ist die auf die jeweilige Person und Umstände bezogene Konkretion und Artikulation der felicitas. Der Mensch ist somit im Zusammenspiel mit den äußeren handlungsbeeinflussenden Faktoren Kausal- und Wirkursache (principium operationum) seiner willentlich-reflektierten Selbstbewegung (motus) im Handeln. Während die Nikomachische Ethik primär vom einzelnen Menschen handelt, fragen die Politica und Oeconomica nach dem menschlichen Zusammenleben. Nach Bartholomäus Arnoldi beschäftigt sich die auf das Gemeinwesen bezogene ethica politica mit der Gemeinschaftsdimension der Tugend: 145 »quia igitur ad electionem concurrit et ratio et appetitus, si electio debeat esse bona, quod requiritur ad rationem virtutis moralis, oportet quod et ratio sit vera et appetitus sit rectus, ita scilicet quod eadem quae ratio dicit, id est affirmat, appetitus prosequatur« (Thomas von Aquin: Sententia libri ethicorum zu NE 1139a22, ed. Leonina, Bd. 47II,336,83–337,88).

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»Politica docet quomodo homo in communitate ciuili erga suos concives et municipes debet virtuose vivere: quia docet quomodo res publica ciuium debet virtuose administrari et non vitiose. Regitur autem communitas ciuilis bene tribus modis. Primo ab vno bono principe qui commune bonum promouet, cuius principatus dicitur regnum. Et ei opponitur tyrannis in qua unus praesidet priuatum bonum inquirens et publicum supplantans. Secundo a paucis bonis etc., quorum politica dicitur aristocratia ut senatus alicuius ciuitatis. Cui opponitur oligartia [sic] vbi pauci sed mali praesident. Tertio a pluribus bonis idest a tota multitudine communitatis quae paret legibus iustis et bonis: cuius gubernatio dicitur tymocratia. Cui opponitur democratia in qua praesidet sibi ipsi multitudo nequam et vbi quaerit vnusquisque quae sua sunt et negligit commune bonum. Et dicitur politica a polis id est ciuitas. Inde politia idest ciuilitas. Et traditur in octo libris politicorum aristotelis«.146

Diese Zusammenfassung des Lehrstoffs der Vorlesung über die aristotelische Politica 147 legt den Schwerpunkt auf das eine zentrale Thema, das in unterschiedlichen Zusammenhängen und unterschiedlicher Weise in Pol. II-VIII behandelt wird: das Verhalten der Glieder des Gemeinwesens untereinander und die Verfassung und Regierung des Gemeinwesens. Es ist für die mittelalterliche politische Theorie von erheblicher Bedeutung, daß Aristoteles sie zur durchaus kritischen Analyse der politischen Gegebenheiten anleitet und ihr zugleich durch den Hinweis auf die Vielfalt von Verfassungsformen und die Verbindung von Elementen unterschiedlicher Herkunft die Bestätigung des Vorhandenen ermöglicht. Daneben ist aber auch das andere zentrale Thema der aristotelischen Politica zu nennen, die in Pol. I behandelte politische Anthropologie. Hier stellt Aristoteles die Entstehung der Polis als Gemeinschaft aus den kleineren Einheiten dar, die letztlich in der Natur des Menschen als eines »animal civile« gründen (I,2). An die Bestimmung der Hausgemeinschaft als der grundlegenden Größe menschlichen Zusammenlebens schließt sich die für das Mittelalter und die frühe Neuzeit wichtige Wirtschaftstheorie (I,3–13) mit ihrer Kritik an Zinsgeschäften und am Wucherwesen (I,10) an. Die Gemeinschaftsdimension der Tugend ist auch Thema der ethica oeconomica, bei der es um den Nahbereich gemeinschaftsbezogenen Tugendhandelns in Familienund Hausgemeinschaft geht:

146

Bartholomäus Arnoldi: Parvulus philosophie naturalis, 1511, fol. 4r. Der lateinische Text der Politica liegt bislang nur in geringen Teilen i.R. des Aristoteles Latinus vor (Bd. XXIX, Fasc. 1, mit der Erstfassung der Übersetzung Wilhelm von Moerbekes von Pol. I,1–II,11), weshalb die von Franz Susemihl herausgegebene griechisch-lateinische Ausgabe weiterhin nützlich ist. Zur politischen Ethik im Mittelalter: Ch. Flüeler: Rezeption und Interpretation der Aristotelischen Politica im späten Mittelalter, 1992; J. Miethke: Politiktheorie im Mittelalter. Von Thomas von Aquin bis Wilhelm von Ockham, 2008. 147

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»Economica docet quomodo homo domum suam ac familiam debet virtuose regere. idest vxorem: liberos: seruos et ancillas. Et dicitur ab economos quod valet dispensator ac gubernator domus: et traditur in duobus libris oeconomicorum aristotelis«.148

Die beiden im Mittelalter bekannten Bücher der dem Aristoteles zugeschriebenen Oeconomica 149 bieten keine grundsätzlich neuen Gesichtspunkte über Pol. I hinaus, sondern enthalten eine mehr paränetische als analytische Darstellung des menschlichen Zusammenlebens in der agrarischen Hausgemeinschaft (Oec. I) und eine Ehelehre (Oec. III). Für das Verständnis der hoch- und spätmittelalterlichen Aristotelesrezeption ist nun aber entscheidend, daß die Schriften des Aristoteles zwar als selbständige literarische Einheiten und durchaus mit dem Bewußtsein der Unterschiede zwischen der Abfassungszeit und dem jeweiligen Heute rezipiert und kommentiert wurden, daß es aber letztlich keinen isolierten, sondern nur einen in den philosophisch-theologischen Traditions- und Systemrahmen integrierten Aristoteles gab, daß also die Grundgedanken der aristotelischen Ethik in das theologisch-philosophische Denken eingegliedert wurden. Allerdings war diese hochmittelalterliche Aristotelesrezeption keine Selbstverständlichkeit, und sie brachte erhebliche Eingriffe hinsichtlich der Begrifflichkeit und Inhalte mit sich. Daß die aristotelische Moralphilosophie und die christliche Theologie nicht im Widerspruch zueinander standen, sondern vielmehr Elemente einer harmonischen Synthese von altkirchlich-mittelalterlicher Theologie und antik-heidnischer Philosophie bildeten, war das Ergebnis der letzten Stufe der mittelalterlichen Aristotelesrezeption durch die Hochscholastik im 13. Jahrhundert. Obwohl es bis ins 13. Jahrhundert keine selbständige theologische oder gar philosophische Ethik gegeben hatte, war das menschliche Handeln und insbesondere die christliche Praxis eines der zentralen Themen der kirchlichen Tradition gewesen. Weniger in systematischen Darstellungen als vielmehr in der Frömmigkeitspraxis, der Bußtheologie, der Ekklesiologie, dem Kirchenrecht oder der Schriftauslegung gewidmeten Werken entwikkelten die kirchlichen Schriftsteller des ersten christlichen Jahrtausends einen großen Reichtum ethischen Denkens. Dessen Quellen waren sowohl die biblischen Texte und die kirchliche Tradition als auch die heidnische Philosophie von der griechischen Klassik bis zur Spätantike. Als besonders einflußreich erwiesen sich dabei auf Dauer Cicero und die lateinische Stoa sowie der Mittel- und Neuplatonismus. Die Ethik des Aristoteles dagegen 148

Bartholomäus Arnoldi: Parvulus philosophie naturalis, 1511, fol. 4r. Auch für die Oeconomica steht die Edition innerhalb des Aristoteles Latinus noch aus, so daß vorläufig noch auf die Ausgabe von B. A. van Groningen und Andre´ Wartelle zu verweisen ist. 149

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trat erst im 12. Jahrhundert wieder allmählich ins Bewußtsein der westlichen Christenheit. Sie verband sich im 13. Jahrhundert mit der theologisch-philosophischen Tradition ethischen Denkens und führte zu dessen umfassender Systematisierung im Zeichen der aristotelischen Wissenschaftstheorie und damit zu einer Verselbständigung zum einen der philosophischen Ethik von der Theologie sowie zum anderen der Moraltheologie innerhalb der hochmittelalterlichen Systeme. So groß die Bedeutung des Aristoteles für die Hochscholastik war, so wenig gab man doch das theologisch bereits Erreichte preis. In der biblisch-aristotelisch grundierten Synthese blieben zentrale Momente stoischer, neuplatonischer, augustinischer und frühscholastischer Herkunft erhalten; freilich in einer Form, die das systematische Gesamtgefüge nicht aufsprengte und nur durch eine traditionsgeschichtliche Analyse erkennbar ist. Die hochscholastische Moralphilosophie und -theologie bezog sich ausdrücklich auf Aristoteles und beanspruchte, eine legitime Verbindung von philosophischen und theologischen Elementen zu bieten. Dabei unterlag ihre Aristotelesrezeption erheblichen, teils bewußten, teils unbewußten Veränderungen.150 Zu den bewußten Veränderungen zählten etwa die Ausrichtung des menschlichen Handelns auf die nicht mehr primär innerweltliche, sondern eschatologische Glückseligkeit der Gottesschau sowie die Erweiterung der Tugendlehre um die gottgegebenen habitus der theologischen Tugenden. Beides hatte erhebliche Auswirkungen auf den Gesamtzusammenhang der ethischen Reflexion, wahrte aber die Grundstruktur der aristotelischen Konzeption. Ebenfalls erhebliche Auswirkungen auf die ethische Gesamtkonzeption hatte die Zugrundelegung der von der Frühscholastik vor der Begegnung mit Aristoteles entwickelten Grundgedanken, die sich mit der genuin aristotelischen Konzeption schwerlich vereinbaren lassen. Die Frühscholastik hatte in den Bahnen der voluntaristischen Anthropologie des Augustinus151 das im Zusammenhang der Bußpraxis und Bußtheologie des Frühmittelalters gewachsene Interesse an der Innendimension menschlichen Handelns zum Ausgangspunkt eines neuartigen ethischen Denkens gemacht.152 Nach Ansätzen bei An150 Zur mittelalterlichen Aristotelesrezeption: B. Dod: Aristoteles latinus (in: N. Kretzmann u.a. [Hgg.]: The Cambridge History of Later Medieval Philosophy, 1982, 45–79); G. Wieland: The Reception and Interpretation of Aristotle’s Ethics (aaO 659– 672); R.-A. Gauthier: Introduction (in: Aristoteles: L’E´thique a` Nicomaque. Introduction, Traduction et Commentaire, Bd. 1, 21970). 151 R. Seeberg: Dogmengeschichte, Bd. 2, 31923, 417–420; A. Dihle: Die Vorstellung vom Willen in der Antike, 1985, 138–149; Ch. Horn: Augustinus und die Entstehung des philosophischen Willensbegriffs (ZPhF 50, 1996, 113–132). 152 Zur Moralphilosophie und Moraltheologie im 12. Jahrhundert: S. Ernst: Ethische Vernunft und christlicher Glaube. Der Prozeß ihrer wechselseitigen Freisetzung in der

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selm von Canterbury im 11. Jahrhundert war es vor allem Peter Abaelard im 12. Jahrhundert, der die Frage nach der sittlichen Qualifizierbarkeit menschlichen Handelns und seiner konkreten Rechtheit stellte.153 Seine Antwort war, daß ausschließlich die Intention einer Handlung, die sich am eigenen Gewissen des Handelnden bemißt, über die sittliche Qualifikation der Handlung entscheidet, nicht die Handlung selbst oder ihre Folgen. Maßstab des Gewissens ist für Abaelard die Übereinstimmung des menschlichen mit dem göttlichen Willen, die durch die Vernunft aufweisbar ist, weshalb das Gewissen nicht nur als Bewertungsinstanz von Handlungen und Intentionen, sondern auch als Forderungsinstanz für die vernünftige Begründung von Handlungen fungiert. Diese Überlegungen Abaelards wurden zwar angesichts ihrer teilweise problematischen Implikationen und Konsequenzen im 12. Jahrhundert kritisch rezipiert, sie wurden jedoch zum Kristallisationspunkt einer ethischen Theorie, die den Fokus vom äußerlichen Handeln des Menschen und den biblischen und kirchlichen Verboten und Geboten hin zur Innendimension menschlichen Handelns, hin zu Intention, Gewissen und Wille verschob. Zugleich steht Abaelard für die Renaissance des 12. Jahrhunderts, in deren Zusammenhang die antik-heidnischen Autoren neu rezipiert wurden. So gewann vor allem die Tugendethik der lateinischen Stoa und Ciceros an Bedeutung. Sie konnte sich allerdings noch nicht harmonisch mit der traditionsreichen und für die kirchliche Predigt- und Bußpraxis bedeutsamen christlichen Tugend- und Lasterlehre verbinden. Die konkrete Ausgestaltung der frühscholastischen Ethik war vielfältig und reichte von Abaelards rationalsäkularem Ansatz bis hin zum heilsgeschichtlich-augustinischen Ansatz bei Hugo von St. Viktor und Petrus Lombardus. Die in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts einsetzende Beschäftigung mit den ethischen Schriften des Aristoteles war ein erheblicher Schritt über die Frühscholastik hinaus. Sie verband den wiederentdeckten Aristoteles allerdings mit unterschiedlichen Traditionselementen stoisch-neuplatonisch-augustinischer und frühscholastischer Herkunft.154 Repräsentativ für Zeit von Anselm von Canterbury bis Wilhelm von Auxerre, 1996; M. Colish: Peter Lombard, Bd. 2, 1994, 471–516. 153 Abaelards Ethik hat in der neueren philosophie- und theologiegeschichtlichen Forschung wieder verstärktes Interesse erfahren. Einen Überblick über den jeweiligen Forschungsstand geben: M. Enders: Abälards »intentionalistische« Ethik (PhJ 106, 1999, 135–158) und T. Georges: Quam nos divinitatem nominare consuevimus. Die theologische Ethik des Peter Abaelard, 2005. 154 Zur Aristotelesrezeption im 13. Jahrhundert: G. Wieland: Ethica – Scientia practica. Die Anfänge der philosophischen Ethik im 13. Jahrhundert, 1981. – Zu Thomas von Aquin: R. Seeberg: Dogmengeschichte, Bd. 3, 41930, §§ 65.67; E. Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, 1912, 252–287.286–358; M. Wittmann:

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die hochmittelalterliche Synthese ist Thomas von Aquin und vor allem dessen von 1266 bis 1273 entstandene Summa theologiae.155 Während Thomas in seinem Kommentar zur Nikomachischen Ethik (1271–1273) Aristoteles ohne Rücksicht auf die Einbindung in den theologischen Rahmen auslegt, verbindet er die aristotelelische Ethik in der Summa theologiae mit neuplatonisch-augustinischen Elementen, indem er Welt und Mensch als aus Gott hervorgegangene und auf Gott hin orientierte Schöpfung versteht. Innerhalb dieses spekulativen Rahmens kommt nun der Aristotelismus zum Zuge, der dem zweiten Teil der Summa das Gepräge gibt. Thomas macht hier nämlich den Menschen in seiner psychisch-ethischen Verfaßtheit zum Thema und analysiert in bisher ungekannter Ausführlichkeit und Tiefe das menschliche Handeln an sich und in seiner Ausrichtung auf Gott. Dabei sind die theologische und die philosophische, vor allem an Aristoteles orientierte Sicht des Menschen in eigentümlicher Weise miteinander verschränkt und zu einem spannungsreich bleibenden Ausgleich gebracht. Der Prolog zum ersten Unterteil des zweiten Teils der Summa formuliert den Ausgangspunkt für die Behandlung des wichtigsten Geschöpfes in seiner Hinordnung auf Gott so: »Quia, sicut Damascenus dicit, homo factus ad imaginem Dei dicitur, secundum quod per imaginem significatur intellectuale et arbitrio liberum et per se potestativum; postquam praedictum est de exemplari, scilicet de Deo, et de his quae processerunt ex divina potestate secundum eius voluntatem, restat ut consideremus de eius imagine, idest de homine, secundum quod et ipse est suorum operum principium, quasi liberum arbitrium habens et suorum operum potestatem«.

Thema des zweiten Teils ist nicht der Mensch überhaupt – die Anthropologie einschließlich der Lehre von der Gottebenbildlichkeit findet sich im ersten Teil –, sondern der Mensch in seinem auf Gott hingeordneten Handeln. Die Grundlegung der handlungstheoretischen Analyse des Menschen setzt mit der Bestimmung des Handlungsziels ein. Dieses aristotelische Strukturmoment wird allerdings – und dieses eigentümliche Ineinander von Nähe und Distanz zum philosophus durchzieht den ganzen zweiten Teil der Summa – in neuplatonisch-augustinischer Tradition als Die Ethik des hl. Thomas von Aquin. In ihrem systematischen Aufbau dargestellt und in ihren geschichtlichen, besonders in den antiken Quellen erforscht, 1933 (immer noch wichtig wegen der traditionsgeschichtlichen Analyse der von Thomas verarbeiteten philosophisch-theologischen Konzeptionen); W. Kluxen: Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, 31998. 155 Hier und im Folgenden wird immer wieder Thomas von Aquin herangezogen, um für das der in sich vielfältigen hoch- und spätmittelalterliche Kirche und Theologie Gemeinsame darzustellen, das auch für Luther vorauszusetzen ist. Thomas eignet sich dafür besser als andere Autoren, weil seine Summa theologiae eine zugleich umfassende, systematische und leicht zugängliche Reflexionsgestalt des mittelalterlichen Christentums bietet.

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

die intellektuell-voluntative Teilhabe an der jenseitigen beatitudo durch Gottesschau und Gottesliebe bestimmt. Die darauf folgende Analyse des menschlichen Handelns in der 1a 2ae nimmt die oben geschilderten Grundelemente der aristotelischen Ethik auf und verbindet sie mit dem augustinisch-frühscholastischen Erbe. Auch für Thomas ist menschliches Handeln das sich in einzelnen Akten verwirklichende Streben nach der Glückseligkeit, das sich im Miteinander von tugendhafter Handlungsdisposition einerseits und praktischer Vernunft andererseits entfaltet. Allerdings ist das Verständnis aller dieser Elemente gegenüber Aristoteles verändert und erweitert. Von der Neufassung des Handlungsziels war bereits die Rede. Aber auch das menschliche Streben als Grundlage des Handelns wird bei Thomas in anderer Weise verstanden: er führt nämlich neben dem appetitus die augustinisch verstandene voluntas als die ethisch entscheidende anthropologische Größe ein und macht damit – weit über Aristoteles hinausgreifend – die innerliche Haltung des Menschen und sein ethisches Selbstverhältnis zum Thema. Die Tugendlehre modifiziert Thomas ebenfalls: Zum einen verbindet er das aristotelische Tugendschema, das von der Zweiteilung in intellektuelle und moralische Tugenden ausgeht, mit dem platonisch-christlichen, das die vier Kardinal- und die drei theologischen Tugenden nebeneinanderstellt; zum anderen erweitert er das Verständnis der Tugend als habitueller Handlungsdisposition durch den theologischen Gedanken des göttlichen donum und der gnadenhaft-sakramentalen Eingießung der theologischen Tugenden. Und auch die aristotelische Lehre von der praktischen Vernunft als der handlungsleitenden Klugheit nimmt Thomas zwar auf, modifiziert sie aber erheblich, indem er das dictamen rectae rationis mit der christlichen Gewissensvorstellung verbindet, hierbei conscientia und synderesis unterscheidet und das Gewissen und die Vernunftentscheidung an das göttliche Gesetz in seiner Stufung von lex aeterna, lex naturalis und lex positiva sowie in seiner Erscheinungsform als lex scripta zurückbindet. Dabei ist die aristotelische Betonung der praktischen Vernunft durch ihre mittelalterliche Rückbindung an den Gotteswillen und dessen Gewahrwerden in Gewissen und Gesetz nicht relativiert, sondern rückt geradezu ins Zentrum ethischer Reflexion und existentieller Praxis. Das zeigen übrigens auch Theorie und Praxis der Buße im Hoch- und Spätmittelalter. Weil der Mensch innerhalb der von Gott gesetzten Ordnung frei und für sein willentliches Handeln verantwortlich ist, obliegt es ihm, mit seiner Freiheit und den gegebenen Möglichkeiten ethisch verantwortlich umzugehen – und das heißt in Anwendung der ihm eignenden praktischen Vernunft. Dieses vernunftgemäße und tugendhafte Handeln des Menschen hat soteriologische Qualität, insofern es hier zur »Integration der Selbstbewegung des Menschen in das Heilsgeschehen«

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kommt und die beatitudo zwar nicht in sittlichen Akten, wohl aber kraft sittlicher Akte unter Voraussetzung der habitualen Gnade und der Unverfügbarkeit der eschatologischen Seligkeit gewonnen wird. »Die rechtfertigende Gnade ist die heiligmachende Gnade, die ohne den Seinsmodus der Werke nicht zu denken ist«: »Der Mensch erwirkt sein Heil nicht kraft der Sittlichkeit bzw. der Praxis, sondern vermittels der Sittlichkeit bzw. sittlichen Praxis«.156 Die Summa theologiae lehnt sich bei der Analyse menschlichen Handelns einerseits eng an Aristoteles an und nimmt zahlreiche aristotelische Theorieelemente und Einzelgedanken auf, bindet aber andererseits diese aristotelische Handlungstheorie in einen theologischen Rahmen ein und erweitert und modifiziert sie durch spätantik-mittelalterliche Theorieelemente. Letzteres wird besonders an den Traktaten der 1a 2ae deutlich, die den einer philosophischen Handlungstheorie entsprechenden Duktus der Darstellung jäh zu unterbrechen scheinen: Neben der einleitenden beatitudo-Lehre (q. 1–5) sind das die Sünden- (q. 71–89) und die Gnadenlehre (q. 109–114). So wichtig Aristoteles für die hochmittelalterliche theologische Ethik ist, so wenig kann diese davon absehen, daß die Situation des vorfindlichen Menschen wesentlich durch die Sünde geprägt und damit für eine rein philosophische Ethik nicht adäquat zu erfassen ist. Ja es erweist sich umgekehrt, daß sich die isolierte, auf Aristoteles zurückgreifende Betrachtung des menschlichen Handelns nur einer methodischen Abstraktion verdankt, die im Dienste einer theologischen Ethik steht – wie sie die 2a 2ae der Summa theologiae in der Darstellung der drei theologischen Tugenden, der vier Kardinaltugenden sowie der Gnadengaben, Lebensweisen und Stände entfaltet. Die theologische Aristotelesrezeption des Hochmittelalters ist nicht zweckfrei und zielt auch nicht auf eine philosophisch konkurrenzfähige theologische Handlungstheorie, sondern steht im Dienst der Reflexion der vita christiana. Thomas’ Darstellung des natürlich-übernatürlichen Ordnungsgefüges und des Vollzugs des menschlichen Handelns in ihm erweist zugleich die Einbezogenheit und Selbständigkeit der christlichen Existenz innerhalb der von Gott herkommenden und wieder zu ihm hinführenden Bewegung allen geschöpflichen Seins. Das Streben nach der christlichen Vollkommenheit in der Gottesliebe und Gottesschau setzt sowohl die Gnade als auch die menschliche Freiheit voraus. Die tugendethische Analyse mit Hilfe aristotelischer Kategorien vermag einsichtig zu machen, weshalb und in welcher Weise göttliches und menschliches Handeln zum Erreichen des Ziels zusammenwirken. Doch 156 K.-H. zur Mühlen: Reformatorische Vernunftkritik und neuzeitliches Denken, 1980, 17 f.

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

zeigt bereits eine Analyse der Theologie des Thomas, daß diese Verbindung von umgreifendem göttlichem Handeln und darin freigesetztem menschlichem Handeln Spannungen und Brüche aufweist. Diese sind teils dem heterogenen traditionsgeschichtlichen Hintergrund geschuldet, teils müssen sie aber dem thomasischen Denken selbst zugeschrieben werden. Abschließenden und normativen Charakter konnte die thomasische Synthese von christlicher Theologie und aristotelischer Philosophie darum nicht gewinnen. Darauf weisen schon andere Theologen der Hoch- und Spätscholastik hin, die trotz ihrer Thomas vergleichbaren umfassenden Aristotelesrezeption im einzelnen eine andere Verbindung theologischer und philosophischer Elemente suchten. Mit Blick auf Luther ist hier vor allem Wilhelm von Ockham vorzustellen. Dabei interessiert nicht dessen ethische Konzeption als solche, sondern das gegenüber der Hochscholastik Neue.157 Auch Ockham eignet sich die aristotelische Ethik gründlich an und nutzt sie, um das scholastische Interesse an der vertieften Erfassung und selbständigen Würdigung menschlichen Handelns zu befriedigen; aber er tut das auf andere Weise als Thomas. Während der Dominikaner innerhalb des umgreifenden metaphysischen Ordo göttliches und menschliches Handeln einander harmonisch zuordnet und Aristoteles zum Zweck des wissenschaftlichen Verständnisses des menschlichen Handelns in seiner Hinordnung auf Gott rezipiert, kann Ockhams Gotteserfahrung und Theologie nicht mehr vom hochmittelalterlichen Gedanken eines Gott und Mensch umgreifenden metaphysisch-ethischen Ordnungsgefüges ausgehen. Für Ockham ist vielmehr das Gegenüber von göttlicher und menschlicher Freiheit zentral. Die gegebene Welt- und Heilsordnung sind Gottes kontingente Setzung kraft seiner potentia ordinata, verpflichten Gott aber nicht. Innerhalb dieser kontingenten Ordnung findet sich der Mensch als frei und auf seine recta ratio verwiesen vor. Zur Analyse der Freiheit des Menschen verwendet Ockham nun die aristotelische Ethik. Die unterschiedliche theologische Einbindung der im einzelnen von der hochscholastischen Aristotelesinterpretation der scholastischen Theologen kaum abweichenden Aristotelesrezeption Ockhams hat erhebliche Folgen 157 Aus der umfangreichen Literatur zu Ockham ist neben den Arbeiten von Sigrid Müller zu Ockhams philosophischer Ethik nach wie vor auf die Darstellung von Ockhams Ethik und Gnadenlehre von J. Miethke (Ockhams Weg zur Sozialphilosophie, 1969, 300–347) und K. Bannach (Die Lehre von der doppelten Macht Gottes bei Wilhelm von Ockham. Problemgeschichtliche Voraussetzungen und Bedeutung, 1975, 369– 413) zu verweisen. Auch ältere Arbeiten sind von Wert, so etwa R. Seeberg (Dogmengeschichte, Bd. 3, 41930, § 68.9, § 71.12–23, § 72.2–4.10.11.14) und F. Copleston (A History of Philosophy, Bd. 3: Late Medieval and Renaissance Philosophy, 1953, Kap. 7).

2.3. Artes-Studium

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für das Aristotelesverständnis. Denn das mit Hilfe des Aristoteles als Zusammenspiel von Tugendhabitus und praktischer Vernunft verstandene menschliche Handeln gewinnt bei Thomas aufgrund des Theorieelements des gnadenhaft eingegossenen Habitus soteriologische Bedeutung. Ockham dagegen reduziert im Interesse der Wahrung der göttlichen und menschlichen Freiheit – und das heißt im Interesse der Vermeidung eines nach Ockhams Meinung bei Thomas drohenden Pelagianismus – die gnadenhafte Einflußnahme Gottes auf den Menschen auf den influxus generalis. Damit stellt er die soteriologische Relevanz menschlichen Handelns ganz der freien göttlichen acceptatio anheim. Während mit der Betonung von Gottes Freiheit und der entsprechenden menschlichen Freiheit für Ockham die Nötigung zu einer theologischen Anpassung der aristotelischen Ethik entfällt, enthält der Gedanke der göttlichen Freiheit ein zweites, scheinbar im Widerspruch zum ersten stehendes Moment: Gottes Freiheit setzt den Menschen nicht nur in Freiheit, sondern sie verpflichtet ihn auch auf Gottes gesetzte Ordnung. Dieses spannungsreiche – von manchen Interpreten sogar als widersprüchlich charakterisierte – Nebeneinander von Freiheit und Gehorsam unterstellt das menschliche Handeln zugleich der im Rahmen der kontingenten Weltordnung geltenden philosophischen Ethik und dem aller Weltordnung in Freiheit überlegenen Gotteswillen. Zwar führt das in der konkreten Durchführung bei Ockham nicht dazu, daß die beiden Momente gänzlich auseinanderfallen. Aber dem autonom und selbständig gedachten innerweltlichen Bereich wohnt eine nur relative Vernünftigkeit inne, die nicht immer mit dem von Gott Gebotenen in Übereinstimmung stehen muß. Wie ein systematischer Überblick über die in Luthers Artes-Studium vermittelte aristotelische Moralphilosophie aussehen konnte, zeigt die Anfang des 16. Jahrhunderts in mehreren Auflagen verbreitete Margarita Philosophica des an der Universität Freiburg lehrenden Kartäusers Gregor Reisch (um 1470–1525).158 Dieses weitverbreitete Lehrbuch deckt den gesamten Stoff des scholastischen Artes-Studiums ab. Im 12. Buch handelt es im Anschluß an die im 11. Buch entfaltene Lehre von der Seele und dem Eschaton – wo es um den für den Frömmigkeit wie für die Ethik zentralen endzeitlichen Horizont menschlicher Existenz geht – »De principijs phi158

Im folgenden ist die Ausgabe von 1517 zugrundegelegt. Die Margarita Philosophica ist um 1496 abgeschlossen und wird 1503 erstmals gedruckt (weitere Drucke: 1504, 1512, 1515, 1517, 1535, 1583). Die Ausgabe von 1517 bezeichnet sich selbst auf dem Titelblatt als vom Autor erweiterte und überarbeitete vierte Ausgabe. Zu Reisch: G. Münzel: Der Kartäuserprior Gregor Reisch und die Margarita philosophica (Zs. d. Freiburger Geschichtsvereins 48, 1938, 1–87); Verfasserlexikon Deutscher Humanismus 1480–1520 2, 2013, 548–566 (Chr. Fasbender, F. J. Worstbrock).

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

losophie Moralis«. Ähnlich wie Arnoldi untergliedert auch Reisch die Ethik. Allerdings stellt er den drei moralphilosophischen Teildisziplinen der politica, economica und monastica die grundlegende ethica voran, die die von Arnoldi der ethica monastica zugeordnete handlungstheoretische Grundlagenreflexion umfaßt: »Ethica de virtutibus: vitijs et felicitate hominis disserit. Politica regimen multitudinis regni vel ciuilitatis. Economica vnius familie aut domus. Monastica priuati hominis gubernationem edocet« (c. 2).

Obwohl Reisch die Moralphilosophie in dieser Weise unterteilt, folgt seine Darstellung nicht dieser Sachgliederung, sondern der aristotelischen Unterscheidung von intellektuellen und moralischen Tugenden. Sie behandelt zum einen die virtutes intellectuales (c. 9–20), d.h. die praktische Vernunft, und zum anderen die virtutes morales (c. 21–48), die Kardinaltugenden, denen – ohne scharfe Unterscheidung von philosophischer und theologischer Ethik – die virtutes theologicales (c. 49–56) beigegeben sind. Traditionsgeschichtlich zeigt Reisch die typische Verbindung einer aristotelischen Moralphilosophie mit stoischen, neuplatonischen, und biblischchristlichen Elementen, die den tradierten Stoff ganz als Tugendethik und die menschliche Existenz unter der Leitvorstellung des tugendhaft-vernunftgeleiteten Lebens darstellt. Der Mensch steht vor dem kommenden doppelten Gericht (lib. 11, c. 31–49) und damit vor der gegenwärtigen Wahl zwischen dem schmalen Weg zur Herrlichkeit und dem breiten Weg zum Verderben: Zur Herrlichkeit führen die Tugenden, zum Verderben die Laster. Über Tugenden und Laster belehrt die Philosophie, die den Zugang zur Erkenntnis der res divinae vorbereitet (lib. 12, c. 1). So oder so ähnlich hat Luther wohl in seinem Artes-Studium die aristotelische Moralphilosophie als Rahmentheorie für das Verständnis der vita christiana kennengelernt und sie dann als Magister selbst gelehrt. Es gab keine scharfe Unterscheidung zwischen philosophischer und theologischer Ethik und kaum ein Bewußtsein für den disparaten traditionsgeschichtlichen Hintergrund der in der hoch- und spätmittelalterlichen Synthese verbundenen antik-heidnischen, biblischen, altkirchlichen und mittelalterlichen Elemente. Stattdessen ließen sich die Kernelemente der aristotelischen Theorie christlich rezipieren: Auch für die vita christiana hatte die praktische Vernunft als die Vermittlung zwischen der vorfindlichen Weltwirklichkeit mit ihren Handlungsanforderungen und besonderen Handlungsbedingungen einerseits und der im Gewissen präsenten Forderung des natürlichen und göttlichen Rechts andererseits eine Schlüsselbedeutung. Und auch für die vita christiana diente die Tugendlehre der materialen Entfaltung, indem sie alle wichtigen Teilmomente menschlichen Handelns integrierte und damit der Inbegriff und organisierende Zusam-

2.4. Erfurter Klosterzeit

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menhang der ethischen Reflexion und zugleich die Brücke zur lebensweltlichen Praxis wurde. Das akademische Studium der aristotelischen Ethik zeigte Luther, daß der Mensch zum einen die durch Glückseligkeitsstreben, Gewissen und Gesetz gegebene innere Disposition und Verpflichtung und zum anderen die durch die praktische Vernunft und die tugendhaften Habitus gegebenen Fähigkeiten zum moralisch guten Handeln hat. Damit bestätigte die wissenschaftliche Reflexion menschlichen Handelns, wie Luther sie in Erfurt kennenlernte, was in der durch Familie, Schule und Kirche vermittelten Lebenseinstellung und in der Lebens- und Frömmigkeitspraxis des Spätmittelalters selbstverständlicher Konsens war: Der Mensch soll und kann moralisch gut handeln; er ist zum Bemühen um die iustitia activa verpflichtet und befähigt. Und das umso mehr, als die göttliche Gnade den Menschen nicht nur zu moralisch gutem, sondern auch zu verdienstlichem Handeln befähigt und ihm somit den Erwerb einer nicht nur innerweltlich, sondern auch vor Gott geltenden Gerechtigkeit ermöglicht. Gerade Luthers spätere kritische Äußerungen über Aristoteles bestätigen, daß er in seiner Erfurter Studienzeit die aristotelische Moralphilosophie im Sinne der hoch- und spätmittelalterlichen Aristotelesrezeption als gratiae amica und Unterstützung christlicher Tugendpraxis159 kennengelernt hat. Ganz selbstverständlich galt: »Aristotelis dogmata in moralibus non dissentire Christi dogmatis«.160 2.4. Streben nach der Verwirklichung des neutestamentlichen Ideals christlicher Existenz in der Erfurter Klosterzeit (1505–1511) Nach seiner Magisterpromotion Anfang 1505 begann Luther ein Studium der Rechtswissenschaften. Doch bevor er in der Lebens- und Denkwelt der akademisch gebildeten Juristen Fuß fassen konnte, brach der Weg seines christlichen Lebens als Laie jäh ab: Im Sommer 1505 trat Luther in den Erfurter Konvent der Augustinereremiten ein. Er verließ die Welt und setzte seinen Lebensweg auf der via perfectior des Mönchtums fort. Die Klosterjahre prägten Luthers Auffassung von der vita christiana entscheidend neu. Denn hier lernte er das – monastisch umgedeutete – neutestamentliche Ideal christlicher Existenz in seiner ganzen Radikalität kennen und versuchte es zu verwirklichen – und diese Begegnung mit dem biblischen Ethos wurde zum Anstoß der existentiellen und theologischen Um159 In der Disputatio contra scholasticam theologiam formuliert Luther 1517 knapp: »Tota fere Aristotelis Ethica pessima est gratiae inimica« (WA 1,226,10). Drei Jahre später sagt er über Aristoteles’ »buch Ethicorum«, daß es »erger denn kein buch« und »stracks der gnaden gottis und Christlichen tugenden entgegen« ist (WA 6,458,14 f.). 160 WA 8,607,34 f.

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

orientierung. Im Folgenden soll es zuerst um das Selbstverständnis der spätmittelalterlichen Augustinereremiten gehen, wie Luther es im Erfurter Konvent kennengelernt hat, und dann um den Vollzug des aus diesem Selbstverständnis heraus gelebten mönchischen Lebens, wie Luther selbst es in Erfurt geführt hat.161 Nachdem Luther im Juli 1505 um die Aufnahme in den Erfurter Augustinerkonvent gebeten hatte, wurde er von Prior und Brüdern für geeignet befunden und als Novize rezipiert. Die erst kurz zuvor 1504 in Nürnberg verabschiedeten Konstitutionen der observanten Kongregation zeigen den Vorgang der Rezeption und das in ihm zum Ausdruck kommende Selbstverständnis des spätmittelalterlichen augustinischen Mönchtums.162 Bei der Aufnahme des angehenden Novizen weist der Prior zuerst auf die monastische Selbstpreisgabe und Weltdistanzierung hin: auf »abdicationem propriae voluntatis, vilitatem ciborum, asperitatem vestium, vigilias nocturnas, labores diurnos, macerationem carnis, opprobrium paupertatis, ruborem mendicitatis, lassitudinem ieiunii, taedium claustri et his similia«.163 Will der angehende Novize das mit Gottes Hilfe auf sich nehmen, »inquantum humana fragilitas permiserit«,164 wird er mit den Worten »Deus qui incepit in vobis bonum opus, perficiat« zum Probejahr angenommen. Dieses Zitat von Phil. 1,6 ist das erste von drei strukturell und inhaltlich wichtigen Verweisen auf das Neue Testament. Es kennzeichnet die Entscheidung des angehenden Novizen für das Mönchtum als den von Gott gesetzten Beginn des Wegs zur Vollkommenheit. Dieser Weg zur Vollkommenheit vollzieht sich im Ausziehen des alten und im Bekleidetwerden mit dem neuen Menschen, wie der folgende Teil der Rezeption 161 Zu Luthers Erfurter Klosterjahren bieten die Biographien von Scheel (Bd. 2) und Brecht (1,59–110) die nach wie vor beste Darstellung, indem sie die kritisch auf ihren Quellenwert hin geprüften Selbstzeugnisse Luthers in den Zusammenhang der anderen Quellen einordnen. – Zum Augustinereremitenorden im Mittelalter: D. Gutie´rrez: Geschichte des Augustinerordens, Bd. 2, 1975; A. Kunzelmann: Geschichte der deutschen Augustinereremiten, 5. Teil, 1974. – Zum Wittenberger Konvent: G. Wentz: Das Augustinereremitenkloster in Wittenberg (GermSac I,3,2, 440–499). – Die für Luthers Klosterzeit wichtige theoretische Reflexion der mittelalterlichen Frömmigkeitspraxis, die zur Zuspitzung der dieser Praxis innewohnenden Antinomien beigetragen hat, wird in 2.5. behandelt. 162 Constitutiones fratrum Eremitarum sancti Augustini ad Apostolicorum privilegiorum formam pro reformatione Alemanniae (in: Staupitz: Sämtliche Schriften, Bd. 5, 2001, 103–319). Diese Konstitutionen verarbeiten in weitem Umfang ältere Konstitutionen und andere normative Texte des Augustinereremitenordens und anderer Orden. Sie sind deshalb nicht nur für die deutschen Augustinereremiten und die Oberservanzbewegung des 15. Jahrhunderts, sondern in den Grundzügen auch für das mittelalterliche und insbesondere mendikantische Mönchtum repräsentativ. 163 AaO 186,19–190,3. 164 AaO 190,24 f.

2.4. Erfurter Klosterzeit

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zeigt. Denn nun schließt sich unter Gesang das Rasieren des Schädels, das Ausziehen der weltlichen Kleidung und das Bekleidetwerden mit der vestis novitiorum an, wobei der Prior mit Eph. 4,24 sagt: »Induat te dominus novum hominem, qui secundum deum creatus est in iustitia et sanctitate veritatis«.165 Was die monastische Existenz als Weg zur Vollkommenheit im Spannungsfeld von altem und neuem Menschen bedeutet, machen die folgenden programmatischen Gebete deutlich, die mit der Zeremonie des Friedenskusses und dem dritten programmatischen neutestamentlichen Zitat von Mt. 10,22 abgeschlossen werden: »Non qui inceperit, sed qui perseveraverit usque in finem, hic salvus erit«.166 Das erste der beiden Gebete167 bittet darum, daß Gott dem Novizen helfe, daß er durch sein monastisches Leben das ewige Leben verdiene.168 Dabei wird die für das christliche Leben im Mittelalter konstitutive Verschränkung von Gnade und Werk, von göttlicher Gabe und menschlichem Vollkommenheitsstreben mit Blick auf den Mönchsstand in besonderer Weise akzentuiert. Denn sowohl die göttliche Gabe als auch das menschliche Handeln gewinnen hier eine dem Mönchtum eigentümliche Gestalt: Gottes Gnade ist in besonderer Weise die gratia conversionis und das menschliche Werk die Abwendung von der Welt, das Leben in der einmütigen Gemeinschaft brüderlicher Liebe gemäß der Regel und die vita perfecta in opere.169 Mit dem zweiten programmatischen Gebet170 wird der Heilige Geist angerufen und die Fürbitte Marias und des Heiligen Augustinus erbeten. Der Geist ist der Schöpfer des neuen Lebens im angehenden Novizen und erleuchtet ihn innerlich, damit er die ihm göttlich eingegossene Heiligkeit bewahren und in heiligem Lebenswandel verwirklichen kann.171 Wenn nach Abschluß des Probejahres und Feststellung der Eignung für das Ordenslebens im Kapitelsaal oder der Kirche die feierliche Profeß 165

AaO 187,30–32. AaO 189,79 f. 167 AaO 187,39–188,58. 168 »ut, te largiente, devoti in ecclesia tua persistere et vitam percipere mereantur aeternam« (aaO 187,41 f.). 169 »Oremus [...] ut fraterna nobiscum teneantur compage caritatis, unanimes regularia instituta custodiant sobrii, simplices et quieti, gratis sibi datam suae conversionis gratiam cognoscant, concordet vita eorum cum nomine, vita quoque perfecta sentiatur in opere. [...] humiliter petimus, ut famulos tuos, quos sanctae compunctionis ardore a ceterorum hominum proposito separasti, etiam a conversatione carnali et ab immunditia terrenorum actuum, infusa eis coelitus sanctitate, discernas et gratiam, qua in te perseverent, infundas, ut protectionis tuae muniti praesidiis, quod te donante affectant, opere impleant et, sanctae conversationis exsecutores effecti, ad ea, quae perseverantibus in te promittere dignatus es, bona pertingant« (aaO 187,43–188,58). 170 AaO 188,59–189,77. 171 Die Bitte um den Heiligen Geist ist durch die zuvor genannten Motive des neuen Menschen und der Heiligkeit (aaO 187,31 f.; 188,54.56) vorbereitet. 166

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

stattfindet, redet der Prior den Novizen erneut an. Er wisse nun um die asperitas ordinis nostri und müsse endgültig wählen zwischen dem Weltleben und der Absage an die Welt, die das Selbstopfer und die völlige Hingabe an Gott und den Orden einschließt und als freiwillig eingegangene Verpflichtung nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.172 Dann wird der habitus professorum vor dem Prior ausgebreitet und darüber ein Wechselgebet gesprochen, das der Prior abschließt, indem er zu Christus betet, der das Gewand der menschlichen Sterblichkeit angezogen habe und nun auch dieses Gewand als »innocentiae et humilitatis indicium« segnen solle, damit der angehende Mönch »te induere mereatur«.173 Das Anziehen des neuen Menschen wird also gegenüber der Rezeption genauer gefaßt als das Bekleidetwerden mit Christus. Der Mönch steht in besonderer Beziehung zu Christus und vollzieht im Sterben des alten und im Auferstehen des neuen Menschen Christi Passion und Auferstehung nach. Dann wendet sich das Gebet an Gott, der seinen Gläubigen das »vestimentum salutis et indumentum iucunditatis« verheißen habe und der »hoc indumentum, humilitatem cordis et contemptum mundi significans, quo famulus tuus est visibiliter firmandus in proposito«, segnen solle, damit der angehende Mönch »beatae abnegationis habitum [...] te protegente custodiat« und von Gott schlußendlich mit der himmlischen Unsterblichkeit bekleidet werde.174 Nun wird der angehende Mönch mit den Worten »Exuat te dominus veterem hominem cum actibus suis« (Kol. 3,9) vom Prior entkleidet und mit der vestis professorum bekleidet. Dabei wiederholt der Prior die bereits aus der Rezeptionszeremonie bekannten, aber erst im Rahmen der Profeß zu ihrer eigentlichen Wirkung kommenden Worte »Induat te dominus novum hominem, qui secundum deum creatus est in iustitia et sanctitate veritatis« (Eph. 4,24). Der Vorgang wird von Gesang begleitet und mit Gebeten um den die monastische Beständigkeit und das Verdienst des ewigen Lebens begründenden Beistand Gottes abgeschlossen.175 Dann geht der Novize mit der Regel in der Hand zum Prior, kniet nieder, legt die Regel aufgeschlagen auf die Knie des Priors und spricht die Profeßformel: »Ego frater N facio professionem et promitto [1.] oboedientiam deo omnipotenti et beatae Mariae semper virgini et tibi fratri N, priori huius loci, nomine et vice generalis prioris ordinis fratrum Eremitarum sancti Augustini episcopi et successorum eius canonice intrantium, [2.] vivere sine proprio et [3.] in castitate secundum regulam eiusdem beati Augustini usque ad mortem«.176 172

AaO 195,11–19. AaO 196,25–30. 174 AaO 196,30–38. 175 »ut te largiente devotus in ecclesia tua persistere et vitam percipere mereatur aeternam« (aaO 197,51–53; genauso in der Rezeptionszeremonie: aaO 187,41 f.). 173

2.4. Erfurter Klosterzeit

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Nun erhält der professus eine entzündete Kerze, und der Prior spricht ein Gebet, in dem er bittet, »ut, quod frater noster ore professus est, opere fidelissime feliciterque compleat, auxiliante domino nostro Iesu Christo«.177 Dann tritt die Mönchsgemeinde zum Altar, vor dem der professus niederkniet und Gott dreimal mit den Worten anruft: »Suscipe me, domine, secundum eloquium tuum, et vivam«.178 Die Gewißheit der Erhörung dieser Bitte faßt der professus in das Gloria patri, dem der Chor respondiert. Wie bei der Rezeption wird auch bei der Profeß der Hauptteil mit der Anrufung des Heiligen Geistes und mit einem auf die Mönchsexistenz des professus ausblickenden, hier nun trinitarisch strukturierten Gebet des Priors abgeschlossen.179 Der professus geht auf das kommende Jüngste Gericht zu und soll darin den ewigen Lohn empfangen. Denn er hat dank der durch den Heiligen Geist in ihm entflammte Liebe ein Leben in Gehorsam, Armut und Keuschheit geführt. Zum Schluß richtet der Prior ihn auf, gibt ihm wie auch die anderen Brüder den Friedenskuß und weist ihm seinen Platz im Chor an. Der Prior spricht den nun in die Mönchsgemeinschaft Aufgenommenen noch einmal mahnend an, »ut intente, quod vovit deo, reddat: caste vivendo mente et corpore; nil possidendo proprii actu vel voluntate; oboediendo superiori sine murmure et contradictione; et mores, quos in probatione didicit novitius, non negligat observare professus«.180

Dann gehen die Mönche auseinander – und unter ihnen der, der an diesem Tag endgültig seinen von der göttlichen Gnade begleiteten Weg zur Heiligkeit und Vollkommenheit des neuen Menschen begonnen hat. Die Bestimmungen der Konstitutionen zu Rezeption und Profeß sind zwar programmatische, nicht aber systematische Texte. Sie speisen sich aus der vielgestaltigen Tradition des spätantik-mittelalterlichen Mönchtums. Deshalb muß das während Rezeption und Profeß in Anlehnung an das Neue Testament vor Augen gestellte Ideal monastischer Existenz mit Blick auf Luther weiter konkretisiert werden. Was heißt es, im Rahmen der deutschen Reformkongregation der observanten Augustinereremiten Anfang des 16. Jahrhunderts dank der göttlichen Gnade den alten Menschen zu überwinden und mit Blick auf das kommende Gericht nach der Vollkommenheit des neuen Menschen zu streben? Die Antworten auf diese Frage im spätmittelalterlichen Augustinereremitenorden waren vielgestaltig. Es läßt sich angesichts der Quellenlage zu Luthers Klosterjahren kein bestimmter Traditionszusammenhang oder Autor benennen, der das 176

AaO AaO 178 AaO 179 AaO 180 AaO 177

197,62–67. 197,69–198,71. 198,77. 198,73–199,118. 199,122–125.

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

Selbstverständnis und die Praxis seiner monastischen Existenz in besonderer Weise beeinflußt hat. Vielmehr muß man mit zahlreichen unterschiedlichen Einflüssen rechnen, aus denen im Folgenden eine Auswahl herangezogen wird, um Grundstrukturen der spätmittelalterlichen religio Augustini darzustellen. Richten wir den Blick zunächst auf Luthers Hineinwachsen in die monastische Tradition hinsichtlich des Selbstverständnisses der religio Augustini. Die Constitutiones geben dabei wichtige Hinweise auf prägende Texte und Traditionszusammenhänge. Hier steht an erster Stelle der Grundtext augustinischen Mönchtums, die »Augustinusregel« in ihrer mittelalterlichen Gestalt.181 Dieser knappe Text, den die Novizen sich gründlich aneignen mußten und der im Klosteralltag ständig präsent war, charakterisiert das augustinische Mönchtum durch die Forderungen der caritas und der humilitas. Die Verwirklichung des biblischen Gebots der Gottes- und Nächstenliebe als innerer Haltung und äußerer Praxis ist die monastische Grundidee des nordafrikanischen Kirchenvaters.182 Die Kehrseite der Wendung zu Gott und zum Nächsten in der Liebe ist das Selbstverhältnis der Demut.183 Die Zuwendung zu Gott und einmütige Gemeinschaft untereinander184 fordert vom einzelnen, sich zugunsten der Gemeinschaft zurückzunehmen und sich ein- und unterzuordnen. Die wichtigsten Mittel dieser Selbstdisziplinierung sind bereits bei Augustin Armut185, Keuschheit186 und Gehorsam187, allerdings noch nicht im Sinne der für das mittelalterliche westliche Mönchtum charakteristischen vota substantialia. 181

Die maßgebliche Edition ist die von Luc Verheijen (1967), hier: 148–152 (Ordo monasterii) und 417–437 (Praeceptum). Mit einigen Textänderungen und englischer Übersetzung finden sich die Texte auch in der Monographie zur Augustinusregel von G. Lawless (Augustine of Hippo and his Monastic Rule, 1987, 80–103). – Der textus receptus (Praeceptum mit Teilen des Ordo monasterii), wie ihn Luther als Augustinusregel kennenlernte, findet sich in PL 32,1377–1384. 182 »Ante omnia, fratres carissimi, diligatur deus, deinde et proximus, quia ista sunt praecepta principaliter nobis data« (ed. Verheijen 148,1 f.); siehe auch Praeceptum IV.10, V.2, VI.3, VII.3, VIII.1. 183 Praeceptum I.6.7, III.5, VI.3. 184 »Primum, propter quod in unum estis congregati, ut unianimes habitetis in domo et sit uobis anima una et cor unum in deum« (ed. Verheijen 417,3 f.). 185 Praeceptum I.3–7. Die Augustinusregel vertritt allerdings strenggenommen kein Armutsideal, sondern will die Liebe und Einmütigkeit innerhalb der klösterlichen Gemeinschaft gegen die Gefährdung durch die in der weltlichen Besitzordnung gegebene Über- und Unterordnung sichern. Für den Umgang mit Besitz ist darum auch nicht – wie vielfach bei den späteren Mendikanten – die Forderung des Verzichts, sondern die des maßvollen Gebrauchs entsprechend der jeweiligen Bedürfnisse entscheidend (Praeceptum I.3, V.1.8). 186 Praeceptum IV.4.5. 187 Praeceptum VII.1.4. Vgl. die Ausführungen zum praepositus (I.3, IV.9.11, VII.1–3) und presbyterus (IV.11, VII.1.2).

2.4. Erfurter Klosterzeit

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Der Gehorsam gegenüber der klösterlichen Ordnung verwirklicht die Liebe, kraft derer die Mönche als »spiritalis pulchritudinis amatores« »non sicut servi sub lege, sed sicut liberi sub gratia«188 leben. Die wenigen Konkretionen hinsichtlich des Klosteralltags lassen die geschichtliche Gestalt des augustinischen Mönchtums Anfang des 5. Jahrhunderts nur umrißhaft vor Augen treten. Aber eben das war der Grund, daß seit dem Hochmittelalter viele Gemeinschaften gerade auf die Augustinusregel zurückgriffen, um ihre eigenen monastischen Ideale und deren praktische Umsetzung in diesen weiten Rahmen einzuzeichnen. Aber nicht nur die Freiheit hinsichtlich der Konkretionen, sondern auch das monastische Ideal Augustins wirkte anziehend: Liebe und Demut waren für das Mittelalter ebenso selbstverständliche Anforderungen an das christliche und besonders das monastische Leben wie für den nordafrikanischen Kirchenvater. Die Mitte des 13. Jahrhunderts aus unterschiedlichen Gemeinschaften zusammengefaßten Augustinereremiten waren weder die ersten noch die einzigen, die unter der Augustinusregel lebten. Allerdings gelang es ihnen – nicht zuletzt wegen ihrer Nähe zum Papsttum –, einen Gutteil des augustinischen Erbes zu vereinnahmen und mit dem im 13. Jahrhundert entstandenen monastischen Modell der Bettelorden zu verbinden.189 Wichtige Beiträge zur Ausformung der »religio Augustini« der Augustinereremiten, wie sie Luther im Erfurter Konvent kennenlernte, leisteten im 14. Jahrhundert Jordan von Quedlinburg († 1380) und im 15. Jahrhundert Vertreter der Observanzbewegung wie Conrad von Zenn († 1460), Andreas Proles (1429–1503) oder der kurz vor Luthers Noviziat im Erfurter Konvent lebende und durch seine der Frömmigkeitstheologie zuzurechnenden Schriften einflußreiche Johannes von Paltz (ca. 1445–1513).190 Die Grund188

Ed. Verheijen 437,237–239. Weil der Augustinereremitenorden nicht nur in der augustinischen, sondern auch in der allgemeinen mendikantischen Tradition stand, fließen in die folgende Darstellung auch programmatische Äußerungen zum Bettelmönchtum ein, wie sie etwa die Summa theologiae des Thomas von Aquin enthält. Heranzuziehen ist hier vor allem die 2a 2ae, qq. 183–189, wobei diese Quaestionen bereits zuvor angesprochene Themen weiterführen. So werden etwa die grundlegenden Ausführungen über die evangelischen Räte in der 1a 2ae, q. 108, a. 4 in der 2a 2ae, q. 184, a. 3 und q. 186, a. 2 wieder aufgenommen, und die für das mittelalterliche Christentum im allgemeinen wie für das Mönchtum im besonderen zentrale Lehre von der Liebe als der christlichen Vollkommenheit zieht sich durch den ganzen zweiten Hauptteil der Summa theologiae (1a 2ae, q. 1–5; q. 107, a. 1; q. 108, a. 1; 2a 2ae, q. 23–46; 2a 2ae, q. 179–182). 190 Jordan steht im Mittelpunkt der umfassenden Darstellung von Programm und Praxis des Augustinereremitenordens im 14. und 15. Jahrhundert von E. Saak: High Way to Heaven. The Augustinian Platform between Reform and Reformation, 1292– 1524, 2002. – H. Zschoch: Klosterreform und monastische Spiritualität im 15. Jahrhundert. Conrad von Zenn OESA († 1460) und sein Liber de vita monastica, 1988. – R. Weinbrenner: Klosterreform im 15. Jahrhundert zwischen Ideal und Praxis. Der Au189

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

strukturen der religio Augustini stellt Jordan von Quedlinburg in seinem Liber Vitasfratrum dar, einer weitverbreiteten und auch im Erfurter Konvent gelesenen Darstellung der Geschichte, des Selbstverständnisses und der Praxis augustinischen Mönchtums in Geschichte und Gegenwart. Nach Jordan verbindet das von Augustin begründete Mönchtum die beiden das christliche Leben bestimmenden Beziehungsdimensionen von Gottes- und Nächstenliebe, von vita contemplativa und vita activa in idealer Weise. Denn hier kommen das vollkommenere anachoretische und das sicherere koinobitische Mönchtum zusammen, und diese Verbindung ist als »utriusque generis professio, si alicubi in eodem homine simul perfecte reperiatur, perfectissima«.191 Dem Vorbild Christi und Augustins folgend gilt: »hanc esse vitam perfectissimam nunc in solitudine soli Deo in contemplatione vacare et nunc exire per contemplationem hausta ad lucra animarum reportanda aliis eructare«.192 Die religio Augustini ist darum bestimmt von der kontemplativen Vertikaldimension christlichen Lebens, die sich in Gottesdienst und Gebet, in geistlicher Lektüre und Meditation sowie im innerlichen Bemühen um die Tugenden vollzieht. Zugleich ist sie durch die aktive Horizontaldimension christlichen Lebens bestimmt: Der Augustinereremit begnügt sich nicht mit dem Streben nach dem eigenen Heil und der persönlichen Selbstvervollkommnung im Verhältnis zu Gott, sondern er müht sich auch um das Heil seiner Mitmenschen, indem er die in der Gottesliebe gründende Nächstenliebe praktiziert. Und das geschieht nicht nur im Konvent in der Beziehung zu seinen Mitbrüdern, sondern gerade auch gegenüber den Laien im Umfeld des Konvents, denen der Orden mit Predigt und Seelsorge dient. Denn die »sacrosancta mater Ecclesia« hat die Augustinereremiten zur pastoralen Tätigkeit in den Städten bestimmt, damit diese das in der Schriftlesung, Meditation und Kontemplation ihrer vita eremitica in den Zellen von Gott Empfangene »operando et docendo, exemplo scilicet pariter et verbo«193 anderen zuteilwerden lassen.

gustinereremit Andreas Proles (1429–1503) und die privilegierte Observanz, 1996. – Zu Paltz’ Anschauungen über das Mönchtum: B. Lohse: Mönchtum und Reformation. Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchsideal des Mittelalters, 1963, 160–171; B. Hamm: Frömmigkeitstheologie am Beginn des 16. Jahrhunderts. Studien zu Johannes von Paltz und seinem Umkreis, 1982, 291–299. Eine wichtige Quelle ist Paltz’ 1504 erschienenes Supplementum Coelifodinae (Werke, Bd. 2, 1983), wo Paltz das Mönchtum ausführlich behandelt (98–180). Dabei stellt er Maria als Vorbild der Demut und Begründerin des Mönchtums (98–114) und das observante Klosterleben als den eigentlichen Heilsweg (114–179) heraus. 191 Jordan: Liber Vitasfratrum, ed. Arbesmann / Hümpfner 21,4 f. 192 AaO 35,9–11. 193 AaO 36,29 f.

2.4. Erfurter Klosterzeit

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In der Observanzbewegung des 15. Jahrhunderts konnte diese religio Augustini unterschiedlich akzentuiert werden. Conrad von Zenn, Andreas Proles und Johannes von Paltz repräsentieren drei Positionen innerhalb der deutschen Observanzbewegung. Das allen dreien Gemeinsame ist die grundlegende Unterscheidung von Nicht-Religiosen und Religiosen: Die Selbstverpflichtung durch die drei Gelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams war der irreversible Schritt in den status perfectionis, der durch besondere Nähe zu Gott ausgezeichnet war, diese Nähe aber im Spannungsfeld von göttlicher Gnade und göttlicher Vollkommenheitsforderung tagtäglich bewältigen mußte. Der Mönch hatte besseren Zugang zu den kirchlichen Gnadenmitteln, ja er hatte durch seine Profeß sich als Teilhaber an der gratia conversionis erwiesen, in der Profeß die zweite Taufe empfangen und in diesem Ganzopfer seines Seins und Handelns vollkommene Buße geübt. Alles Leben innerhalb dieses Standes der Vollkommenheit hatte – vorausgesetzt der Religiose hielt sich strikt an die Regel – mindestens quantitativ, wenn nicht gar qualitativ das normale Christenleben weit überragenden satisfaktorischen und meritorischen Wert. Aber es galt genauso, daß den größeren Möglichkeiten des Religiosen umso größere Gefahren und Verpflichtungen korrespondierten. Die Spannung, ja gerade die Antinomie von »nahem Zorn« und »naher Gnade« (B. Hamm), von göttlicher Forderung und Gerichtsdrohung einerseits und göttlicher Gnadenzuwendung andererseits, in der jeder spätmittelalterliche Christ stand, sie galt gerade auch und in gesteigerter Form für den Religiosen. Bewältigt wurde diese theologisch wie existentiell gesteigerte Spannung vor allem mit Hilfe des Bußsakraments, in dem sich menschliche Disposition und Aktivität einerseits und göttliches Gnadenhandeln andererseits miteinander verbanden. Dabei war der sakramentale Kernvollzug von Beichte und Absolution nur ein kleiner, wenn auch zentraler Teil der im Kloster geübten Buße, war doch das Mönchtum der »status verae poenitentiae«194 im umfassenden Sinn, nämlich das Leben täglicher contritio und täglicher satisfactio, das Leben ständiger innerlicher Gewissenserforschung und ständiger äußerer Askese und guter Werke. Allerdings vermochte diese innere und äußere Buße nicht für sich alleine zu stehen. Ihre Heilswirksamkeit war immer auf die institutionellen Heilsgarantien angewiesen, die die wahre Buße initiierten, begleiteten und vollendeten. Im Gefolge der Augustinusregel betonte die Observanzbewegung im Augustinereremitenorden die Liebe als die Vollendung monastischen Lebens. Der institutionelle Rahmen in Gestalt der Gelübde und sein Vollzug als Buße im umfassenden Sinn – beides als Verzicht auf den Eigen194

Johannes von Paltz: Supplementum Coelifodina (Werke 2,116,12).

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

willen und Ausdruck des Selbstverhältnisses der Demut – zielten letztlich auf die affektiv-praktische Verwirklichung der Gottes- und Nächstenliebe. Die Unterschiede zwischen Zenn, Proles und Paltz liegen in der Bestimmung des Verhältnisses von nicht-religioser und religioser Existenz. Während Proles hier eine mittlere Stellung einnimmt, steht Zenn für den strengen Exklusivitätsanspruch des observanten Mönchtums, jenseits dessen christliches Leben im eigentlichen Sinne kaum vorstellbar ist, während Paltz im Sinne der Frömmigkeitstheologie das Mönchtum bei aller Würdigung doch relativiert und als ein Gnadenangebot neben anderen betrachtet. Luthers Leben im Erfurter Konvent war bestimmt vom Selbstverständnis des Mönchtums als Leben wahrhafter Buße. Der Vollzug der aus diesem Selbstverständnis heraus gelebten monastischen Existenz hatte eine Innenund eine Außendimension: Es ging um die Verinnerlichung des monastischen Selbstverständnisses durch religiöse Erfahrungen und um die äußere Praxis durch asketische Selbstdisziplinierung und Praxis der Nächstenliebe. Ein wichtiger religiöser Erfahrungsort des Mönchtums war der Gottesdienst.195 Bei den sieben Gebetszeiten, den Vigilien, den Marienoffizien, der täglichen Konventsmesse und anderen regelmäßigen liturgischen Verpflichtungen stellte sich der Mönch vor Gott, und Gottes Gegenwart im Leben des Mönchs wurde anschaulich. Dieser Gott war der fordernde und richtende genauso wie der leidende und barmherzige Gott. In den liturgischen Vollzügen wurde so täglich die Spannung von Gericht und Gnade erfahren und wegen der Vollkommenheitsverpflichtung des Mönchs weit über das für den normalen Christen übliche Maß hinaus gesteigert. Hier, im Mönchschor um den Hochaltar herum, verschränkten sich während des Wechselgebets oder der Meßfeier in der Erfurter Gegenwart zu Anfang des 16. Jahrhunderts der heilsgeschichtliche und der eschatologische Horizont christlicher Existenz: Der neue Mensch fand sich befähigt und gefordert, in der Gegenwart des »Dominus Deus qui est et qui erat et qui venturus est Omnipotens« (Apk. 1,8) zu leben. Die Spannung von Gericht und Gnade wurde durch die Buße bewältigt. Obwohl die Buße weit mehr als die sakramentale Beichte war, waren Reue (contritio), Beichte (confessio) und Genugtuung (satisfactio) grundlegend für die Bußpraxis. Die entscheidende Innendimension der Buße, der echte Schmerz über die Sünden und die von der Gottesliebe motivierte Reue, wurde auch bei den Augustinereremiten mit Hilfe der systemati195

Jordan: Liber Vitasfratrum II,15–18; Scheel Bd. 2, § 1.4.

2.4. Erfurter Klosterzeit

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schen Selbsterforschung der Bußmeditation gepflegt. Vor allem die Zeit zwischen der morgendlichen Prim mit der Konventsmesse und der mittäglichen Sext mit dem daran anschließenden prandium, die nur durch die Terz unterbrochen war, diente dem inneren Gebet, dem Schriftstudium und der Beschäftigung mit erbaulichen oder theologischen Schriften.196 Ferner gehörte die Präsenz religiöser Texte zu fast allen gemeinschaftlichen Vollzügen von der Kapitelversammlung bis zum Essen. Dabei war alles, womit sich der Mönch Luther in seiner persönlichen oder gemeinschaftlichen Lektüre beschäftigte, mittelbar oder unmittelbar auf die Formung der monastischen Existenz bezogen. Sei es, daß es um das Selbstverständnis des augustinischen Mönchtums, um die Versenkung in die Christusmeditation oder die Beschäftigung mit theologischen Sachproblemen ging. Allerdings läßt sich nur umrißhaft erschließen, was Luther an Werken und Autoren im einzelnen kennengelernt hat. An erster Stelle steht als Schlüsseltext monastischer Existenz die Bibel.197 Schon als Novize studierte Luther den ihm zur Verfügung gestellten Vulgatatext intensiv, und auch in der späteren Zeit war die Bibel, vor allem in der Gestalt einzelner, für die monastische Frömmigkeit besonders wichtiger biblischer Texte, allgegenwärtig im Klosteralltag. Daneben waren aber auch viele weitere Texte wichtig. So begegnete Luther als Novize und professus bei den regelmäßigen Lesungen, im Rahmen der eigenen Lektüre, in Predigten oder im persönlichen Gespräch immer wieder den programmatischen Entwürfen des augustinischen Mönchtums. Die intensive Beschäftigung mit Leben und Werk des Ordensvaters war für die Augustinereremiten selbstverständlich. Die möglichst weitgehende Angleichung an dessen Vorbild führte weit über die Beschäftigung mit der Regel hinaus. In den Zusammenhang des Regelstudiums gehören etwa die Regelkommentare198 und weitere Äußerungen 196

Scheel 2,42 f. Jordan: Liber Vitasfratrum II,22. »Lectio [...] Sacrae Scripturae triplicem nobis generat fructum«: »Primus est [...], quia mens sacris lectionibus occupata nullis noxiarum cogitationum laqueis captivatur. [...] Secundus est [...], qui per hanc mens perspicua intelligentia illustratur, ita ut occultissimorum etiam sensuum, quos vel tenui primum imaginatione percepimus legendo, quiescentibus nobis nocturna meditatione perspicua intelligentia reveletur. Tertius est [...], quia per hanc tota vita nostra in agendis, intendendis et sperandis instruitur et informatur« (233,12–234,24). In einem Zitat aus der Hugo von St. Viktor zugeschriebenen Regelauslegung heißt es: »Per lectionem sensus et intellectus augetur, lectio ad orationem nos instruit et operationem, ad contemplativam vitam nos informat et activam« (234,28–30). Ein Zitat aus den pseud-augustinischen Sermones ad fratros in eremo feiert die Bibellektüre mit einer fast hymnischen Reihung an Wirkungen (234,36–235,54). – Zur Schriftmeditation der Augustinereremiten: M. Nicol: Meditation bei Luther, 21991, 33f. Nicol weist darauf hin, daß Autoren der deutschen Observanzbewegung wie Conrad von Zenn und Johannes von Paltz der Schriftmeditation ein vornehmlich moralisches Ziel setzen. – Zu Luthers Beschäftigung mit der Bibel während der Klosterzeit: Brecht 1,88–96. 198 Expositio in regulam Beati Augustini (PL 176,881–924; Hugo von St. Viktor zugeschrieben). Unter den Büchern ad usum chori soll laut Const. cap. 37 auch der Regelkommentar des Hugo von St. Viktor sein. Die Belege für die Kenntnis der Expositio bei Luther sind zusammengestellt bei Brecht 1,675. 197

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des Ordensvaters zum Mönchtum. So war die Lektüre der pseudo-augustinischen Sermones ad fratres in eremo 199 weit verbreitet, und Luther verfocht in seinen frühen Erfurter Jahren die These des augustinischen Ursprungs dieser das anachoretische Ideal preisenden Predigten. Aber auch die anderen Werke Augustins wurden gelesen, etwa die Confessiones mit ihrem für die christliche Existenz wichtigen zehnten Buch und die zahlreichen kleineren, zum Teil pseudaugustinischen Schriften zu den unterschiedlichsten Aspekten christlicher Existenz. Die gewichtigen theologischen Werke des Kirchen- und Ordensvater wurden allerdings wohl weniger im Zusammenhang monastischer Spiritualität meditiert als vielmehr im Rahmen des Ordensstudiums oder des theologischen Studiums an der Universität durchgearbeitet. Zur Beschäftigung mit Augustin gehören auch die AugustinusViten und das legendarische Material.200 Neben Augustin standen weitere Lehrer geistlichen Lebens, unter denen Bernhard von Clairvaux und Bonaventura hervorzuheben sind, bei denen Luther der im romanischen Raum beheimateten und in lateinischen Schriften verbreiteten Mystik begegnete. Die im deutschsprachigen Raum beheimatete jüngere Mystik spielte für Luther erst viele Jahre später eine Rolle und übte nur einen begrenzten Einfluß aus. Bernhard und Bonaventura dagegen eröffneten ihm eine neue Dimension und eine erfahrungsmäßige Vertiefung der Gottesbeziehung, die über das aus seiner laikalen Existenz – auch über das aus der Frömmigkeitspraxis der Devotio moderna – Vertraute und über das innerhalb der »religio Augustini« Übliche hinausging, sich aber harmonisch mit diesen Prägungen verbinden konnte.201 So lernte Luther unter Bonaventuras Namen unter anderem Auszüge aus David von Augsburg und Gerhard Zerbolt von Zütphen kennen. Einen reichen Schatz monastischer Tradition boten auch die für das regelmäßige Vorlesen von den Konstitutionen (cap. 23) vorgeschriebenen Sammlungen der Vitaspatrum und der Collationes Patrum.202 Vermutlich hat Luther in seiner Klosterzeit auch eine der gängigen Anleitungen zur Passionsmeditation kennen-

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PL 40,1235–1358. Zur Bedeutung dieser Predigtsammlung für die Augustinereremiten: E. Saak: Ex vita patrum formatur vita fratrum: The Appropriation of the Desert Fathers in the Augustinian Monasticism of the Later Middle Ages (Church History and Religious Culture 86, 2006, 191–228); On the Origins of the OESA: Some Notes on the Sermones ad fratres suos in eremo (Augustiniana 57, 2007, 89–149). 200 Augustinusviten gabe es mehrere, am wichtigsten war nach wie vor die PossidiusVita (zu den Viten s. E. Saak: High Way to Heaven, 160–234, sowie die Edition der Vita Sancti Augustini des Jordan von Quedlinburg aaO 774–810). Weitere Quellen: Acta Sanctorum, Augusti Tomus Sextus, 1868, 213–460; Jacobus a Voragine: Legenda aurea, cap. 124 (ed. Graesse, 31890, 548–566). Die Augustinus-Vita stand Luther auch täglich während der Stundengebete vor Augen: in Gestalt des Augustinusfensters der Erfurter Klosterkirche (Ch. Richter: Das Augustinusfenster in Erfurt, 1997). 201 Das zeigt sich schon daran, daß die von Luther benutzte Bonaventura-Ausgabe zahlreiche diesem zugeschriebene Schriften enthält, die aus der auch im Augustinereremitenorden rezipierten späteren franziskanischen Tradition oder gar aus der Devotio moderna stammen. So lernte Luther unter Bonaventuras Namen unter anderem Auszüge aus David von Augsburg und Gerhard Zerbolt von Zütphen kennen (AWA 9,89–96. 97–147; hierzu auch: J. Matsuura: Zu Luthers Anfängen in Erfurt. Neue Quellen und Erkenntnisse, in: T. Hayakawa u.a. [Hgg.]: Sprache, Literatur und Kommunikation im kulturellen Wandel, 1997, 337–390, hier v.a. 338–345). 202 PL 73.74 (hierzu: E. Schulz-Flügel: Zur Entstehung der Corpora Vitae Patrum, in: StPatr 20, 1989, 289–300) und CSEL 13.

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gelernt.203 Deren auf persönliche Aneignung und Verinnerlichung gerichtete Darstellung des Lebens- und Leidensweges Christi bis hin zum willig auf sich genommenen Tod hatte eine gar nicht hoch genug einzuschätzende Bedeutung für die Frömmigkeit im allgemeinen wie das monastische Leben im besonderen. Obwohl der leidende Christus und der Ordensvater Augustinus die beiden entscheidenden Vorbilder waren, denen sich der Augustinereremit anzugleichen bemühte, darf man die Fülle anderer Heiliger nicht vergessen, deren vorbildhaften Lebens und Sterbens tagtäglich in den Gottesdiensten und während der Kapitelversammlungen gedacht wurde und die von einzelnen Mönchen auch in besonderer Weise verehrt wurden, wie Luther in einer Tischrede von sich selbst berichtet.204 Die liturgischmeditative Vergegenwärtigung des Lebens Christi und der Heiligen hatte entsprechend der Grundspannung christlicher Existenz im Spätmittelalter soteriologische wie auch ethische Bedeutung. Was es konkret hieß, den mit Geboten und Räten gesetzten Rahmen auszufüllen, konnte hier beispielhaft erkannt und angeeignet werden.

Luther wuchs im Kloster angeleitet durch den Novizenmeister, die Mitbrüder und die intensive Lektüre selbstverständlich in die vielfältigen geistlichen Übungen hinein205 und machte immer wieder auch religiöse Grenzerfahrungen, die im Rahmen der monastischen Spiritualität und der spätmittelalterlichen Theologie nicht immer zu bewältigen waren.206 Die täglich praktizierte Buß- und Passionsmeditation stellte dem Mönch seine sündhaften Neigungen und sündigen Gedanken, Worte und Werke vor Augen. Am Leitfaden der unterschiedlichen biblischen Forderungskataloge – besonders des Dekalogs und der Bergpredigt –, der Siebenerreihen von Lastern und Tugenden oder einfach der Augustinusregel als des Spiegels monastischer Existenz wurde so die äußere und innere Existenz des Mönchs vor Gott offengelegt.207 Große Aufmerksamkeit widmete man der 203 Hierzu: TRE 27,738–741 (Ulrich Köpf); weit verbreitet war etwa die Vita Jesu Christi Ludolfs von Sachsen. 204 »Ita ego 21 sanctos elegi et singulis diebus missam celebrans tres invocavi; also kam ich die woche rumb« (WATR 4,306,6 f.* [Nr. 4422]). 205 Scheel 2,211–214.216–227. 206 Grundlegend für Luthers innere Biographie in den Klosterjahren und die in ihr aufbrechenden Verwerfungen ist die ausführliche Darstellung von Scheel (Bd. 2, § 6; siehe zum theologischen Deutungsrahmen der religiösen Erfahrung § 4.6, dessen Ausführungen zur für Luther spätestens seit 1507/08 vorauszusetzenden spätfranziskanischen Schultheologie allerdings auf Grundlage der neueren Forschung teilweise zu korrigieren sind). Die beste jüngere Darstellung neben der kurzen Skizze bei Brecht (1,82– 88) bietet B. Hamm: Naher Zorn und nahe Gnade: Luthers frühe Klosterjahre als Beginn seiner reformatorischen Neuorientierung (in: Ders.: Der frühe Luther. Etappen reformatorischer Neuorientierung, 2010, 25–64). Hamms These, daß die Klosterjahre 1505 bis 1511 durch ihre Anfechtungserfahrungen und Gewissensprobleme zum integralen Bestandteil des allmählichen »reformatorischen Wende- und Werdeprozesses Luthers« (aaO 31) gehören, bedarf weiterer Diskussion. 207 Die Expositio in regulam Beati Augustini legt in ihrem Schlußkapitel die Forderung der Augustinusregel, diese gleichsam als Spiegel wöchentlich zu verlesen, so aus: »bene hunc libellum dicit speculum; quia in eo tamquam in speculo inspicere possumus quales

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Bekämpfung der superbia und der steten Einübung und Praxis der humilitas.208 Besonders anschaulich wurde das Zurückbleiben auch des Mönchs hinter der göttlichen Forderung in der Passionsmeditation, in der Christus zum einen als das Idealbild der Ergebung in den göttlichen Willen in vollkommener Demut und Liebe erschien und zum anderen durch sein quantitativ und qualitativ kaum zu ermessendes Leiden die eigentlich vom Sünder zu erleidende Strafe und damit dessen Schuld anschaulich machte.209 So groß war das durch Christus erworbene Heil, daß auch der Religiose im status perfectionis nur mit dem Gericht über seine Person und seine Werke reagieren konnte. Allerdings war dieses Selbstgericht immer schon eingebettet in das sakramental empfangene Heil. So sehr die Buß- und Passionsmeditation also die Unwürdigkeit und Insuffizienz des Menschen ans Licht stellten, so wenig behielten die dadurch vielfach ausgelösten Erfahrungen von Traurigkeit, scrupulositas und Anfechtung das letzte Wort. Vielmehr waren die hier aufbrechenden Antinomien konstitutiver Teil der spätmittelalterlichen Frömmigkeit und Theologie. Das Gegenüber und Ineinander von gnädigem Gott und richtendem Gott, von göttlicher Gnadengabe für den Menschen und göttlicher Forderung an den Menschen ließ sich im Diesseits nicht auflösen, sondern mußte im Vollzug christlicher Existenz bewältigt werden. Und das tat Luther während seiner Erfurter und frühen Wittenberger Klosterjahre, indem er sich in der Frömmigkeitspraxis wie in der theologischen Theorie an diesen Antinomien abarbeitete. Dabei kam es bei ihm immer wieder zu existentiellen Zuspitzungen, über die wir aus späteren Nachrichten wissen, ohne Inhalt,

sumus, sive pulchri, sive foedi, sive justi, sive injusti; utrum quisquam nostrum regulariter vivat; utrum proficiat, an deficiat; utrum Deo placeat an displiceat. Scriptura quippe nobis sacra nostram interiorem repraesentat imaginem; ostendit quid formosum, quid deforme sit in anima, et qualiter pulchritudo justitiae debeat observari, qualiter debeat virtutum decor componi; quomodo vitiorum macula debeat abstergi. Pravorum usus est mala semper tegere, et quae egerint nunquam retractare. Quidquid faciunt caeca mente pertranseunt. At contra sancti viri in Scripturis sacris quotidie non cessant inspicere vitam suam, moresque suos vigilanter pensare. Et si quid deforme vel incompositum aut inordinatum invenerint, mox quod secundum scriptum vident, reformare et componere se student: quatenus sancti et immaculati coram Deo tam in corpore inveniantur quam in anima« (PL 176,924A–B). 208 Expositio in regulam Beati Augustini: cap. 2 (PL 176,887–891); Jordan: Liber Vitasfratrum II,7.9 u.ö. 209 Zur hoch- und spätmittelalterlichen Passionsfrömmigkeit im allgemeinen: TRE 27,722–764 (Ulrich Köpf), hier v.a. 725–750. Zur Passionsmeditation im Augustinereremitenorden: E. Saak: High Way to Heaven, 467–583. Zum spätmittelalterlichen Hintergrund von Luthers Theologie und Frömmigkeit: M. Elze: Züge spätmittelalterlicher Frömmigkeit in Luthers Theologie (ZThK 62, 1965, 381–402); Das Verständnis der Passion Jesu im ausgehenden Mittelalter und bei Luther (in: H. Liebing, K. Scholder [Hgg.]: Geist und Geschichte der Reformation, 1966, 127–151).

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Zeitpunkt und Dauer dieser Anfechtungen genauer bestimmen zu können. Auf jeden Fall gingen sie bis hin zu Erwählungszweifeln und regelrechter Prädestinationsanfechtung und sind als spezifisch »vorreformatorische« Anfechtungen noch bis weit in die Wittenberger Klosterjahre belegt.210 Diese Antinomieerfahrungen sind von großer Bedeutung für Luthers innere Biographie und dann auch für die Entwicklung seiner Theologie. Obwohl sie überwiegend im Rahmen dessen blieben, was im Spätmittelalter praktisch und theologisch zu bewältigen war, und zu keinem grundsätzlichen Bruch führen mußten, bildeten sie doch Voraussetzungen für die weitere Entwicklung. Das Luther je länger je mehr fühlbar werdende Ungenügen im Umgang mit den Antinomien schuf die Möglichkeit der grundsätzlichen Infragestellung des mittelalterlichen Christentums – und sie führte an einzelnen Punkten bereits an seine Grenzen. So bauten die existentielle Vertiefung der Sündenerfahrung und die zunehmende Einsicht in den umfassenden Charakter der göttlichen Forderung eine Spannung auf, die sich existentiell wie theologisch im mittelalterlichen Rahmen immer schwieriger bewältigen ließ. Luthers frühe Randnotizen, Predigten und Vorlesungen zeigen allerdings, daß er eine Lösung auf den ihm vertrauten Wegen versuchte. Vor allem der Rückgriff auf die biblischen Texte, wie er weiter oben am Beispiel der beiden frühesten Predigten Luthers dargestellt wurde, half Luther, den unsicher gewordenen Zusammenhang von göttlicher Forderung, menschlicher Insuffizienzerfahrung, göttlicher Gnadenhilfe und darauf aufbauender menschlicher Aktivität neu plausibel zu machen. Das gelang ihm allerdings nur allmählich und um einen Preis, der ihm und anderen erst mit der Zeit klar wurde. Denn die Art und Weise, wie Luther die Bibel zum Zuge kommen ließ, war bei aller Kontinuität und Allmählichkeit der Entwicklung etwas grundsätzlich Neues und aus Luthers spätmittelalterlichen Voraussetzungen letztlich nicht Erklärbares. Die Selbsterforschung und die innere Aneignung der göttlichen Forderung stellten Luther wie jedem Mönch den bei allem Fortschritt bleibenden Unterschied zwischen Ideal und Wirklichkeit vor Augen. Die Erfahrung des Ungenügens wurde auf unterschiedliche Weise bewältigt: teils innerhalb der Bußmeditation selbst, teils durch geistliche Hilfe erfahrener 210

So ist die in den Tischreden überlieferte Episode von Luthers Erschrecken vor dem während der Fronleichnamsprozession in der Hostie gegenwärtigen Christus (WATR 1,59* [Nr. 137]; vgl. WATR 2,417* [Nr. 2318]) auf 1516 zu datieren, und damit in die Zeit des Abschlusses der Römerbriefvorlesung (W. E. Winterhager: Martin Luther und das Amt des Provinzialvikars in der Reformkongregation der deutschen Augustiner-Eremiten, in: F. Felten, N. Jaspert [Hgg.]: Vita Religiosa im Mittelalter, 1999, 707–738, hier: 737f.).

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Brüder, teils durch die Beichte und die in ihr erlangte sakramentale Gnadenzueignung. Nach der Generalbeichte vor der Aufnahme zum Noviziat folgte mindestens wöchentlich, in der Regel häufiger Beichte um Beichte, Absolution um Absolution.211 Daß Luther diese Hilfen phasenweise nicht genügten und er sich bis in eine seelsorgerlich wie theologisch kaum zu bewältigende Prädestinationsanfechtung hineinsteigerte, nahm ihnen nichts von ihrer Wirksamkeit im Normalfall monastischen Alltagslebens. Dabei ist es auch von untergeordneter Bedeutung, ob Luther im Kloster einem eher kontritionistischen oder eher attritionistischen Verständnis des Bußsakraments begegnete – vorstellbar ist anhand der über den Erfurter Konvent zu Luthers Zeit bekannten Indizien beides. Im ersteren Fall korrespondierte der höheren Veranschlagung der menschlichen Leistungsfähigkeit die geringere der priesterlichen, im letzteren war es umgekehrt; in beiden Fällen jedoch wurde der Mensch der Theorie zufolge nicht überfordert. Und da der Mönch ja bereits in der Profeß ein Opfer seines ganzen Lebens und aller seiner Werk dargebracht hatte, gewann die in der Absolution vermittelte sakramentale Gnade und die durch die Beichte eröffnete Gnadenteilhabe am Altarsakrament umso größeren Heilswert. So sehr also der Mensch im »status verae poenitentiae« mit dem Ungenügen von Sein und Handeln konfrontiert wurde, so sehr wurde das sakramental kompensiert und damit der Grund für eine Überwindung des Ungenügens auch im täglichen Leben gelegt. Für den Vollzug des monastischen Lebens im »status verae poenitentiae« war nicht nur die religiöse Erfahrung im Spannungsfeld von innerlicher Selbstdemütigung vor Gott und sakramentaler Gnadenteilhabe wichtig. Wichtig war auch die sich an den biblischen Geboten und den evangelischen Räten orientierende fortwährende asketische Selbstdisziplinierung und die Praxis der Nächstenliebe innerhalb des Konvents und darüber hinaus. Der Gebotsgehorsam war für den Mönch genauso verpflichtend wie für den Nichtmönch. Und so begegnete Luther im Kloster denselben elementaren Forderungen, die auch seine Existenz als Laie bestimmt hatten und die im Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe und im Dekalog als der Zusammenfassung des im natürlichen Gesetz wurzelnden biblischen Moralgesetzes greifbar waren. Doch für den Mönch Luther galt, daß diese Gebote qualitativ und quantitativ ausgeweitet wurden und die Strenge ihrer Befolgung durch keine Rücksichtnahme auf die Hindernisse und Erschwerungen der laikalen Alltagsexistenz gemildert war. Zugleich gab die freiwillige Selbstverpflichtung auf die drei vota substantialia 211

Scheel 2,39 f. und § 6 (v.a. 2,272–303).

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dem professus die Hilfsmittel, diesem Gebotsgehorsam in der geforderten Konsequenz und Strenge gerecht zu werden. Denn die evangelischen Räte (consilia evangelica), zu denen Armut, Keuschheit und Gehorsam als die drei wichtigsten gehörten,212 dienten dazu, den dem Menschen gegebenen Raum relativ freier, damit aber auch allzu leicht verfehlbarer Konkretion der Gebote so zu strukturieren, daß der Gehorsam gegenüber dem Liebesgebot und dem Dekalog leichtfiel. Die drei Hauptgefahren weltlicher Existenz, gegen die diese drei Räte helfen sollten, waren in 1.Joh. 2,16 zusammengefaßt: »concupiscentia carnis et concupiscentia oculorum [...] et superbia vitae«. Gemeint waren damit fleischliche Begierde, Besitzstreben und Geltungsdrang in der menschlichen Gemeinschaft.213 Asketische Selbstdisziplinierung begleitete Luthers Klosterleben tagtäglich.214 Die Befriedigung der vitalen Bedürfnisse wie Schlaf, Nahrung und Kleidung war eingeschränkt, und zeitweise wurden diese Bedürfnisse als solche bekämpft, um die in ihnen sich äußernde concupiscentia zu treffen.215 212 Ein gängiges theologisches Überblickslehrbuch des Spätmittelalters, das Compendium theologicae veritatis des Hugo Ripelin von Straßburg, listet die vor allem aus der Bergpredigt entwickelten zwölf evangelischen Räte so auf (hier in der Zusammenfassung von R. Seeberg: Dogmengeschichte, Bd. 3, 41930, 5012): »1) Armut, 2) Gehorsam, 3) Keuschheit: praedicta tria consilia sunt spiritualia et substantialia omnis perfectae religionis, quia suos observatores elongant a malo, sie stellen nämlich den ausschließenden Gegensatz her zur Fleischeslust, Augenlust und dem Hochmut [1. Joh. 2,16]. Auf sie folgen aber noch: 4) die Liebe, die den Feind nicht nur liebt, sondern ihm signa benevolentiae zeigt, 5) die Sanftmut, die sich auch den zweiten Backenstreich gefallen läßt, 6) die supererogatio misericordiae, 7) die simplicitas verborum (ja, ja, nein, nein), 8) das Vermeiden von der Gelegenheit zur Sünde durch Ausreißen des Auges usw., 9) die rectitudo intentionis, d.h. das Gute nicht um des Ruhmes usw. willen tun, 10) bezüglich der conformitas operis ad doctrinam, z.B. nicht anderen Lasten auferlegen, die man selbst nicht tragen mag usw., 11) de vitanda solicitudine, 12) hinsichtlich der fraterna correctio, daß sie nicht zur Entehrung, sondern zur Besserung des Bruders geschehe«. 213 »Bona autem huius mundi, quae pertinent ad usum humanae vitae, in tribus consistunt: scilicet in divitiis exteriorum bonorum, quae pertinent ad concupiscentiam oculorum; in deliciis carnis, quae pertinent ad concupiscentiam carnis; et in honoribus, quae pertinent ad superbiam vitae; sicut patet I Ioan. 2[,16]. Haec autem tria totaliter derelinquere, secundum quod possibile est, pertinet ad consilia Evangelica. In quibus etiam tribus fundatur omnis religio, quae statum perfectionis profitetur: nam divitiae abdicantur per paupertatem; deliciae carnis per perpetuam castitatem; superbia vitae per obedientiae servitutem« (Thomas von Aquin: Summa theologiae, 1a 2ae, q. 108, a. 4 c.). 214 Zu den asketischen Übungen der Augustinereremiten und Luthers asketischer Praxis: Scheel Bd. 2, § 5.3–5 (Scheel sammelt hier die Belege für Luthers klösterliche Askese und sichtet sie kritisch). Speziell zum Fasten als mit wichtigstem Bestandteil der Askese: Expositio c. 3+4 (»Primum vitium ex septem principalibus vitiis est gula« [PL 176,893A]); Jordan: Liber Vitasfratrum IV,9; Scheel Bd. 2, § 1.5. 215 Luther selbst wußte, daß Askese selbstzerstörerische Züge annehmen kann (z.B. WA 7,60,33–37), was zwar in der Logik der monastischen Bekämpfung der concupiscentia lag und von den Zeitgenossen oft als Zeichen besonderer Vollkommenheit betrachtet wurde, aber in den Regeln und Konstitutionen des mittelalterlichen Mönchtums nicht gefordert war. Jordan (Liber Vitasfratrum IV,10) erlaubt unter bestimmten Be-

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Daß die leibliche Existenz des Menschen der Disziplinierung und Erziehung bedurfte, war eine gängige mittelalterliche Vorstellung, die Luther auch in späterer Zeit ganz selbstverständlich weiter vertrat. Dabei ließ er einerseits die Beschränkung dieser Verpflichtung, wie sie die laikale Existenz des spätmittelalterlichen Menschen kennzeichnete, und andererseits die Praxis dieser Verpflichtung mittels der evangelischen Räte, wie sie die monastische Existenz bestimmte, fallen. Er erlegte aber zugleich jedem Christen die ihm angemessene Form dieser Selbstdiszplinierung auf. Luther selbst fiel die äußerliche Disziplinierung wohl nicht besonders schwer, vor allem die viele Mönche belastende Keuschheitsverpflichtung machte ihm keine Schwierigkeiten.216 Die monastische Existenz erschöpfte sich jedoch nicht in der Selbstvervollkommnung des einzelnen durch religiösen Erfahrung und asketische Selbstdisziplinierung, sondern strebte auch nach der Wendung zum Mitmenschen. Gerade das war dem Ordensvater Augustin besonders wichtig gewesen. Nicht ohne Grund macht Jordan von Quedlinburg den Einleitungssatz des augustinischen Praeceptum – in der Form »cor unum et anima una in Deo« – zum Ausgangspunkt seiner Entfaltung des monastischen Gemeinschaftslebens.217 Die geforderte geistliche Einheit realisiert sich in der Preisgabe des Eigenwillens und in der Ergebung in den Willen des anderen. Daraus folgen als die einzelnen Tugenden der monastischen Existenz: Gehorsam, Liebe, Demut, Gerechtigkeit, Friede, Eintracht, brüderliche Ermahnung, Geduld etc.218 Besondere Bedeutung unter ihnen hat die Liebe, die ja bereits im ersten Satz des textus receptus der Augustinusregel gefordert ist. Die konkrete Füllung der Nächstenliebe ist bei Jordan allerdings nur umrißhaft erkennbar, er setzt wohl voraus, das die Leser und Zuhörer mit solch grundlegenden Sachverhalten vertraut sind.219 Wichtiger ist ihm der Hinweis auf die durch Weltverachtung und dingungen und mit Zustimmung des Vorgesetzten eine über Regel und Konstitutionen hinausgehende Askese, mit der man dem altkirchlichen Vorbild durch opera supererogationis nacheifern kann: »Dico autem opera supererogationis in Ordine omnia illa, ad quae quis non obligatur ex praecepto divino aut statuto Ecclesiae aut ex Regula vel Constitutionibus vel statutis sui Ordinis, qualia sunt ieiunia et abstinentiae speciales, orationes peculiares et castigationes carnis in vigiliis et disciplinis, ciliciis et aliis asperitatibus ultra communem observantiam Ordinis scriptam, quae sibi quilibet assumere potest, ›quantum valitudo permittit‹« (420,12–18). Damit entfällt auch der Grund, wegen des Bemühens um rigorosere Askese in einen strengeren Orden zu wechseln. Die persönliche Ausweitung der Askese heißt »singularitas« und sie kann verantwortlich oder falsch gehandhabt werden (IV,11+12). 216 Scheel 2,208–211. 217 Jordan: Liber Vitasfratrum II,1–13. 218 AaO II,1. 219 Daß in vielen monastischen Programmtexten die materielle Füllung des monasti-

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Selbstdisziplinierung zu sichernden Rahmenbedingungen der Liebe.220 Die Hugo von St. Viktor zugeschriebene Regelauslegung, die ja auch der Elementarunterweisung der Novizen diente, ist hier etwas ausführlicher. Das Thema der Gottes- und Nächstenliebe zieht sich durch den gesamten Text und wird immer wieder mit den jeweils behandelten Aussagen der Regel verbunden. Die von der Regel geforderte innere Einstellung und äußere Praxis ist stets Ausdruck der Liebe. Diese Liebe scheidet die Mönche von der Welt und verbindet sie untereinander und mit Gott.221 Gottes- und Nächstenliebe werden näher bestimmt: die Gottesliebe als umfassende intellektiv-affektive Hingabe an Gott; und die Nächstenliebe als Praxis der Goldenen Regel in ihrer positiven und negativen Fassung, woraus sich alle anderen Tugenden ergeben.222 Die Regelauslegung führt beispielhaft weiter schen Ethos kaum näher ausgeführt wird, erklärt sich daraus, daß es selbstverständlich vorausgesetzt ist. Wichtiger ist die Einbindung dieser selbstverständlichen Praxis in den Rahmen monastischer Existenz, nämlich die das allgemeine Liebesethos in spezifischer Weise formenden Motive, Normen und Praktiken. 220 So die Aufzählung von sieben Punkten in II,5: »contemptus substantiae mundialis«, »mortificatio propriae voluntatis«, »non temere inhaerere suo iudicio, sed semper magis velit proximi iudicio quam suis definitionibus oboedire«, »quod omnia, etiam quae utilia aestimat, sciat esse postponenda bono caritatis et pacis«, »ut credat nec iustis nec iniustis causis penitus irascendum«, »si frater contra se etiam sine ratione conceperit aliquam tristitiam, illam eodem modo curare studeat quomodo propriam«, »quod omni die credat se de hoc mundo migraturus«. 221 »Charitas separat nos a mundo, et ipsa nos conjungit Deo. Sic erit nobis anima una, et unum cor in Deo, si ex toto corde, et ex tota anima diligamus Deum. ›Deus enim charitas est, et qui manet in charitate in Deo manet, et Deus in eo‹ [1. Joh. 4,16b]« (PL 176,884A/B). 222 »Charitas in amore Dei constat et proximi. Amor autem Dei tribus modis exprimitur, ut nihil remaneat in homine quod non divinae dilectioni subdatur. Nam Deum praecipimur diligere ex toto corde, videlicet ut omnes cogitationes nostras referamus ad Deum; ex tota mente, ut omnem rationem qua intelligimus et discernimus habeamus in ipsum; ex tota anima, ut omnes affectiones animae dirigamus ad Deum. In dilectione proximi duo servanda sunt. Ut quod tibi non vis fieri aliis ne feceris. Et quae vultis ut faciant vobis homines, et vos facite illis. Ex hac gemina virtute dilectionis in proximum omnes virtutes oriuntur, quibus aut utiliter quae sunt appetenda cupimus, et quae vitanda sunt vitamus. Ex his duobus articulis congrue diligitur proximus, dum et beneficiis fovetur et nulla malitia laeditur. In omnibus ergo quibus utitur transitura necessitas, debet semper eminere charitas. Quia quidquid agimus aut loquimur ad Dei charitatem debet respicere aut proximi, ut in omni nostra conversatione, nostrae intentionis summa versetur semper in charitate. In his autem duobus praeceptis tota lex pendet et prophetae« (PL 176,907A/B). »Proximi autem dilectio ad duo praecepta derivatur. Unde dicitur: Quod tibi non vis fieri vide ne tu alteri facias [Tob. 4,16]. Et per semetipsam Veritas dicit: Quae vultis ut faciant vobis homines et vos facite illis [Mt. 7,12]. Quibus duobus scilicet utriusque Testamenti mandatis per unum malitia compescitur, per aliud benignitas praerogatur, ut quod non vult malum pati quisque, non faciens cessat a nocendi opere; et rursum bonum quod sibi fieri appetit, impendens ad utilitatem proximi exerceat ex benignitate. Sed haec nimirum duo dum sollicita intentione cogitantur, cor ad innumera virtutum ministeria tenditur, ne vel ad inferenda quae non debet in desideriis inquieta mens ferveat, vel erga exhibenda quae debet otio resoluta torpescat« (PL 176,918D–919A).

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

aus, was es heißt, im Umgang mit dem Mitbruder diesem nicht das zu tun, was man selbst nicht getan haben möchte, oder diesem zu tun, was man selbst getan haben möchte.223 Sie konkretisiert so die Nächstenliebe in einer Vielzahl von einzelnen Werken, die doch immer Ausdruck derselben Liebe sind.224 Zur Liebe gehört nach Jordan auch die brüderliche Zurechtweisung (II,10) und die Sorge für die kranken und schwachen Brüder (II,11). Und auch die Ausführungen über die Handarbeit haben hier ihren Ort.225 Für Jordan ist die Handarbeit als »operatio« mit der »oratio« und »lectio« eines der drei accessoria praecepta der Augustinusregel, d.h. der Konkretionen der drei grundlegenden Gelübde mit ihren Forderungen von Besitzlosigkeit, sexueller Enthaltsamkeit und Unterordnung unter die Oberen. Handarbeit meint nach Jordan Unterschiedliches, je nach Art des Mönchtums: Während die der vita activa verpflichteten Mönche, die sich etwa die Krankenpflege zur Aufgabe gemacht haben, tatsächliche Handarbeit leisten, ist für die der vita contemplativa verpflichteten Mönche der Gottes- und Altardienst, das Beten, das Schriftstudium, die theologische Lehre, die Predigt, das Beichtehören und das Bemühen um das Seelenheil der anderen durch Wort und Vorbild »Handarbeit«; und sie haben darum auch das Recht, statt von ihrer Arbeit vom Bettel zu leben.226 Aber nach Maßgabe der Vorgesetzten gehören zeitweise auch »opera ad vitam activam pertinentia« zu den Aufgaben der Augustinereremiten, etwa das Terminieren, die Besorgung von Konventsgeschäften außerhalb oder die Übernahme von Aufgaben innerhalb des Klosters, etwa die Führung eines Amts oder handwerkliche Tätigkeiten.227 Allerdings ist die so in unterschiedlicher Weise geübte Nächstenliebe so eng mit Gottesdienst, Verinnerlichung und Selbstdisziplinierung verbunden, daß sie schwerlich selbständig behandelt werden kann. Denn daß der Bettelmönch Luther außerhalb des Konvents, etwa während der Terminiergänge, Predigt- und Seelsorgeaufgaben übernahm, ist zwar Praxis der Nächstenliebe, versteht sich aber letztlich als Ausdruck der Gottesliebe.228 Oder daß im Konvent 223 224

PL 176,919A–C.

»Bene ergo lex Dei multiplex dicitur, quia nimirum una eademque charitas si mentem plene coeperit, ad innumera opera multiformiter accendit« (PL 176,919D). 225 Grundlegend ist die wirkungsgeschichtlich bedeutsame Schrift Augustins De opere monachorum (CSEL 41,529–596). Jordan (Liber Vitasfratrum II,24–27) setzt die Differenzierung des hochmittelalterlichen Mönchtums und die Diskussion um die Bettelorden im 13. Jahrhundert voraus. 226 Jordan: Liber Vitasfratrum 253,72–82; 260,5–9. 227 AaO 260,15–261,38. 228 Daß Luther tatsächlich in Erfurt oder in einem der Terminierbezirke des Konvents im Umland Spenden sammelte, ist belegt, aber es handelt sich dabei wohl um Ausnahmen. Denn weder war der Erfurter Konvent wirtschaftlich auf das Terminieren angewiesen, noch wurden dazu die Klerikerbrüder herangezogen, sondern allenfalls die Laienbrüder; der Bettel hatte letztlich nur noch eine geistliche Funktion (Scheel 2,19.26).

2.4. Erfurter Klosterzeit

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das Eigeninteresse stets dem Interesse der Gemeinschaft oder des Mitbruders untergeordnet werden sollte, war genauso Praxis der Nächstenliebe wie Selbstdisziplinierung. Man kann diese Verflechtung als notwendig und sinnvoll verstehen, man kann aber auch fragen, ob die Dominanz der Gottes- und Selbstbeziehung des Mönchs und die Verzwecklichung der Beziehung zum Nächsten wirklich Raum für die neutestamentliche Forderung der Hingabe an den Mitmenschen bot. Auf jeden Fall wurde die während Rezeption und Profeß vor Augen gestellte Forderung des umfassenden Selbstopfers in einem Leben einzelner konkreter guter Werke verwirklicht. Die im direkten täglichen Gegenüber zu Gott und mit der Hilfe der sakramentalen Gnade geführte monastische Existenz verstand sich im konkreten Gehorsam gegen Gebote und Räte als wahrhaftes Vollkommenheitsstreben in Demut und Liebe. Luthers Erfurter Klosterjahre waren von kaum zu überschätzender Bedeutung für die Entwicklung seiner Auffassung von der vita christiana. Denn in ihnen verdichtete sich, was das christliche Leben im Mittelalter überhaupt kennzeichnete: das Streben nach dem neutestamentlichen Ideal christlicher Existenz.229 Luthers monastische Erfahrungswelt wurde so zum Wurzelgrund der sich in den Folgejahren entwickelnden theologischen Neuorientierung. In ihr bereiteten sich, um Karl Holls Beobachtungen aufzugreifen, sowohl die grundlegende »sittliche« als auch die »religiöse« Neuorientierung vor, wie sie in den frühen Vorlesungen greifbar sind.230 Zum einen eignete sich der Mönch Luther Grundüberzeugungen an, die in unterschiedlicher Weise weiterwirkten: den strengen Anspruch an die christliche Existenz, die Gleichzeitigkeit von Verinnerlichung und äußerer Praxis in der Beziehung zu Gott und zum Mitmenschen, die Einsicht in die menschliche Sündhaftigkeit und den Ernst des göttlichen Gebots, das Sich-Vorfinden als alter Mensch und das Wissen um den Indikativ und Imperativ des neuen Menschen. Zum anderen führte seine monastische Existenz ihn in die für die spätmittelalterliche Theologie und Frömmigkeit konstitutiven Antinomien, die er mit den erprobten Mitteln 229 Daß das in Form des observanten Bettelmönchtums institutionalisierte neutestamentliche Ideal dem Neuen Testament gar nicht im behaupteten Maße entsprach, war der Zeit und auch Luther damals nicht bewußt. Diese kritische Wendung gegen das Mönchtum vollzog Luther erst in den 1520er Jahren, wenn er im Zusammenhang der Diskussion um die Gültigkeit des Mönchsgelübdes Selbstverständnis und Anspruch des mittelalterlichen Mönchtums in grundsätzlicher Weise infragestellte, ohne aber die Möglichkeit eines reformierten Mönchtums als legitimer Vollzugsform christlicher Existenz abzuleugnen (siehe unten 7.1.). 230 Holl 1,15–35.187 u.ö.; Reformation und Urchristentum (in: Kleine Schriften, 1966, 33–44, hier: 38–40).

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

monastischer Seelsorge und theologischer Reflexion nicht mehr zu bewältigen vermochte. Aber erst die Verbindung beider Entwicklungen – der Vertiefung des neutestamentlichen Ideals und der Zuspitzung der Antinomien – mit einem neuen Moment führte Luther über den im Erfurter Konvent der Augustinereremiten gesetzten und gelebten Rahmen hinaus. 2.5. Die Aneignung der theologischen Ethik während Luthers theologischen Studiums und seiner Lehrtätigkeit als Magister (1507–1511) Der Erfurter Konvent bestimmte den Mitbruder Luther nach seiner Bewährung im Noviziat bald für die Ausbildung zu den üblicherweise von den Augustinereremiten wahrzunehmenden kirchlichen Seelsorge- und Predigtaufgaben und die dafür benötigte Priesterweihe. Darüber hinaus wurde der wissenschaftlich begabte Luther zum Theologiestudium verpflichtet, um später selbst einmal an einem Ordensstudium oder auf einem vom Orden zu besetzenden universitären Lehrstuhl den Ordensnachwuchs zu unterrichten. Die Vorbereitung auf die Priesterweihe 1506/07 wie das Theologiestudium seit 1507 und der damit einhergehende Beginn von Luthers Lehrtätigkeit in der philosophischen und theologischen Fakultät erweiterten seinen Horizont beträchtlich. Während ihn das Aristotelesstudium einige Jahre zuvor in die Grundgedanken und sozialethischen Konkretionen der mittelalterlichen Moralphilosophie eingeführt hatte, erschloß er sich nun den komplexen Überbau der scholastischen Moraltheologie. Beides war einerseits klar voneinander getrennt, was sich in der Zuordnung des moralphilosophischen und moraltheologischen Unterrichts zu unterschiedlichen Fakultäten und in der Verwendung unterschiedlicher Lehrwerke äußerte. Andererseits war beides auch eng aufeinander bezogen und bedingte sich gegenseitig. Denn nach gängigem spätmittelalterlichem Verständnis – also abgesehen von den Positionen, die im Interesse der Reinheit entweder der Philosophie oder der Theologie philosophische und theologische Ethik in Konkurrenz zueinander sahen – bedurfte die Moralphilosophie der Ergänzung und Rahmung durch die biblische Offenbarung, um unter den gegebenen Bedingungen der mit Christus angebrochenen Heilszeit Relevanz für die christliche Lebenswelt zu haben; und die Moraltheologie setzte selbstverständlich die von Aristoteles erkannten Grundstrukturen menschlichen Seins und Handelns voraus. Das spannungsreiche Ergänzungsverhältnis von Natur und Übernatur war für alle spätmittelalterlichen Schulen der selbstverständliche Denkrahmen, innerhalb dessen Philosophie und Theologie sowohl begrenzte Selbständigkeit zukam als auch beide aufeinander bezogen waren.

2.5. Theologiestudium

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Es gibt nur vereinzelte Hinweise zu Luthers moraltheologischen Studien seit der Vorbereitung auf die Priesterweihe 1506, so daß auch die folgende Darstellung Umwege gehen muß und primär den für Luther vorauszusetzenden Hintergrund in den Blick nimmt. Das Studium fand anfangs vollständig und später zu erheblichen Teilen im Konvent selbst statt. Luthers erste theologische Lehrer gehörten zum Lehrpersonal des Ordensstudiums, und er arbeitete mit den Büchern der Konventsbibliothek. Während Luthers Dozenten nur zu vermuten sind,231 ist seine Lektüre – und damit die Quellenbasis für eine Rekonstruktion von Luthers moraltheologischem Studium – in ihren wichtigsten Teilen bekannt. 1506/07 – und auch später immer wieder – beschäftigte er sich mit Gabriel Biels Meßauslegung und seit 1507 mit dem Grundlagenlehrbuch des mittelalterlichen Dogmatikunterrichts: den Sentenzen des Petrus Lombardus und den wichtigsten Sentenzenkommentaren. Dabei war Gabriel Biels Collectorium von besonderer Bedeutung für Luthers Studium.232 Die Sentenzensammlung des Lombarden war für Luther zum einen als Lehrbuch seines Theologiestudiums, zum anderen als Leittext seiner eigenen Vorlesungen als Bakkalaureus sententiarius wichtig. Von letzteren sind die Randbemerkungen zu den ersten drei Büchern der Sentenzen aus den Jahren 1509/10 erhalten, die als weitere Quelle einbezogen werden müssen. Es ist zudem wahrscheinlich, daß Luther die mittelalterliche Lehrdiskussion auch in den Werken anderer Autoren studiert hat, ohne hier aber im einzelnen sagen zu können, in welchen. Die Beschäftigung mit Biel jedenfalls gab zahlreiche Anregungen für eine solche weitergreifende Lektüre: Da gab es zum einen die von Biel favorisierte franziskanische Schultradition (Bonaven231 An erster Stelle steht wohl Johannes Nathin, dessen theologische Ausrichtung allerdings schwer näher einzugrenzen ist. Gegen eine vorschnelle Zuordnung zur spätfranziskanischen Schultheologie (z.B. B. Hamm: Frömmigkeitstheologie am Beginn des 16. Jahrhunderts, 1982, 330–333) macht A. Zumkeller (Erbsünde, Gnade, Rechtfertigung und Verdienst nach der Lehre der Erfurter Augustinertheologen des Spätmittelalters, 1984, 452–461; Neuentdeckte Schriften des Erfurter Theologieprofessors Johannes Nathin OSA, in: Augustiniana 54, 2004, 653–658) auf die Prägung durch den Augustinismus aufmerksam. 232 Die Beschäftigung mit den beiden Hauptwerken Biels, die jedes auf seine Weise eine Summe der mittelalterlichen Theologie bieten, der Expositio canonis misse als Summe der seelsorgerlich-praktischen Theologie und dem Collectorium als Summe der akademisch-diskursiven Theologie, ist durch die starke Präsenz Biels in Luthers Schriften seit 1509/10 belegt und wird durch Zeugnisse Luthers und anderer gestützt (O. Scheel [Hg.]: Dokumente, Nr. 391.532.749). Randbemerkungen zu Biel sind allerdings erst aus späterer Zeit überliefert, als Luther um 1516/17 und später einige Abschnitte der kurz zuvor durch den Wittenberger Augustinereremitenkonvent angeschafften, 1514 in Lyon gedruckten Ausgaben beider Werke im Zusammenhang seiner akademischen Lehrtätigkeit erneut durcharbeitete (WA 59,25–28.29–53). Während seiner Erfurter Klosterzeit hat er die im Erfurter Konvent vorhandenen Ausgaben benutzt.

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

tura, Duns Scotus, Ockham) und zum anderen die teils zustimmend, teils kritisch rezipierte augustinische oder thomistische Tradition (Ägidius Romanus, Gregor von Rimini, Thomas von Aquin); und zwar jeweils nicht nur die Sentenzenkommtare, sondern darüber hinaus die eine oder andere Einzelschrift. So kritisch Luther sich später gegenüber diesen hoch- und spätscholastischen Autoren äußerte, die er seit seinem Erfurter Theologiestudium auf unterschiedlichem Wege kennengelernt hatte, so sehr schätzte er weiterhin die Sentenzensammlung; wohl wegen des fehlenden aristotelischen Einflusses und der starken augustinischen Prägung, obgleich er die Bibel zu wenig berücksichtigt fand.233 In seinem theologischen Studium beschäftigte sich Luther gründlich mit der wissenschaftlichen Systematisierung der vielfältigen Anschauungen über das christliche Leben, wie sie in den vorangehenden Unterkapiteln vorgestellt wurden. Um die Grundanschauungen der hoch- und spätscholastischen Moraltheologie zu erschließen, empfiehlt es sich, nicht sofort die Sentenzen des Lombarden und ihre Kommentierung durch Biel zu betrachten, sondern einen anderen Zugang zu wählen. Denn die Darstellung der scholastischen Moraltheologie in den Sentenzen und Sentenzenkommentaren ist umständlich und unvollständig. Zur ersten Orientierung soll darum die erste systematisch durchgearbeitete und entsprechend dargestellte theologische Ethik des Mittelalters dienen, wie sie im zweiten Teil der theologischen Summe des Thomas von Aquin vorliegt. Obwohl sich Luther mit Thomas wahrscheinlich nicht ausführlicher beschäftigt hat,234 bieten sich uns in der 2a 2ae der Summa die Grundgedanken dar, anhand derer wir uns Luthers Studienlektüre erschließen können. Die Summa theologiae ist das dritte dogmatische Hauptwerk des Thomas, in dem dieser anders als in seinem frühen Sentenzenkommentar die theologische Lehre in einer seiner Meinung nach der Sache besser gerecht werdenden Disposition vorträgt. Gleich wie man den Plan der Summa im einzelnen versteht,235 so ist deutlich, daß das Thema des Handelns des 233

O. Scheel (Hg.): Dokumente, Nr. 219.221.222.390. Die neuere römisch-katholische These einer unmittelbaren Kenntnis und Bejahung der Theologie des Thomas durch Luther (O. Pesch: Martin Luther, Thomas von Aquin und die reformatorische Kritik an der Scholastik, 1994) wird überzeugend problematisiert von S. Gradl: Inspektor Columbo irrt. Kriminalistische Überlegungen zur Frage »Kannte Luther Thomas?« (Luther 77, 2006, 83–99). Mittelbar aber, etwa durch Gabriel Biel, lernte Luther den Aquinaten durchaus kennen. Zu Biels Thomas-Rezeption: J. Farthing: Thomas Aquinas and Gabriel Biel. Interpretations of St. Thomas Aquinas in German Nominalism on the Eve of the Reformation, 1988 (hier vor allem 58–93, wo gezeigt wird, daß Biel Thomas gerade im Zusammenhang ethischer Fragestellung häufig zustimmend zitiert). 235 Den Hinweisen der S. th. selbst zufolge, geht es um die Bewegung des vernunftbegabten Geschöpfes zu seinem Ursprung in Gott zurück, die sich im Handeln voll234

2.5. Theologiestudium

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Christen annähernd die Hälfte der Gesamtdarstellung ausmacht und in bisher nicht gekannter Ausführlichkeit und Tiefe erörtert wird.236 Zwar ist der zweite Teil der Summe keine eigenständige »theologische Ethik«, sondern aufs engste ins Gesamte eingebunde. Dennoch äußert sich hier ganz offen das für die gesamte Scholastik zentrale Interesse am Menschen in seiner Beziehung zu sich selbst, zu Gott und zur Welt. Der Aquinate entfaltet dieses anthropologisch-ethische Interesse ausgehend vom Endzweck menschlichen Handelns, dem Erreichen der beatitudo, der jenseitigen Gottesgemeinschaft.237 Um dieses Handeln besser zu verstehen, entwickelt er im Anschluß an die Bestimmung des finis die Bedingungen des menschlichen Handelns: Willentlichkeit, moralische Zurechenbarkeit, und die Beschränkung der menschlichen Handlungsfreiheit durch die dem Menschen eignende leiblich-sinnliche Wesensseite.238 Die inneren Prinzipien des menschlichen Handelns sind zum einen sein Hervorgehen aus den den einzelnen Akten vorausliegenden Handlungsvorprägungen und zum anderen die Hemmung und Verkehrung des menschlichen Handelns durch die Sünde.239 Die äußeren Prinzipien des menschlichen Handelns sind die Anleitung durch das Gesetz und die Ermöglichung und Aufwertung zum Verdienst durch die sakramental vermittelte Gnade.240 Was nun christliches Leben im einzelnen heißt, stellt der zweite Unterteil (S. th. 2a 2ae) vor Augen.241 Und zwar zum einen in Gestalt einer umfangreichen zieht: »Quia igitur principalis intentio huius sacrae doctrinae est Dei cognitionem tradere, et non solum secundum quod in se est, sed etiam secundum quod est principium rerum et finis earum, et specialiter rationalis creaturae [...]; ad huius doctrinae expositionem intendentes, primo tractabimus de Deo; secundo de motu rationalis creaturae in Deum; tertio de Christo, qui, secundum quod homo, via est nobis tendendi in Deum« (1a, q. 2 prol.). »Quia, sicut Damascenus dicit, homo factus ad imaginem Dei dicitur, secundum quod per imaginem significatur intellectuale et arbitrio liberum et per se potestativum; postquam praedictum est de exemplari, scilicet de Deo, et de his quae processerunt ex divina potestate secundum eius voluntatem, restat ut consideremus de eius imagine, idest de homine, secundum quod et ipse est suorum operum principium, quasi liberum arbitrium habens et suorum operum potestatem« (1a 2ae, prol.). 236 Literatur zur theologischen Ethik des Thomas s.o. 2.3., Anm. 154, sowie: U. Kühn: Via caritatis. Theologie des Gesetzes bei Thomas von Aquin, 1965; E. Schockenhoff: Bonum hominis. Die anthropologischen und theologischen Grundlagen der Tugendethik des Thomas von Aquin, 1987; M. Rose: Fides caritate formata. Das Verhältnis von Glaube und Liebe in der Summa Theologiae des Thomas von Aquin, 2007. 237 S. th. 1a 2ae, q. 1–5. 238 voluntas: S. th. 1a 2ae, qq. 6–17; bonitas et malitia humanorum actuum: S. th. 1a 2ae, qq. 18–21; passiones animae: 1a 2ae, qq. 22–48. 239 habitus: S. th. 1a 2ae, qq. qq. 49–54; virtutes: 1a 2ae, qq. 55–67; dona Spiritus Sancti: 1a 2ae; q. 68, beatitudines: 1a 2ae, q. 69; fructus Spiritus Sancti: 1a 2ae, q. 70; peccatum: S. th. 1a 2ae, qq. 71–89. 240 Lex-Traktat: S. th. 1a 2ae, qq. 90–108; gratia, iustificatio, meritum: S. th. 1a 2ae, qq. 109–114. 241 »Post communem considerationem de virtutibus et vitiis et aliis ad materiam mo-

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

Darstellung der einzelnen Tugenden,242 wobei jeweils auch die den Tugenden entgegenstehenden Laster, die mit den Tugenden verbundene Geistesgabe und die jeweils geltenden Gebote und Verbote behandelt werden; und zum anderen in Gestalt einer kürzeren Darstellung der Stände.243 Zentrum des christlichen Lebens sind die drei theologischen Tugenden, aus denen als den Grundvollzügen des christlichen Lebens in der Beziehung zu Gott alles einzelne Handeln der Christen hervorgeht.244 Da aber das christliche Leben nicht in seinem gesamten Umfang als Auswirkung der drei theologischen Tugenden in Einzelhandlungen beschrieben werden kann, treten die vielfach untergliederten vier Kardinaltugenden hinzu,245 die im Zusammenhang mit den theologischen Tugenden nicht einer natürlich-philosophischen Sittlichkeit zuzuordnen, sondern als Erweiterung der theologischen Tugenden aufzufassen sind. Darum werden im Zusammenhang der Kardinaltugenden zahlreiche einzelne Charakteristika christlichen Lebens behandelt. Daß die Übernahme philosophischer Denkmittel bei Thomas theologisch verantwortlich geschieht, zeigt der Abschluß des zweiten Teils, in dem zuerst die Handlungen der Menschen hinsichtlich der unterschiedlichen Gnadengaben behandelt werden.246 Dann werden die Handlungen der Menschen hinsichtlich des unterschiedlichen Strebens (inclinatio) der Menschen zur Kontemplation oder zu den äußeren Handlungen besprochen.247 Abschließend werden die Handlungen der Menschen hinsichtlich der unterschiedlichen Ämter und Stände dargestellt,248 wobei sich das Ordensleben als die äußere Form erweist, in der die vita christiana in ihrem eigentlichen Sinne als ein Leben der Gottes- und Nächstenliebe am vollkommensten gelebt werden kann. ralem pertinentibus, necesse est considerare singula in speciali: sermones enim morales sunt minus utiles, eo quod actiones in particularibus sunt. Potest autem aliquid in speciali considerari circa moralia dupliciter: uno modo, ex parte ipsius materiae moralis, puta cum consideratur de hac virtute vel hoc vitio; alio modo, quantum ad speciales status hominum, puta cum consideratur de subditis et praelatis, de activis et contemplativis, vel quibuscumque aliis differentiis hominum. Primo ergo considerabimus specialiter de his quae pertinent ad omnes hominum status; secundo vero, specialiter de his quae pertinent ad determinatos status« (S. th. 2a 2ae, prol.). 242 S. th. 2a 2ae, qq. 1–170. 243 S. th. 2a 2ae, qq. 171–189. 244 fides: S. th. 2a 2ae, qq. 1–16; spes: 2a 2ae, qq. 17–22; caritas: 2a 2ae, qq. 23–46. 245 prudentia: S. th. 2a 2ae, qq. 47–56; iustitia: 2a 2ae, qq. 57–122; fortitudo: 2a 2ae, qq. 123–140; temperantia: 2a 2ae, qq. 141–170. 246 Prophetie: S. th. 2a 2ae, qq. 171–174; raptus: 2a 2ae, q. 175; gratia linguarum: 2a 2ae, q. 176; gratia sermonis sapientiae et scientiae: 2a 2ae, q. 177; gratia miraculorum: 2a 2ae, q. 178. 247 vita contemplativa und activa, Gottes- und Nächstenliebe: S. th. 2a 2ae, qq. 179–182. 248 status perfectionis in genere: S. th. 2a 2ae, q. 184; perfectio episcoporum: 2a 2ae, q. 185; perfectio religiosorum: 2a 2ae, q. 186–189.

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Diese wissenschaftliche Entfaltung der Anschauungen über das christliche Leben als theologischer Tugendethik ist jedoch nur ein Aspekt. Denn sie dient letztlich einem übergeordneten Interesse, dessen Bedeutung sich in seiner Allgegenwart zeigt. Als theologische Tugendethik steht der zweite Teil der Summa theologiae im Dienst des für Theorie und Praxis des mittelalterlichen Christentums programmatischen Gedankens der sich in der dilectio Dei et proximi realisierenden caritas.249 Diese Liebe als Inbegriff des menschlichen Handelns ist ermöglicht durch die Gnade; sie wird geleitet durch das Gesetz; und sie realisiert sich vermittelt durch die theologischen Tugenden und die Kardinaltugenden in Gestalt konkreter Einzelhandlungen. »In der These ›caritas forma virtutum‹ erreicht die thomasische Ethik ihren Abschluß. Die Liebe löst die Eigenstruktur der sittlichen Tugenden nicht auf und übergeht nicht das Maß ihrer Sachgerechtigkeit. Aber sie lenkt alle Tugenden, die sie in ihrem Gefolge bei sich führt und die dem Menschen zugleich mit ihr geschenkt werden, auf das Ziel der letzten Vollendung, zu dem der Mensch in der ewigen Gemeinschaft mit Gott berufen ist«.250 Thomas zeigt, daß das menschliche Handeln ein zentrales Thema der Scholastik ist, und er zeigt, wie dieses Thema entfaltet wird. Im Folgenden sollen anhand der fünf in Thomas’ Summe benannten Hauptpunkte der scholastischen Moraltheologie – Bedingungen (Mensch), Normen (Gesetz), Ermöglichung (Gnade), Strukturen (Tugenden) und Horizont (Eschaton) der christlichen Praxis – die jeweiligen Inhalte, wie Luther sie in einer an der spätfranziskanischen Schultheologie orientierten Interpretation des Lombarden kennenlernte und selbst diskutierte, vorgestellt werden. Es kann sich im Folgenden nicht um eine irgendwie erschöpfende Darstellung der theologischen Ethik des Lombarden251 und Gabriel Biels252 handeln, sondern nur um eine Zusammenstellung der Grundgedanken, wie sie Luther in den Sentenzen 249 »Mit dem Traktat über die Liebe [S. th. 2a 2ae, qq. 23–46] erreicht Thomas im Gesamtplan seiner STh den Höhepunkt seiner Darstellung des menschlichen Handelns und darin zugleich die Mitte und den Kristallisationspunkt seines theologischen Denkens« (E. Schockenhoff: Bonum hominis, 1987, 476). 250 E. Schockenhoff, aaO 572. 251 An Literatur zum Lombarden wurde herangezogen: P. Delhaye: Pierre Lombard. Sa vie – ses œuvres – sa morale, 1961, 28–97; J. Rief: Die moraltheologische Konzeption in den Sentenzen des Petrus Lombardus (ThQ 144, 1964, 290–315); M. Colish: Peter Lombard, Bd. 2, 1994, 471–516; S. Ernst: Ethische Vernunft und christlicher Glaube. Der Prozeß ihrer wechselseitigen Freisetzung in der Zeit von Anselm von Canterbury bis Wilhelm von Auxerre, 1996, 201–231. 252 An Literatur zu Biel wurde herangezogen: L. Grane: Contra Gabrielem. Luthers Auseinandersetzung mit Gabriel Biel in der Disputatio Contra Scholasticam Theologiam 1517, 1962, 49–261; H. A. Oberman: Spätscholastik und Reformation, Bd. 1: Der Herbst

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

des Lombarden und in Biels Collectorium begegnet sind und zum Hintergrund seiner eigenen theologischen Positionsbestimmung wurden. Die Konzeptionen des Lombarden und Biels unterscheiden sich – wie die moderne Forschung gezeigt hat –, weisen aber auch zahlreiche Übereinstimmungen im allgemeinen wie im einzelnen auf. Diese Gemeinsamkeiten und Unterschiede dürften Luther nicht so klar gewesen sein, wie sie es uns heute sind. Darum kann man Luthers Hintergrund nicht schematisch in einen vom Lombarden und einen von Biel herkommenden Einfluß untergliedern, sondern muß die Verquickung der unterschiedlichen Strömungen beachten. Methodisch wird darum im Folgenden so vorgegangen, daß Biels moraltheologische Konzeption der Strukturierung des Ganzen und der Durchführung im einzelnen zugrundegelegt wird. Dabei wird auf einige Gemeinsamkeiten und Unterschiede hingewiesen, die sich im Vergleich zum Lombarden ergeben. Um die Bezogenheit Biels wie Luthers auf die Sentenzen als den Primärtext ihrer jeweiligen theologischen Reflexion zu verdeutlichen, werden aber auch der eine und andere Gedankengang des Lombarden anstelle Biels vorgestellt. Das ist auch deshalb legitim, weil Biel den Lombarden vielfach zu Anfang seiner Distinktionen referiert und die Kenntnis der Sentenzen als Hintergrund voraussetzt. Seine eigene Position macht Biel dabei in der Regel nicht in Auseinandersetzung mit dem Lombarden deutlich, sondern mit anderen hoch- und spätscholastischen Autoren. Eine Nebeneinanderstellung beider Konzeptionen würde hier eine Kontrastwirkung erzeugen, die dem Verhältnis, so wie Biel es sieht, nicht gerecht wird. Luthers eigene Kommentierung des Lombarden läßt sich angesichts der geringen Zahl und der Knappheit der erhaltenen Randbemerkungen theologisch nur schwer genauer einordnen.253 Deutlich ist dreierlei: erstens waren die Sentenzen für Luther der selbstverständliche Bezugstext, dem er mit Respekt und Lernwilligkeit gegenübertrat; zweitens setzte seine Interpretation des Lombarden die umfassende spätscholastische Schulung in Philosophie und Theologie voraus, wie Luther sie im Zusammenhang der Erfurter via moderna und der spätfranziskanischen Schule kennengelernt hat; drittens deuten sich in einigen Randbemerkungen Entwicklungen an, die im vorliegenden Zusammenhang als im Rahmen der mittelalterlichen Theologie möglich bewertet werden, die aber angesichts der Zeugnisse der Folgejahre auf eine schon hier sich gegenüber dem spätmittelalterlichen Hintergrund allmählich verselbständigende Position hindeuten.

Was bei Thomas als Stoff der theologischen Ethik zusammenhängend und erschöpfend präsentiert wird, findet sich in den Sentenzen des Lombarden über alle vier Bücher verteilt. Das den Sentenzen zugrundeliegende Gliederungsschema erschwert eine selbständige Thematisierung der Ethik von vornherein, und die konkrete Füllung des Schemas durch den Lombarden macht den Zugang zusätzlich schwierig. Die aus späterer Sicht der Ethik

der mittelalterlichen Theologie, 1965; W. Ernst: Gott und Mensch am Vorabend der Reformation. Eine Untersuchung zur Moralphilosophie und -theologie bei Gabriel Biel, 1972; K.-H. zur Mühlen: Reformatorische Vernunftkritik und neuzeitliches Denken, 1980, 11–43. 253 Wichtige Beiträge zur Erschließung und Einordnung der Randbemerkungen zu den Sentenzen 1509/10 sind: Scheel 2,422–461.461–480; R. Schwarz: Fides, spes und caritas beim jungen Luther, 1962, 5–75.

2.5. Theologiestudium

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zuzuordnenden Themen werden vor allem in der zweiten Hälfte des zweiten Buchs im Anschluß an die Schöpfungslehre und in der zweiten Hälfte des dritten Buchs im Anschluß an die Christologie behandelt. Aber auch die Sakramentenlehre und Eschatologie des vierten Buchs enthalten wichtige Ausführungen, etwa über die Buße und das Gericht. Und von grundlegender Bedeutung ist die einleitende Distinktion des ersten Buchs mit ihrer Unterscheidung von res und signa sowie uti und frui. Daß der Lombarde das menschliche Handeln im Gottes- und Weltverhältnis nicht selbständig und zusammenhängend thematisiert, ist nicht einer mangelnden Dispositionskunst oder fehlender sachlicher Einsicht zuzuschreiben,254 sondern einer eigentümlichen theologischen Absicht, die etwa die Tugendlehre und damit das menschliche Leben in engem Zusammenhang mit Christus als dem Inbegriff der Tugend und insbesondere der Liebe sieht.255 Die Erklärungen für die eigentümliche Verflechtung der theologischen Ethik in das Ganze der Lehrdarstellung können jedoch nicht die tatsächlich vorhandenen Fehlstellen verdecken. Denn in der Tat werden die für die theologische Ethik relevanten Punkte nicht alle behandelt, und wenn, dann oft nur knapp und nicht immer in ethischer Hinsicht. Die Funktion der Sentenzen als grundlegendes Lehrbuch für annähernd 400 Jahre führte dazu, daß sich diese Schwächen in den Sentenzenkommentaren fortsetzten. Sie wurden entweder durch eine weit über den Lombarden ausgreifende Thematisierung der Ethik – etwa im Zusammenhang der Gnadenlehre oder der Tugendlehre – oder durch neu konzipierte selbständige Darstellungen wie die theologische Summe des Thomas ausgeglichen. Doch dieser schon früh in der Rezeptionsgeschichte der Sentenzen fühlbar gewordene Mangel kann die Bedeutung des Lombarden für die theologische Ethik nicht mindern. Denn was er mit allem Nachdruck als Grundgedanken einschärft, bleibt als selbstverständliche Voraussetzung: die Herausstellung der Innendimension menschlichen Handelns und damit die für die Ethik grundlegende Frage der Konstitution des ethischen Subjekts. Der von Abaelard entwickelte frühscholastische Intentionalismus wird vom Lombarden geschickt mit dem augustinischen Voluntarismus verknüpft und in unterschiedlichen Zusammenhängen als Analyse der dem äußeren Handeln zugrundeliegenden anthropologischen Strukturen christlicher Praxis entfaltet. Dabei geht der Lombarde nicht so weit wie Abaelard, sondern rezipiert auch traditionelle moraltheologische Elemente 254 Solche abwertenden Urteile (z.B. R. Seeberg: Dogmengeschichte, Bd. 3, 41930, 196–202) gehen vom Maßstab der seit dem Hochmittelalter verselbständigten und in ihrer Bedeutung über die Jahrhunderte stetig zunehmenden theologischen Ethik aus. 255 J. Rief: Die moraltheologische Konzeption in den Sentenzen des Petrus Lombardus, 292f.

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

– etwa die These von moralisch durch sich selbst qualifizierten konkreten Einzeltaten – und bettet das alles in eine auch inhaltlich immer wieder von Augustin beeinflußte eigenständige Synthese ein. Diese Synthese des Lombarden war repräsentativ für den Diskussionsstand der Mitte des 12. Jahrhunderts. Doch der hier zusammengefaßte frühscholastische Konsens erwies sich nur wenig später als veraltet und mußte einem durch die hochscholastische Aristotelesrezeption auf andere Wege gelenkten neuen Konsens Platz machen. In diesen Zusammenhang gehört Gabriel Biel: Sein Werk faßt die hoch- und spätmittelalterliche Diskussion zusammen und unterscheidet sich als diesem Diskussionszusammenhang verpflichtete Kommentierung der Sentenzen von der ursprünglichen Konzeption des Lombarden.256 Die von der Frühscholastik in Angriff genommene Erarbeitung einer theologischen Theorie der Konstitution des ethischen Subjekts bildete die Basis für die hoch- und spätscholastische Moraltheologie. Allerdings stellte sich diese Aufgabe unter den Bedingungen der Aristotelesrezeption ganz neu. Denn nun mußten die selbständigen Bereiche von Natur und Übernatur je für sich und in ihrem Verhältnis zueinander bestimmt werden, wobei das philosophische und das biblische Menschenbild in einer mindestens latenten Konkurrenz zueinander standen. Die mit Aristoteles aufgebrochene Frage fand aber auch eine von der antiken Philosophie mit inspirierte Antwort. Denn daß der Mensch zum einen als auf sich selbst gestellter frei Handelnder verstanden ist, zum anderen aber als auf die Gnade angewiesener Sünder, verband sich in der gleichermaßen von Thomas von Aquin wie von Gabriel Biel und vielen anderen vertretenen Auffassung, daß die gnadenhafte Neukonstitution des menschlichen Seins auf das freie Handeln des Menschen ausgerichtet ist und sich in ihm realisiert. Das menschliche Handeln erweist sich so als »ontologisch [...] notwendiger Vollzugsmodus personaler Wirklichkeit«.257 Luther lernte diesen anthropologisch-ethischen Konsens in Gestalt der spätfranziskanischen Schultheologie kennen. Die beiden in diesem Rahmen entfalteten Hauptthemen theologischer Ethik sind die Konstitution des ethischen Subjekts und die präskriptive und deskriptive Bestimmung der Gestalt christlichen Lebens. In der Sprache der mittelalter256 Auf die Kontinuität zwischen Hoch- und Spätscholastik hinsichtlich der aristotelisch geprägten Anthropologie, die Biel gewissermaßen zum Vollender dessen macht, was die Mehrzahl der Theologen des 13. und 14. Jahrhunderts je auf ihre Weise erarbeiteten, weist L. Grane: Contra Gabrielem, 1962, 214–222, hin. Die Schuldifferenzen treten angesichts dieser grundsätzlichen Gemeinsamkeiten in der Auffassung vom Menschen und seinem Handeln zurück. 257 Eine aufschlußreiche Einführung in diesen Grundgedanken der hoch- und spätmittelalterlichen Moraltheologie am Beispiel des Aquinaten und Biels gibt K.-H. zur Mühlen: Reformatorische Vernunftkritik, 1980, 11–43 (Zitat: 28).

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lichen Schultheologie gesprochen: Es geht um die Frage der Möglichkeit und Notwendigkeit menschlichen Handelns angesichts von Sünde und Gnade, d.h. um die Möglichkeit und Notwendigkeit des actus moraliter bonus bzw. des facere quod in se est als dispositio ad gratiam; und es geht um die Frage des menschlichen Handelns im Stand der Gnade als Vollzug der Gottesliebe, d.h. um den actus meritorius. Der Horizont der christlichen Praxis, der von Thomas zu Beginn des zweiten Teils der Summa theologiae behandelt wird, ist für den Lombarden der Einsatzpunkt der gesamten Darstellung.258 Die Glückseligkeit (beatitudo), augustinisch gesprochen das frui Deo, ist beim Lombarden nicht nur der eschatologische Horizont christlicher Praxis, sondern Strukturprinzip der theologischen Lehrdarstellung, die sich im Rahmen der Unterscheidung von res und signa sowie von uti und frui entfaltet. Im frui Deo verbinden sich mehrere Momente. Deutlich ist, daß die Lehrdarstellung aus der Perspektive des Menschen entworfen ist, der die natürlichübernatürliche Welt als Zeichen und Dinge klassifiziert und sich mittels des Gebrauchens oder Genießens zu ihr verhält. Dabei lenken die Wertunterschiede zwischen res und signa wie zwischen uti und frui den Blick weg von der irdisch-diesseitigen Welt hin auf Gott, ohne aber die Stufung einfach zu überspringen. Denn des frui wird man teilhaftig mittels des uti. Oder anders formuliert: Der Endzweck menschlicher Existenz ist die Gottesliebe, und zu dieser jenseitigen Gottesliebe verhilft der von den Tugenden angeleitete Umgang mit den innerweltlichen Gütern. Beide Sphären überschneiden sich in der Tugend der Gottesliebe. Diese ist sowohl die Anteilhabe an Gott selbst wie auch die im Menschen vorfindliche habituell-tugendhafte Handlungsdisposition.259 Alles menschliche Leben in der Welt steht beim Lombarden also von Anfang an unter der Forderung der Gottesliebe, die sich im rechten Umgang mit der Welt anfangsweise realisiert, bis sie im Jenseits zu ihrer Erfüllung kommt. Darin ist zudem der Gerichtsgedanke impliziert, wobei die Darstellung der der ewigen Verdammnis oder Seligkeit vorangehenden Ereignisse in den Sentenzen am 258

Sent. I, d. 1. »Frui autem est amore inhaerere alicui rei propter se ipsam; uti vero, id quod in usum venerit referre ad obtinendum illud quo fruendum est« (Sent. I, d. 1: 1,56,10–12). Eine besondere Bedeutung kommt den virtutes zu, die zwar durchaus als solche und um ihrer selbst willen, aber letztlich doch allein um der beatitudo willen zu gebrauchen sind: »Utendum est ergo virtutibus, et per eas fruendum summo bono« (1,60,29 f.); »inter eas quibus utendum est, quaedam sunt per quas fruimur, ut virtutes et potentiae animi, quae sunt naturalia bona« (1,61,5–7). Allerdings gibt es eine unter den Tugenden, die nicht nur Mittel zum Zweck der beatitudo ist, sondern wegen ihrer Identität mit Gott zugleich Selbstzweck: »per virtutes fruimur, non eis, nisi forte aliqua virtus sit Deus, ut caritas« (1,60,31–61,1). Biels Kommentar enthält vergleichbare Aussagen. 259

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

Schluß des letzten Teils steht.260 Die Kehrseite der Ausrichtung des Menschen auf die Liebe Gottes als der summa res ist das Wissen um die damit verbundene Pflicht zur Rechenschaftsablegung und Verantwortungsübernahme. Die Verantwortlichkeit des Menschen wird in Biels Kommentar noch einmal eigens herausgestellt. Zwar betont auch er, daß die beatitudo keine dem Menschen einfach verfügbare Möglichkeit ist und daß der habitus caritatis und das lumen gratiae göttliche Gaben sind. Aber diese Gaben wirken sich unter Voraussetzung der dem Menschen möglichen Disposition auf die Gnade im Medium gnadenhaft ermöglichten menschlichen, und das heißt vernunftgeleiteten und willentlichen Handelns aus.261 Der Horizont menschlichen Handelns ist also die Gottesgemeinschaft der caritas, auf welche die sich in moralisch guten und verdienstlichen Akten verwirklichende innerweltliche Existenz hinführt und über deren endgültiges Erlangen das über das menschliche Leben ergehende Gericht urteilen wird.262 Fragt man nach den Bedingungen solchen auf das frui Deo in der Gottesliebe ausgerichteten Handelns, so verweist die theologische Anthropologie auf die dem Menschen von Natur aus gegebenen potentiae animae.263 Zu diesen das ethische Handeln bestimmenden inneren Momenten gehören die Sinnlichkeit (sensualitas),264 der Wille (voluntas)265 und der Verstand 260

Sent. IV, d. 43–50. Das frui ist ein Akt allein des Willens, der hinsichtlich des ihm vom Intellekt gezeigten obiectum fruibile »›active elicere actum fruitionis‹ etiam ›ex puris naturalibus‹« kann (Coll. I, d. 1, q. 2, a. 2 B: 1,95). Begründung: »Quia omni dictamini rationis rectae voluntas se potest ex naturalibus suis conformare; sed potest ratio dictare et recte, quod huiusmodi obiectum sic ostensum sit diligendum; ›ergo voluntas potest conformiter talem actum elicere‹« (ib.). »viator potest ex naturalibus Deum diligere, licet non meritorie« (ib.). Allerdings relativiert Biel diese Forderung der dem Menschen möglichen Gottesliebe, indem er nicht in jedem Fall ihren faktischen Vollzug fordert (Coll. I, d. 1, q. 4, a. 3, E [1,111]: »dubitatur primo, an homo, quotienscumque cogitat de Deo, teneatur eo actualiter frui. Respondet Holcot q. 4: ›Credo quod non, quia sufficit habitualiter [...]‹«). 262 Diese Stufung der Perspektive menschlichen Handelns in den eigentlichen Zweck der Gottesgemeinschaft und die darauf hinführende und darum in ihrem Eigenwert zu würdigende innerweltliche Existenz spiegelt sich auch in Luthers Randbemerkungen zum Lombarden. Hier bemerkt er zur Frage, ob die Tugenden um ihrer selbst oder um der Glückseligkeit willen zu lieben sind (Sent. I, d. 1: 1,60,11 f.), daß die Tugenden und Geistesgaben auch um ihrer selbst willen wertzuschätzen sind und nicht nur in ihrer Bezogenheit auf Gott (AWA 9,265). Und das gilt gerade auch für die menschliche Willensfreiheit, die auch ohne tatsächliche Bezogenheit auf Gott ihren Wert hat. 263 Sent. II, d. 23–25; Coll. II, d. 23–25. Dazu: W. Ernst: Gott und Mensch, 1972, 256–286. 264 »Est enim sensualitas quaedam vis animae inferior, ex qua est motus qui intenditur in corporis sensus, atque appetitus rerum ad corpus pertinentium« (Sent. II, d. 24: 1,453,17–19). 261

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(ratio)266. Das Handeln des Naturwesens Mensch ist immer eingebettet in seine sinnlichen Strebungen und Bedingtheiten und gewinnt seine ethische Qualifizierung durch seinen willentlich-verstandesmäßigen Vollzug. Wie bereits im Zusammenhang der Moralphilosophie oben dargestellt, ist ethisch gutes Handeln die Verbindung von bona voluntas und recta ratio, die sich in einer Einzelhandlung auswirkt.267 In zwei Zusammenhängen werden diese beiden Bedingungen ethischen Handelns näher ausgeführt: in der Lehre vom freien Willen (liberum arbitrium)268 und der vom Ge265 »Est enim in anima rationali voluntas naturalis, qua naturaliter vult bonum, licet tenuiter et exiliter nisi gratia iuvet; quae adveniens iuvat eam et erigit ut efficaciter velit bonum« (Sent. II, d. 24: 1,453,6–9). Da es in der Gnadenlehre um das Verhältnis von göttlichem und menschlichem Willen geht und auf Seiten des Menschen der Wille das zentrale Element des Handelns ist, erörtert der Lombarde zu Beginn der Gnadenlehre eigens die Frage »Quid sit voluntas«, wobei er zahlreiche Augustinzitate über die voluntas anführt (Sent. II, d. 26, c. 2). 266 »Ratio vero vis animae est superior, quae, ut ita dicimus, duas habet partes vel differentias: superiorem et inferiorem. Secundum superiorem supernis conspiciendis vel consulendis intendit; secundum inferiorem ad temporalium dispositionem prospicit« (Sent. II, d. 24: 1,454,20–455,3). 267 Die von der Frühscholastik angestoßene Diskussion über die ethische Qualifikation von Akten aufgrund der Intention wird in der Hoch- und Spätscholastik fortgeführt. Der auch in Luthers Randbemerkungen zum Lombarden zu findende Grundsatz, daß dem actus interior für die Sittlichkeit des Handelns entscheidende Bedeutung zukommt (AWA 9,501,8–502,3), wurde in der Spätscholastik zu einer komplexen Theorie der ethischen Qualifikation fortentwickelt (Coll. II, d. 38–42; Coll. III, d. 36, not. 1+3; dazu: W. Ernst: Gott und Mensch, 1972, 353–359, sowie die diesem Abschnitt vorangehenden und folgenden Ausführungen zu Wesen und Wert des sittlichen Handelns). Ausdruck dieser Theorie ist die bei Biel zu findende, an Ockham angelehnte differenzierte Abstufung der ethischen Qualität von Akten (Coll. III, d. 36, not. 1): 1. »actus voluntatis elicitus secundum dictamen rectae rationis propter honestatem vel utilitatem talis operis, sicut propter finem, vel habitus ad ipsum inclinans«; 2. »velle sic elicitum ›cum intentione nullo modo dimittendi‹ tale ›pro quocumque contra rectam rationem, etiam non pro morte‹ fugienda, ›si recta ratio dictet tale opus non esse dimittendum pro morte‹«; 3. »velle elicitum secundum rectam rationem et cum tali intentione et ultra hoc ›praecise et solum, quia sic dictatum est a recta ratione‹«; 4. »velle sic et cum intentione hac, elicitum ›propter amorem Dei praecise, puta quia sic dictatum est‹, quod tale opus sic volendum est praecise propter amorem Dei«, was die »perfecta et vera virtus moralis« ist; 5. »velle efficaciter vel imperative facere opus aliquod secundum dictamen rectae rationis, quia sic dictatum est a ratione recta, propter Deum sive alium finem honestum, quod opus sic facere ›excedit communem statum hominum et est contra inclinationem naturalem‹ vel ›ex natura actus‹ vel ›ex aliqua circumstantia‹ vel habitus ad huiusmodi velle inclinans. Et talis habitus est proprie virtus heroica«. 268 Sent. II, d. 25 (Fortsetzung von Sent. II, d. 24, c. 3); Coll. II, d. 25 (dazu: L. Grane: Contra Gabrielem, 1962, 114–148; W. Ernst: Gott und Mensch, 1972, 286–334). »Liberum vero arbitrium est facultas rationis et voluntatis, qua bonum eligitur gratia assistente, vel malum eadem desistente. Et dicitur ›liberum‹ quantum ad voluntatem, quae ad utrumlibet flecti potest; ›arbitrium‹ vero quantum ad rationem, cuius est facultas vel potentia illa, cuius etiam est discernere inter bonum et malum« (Sent. II, d. 24: 1,452,27– 453,3). Biel faßt die Definition noch etwas schärfer, indem er die Zuordnung des intellektiven zum voluntativen Moment präzisiert: Das liberum arbitrium ist die »voluntas

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

wissen (synderesis, conscientia)269. Ethisches Handeln vollzieht sich in Freiheit, d.h. es ist allein in der Spontaneität des Willens liegende, kontingente Selbstbestimmung, die freilich bedingt und damit in gewisser Weise beschränkt ist durch die Umstände des Handelns. Diese Bedingtheit berührt aber nicht die freie Willentlichkeit des Handelns als das – gerade für die franziskanische Tradition mit ihrem Voluntarismus und Personalismus – ethisch konstitutive Moment. Ethisches Handeln vollzieht sich als vernünftige Bestimmtheit dieses Willensaktes,270 die sich in Gestalt der zweistufigen Gewissensentscheidung realisiert. Die neben der voluntas für das Handeln entscheidende ratio ist in ihrer portio superior (synderesis) auf die prima principia der ethischen Praxis bezogen. Sie gelangt mittels der portio inferior (conscientia) im Akt des syllogismus practicus aufgrund der allgemeinen prima principia practica zum besonderen willensleitenden dictamen rectae rationis.271 Biel beschreibt diesen Zusammenhang so, daß er sich im auf das Handeln hinleitenden Entscheidungsprozeß Vernunft und Wille verbinden sieht: Die Vernunft leitet das Handeln an, der Wille wählt zwischen den Handlungsoptionen aus und entscheidet. Der intellektive Anteil läßt sich noch einmal differenzieren in die vorgegebenen Prinzipien und die sich daraus ergebenden unmittelbaren und mittelbaren Folgerungen.272 Hier stehen die synderesis und die conscientia an erster und zweiter Stelle: Die synderesis als allgemeine Handlungsvorgabe, die conscientia als Konkretisierung dieser allgemeinen Vorgabe.273 Das Gewisrationalis libere volens aliquid ostensum sive praesentatum sibi per intellectum« (Coll. II, d. 25 G [2,487]). 269 Das Gewissen wird vom Lombarden nicht vertieft behandelt. Mit der Tradition setzt er ein natürliches Ausgerichtetsein auch des Sünders auf das Gute voraus: »Superior enim scintilla rationis, quae etiam, ut ait Hieronymus, in Cain non potuit exstingui, bonum semper vult et malum odit« (Sent. II, d. 39, c. 3: 1,556,7–9). In der Hoch- und Spätscholastik avanciert das Gewissen zu einem zentralen moraltheologischen Theorieelement (Coll. II, d. 39). 270 Biel definiert das liberum arbitrium als »voluntas rationalis libere volens aliquid ostensum sive praesentatum sibi per intellectum« (Coll. II, d. 25, concl. 2, G [2,487]). 271 Bei der ratio werden die pars superior und inferior unterschieden: »Secundum supernis conspiciendis vel consulendis intendit; secundum inferiorem ad temporalium dispositionem prospicit« (Sent. II, d. 24: 1,454,1–3). 272 »In processu autem nostro ad operandum concurrit potentia intellectiva et voluntas: intellectus ut ostendens operandum et dictans, scilicet illud, quo fieri ostensum est ad operandum; voluntas ut imperans et eligans. Intellectus ostendendo et dictando procedit a principiis per se notis ad conclusiones immediatas et mediatas, quae significant aliquid operandum, acceptandum vel fugiendum« (Coll. II, d. 39, not. 3, D [2,658 f.]). 273 Die synderesis ist eine »potentia nata assentire naturaliter principio practico evidenti ex terminis, dictanti, id est significanti, in universali aliquid operandum, appetendum vel fugiendum«. Die »Conscientia autem est notitia adhaesiva actualis vel habitualis conclusionis dictantis, id est significantis, in particulari aliquid bene et laudabiliter esse operandum vel omittendum aut enuntians operationem aliquam fieri aut factum esse,

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sen repräsentiert im Entscheidungsprozeß die normative Vorgabe für das menschliche Handeln auf ihren unterschiedlichen Konkretionsstufen und ist darin mit dem göttlichen Gesetz mit seinen verschiedenen Verbindlichkeitsgraden vergleichbar.274 Unter der Voraussetzung der gratia creationis, d.h. der göttlichen influentia generalis, ist dem Menschen auch ohne besondere Gnadengabe moralisch gutes Handeln möglich. Denn andernfalls würden die potentiae animae geleugnet und die antike Philosophie und die alltägliche Lebenserfahrung Lügen gestraft.275 Die Möglichkeit des actus moraliter bonus umfaßt die Befähigung zu moralisch gutem Handeln und die Fähigkeit zum Vermeiden von Todsünden. Allerdings ist dieses an sich moralisch gute Handeln nicht ganz so einfach möglich, wie die Ausführungen über die potentiae animae nahelegen. Angesichts von Sünde und Gnade müssen die Möglichkeiten und Grenzen des actus moraliter bonus näher bestimmt werden. Wenden wir uns zuerst der positiven Würdigung der menschlichen Möglichkeiten zu, wie sie vor allem im Zusammenhang der Gnadenlehre behandelt wird, wenn es um die Bestimmung des Verhältnisses von göttlicher und menschlicher Aktivität hinsichtlich der Heilszueignung geht. Hier spielt der actus moraliter bonus als »facere quod in se est« eine Schlüsselrolle für die spätfranziskanische Schultheologie. Indem sich der Wille der recta ratio angleicht (se conformat) und es zu einer freien Selbstbestimmung und deren tathafter Konkretion kommt – und zwar bis hin zu der dem Menschen aus eigenen Kräften möglichen Gottesliebe über alles (dilectio Dei super omnia) –, disponiert sich der Mensch zur göttlichen Gnadeneinflößung (infusio gratiae).276 Damit gewinnt das freie, selbstbeomitti vel omissam fuisse« (Coll. II, d. 39, not. 3, E [2,659 f.]). Für beide gilt, daß sie nicht zur voluntativen, sondern zur intellektiven Wesensseite des Menschen gehören: Die synderesis gehört nicht zum Willen (der ja frei ist, während die synderesis von vornherein festgelegt ist), sondern zur pars intellectiva hominis, und zwar als unauslöschliche »potentia intellectiva realiter principiis practicis ex terminis evidentibus nata assentire naturaliter« (G [2,661]): »Conscientia est actus vel habitus assensivus, non apprehensivus« (G [2,662]). Allerdings grenzt sich Biel auch gegen die Lehrmeinung des Thomas von Aquin ab, der lehrt, »quod synderesis sit habitus primorum principiorum practicorum nobis naturaliter inditus«, während die »conscientia actus est, quo scientia applicatur ad agenda« (B [2,656]), und bevorzugt die des Bonaventura, für den die conscientia eine intellektuelle (zu guten Werken anleitende), die synderesis hingegen eine voluntative (zum Guten hinstrebende) potentia ist (C [2,657]). 274 Coll. II, d. 39, dub. 2, I (2,665). 275 Coll. II, d. 27+28 (dazu L. Grane: Contra Gabrielem, 1962, Kap. 4). Biels durchgehendes Interesse an der natürlichen Moralität beabsichtigt nicht deren Verselbständigung gegenüber der Theologie, sondern will gerade den Bereich der Natur fester an den der Übernatur binden. 276 Coll. II, d. 28 (I). Eine Zusammenfassung seiner Anschauungen über die dispositio ad gratiam bietet Biel in Coll. III, d. 27, dub. 2. S.a. Coll. I, d. 17 (vor allem q. 3); II, d.

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

stimmte menschliche Handeln – wenn auch nur aufgrund der göttlichen Akzeptation und nicht an sich – soteriologische Relevanz. Seine konkrete Gestalt hat dieses facere quod in se est beim Christen in der Buße, indem der Christ in der contritio den Riegel beseiteschiebt (obicem removere) und sich Gott im Akt der Liebe zuwendet. Solcher Buße verweigert Gott die Gnadeneingießung nicht (facienti quod in se est Deus non denegat gratiam). Allerdings relativiert Biel die menschlichen Möglichkeiten zum facere quod in se est dadurch, daß er auf die aus Sicht des Menschen bleibende Ungewißheit und Zweideutigkeit hinsichtlich der tatsächlichen Qualifizierung menschlichen Handelns hinweist.277 Überhaupt geht es ihm nicht um die theologische Legitimation eines anthropologischen Optimismus oder um die Berücksichtigung der Interessen des christlichen Moralismus, wie er dem Mittelalter in Pelagius vor Augen stand. Sondern in allem will Biel die grundlegende und entscheidende Bedeutung der göttlichen Gnade gewahrt wissen, die sich durch kein menschliches Verhalten herbeizwingen läßt, sondern sich frei zur Wertschätzung menschlichen Handelns verpflichtet.278 Die dem menschlichen Handeln von sich aus mögliche Rechtheit der ratio und Gutheit der voluntas, durch die sogar eine dilectio Dei super omnia erreicht werden kann, ist aber beeinträchtigt durch die Sünde. Zwar war der Mensch dem Lombarden zufolge vor dem Fall279 der Schöpfungsgnade teilhaftig und konnte unterstützt von ihr als der Unversehrtheit des freien Entscheidungsvermögens, der Rechtheit des Willens und der Verläßlichkeit und Verfügbarkeit aller natürlichen Seelenkräfte sündenfrei le22, dub. 1; II, d. 27, concl. 4 und dub. 4. Dieses Thema wird auch in den Biel-Darstellungen behandelt, weil es von grundlegender Bedeutung für Luthers spätere Auseinandersetzung mit der Spätscholastik war (H. A. Oberman: Spätscholastik und Reformation Bd. 1, 1965, 123–129; L. Grane: Contra Gabrielem, 1962, 214–222; W. Ernst: Gott und Mensch, 1972, 320–334). 277 Coll. II, d. 27, dub. 5; IV, d. 9, not. 1. 278 Coll. II, d. 27, dub. 4 weist mit der Unterscheidung von necessitas coactionis und immutabilitatis den naheliegenden Vorwurf des Pelagianismus oder Semipelagianismus gegen Biels Lehre als unbegründet zurück. Innerhalb des spätfranziskanischen Systems selbst ist diese Verwahrung plausibel und auch innerhalb der mittelalterlichen Diskussion kann Biel sich mit Recht seiner betonten Herausstellung der Gnade rühmen, auch wenn und gerade weil er sie auf andere Weise als die augustinisch inspirierte Kritik (Gregor von Rimini u.a.) gegenüber dem menschlichen Handeln zum Zuge kommen läßt. Der Vorwurf des Pelagianismus oder Semipelagianismus läßt sich gegen Biel nur sinnvoll von außerhalb der mittelalterlichen Diskussion machen, und damit verliert er an historischer Relevanz. Insofern ist die Forschungsdebatte über den vermeintlichen Pelagianismus der spätfranziskanischen Schultheologie (ein neuerer Überblick dazu findet sich bei D. Metz: Gabriel Biel und die Mystik, 2001, 395–398) kaum hilfreich. 279 Sent. II, d. 24–29, wobei die Gnadenlehre (d. 26–28) den Zustand des Menschen vor dem Fall aus der Perspektive seiner Wiederherstellung durch die Gnade in den Blick nimmt.

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ben.280 Aber mit dem Fall ist die Ausgangslage eine andere geworden. Der entscheidende Punkt des Sündenfalls ist dabei nicht die bildlich mit der Schlange und mit Eva parallelisierte Sünde der pars inferior rationis. Dieser kann der Mensch wegen seiner naturgegebenen Mitbestimmtheit durch die Sinnlichkeit kaum entgehen; sie ist darum als läßliche Sünde zu qualifizieren. Problematisch ist vielmehr die mit Adam parallelisierte Sünde der pars superior rationis. Wenn die Sünde die pars superior rationis ergreift, wirkt sie sich auf die anthropologischen Bedingungen ethischen Handelns aus, bestimmt die gesamte Existenz des Menschen und ist somit als Todsünde zu qualifizieren. Der freie Wille hat darum je nach Situation des Menschen vier status: Vor dem Sündenfall »sine errore ratio iudicare, et voluntas sine difficultate bonum appetere poterat«; nach dem Sündenfall wird er von der concupiscentia beherrscht und kann sich dem Sündigen nicht entziehen; im diesseitigen Gnadenstand ist er weiter mit der concupiscentia konfrontiert und kann weiterhin sündigen, kann aber aufgrund der Gnade widerstehen und sich zum Guten wenden; nach der confirmatio hat der Wille die vollendete Gnade und das non posse peccare.281 Der Mensch, wie er sich nach dem Fall vorfindet, ist durch eine partielle corruptio des liberum arbitrium durch die Sünde gezeichnet. Um das Bleibende vom Verlorenen abgrenzen zu können, unterscheidet der Lombarde die natürlichen von den gnadenhaften Gaben. Der Sünder verliert die gnadenhaften Gaben vollständig und die natürlichen Gaben teilweise.282 Zwar sind auch die dona naturalia wie ingenium, memoria und intellectus Gnadengaben, aber sie gehören zur bleibenden gratia generalis. Das liberum arbitrium ist »ex parte perdita«283, was näherhin heißt, daß nicht das liberum arbitrium als solches verloren ist, sondern die libertas arbitrii a miseria et a peccato. Trotz dieser bleibenden Fähigkeiten und der im Gewissen gegenwärtigen normativen Handlungsvorgaben bleibt der von der Sünde gezeichnete Mensch auf die Gnade angewiesen, um das Gute wirksam wollen und tun zu können.284 Auch die Strukturen menschlichen 280 Sent. II, d. 24. Eine gratia operans oder cooperans waren vor dem Fall nicht notwendig, folglich konnte es auch keine Verdienste und damit keine Abstufung von moralisch gutem und verdienstlichem Handeln geben (Sent. II, d. 29, c. 1). 281 Sent. II, d. 25, c. 6. 282 »Per illud namque peccatum naturalia bona in homine corrupta sunt, et gratuita detracta« (Sent. II, d. 25: 1,465,7 f.). Hinweis auf Lk. 10,30: »Hic est enim ille qui a latronibus vulneratus et spoliatus: vulneratus quidem in naturalibus bonis, quibus non est privatus: alioquin non posset fieri reparatio; spoliatus vero gratuitis, quae per gratiam naturalibus addita fuerant« (1,465,8–12). S. auch Sent. II, d. 35, c. 4. 283 Sent. II, d. 25: 1,465,17 f. 284 Sent. II, d. 25, c. 9: »voluntas hominis, quam naturaliter habet, non valet erigi ad bonum efficaciter volendum vel opere implendum, nisi per gratiam liberetur et adiuvetur: liberetur quidem ut velit, et adiuvetur ut perficiat« (1,469,23–25).

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

Handelns, die Tugenden, sind nach dem Fall vorhanden wie zuvor, allerdings wie die anthropologischen Bedingungen des Handelns durch die Sünde beeinträchtigt.285 Ihnen stehen nunmehr die sieben Hauptlaster (septem vitia capitalia vel principalia) gegenüber, deren Wurzel und Anfang der Hochmut (superbia) ist.286 Das moralisch gute Handeln ist also durch die Sünde nach Meinung sowohl des Lombarden als auch Biels prinzipiell erschwert. Allerdings setzt Biel sich hier gegen die augustinische Problematisierung des menschlichen Seins und Handelns ohne Gnade ab, indem er – wenn auch nicht in direkter Auseinandersetzung mit der augustinischen Tradition, so doch wenigstens mit ihren spätmittelalterlichen Repräsentanten – die Möglichkeiten des Menschen im Urstand, im Stand der Sünde und im Stand der Gnade höher veranschlagt. Im Grundsatz ist man sich jedoch einig, daß die Sünde die Möglichkeit zu moralisch gutem Handeln zwar erschwert – wobei das Ausmaß dieser Erschwernis unterschiedlich bestimmt wird –, es nicht jedoch prinzipiell unmöglich macht.287 Von einer mit dem Faktum der Sünde gegebenen grundsätzlichen und umfassenden Problematisierung menschlichen Seins und Handelns ist man weit entfernt, hieße das doch der bleibenden guten Substanz des Menschen nicht gerecht zu werden.288 Luthers Randbemerkungen zu den Sentenzen betonen die menschliche Sündhaftigkeit und Schwäche dagegen deutlicher, als Biel es tut, und len285

Sent. II, d. 29, c. 2. Sent. II, d. 42, c. 6–8. 287 Biel thematisiert diese Erschwerung in unterschiedlichen Zusammenhängen. So wird in Coll. II, d. 28, dub. 2+3 angesichts der menschlichen Schwäche und Angewiesenheit auf Unterstützung von außen die Möglichkeit zur Gnadendisposition durch das facere quod in se est problematisiert. Coll. II, d. 29, not. 1 lenkt den Blick darauf, daß nach dem Fall weder die condicio operantis noch die condicio operationis meritoriae einfach gegeben sind, sondern daß vom Sünder gilt: »vix vel nonnisi difficillime potest [summum bonum omni bono praeponere] propter recurvationem voluntatis ad seipsum«, weshalb er keine rechte Intention und kein rechtes Handeln aufweisen kann. Coll. II, d. 39, dub. 1 weist auf die Beeinträchtigung der Erkenntnis und der handlungsorientierten Anwendung der prima principia der praktischen Vernunft durch das Gewissens aufgrund der Sünde hin. Eine Zusammenfassung zu Biels Aussagen über den Willen in statu naturae lapsae gibt W. Ernst: Gott und Mensch, 1972, 310–320. 288 Das zeigt sich allein schon daran, daß die die menschliche Leistungsfähigkeit problematisierenden Aussagen oft der argumentativen Absicherung der Biel primär interessierenden gegenläufigen Aussagen dienen. Biels Bemühen, die Sünde nicht als prinzipielle Verunmöglichung sittlicher und damit mittelbar verdienstlicher Praxis zu sehen, führt auch dazu, daß bestimmte Aussagen der Paulusbriefe verkürzt aufgenommen werden, etwa die Unterscheidungen von altem und neuem Menschen (Coll. II, d. 24, a. 3, dub. 1 u.ö.), die Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium (Coll. II, d. 40 u.ö.) oder die Rede von der christlichen Freiheit (die Biel im Zusammenhang der Erörterung des liberum arbitrium primär als kontingente Freiheit und nicht als Freiheit von der Sünde versteht). 286

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ken damit stärker zur vom Lombarden repräsentierten augustinischen Tradition zurück. Luther sieht in der Freiheit des Menschen einerseits seine besondere Würde als »nobilissima entitas« begründet, weiß aber auch um ihre Verkehrung.289 Gerade weil er den erbsündlichen Mangel an Urstandsgerechtigkeit nicht primär in einer inneren Qualitätsveränderung des Menschen, sondern in der von außen kommenden ordinatio divina begründet sieht, ist jeder Mensch seit Adam von dieser Schwäche gezeichnet und steht abgesehen von der inneren Disposition unter dem iudicium divinum.290 Das gilt auch für den Christen, der zwar durch die Taufgnade von der Schuld befreit ist, aber lebenslang im Widerstreit des Geistes mit der bleibenden Sündenstrafe der concupiscentia carnis steht. Er erfüllt das Gebot Gottes nur unter Schwierigkeiten und gegen das Fleisch.291 Neben diesen anthropologischen Bedingungen menschlichen Handelns, die im Inneren das ethische Subjekt konstituieren, ist für die mittelalterliche Moraltheologie auch die von außen an den Menschen herantretende ethische Norm des Handelns von großer Wichtigkeit.292 Bereits der Hinweis auf das Gewissen hat gezeigt, daß recta ratio und bona voluntas die inhaltliche Bestimmung des Handelns nicht aus sich selbst heraussetzen, sondern diese von außen empfangen. Denn der Mensch findet sich als Handelnder in einer umfassenden, von Gottes potentia ordinata gesetzten Ordnung vor.293 Ausdruck dieses gegebenen ordo ist das Gesetz (lex) in seinen unterschiedlichen Gestalten. Auch für die Gesetzeslehre ist die Unterscheidung von Natur und Übernatur und der entsprechenden fines (fi289 AWA 9,456,14–23. »creatura [...] certo nature et arbitrii modo terminata, Extra quam cum nititur libertate sua (quam decuit sic creari liberam) fit mala et inobediens«. 290 AWA 9,479,12–27. 291 AWA 9,480,25–481,3. 292 Gerade an der Behandlung der ethischen Norm – des Gesetzes – wird aber der Unterschied zwischen dem Lombarden und Biel und den von ihnen repräsentierten Entwicklungsstufen der mittelalterlichen Theologie deutlich. Der Lombarde schließt die Lehre vom Gesetz locker an die Tugendlehre an, indem er die Liebe als den Zusammenhang der Tugenden untereinander versteht und von dieser Näherbestimmung der connexio virtutum auf das Liebesgebot und seine Entfaltung im Dekalog zu sprechen kommt (Sent. III, d. 36, c. 3 und d. 37–40). Weder hier noch an anderen Stellen kommt er zu einer mit dem hoch- und spätscholastischen lex-Traktat vergleichbaren Systematisierung. Biel dagegen setzt diese Systematisierung selbstverständlich voraus und faßt sie übersichtlich in den einleitenden notabilia zu Coll. III, d. 37 zusammen, bevor er auf die für die Theologie in besonderer Weise wichtigen Themen Liebesgebot und Dekalog zu sprechen kommt. Ausführlich behandelt wird Biels Gesetzeslehre in W. Ernst: Gott und Mensch, 1972, 181–254. 293 Biel kann zwar wie Thomas auch von der lex aeterna sprechen (Coll. II, d. 35, not. 1), systematischer Ausgangspunkt seiner Gesetzeslehre ist jedoch – entsprechend der spätfranziskanischen Schultradition – die Unterscheidung von potentia absoluta und ordinata.

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nis naturalis und supernaturalis) wichtig. Die dem Menschen innewohnende, durch die Sünde aber verdunkelte lex naturalis und die aus ihr abgeleitete lex positiva dienen dem Erreichen der innerweltlichen Glückseligkeit (»felicitas humana, sive monastica sive oeconomica sive politica«).294 Dagegen dient die lex divina als altes und neues Gesetz dem Erreichen der ewigen Glückseligkeit in den unterschiedlichen heilsgeschichtlichen Epochen. Die für die theologische Ethik in besonderer Weise wichtige lex divina ist formal durch ihr Geoffenbartsein und ihre Ausrichtung auf die felicitas aeterna ausgezeichnet. Sie hat vier Gestalten: die von Gott unmittelbar geoffenbarten und in der Bibel, besonders den Evangelien, niedergeschriebenen Gebote; die durch direkte Schlußfolgerung daraus abgeleiteten Gebote; die durch die Apostel und die vom Geist geleitete Kirche aus der Schrift und deren unmittelbaren Implikationen abgeleiteten Gebote; die auf besonderer Inspiration und Offenbarung beruhenden und nur einzelnen oder wenigen geltenden Gebote. Damit ist das ganze spätmittelalterliche Rechtsgefüge der Kirche einschließlich des kanonischen Rechts und der monastischen Lebensordnungen mit der Dignität der lex divina ausgestattet. Die Unterscheidung von lex divina, naturalis und humana anhand formaler Kriterien ermöglicht es der scholastischen Gesetzeslehre, bestimmte inhaltliche Forderungen unterschiedlich und zum Teil mehreren Kategorien gleichzeitig zuzuordnen. Weil Gottes potentia ordinata die rahmengebende Ordnung ist, können die auf das Natürliche und auf das Übernatürliche gerichteten Gesetze inhaltlich letztlich gar nicht in Widerspruch zueinander stehen. Auch wenn sich die höhere Konkordanz dem begrenzten menschlichen Einsichtsvermögen vielleicht nicht erschließt, so gibt die Gegründetheit der Welt in Gott die Gewißheit, in einem einheitlichen, von einem in sich stimmigen Gesetz geordneten Gefüge zu leben. Das geoffenbarte und in der Bibel schriftlich niedergelegte göttliche Gesetz gliedert sich in die lex vetus und die lex nova.295 Für den Christen hat von der lex vetus nur noch das Gültigkeit, was auch in der lex nova oder in der lex naturalis gefordert ist. Damit ist ein Großteil der alttestamentlichen praecepta iudicialia und ceremonialia außer Kraft gesetzt und allenfalls mit Hilfe einer geistlichen Ausdeutung für den Christen relevant. Das Judizialgesetz ist im Neuen Testament nicht mehr vorhanden und ersetzt durch die weltlichen Ordnungen. Denn die christlichen Völker 294

Darin eingeschlossen ist die bereits aufgrund der lex naturae gegebene Möglichkeit zum gnadendisponierenden facere quod in se est (Coll. II, d. 22, q. 2, a. 3, dub. 1). 295 Coll. III, d. 37, a. 1, not. 4 und d. 40 (dazu: W. Ernst: Gott und Mensch, 1972, 247–254).

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leben nicht mehr in der jüdischen Theokratie, sondern in einer Welt voneinander unterschiedener weltlicher und geistlicher Korpora. Das Zeremonialgesetz ist erheblich reduziert und besteht im Kern in den neutestamentlichen Weisungen hinsichtlich der Sakramente, aus denen sich freilich Regelungsbedarf für die innerkirchlichen Verhältnisse ergibt, der nur ansatzweise vom Neuen Testament gedeckt wird. Für die Reflexion des christlichen Lebens zentral ist das Moralgesetz des Neuen Testaments. Hier kommt Biel nun auf das eigentliche Thema der das dritte Buch der Sentenzen abschließenden Distinktionen zu sprechen: auf den Zusammenhang von Liebesgebot und Dekalog. Der Lombarde faßt Augustins Aussagen über den Dekalog im Rahmen der Erörterung der connexio virtutum zusammen,296 wenn er alle moralischen Gebote der Bibel und insbesondere den Dekalog im Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe übereinkommen sieht. Die weiteren Ausführungen des Lombarden über den Dekalog finden sich auch bei Biel, und zwar im Sinne der spätfranziskanischen Schultheologie expliziert:297 Der Dekalog gliedert sich in die drei ersten Gebote, die in sich trinitarisch strukturiert sind und das Gottesverhältnis des Menschen betreffen, und die sieben weiteren Gebote, die die Nächstenliebe betreffen. Für Biel ist der Dekalog die angesichts der menschliche Schwäche notwendige Entfaltung des an sich genügenden Doppelgebots der Gottes- und Nächstenliebe.298 Er ist wie auch die »tota lex nihil aliud [...] quam horum duorum praeceptorum explicatio«.299 Zugleich ist der Dekalog Ausdruck der lex naturalis, wobei nach franziskanischer Schulmeinung nur die beiden ersten Gebote der ersten Tafel im strengen Sinne zu ihr gehören.300 Die mit der engen Verbindung von lex naturalis und lex divina in Gestalt des Liebesgebots und des Dekalogs gestellte Frage nach dem Verhältnis beider Größen wird in der inhaltlichen Entfaltung über die bereits behandelte formale Kategorialisierung hinausgehend darin gesehen, daß die lex divina zu einer anderen Art der Erfüllung verpflichtet. D.h. inhaltlich gibt es ein Entsprechungsverhältnis – keine volle Identität – zwischen natürlichem und göttlichem Gesetz. Entscheidend ist aber, daß Dekalog und Liebesgebot als göttliche Forderung verstanden die Einbettung des 296 Sent. III, d. 36, c. 3. Zu Augustins Dekalogverständnis: AugL 2,246–255 (Alfred Schindler). 297 Coll. III, d. 37–40 (dazu: W. Ernst: Gott und Mensch, 1972, 237–243). Biel beschränkt sich in seiner Behandlung des Dekalog auf die Hauptgesichtspunkte, da »nonnulli de his decem praeceptis non inutiliter tam diffuse quam doctrinaliter et fructuose volumina non modica conscripserunt« (Coll. III, d. 37 [3,626]). 298 Coll. III, d. 37, a. 1, not. 5. 299 Coll. III, d. 37, a. 1, not. 5 (I): 3,633. 300 Coll. III, d. 37, a. 2.

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Gebotsgehorsams in die dilectio Dei super omnia verlangen.301 Diese ist dem Menschen als habitus acquisitus möglich. Dabei geschieht zeitgleich mit ihrem Vorliegen die Gnadeninfusion, so daß faktisch jeder Gebotsgehorsam entsprechend der intentio praecipientis mit der Gnade einhergeht. Das Gesetz ist also dem Menschen erfüllbar, aber eben auf zwei Stufen: einmal als äußerer Vollzug des Geforderten, zum anderen als mit der von Gott geforderten inneren Haltung einhergehender äußerer Vollzug. Ersteres ist moralisch gut, letzteres zusätzlich noch verdienstlich. Damit gewinnt das Gesetz soteriologische Bedeutung: seine Erfüllung ist dem Menschen sowohl hinsichtlich des äußeren Aktes wie der inneren Einstellung möglich – beides zusammen bedingt die zeitgleich erfolgende Gnadeninfusion. Zwar behindert die Sünde die Einsicht in das Gesetz, sie stürzt die recta ratio in den Zwiespalt mit der sensualitas und sie erschwert die Umsetzung in einzelne Handlungen, aber all das kann nicht die grundsätzliche Praktizierbarkeit des Gesetzes einschränken.302 Obwohl Biel die Bedeutung des Gesetzes als zentraler Leitgröße christlicher Existenz herausarbeitet, gilt es ihm doch nicht als eine den gesamten Lebensvollzug bis ins einzelne regulierende Größe. Liebesgebot und Dekalog sind geradezu Ausdruck göttlicher Barmherzigkeit: Gott läßt dem Menschen gegenüber nicht die ganze Strenge seiner Gerechtigkeit (rigor iustitiae) durch die Auferlegung einer allumfassenden Lebensordnung walten, sondern er beschränkt den geforderten Gehorsam.303 Zudem gilt, daß die positiv formulierten Gebote anders als die Verbote nicht pro semper, sondern nur pro certo tempore, loco vel causa verpflichten. Es eröffnet sich also in dem durch die grundlegenden Verbote und die einzelnen Gebote strukturierten Lebensrahmen ein weites Feld indifferenter Akte, die weder meritum noch demeritum sind. Christliches Leben unter dem Gesetz kennt somit zwar keine Freiheit vom Gesetz, aber Freiräume innerhalb der gesetzlichen Ordnung. 301 Coll. III, d. 37, a. 2 (P-S). Die Dekaloggebote verpflichten zum durch die Liebe formierten Handeln, d.h. sie sollen entsprechend der intentio praecipientis aufgrund von Liebe befolgt werden. Das gilt jedoch nur conditionaliter, nicht simpliciter. D.h. die Liebe ist gefordert, soll das Handeln gemäß dem Dekalog meritorischen Wert haben. Eine Befolgung des Dekalogs ohne Liebe ist zwar nicht meritorisch, aber auch nicht moralisch schlecht (abgesehen von dem Fall, daß für eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Ort die Liebe gefordert ist: »nisi forte in eo tempore, in quo tenetur mereri, ut in die dominico, quo tenetur actualiter elicere dilectionem Dei super omnia, aut dum tenetur se praeparare ad sacramenti susceptionem« [P: 3,640]). 302 Biel verweist immer wieder auf die Hieronymus zugeschriebene, tatsächlich aber auf Pelagius zurückgehende Auffassung, das Gesetz gebiete nichts Unmögliches (»Deus nullum obligat ad impossibile«; Stellennachweis in den Indices zu Biels Collectorium, bearb. v. W. Werbeck, 1992, 131). 303 Coll. II, d. 41, dub. 1.

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Die Leitung des christlichen Lebens unter der Gnade durch das Gesetz vollzieht sich in unterschiedlicher Weise. Der Zusammenfassung des Gesetzes in Liebesgebot und Dekalog auf der einen Seite korrespondiert die vielfältige Differenzierung der normativen biblisch-kirchlichen Vorgaben auf der anderen Seite. Diese sind aber nur zum Teil Thema der Sentenzenkommentierung. Das Gesetz enthält Gebote (praecepta), die zu einem bestimmten Tun verpflichten, Verbote (prohibitiones), die ein bestimmtes Tun untersagen, Räte (consilia), die dazu anleiten, etwas in vollkommenerer Weise zu tun, nähere Unterrichtungen (informationes) hinsichtlich der Umsetzung der Gebote und Räte sowie Mahnungen (exhortationes), die gleichsam als freundliche Bitten zur Praxis der in unterschiedlichem Maße verpflichtenden Gebote, Verbote und Räte einladen.304 Vor allem die – von Biel nicht näher erläuterte, sondern vorausgesetzte – Unterscheidung von verpflichtenden Vorgaben (praecepta, prohibitiones) und Räten zeigt, daß sich hinter dem scheinbar einheitlichen Liebesgebot eine Abstufung innerhalb des Gesetzes verbirgt. Denn die Forderung des Liebesgebots umfaßt drei Stufen, von denen die dritte und vollkommenste der dauerhaften dilectio actualis im Diesseits nicht erreichbar ist, die erste der Abwesenheit eines jeden actus contrarius für alle Christen verbindlich und die zweite der regelmäßigen punktuellen Ausübung durch die Kontemplation Gottes und die Ausrichtung aller Handlungen auf Gott hin ein Rat für die proficientes und perfecti ist.305 Neben dem Horizont, den anthropologischen Bedingungen und den ethischen Normen des Handelns ist als viertes Thema der theologischen Ethik des Mittelalters die Ermöglichung des Handelns durch die göttliche Gnade zu nennen. Auch hier repräsentiert der Lombarde einen gegenüber Biel zurückliegenden Diskussionsstand, der nicht hinreichend die Bedeutung dieses Themas erkennen läßt. Biels Behandlung des Zusammenhangs von göttlicher Gnade und menschlichem Handeln folgt zwei gegenläufigen, sich ergänzenden Interessen: Zum einen betont Biel wie die ganze christliche Tradition die umfassende Bedeutung der Gnade; zum anderen grenzt er innerhalb dieser das christliche Leben prägenden Macht einen Bereich menschlicher Eigenaktivität aus, der in der Bedingungs- und der Folgerelation auf die Gnade bezogen ist. Diese Doppelheit in der Verhältnisbestimmung verdankt sich einem doppelten Bestreben Biels: Zum einen sieht er sich von der augustinischen Tradition her mit einem Systemzwang der Gnadenlehre konfrontiert, die das menschliche Beteiligtsein an der 304 305

Coll. II, d. 39, a. 3, dub. 2. Coll. III, d. 27, a. 3, dub. 1. S. auch Coll. IV, d. 16, a. 5, a. 1, not. 1.

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Heilszueignung und ihrer Auswirkungen in der christlichen Existenz zu minimieren droht. Im Interesse der biblischen Forderungen an den Menschen und der mit dem biblischen Menschenbild in Teilen durchaus konvergierenden aristotelischen Anthropologie betont Biel dagegen die Möglichkeit des moralisch guten Handelns aus eigenen Kräften, die Möglichkeit der dispositio ad gratiam durch das meritum de congruo mittels des facere quod in se est und das für das Leben im Stand der Gnade konstitutive Beteiligtsein des liberum arbitrium. Zum anderen restringiert er die der Bedeutung der Gnade zuwiderlaufende Dynamik des menschlichen Vermögens ex suis naturalibus, indem er die Einbindung in das Gnadengeschehen stark macht und auf die menschlichen Schwächen und Mängel hinweist. Dieses doppelte Bestreben wird in der Kontinuität zur hochund spätscholastischen Lehrbildung so ausgeführt, daß er beides nicht mehr oder minder unverbunden nebeneinander stellt, sondern in einem in sich einheitlichen systematischen Reflexionsgefüge aufeinander bezieht.306 Die Entfaltung des Gnadenbegriffs zu Beginn der Gnadenlehre in Coll. II, d. 26–29 zeigt die umfassende Bedeutung der Gnade für die Welt im allgemeinen und den Christen im besonderen. Hier wird die Gnade im weitesten Sinne als die Weltzuwendung Gottes in Schöpfung und Erhaltung verstanden, im weiteren Sinne als die körperlich-geistige Ausstattung des Menschen und sein Besitz äußerer Güter, im eigentlichen Sinne als übernatürliche Gabe Gottes – wozu etwa die eingegossenen Tugenden gehören –, und im eigentlichsten Sinne als die das ewige Leben eröffnende Rechtfertigungsgnade.307 Aber obwohl Biel die Gnade als umfassende Prägung christlicher Existenz versteht, was er mit zahlreichen Augustinzitaten untermauert, relativiert er die Bedeutung der Gnade für das moraliter bene agere sofort wieder dadurch, daß er gegen Gregor von Rimini zwischen dem facere mandatum und dem perficere mandatum unterschei306 Trotz dieser Weiterentwicklung der systematischen Durcharbeitung der Gnadenlehre und einiger neuer inhaltlicher Lehrpunkte steht Biel hinsichtlich des Grundsätzlichen in der Kontinuität zum Lombarden, wie sie sich in der Coll. II, d. 26 einleitenden Zusammenfassung von d. 26–29 zeigt: Die Gnade ist das adiutorium libero arbitrio superadditum, wodurch dieser »ad recte vivendum et bene operandum poterit elevari«. Dabei zeigt Sent. II, d. 26, daß erstens die gratia operans der bona voluntas zuvorkommt, sie befreit und bereitet (wobei Biel im Sinne der franziskanischen Gnadenlehre sogleich die Bemerkung einschiebt, daß die gratia cooperans mit ihrer Vervollkommnung der bona voluntas dieser der Sache, nicht aber der Zeit nach folgt); daß zweitens das, was der gratia als der fides per dilectionem operans an menschlichen Leistungen vorangeht, nicht heilssuffizient ist, den Willen nicht heilt und nicht zum rechten Leben verhilft; und daß drittens die rechtfertigende gratia operans und die zu gutem Handeln verhelfende gratia cooperans eine einzige Gabe sind, die sich nur hinsichtlich der Wirkungen unterscheidet und nur deshalb unterschiedlich benannt wird. 307 Coll. II, d. 26, not. 1.

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det,308 so daß also Moralität auch ohne Gnade möglich ist, nicht aber Verdienstlichkeit. Damit grenzt er bereits in der Bestimmung des Gnadenbegriffs einen Bereich aus, in dem die Gnade nicht nur als bedingende, sondern auch als in bestimmtem Sinne bedingte Größe zur Sprache gebracht werden kann. Doch zunächst zielt die Grundlegung der Gnadenlehre auf die Unterscheidung der gratia gratum faciens und der gratia gratis data. Soteriologisch unmittelbar relevant ist nur die erstere, weil sie den Menschen innerlich so erneuert, daß er zum amicus Dei und des ewigen Lebens würdig wird. Doch neben ihr steht die andere Gnade, die zwar auch ein donum supernaturale ist, aber keine innerliche Erneuerung mit sich bringt, wenn sich auch mittelbar für diese und damit für das Heil disponiert. Die in Coll. II, d. 26–29 entwickelte Gnadenlehre handelt primär von der gratia gratum faciens. Diese hat zwei Wirkungen: Sie erneuert die Natur des Menschen, indem sie den Gottlosen rechtfertigt und ihn von Sünde und Schuld befreit, und sie richtet die Bestrebungen (inclinationes) des neuen Menschen auf Gott als finis ultimus aus. Hinsichtlich der ersten Wirkung wird sie auch gratia praeveniens oder operans, hinsichtlich der zweiten gratia subsequens oder cooperans genannt. Diese Unterscheidung macht deutlich, daß sowohl das Sein als auch das Handeln des neuen Menschen unter dem Vorzeichen der Gnade stehen. Biel weist mehrfach darauf hin, daß die gratia gratum faciens als habituelle Gnade sich im Menschen zu einer moralisch gutes und verdienstliches Handeln begründenden virtus309 verdichtet, die in engem Zusammenhang mit der Geistpräsenz der caritas steht.310 308 »›Perficere‹ enim ultra ›facere‹ importat meritorie et ad consecutionem gloriae observare mandatum« (Coll. II, d. 26, not. 1). 309 Coll. II, d. 26, a. 2, concl. 2+3. Biel bestimmt die Gnade als »accidentalis forma animae infusa« und »habitus animae virtuosus non acquisitus, sed infusus«. Als solcher habitus ist die Gnade eine »qualitas dirigens animam et inclinans ad opera meritoria« und fällt somit unter Augustins Definition der virtus (»›bona qualitas mentis, qua recte vivitur, qua nemo male utitur, quam Deus‹ in nobis sine nobis ›operatur‹«). 310 Die Verbindung von gratia, caritas, virtus und opus bonum wird bereits beim Lombarden entwickelt, der lehrt, daß die »gratia voluntatem praeveniens et praeparans« die »fides cum dilectione« ist (Sent. II, d. 26, c. 3) und im Menschen als eine virtus die Seele formiert, so daß »ex virtute et libero arbitrio nascitur bonus motus vel affectus animi, et exinde bonum opus procedit exterius« (Sent. II, d. 27, c. 2). Das Handeln aus dieser Kooperation von Gnade und freiem Willen ist verdienstlich (Sent. II, d. 27, c. 3). – Daß Biel die von Gott eingegossene übernatürliche Gabe einmal als Liebe, zum anderen als Gnade bezeichnet, liegt in den unterschiedlichen Aussagezusammenhängen begründet: »Ut enim homo sit acceptus Deo ad vitam possidendam et opera eius meritoria, necesse est necessitate condicionata [...] sibi inesse donum supernaturale a Deo infusum, quod caritas sive gratia nominatur (gratia, quia eo Deus acceptat naturam; caritas, quia inclinat ad diligendum Deum). Hoc donum sola assistentia natura gratificat, sed actum ex inclinatione ad ipsum« (Coll. I, d. 17, q. 3 B [1,428]; s. auch Coll. II, d. 26, a. 2, concl. 4 F).

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

Der Zusammenhang von Heiligem Geist, habitueller Gnadengabe und menschlichem Handeln wird ausführlich in Coll. I, d. 17 behandelt. Schon beim Lombarden hatte diese Distinktion grundlegende Bedeutung für die theologisch zentralen Fragen des Verhältnisses von Gott und Mensch und der christlichen Praxis.311 Denn die Theologie insgesamt wie die Moraltheologie im besonderen muß plausibel machen, wie das göttliche und das menschliche Subjekt in ihrem Handeln aufeinander bezogen sind. Dabei sind zwei Verhältnisbestimmungen zu berücksichtigen: Zum einen ist Gott selbst in der Person des Heiligen Geists die unmittelbare Wirkmacht christlicher Praxis, zum anderen bewirkt Gott die das selbständige und freie Handeln des Menschen disponierenden Strukturen in Gestalt der Geistesgaben. Oder anders formuliert: Wie sind die theonome Bestimmtheit, ja Abhängigkeit und Unselbständigkeit christlicher Existenz und die Realisierung menschlicher Freiheit in den gnadenhaft gegebenen Strukturen zusammenzudenken? Die hoch- und spätscholastische Kommentierung des Lombarden erkannte die Bedeutung dieser Distinktion und diskutierte die dort vorgetragene Lehre zum Teil außerordentlich kritisch. Dem Lombarden zufolge hat der Geist innertrinitarisch die Funktion der liebenden Verbindung der göttlichen Personen. Deshalb ist er in besonderer Weise die caritas selbst, die gleichwohl auch mit den anderen Personen der Trinität identisch ist.312 Weil der Geist die Liebe selbst ist und durch ihn Gott im Menschen gegenwärtig ist, identifiziert der Lombarde auch die Gottes- und Nächstenliebe des Menschen mit dem Geist.313 Das meint er ausdrücklich nicht als Umschreibung für die Verursachung der Präsenz der Geistesgaben im Menschen durch den Geist.314 Andererseits weiß der Lombarde auch, daß das Verhältnis des Geistes zu den menschlichen Liebesakten nicht nur eines der Identität, sondern auch der Kausalität ist, so daß die aufmerksamkeitheischende Eingangsthese der Distinktion nicht ohne die notwendige Relativierung stehen bleibt.315 Biel schwächt die Lehrmeinung des Lombarden ab, indem er die Präsenz des Geistes im Menschen als Gabe der Gottes- und Nächstenliebe, und zwar genauer als Eingießung des Liebeshabitus versteht. Diese setzt zwar den Geist als gratia increata notwendig voraus, ist aber als gratia creata nicht identisch mit ihm. In der für seine Argumentationsweise typischen Verbindung gegenläufiger Momente betont Biel dabei einerseits, daß die 311 Sent. I, d. 17 ist eng mit der Gotteslehre und der Tugendlehre verbunden und bietet hinsichtlich der ersteren die weitere Ausführung (s. Sent. I, d. 14, c. 2) und hinsichtlich der letzteren die Grundlegung (s. Sent. III. d. 27, c. 3 f.; d. 32, c. 1 u.ö.). 312 Sent. I, d. 10. 313 »Spiritus Sanctus amor est Patris et Filii, quo se invicem amant et nos. His autem addendum est quod ipse idem Spiritus Sanctus est amor sive caritas, qua nos diligimus Deum et proximum« (Sent. I, d. 17, c. 1: 1,142,8–11). 314 Sent. I, d. 17, c. 3. 315 Die moderne Forschungsdiskussion ringt ähnlich wie die mittelalterlichen Sentenzenkommentatoren weiterhin um das richtige Verständnis von Sent. I, d. 17. Daß man den Lombarden nicht wie etwa Thomas von Aquin (S. th. 2a 2ae, q. 23, a. 2) durch gezwungene Umdeutungen vor sich selbst in Schutz nehmen muß (eine Interpretation, die sich ähnlich auch bei M. Colish: Peter Lombard Bd. 1, 1994, 261 findet), sondern seine Aussagen als ausgewogene Berücksichtigung beider Momente – der Bestimmung des Verhältnisses von Heiligem Geist und menschlichem Liebesakt mit den Kategorien der Identität wie Kausalität – sehen kann, zeigt L. Nielsen: Peter Lombard in the theological context of the 12 th century: the theological virtue of charity (in: Pietro Lombardo. Atti di XLIII Convegno storico internazionale, 2007, 411–431).

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gratia creata als solche nicht Bedingung verdienstlichen Handelns sein kann, das allein auf Gottes freier Akzeptation beruht,316 daß sie aber de potentia ordinata faktisch als solche fungiert.317 Damit hat Biel die Frage des Lombarden in anderer Weise, als sie von diesem gemeint war, aufgenommen und im Zusammenhang der hoch- und spätscholastischen Diskussion beantwortet. Menschliches Liebeshandeln steht in engem Zusammenhang mit Gott, der selbst die Liebe ist und sie als Gnadengabe im Menschen wirkt. Obwohl strenggenommen nur Gott selbst die christliche Existenz als verdienstliches Handeln bedingende Größe ist, gilt angesichts der bestehenden Ordnung der Welt, daß Gottes Präsenz im menschlichen Sein und Handeln durch die gnadenhaft eingegossene habituelle Tugend der caritas vermittelt ist. Luthers Interpretation von Sent. I, d. 17318 nimmt sowohl das Interesse des Lombarden an der göttlichen Gegenwart im Menschen wie auch das hoch- und spätscholastische Interesse an der systemkonformen Explikation dieses Interesses mit Hilfe der Unterscheidung von gratia increata und creata auf, indem er die Liebe und den Heiligen Geist in einem engen faktischen Zusammenhang sieht, sie aber nicht einfach identifiziert, sondern zwei Aspekte unterscheidet: Zum einen ist der Geist die Liebe, zum anderen bewirkt er im Menschen die habituelle dilectio creata. Luther zieht aber statt der philosophisch-analytischen habitus-Terminologie – die er mit scharfen Worten kritisiert – die systematisch ungenaue deskriptive Näherbestimmung der Geistesgegenwart im Christen als mit dem Willen und der Hervorbringung des Liebesaktes einhergehender Liebe vor.319 Die Kritik an der aristotelischen Habitus-Theorie deutet Luthers Reserve gegenüber philosophischen Hilfsmitteln in der Theologie an, womit er aber in der mittelalterlichen Diskussion nicht alleine ist. Möglicherweise verdankt sich diese Kritik aber auch einem positiven Interesse, nämlich den theologischen Sachverhalten eine innere Eigenlogik zuzugestehen, die ihre Plausibilität nicht aus philosophischen Hilfskonstruktionen, sondern aus der Gegebenheit der Heilsgeschichte bezieht. Ausdruck dieses heilsgeschichtlichen Interesses ist Luthers Rückkehr zur Auffassung des Lombarden, daß Gott primär nicht durch anthropologische Mittelgrößen hindurch, sondern unmittelbar im Menschen gegenwärtig ist und wirkt. »Der spiritus übernimmt die 316

Coll. I, d. 17, q. 2. Coll. I, d. 17, q. 3. 318 R. Schwarz: Fides, spes und caritas beim jungen Luther, 1962, 12–40; R. Saarinen: Ipsa dilectio deus est. Zur Wirkungsgeschichte von 1. Sent. dist. 17 des Petrus Lombardus bei Martin Luther (in: T. Mannermaa [Hg.]: Thesaurus Lutheri, 1987, 185–204, v.a. 188–193). Beide Beiträge ordnen Luthers Interpretation ausführlicher in die mittelalterliche Diskussion ein, als es hier möglich ist, und bewerten das Neuerungspotential von Luthers eigenem Diskussionsbeitrag zurückhaltend. 319 »Primo Sciendum, quod charitas (quicquid sit de possibili) de facto semper datur cum s[piritu]s[ancto] et s[piritus]sanctus cum ea et in ea. Secundo quando Aug. dicit quod dilectio est deus, non intelligatur cum pre¸cisione seu Exclusiue i.e. quasi dilectio sit tantum deus, Sed concedendo quod dilectio sit deus, Sed non tantum. Sed est etiam dilectio creata. Sicut Christus est fides, iustitia, gratia nostra et sanctificatio nostra [1. Kor. 1,30]. Et videtur Magister non penitus absurdissime loqui: in eo quod habitum dicit esse s[piritum]sanctum. Quia commentum illud de habitibus opinionem habet ex verbis Aristotelis rancidi philosophi. Alias bene posset dici, quod Spiritus est Charitas concurrens seipso cum voluntate ad productionem actus amandj, nisi sit forte determinatio Ecclesiae in oppositum« (AWA 9,319,18–320,9). 317

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

Rolle eines habitus, weil er der tragende Grund der Liebesakte ist. Damit wird die von der aristotelischen Ontologie aufgerichtete Scheidewand zwischen dilectio increata und dilectio creata, zwischen causa efficiens und causa formalis niedergerissen und eine unmittelbare Relation zwischen beiden hergestellt, ohne daß beide in eins gesetzt werden. Der traditionelle habitus-Begriff wird dort unbrauchbar, wo das Handeln Gottes durch den heiligen Geist den Menschen trifft. Das muß auch eine Modifikation des herkömmlichen virtus-Begriffs zur Folge haben. Wenigstens die virtus der caritas hat nur noch ein aktuales Sein im Subjekt, statt als habituale Qualität auch unabhängig von den Akten der Seele zu inhärieren«. Luther bemüht sich, »die caritas creata aus einem eigenständigen habitus zu einer aktualen Wirkung des gleichsam als habitus gedachten spiritus umzuprägen und die Gnadentugend aus einer ruhenden Qualität des Menschen zu einer inneren Bewegung umzuformen«.320

Die Näherbestimmung der Gnade als geistgewirkten Tugendhabitus macht nachvollziehbar, wie die Gnade handlungslenkend wirkt. Dadurch wird auch der Übergang geschaffen zur bereits angedeuteten, in Coll. II, d. 27 aber weiter ausgeführten Würdigung des menschlichen Beteiligtseins am Gnadengeschehen. Denn die den Menschen innerlich neu formende, als Tugend zu verstehende Gnade wirkt verdienstliche Akte, aber nur zusammen mit dem dazu von sich aus nicht befähigten liberum arbitrium. Obwohl Biel hinsichtlich des mereri de condigno nachdrücklich das Gnadenmoment betont, gibt es doch verdienstliches Handeln nur mit der konstitutiven Beteiligung des Menschen. Und unterhalb des im eigentlichen Sinne verdienstlichen Handelns eröffnet Biel die Möglichkeit des mereri de congruo, indem er die dem freien Willen des Menschen auch ohne besondere Gnade – abgesehen von Gottes influentia generalis – mögliche Abwendung von der Sünde und Zuwendung zu Gott als Disposition zur Gnadeninfusion anerkennt.321 Das facere quod in se est ist dem Ungläubigen wie dem Gläubigen (i. S. der fides informis) möglich: Der eine hält sich an seine recta ratio, der andere an die regula fidei, die die Distanzierung von der Sünde und den Gehorsam gegenüber Gott verlangt und beides durch die Androhung der Verdammnis und die Verheißung der 320

R. Schwarz: Fides, spes und caritas beim jungen Luther, 1962, 28 f.40. Coll. II, d. 27, a. 2, concl. 4. »Anima obicis remotione [d.h. durch den NichtKonsens gegenüber der Sünde] ac bono motu in Deum ex arbitrii libertate elicito primam gratiam mereri potest de congruo. Probatur: Quia actum facientis quod in se est Deus acceptat ad tribuendum gratiam primam, non ex debito iustitiae, sed ex sua liberalitate; sed anima removendo obicem, cessando ab actu et consensu peccati et eliciendo bonum motum in Deum tamquam in suum principium et finem, facit quod in se est; ergo actum remotionis obicis et bonum motum in Deum acceptat Deus in sua liberalitate ad infundendum gratiam« (K: 2,517). »removendo obicem, qui est consensus in peccatum, et eliciendo per liberum arbitrium motum in Deum bonum, facit quod in se est. Ultra enim ex se non potest, supposita semper generali influentia Dei, sine qua omnino nihil potest« (K: 2,518). 321

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Barmherzigkeit unterstreicht.322 Göttliche Gnade und menschliches Handeln werden so zueinander ins Verhältnis gesetzt, daß die Gnade die causa principalior meriti hinsichtlich der göttlichen acceptatio des Aktes darstellt, das liberum arbitrium aber hinsichtlich der substantia, intensio und rectitudo moralis des Aktes. Dabei kommt der Ursächlichkeit der Gnade mehr Gewicht zu als der des freien Willens.323 Dieses Neben- und Gegeneinander von Gnade und menschlichem Handeln wird auch in d. 28 noch einmal deutlich, wo Biel sich gegenüber dem Pelagianismusverdacht verteidigt.324 Während die für die Lehraussage der Distinktion zentralen conclusiones die grundsätzliche Möglichkeit des Menschen betonen, die Gnadendisposition ex suis naturalibus zu erbringen, arbeiten die dubia in der Auseinandersetzung mit exemplarischen Einwänden die faktischen Erschwerungen und die deshalb notwendige göttliche Hilfe heraus. Biel will damit sowohl dem Interesse am menschlichen Beteiligtsein wie an dessen Beschränktheit und Ungenügen Ausdruck geben und sich so sowohl gegen eine überzogene Gnadenlehre wie gegen einen die Gnade geringschätzenden Pelagianismus abgrenzen. Systematisch grundlegend sind die in den notabilia zusammengestellten Unterscheidungen von moralisch gutem und verdienstlichem Akt, von Gottes gnadenhafter influentia generalis und seiner besonderen Gnadenzuwendung, von den pura naturalia des Menschen und deren gnadenhafter Überformung sowie von der Gebotserfüllung entsprechend der Substanz des geforderten Aktes und entsprechend der Absicht des Gebietenden, die alle der folgenden theologisch korrekten Entfaltung des Sowohl-als-auch göttlich-menschlichen Zusammenwirkens dienen. Die dann folgenden Konklusionen stellen fest, daß das liberum arbitrium ohne Gnade in der Lage ist, moralisch gute Akte zu erwählen, sich so für die Gnade zu disponieren und weitere Todsünden zu vermeiden. Das gilt aufgrund der anthropologischen Bedingungen ethischen Handelns, die auch im Stand der Sünde gegeben sind, und weil Gott nichts Unmögliches gebietet, wenn er vom Menschen die Abwendung von der Sünde und die Zuwendung zu Gott verlangt. Allerdings ist dieser Gebotsgehorsam nur eine äußerliche Erfüllung des Geforderten und entspricht nicht der Intention des Gebietenden. Die dubia greifen zuerst den Einwand auf, daß die zentrale Forderung der Gottesliebe, die für Biel in bestimmtem Sinne vom Menschen auch ohne Gnade erfüllbar ist, notwendig Gnade voraussetzt. Er lehnt diese These ab, kommt ihr aber etwas entgegen, indem er trotz der festgehaltenen sachlichen Vorordnung das menschliche Handeln mit dem göttlichen Gnadenhandeln am Menschen gleichzeitig sich vollziehen sieht. Das hat zur Folge, daß die menschliche Gnadendisposition faktisch immer von der Gnade begleitet – aber eben nicht bedingt – ist. Auch der als zweites geäußerte Einwand, daß Biels Hochschätzung der menschlichen Möglichkeiten die Bitten um Gottes Hilfe und damit 322

Coll. II, d. 27, a. 2, concl. 4. Coll. II, d. 27, dub. 2. 324 Diese Distinktion hat in der Biel- und Lutherforschung immer wieder besonderes Interesse gefunden. Etwa bei L. Grane: Contra Gabrielem, 1962, Kap. 4. 323

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das ganze kirchliche Fürbittenwesen entleeren, wird als nicht stichhaltig abgewiesen, indem er die Möglichkeiten des Menschen harmonisch mit den kirchlichen Fürbitten und Gebeten verbindet, weil der Mensch in seiner faktischen Schwäche solcher externer Hilfe bedürftig ist. Mit zahlreichen Bibelzitaten belegt er diese Schwäche des menschlichen Willens, der im Zwiespalt von Vernunft und Sinnlichkeit steckt, durch Irrtümer und Versuchungen beeinflußt wird und durch die Erbsünde in seiner natürlichen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt ist.325 Diesen Punkt arbeitet auch noch einmal das dritte dubium heraus. Hier ist die die menschliche Freiheit einschränkende Macht der Sünde letztlich nicht als Seinsverfallenheit des Menschen an die Sünde gedacht, sondern als psychologische Beeinträchtigung des Wollens.326

Die abschließende Distinktion der Gnadenlehre im engeren Sinne (Coll. II, d. 29) lenkt den Blick noch einmal auf das menschliche Handeln im Gnadenstand aufgrund der übernatürlichen Gnadengabe. Gegen jedes Mißverständnis wird hier betont, daß im Urstand wie im Stand der Sünde eine Akzeptation zum ewigen Leben die den Menschen innerlich erneuernde gratia gratum faciens voraussetzt.327 Vor dem Fall bedurfte es der Gnade, um das ethisch gute Handeln des in sich intakten Subjekts zusätzlich als verdienstlich zu qualifizieren. Nach dem Fall ist darüber hinaus die Gnade nötig, um allererst die inneren Bedingungen hinsichtlich des Handelnden und des verdienstlichen Handelns (propter condicionem operantis et operationis meritoriae) zu schaffen. Allerdings relativiert Biel seine Betonung der Beeinträchtigungen durch die Sünde und der Notwendigkeit der Gnade sogleich wieder, wenn er der Gnade zwar die Schaffung eines neuen habitus und neuer inclinationes im Menschen zuspricht, darin aber keine Beschränkung menschlicher Freiheit erblicken will. Denn inclinatio und habitus wirken nicht unabhängig vom freien Willen, sondern nur in Verbindung mit ihm und nötigen den Menschen nicht zum Guten; auch im Stand der Gnade gilt also, daß der Mensch an der Konkretion und Bewährung des Lebens aus der Gnade konstitutiv beteiligt ist, und daß Gelingen und Scheitern dieses Lebens auch in seiner Macht liegen.328 325 »Propter haec voluntas mutabilis est et instabilis et ex peccati fomite infirma ac vulnerata, prona ad malum, difficilis ad bonum« (N: 2,542). »Ideoque in adiutorium voluntatis, ut delectabiliter et expedite ac faciliter velit, cooperantur habitus infusi ac acquisiti. Ad hoc etiam ordinavit Dominus angelicam custodiam contra tot laqueos, fraudes et insidias« (ib.). Biel spricht darum nicht ohne Grund durchweg von den Möglichkeiten des Willens »ex suis naturalibus« (d.h. unter den vorfindlichen Bedingungen des Stands der Sünde) und nicht »ex puris naturalibus« (d.h. unter den Bedingungen des Urstands). Beides unterscheidet sich allerdings nur graduell, nicht prinzipiell. 326 Oberman faßt Biels Position so zusammen: »Die Erbsünde beeinflußt den freien Willen des Menschen hauptsächlich psychologisch, nicht ontologisch« (Spätscholastik und Reformation Bd. 1, 1965, 123). Er schreibt Biel damit eine »psychologische Auslegung der Erbsünde« (aaO 12432) zu. 327 »nulla creatura acceptatur [ad vitam beatificam] [...] sine gratia gratum faciente« (H: 2,553).

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Blickt man von diesem Schlußpunkt der Argumentation von Coll. II, d. 26–29 zurück auf die Gnadenlehre insgesamt, so zeigt sich, daß die Frage der dispositio ad gratiam, für die das menschliche Handeln ohne Gnade entscheidend ist, letztlich nur von untergeordneter Bedeutung ist. Von christlicher Existenz im eigentlichen Sinne kann man erst sprechen, wenn der Mensch dank der göttlichen Akzeptation seines facere quod in se est die gratia gratum faciens empfangen hat.329 Aber als Prediger, Seelsorger und Theologe im Umfeld der spätmittelalterlichen Frömmigkeitstheologie weiß Biel auch darum, daß der Christ sich faktisch immer wieder als Sünder vorfindet und die gratia gratum faciens nicht einfach voraussetzen kann. Der Christ fällt zwar in der Regel nicht in die Situation des Ungläubigen zurück; aber er ist doch immer wieder auf eine mindere Stufe christlicher Existenz zurückgeworfen und bedarf immer neuer Vorbereitung auf die Gnade durch die Abwendung von der Sünde und die Zuwendung zu Gott in der Buße. Damit werden Bußtheologie und Frömmigkeitspraxis zum Anlaß für Biel, die christliche Praxis nicht unter dem Gesichtspunkt der Gnade, sondern auch der menschlichen Möglichkeiten abgesehen von der Gnade zu würdigen und ihr eine Eigenbedeutung zuzugestehen. Diese letztlich praktische Abzweckung will aber nicht verdecken, daß für die christliche Existenz im eigentlichen Sinne die Gnade die causa principalis alles Handelns ist, die sich des liberum arbitrium zur Konkretion einer Existenz aus und in Gnade bedient. Das gnadentheologische Erbe Augustins wird auch von Biel bewußt tradiert, und Biel selbst ist der Auffassung, mit seiner Theologie diesem Erbe gerecht zu werden, weshalb 328 »gratia non necessitat hominem ad bonum, sicut nec habitus acquisitus virtuosus necessitat hominem ad opus virtutis. Inclinat autem, sed libertatem arbitrii non tollit. Ideo habens gratiam per liberum arbitrium ›moveri potest et frequenter movetur praeter gratiae inclinationem, nihil considerans de eo, ad quod gratia‹ inclinat. ›Unde saepe contingit‹ habentem gratiam ›non semper actualiter ferri in illud summum bonum‹, ad quod habet desiderium habituale. ›Quis enim homo habens caritatem peccaret, si‹ semper ›actu considerat, quantum Deus amabilis est et quam nefas est offendere eum‹? Unde accipitur salubris regula, quod homo per devotas meditationes se convertat frequenter ad Dominum, considerando actualiter eius bonitatem et peccati, inquantum contra tantum bonum est, malitiam. Sic enim numquam peccaret« (I: 2,553 f.). 329 Insofern teilt Biel die an Augustin angelehnten Grundaussagen des Lombarden zur Vorordnung der göttlichen Beteiligung am Gnadengeschehen: »voluntas hominis praeparatur et praevenitur gratia Dei ut bonum velit, et adiuvatur ne frustra velit« (Sent. II, d. 26: 1,472,12–14). Dabei ist nicht der Wille, sondern die Gnade das Entscheidende: »bona voluntas comitatur gratiam, non gratia voluntatem« (1,472,15 f.). Das gilt insbesondere für das verdienstliche Handeln: »in bonis merendis causae principalitas gratiae attribuitur, quia principalis causa bonorum meritorum est ipsa gratia, qua excitatur liberum arbitrium, et sanatur atque iuvatur voluntas hominis ut sit bona« (Sent. II, d. 27, c. 3: 1,483,1–3; s. auch d. 27, c. 6).

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er den Kirchenvater für sich als Autorität in Anspruch nimmt: »Cum coronat Deus merita nostra, nihil aliud coronat quam munera sua«.330 Luthers Randbemerkungen zu Sent. II, d. 26+27 verstärken dieses genuin augustinische Interesse in der Gnadenlehre. Auch er spielt auf das genannte Augustinzitat an, wenn er feststellt: »Quicquid habes meriti, praeuentrix gratia donat. Nil deus in nobis preter sua dona coronat«,331 und zuvor im Zusammenhang einer Bezugnahme Augustins auf Röm. 9,16 (»non est volentis neque currentis«) ausführt, es gebe keine »Equalem principalitatem gratie et voluntatis respectu operis«, sondern es gelte: »totum deo tribuendum«.332 Das beinhaltet eine stärkere Infragestellung der menschlichen Leistungsfähigkeit, als Biel sie einräumt, und führt fast bis zu einer grundsätzlichen Problematisierung der scholastischen Vorstellungen vom christlichen Leben.333 Luther räumt zwar die Freiheit des Willens ein, weist aber darauf hin, daß dieser ohne Gnade in seiner Freiheit nur das Böse wählt und der vollendeten Gnade bedarf, um das Gute zu wählen. Hinsichtlich des Christen »in fide« (d.h. im Diesseits) gilt darum eine »mixtura et temperatio utriusque extremi«, sein Wille wählt in seiner Freiheit weder nur das Böse noch nur das Gute. Das christliche Leben ist eine vita media: »vita media i.e. Christiana quasi medio etiam modo se habet, ad vtrunque flexilis: difficilis ad bonum Sed non impossibilis sicut illa, et facilis ad malum Sed non necessaria seruitute sicut illa. [...] Beati [...] necessario eligunt bonum et impossibiliter malum, Miseri autem impossibiliter bonum et necessario malum. Sed nos faciliter malum et difficulter bonum«.334

Mit diesem Verständnis der vita christiana vertritt Luther trotz der ausdrücklichen persönlichen Wertschätzung der vom Lombarden vermittelten augustinischen Gnadenlehre und ihrer Betonung der Ursächlichkeit der göttlichen Gnade für das gute Wollen und Handeln des Menschen (»Ista opinio est subtilior et valde probabilis secundum rationem loquendo, nisi aliter nunc teneretur communiter«)335 letztlich doch den spätscholastischen Lehrkonsens.

330

Ep. 129 V 19 (CSEL 57,190,14 f.; zitiert in Coll. I, d. 17, q. 3 F [1,433]). AWA 9,470,11 f. 332 AWA 9,464,24–465,2. 333 AWA 9,465,11–466,10. 334 AWA 9,465,15 f.19–27. 335 AWA 9,471,13 f. (Glosse zu Sent. II, d. 27, c. 8: »virtutes nihil aliud esse quam bonos affectus vel motus mentis asserunt [sc. praedicta verba Augustini]; quos Deus in homine facit, non homo, quia licet illi motus sint liberi arbitrii, non tamen esse queunt nisi Deus ipsum liberet et adiuvet gratia sua operante et cooperante: quam Dei gratuitam voluntatem accipiunt, quia Deus est qui et operatur in nobis velle et operari bonum« [1,486,11–16]). 331

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Christliches Handeln setzt neben den anthropologischen Bedingungen, den in Dekalog und Liebesgebot zusammengefaßten Normen und der gnadenhaften Ermöglichung auch Strukturen des Handelns im ethischen Subjekt voraus. Denn die Gnade bringt ja eine faktische Veränderung der anthropologischen Bedingungen des Handelns mit sich, indem sie den Menschen innerlich erneuert und alles Handeln auf Gott ausrichtet. Diese innere Erneuerung und Neuausrichtung knüpft an die vorhandenen anthropologischen Bedingungen an. Sie setzt also die menschlichen potentiae (ratio, voluntas, liberum arbitrium) und habitus der Kardinaltugenden (prudentia, iustitia, temperantia, fortitudo) voraus und fügt die habitus der theologischen Tugenden (fides, spes, caritas) hinzu.336 Die auf die göttliche Akzeptation des menschlichen facere quod in se est folgende Eingießung der gratia gratum faciens überformt die vorhandenen tugendhaften habitus oder schafft überhaupt neue habitus. Mit diesen habitus ermöglicht die Gnade den soteriologisch relevanten Gehorsam gegenüber der göttlichen Forderung durch ein von recta ratio, bona voluntas und liberum arbitrium getragenes Handeln (actus meritorius, meritum de condigno). Die gnadenhaft überformten habitus sind also die für das christliche Leben entscheidende Vermittlungsgrößen, in der sich menschliche Freiheit, göttliches Gebot und göttliche Gnadengabe zu christlicher Praxis verbinden. Damit ist die Lehre von den habitus, insbesondere von den theologischen Tugenden, das zentrale Theorieelement der theologischen Ethik. Biel macht das deutlich, indem er seiner ausführlichen Entfaltung der Tugendlehre im zweiten Teil des dritten Buchs seines Sentenzenkommentars (Coll. III, d. 23–36) eine grundlegende Erörterung der aristotelischen Moralphilosophie voranstellt (Coll. III, d. 23, q. 1). Die ursprüngliche Anknüpfung der Tugendlehre an die Christologie beim Lombarden wird damit beiseitegeschoben und durch die hoch- und spätscholastische Verbindung von Theologie und aristotelischer Philosophie ersetzt. Diese Verbindung wird 336 Ob die theologischen Tugenden auch erworben werden können und wie sie dann näher zu bestimmen und vor allem in ihrer meritorischen Wertigkeit einzuschätzen sind, wird immer wieder diskutiert, für Biel ist das aber keine Frage von größerem Gewicht. Er setzt – angesichts seiner Einschätzung der Möglichkeiten natürlicher Moralität folgerichtig – die Erwerbbarkeit der theologischen Tugenden durch wiederholte tugendhafte Akte voraus, und gesteht den erworbenen theologischen Tugenden eine Bedeutung für die Praxis der eingegossenen theologischen Tugenden zu. Er kann auch von der Eingießung aller Tugenden sprechen (»cum [Deus] hominem iustificat, non tantum infundit virtutes theologicas, sed etiam morales. In iustificatione itaque impii omnes illae virtutes simul infunduntur, licet non exeant in actum sine acquisitis«, Coll. III, d. 33, H: 3,564), wobei er auch um den Hinweis des Duns Scotus weiß, daß die Annahme eingegossener Kardinaltugenden unnötig ist (Coll. III, d. 36, dub. 4, Y). Bei der Behandlung der theologischen Tugenden geht Biel immer wieder auch auf das Verhältnis der erworbenen zur eingegossenen Tugend ein.

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in der mittelalterlichen Diskussion allerdings unterschiedlich ausgestaltet. So gewinnen bei Thomas die eingegossenen tugendhaften habitus des Menschen eine soteriologische Eigenbedeutung, indem sie als Mittelgrößen zwischen der göttlichen Gnade und dem verdienstlichen Handeln des Menschen gedacht werden und so sowohl das Mißverständnis einer Alleingültigkeit und Alleinwirksamkeit der Gnade als auch das der Selbständigkeit und Suffizienz des menschlichen Handelns ausschließen sollen. Die franziskanische Schultheologie kritisierte diese Aufwertung der habitus seit dem 14. Jahrhundert als problematische Relativierung der göttlichen Gnade und verstand die eingegossenen Tugenden bloß als zwischen göttlicher Gnade und menschlichem Handeln vermittelndes Strukturelement.337 Heilsrelevanz kommt in dieser Theorie zum einen der gratia gratum faciens und zum anderen dem von dieser Gnade getragenen verdienstlichen Handeln des Menschen zu, nicht den zwischen beiden vermittelnden Größen. Die eingegossenen Tugenden umfassen die theologischen wie die Kardinaltugenden sowie die dona Spiritus Sancti, unter denen die acht Seligpreisungen (Mt. 5), die sieben Geistesgaben (Jes. 11) und die zwölf Früchte des Geistes zusammengefaßt werden. Die theologischen Tugenden haben die Aufgabe, den Menschen auf Gott als den finis ultimus und das höchste Gut auszurichten.338 Das geschieht, indem der für die christliche Existenz grundlegende Glaube dem Menschen die Erkenntnis Gottes als des höchsten Guts eröffnet,339 indem die für den Menschen als Sinnen337

Biels Zurückweisung der Verbindung von Verdienstlichkeit menschlichen Handelns und seiner Formung durch den übernatürlichen Liebeshabitus findet sich in Coll. I, d. 17, q. 2. Er betont, daß nicht die gratia creata des Liebeshabitus, sondern die gratia increata – und das heißt die freie Barmherzigkeit der göttlichen acceptatio – Verdienstlichkeit begründet. Allerdings ist die habituelle gratia creata de potentia ordinata faktisch die Bedingung verdienstlichen Handelns (Coll. I, d. 17, q. 3). – Zum Hintergrund: R. Schwarz: Fides, spes und caritas beim jungen Luther, 1962, 29–38 (Schwarz setzt sich hier auch mit der Darstellung von Luthers ockhamistischem Hintergrund bei Scheel auseinander, in der die mittelalterliche Schuldiskussion über den habitus eine wichtige Rolle spielt); K. Bannach: Die Lehre von der doppelten Macht Gottes bei Wilhelm von Ockham, 1975, 369–413. 338 Einige grundsätzliche Aussagen zu allen drei theologischen Tugenden finden sich in der Distinktion zur Hoffnung (Coll. II, d. 26, not. 3 und dub. 2). 339 Coll. III, d. 23, q. 2; d. 24+25. Der Lombarde macht auf die ethische Bedeutung des Glaubens aufmerksam, indem er die ethische Qualifizierung eines Werks durch die Intention und diese wiederum durch den mit der Liebe verbundenen Glauben bestimmt sieht (Sent. II, d. 41, c. 1): »Nullum [...] implet mandatum, nullumque opus bonum facit, qui fidem et caritatem non habet« (1,562,23–563,1). Mit Augustin stellt er fest: »bonum opus intentio facit et intentionem fides dirigit« (1,563,26 f., zitiert bereits 1,559,7 f.). Luther bemerkt in den Randbemerkungen zum Lombarden zum Verständnis von Hebr. 11,1, daß Hoffnung und verdienstliches Handeln den Glauben zu ihrer Voraussetzung haben (»merita non edificantur materialiter super fidem, ut notum est. Sed sicut nemo

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wesen unverzichtbare Hoffnung im Glaubenden das Verlangen nach dem Besitzen Gottes als des höchsten Guts weckt340 und indem die die christliche Existenz zu ihrer Vollgestalt bringende Liebe den so in Glaube und Hoffnung auf Gott ausgerichteten Menschen mit Gott vereint.341 Glaube und Hoffnung bedürfen der Verbindung mit der Liebe und sind erst als von ihr formierte Tugenden Teil der christlichen Existenz.342 Aus den zahlreichen Erörterungen der Distinktionen über die Liebe können nur einige wenige Punkte herausgegriffen werden. Wichtig für die Frage des menschlichen Handelns ist etwa die Unterscheidung von amor affectivus und amor effectivus.343 Sie verdeutlicht, daß es die im ersten Dekaloggebot geforderte personale Beziehung der caritas, die primär eine affektive Ausrichtung auf Gott ist, nicht ohne Folgen für das Handeln Gott gegenüber gibt, wie sie die übrigen Dekaloggebote fordern.344 So grundlegend das kontemplativ-passive Moment des amor amicitiae für die caritas ist, so wenig darf das effektiv-aktive Moment fehlen. Diese Liebe mit ihren beiden Momenten vollzieht sich in konkreten Akten des amor affectivus wie effectivus (actualiter). Sie ist aber auch ohne solche Akte weiter präsent (habitualiter), während der Mensch sich, was unter den Bedingungen der diesseitigen Existenz nicht anders möglich ist, anderem zuwendet.345 Das gilt umso mehr, als das biblische Gebot der Gottesliebe ja fordert, daß Gott unter Beteiligung aller menschlichen Kräfte actualiter und habitualiter geliebt werden soll.346 Eine solche die potentia intellectiva, volitiva, sensitiva und motiva umfassende Zuwendung des Menschen zu Gott mit allem, was in ihm ist, solche Liebe Gottes über alles, ist dem Christen nur zeitweise möglich, allerdings je nach Stand in unterschiedlichem Ausmaß. Obwohl der Mensch allein aufgrund der recta ratio und besser noch zusätzlich durch die fides informis unterstützt, Gott so über alles lieben

potest sine fundamento edificare, ita sine fide nemo sperare et bene agere« [AWA 9,454,1–3]). Dabei deutet die Nebeneinanderstellung von fides, spes und meritorischem bene agere darauf hin, daß letzteres i. S. des von der Liebe formierten Tätigwerdens zu verstehen ist. 340 Coll. III, d. 26. 341 Coll. I, d. 17; III, d. 27–32. 342 Coll. II, d. 26, a. 3, dub. 2: Obwohl Glaube, Hoffnung und Liebe drei unterschiedliche habitus sind, ist in ihnen doch nur »una gratia, quae est caritas«, durch welche Hoffnung und Glaube geformt werden (H: 2,506 f.). 343 Coll. III, d. 27, a. 1, not. 2 (C). 344 Zur Parallelisierung von amor affectivus und effectivus mit den Dekaloggeboten: Coll. III, d. 27, a. 2, concl. 3. Dabei meint amor effectivus nicht eine sich aus dem amor affectivus ergebende Zuwendung zum Nächsten und zur Welt, sondern die ebenfalls auf Gott bezogene Ausgestaltung der Gottesgemeinschaft durch menschliches Handeln. 345 Coll. III, d. 27, a. 1, not. 4 (G). 346 Coll. III, d. 27, a. 1, not. 5 (H).

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kann, setzt die vollkommene Erfüllung dieser biblischen Basisforderung an das christliche Leben die gnadenhaft eingegossene Tugend der caritas voraus.347 Während Biel in den ersten beiden Artikeln der für die Lehre von der Gottesliebe grundlegenden d. 27 die Möglichkeiten des Menschen aufgrund seiner natürlichen potentiae und aufgrund der Gnade stark macht, relativiert der dritte Artikel das etwas. Auf die Frage nach der Erfüllbarkeit des Liebesgebots erwidert Biel zwar, daß Gott nichts Unmögliches gebietet. Er schränkt aber die Erfüllbarkeit auf die beiden ersten von drei Stufen der Vollkommenheit der Liebe ein.348 Im diesseitigen Leben möglich – und für alle Christen als Gebot (praeceptum) verbindlich – ist die Abwesenheit jedes mit der Liebe nicht vereinbaren Akts (nämlich der Todsünde) und – als nur für die proficientes und perfecti geltender Rat (consilium) – die zeitlich begrenzte, regelmäßige Ausübung der Liebe durch die Kontemplation und die Hinordnung aller äußeren Handlungen auf Gott, nicht aber die dauerhafte dilectio actualis.349 Von dieser dem Christen dank der Gnade möglichen Gottesliebe unterscheidet sich die jedem Menschen ex suis naturalibus mögliche Gottesliebe nicht prinzipiell,350 ja der eingegossene Liebeshabitus geht nach Biel sogar mit dem erworbenen einher.351 Die caritas umfaßt aber nicht nur die Gottesbeziehung, sondern durchwaltet als grundlegende Orientierung die menschlichen Gesamtexistenz. Ausdruck dieser umfassenden Bedeutung der Liebe ist die augustinische Lehre vom ordo caritatis.352 Nächst Gott sind nämlich auch der Mensch selbst, der Nächste und der eigene Leib sowie der des Nächsten zu lieben. Die ganz auf Gott ausgerichtete caritas beinhaltet also auch das Selbstund Weltverhältnis des Menschen, die in dieselbe transzendente Leitperspektive eingebunden sind. Das den ordo caritatis strukturierende Schema von uti und frui führt allerdings zu einer komplizierten Abstufung der zu 347 »Quicumque habet gratiam gratum facientem, diligit Deum ex toto corde, tota anima etc. actu vel habitu, etiam si fuerit infans noviter baptizatus« (Coll. III, d. 27, a. 1, not. 7 K [3,494]). 348 Coll. III, d. 27, a. 3, dub. 1. 349 Diese Stufung von Vollkommenheiten ist weniger eine Abwertung des Liebesgebots (wie L. Grane: Contra Gabrielem, 1962, 245, meint), als vielmehr die Sicherung seiner Praktizierbarkeit. 350 Coll. III, d. 27, a. 3, dub. 2 (Q-R). Hier faßt Biel in fünf Propositionen seine bereits im Zusammenhang der Gnadenlehre entwickelte Lehre vom facere quod in se est noch einmal prägnant zusammen. Der Unterschied zwischen der caritas als habitus acquisitus und habitus infusus liegt in Gottes potentia ordinata, kraft derer er kein facere quod in se est ohne zeitgleiche Gnadeninfusion zuläßt und für die vollkommene Erfüllung des Liebesgebots die Erfüllung der intentio praecipientis fordert. 351 Coll. III, d. 28, a. 1, not. 3 (C). 352 Coll. III, d. 28–30 thematisiert die unterschiedlichen Aspekte des ordo caritatis.

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liebenden Güter. Das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe wird in einer Weise ausdifferenziert, die die innere Einheitlichkeit der caritas aus dem Blick zu verlieren droht. Diese problematische Spannung zwischen der caritas als existentiell umfassend fordernder Gottesbeziehung und der der vielfach gestuften Weltordnung entsprechenden Beziehung zu sich selbst und zum Mitmenschen, die mit der fortschreitenden Konkretion mehr und mehr aufbricht, wird besonders an der Verhältnisbestimmung von Nächsten- und Feindesliebe deutlich. Biel ordnet nämlich mit zahlreichen feinen Abstufungen die Beziehung des Menschen zu seinen Mitmenschen, und zwar in einer Weise, die dem natürlichen Gerechtigkeitsgefühl und der biblischen Forderung gleichermaßen gerechtwerden will.353 Neben der Stufung der Liebe hinsichtlich des zu liebenden Gegenübers durch den ordo caritatis spricht Biel auch von der Stufung der Liebe in der zeitlichen Erstreckung der christlichen Existenz (augmentum caritatis).354 Die Liebe hat drei Stufen (caritas incipiens, proficiens, perfecta), denen jeweils ein bestimmtes Merkmal zugeordnet ist: Am Anfang steht die Abwendung von der Sünde durch die Buße und die Stärkung der der Sünde entgegenstehenden Tugenden (vitia expugnare); es folgt das Fortschreiten in Gnade und Tugenden (virtutes acquirere); und schließlich erreicht die Liebe ihre Vollgestalt in der Abwendung von den Geschöpfen und der gänzlichen Zuwendung zu Gott (contemplari divinas perfectiones et ferventissimo amore soli Deo inhaerere). Obwohl die Liebe die zentrale Tugend und die alles menschliche Handeln umspannende Orientierung ist, ist sie nicht die einzige Tugend. Vielmehr gilt, daß die Liebe ihre Orientierungskraft als »forma omnium virtutum«355 nur unter Voraussetzung der anderen erworbenen und einge353 Coll. III, d. 30. Biel lehrt hier auch die übliche Wertabstufung zwischen der Gottesliebe (vita contemplativa) und der Nächstenliebe (vita activa) und sichert sich gegenüber dem Einwand, daß damit die Christlichkeit der laikalen Existenz in Frage gestellt würde, mit dem Hinweis ab, daß die vita contemplativa zwar verdienstlicher sei, die vita activa aber »magis fructuosa« (dub. 1, H; vgl. S. th. 2a 2ae, q. 179–182 und die folgenden Quaestionen zum monastischen Stand). – Ähnliche Vorbehalte hinsichtlich der Gefährdung der inneren Einheitlichkeit der Liebe lassen sich auch gegenüber dem Lombarden anmelden, der einerseits den engen Zusammenhang der innergöttlichen Liebe mit der menschlichen Gottes- und Nächstenliebe betont, dann aber in der Entfaltung des ordo diligendi den Liebesaffekt abstuft: »quae in affectu caritatis distinctio sit habenda: ut differenti affectu, non pari, homines diligamus, et ante omnia Deum, secundo nos ipsos, tertio parentes, inde filios et fratres, post domesticos, demum inimicos diligamus« (Sent. II, d. 29, c. 2 [2,174,11–14]). 354 Coll. III, d. 29, dub. 2, K. 355 Coll. III, d. 26, dub. 3, N (3,476). Der Lombarde spricht von ihr als der »causa [...] et mater omnium virtutum« (Sent. III, d. 23: 2,148 f.). Vergleichbare Formulierungen Luthers lauten: »charitas est imperium virtutum et regina meritorum« (AWA 9,324,25); »[charitas] sola est virtus, Et omnes alias facit virtutes« (AWA 9,542,4 f.).

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gossenen Tugenden entfalten kann. Und auch die drei theologischen Tugenden allein sind noch nicht ausreichend für die christliche Existenz, weil sie ja nur auf Gott bezogen sind. Die konkrete Zuwendung zu sich selbst und zur Welt findet zwar in der durch Glaube, Hoffnung und Liebe gesetzten Hinordnung auf Gott statt; aber sie vollzieht sich nicht durch Glaube, Hoffnung und Liebe, sondern durch die vier erworbenen und eingegossenen Kardinaltugenden.356 Im Gottesverhältnis (1. Dekalogtafel) richten die theologischen Tugenden den Menschen aus, im Selbst- und Weltverhältnis (2. Dekalogtafel) die Kardinaltugenden.357 Die Zahl der vier Kardinaltugenden ist nicht willkürlich, sondern präzise: Die Tugenden gelten dem Verhältnis zum Mitmenschen (iustitia diriget circa proximo debitum, iustitiae actus est reddere omnibus debita) oder dem Selbstverhältnis, und zwar hinsichtlich der ratio (prudentia dirigit circa verum practicum, prudentiae actus est dictare agenda), hinsichtlich des appetitus concupiscibilis (temperantia dirigit circa delectationes et tristitias, temperantiae actus est refrenare appetitum circa concupiscibilia) und des appetitus irascibilis (fortitudo dirigit circa pericula et adversitates vincendas, fortitudinis actus est repellere aut sustinere adversa).358 Die inhaltliche Füllung der jeweiligen Tugend wird von Biel nur kurz benannt und für das Weitere verweist er auf die Nikomachische Ethik, die auch im Zusammenhang der theologischen Ethik ein grundlegender Bezugstext ist. Auf eine eigenständige theologische Entfaltung der Tugendlehre im einzelnen, wie sie etwa Thomas zum Inhalt der 2a 2ae seiner theologischen Summe macht, verzichtet Biel.359 Stattdessen widmet er sich entsprechend der Stoffdisposition 356 »Nec obest illud Rom. 13: ›Qui diligit proximum, legem implevit‹, quasi sola caritas sine aliis virtutibus sufficeret; quia legis impletio non convenit caritati secundum se formaliter et elicitive, sed imperative. Hoc est dictu: Caritas non elicit se sola cum potentia omnes actus praeceptos, quia non illos, quibus tenditur in seipsum aut in proximum tamquam in obiectum; sed omnium praeceptorum actus imperat, ut eliciantur mediantibus aliis virtutibus propter Deum tamquam propter finem propter se et super omnia dilectum. Habet enim annexos aliarum virtutum habitus, qui ad imperium caritatis moti faciunt impletionem mandatorum; sicut praeceptum de non fornicando elicitive impletur per castitatem, imperative per caritatem« (Coll. III, d. 33, concl. 1, D [3,559]). 357 Coll. III, d. 33. »Contingit autem hominem ordinari quoad Deum ac quoad seipsum et quoad proximum et eodem modo obliquari et retardari. Sicut ergo habentur virtutes rectificantes hominem et vigorantes, ut recte tendat in Deum, scilicet theologicae, sic opportunum est habere habitus virtutum rectificantes et vigorantes homines prout ordinantur ad seipsum et proximum. Et tales sunt virtutes cardinales. ›Unde, sicut praeter praecepta primae tabulae, quae directe ordinant in Deum, necessarium fuit ponere praecepta secundae tabulae, quae ordinant ad proximum‹ [Bonaventura], sic dicendum est in proposito, quod praeter virtutes theologicas opportunum est ponere cardinales et morales« (D: 3,559). 358 Coll. III, d. 33, a. 2, concl. 2. 359 Die weitere Untergliederung der Tugenden in Zusammenhang von Coll. III, d. 34 –

2.5. Theologiestudium

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des Lombarden den Geistesgaben, die traditionell in Zusammenhang mit der Tugendlehre stehen.360 Einen sachlichen Unterschied zu den drei theologischen und vier Kardinaltugenden gibt es hier nicht, alle drei Reihungen lassen sich der philosophisch-theologischen Tugendlehre zuordnen. Über sie hinaus gibt es keine weiteren habitus, die heilsnotwendig sind. Damit reduziert Biel im Sinne der spätfranziskanischen Schultheologie die Zahl der selbständigen theologischen Größen und reduziert damit auch die Komplexität der theologischen Lehrbildung. Daß es letztlich die sieben Tugenden sind, die die entscheidende Struktur christlichen Lebens ausmachen, macht auch die die Tugendlehre abschließende Erörterung des Zusammenhangs der Tugenden (connexio virtutum) deutlich.361 Hier wird noch einmal das immer wieder diskutierte Problem des Verhältnisses der Tugenden zueinander, ihr innerer Zusammenhang und ihre Irreduzibilität thematisiert. Insgesamt zeigt die Tugendlehre, daß die Gottesliebe und die in sie eingeordnete Praxis der Selbst-, Nächsten- und Feindesliebe sowie der übrigen theologischen und der Kardinaltugenden Inbegriff der christlichen Existenz ist. Dementsprechend ist auch die Tugendlehre Zentrum der Reflexion dieser christlichen Existenz. Obwohl die Scholastik nach eigener Einschätzung die Bibel und Aristoteles zu einer sachlich notwendigen und argumentativ kohärenten Einheit verschmolzen hat, bleibt dennoch die Spannung zwischen kontemplativer Zuwendung zu Gott und gnadenhaft umfangener, dem Menschen von sich aus möglicher Moralität. Biel macht mit seinem Interesse an der Beteiligung des Menschen diese Spannung besonders deutlich, unterscheidet sich aber im Grundsätzlichen nicht von den meisten anderen Theologen der Hoch- und Spätscholastik. Während die Grundlegung der scholastischen Moraltheologie mit ihren fünf behandelten Themen in Luthers Studium breiten Raum einnahm, finden sich zu den ethischen Konkretionen und vor allem zur Sozialethik nur wenige Hinweise beim Lombarden und bei Gabriel Biel. Diese Themen gehören in andere Zusammenhänge, wie der Übergang vom dritten zum vierten Buch der Sentenzen andeutet: Die eng mit der Lehre vom Menschen, von der Sünde und der Gnade verwobene Grundlegung der Moraltheologie, die jeweils in der zweiten Hälfte des zweiten und dritten Buchs der Sentenzen behandelt wird, endet in der abschließenden Distinktion des dritten Buchs mit der Überleitung zur im vierten Buch folgenden Sakramentenlehre. Die Konkretionen des christlichen Lebens haben ihren die dem Aufweis der Identität von Geistesgaben und Tugenden dient – zeigt, daß Biel eine der thomasischen Entfaltung vergleichbare Tugendlehre voraussetzt. 360 Coll. III, d. 34+35. 361 Coll. III, d. 36.

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

Ort in der theologischen Reflexion der kirchlichen Praxis. Allerdings werden sie in den Sentenzen und ihren Kommentaren auch in diesem Zusammenhang nur andeutungsweise, soweit sie nämlich für die Sakramentenlehre und die rechtliche Ordnung der Kirche relevant sind, behandelt. Was der Lombarde hierzu nur knapp andeutet, führt Biel etwas weiter aus, indem er in der Überleitung zum vierten Buch der Sentenzen altes und neues Gesetz einander gegenüberstellt.362 Die umfassende Lebensordnung der lex vetus, die als die geistliche und weltliche Sphäre übergreifende Theokratie praecepta moralia, caeremonialia und iudicialia umfaßte, ist durch die neue Gesetzgebung Christi außer Kraft gesetzt. Im Rahmen der lex nova gelten die moralischen Vorschriften in neuer Form weiter und es gibt neue zeremoniale Vorschriften, allerdings von weit geringerem Umfang als zuvor. Der Christ sieht sich in seinem Handeln also erstens an die praecepta moralia der lex nova gewiesen, die nun mit größerer Deutlichkeit den Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes einfordert; zweitens verlangt die umrißhafte biblische Setzung der praecepta caeremonialia weitere Präzisierungen; und drittens tut sich durch die Aufhebung der praecepta iudicialia ein Freiraum innerweltlicher Gestaltung auf, der ausgefüllt werden muß. Biels Sentenzenkommentierung entfaltet entsprechend der Vorgabe des Lombarden vor allem den zweiten Punkt. Denn die von Christus eingesetzten Sakramente sind der Hauptinhalt des neuen Zeremonialgesetzes und sie bedürfen als zentrale Vollzüge christlicher Existenz bis ins einzelne gehender theologischer Reflexion. Eine vergleichbare Konkretion der Inhalte der nova lex hinsichtlich der praecepta moralia und des Freiraums hinsichtlich der praecepta iudicialia bietet Biel nicht. Dennoch gehören die moraltheologischen Konkretionen der ethica monastica, oeconomica und politica, also der Individual- und Sozialethik, zum für Luthers Studium vorauszusetzenden spätmittelalterlichen Hintergrund. Da kaum genauer zu sagen ist, mit welchen weiteren Autoren und Werken Luther sich neben dem Lombarden und Biel beschäftigt hat, und da es anders als bei den Grundfragen der theologischen Ethik keinen begrenzbaren Kernbestand an Theorieelementen363 gibt, ist eine Skizze dieser Inhalte nur unter Vorbehalt möglich.

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Coll. III, d. 40, not. 1 (A-B). Die wichtigsten sozialethischen Themen sind zusammengestellt und mit Verweisen auf die Schriften Biel und des Aquinaten belegt bei: J. Farthing: Thomas Aquinas and Gabriel Biel. Interpretations of St. Thomas Aquinas in German Nominalism on the Eve of the Reformation, 1988, 71–87. 363

2.5. Theologiestudium

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An Quellen hierfür sind auf jeden Fall der Lombarde und Biel heranzuziehen, auch wenn sie sich nicht umfassend mit den Einzelfragen der Individual- und Sozialethik beschäftigen. Der eine Zusammenhang für solche Erörterungen ist die Tugendlehre, in der der Lombarde und Biel allerdings nur die Grundlagen darstellen, der andere die Sakramentenlehre, vor allem die Ausführungen über die Buße und die Ehe. Biel verweist auch auf andere Werke und Zusammenhänge, in denen die moraltheologischen Konkretionen ausführlicher behandelt werden als im Sentenzenkommentar. Auf die aristotelischen Schriften zu ethica oeconomica und politica und deren eifrige Kommentierung im Spätmittelalter wurde bereits verwiesen. Aber auch genuin theologische Werke boten Darstellung und Diskussion ethischer Fragen. Biels Collectorium weist immer wieder – um nur drei Beispiele zu nennen – auf Ockhams Dialogus, die moraltheologische Summe des Antoninus von Florenz und auf das Beichthandbuch der Summa Angelica hin.364 Zu den pastoraltheologischen Handbüchern ist auch Biels ausführliche Meßauslegung zu zählen, die sich mit dem für die christliche Existenz der Buße vergleichbar wichtigen Altarsakrament und seiner Einbindung in das kirchliche und das individuelle Leben beschäftigt und deshalb einige moraltheologisch interessante Passagen enthält.365 Auch das von Biel vielfach herangezogene – in nachreformatorischer Zeit im Corpus iuris canonici kodifizierte – Kirchenrecht und sein weltliches Pendant im Corpus iuris civilis mit ihren zahlreichen Glossierungen und Kommentaren waren wichtige Bezugstexte der Moraltheologie. Der wohl wichtigste Ort moraltheologischer Konkretion waren die in unterschiedlichsten Gestalten – als selbständige Traktate, als Teile theologischer Summen oder Handbücher, als Predigtsammlungen, als katechetische Lehrtexte, als Dekalogauslegungen etc. – auftretenden Behandlungen der Tugenden und Laster.366 Die über moraltheologische Grundsatzüberlegungen und kirchenund zivilrechtliche Erörterungen hinausgehende Reflexion und Anleitung der christlichen Existenz entfaltete sich in dieser reichen Literatur, die freilich vielfach mehr lehrhaft-seelsorgerliche Anleitung zu alltäglicher Lebenspraxis als theoretische Reflexion bietet. Diese nicht-akademische Literatur weist auf einen noch schwerer zu greifenden, aber wohl noch wichtigeren Hintergrund hin: Auch in der kirchlichen Unterweisung spielte die Vermittlung und Vertiefung der Sozialethik eine wichtige Rolle, und Luthers sozialethisches Wissen und Verständnis verdankt sich nicht zuletzt der Katechese und den Predigten.367 Eines der wichtigen sozialethischen Themen der kirchlichen Unterweisung war die Ständelehre,368 die zu364 Die Stellennachweise finden sich im Index auctoritatum der Indices zu Biels Collectorium, bearb. v. W. Werbeck, 1992, 65–144. 365 Die zahlreichen Äußerungen zur Grundlegung der theologischen Ethik, die denen im Coll. entsprechen und darum in der bisherigen Darstellung nicht eigens berücksichtigt wurden, bleiben dabei außer Betracht. 366 R. Newhauser: The Treatise on Vices and Virtues in Latin and the Vernacular, 1993. 367 Zum Einfluß der kirchlichen Unterweisung auf Luthers politische Ethik: R. Bast: Honor Your Fathers: Catechisms and the Emergence of a Patriarchal Ideology in Germany 1400–1600, 1997, Kap. 5.1. (Bast betont hier jedoch die Kontinuitätslinien zwischen der spätmittelalterlichen Katechese und Luthers politischer Ethik zu stark und übersieht, daß Luthers reformatorische Theologie den Rahmen der politischen Ethik grundsätzlich verändert und dadurch auch den scheinbar herkömmlichen Elementen der politischen Ethik eine neue Bedeutung verleiht). 368 W. Heinemann: Zur Ständedidaxe in der deutschen Literatur des 13.–15. Jahr-

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

gleich auch im akademischen Unterricht gegenwärtig war. Allerdings war die Ständelehre des Spätmittelalters keine geschlossene und in sich einheitliche Größe, sondern ein lockerer Rahmen, der unterschiedlich ausgeführt werden konnte. Zum einen gab sie eine mit der Aristotelesrezeption des 13. Jahrhunderts zusammenhängende Theorie der gesellschaftlichen Gliederung in drei komplementäre Funktionen (Haus, Gemeinwesen, Kirche), zum anderen differenzierte sie innerhalb dieser drei Bereiche und vor allem innerhalb der Kirche die unterschiedlichen Lebensformen, in denen sich christliche Existenz vollzog (Klerus, Laien). Was Luther hier an sozialethischem Wissen und Verständnis erworben hat, kann im einzelnen nicht näher bestimmt werden. Daß er über die durch das Studium der Sentenzen erworbenen ethischen Grundlagen hinaus auch die individual- und sozialethischen Konkretionen kennenlernte, kann jedoch schwerlich bezweifelt werden.

Den Ansatzpunkt für die Sozialethik bietet das scholastische Lehrsystem in der Unterscheidung von lex vetus und nova. Denn diese Unterscheidung impliziert die Differenz von Geistlichem und Weltlichem und die relative Selbständigkeit der weltlichen Sphäre. Damit stellt sich die Aufgabe, das Verhältnis zwischen Geistlichem und Weltlichem auf den unterschiedlichen Ebenen des individuellen und gemeinschaftlichen Lebens theologisch verantwortlich zu bestimmen. Hinsichtlich des Verhältnisses von Kirche und weltlicher Obrigkeit verweist Biel auf die Zwei-GewaltenLehre und unterscheidet innerhalb der einen Christenheit die aufgrund ihrer religiösen Dignität übergeordnete potestas ecclesiastica und die ihr untergeordnete potestas mundana.369 Diese kurzen Ausführungen stehen im Zusammenhang der im Spätmittelalter außerordentlich lebendigen Diskussion über die politische Theorie, die ihren Ort auch in der Universität hatte.370 Es ist angesichts der zahlreichen in seinen späteren Schriften behunderts (Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 88, 1966/67, 1–90; 89, 1967, 290–403; 92, 1970, 388–437); W. Maurer: Luthers Lehre von den drei Hierarchien und ihr mittelalterlicher Hintergrund, 1970, 9–18. 369 Exp. lect. 23 P-Q; lect. 75. Biel faßt hier den wichtigsten Stoff der Zwei-GewaltenLehre zusammen. Dazu gehören die Unterscheidung der zwei potestates, gladii (nach Lk. 22,38) und lumina, der Verweis auf die biblischen Basistexte Röm. 13 und 1. Petr. 2 sowie der Verweis auf Gelasius, Augustin und Isidor. – Hierzu: H. Junghans: Das mittelalterliche Vorbild für Luthers Lehre von beiden Reichen (in: Spätmittelalter, Luthers Reformation, Kirche in Sachsen, 2001, 11–30, hier: 21–27); V. Mantey: Zwei Schwerter – Zwei Reiche, 2005, 148–153. 370 Eindrücklicher als die üblichen Lehr- und Handbücher zur Geschichte der Philosophie im allgemeinen und zur politischen Theorie im besonderen (z.B. D. Mertens: Geschichte der politischen Ideen im Mittelalter, in: Geschichte der politischen Ideen. Von der Antike bis zur Gegenwart, 32008, 141–238) stellt J. Miethke (Politiktheorie im Mittelalter. Von Thomas von Aquin bis Wilhelm von Ockham, 2008) diese im Gefolge des Untergangs des staufischen Kaisertums und des Scheiterns des päpstlichen Weltherrschaftsanspruchs vom 13. bis ins 15. Jahrhundert geführte Diskussion um die Vollmacht des Papstes und damit die Grundlagen der innerweltlichen Ordnung überhaupt dar. Einen guten Überblick über die spätmittelalterliche politische Ethik, wie sie für Luther vorauszusetzen ist, gibt M. Basse: Ideale Herrschaft und politische Realität. Luthers

2.5. Theologiestudium

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legten und auf die einschlägigen Schriften und Diskurse zurückverweisenden Begriffe und Vorstellungen kaum denkbar, daß Luther in seiner Erfurter Studienzeit nicht auch im Kolleg oder bei der Lektüre der politischen Theorie begegnet ist. Er wird kaum die jahrhundertelange Diskussion um das Verhältnis von Kaiser und Papst, von Weltlichem und Geistlichem im einzelnen genau studiert haben. Aber er eignete sich wohl – ohne daß die Art und Weise und der Umfang genauer benannt werden kann – Schlüsseltexte und wichtige Begriffe und Aussagezusammenhänge an. Zuallererst ist natürlich Augustin mit seiner Gegenüberstellung von civitas Dei und civitas terrena zu nennen, daneben aber auch Dionysius Areopagita mit seiner einflußreichen Hierarchienlehre. Von den im spätmittelalterlichen Streit selbst entstandenen Schriften waren die in die kirchlichen und weltlichen Rechtssammlungen übernommenen Kundgaben der päpstlichen respektive der weltlichen Seite leicht zugänglich. Dazu ist wohl auch an das eine oder andere aus dem politischen Schrifttum Ockhams, dessen umfangreicher Dialogus seit 1494 auch in einer Druckausgabe verfügbar war, zu denken.371 Daß die weltliche Existenz des Christen selbständig und zugleich der geistlichen Existenz und damit der kirchlichen Leitung untergeordnet ist, ist auch der Leitgedanke der beiden für die theologische Ethik wichtigen Sakramente der Buße und der Ehe. Denn das Leben des Christen in der Gottes- wie in der Weltbeziehung steht unter der Forderung Gottes, muß sich an ihr messen lassen und genügt dieser unter den Bedingungen einer zwar von der Gnade getragenen, aber weiterhin von der Sünde gezeichneten Existenz nicht immer. Dieser sich im Vollzug christlichen Lebens immer wieder aufbauende Widerspruch löst sich in der Buße. Indem der Christ sich des Widerspruchs bewußt wird, ihn ernstlich bereut (contritio), sich dem Priester mit dem Bekenntnis seiner Sünden stellt (confessio), die sakramental wirksame Befreiung von seiner Schuld empfängt (absolutio) und sich der Besserung durch die Kirchenstrafen unterzieht (satisfactio), setzt er immer wieder einen Neuanfang. Eine wichtige Voraussetzung für die Reue von Seiten des Poenitenten wie für die ordnungsgemäße Durchführung des Beichtgesprächs von Seiten des Beichtvaters ist die Kenntnis der Grundlagen und Konkretionen der theologischen Ethik. Und weil es um konkrete einzelne Sünden mit jeweils besonderen Umständen geht, wird vor allem vom Beichtvater viel verlangt. Die Sentenzen

Auslegung des 101. Psalms im Kontext von Spätmittelalter und Reformation (ZKG 114, 2003, 45–71, hier: 46–53). 371 Vor allem der dritte Teil des Dialogus enthält grundlegende Ausführungen über das Verhältnis von Kaiser und Papst, Geistlichem und Weltlichem.

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

und Sentenzenkommentare können hier die ausführlichen Beichtsummen und pastoraltheologischen Handbücher nicht ersetzen, sie verzichten aber nicht gänzlich auf die näheren Ausführungen. So bietet Biel im Zusammenhang der Bußlehre eine Quaestion zur Frage des gerechten Kriegs372 und eine zum Problem des Wuchers,373 die beide zahlreiche der Friedensund Wirtschaftsethik zuzuordnende Punkte behandeln. Die Fragen der Sexualethik hat Biel aus der Bußlehre ausgegliedert und der Kommentierung der Distinktionen über das Sakrament der Ehe374 überlassen, wozu er selbst aber nicht mehr gekommen ist.375 Es ist anzunehmen, daß Luther in Erfurt auch diesen Teil der Sentenzen studiert hat, auch wenn seine Randbemerkungen im Zusammenhang seiner Lehrtätigkeit als Sententiar zu Beginn des vierten Buchs abbrechen. Von Biel wie vom Lombarden gilt gleichermaßen, daß diese in die Sakramentenlehre eingebundenen Konkretionen nicht primär moraltheologisch orientiert sind und darum kein vollständiges Bild vermitteln. Die in beiden Zusammenhängen deutliche Dominanz der kirchenrechtlichen Problemstellung ist durchaus charakteristisch für das spätmittelalterliche Christentum und läßt der theologischen Reflexion und der seelsorgerlichen Anwendung nur wenig Raum. Die Moraltheologie überschneidet sich gerade im Bereich der ethischen Konkretionen vielfach mit Erbauung, Unterweisung und Seelsorge einerseits sowie dem Kirchenrecht andererseits und ist gegenüber diesen praxisnahen und schon seit langem etablierten Hinsichten auf die christliche Existenz nachgeordnet. Erst die neuzeitliche Theologisierung der Kirche im Gefolge der Reformation wird beides so in eine theologische Gesamtperspektive integrieren, daß die theologische Reflexion des konkreten Lebensvollzugs sich als selbständige Größe etabliert. Luther lernte während seiner Erfurter Studien- und Dozentenjahre die theologische Ethik in ihrer Fassung der von Biel vermittelten franziskanischen Schultheologie kennen und bejahte sie im Großen und Ganzen. Diese theologische Reflexion christlicher Existenz entsprach auch dem, was er in den Jahren zuvor im Zusammenhang der spätmittelalterlichen Frömmigkeitspraxis und der Schul- und Universitätsausbildung kennengelernt hatte. In der Frömmigkeit wie in der Theologie standen das Handeln Gottes am Menschen und das Handeln des Menschen in den drei 372

Coll. IV, d. 14, q. 4. Coll. IV, d. 15, q. 11. Sent. IV, d. 26–42. 375 Wendelin Steinbachs Ergänzung der fehlenden Distinktionen des Collectorium erschien erstmals 1520 und ist darum für die Frage nach Luthers Erfurter Studienzeit nicht relevant. 373 374

2.5. Theologiestudium

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Beziehungsdimensionen hinsichtlich seiner selbst, Gottes und der Welt in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis. Dieses Verhältnis konnte je nach Zusammenhang unterschiedlich akzentuiert werden. Dabei standen die unterschiedlichen Zuordnungen von göttlichem und menschlichem Handeln nach mittelalterlichem Verständnis nicht in Widerspruch zueinander, sondern wurden als komplementär verstanden. Die Darstellung der spätmittelalterlichen Moraltheologie, wie sie Luther in Erfurt begegnete, hat das Bemühen aufgezeigt, den inneren Zusammenhang dieses wechselseitigen Bedingungsverhältnisses aufzuweisen, ohne dabei der göttlichen Gnade oder der menschlichen Freiheit Abbruch zu tun. Was Luther während seines Artes- und Theologiestudiums als philosophische und theologische Ethik kennenlernte, war argumentativ stark und existentiell praktikabel. Aber wie schon die Randbemerkungen zum Lombarden andeuten, wurde Luther auf die trotz allen existentiellen Ernsts und aller gedanklichen Arbeit bleibenden Unausgeglichenheiten der mittelalterlichen vita christiana und ihrer theologischen Reflexion aufmerksam. Er hatte sich ein lebenslang prägend bleibendes Erbe angeeignet, wurde aber bereits im Aneignungsprozeß selbst anfangsweise darüber hinausgeführt. Die Fortsetzung seiner Lehrtätigkeit als Theologieprofessor in Wittenberg brachte die schrittweise Ablösung vom spätmittelalterlichen Hintergrund mit sich und führte Luther bis zum Jahr 1520 zu einer neuartigen Gesamtkonzeption christlichen Lebens. Vergleicht man diese neue Konzeption – deren Entwicklung und Ausformulierung in den folgenden drei Teilen behandelt werden wird – mit Luthers spätmittelalterlichem Hintergrund, dann ist zweierlei festzustellen: Zum einen ist es angesichts der argumentativen Stärke und existentiellen Praktikabilität des spätmittelalterlichen Ethos wenig verwunderlich, daß Luthers reformatorische Neukonzeption das spätmittelalterliche Erbe teilweise aufnahm und weiterentwickelte.376 Zum anderen gilt aber, daß Luther sich in vielerlei Hinsicht von diesem Erbe distanzierte und ein Verständnis des christlichen Lebens an dessen Stelle setzte, das formal und inhaltlich ganz neu und anders konzipiert war. Dieses reformatorische Neuverständnis des christlichen Lebens läßt sich nur angemessen würdigen, wenn man sich des mittelalterlichen Erbes bewußt ist, das Luther zuerst verinnerlicht und dann hinter sich gelassen hat. Während Luther mit der philosophischen und theologischen Ethik der Scholastik brach, gab es in den reformatorischen Kirchen bald wieder ein 376 Auf die Kontinuitätslinien hat R. Saarinen (Ethics in Luther’s Theology: The Three Orders, in: J. Kraye u. R. Saarinen [Hgg.]: Moral Philosophy on the Threshold of Modernity, 2005, 195–215) hingewiesen und angesichts der Bedeutung der aristotelischen Moralphilosophie für Luther festgestellt: »Luther scholars need to have a solid knowledge of the Aristotelian tradition« (212).

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2. Luthers spätmittelalterlicher Hintergrund

lebhaftes Interesse an der philosophischen Tradition. Vor allem Philipp Melanchthon377 sorgte im Zuge der Wittenberger Universitätsreformen der 1520er und 1530er Jahre dafür, daß die antiken Klassiker wieder studiert wurden und gab der aristotelischen Moralphilosophie ein Heimatrecht an der reformatorischen Universität.

377 Zum Aristotelelismus an der reformatorischen Universität Wittenberg und Melanchthons Bedeutung für die Wiederaufnahme dieser Tradition: H. Scheible: Aristoteles und die Wittenberger Universitätsreform (in: Ders.: Aufsätze zu Melanchthon, 2010, 125–151); G. Frank: Die praktische Philosophie Philipp Melanchthons und die Tradition des frühneuzeitlichen Aristotelismus (in: Ph. Melanchthon: Ethicae Doctrinae Elementa et Enarratio Libri quinti Ethicorum, 2008, XIX – XLII).

Zweiter Teil

Die frühen Vorlesungen und das neue Bußverständnis (1513–1519) Das Jahrzehnt zwischen seinen frühesten überlieferten Predigten 1510 und der programmatischen Zusammenfassung der reformatorischen Theologie 1520 war von grundlegender Bedeutung für Luthers theologische Entwicklung und für seine Anschauungen über das christliche Leben.1 Luther löste sich in diesen Jahren allmählich von seinem spätmittelalterlichen Hintergrund und entwickelte eine eigenständige rechtfertigungstheologische Gesamtkonzeption. Eine Gesamtkonzeption, die weitreichende ethische Konsequenzen enthielt, deren Entfaltung und Ausformulierung Luther bis an sein Lebensende beschäftigte. Das Folgende entfaltet zwei Zusammenhänge: Zuerst geht es um die rechtfertigungstheologische Systematisierung von Luthers frühen Anschauungen von der vita christiana und ihre Entwicklung zur reformatorischen Theologie in der Psalter- und Paulusexegese der Jahre 1513 bis 1519 (3.).2 Dann folgt ein Gang durch die Schriften, die die ethischen Konkretionen von Luthers Frühtheologie und werdender reformatorischer Theologie unter dem Leitbegriff der Buße thematisieren (4.).

1 In der älteren Forschung wurden darum die frühen Vorlesungen, Predigten und Schriften auch mit Blick auf Luthers Ethik untersucht: A. Dieckhoff: Luthers Lehre in ihrer ersten Gestalt, 1887, 46–68.112–150; K. Eger: Die Anschauungen Luthers vom Beruf. Ein Beitrag zur Ethik Luthers, 1900, 4–34; Holl 1,155–239; M. Ludwig: Religion und Sittlichkeit bei Luther bis zum »Sermon von den guten Werken« 1520, 1931, 52–126. 2 Die Untersuchung der Quellen aus den Jahren 1513 bis 1519 hinsichtlich Luthers Verständnis des christlichen Lebens kann nur mittelbar einen Beitrag zur Frage nach Inhalt und Zeitpunkt von Luthers reformatorischer Erkenntnis leisten. Die hier in Teil II vorgelegte Deutung von Luthers Frühtheologie bestätigt, daß sich die von Dauer, Vielfalt und Ungleichzeitigkeiten bestimmten Entwicklungsprozesse im Zeitraum von Herbst 1517 bis Frühjahr 1519 zu einer theologischen Gesamtkonzeption verdichten, die als reformatorisch zu qualifizieren ist und die sich in der Folgezeit nicht mehr grundlegend verändert.

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3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

3. Die Entwicklung von Luthers Auffassung vom christlichen Leben von der ersten Psalmenvorlesung bis zum Sermo de duplici iustitia (1513–1519) 3.1. Die Dictata super Psalterium (1513–1515) Aus dem Zeitraum zwischen den frühesten Predigten und Randbemerkungen 1509/10 und der ersten Psalmenvorlesung 1513–1515 sind keine Schriften Luthers überliefert. Einige spätere Zeugnisse beziehen sich auf diese so wichtigen Jahre, ohne aber eine klare Antwort auf die Frage nach Luthers theologischer Entwicklung zwischen den noch überwiegend vom mittelalterlichen Hintergrund geprägten frühesten Äußerungen und der eine grundsätzliche Neuorientierung bezeugenden ersten Psalmenvorlesung zu geben. Diese Vorlesung setzt – gleich ob man in ihr bereits Grundgedanken von Luthers reformatorischer Theologie wiederfindet oder vorsichtiger ein erstes Zeugnis einer darauf hinführenden Denkbewegung sieht – ein Neuverständnis der Bibel voraus. Dieses bahnt sich in den frühen Randbemerkungen und Predigten an einigen wenigen Stellen an, ist uns aber in seiner wichtigen ersten Entwicklungsphase nicht durch irgendwelche zur selben Zeit entstandenen Zeugnisse zugänglich. Luthers Vorarbeiten, Glossen und Scholien zur Psalmenvorlesung aus den Jahren 1513 bis 1515 sind somit das erste gewichtige Ergebnis von Luthers verändertem Umgang mit der Bibel, von dem man behutsam auf die vorangehende Entwicklung zurückschließen muß. Die ältere Forschung hat die Bedeutsamkeit der Zeit vor der ersten Psalmenvorlesung betont, indem sie Luthers postulierte reformatorische Erkenntnis auf die Jahre zwischen 1510 und 1512 datierte. Aus diesen Forschungsbeiträgen ist vor allem Karl Holl herauszuheben,3 der auf Luthers Begegnung mit der Bibel hinweist und einen zweistufigen Erkenntnisprozeß annimmt: Der reformatorischen Erkenntnis als einer genuin religiösen Erkenntnis mußte aus sachlicher Notwendigkeit eine sittliche Erkenntnis vorangehen, die Luther durch seine Wiederentdeckung des neutestamentlichen Ethos mit seiner strengen Forderung aufging. Da für Holl die religiöse Erkenntnis – nämlich die Grundkonzeption der reformatorischen Rechtfertigungslehre – der Sache nach in der ersten Psalmenvorlesung vorhanden ist und in der Römerbriefvorlesung programmatisch durchdacht und ausformuliert wird, muß 3 Neben den beiden Aufsätzen über Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesungen über den Römerbrief mit besonderer Rücksicht auf die Frage der Heilsgewißheit (Holl 1,111–154) und Was verstand Luther unter Religion? (Holl 1,1–110) ist hier die für die Genese von Luthers Ethik nach wie vor grundlegende Arbeit Der Neubau der Sittlichkeit (Holl 1,155–287, hier v.a. 176–203) wichtig.

3.1. Dictata super Psalterium

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die sittliche Neuerkenntnis und die sie bedingende neuartige Bibellektüre in die Zeit vorher fallen, jedoch nicht schon in die Jahre 1509/10. Obwohl sich Holls Datierungen und inhaltliche Bestimmungen des Werdens der reformatorischen Erkenntnis Luthers im einzelnen nicht halten lassen, gibt er ein plausibles Schema für die frühe theologische Entwicklung Luthers. Läßt man die Frage nach dem Werden der reformatorischen Theologie vorerst beiseite, so kann man an Holl anschließend sagen, daß Luther durch seine Beschäftigung mit der Bibel in den Jahren seiner frühen Erfurter und Wittenberger Lehrtätigkeit vor der Doktorpromotion 1512 in einen sich allmählich vom mittelalterlichen Hintergrund entfernenden und immer stärker dem biblischen Text selbst verpflichteten existentiellen und theologischen Umgang mit dem Alten und Neuen Testament hineinwuchs.4 Die Bibel wurde für Luther zum Buch existentieller Erfahrung und theologischer Erkenntnis: Er begriff, daß der Mensch Gott nicht entsprechen könne und daß sich Gott darum diesem Menschen heilvoll zuwende. Und diese Einsicht arbeitete er in der ersten Psalmenvorlesung theologisch weiter aus. Die Dictata super Psalterium 5 setzen sich aus unterschiedlichen, nicht immer genau zu datierenden und in ihrem gegenseitigen Verhältnis nicht immer genau zu bestimmenden Textgruppen zusammen. Vor Beginn der Vorlesung ließ Luther eine Psalterausgabe drucken, die eine von ihm verfasste Vorrede und von ihm formulierte Psalmentituli enthält.6 Zu den Vorbereitungen zählen wohl auch Teile der Randnotizen zum Psalterkommentar des Faber Stapulensis.7 Diese wurden allerdings während und nach der Vorlesung weitergeführt und ergänzt und sind darum für die Rekonstruktion von Luthers Theologie in der Zeit der ersten Psalmenvorlesung nur eingeschränkt heranzuziehen. Während der Vorlesung selbst entstanden die Zeilen- und Randglossen sowie die ausführlichen Scholien.8 Die Glossen sind in der Regel vor die Scholien zu datieren, die in der Regel in zeitlicher Nähe zur jeweiligen Kollegstunde niedergeschrieben wurden. Weder bei den Glossen noch bei den Scholien zu einem Psalm kann man davon ausgehen, daß diese jeweils im 4 Wie die gegenwärtige Lutherforschung das Interesse der älteren Forschung am Verhältnis von Bibel und initia Lutheri weiterführt, zeigt Th. Kaufmann: Vorreformatorische Laienbibel und reformatorisches Evangelium (in: Ders.: Der Anfang der Reformation, 2012, 68–101, hier: 87–97). 5 Der Titel der Vorlesung ist einem Brief Luthers von 1516 entnommen (WAB 1,56,6 [Nr. 21]). 6 Die jetzt maßgebliche Edition ist WA 55I, wo Luthers »Wolfenbütteler Psalter«, d.h. das einzig erhaltene Exemplar des Psalterdrucks mit Luthers Glossen aus der Zeit der Vorlesung, abgedruckt ist. Hierzu: G. Ebeling: Luthers Psalterdruck von 1513 (in: Ders.: Lutherstudien, Bd. 1, 1971, 69–131). 7 Adnotationes Quincuplici Fabri Stapulensis Psalterio manu adscriptae (WA 4,463– 466.466–526). 8 Die Edition liegt jetzt in WA 55I und WA 55II vor. Beides gibt im Übrigen nur Einblick in Luthers Vorbereitung auf die Vorlesung. Was er genau diktiert hat, ist mangels Nachschriften nicht bekannt.

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3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

selben Zeitraum entstanden sind. Teilweise lassen Doppelungen, Ergänzungen und Neuansätze erkennen, daß die Kommentierung zu einem Psalm aus unterschiedlichen Zeiten stammt. Für die Theologie der ersten Psalmenvorlesung heißt das, daß sie vor allem aufgrund der Scholien nachzuvollziehen ist und daß sich eine Entwicklung innerhalb der Vorlesung nur unter Vorbehalt rekonstruieren läßt. Methodisch ist zudem zu berücksichtigen, daß Luthers Psalmenvorlesung angesichts der formalen und inhaltlichen Vielfalt der auszulegenden einzelnen Psalmtexte zwar systematischen Leitideen folgt und diese in der Exegese entfaltet, nicht aber einen in sich geschlossenen, fortschreitenden Gedankengang bildet. Auch der Blick auf die bisherige Forschung empfiehlt, auf eine Systematisierung des Quellenmaterials nach Maßgabe der späteren reformatorischen Theologie und auf das Bemühen, das so Systematisierte zusätzlich in eine theologische Entwicklungsgeschichte einzuordnen,9 zu verzichten. Vielmehr sind die durchaus einheitlichen und sich in unterschiedlichen begrifflichen und gedanklichen Variationen durchhaltenden theologischen Grundanschauungen behutsam den Texten zu entnehmen.

Aus den theologischen Grundanschauungen der ersten Psalmenvorlesung wird im Folgenden der Komplex herausgegriffen, der für Luthers Anschauung vom christlichen Leben Bedeutung hat. Im einzelnen wird erstens nach der Konstitution des ethischen Subjekts, zweitens nach dem Zusammenhang des Seins dieses Subjekts mit seinem Handeln und drittens nach den Konkretionen der ethischen Praxis gefragt.10 Auf die Frage nach der Konstitution des ethischen Subjekts gibt die erste Psalmenvorlesung keine befriedigende Antwort. Der im engeren Sinne ethische Problemkreis wird von Luther kaum behandelt. Stattdessen dominiert die übergeordnete Fragestellung der Konstitution des christlichen Subjekts in der Beziehung zu Gott.11 Wie die Forschungsarbeiten zur ersten Psalmenvorlesung zeigen, ist diese grundsätzliche Frage aber von emi9 Dieses Vorgehen ist für die ältere Lutherforschung kennzeichnend und hat seinen zugleich beeindruckenden und nicht unproblematischen Höhepunkt in Erich Vogelsangs nicht nur forschungsgeschichtlich, sondern auch für die gegenwärtige Diskussion nach wie vor relevanter Monographie Die Anfänge von Luthers Christologie nach der ersten Psalmenvorlesung (1929) gefunden. 10 Die Rede vom ethischen Subjekt ist eine moderne, Luther aber entsprechende Redeweise (vgl. die in der Einleitung zitierte Einschätzung von Trutz Rendtorff: Ethik, 3 2011, 18). Für die Genese und Entwicklung von Luthers reformatorischer Ethik bis 1520, die in Teil II und III dargestellt wird, ist dieses Thema darum von zentraler Bedeutung. 11 Die im Folgenden skizzierten anthropologischen und soteriologischen Grundgedanken der ersten Psalmenvorlesung finden sich in der Forschungsliteratur näher ausgeführt. Zu nennen sind hier vor allem die Arbeiten von G. Ebeling (Die Anfänge von Luthers Hermeneutik, in: Ders.: Lutherstudien, Bd. 1, 1–68), R. Schwarz (Fides, spes und caritas beim jungen Luther, 1962, 76–240; Vorgeschichte der reformatorischen Bußtheologie, 1968, 167–288), G. Metzger (Gelebter Glaube. Die Formulierung reformatorischen Denkens in Luthers erster Psalmenvorlesung, dargestellt am Beispiel des Affekts, 1964) und K.-H. zur Mühlen (Nos extra nos. Luthers Theologie zwischen Mystik und Scholastik, 1972, 26–92).

3.1. Dictata super Psalterium

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nenter Bedeutung für die im engeren Sinne ethische Frage. Denn die erste Psalmenvorlesung mit ihrer Konzentration auf Gottes Handeln im Christusgeschehen ist durch die tropologische Anwendung des Christussinns des Psalters auf den einzelnen Christen unmittelbar relevant für die Frage nach der christlichen Existenz.12 Mit der als »Praefatio Ihesv Christi« gestalteten Vorrede zum Wolfenbütteler Psalter13 macht Luther von Beginn an klar, daß der Psalter das Buch Christi ist, und zwar des gegenwärtigen Christus, der nun auch in der Vorlesung zum Dozenten Luther und den Vorlesungshörern, die zusammen als Mönche ja der geistliche Leib Christi auf Erden sind, spricht. Eine Vorlesung über die Psalmen bedeutet darum ein existentielles Betroffensein durch Christus, seinen irdischen Wandel, vor allem sein Kreuz, und seine göttliche Herrschaft. Die christologische Interpretation ist weit mehr als ein technischer Grundsatz der Hermeneutik, sie ist ein Existenzvollzug: die Erschließung und Einübung in die christologische Wirklichkeit christlicher Existenz; und zwar einer Existenz im Zunichtewerden des alten, fleischlichen Menschen und im Neuwerden des geistlichen, inneren Menschen.14 Der scheinbare Mangel an ausdrücklich ethischer Reflexion auf der Ebene der Grundsatzfragen wie der Konkretionen erweist sich damit letztlich als eine theologische Notwendigkeit und ein Luthers gesamte Theologie prägendes Charakteristikum. Er kennt keine mittelalterliche Verselbständigung und auch keine neuzeitliche Vorordnung des ethischen Themenkreises. Vielmehr kommen der Christ und die christliche Praxis immer nur von Gottes Handeln in Christus her in den Blick. Dieser Ausgangspunkt aller christlichen Existenz und aller theologischen Reflexion bringt es für Luther mit sich, nicht mehr in den Bahnen der mittelalterlichen Schultheologie, wie er sie kennengelernt hatte, gehen zu können. Fand Luther bei Gabriel Biel eine in sich ausgewogene und biblisch durchaus begründete Theorie der Konstitution des ethischen Subjekts und eine harmonische Austarierung von göttlichem und menschlichem Handeln vor, so ergab sich für ihn von der Bibel her die Schwierig12 Darum ist die christliche Existenz ein in vielen Forschungsbeiträgen direkt oder indirekt behandeltes Thema. Besonders deutlich zeigt sich dieser Zusammenhang von christologisch-soteriologischem Interesse und anthropologisch-ethischer Relevanz etwa bei Erich Vogelsangs Darstellung der »Anfänge von Luthers Christologie nach der ersten Psalmenvorlesung«, in der es strenggenommen gar nicht um Christus, sondern um den Christen geht. 13 WA 55I,6–11. 14 »Quicquid de domino Ihesu Christo in persona sua ad literam dicitur. hoc ipsum allegorice: de adiutorio sibi simili et ecclesia sibi in omnibus conformi debet intelligi. Idemque simul tropologice debet intelligi. de quolibet spirituali et interiori homine: contra suam carnem et exteriorem hominem« (WA 55I,8,8–11).

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keit, daß sich deren Aussagen über die Sünde und die alltägliche Sündenerfahrung schwerlich damit vereinbaren ließen. Der Mönch, der täglich die Bußpsalmen betete, wurde auf den unbestreitbar schwachen Punkt der mittelalterlichen Moraltheologie aufmerksam: die strukturelle Unterschätzung der Sünde als der das menschliche Sein und Handeln grundsätzlich und im konkreten Vollzug bestimmenden Macht. Die erste Psalmenvorlesung zeigt durchgehend Luthers gegenüber der mittelalterlichen Tradition mindestens einseitig akzentuiertes, wenn nicht gar ganz anderes Sündenverständnis: Sünde ist nicht mehr vorrangig die sakramental zu bewältigende Erb- und die mit Hilfe der Kirche durch Reue und Bußleistungen zu bewältigende Tatsünde, sondern die grundsätzliche, vom Menschen nicht zurechtzubringende Verkehrung des Gottesverhältnisses. Daß der Mensch sich Gott verweigert, daß er kraft eigenen Handelns nach eigener Gerechtigkeit strebt, daß er sich hochmütig in seinem Sein selbst konstituiert, das ist Luthers grundstürzende Erkenntnis. Die Sünde verwandelt sich von einer durch Sakrament und Eigenaktivität beherrschbaren Zuständlichkeit und Einzeltat zu einer die gesamte Existenz umfassenden Ausrichtung, die den Menschen bleibend prägt. Die erste Psalmenvorlesung bringt das Neue allerdings noch nicht so klar zum Ausdruck wie die folgenden Vorlesungen. Der in der Sache greifbare Bruch mit dem herkömmlichen Sündenverständnis ist Luther entweder in seiner Tragweite nicht hinreichend bewußt oder er wird im Interesse einer existentiellen Vertiefung des mittelalterlichen Erbes nicht thematisiert. Luthers biblischer Bezugspunkt sind dabei nicht nur die Psalmen, sondern auch und vor allem der Römerbrief. Die für die Sündenlehre besonders aufschlußreichen Auslegungen von Ps. 31/3215 und Ps. 50/5116 verweisen auf Röm. 1–4 als Verständnisschlüssel der Sünden- und Gerechtigkeitsaussagen der beiden Psalmen. Die gegenseitige Verschränkung von Psalter und Paulus, von existentieller Aneignung des biblischen Texts in den alttestamentlichen Christusgebeten und seiner theologischen Reflexion mit Hilfe der neutestamentlichen Paulusbriefe, prägt lebenslang Luthers Psalmenauslegung und seinen Umgang mit der Bibel. Paulus und der Psalter machen ihm deutlich, daß zwei Dimensionen der Sünde zu unterscheiden sind: zum einen die einzelnen sündhaften Taten im zwischenmenschlichen Bereich und zum anderen die allem Handeln vorausliegende Beziehung des Menschen zu Gott.17 Gott gegenüber findet sich der 15

Ps. 31/32,1–3: WA 55I,290; WA 55II,176–178. Ps. 50/51,6.7.12: WA 55I,396.398; WA 55II,268–276. Zu Luthers Auslegung von Ps. 50/51 und der darin entwickelten Hamartiologie: R. Schwarz: Vorgeschichte der reformatorischen Bußtheologie, 1968, 228–259; J. Brush: Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis. Luthers Verständnis des 51. Psalms, 1997, 84–112. 16

3.1. Dictata super Psalterium

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Mensch immer als Sünder vor: Nämlich als jemand, der zurecht unter dem Zorn Gottes steht, welcher den Gekreuzigten trifft,18 und der sich dieses Sündersein im Bekenntnis des »tibi sum peccator et peccaui«19 zueigen macht. Auch wenn Luther in herkömmlicher Weise von der Sünde als einer menschlichen Einzeltat und erbsündlichen Zuständlichkeit und Neigung, von zu neuen Sünden reizenden Sündenresten und von der bleibenden Schwäche des Christen sprechen kann,20 so ist das entscheidende Charakteristikum der Sünde nunmehr, daß sie ein innerliches Beziehungsgeschehen, eine Totalbestimmtheit des Gottesverhältnisses ist. Das Sündenbekenntnis des Psalmbeters bezieht sich nicht mehr primär auf das verfehlte Handeln des Menschen, sondern auf sein Sein, seine Person vor Gott. Es geht um das verum et spirituale peccatum, nicht um die äußerlichen Einzelsünden gegen das Zeremonialgesetz, die durch im Gesetz vorgeschriebene Vollzüge getilgt werden können.21 Deshalb bittet Ps. 50/51,12 17 So deutet Luther die Doppelaussage von Ps. 31/32,1: »›iniquitas‹ est, qua homo conuertitur ad creaturam preferendo amorem eius amori Dei, quod est ›iniquum‹; ›peccatum‹ autem, quo homo auertitur a Deo, quod est transgredi preceptum et legem Dei« (WA 55II,177,34–36). Angesichts der darauf folgenden Zurückweisung der Deutung auf die Unterscheidung von Tat- und Erbsünde und des angedeuteten Verständnisses der Erbsünde als einer über Glaube und Taufe hinausreichenden und auch den Christen geltenden Wirklichkeit, ist diese Bestimmung der Sünde bereits auf dem Weg zu einer Neufassung des Sündenverständnisses, wie sie in der Auslegung von Ps. 50/51 greifbar wird. Dort heißt bereits in den gegenüber den Scholien älteren und darum der Auslegung von Ps. 31/32 näherstehenden Glossen, daß die Sünde die Verfehlung Gott gegenüber, nicht die Übertretung des Gesetzes ist (»sic vere est, quod coram te peccaui, non quod Mosi et legi in peccatis literalibus«: WA 55I,396 [ZGl. zu Ps. 50/51,6]). Die Scholien zu Ps. 50/51,6+12 führen das dann weiter aus. 18 Die Tatsächlichkeit und das Offenbarsein der Sünde sind der Ausgangspunkt von Luthers Auslegung von Ps. 50/51,6: »Primo. Omnes homines sunt in peccatis coram Deo et peccant, i.e. sunt peccatores vere. Secundo. Hoc ipsum Deus per prophetas testatus est et tandem per passionem Christi idem probauit, quia propter peccata hominum fe¸cit eum pati et mori. Tertio. Deus in seipso non Iustificatur, Sed in suis sermonibus et in nobis. Quarto. Tunc fimus peccatores, quando tales nos esse agnoscimus quia tales coram Deo sumus. Tunc sequitur. Qui non est peccator, i.e. se non confitetur peccatorem, manifeste contendit Deum condemnare in sermonibus, quibus nos in peccatis esse testatus est, Et Christum non pro peccatis mortuum esse contendit, Et sic Iudicat Deum et mendacem facere nititur. [...] Vnde multe¸ sunt tales auctoritates in Euangelio et Apostolo, que videntur nos Inducere, vt peccemus, cum non aliud velint, nisi vt confiteamur et agnoscamus nos esse peccatores« (WA 55II,269,14–30). 19 WA 55II,270,55 f. 20 Bezugnahmen auf das schultheologische Sündenverständnis finden sich immer wieder (z.B. WA 55II,275,211–276,220; 830,21–31). Das Ineinander von neuartigen und schultheologischen Momenten in Luthers Sündenverständnis wurde von der Forschung immer wieder behandelt: L. Grane: Contra Gabrielem, 1962, 286–302, und K.-H. zur Mühlen: Nos extra nos, 1972, 45–49. 21 WA 55II,269,32–42; 271,72. Luthers Auslegung zielt zwar auf das alttestamentliche Zeremonialgesetz, hat aber wohl auch die eigene kirchliche Gegenwart im Blick. Doch Luther wendet sein Dringen auf Verinnerlichung hier, wie auch an anderen Stellen der

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auch um ein neues Herz. Denn entscheidend für die Situation des Menschen vor Gott ist nicht das äußerliche Tun, sondern die innere, geistliche Dimension menschlicher Existenz.22 Inbegriff dieser Verfehlung der Gottesbeziehung ist die superbia, die hochmütige Leugnung der Angewiesenheit auf Gott und die Anmaßung, mit seinen eigenen Werken für sich einstehen zu können.23 Luther kommt dabei bereits in der ersten Psalmenvorlesung zu Aussagen, die sich nicht mehr in den mittelalterlichen Rahmen integrieren lassen. Ist nämlich nicht mehr das Handeln, sondern die Person entscheidend, so ist das Handeln nicht mehr als solches soteriologisch qualifizierbar. Und das heißt, daß die augenscheinliche Gutheit oder Schlechtheit einzelner Handlungen nichts über ihren Sündencharakter coram Deo aussagt. Ja, Luther vertieft die monastische Demutstheologie sogar so weit, daß er in objektiv guten Werken den Inbegriff des Hochmuts und der sündigen Abkehr von Gott sieht, wenn diese Werke um der Eigengerechtigkeit willen getan werden.24 Er läßt es aber nicht zu, daß diese Konsequenzen seines an Paulus und dem Psalter gewonnenen Sündenverständnisses die ethische Praxis insgesamt diskreditieren, weshalb er der Eigengerechtigkeit der Menschenwerke die Glaubenswerke (opera fidei) entgegensetzt.25 Weil die so verstandene Sünde für den Menschen nicht mehr durch sakramentale Teilhabe und ethische Praxis eingrenzbar und beherrschbar ist, zieht Luther die Konsequenz, die Konstitution des christlichen SubVorlesung, an denen man das erwarten würde, nicht unmittelbar gegen die spätmittelterliche Frömmigkeit und Kirchlichkeit, sondern beläßt es bei einer Andeutung. 22 WA 55I,398 (ZGl. zu Ps. 50/51,12); WA 55II,275,194–204. Daß Luther die Innenstatt der Außendimension zum eigentlichen Kriterium der Stellung des Menschen vor Gott macht, findet sich an zahlreichen weiteren Stellen der Vorlesung (WA 55I,450 f. [RGl. zu Ps. 61/62,5]; WA 55II,297,22–31; 861,251 f.258–269). Daß von Gott gilt: »Non enim requirit nostra, Sed nos«, heißt aber nicht, daß die Außendimension irrelevant wäre (WA 55I,394,1–12 [RGl. zu Ps. 49/50,23]). 23 Das auch gegenüber der monastischen Tradition theologisch anders akzentuierte Verständnis der superbia ist vielfach belegbar, etwa in der Auslegung von Ps. 100/101. Hier unterscheidet Luther zwei Stufen der Demut und der Sünde. Sein eigentliches Interesse gilt nicht der Demut des Menschen, der seine offensichtliche Unwürdigkeit eingesteht, und auch nicht der offensichtlichen Sünde, sondern der Demut derer, die »ex virtute gratie¸ distinguunt inter se et dona Dei et sic constanter seruant confessionem Deo in bonis acceptis et agnitionem sui in malis suis habitis, Et ita semper sibi nihil sunt. Sed o quam rara he¸c auis, Deus bone!« (WA 55II,764,28–31). Dementsprechend ist die in Ps. 100/101,7 genannte superbia nicht das »peccatum generalius«, sondern die eigentliche »iniquitas« der »Superbia contra obedientiam«, die der Mensch seinem Oberen, Christus und Gott schuldet (WA 55II,776,379–387). 24 Die Kritik am Streben nach Eigengerechtigkeit zieht sich durch die gesamte Vorlesung. Dabei geht es ihm nicht nur um die äußerliche Gerechtigkeit, sondern gerade auch um die superbia spiritualis (WA 55II,303,64–304,76). 25 Siehe unten S. 160.

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jekts ganz und gar in Gottes Hand zu legen.26 So präsent die Sünde als Thema in der ersten Psalmenvorlesung ist, so präsent ist das opus Dei als korrespondierendes Thema. Luthers Interesse an der Unmittelbarkeit Gottes zum Menschen findet sich bereits früher; so in den Randbemerkungen zum Lombarden, wo er die Unmittelbarkeit Gottes pneumatologisch akzentuiert und gegen die habitus-Theorie abgrenzt. In der Zeit der ersten Psalmenvorlesung denkt er sie stärker christologisch, indem er Gott, Christus und den Christen durch den Gedanken des opus Dei aufs engste aufeinander bezieht: Gottes Allmacht und Allwirksamkeit geht in Christi Kreuz ein und wirkt sich, vermittelt durch das Evangelium, als Gericht und Erneuerung in Christus am Glaubenden aus. Das Gotteswerk vollzieht sich in zwei ineinander verschränkten Hinsichten: einmal als Zorn und Gericht Gottes (ira Dei, iudicium) über den alten Menschen; zum anderen als Rechtfertigung des neuen Menschen (iustitia, iustificari). Die Entfaltung der Grundunterscheidung von iudicium und iustitia zieht sich in zahlreichen Variationen durch die gesamte Vorlesung. Immer neu greift Luther das Gegenüber von altem, fleischlichem, äußerem und neuem, geistlichem, innerem Menschen auf; von homo gratiae und homo peccati; von crucifixio carnis durch die lex vetus und liberatio spiritus durch die lex nova; von destructio veteris hominis und constructio novi hominis, von humiliatio und humilitas, von Sündenbekenntnis (confessio) und Gotteslob (magnificentia Dei).27 Beides geschieht in und durch Christus und wird durch das Wort zugeeignet.28 26

Ausdruck dessen sind die in mehreren Zusammenhängen auftretenden Exklusivaussagen. So bemerken die Adnotationes, daß Ps. 50/51 zeigt, »quod omnis homo est peccator et solus deus iustus, iustificans et iustificandus« (WA 4,496,24 f.). Und zu Ps. 61/62,8 bemerkt Luther, daß der Psalmbeter nicht »nostris virtutibus et Iustitiis, immo totaliter [...] Deo« vertraue (WA 55I,451). 27 Die wichtigsten Entfaltungen des im Laufe der Vorlesung immer wieder angesprochenen Zusammenhangs von iudicium und iustitia – also der frühen Rechtfertigungslehre Luthers – mit den oben genannten Gegenüberstellungen finden sich in den Auslegungen von Ps. 31/32,1–3 (WA 55II,176–178), Ps. 32/33,3+7 (WA 55II,187–189), Ps. 36/37,6 (WA 55II,205–207), Ps. 71/72,2 (WA 55II,433–440), Ps. 103/104,2 f. (WA 55II,802– 806), Ps. 105/106,3 (WA 55II,828,33–829,43). Von »Rechtfertigung« (iustificare, iustificatio) spricht Luther in der ersten Psalmenvorlesung primär mit Blick auf Gott, der durch das Sündenbekenntnis des Menschen gerechtfertigt wird, aber auch immer wieder mit Blick auf den Menschen. 28 Als eine prägnante Zusammenfassung unter den zahlreichen Aussagen über Gottes Gerichts- und Gnadenhandeln sei das Scholion zu Ps. 97/98,5 genannt, das den Zusammenhang von Christusereignis, Wort und Auswirkung am Glaubenden so beschreibt: Die beiden im Psalmvers genannten Blasinstrumente stehen für die »due¸ predicationes in Ecclesia: Gaudere cum gaudentibus, flere cum flentibus, Exhortari ad gaudium in Domino et exhortari luctum et pe¸nitentiam in seipso. Vnum ex Domino, alterum ex nobis pro materia habemus. Alterum Bona Dei sunt in nobis, alterum mala nostra in nobis. Sic spiritum le¸tificare et carnem contristare, Spirituales gaudere, Carnales tristari docere; Iste

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Wenden wir uns dem ersten Punkt zu, der von Luther vielfach und in unterschiedlichen Variationen vorgetragen wird und zum Inbegriff der Theologie der ersten Psalmenvorlesung geworden ist: dem Gericht Gottes und der Demütigung des Menschen. Der Psalter spricht für Luther immer wieder vom leidenden und gekreuzigten Christus, und das heißt, er spricht vom Kreuz, das dem Christen auferlegt ist. Der Sünder steht als alter, fleischlicher, äußerlicher Mensch unter dem Gericht Gottes (iudicium Dei), muß sich demütigen lassen (humiliatio). Da die Sünde nicht etwas am oder im Menschen ist, muß dieses Gericht den Menschen als solchen treffen, das heißt in seinem Selbstverständnis, in seiner existentiellen Ausrichtung. Darum vollzieht sich das Gericht als Wortgeschehen durch das Evangelium, das die von Gott abgewandten Menschen nicht als solches wahrnehmen, daß aber den Glaubenden als Gericht erkennbar ist. Das Gotteswort wird von Luther nicht nur in den Bahnen der traditionellen Signifikationshermeneutik als äußerliche Anzeige eines innerlichen Geschehens, sondern auch als Wortgeschehen gesehen und damit aufgewertet. Allerdings ist der Schritt vom signifikativen zum performativen Wortverständnis noch nicht endgültig vollzogen, was sich an der fehlenden sachlichen Unterscheidung von Gerichts- und Gnadenwort zeigt. Das verbum Dei ist in der ersten Psalmenvorlesung beides zugleich: In seinem Gericht über den Glaubenden vollzieht sich die Gnadenzueignung. Das heißt nun aber, daß gerade die Christen unter diesem Gericht stehen, weil sie aufgrund ihrer von Gott gesetzten neuen Gottesbeziehung auf die überwundene, aber lebenslang bedrohlich bleibende Existenz des alten Menschen zurückblicken können. Die Zueignung des Gerichts vollzieht sich in der Demütigung des Menschen, die dieser als existentielle Grundhaltung der Demut nachvollzieht.29 Inbegriff dieses Nachvollzugs ist der Glaube, der von Luther nicht mehr nur als grundlegende, aber der Ergänzung durch die eigentliche entscheidende Liebe bedürftige Tugend, sondern weit umfassender verstanden wird. Der Glaubensbegriff der ersten Psalmenvorlesung hat eine eisunt due tube¸. In vna canitur Iustitia, que est nobis ex Deo, in altera Iudicium. In vna passiones et crux Christi, In altera resurrectio, gloria et consolationes Christi. Quare breuiter: predicare ea, que sunt ad salutem spiritus et noui hominis, est tuba argentea sonare; Sed predicare ea, que sunt ad humiliationem carnis et veteris hominis, est buccina sonare. Quia ibi de Iustitia et virtutibus inserendis, hic de peccato et viciis extirpandis predicatur« (WA 55II,760,87–98). Beide Verkündigungen lassen sich dem Alten und Neuen Testament zuordnen: »vetus testamentum peccati est Et redarguendum, sicut caro cum viciis. Et nouum est gratie¸ et laudandum est et preconisandum« (WA 55II,760,111– 761,113). 29 Die RGl. zu Ps. 36/37,28 formuliert knapp: »humilitas enim ipsa est ›Iudicium‹« (WA 55I,325).

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gentümliche Mittelstellung, die herkömmliche und vorausverweisende Momente so verbindet, daß eine alle von Luther angesprochenen Aspekte berücksichtigende Bestimmung kaum möglich ist. Mit Blick auf die spätere reformatorische promissio-fides-Relation ist trotz aller vorbereitenden Momente in Luthers Frühtheologie darauf hinzuweisen, daß Wort und Glaube nicht als solche soteriologisch relevant sind, sondern nur als Vermittlungsgrößen.30 Der Glaube ist nicht nur ein Erkenntnisvermögen, das das unter dem Gegenteil verborgene Heil erkennt und sich das rechtfertigende Gerichtswort des Evangeliums zueigen macht, sondern auch ein existentielles Widerfahrnis; nämlich das Widerfahrnis des Kreuzes Christi, das der Glaube als eine innere, geistliche Wirklichkeit auf sich nimmt.31 Die Sprachlichkeit des iudicium Dei, das auf das Selbstverständnis des Menschen abzielt, läßt Luther die fides als Korrelat des Gerichts denken, aber so, daß die neue existentielle Ausrichtung des Menschen im Glauben ihn gänzlich erfaßt. Der Glaubende erkennt das Evangelium als Gerichtswort Gottes über den alten Menschen an, bekennt seine Sünde,32 richtet sich damit selbst, rechtfertigt dadurch Gott und bekennt ihn allein als gerecht. Und in all dem vollzieht sich seine Rechtfertigung.33 30 Für den Glauben wird das besonders da deutlich, wo Luther das Heil nicht dem Glauben als solchem zuschreibt, sondern der göttlichen Selbstbindung (WA 55II,270,55– 64). 31 Die Scholien zu Ps. 16/17,8 fassen das in das Bild vom geistlichen Schatten des Kreuzes, der auf die Seele fällt und der die fides crucis ist (WA 55II,126,6–10). 32 Zum für die erste Psalmenvorlesung charakteristischen Ineinander von Lob- und Sündenbekenntnis, das ein Kerngedanke von Luthers früher Rechtfertigungstheologie ist: E. Vogelsang: Der confessio-Begriff des jungen Luther (1513–22) (LuJ 12, 1930, 91–108). Luther knüpft mit seiner Betonung des Sündenbekenntnisses weniger an die mittelalterliche Bußtheologie an, die in der confessio oris die vom Beichtenden im Vollzug des Beichtsakraments zu erbringende Mindestleistung sah und mit ihrer ausführlichen Anleitungsliteratur zu einer Veräußerlichung des Sündenbekenntnisses beitrug, als vielmehr an Augustins Confessiones. Luther findet in der Bekehrungsgeschichte Augustins in conf. VIII und in seiner Darstellung des Lebens nach der Bekehrung in conf. X das Ideal jeder christlichen Existenz vor, die sich in Demut und Selbstanklage, in wahrhafter Selbsterkenntnis des Christen »in corde meo coram te in confessione« (X,1,1) vollzieht (s. A. Hamel: Der junge Luther und Augustin, 1. Teil, 1934, 40–43.157–161 u.ö., sowie P. Courcelle: Luther interpre`te des Confessions de Saint Augustin, in: RHPhR 39, 1959, 235–250, deren Ausführungen jedoch teilweise einem wohl auf 1516 zu datierenden Predigtfragment gelten, das Luther für die Druckbearbeitung der Scholien zu Ps. 1 in die Handschrift einlegte). Der in conf. X wichtige Vers 1. Joh. 2,16 (X,30,41; X,35,54) mit seiner Kontrastierung der dreifachen superbia und humilitas spielt in der ersten Psalmenvorlesung eine wichtige Rolle; angesichts der programmatischen Bedeutung dieses Verses im mittelalterlichen Mönchtum ist jedoch kaum anzunehmen, daß Luther sich bewußt auf conf. X bezieht, wenn er 1. Joh. 2,16 heranzieht. 33 Luther denkt das Verhältnis von iudicium und iustitia, von humilitas und iustificari – beide Begriffspaare benennen dasselbe Heilsgeschehen, das eine aus der Perspektive Gottes, das andere aus der des Menschen – noch nicht vor dem Hintergrund der worttheologischen Aufwertung und kategorialen Unterscheidung von Gesetz und Evange-

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Das iudicium Dei über den alten Menschen wirkt sich vermittelt durch die grundlegende Wandlung des Selbstverständnisses und der existentiellen Ausrichtung im konkreten alltäglichen Zunichtewerden des gerichteten Menschen aus.34 Christi Leidensweg, wie er sich für Luther in den Klageliedern des Psalters widerspiegelt, ist auch der Leidensweg des Christen, der Gottes Gerichtsurteil im Kampf gegen die körperlich-seelischen Äußerungsformen des Hochmuts durchleidet. In Anknüpfung an die monastische Theologie und Frömmigkeitspraxis kann Luther darum auch geradezu Anleitungen zum Selbstgericht geben, indem er entfaltet, was es heißt: »omne studium nostrum id esse debet, magnificare et aggrauare peccata nostra et sic semper magis ac magis accusare Et assidue Iudicare, condemnare«.35

Solche Abschnitte der Vorlesung zeigen, daß für Luther das iudicium nicht nur passives Widerfahrnis des Menschen, sondern auch von ihm selbst aktiv zu übende Selbstnegation ist.36 Obwohl Luther in der ersten Psallium als Widereinander von Gericht und Gnade, sondern in den Bahnen eines nach wie vor latenten augustinisch-mittelalterlichen Spiritualismus als Umschlag oder gleitenden Übergang vom Gericht zur Gnade (so O. Bayer: Promissio, 21989, 339 u.ö.). Besonders anschaulich wird das in den direkt aufeinander folgenden Scholien zu Ps. 70/71,19 und Ps. 71/72,2. Es werden allerdings auch »due¸ predicationes in Ecclesia« unterschieden (WA 55II,760,87–98; 760,111–761,113), was aber wie die Aussagen über Gesetz und Evangelium oder Altes und Neues Testament in der Römberbriefvorlesung noch keine kategoriale Unterscheidung meint. Die formal-begriffliche Unterscheidung von Gericht und Gnade hat in der ersten Psalmenvorlesung die sachliche Einheit beider Größen zur Voraussetzung und expliziert diese. 34 So stellt Luther den actus interior (nämlich: »vilificatio sui seu humiliatio ex corde et agnitio sui, quia sit vere peccator et indignus omnium« [WA 55II,205,8 f.]) und exterior (nämlich: »sic se foris habere, vt amando contemptum, paupertatem, afflictionem, Ieiunium etc.« [WA 55II,205,9–11]) des iudicium einander gegenüber. Die vergleichbare Aussage in den Scholien zu Ps. 71/72,2: »Iudicium fit corde, ore et opere« (WA 55II,436,77), macht die durch das Gerichtswort vermittelte Zusammengehörigkeit von Innen- und Außendimension deutlich. Dementsprechend geht Luther im Folgenden immer wieder auch auf diesen Aspekt des Gerichts ein (WA 55II,436,93 f. u.ö.); unter anderem mit seinen Hinweisen auf die mortificatio, castigatio oder crucifixio carnis (WA 55II,437,115; 438,141). Luthers Ineinssetzung des »erfüllten« Evangeliums mit Gericht und Gerechtigkeit führt ihn zur Aussage, daß das Evangelium den Lebensvollzug unter dem Gericht lehrt (WA 55II,439,166–178). 35 WA 55II,400,498–500. Das Sch. zu Ps. 68/69,17 (WA 55II,400–407) führt das weiter aus. 36 So fordern die Scholien zu Ps. 105/106,3: »›Beati qui custodiunt Iudicium‹. Non ait ›faciunt‹, Sed ›custodiunt‹, i.e. semper seruant et semper faciunt. Primo suam Iustitiam damnent et sic Iustitiam Dei apprehendant, Et vtrunque semper. Quare verissima glosa est ›Iudicium‹ pro condemnatione Iustitie proprie et accusatione suiipsius accipere in morali sensu, Et ›Iustitiam‹ pro gratia fidei gratis data a Domino. Ideoque Iudicium facit, qui seipsum semper destruit secundum veterem hominem cum actibus suis. Et Iustitiam facit, Qui seipsum semper edificat secundum hominem nouum in spiritu. Sed arduum est et difficile hoc Iudicium agere, et continua pugna, scil. seipsum in humilitate vera et

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menvorlesung wohl nicht die Absicht hat, die Neukonstitution des Menschen wie die mittelalterliche Schultheologie auch dem Menschen und seinem Handeln zuzuschreiben, sind seine Aussage über das Selbstgericht und die Demut nicht gegen eine solche Deutung gesichert. Die von Ernst Bizer ausgelöste Forschungsdiskussion über die Bestimmung des Verhältnisses von Gott und Mensch und das menschliche Beteiligtsein an der Konstitution des neuen Menschen in der ersten Psalmenvorlesung weist auf dieses wohl nicht abschließend zu klärende Problem hin.37 Die Quellen selbst bleiben wenigstens in Teilen zweideutig, so daß eine Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von Gotteswerk, Gotteswort, Glaube, Demut und christlicher Praxis in der ersten Psalmenvorlesung von der Gesamteinschätzung der Frühtheologie Luthers und ihres Verhältnisse zu seiner reformatorischen Theologie abhängt. Bizer ist darin recht zu geben, daß Luther fides und humilitas als eng zusammengehörende Haltungen und Handlungen des Menschen sieht. Gericht und Demütigung sind zwar Gottes Handeln, aber zugleich als Selbstgericht und Demut Aktivität des Menschen, die in diesem Widerfahrnis des göttlichen Handelns gründet. Luther kann sogar an einigen wenigen Stellen scholastische Formulierungen verwenden, die die menschliche Beteiligung nicht nur als bedingt, sondern auch bedingend denken.38 Die Kritik aber, Luthers früher Glaubenssubiectione resignationeque proprie¸ voluntatis et consilii, quod vulgo dicitur hertzbrechenn« (WA 55II,828,33–829,43). 37 Gegenüber der den reformatorischen Charakter von Luthers Frühtheologie behauptenden älteren Forschungsrichtung (E. Vogelsang, H. Bornkamm, R. Prenter) stellt die durch A. Gyllenkrok (Rechtfertigung und Heiligung in der frühen evangelischen Theologie Luthers, 1952) und E. Bizer (Fides ex auditu. Eine Untersuchung über die Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes durch Martin Luther, 31966, 15–22) angestoßene neuere Forschung die Eigenständigkeit von Luthers Frühtheologie ins Licht. Dabei zeigt sich ein komplexes Ineinander von Kontinuität und Diskontinuität zum spätmittelalterlichen Hintergrund wie zu den unmittelbar folgenden Paulusvorlesungen und zur entfalteten reformatorischen Theologie um 1520. Daß Luthers Frühtheologie trotz der Vorordnung des opus Dei und trotz der Betonung der Externität der Gnade Elemente einer kooperativ-synergistischen Bestimmung des Verhältnisses von Gott und Mensch enthält, ist mittlerweile unumstritten. Allerdings wird das Ausmaß und die Bedeutung dieser mittelalterlichen Reste weiter diskutiert. Als eine der frühesten Bizers Absetzung der frühen humilitas-Theologie von der reformatorischen Theologie bestätigenden Arbeiten ist hier M. Seils: Der Gedanke vom Zusammenwirken Gottes und des Menschen in Luthers Theologie, 32–61, zu nennen. 38 So greift er auf die franziskanische Schultheologie und ihre Lehre von der Vorbereitung auf die Gnade zurück (WA 55II,876,92–877,105; 924,985–925,990) und bewahrt Reste der scholastischen Anthropologie (Willensfreiheit [RGl. zu Ps. 118/119,109: WA 55I,792], Schätzung der durch die synderesis natürlicherweise auf das Gute ausgerichteten ratio [WA 55I,86,25 f.; WA 55II,113,1–11; 231,152–162; 514,225 f.; vgl. auch den wohl am 26.12.1514 gehaltenen Sermo in die S. Stephani Anno 1515, WA 1,30–37, in dem Luther die synderesis zwar grundsätzlich für gegeben hält, aber ihre Orientierungsfunktion und soteriologische Relevanz relativiert]). Diese Bezugnahmen sind aber nur ver-

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begriff sei vorreformatorisch, hat nur teilweise Recht. Denn humiliatio und humilitas verhalten sich zueinander nicht nur wie göttliche Aktivität und menschliche Aktivität, sondern auch wie göttliche Aktivität und menschliche Passivität,39 und das Widerfahrnis des opus Dei relativiert alle menschliche Eigenwirksamkeit. Entscheidend bleibt also das Gericht als opus Dei in Christus, das den Glaubenden zunichtemacht und so erneuert. In dieser scheinbaren Vernichtung des Menschen in Gottes Gericht und seinen konkreten Auswirkungen geschieht, verborgen unter dem Gegenteil (absconditus sub contrario), die gnadenhafte Geburt Christi im Christen, das geistliche Neuwerden des inneren Menschen.40 Gottes Zorn ist zwar Strafe, zielt aber auf die Besserung des Menschen und sein Voranschreiten.41 Auch wenn die neue, gottgesetzte Wirklichkeit der christlichen Existenz keine empirische Größe, sondern nur im Gerichtsvollzug als ihrem Gegenteil greifbar ist,42 so wirkt sich die Neukonstitution des christlichen Subjekts durch Gott im Glauben dennoch auch auf den Lebensvollzug des glaubenden Menschen aus. Gottes Werk am Menschen zieht das Werk des Menschen nach sich; und zwar nicht nur in Form der Selbstverneinung, wie die göttliche humiliatio die grundlegende menschliche humilitas nach sich zieht, sondern auch in Form eines durch das göttliche Handeln getragenen aktiven Wirkens des Menschen. In welchem Verhältnis steht nun das opus Dei zu der dadurch begründeten christlichen Praxis? Das ist zwar kein zentrales Thema der Vorlesung, wird aber an einigen Stellen behandelt. Nach allem, was über das Gotteswerk am Menschen gesagt wurde, kann es nicht verwundern, daß Luther die mittelalterlichen Ansichten zum Tätigwerden des Menschen innerhalb des von Gott gesetzten Schöpfungs- und Erlösungsrahmens nur teilweise aufgreift. Allerdings distanziert er sich von ihnen noch nicht explizit und integriert auch traditionelle Momente in seine Konzeption. Typisch für die einzelt und in die theologische Gesamtkonzeption der Dictata eingebunden (s. R. Schwarz: Vorgeschichte der reformatorischen Bußtheologie, 1968, 249–259). 39 Hilfreich ist der Vorschlag von I. Dalferth (Mere Passive. Die Passivität der Gabe bei Luther, in: B. Holm, P. Widmann [Hgg.]: Word – Gift – Being. Justification – Economy – Ontology, 2009, 43–71), mit Blick auf Luthers theologisches Gesamtwerk von »Passivitätsaktivität« zu sprechen. 40 Luther bezeichnet diese Gleichzeitigkeit von äußerem Kreuz und innerem Leben als lebenslang bleibende »mixtura salutaris« (Sch. zu Ps. 74/75,9: WA 55II,495,170–174). 41 So die Glossen zum ersten Bußpsalm: »Tunc Deus Corripit in ira, Quando eius correptio tantum est pe¸na et non emendatio vel profectus« (WA 55I,40,17 f. [Ps. 6,2]). 42 Deshalb fordert Luther immer wieder das unablässige Selbstgericht: »Semper igitur peccatum timendum, semper nos accusandum et Iudicandum in conspectu Dei« (WA 55II,273,151 f.).

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noch nicht umfassend ausgearbeitete, aber unverkennbar vorhandene neuartige Zuordnung von göttlicher Neukonstitution des ethischen Subjekts und dessen christlicher Praxis sind die Glossen zu Ps. 14/15.43 Der sorgfältige traditionsgeschichtliche Vergleich von Luthers Glossen mit der mittelalterlichen Exegese dieses Psalms durch Gerhard Ebeling zeigt, daß Luther in neuer Weise die Gottesbeziehung im Glauben allem menschlichen Handeln vorordnet und die ethische Praxis aus ihrer Einbindung in die Gottesbeziehung entwickelt.44 Hier kündigt sich eine grundsätzliche Neubestimmung des Verhältnisses von Glaube und Liebe,45 von Glaube und guten Werken an. Schon in den Glossen zum vorangehenden Ps. 13/14 steht Luther der Grundgedanke der Auslegung von Ps. 14/15 vor Augen, wenn er die fides Christi als das »fundamentum bonorum faciendorum« bezeichnet, ohne aber genauer zu klären, was mit dem Christusglauben gemeint und wie seine Beziehung zu den bona facienda zu denken ist.46 Daß dies nicht einfach im herkömmlichen Sinn zu verstehen ist, machen die folgenden Glossen zu Ps. 14/15 deutlich. Traditionell wird dieser Psalm als eine dekalogartige Aufzählung von Einzeltugenden gedeutet, wobei die sakramental herbeigeführte Freiheit vom Makel der Todsünde die Bedingung für das Erlangen des Heils im Vollzug der ethischen Praxis ist. Luther modifiziert diese Tradition, indem er Ps. 14,2a (ingredi sine macula) als die Basisforderung des Glaubens und der Gutheit der Person versteht, aus der die Ps. 14,2b–5 aufgeführten zehn Punkte (operari iustitiam etc.) als Folge fließen. Das ingredi sine macula meint, daß »ante omne obsequium necesse est personam prius gratam esse«,47 wobei das ingredi die Verinnerlichungsbewegung »de foris, de sensu, de vanitate in interiora, in spiritum, in veritatem«48 bezeichnet. Gerhard Ebeling umschreibt dieses 43 44

WA 55I,108–112. Scholien sind zu diesem Psalm nicht erhalten.

G. Ebeling: Luthers Auslegung des 14. (15.) Psalms in der ersten Psalmenvorlesung im Vergleich mit der exegetischen Tradition (in: Ders.: Lutherstudien, Bd. 1, 1971, 132– 195). 45 Den sukzessiven Wandel in Luthers Verständnis der theologischen Tugenden und ihres Verhältnisses zueinander hat R. Schwarz: Fides, spes und caritas beim jungen Luther, 1962 (hier vor allem 117–134.154–172), untersucht. 46 WA 55I,100,6 (ZGl. zu Ps. 13/14,1). Die Formulierung läßt sich auch im traditionellen Sinn verstehen: Nämlich vom Christusglauben als grundlegender handlungsorientierender Erkenntnis und Anerkenntnis Gottes, die der gnadenhaften Ergänzung und Überformung durch die Liebe bedürftig ist, wofür der Apparat zur zitierten Stelle zahlreiche traditionsgeschichtliche Belege beibringt. Bemerkenswert ist, daß Luther in der zweiten Psalmenvorlesung bei der Auslegung von Ps. 13/14 im Frühjahr 1520 einen grundlegenden Exkurs zum Verhältnis von Glaube und christlicher Praxis einfügt (s.u. 5.1.). Möglicherweise hat dieser Psalm – zusammen mit dem Folgepsalm – schon 1513 eine besondere Bedeutung für Luther. 47 WA 55I,110,8 f. (RGl.). 48 WA 55I,110,11 (RGl.).

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mit dem Glauben in eins gesetzte ingredi49 treffend als »die den Existenzgrund selbst betreffende Existenzveränderung«.50 Damit ist der Glaube nicht mehr nur der erste Schritt, der zwar allem Folgenden vorgeordnet, aber im Folgenden selbst nur noch als Voraussetzung gegenwärtig ist, sondern er ist als dauerhaft bestimmender Existenzgrund und als grundlegende Erneuerung der Gottesbeziehung im Inneren des Menschen die allem Handeln zeitlich vorangehende und sachlich zugrundeliegende Größe.51 Luther verweist für diese Vorordnung des in der Relation zu Gott extra se und coram Deo empfangenen – nicht in der inneren Zuständlichkeit des Menschen bestehenden – Seins vor das Handeln auf Apg. 15,9 und Gen. 4,4; zwei Bibelstellen, die in seiner werdenden reformatorischen Theologie immer wieder in diesem Zusammenhang genannt werden. Die anhand von Ps. 14/15,2b–5 entwickelte Skizze der christlichen Existenz aus dem Glauben lehnt sich eng an den Psalmtext an und stellt entsprechend der auf den Dekalog bezugnehmenden mittelalterlichen Auslegungstradition – allerdings mit einer veränderten Zuordnung – zehn »puncta« vor: Der Glaube erlangt das Heil und erneuert die Person so, daß sie die äußere Praxis der Gerechtigkeit übt, innerlich wahrhaftig ist, niemanden irreführt, dem Nächsten nichts Böses tut, übler Nachrede nicht zuhört, d.h. auch nicht passiv dem Nächsten schadet, keine Gemeinschaft mit bösen Menschen hat, die guten Menschen schätzt, den Eid nicht bricht, keinen Wucher treibt und keine Bestechung gegen die Unschuldigen annimmt. Die knappen Glossen lassen allerdings nicht genau erkennen, wie das Verhältnis von Christusglaube und ethischer Praxis im einzelnen beschaffen ist. Doch es läßt sich wenigstens sagen, daß Luther das im Christusglauben coram Deo empfangene Sein dem Handeln prinzipiell vorordnet. Damit löst er sich implizit von der mittelalterlichen Bestimmung des Gefüges von Sein und Handeln als eines wechselseitigen Bedingungsverhältnisses. Die Glossen zu Ps. 14/15 sind der erste Beleg für das im Laufe der Vorlesung immer wieder in unterschiedlicher Weise thematisierte Verhältnis von Glaube und christlicher Praxis. Ein Beispiel für die ausführlichere Entfaltung dieses Grundgedankens der engen Verbindung von Christusglaube und entsprechenden Werken im Horizont der Gerichts- und Bußtheologie der ersten Psalmenvorlesung bietet Luthers Auslegung von Ps. 83/84. Luther entwickelt hier in freier Aufnahme einiger Motive Gerhard Zerbolts52 den Zusammenhang von Christusglaube und daraus hervorge49 50

WA 55I,108,8–11 (RGl.).

Lutherstudien 1,148. Obwohl dies Luthers späterer Theologie zu entsprechen scheint, muß die Eigentümlichkeit von Luthers Glaubensbegriff in der ersten Psalmenvorlesung beachtet werden, der nicht ohne Weiteres mit dem späteren Glaubensbegriff gleichzusetzen ist. 52 WA 55II,638,242–244. 51

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hender christlicher Existenz. Die beiden wichtigsten Aussagenzusammenhänge finden sich dabei zu Ps. 83/84,4, wo Luther das Beziehungsgefüge von biblischem Wort, Glaube und Bußwerken vor Augen stellt, und zu Ps. 83/84,6f., wo Luther den Glauben und seine grundlegende Funktion für die guten Werke bedenkt. Die Glossen zu Ps. 83/84,453 gehen vom biblischen Vergleich des Tempels mit dem Vogel aus, der ein Nest findet, um seine Jungen aufzuziehen. Luther sieht hierin die Grundstruktur christlicher Existenz abgebildet: Der Lebensort der Gläubigen sind die »Scripture¸ Sancte¸, in quibus morantur per tempus huius vite¸«, und diese »Scripture¸ Sunt Altaria Christi, super que offerre et tradere nos in obedientiam eius debemus, Vt mactemur et offeramur Domino«. Die biblischen Schriften lehren die crucifixio carnis; und das Leben des Christen ist durch Glaube und Geist geleitete Buße, die »opera vite¸ et penitentie« als ihre Folge hat. Die Scholien variieren diesen Zusammenhang von Gotteswort, Glaube und christlicher Praxis, indem sie den frömmigkeitspraktischen Vollzug behandeln. Die Gottesbeziehung des Glaubenden, der bei Gott seinen Lebensort findet, ist durch die Gleichzeitigkeit von Gotteslob und Selbstgericht geprägt. Diese entspricht der Gleichzeitigkeit der beim Menschen vorfindlichen Sündenwirklichkeit und der in Gott verborgenen Heilswirklichkeit.54 Konkret bedeutet das die Orientierung am Kreuz Christi.55 Der Glaube eignet sich meditativ56 das exemplum Christi und der Heiligen an und orientiert seine Praxis an diesem als einem »memoriale« und »propositum«. Auf diese Weise macht der Glaubende sich die vorbildhafte Demut und Nichtigkeit Christi und der Apostel zu eigen und wird mit seinem eigenen Lebensvollzug in deren Nachahmung (imitatio) hineingezogen. Die tägliche Kreuzesexistenz vollzieht sich in Leiden, Demut und Zurückweisung durch die Welt, womit der Christ seinen Leib als lebendiges Opfer darbringt. Die Scholien zu Ps. 83/84,6f.57 vertiefen die Aspekte der Gottesbeziehung und der Innendimension christlicher Existenz. Luther entwickelt seine Überlegungen aus dem in den Psalmversen vor Augen gestellten Bild des Aufstiegs aus dem Tränental. Daß dieser Aufstieg dem Psalmtext zufolge mit dem Herzen zu tun hat, wird für Luther zum Ansatzpunkt der Gegenüberstellung der Existenz in Glaube und Geist und der Existenz 53

WA 55I,584 f. (RGl., ZGl.). WA 55II,632,90–95. 55 WA 55II,632–635. 54

56

Luther denkt wohl an die monastische Bußmeditation, die sich mit den in den Glossen genannten »Scripture¸ Sancte¸« beschäftigt und sich vor allem in die Passion Christi als zentrales Heilsgeschehen und Idealtypus christlicher Existenz vertieft. 57 WA 55II,639–642.

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unter dem Gesetz und Buchstaben. Beides sind nicht Aspekte ein- und derselben christlichen Existenz, sondern Gegensätze. Während der Glaubende – und zwar »non ex se [...], Sed ex auxilio Dei«,58 und das heißt durch Christus als auxilium und virtus, die dem Menschen »per fidem eius in illum« zuteil wird59 – innerlich-geistlich mit Affekt und Wille in Freiheit und Freude Gott dient, haben die unter dem Gesetz und Buchstaben Lebenden Geist und Gnade nicht; sie handeln gezwungen und ungern und erreichen allenfalls eine äußerlich-menschliche Gerechtigkeit. Die Hilfe und Kraft, die Christus ist und die dem Christen in der fides Christi zueigen wird, wird so zur Quelle »omnium virtutum reliquarum sequentium«.60 Und Luther unterstreicht die ethische Funktion des Glaubens nachdrücklich: »fides, que ex gratia Dei donatur impiis, qua et Iustificantur, Est substantia, fundamentum, fons, origo, principium, primogenitum omnium spiritualium gratiarum, donorum, virtutum, meritorum, operum«.61

Die im Glauben gründende christliche Praxis wird aber nun nicht als Praxis guter Werke in der Welt konkretisiert, sondern geradezu als deren Gegenteil, nämlich als Erleiden und Überwinden der Welt. Denn die Glaubenden, die bei Christus Hilfe suchen und von ihm mit der inneren Willigkeit der Gesetzeserfüllung beschenkt werden, sind die »Gallilei, peregrini, hospites mundi et viatores, Quibus mundus non est habitatio, Sed desertum, E¸gyptus, captiuitas, iter, via, transitus, hospicium. [...] illis, qui ce¸lestia sapiunt, fastidio sunt omnia et vident hanc vitam esse vitam miserie. [...] Qui ergo sic transeunt et semper sunt in phase Domini et in valle fletus sunt; ipsi ponunt sibi virtutem Christi pro fonte omnis boni«.

Darum gilt Luther die Kirche auch als Tränental, weil in ihr »torcular et crux et luctus pe¸nitentie¸« ihren Ort haben.62 Der enge Zusammenhang von Glauben und guten Werken zielt hier nicht auf die ethische Praxis in der Welt, sondern auf die Weltverachtung. Denn »ii, qui vitam mundi contemnunt, fidem exercent Et sicut fontem scaturire faciunt fructu bonorum operum«.63 Angesichts der monastisch-weltflüchtigen Konkretion des Zusammenhangs von Glaube und Werken kann es nicht wundern, daß Luther die im Psalmvers genannten ascensiones mit dem mittelalterlichen Himmelsleiter-Motiv verbindet. Das wird zwar gnadentheologisch akzen58

55II,639,267. 55II,638,250; 638,252. 55II,639,272. 55II,639,272–275. Kurz darauf heißt es: »Fides enim prerequiritur ante omnia; qua habita ce¸tera omnia ex illa scaturiunt sicut ex petra et silice aque¸« (WA 55II,638,278 f.). 62 WA 55II,640,287–290. 63 WA 55II,640,301 f. WA WA 60 WA 61 WA 59

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tuiert,64 steht aber doch im Dienst der der ersten Psalmenvorlesung innewohnenden Tendenz zur Weltdistanzierung: »Et qui disponit suas semitas et ascensiones ad Deum, quomodo potest non transire mundum et eum pro exilio habere?«65

Doch bleibt das letzte Wort zu Ps. 83/84,6f. die abermalige Betonung der fides Christi als des »›Locus‹ anime«,66 der der feste Punkt ist, von dem der innere Aufstieg zu Gott und die christliche Existenz ausgehen. Und dieser als Fundament christlicher Existenz notwendige Glaube richtet sich auf das beständige »verbum Christi«.67 So wie das Wort zum Glauben und zur Buße führt, so ist die Buße stets bezogen auf den Glauben und das Wort. Eine ähnliche Verbindung traditioneller und neuartiger Momente zeigen auch andere theologische Zuordnungsschemata von göttlichem und menschlichem Handeln, die vor dem Hintergrund des in den Glossen zu Ps. 14/15 wohl bereits im Herbst 1513 vorhandenen Neuansatzes in ihrem innovatorischen Potential gewürdigt werden müssen.68 Dazu zählen die biblischen Verhältnisbestimmungen, die die relative Unselbständigkeit des menschlichen Handelns thematisieren. So greift Luther etwa auf Phil. 2,13 (»Deus est enim qui operatur in vobis et velle et perficere pro bona voluntate«) zurück, um zu zeigen, daß die guten Werke der Glaubenden strenggenommen »opera Dei« sind und sich die Menschen damit als »cooperatores Dei« erweisen.69 Oder er verwendet die biblische Redeweise von den Früchten (fructus),70 und zwar unter Heranziehung des synoptischen Baum-Frucht-Worts (Mt. 7,16–18 par.)71 oder der paulinische Reihe der fructus spiritus in Gal. 5,22.72 Stärker systematisierenden Charakter haben andere Zuordnungsschemata, wie sie etwa in Luthers Auslegung 64

55II,641,317–321. 55II,641,327–329. 55II,641,335–642,357. 55II,642,356. 68 Im Folgenden werden nur einige Beispiele aus der Fülle des vorhandenen Materials vorgestellt. Man könnte sachlich vergleichbare Zuordnungen auch anhand von Luthers Aussagen über die cooperatio von Gott und Mensch, über die conformitas des Menschen mit dem Gotteswillen oder über die imitatio Christi belegen. Einzelne dieser Verhältnisbestimmungen werden in der Literatur behandelt (G. Metzger: Gelebter Glaube, 1964, 137–199; M. Seils: Der Gedanke vom Zusammenwirken Gottes und des Menschen in Luthers Theologie, 1962, 32–61). 69 WA 55I,625 (RGl. zu Ps. 89/90,16); WA 55II,697,312–314. 70 An vielen Stellen läßt Luthers an die Bibel angelehnte Rede von den Früchten allerdings keinen besonderen biblischen Bezugstext erkennen. 71 WA 55II,94,15–95,1; 721,112–114 (dazu gehören auch die weiteren Ausführungen über die Konkretionen der christlichen Praxis in 721,121–126). Die Heranziehung des Baum-Frucht-Worts in der Druckbearbeitung zu Ps. 1 von 1516 (WA 55II,22,6–23,13) entspricht inhaltlich dem Aussageinteresse der ersten Psalmenvorlesung. 72 WA 55I,324 f. (RGl. zu Ps. 36/37,27); WA 55II,155,19 f.; 188,91–95. WA WA 66 WA 67 WA 65

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von Ps. 84/85 belegt sind, wo die Vorordnung des göttlichen vor das menschliche Handeln in Zusammenhang von V. 7 und V. 14 in unterschiedlicher Weise entwickelt wird. Das Thema von Ps. 84/85,7 ist die conversio Gottes zum Menschen, die sich zweistufig in der Inkarnation Christi und der Sendung des Geistes als geistlicher Verbindung in Glaube und Liebe vollzieht, dem Menschen Gottes Gnade zueignet, ihn gerecht macht, innerlich erneuert und auf die der Mensch mit seiner conversio zu Gott antwortet.73 Die Scholien und Glossen zu Ps. 84/85 betonen dementsprechend immer wieder, daß die Rechtfertigung des Menschen in keiner Weise durch Verdienste bedingt ist, sondern sich allein dem göttlichen Wirken verdankt. Diese mit Blick auf den Wortlaut des Psalmtexts am conversio-Begriff entwickelte Zuordnung von Gott und Mensch wird in der Auslegung von Ps. 84/85,14 theologisch präzisiert, indem Luther die Aussage des Psalmbeters: »Iustitia ante eum ambulabit, et ponet in Via gressus suos«, mit Hilfe der aristotelischen Bestimmung des Verhältnisses von Gerechtsein und Gerechthandeln deutet. Luther weist die Auffassung ab, das Gerechthandeln bewirke das Gerechtsein.74 Er hält entsprechend seiner Sündenauffassung fest, daß alle Menschen ungerecht sind und darum auch nur ungerecht handeln.75 Christus aber, der allein gerecht ist und darum gerecht handelt, macht die Seinen, die ganz und gar durch die Ungerechtigkeit gezeichnet sind, im Sein wie im Handeln gerecht.76 Allerdings gesteht Luther der aristotelischen Vorordnung des Gerechthandelns vor das Gerechtsein ein gewisses Recht zu, nämlich hinsichtlich der iustitia humana; hinsichtlich der iustitia Dei aber gilt, daß der Mensch sich nur als Sünder vorfindet, das Böse tut und der Gerechtigkeit Christi bedarf, um verdienstliche Werke zu tun.77 Und diese Gerechtigkeit Christi wird nur durch den menschgewordenen Christus zugeeignet, der in seiner Person Gerechtigkeit, Friede, Barmherzigkeit und Heil wirkt. Und dieses Christuswirken wird dem Menschen durch die »fides Christi« zuteil.78 73 WA 55II,651 (s.a. WA 55II,649,136–650,170). Zur conversio als wichtigem Thema von Luthers Frühtheologie: M. Harran: Luther on Conversion. The Early Years, 1983 (hier zur ersten Psalmenvorlesung 54–85, wo auch auf die Ambivalenz von Luthers früher Rechtfertigungslehre und auf den von der Demut bestimmten Vollzug christlicher Existenz hingewiesen wird). 74 WA 55I,591 (RGl. zu Ps. 84/85,14). Hier begegnet das erstemal der in Folgezeit immer wieder gegen Aristoteles und die Scholastik gewendete Aristotelessatz »Operando Iusta Iusti efficiuntur« (EN II,1 [1103a]; G. Ebeling: Luthers Auslegung des 14. (15.) Psalms [Lutherstudien, Bd. 1, 1971, 15272]; zur Problematik dieser Aristoteleskritik: Th. Dieter: Der junge Luther und Aristoteles, 2001, Kap. 2). Weitere Stellen in den Dictata finden sich in den Scholien zu Ps. 84/85,14 und Ps. 95/96,6. Vorstufen finden sich in den Glossen zu Ps. 14/15, im Scholion zu Ps. 27/28,4 und im Scholion zu Ps. 57/58,4. 75 WA 55II,664,604–610. 76 WA 55II,664,612–617. 77 WA 55II,665,643–666,652.

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In ähnlicher Weise greift Luthers Unterscheidung von Gottes opus actum und factum traditionelle Gedanken auf und gestaltet sie um.79 Gottes Werke sind zum einen seine Werke als causa prima, nämlich die »opera creationis, Iustificationis, redemptionis, scil. quando facit creaturas, sanctos et beatos«. Zum anderen sind sie die Werke, die durch den Menschen als causa secunda und Werkzeug des göttlichen Willens gewirkt werden und die Luther auch als Mitwirken des Menschen (cooperari) bezeichnen kann.80 Schöpfung und Erlösung sind Gottes durch das Wort gewirkte opera acta, die das Bedingungsgefüge für die mittelbar von Gott gewirkten opera facta, nämlich das geschöpfliche Handeln, schaffen, und dieses in Dienst nehmen. Damit sind alle menschlichen Werke in die umfassenden opera Dei hineingenommen. Luther geht es dabei nicht um die Ausgrenzung eines Raums der Freiheit und relativen Selbständigkeit menschlichen Handelns – so ließe die Unterscheidung von opus actum und factum auch akzentuieren –, sondern um die Relativierung der Eigenständigkeit und Freiheit menschlichen Handelns und die Abgrenzung der christlichen Praxis von den für die Eigengerechtigkeit verzwecklichten Menschenwerken. Die von Gott geforderte Gerechtigkeit besteht im Glauben und Gehorsam.81 Sachlich vergleichbar mit der Unterscheidung von Gottes opus actum und factum sind andere Passagen der ersten Psalmenvorlesung, die allgemeiner und ohne Verwendung dieser speziellen Terminologie von den Werken (opera) und dem Wirken (operari) Gottes sprechen, in die die menschlichen Werke eingeordnet sind.82 Dabei spielt der Glaube eine wichtige Rolle, was immer wieder zu der sich terminologisch verfestigen78 79

WA 55II,666,658–662.

Sch. zu Ps. 27/28,4 f. (WA 55II,155–159); Sch. zu Ps. 63/64,10 (WA 55II,342 f.; hier faßt Luther die dem vierfachen Schriftsinn entsprechende Entfaltung des opus Dei knapp zusammen: »Hec omnia Christus simul« [WA 55II,343,147–155]); Sch. zu Ps. 103/104,23 (WA 55II,823 f.); RGl. zu Ps. 142/143,5 (WA 55I,881 f.). In der Forschung wurde E. Vogelsangs Hinweis auf den für die erste Psalmenvorlesung zentralen Aussagenzusammenhang des opus Dei mehrfach weiter ausgeführt: W. Maurer: Schöpfungswerk und Erlösungswerk in besonderer Beziehung zur Auslegung des Magnifikat (in: Ders.: Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1949, 81–166, hier: 130–158); M. Seils: Der Gedanke vom Zusammenwirken Gottes und des Menschen in Luthers Theologie, 1962, 41–46. 80 WA 55II,155–159 (Sch. zu Ps. 27/28,4 f.). 81 Gott verlangt »solum obedientiam et fidem« (WA 55II,156,26); die geforderte Gerechtigkeit ist also »pure fidei« (WA 55II,157,2). Das verdeutlicht Luther zusätzlich durch eine tropologische Auslegung der Inkarnation Christi auf die Gestaltwerdung des Gehorsams im menschlichen Werk, die er mit der Aussage abschließt: »Sic ergo omnia ex fide esse oportet et obedientia fidei« (WA 55II,158,7–11). Es geht um die »[opera] fidelia seu spiritualia per fidem« (WA 55II,158,16 f.). 82 Besonders gewichtig sind hier die Vorarbeiten und die Scholien zu Ps. 76/77,12 (WA 55II,506–515.522 f.) sowie die Scholien zu Ps. 110/111,3 (WA 55II,855–857).

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den Rede von den »opera fidei« führt.83 Der Christusglaube ist das Werk, das Gott fordert und das so zwischen Gotteswerk und Menschenwerk vermittelt, daß im Handeln des Christen die Werke Gottes geschehen.84 Diesen engen Zusammenhang von Glaube und christlicher Praxis kann Luther zu knappen Formulierungen wie »per fidem viuimus et operamur« verdichten.85 Diese im Glauben gründende christliche Praxis realisiert sich aber nun nicht primär im Welt-, sondern im Gottesverhältnis;86 das heißt, sie realisiert sich in der Abwendung von der Welt zur göttlichen Sphäre. Wie schon die frühesten Predigten zeigten, setzt die existentielle Vertiefung der Gottesbeziehung im Glauben nicht die religiöse Weltverantwortung frei, sondern bleibt gerade im Bannkreis monastisch-mittelalterlichen Jenseitsstrebens befangen. Doch diese in der lebensweltlichen Einbindung von Luthers Frühtheologie und in der Eigenart seines frühen Glaubensbegriffs wurzelnde Näherbestimmung christlichen Lebens ist angesichts der neuen und in ihrem theologischen Potential nicht annähernd erschlossenen Momente nicht entscheidend. Wichtiger ist, daß Luther sich bemüht, göttliche und menschliche Aktivität in einen engen Zusammenhang zu bringen und dabei beide Größen so zu unterscheiden und einander zuzuordnen, daß das menschliche Sein und Handeln auf das opus Dei bezogen sind. 83

Ps. 16/17,4 (WA 55I,124,5 f.); Ps. 27/28,4 f. (WA 55II,155,18–21; 158,7–11; 158,16 f.); Ps. 32/33,4 (WA 55II,188,91–95); Ps. 57/58,3 (WA 55II,297,22–39); Ps. 76/77,12 (WA 55II,509,78–81; 509,89 f.; 509,92–94; 510,105–108; 523,469–477); Ps. 76/77,15 (WA 55II,525,536); Ps. 89/90,16 (WA 55I,625 [RGl.]); Ps. 83/84,6 f. (WA 55II,640,301 f.); Ps. 91/92,13 (WA 55II,721,112–114); Ps. 110/111,3 (WA 55II,855,111–114); Ps. 110/111,6 (WA 55I,741 f. [RGl.]). Man kann sich fragen, warum Luther das menschliche Beteiligtsein am opus Dei nur selten – und zudem im Zusammenhang der Unterscheidung von opus actum und factum sowie der opera fidei – mit dem scheinbar naheliegenden Begriff der »cooperatio« benennt (WA 55II,159,3–9; 697,312–314). Die starke Betonung des göttlichen Handelns in der ersten Psalmenvorlesung läßt ihn wohl diese in der mittelalterlichen Schulsprache angelegte Möglichkeit zu einer programmatischen Verwendung des cooperatio-Begriffs nicht verwirklichen. Statt vom »Zusammenwirken« spricht er lieber vom Mitwirken – nämlich wenn er göttliches und menschliches operari und opus durch ein »cum« verbindet –, das aber terminologisch nicht einheitlich. Überhaupt ist mit Blick auf Luthers Theologie insgesamt zu fragen, ob Luther nicht bewußt auf eine terminologische Verfestigung des von Martin Seils inhaltlich zutreffend aufgewiesenen Gedankens des »Zusammenwirkens« von Gott und Mensch verzichtet. 84 Luther verweist mehrfach bei der Behandlung des opus Dei, neben dem es kein eigenständiges menschliches Handeln, sondern nur die Glaubenswerke gibt, auf Joh. 6,28 f. (»Quid faciemus ut operemur opera Dei? Respondit Iesus et dixit eis: hoc est opus Dei ut credatis in eum quem misit ille«): WA 55I,625 (RGl. zu Ps. 89/90,16); WA 55II,155,20 f.; 525,538; 855,111–114. Noch aber hat diese biblische Belegstelle keine programmatische Bedeutung. 85 WA 55II,188,92 f. 86 So sind für die Scholien zu Ps. 110/111,3 die durch den Glauben auf die opera Dei bezogenen opera moralia der nova creatura Selbstnegation (confessio) und Gotteslob (magnificentia): WA 55II,855–857.

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Hinsichtlich der Konkretionen der ethischen Praxis bietet die erste Psalmenvorlesung zerstreute, uneinheitliche Aussagen. Während die ersten beiden behandelten Aussagenkomplexe sich deutlich vom vorgegebenen spätmittelalterlichen Hintergrund Luthers unterscheiden, ist das beim dritten kaum der Fall. Anklänge an die grundsätzliche neue Konzeption christlichen Lebens, wie sie die Programmschriften des Jahres 1520 einschließlich der ethischen Konkretionen entfalten werden, sind zwar vorhanden – etwa das Interesse für Joh. 6,28f. und den Glauben als das eigentliche Werk des Christen87 oder die Bekehrung zur Welt –, stehen aber unausgeglichen neben zahlreichen traditionellen Motiven. Diese lassen sich zwei Bereichen zuordnen: Zum einen greift Luther auf zahlreiche monastische Motive zurück,88 zum anderen ist die Einbindung der christlichen Existenz in die Theorie und Praxis der mittelalterlichen Kirche vorausgesetzt.89 Allerdings stellt Luther eine christliche Existenz innerhalb der bestehenden Strukturen vor Augen, die bestimmte Aspekte spätmittelalterlicher Kirchen- und Klosterfrömmigkeit besonders betont. So sind die Dictata super Psalterium von einer durchgängigen Verinnerlichung und Zuspitzung auf die Gerichts- und Demutsthematik geprägt. Auffällig ist das Desinteresse am kirchlichen Bußsakrament, das hinter den existentiellen Vollzug des Selbstgerichts zurücktritt.90 Allerdings bricht diese Ver87 88

WA 55II,525,536–538; WA 55I,625 (RGl. zu Ps. 89/90,16); WA 55II,855,111–114.

Das reiche Material wurde von B. Lohse (Mönchtum und Reformation. Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchsideal des Mittelalters, 1963, 227–278) aufgearbeitet. Lohse zeigt sowohl die Fortgeltung des monastischen Lebensideals als auch dessen innere Umformung auf. 89 Die Ekklesiologie der ersten Psalmenvorlesung wurde in mehreren Forschungsarbeiten untersucht, die alle das Ineinander von Kontinuität und Diskontinuität thematisieren und trotz unterschiedlicher Akzentuierungen die kirchentreuen und vielfach traditionellen Anschauungen Luthers herausstellen. Zu nennen sind hier vor allem: J. Vercruysse: Fidelis Populus, 1968; S. Hendrix: Ecclesia in Via. Ecclesiological Developments in the Medieval Psalm Exegesis and the Dictata super Psalterium (1513–1515) of Martin Luther, 1974. 90 Interessant ist etwa die Auslegung von Ps. 76/77, der von Luther als eine descriptio meditantis hominis in compunctione verstanden wird, die die »gestus ac studia eorum, qui compuncti sunt« zeigt (WA 55II,516,270 f.). Dementsprechend ist Luthers Auslegung eine Beschreibung des Vorgangs der compunctio und damit der Bußmeditation. Dieses in der Erbauungsliteratur des späten Mittelalters allgegenwärtige Thema (s. R. Schwarz: Vorgeschichte der reformatorischen Bußtheologie, 1968, Kap. 1–8) wird von Luther aber nun über den für die Theologie der ersten Psalmenvorlesung grundlegenden Gedanken des »opus Dei« erschlossen (s. die Vorarbeiten zu Ps. 76/77,12 [WA 55II,506–515]). Dadurch wird die Buße zum Teil des von Gott gewirkten Gerichts- und Rechtfertigungsgeschehens, in das der Mensch durch den Glauben und die Glaubenswerke hineingenommen ist. Dabei erwähnt Luther zwar den Zusammenhang von Buße und Tugendpraxis, weist aber das wechselseitige Bedingungsverhältnis von göttlichem und menschlichen Handeln zugunsten der Alleinwirksamkeit Gottes ab, wenn er sagt: »Opus Dei et virtus eius Est Fides; ipsa enim facit Iustos et operatur omnes virtutes, castigat et cru-

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3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

tiefung der Bußtheologie nicht mit den entsprechenden kirchlichen Vollzügen, sondern versteht sich als deren Ergänzung und Verdichtung. Was diese Vertiefung der Bußtheologie bedeutet, zeigt sich vor allem an Luthers Verhältnis zum Mönchtum. Es geht ihm nicht um neue Strukturen und Institutionen, sondern um eine innere Erneuerung des Ideals christlicher Existenz. Und diese dem christologisch-tropologisch gelesenen Psalter entsprechende existentielle Vertiefung des Glaubens stellt nicht die religiöse Welt des späten Mittelalters, sondern das Leben des alten, fleischlichen Menschen in Frage. Daß dieses Interesse an grundsätzlichen theologischen Fragen, die ohne einschneidende Konsequenzen für die kirchliche Welt zu sein scheinen, später gerade zum Hebel für deren grundsätzliche Infragestellung werden würde, war für Luther nicht absehbar. Stattdessen bemühte er sich mit aller Kraft, seinem Orden, und damit der Kirche, zu dienen. Der neu ernannte Professor machte nun auch Karriere in Konvent und Reformkongregation. Nichts deutet darauf hin, daß er jenseits seiner theologischen Arbeit grundsätzlich neue Wege ging, geschweige denn gehen wollte. Die über diese lebensweltlichen Kontexte hinausstrebende Bußtheologie der ersten Psalmenvorlesung ist also eingebunden in den um Bußsakrament und satisfaktorisch-meritorische Werke zentrierten Alltag. Und diese Einbindung hinterläßt ihre Spuren, etwa in Luthers durchgängiger Integration der monastischen Lebensform in die Theologie der ersten Psalmenvorlesung. Die von ihm geforderte konsequente Verinnerlichung des Gerichts und die dem korrespondierenden Hinweise auf dessen Außendimension sind letztlich nicht für alle Christen gedacht, sondern nur für eine elitäre Gruppe. Zwar relativiert Luther die Bedeutung des Mönchtums, indem er die Instutition des Mönchtums – und hier vor allem die sich als Elite des Mönchsstands verstehende Observanzbewegung – nicht einfach mit der wahrhaft christlichen Existenz ineinssetzt. Aber er sieht sehr wohl den in den Mönchsgelübden geforderten christlichen Lebensvollzug als Inbegriff des Christseins. Das hebt die Institution des im Sinne der Theologie der ersten Psalmenvorlesung recht verstandenen Mönchtums zwar nicht als solche, aber als praktische Ermöglichung des in den Gelübden Geforderten besonders heraus. So erscheinen bei Luther die drei Gelübde von Armut, Keuschheit und Gehorsam,91 das monastische Ideal der Verbindung von Demut und Liebe, cifigit et infirmat carnem, Vt ipsa non habeat opus suum nec virtutem, Sed vt opus Dei sit in illa. Et sic saluat et roborat spiritum« (WA 55II,509,78–81). 91 Armut, Keuschheit und Gehorsam – letzterer von Luther in Anknüpfung an 1. Joh. 2,16 als Demut gedeutet – sind nach den Scholien zu Ps. 101/102,7 f. (WA 55II,790,344– 791,363) die drei Beziehungsdimensionen aller christlichen Existenz (Gottes-, Welt- und Selbstverhältnis) in ihrer dreifachen Stufung (incipientes, proficientes, perfecti), und zwar positiv (hinsichtlich der virtutes) wie negativ (hinsichtlich der vitia).

3.1. Dictata super Psalterium

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die Differenzierung von vita activa und vita contemplativa92 und die asketische Selbstdisziplinierung93 als das, was nicht nur das monastische, sondern gerade auch das christliche Leben ausmacht. Luther behält auch die Unterscheidung von Geboten und Räten grundsätzlich bei und auch der Vollkommenheitsgedanke findet sich. Alle diese Elemente sind jedoch mehr oder weniger modifiziert, indem Luther sie mit seiner Gerichts- und Demutstheologie in Verbindung bringt. Das heißt vor allem, daß christliches Leben, das im Rahmen des Mönchtums besser gelebt werden kann, kein kontinuierliches, stufenweises Streben nach Vollkommenheit, sondern ein immer im Beginnen begriffener Prozeß ist: An die Stelle des in den frühesten Predigten greifbaren perfectio-Ideals tritt der profectusGedanke.94 Und zwar ein profectus-Gedanke, der einem anderen, einem kreuzestheologischen Zeitdenken entspringt: Christliches Leben ist nicht mehr der lineare Fortschritt auf ein jenseitiges Ideal hin, sondern das immer neue punktuelle Widerfahrnis des Kreuzes im Hier und Jetzt; Sünde und Rechtfertigung sind nicht Durchgangsstationen eines diesseitig-jenseitigen Stufenwegs, sondern das, was dem Christen immer neu gegenwärtige Wirklichkeit im sich kontinuierlich vollziehenden Sterben des al92 WA 55II,152,19–23; 279,19–280,26; 376,590–377,2; 721,121–126; 819,580–582. Zu den ordines in ecclesia: J. Vercruysse: Fidelis Populus, 1968, 165–186. 93 Disziplinierung des Fleischs, castigatio und continentia sind ein häufig angesprochenes Thema (WA 55II,845 f.; B. Lohse: Mönchtum und Reformation, 1963, 235–238). Für Luther ist der Glaube nicht nur die Basis ethischer Praxis, sondern auch der Selbstdisziplinierung (WA 55II,357,74 f.; 509,78–81). 94 Diese Verlagerung von der Ziel- auf die Vollzugsperperspektive christlicher Existenz bleibt formal im Rahmen der dreifachen Stufung von incipientes, proficientes und perfecti, die immer wieder herangezogen wird (WA 55I,124,10–13; 809,1–7; WA 55II,777,390–416; 791,359–363; 934,1240–1248 u.ö.). Allerdings bricht Luthers Verständnis des profectus als eines immer neuen Anfangens (WA 55I,124,10–13.22 f.; WA 55II,777,390–416; 905,414–432; 934,1240–1248) mit der inneren Logik der traditionellen Stufung. Dabei verwendet Luther nicht immer den profectus-Begriff; er kann etwa auch von der steten Bewegung des Gerechtfertigtwerdens – »semper sumus in motus, semper Iustificandi« – sprechen (WA 55II,973,2344–2360). Luthers Vorstellungen von profectus und perfectio in der ersten Psalmenvorlesung wurden in der Forschung mehrfach behandelt: G. Metzger: Gelebter Glaube, 1964, 187–195; B. Lohse: Mönchtum und Reformation, 1963, 258–265. – Daß das mittelalterliche Vollkommenheitsideal nachwirkt, zeigt die Auslegung von Ps. 59/60,9 (WA 55I,444 [RGl.]), die eine Stufenfolge von Glaube (»Initium vite¸ Christiane¸ Est nosse et amare ea, que sunt fidei, i.e. ›Galaad et Manasse‹«), meritorischer Tugendbetätigung in stetem Voranschreiten (»Secundo proficere, hoc autem est virtutis et fortitudinis; ideo ›Ephraim‹ est fortitudo capitis, i.e. inceptionis seu principii vite¸ talis, quia nisi quis continue proficiat et corpus meritorum faciat, cito inceptio et caput deficiet. Et hec tropologia«) und Vollkommenheit im gnadenhaften Sieg über die Sünde (»Quarto sequitur ›Iuda rex‹, iste est perfectus status, Vbi iam regnat gratia victo peccato, quod prius regnabat«) vor Augen stellt. Allerdings mit der Einbindung in Luthers Demuts- und Gerichtstheologie durch die Schlußaussage »Et est mera confessio«.

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ten und Auferstehen des neuen Menschen ist. Der Christ findet sich stets in einem Zwischenzustand vor, in einer »mixtio«; die ihn lebenslang begleitende Spannung zwischen altem und neuem Sein wird sich erst in der Zukunft lösen: »semper medii sumus inter bonitatem, quam ex Deo habemus, et malitiam, quam ex nobis habemus, donec in futuro absorbeantur omnia mala et sit solus Deus in omnibus, Vt iam nec nos nostri simus, Sed Dei et Deus noster«.95

In der Zwischenzeit gilt es, immer neu die strengen Vorgaben der göttlichen Gerechtigkeit zu praktizieren. Der profectus-Gedanke stellt zwar die Möglichkeit menschlicher Eigengerechtigkeit, nicht aber die menschliche Verpflichtung und Fähigkeit zum Tun des Guten in Frage.96 Luther kommt darum mehrfach bei der Näherbestimmung des im Psalter geforderten facere bonum darauf zu sprechen, daß Gott nicht nur die Unterlassung des Bösen, sondern das tatsächliche Tun des Guten, und zwar gegenüber allen Menschen und ohne Einschränkung (rotunde) fordert.97 Auch die für die mittelalterliche Theologie und katechetische Unterweisung typischen Schemata zur Beschreibung der christlichen Praxis finden sich in der ersten Psalmenvorlesung, aber sie spielen keine zentrale Rolle. Und das ist nicht bloß ein Zufall, sondern liegt im sich abzeichnenden grundsätzlichen Wandel von Luthers theologischem Denken begrün95 96

WA 55II,934,1249–1255.

Hier zeigt sich immer wieder eine von Luther ansatzweise – etwa durch die Unterscheidung von Gottes opus actum und factum – reflektierte Unterscheidung der soteriologischen und der ethischen Dimension menschlichen Handelns. Allerdings ist Luther hinsichtlich der Heilsrelevanz menschlichen Handelns noch nicht so weit, daß er diese im Ganzen bestreitet. Das zeigt sich etwa an der Verdienstvorstellung, die Luther zwar im Laufe der Vorlesung zunehmend kritisch wendet (s. E. Vogelsang: Die Anfänge von Luthers Christologie nach der ersten Psalmenvorlesung, 1929, 72f.; A. Hamel: Der junge Luther und Augustin, Teil 1, 1934, 186–191), ohne daß er aber die Vorstellung des gnadenhaften meritum de condigno grundsätzlich preisgibt (R. Schinzer: Die doppelte Verdienstlehre des Spätmittelalters und Luthers reformatorische Entdeckung, 1971, v.a. 27–34). In den Bahnen des mittelalterlichen Augustinismus stellt Luther weniger die Möglichkeiten des begnadeten (meritum de condigno), als die des natürlichen Menschen (meritum de congruo kraft des facere quod in se est) in Frage; er wendet sich also noch nicht direkt gegen die meritorische Grundstruktur des Heilserwerbs. 97 WA 4,469,22–28; WA 55I,48,24–26; WA 55II,94,10–96,10; WA 55I,302 (ZGl. zu Ps. 33/34,15); WA 55II,193 f. (wo das in den frühesten Predigten eingeschärfte »non sufficit« aufgenommen und selbst für den in der castitas geleisteten Verzicht die Ergänzung durch Almosen, Gebet oder Wohltaten für den Nächsten gefordert wird); WA 55I,324 f. (ZGl. und RGl. zu Ps. 36/37,27). Daß das Tun des Guten aber nicht einfach eine Möglichkeit des Menschen ist, sondern in der göttlichen Neukonstitution des Menschen gründet, zeigt das im selben Zusammenhang herangezogene Bild vom Baum und seinen Früchten: Die »Christiana pietas« tut mit gleichsam naturhafter Notwendigkeit das Gute ohne Rücksicht auf den Empfänger und entspricht so sowohl der Vollkommenheitsforderung der Bergpredigt wie der philosophischen Forderung der aequitas (WA 55II,94–96; aequitas ist hier nicht im Sinn von εÆ πιει κεια, sondern von ιÆ σο της gemeint).

3.1. Dictata super Psalterium

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det. Der in der Vorlesung entwickelte Zusammenhang von der Konstitution des ethischen Subjekts durch das worthaft vermittelte Gotteswerk von Gericht und Rechtfertigung und der aus der Gottesbeziehung im Glauben hervorgehenden ethischen Praxis bietet kaum einen Anknüpfungspunkt für die herkömmliche tugendethische Beschreibung christlicher Praxis. Stattdessen laufen die traditionellen Aussagen nebenher mit. So fehlt den zahlreichen Aussagen über die Tugenden insgesamt wie über einzelne von ihnen – vor allem über die Liebe – vielfach die Einbindung in das exegetische Ringen, das den eigentlichen Schwerpunkt der Vorlesung ausmacht; wo diese Einbindung aber geschieht, da ist die caritas nicht mehr Inbegriff des Gottes-, Selbst- und Weltverhältnisses.98 Bemerkenswert ist der durchgängige Verzicht auf die Thematisierung der ethischen Normen, der darauf hindeutet, daß Luther die christliche Praxis nicht mehr grundsätzlich über das Gesetz vermittelt denkt. Weder die von Luther ausführlich behandelten Torapsalmen noch die zahlreichen Einzelaussagen des Psalters zur Gesetzesthematik veranlassen ihn zu näheren Ausführungen. So bemerkt er zwar am Anfang der Vorlesung zu Ps. 1, daß das Evangelium Weisungen (consilia) enthält, die als Konkretionen der Tugend und Liebe fordernden lex Dei den Menschen zu Gott führen, indem sie zum Beispiel das Gebet und die Barmherzigkeit gegenüber dem Nächsten fordern.99 Doch diese knappen Hinweise sind schon in den ältesten Scholien eingebunden in die Erörterung der Luther viel mehr interessierenden Fragen nach dem Willen (Ps. 1,2), den er als dem Menschen nicht verfügbare Existenzausrichtung versteht,100 und nach der Rechtfertigung des Menschen, die das demütige Aufsichnehmen des iudicium voraussetzt.101 98 Das zeigt sich etwa am Beispiel der Auslegung von Ps. 67/68, wo die etwas älteren Glossen zu V. 13 bemerken: »regnum Regis Christi Est in charitate et mutua suorum dilectione« (WA 55I,480 [RGl.]). In den etwas später entstandenen Scholien zu V. 14 wird das dann so konkretisiert, daß die »opera pulcherrima Charitatis ad proximum« mit der relationalen Anthropologie und dem profectus-Gedanken verbunden (WA 55II,364,229– 239) und durch die Ablehnung des Verdienstgedankens relativiert werden (WA 55II,364,250–254). – Zu Luthers Umprägung der mittelalterlichen Tugendlehre und der Neubestimmung der caritas in der ersten Psalmenvorlesung: R. Schwarz: Fides, spes und caritas beim jungen Luther, 1962, 76–240 (zur caritas 211–226 u.ö.). Luthers gegenüber der mittelalterlichen Schultheologie verändertes Verständnis des Liebesgebots hat L. Grane: Contra Gabrielem, 1962, 302–309, dargestellt. 99 »[›]Consilium[‹] Est dispositio mediorum vel via, quibus ad finem peruenitur in moralibus et practicis« (WA 55II,27,17 f.). »Consilium bonum ad finem bonum, vt sunt Consilia Euangelii, lex Dei, que dirigit hominem per debitum medium ad Deum. Et hec est virtus et charitas, vt orare, misereri proximo propter Deum« (WA 55II,28,1–3). Die lex ist hier nicht primär als äußere Weisung (litera) verstanden, sondern als innere Bestimmtheit (WA 55II,31,4–32,3). 100 WA 55II,35. 101 WA 55II,32–36. Vgl. die Adnotationes zu Ps. 1,5 mit ihrer näheren Behandlung des

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3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

Luther baut auch eine schwer zu überwindende Distanz gegenüber dem Gesetz als äußerlich kodifizierter Anordnung auf, wenn er in Anlehnung an die Unterscheidung von Geist und Buchstabe betont, daß die Heiligkeit und Vollkommenheit in Armut, Demut und Barmherzigkeit nicht durch den äußerlichen bleibenden Gehorsam gegen die »lex literaliter tantum intellecta« erreicht wird, sondern nur durch das geistlich verstandene, verinnerlichte Gesetz, das eins ist mit dem Evangelium.102 Nicht das Gesetz als solches interessiert ihn, sondern die der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium vorausliegende Größe des Gottesworts (verbum Dei). Dieses hat zwar durchaus die Funktion ethischer Normierung, es ist aber vor allem der worthafte Vollzug des opus Dei als Gericht und Rechtfertigung.103 Das Wort bekommt dadurch eine ganz andere Funktion für den Christen. Die Existenz des neuen Menschen ist stets auf das Wort bezogen, indem sich der Mensch unter das Gerichtswort Gottes stellt und dem geistlich verstandenen Wort entsprechend lebt. Der Glaube als die intellektuell-affektive Ergebung in das Wortgeschehen rückt in den Mittelpunkt. Luther kann darum die christliche Existenz begrifflich nicht nur als Glaubensexistenz, sondern auch als Gehorsam gegen Gottes Wort fassen. Im gehorsamen Hören auf dieses Wort ergibt sich der Christ sich Christus ganz und gibt seine Freiheit preis – und darin erreicht er das höchste Werk und die umfassende Vollkommenheit des christlichen Lebens: »Opus summe est, vt acuto verbo Dei obedientia ei commendetur. Quia in hoc stat tota ratio et perfectio Christiane¸ vite¸«.104

Von solchen Sätzen läßt sich nur noch schwer eine Verbindung zu einem Vollkommenheitsideal ziehen, das nicht so sehr am Widerfahrnis des göttlichen Heilshandelns, sondern an Gesetzesgehorsam und Tugendpraxis interessiert ist. Was Luther in den Jahren 1513 bis 1515 zweimal wöchentlich seinen Kolleghörern, wohl ganz überwiegend Klerikern, vor allem Augustinereremiten des Wittenberger Ordensstudiums, vortrug, war eine gegenüber den erhaltenen Materialien zur Vorlesung wohl noch einmal konzentrierte und im Vollzug des Lehrens weiter reflektierte Verbindung traditioneller und Gerichts und der Bestimmung des Verhältnisses von iudicium und iustitita (WA 4,468– 471). 102 WA 55I,92,16–21; WA 55II,115,5–15. Sachlich entsprechend unterscheidet Luther zwischen der lex Mosi, die nur das äußerliche Verhalten coram hominibus reguliert, und der auch als Evangelium bezeichneten lex domini, die den Menschen innerlich coram Deo erneuert und rechtfertigt (WA 55I,162,7; 164,1.15; WA 55II,151,8 f.12 f.). 103 So bemerkt Luther zu Ps. 27/28,1 »opera Dei sunt verba eius« und »Deus enim per verbum suum omnia facit« (WA 55I,248,3.13). 104 WA 55II,220,43–45.

3.1. Dictata super Psalterium

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neuartiger theologischer Elemente. Es ist kaum anzunehmen, daß Luther und seine Zuhörer die Tragweite dieser Psalmenvorlesung abschätzen konnten. Gerade im Wittenberger Augustinereremitenkonvent ließ sich das von Luther Vorgetragene als Vertiefung der vielfältigen theologischen und frömmigkeitspraktischen Traditionsstränge des spätmittelalterlichen Mönchtums verstehen. Die erste Psalmenvorlesung dokumentiert einen Umgang mit der Bibel und ein Verständnis vor allem des Psalters und der Paulusbriefe, die entscheidend für Luthers Verständnis des christlichen Lebens und dessen existentieller Praxis wurden. Obwohl mit Luthers Verständnis der Sünde als der umfassenden Existenzverkehrung des alten Menschen und des opus Dei als der durch Wort und Glaube vermittelten Grundlegung des Seins und Handelns des neuen Menschen wichtige Elemente der sich entwickelnden reformatorischen Theologie vorhanden waren, wiesen diese Elemente weder im einzelnen die inhaltliche Bestimmung noch insgesamt die worttheologische Verknüpfung auf, die einige Jahre später das Reformatorische von Luthers Theologie ausmachen sollte. Dieses Ineinander von ansatzweise vorhandener theologischer Neuerkenntnis und noch fehlender reformatorischer Entfaltung und Systematisierung führt dazu, daß Luthers Anschauungen vom christlichen Leben zwar auf der Ebene der theologischen Reflexion an die Stelle der mittelalterlichen Bestimmung des Verhältnisses von göttlichem und menschlichem Handeln die neuartige Relation von worthaftem Gotteswerk und demütigem Glauben setzen, daß sie aber auf der Ebene der ethischen Konkretion nur das mittelalterliche Ideal monastischer Existenz variieren. Blickt man auf Luthers theologische Entwicklung, so ist die erste Psalmenvorlesung das Zeugnis eines Neuansatzes innerhalb der mittelalterlichen Theologie und Kirchlichkeit, der gleichwohl darüber hinausführte. Luther reflektierte und vertiefte die mittelalterliche Bußfrömmigkeit und gelangte dabei an einen Punkt, an dem die biblische Vertiefung des Vorhandenen dieses von innen her aufzusprengen drohte. So weit kam es allerdings noch nicht, ja Luther war sich dieser Konsequenzen wohl gar nicht bewußt. Die Verwandlung des bereits in der ersten Psalmenvorlesung vorhandenen theologischen Potentials in eine ausformulierte neue Theologie setzt die weitere Vertiefung und Verbreiterung des Rückgangs auf die Bibel und das Bewußtwerden des Gegensatzes zum mittelalterlichen Hintergrund voraus. Das leisteten die Vorlesungen, Schriften und Auseinandersetzungen der Folgejahre, die Schritt für Schritt die Einzelelemente der reformatorischen Theologie entwickelten und präzisierten und im Vorfeld der zweiten Psalmenvorlesung durch die Erkenntnis der Christusgerechtigkeit und des promissionalen Charakters des diese Gerechtigkeit zueignenden Evangeliumsworts zur worttheologischen Systematisierung des entstandenen Aussagengefüges führten.

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3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

3.2. Die Römerbriefvorlesung (1515/16) Die bei allen Unschärfen und Ambivalenzen unverkennbare theologische Neuorientierung der ersten Psalmenvorlesung entwickelte ihr ganzes kritisches und konstruktives Potential in der Paulusauslegung der Jahre 1515 bis 1518. Insbesondere die direkt an die erste Psalmenvorlesung anschließende Römerbriefvorlesung entfaltet das Neue und thematisiert nun ausdrücklich die Differenz zwischen Luthers paulinisch-augustinischer Wende und dem spätmittelalterlichen Hintergrund. Die beiden zentralen Quellen für Luthers theologische Entwicklung im Anschluß an die Dictata super Psalterium sind die Vorlesungen über den Römerbrief (1515/16) und den – von Luther mit Vorbehalten für paulinisch gehaltenen – Hebräerbrief (1517/18). Zu ihnen treten ergänzend die Galaterbriefvorlesung (1516/17), drei Thesenreihen für Disputationen (Quaestio de viribus et voluntate hominis sine gratia [1516], Disputatio contra scholasticam theologiam [1517], Disputatio Heidelbergae habita [1518]), Predigten und Briefe der Jahre 1515 bis 1518, die Randbemerkungen zu Tauler und als programmatische Zusammenfassung des theologischen Ertrags dieser Jahre der Sermo de duplici iustitia (1519). Die bußtheologischen Schriften dieses Zeitraums werden unten in 4.1. und 4.2. gesondert behandelt. Bei der Darstellung der Römerbriefvorlesung 105 wird auch die Galaterbriefvorlesung106 berücksichtigt. Eine eigenständige Behandlung der Galaterbriefvorlesung ist nicht erforderlich, weil der Text nur in Nachschriften überliefert ist 105

WA 56,XI-LVI.1–154.155–528. Die erhaltenen Nachschriften zur Vorlesung, die Luthers Glossen- und Scholienmanuskript zusammenfassendes Diktat wiedergeben, sind in WA 57I* ediert. Sie sind inhaltlich nicht im selben Maße ergiebig wie Luthers Manuskript und werden darum hier nur an einzelnen Stellen ergänzend hinzugezogen. Die Vorlesung dauerte drei Semester: Luther begann sie nach Ostern 1515 und beendete sie im Herbst 1516. Er las wohl montags und freitags früh von sechs bis sieben. Die Markierungen in Luthers Manuskript und den Nachschriften legen nahe, daß Luther im Sommersemester 1515 Röm. 1,1–3,4, im Wintersemester 1515/16 Röm. 3,5–8,39 und im Sommersemester 1516 Röm. 9–16 gelesen hat. 106 WA 57II,III-XXII.5–49*.53–108*. Der hier edierte Text geht auf eine Nachschrift der Vorlesung zurück, die vom 27.10.1516 bis zum 13.3.1517 stattfand (Datierung aufgrund der Hinweise in WAB 1,73,27 f. und WA 57II,108,22 f.*). Eine weitere, zahlreiche Textverbesserungen ermöglichende Nachschrift wurde von Hans Volz entdeckt (Eine neue studentische Nachschrift von Luthers erster Galaterbriefvorlesung von 1516/17, in: ZKG 66, 1954/55, 72–96) und in WA 59,359–384* mit weiteren Ausführungen und Materialien vorgestellt. Ein Autograph ist nicht mehr vorhanden, aber Teile des Autographs sind wahrscheinlich in die Erstellung des 1519 erschienenen ersten Galaterkommentars eingeflossen. Die in WA 57II edierte Nachschrift gibt nach Meinung des Herausgebers Luthers Diktat während der Vorlesung vollständig und getreu wieder. Wie bei der Römerbriefvorlesung liegt ein Druck des Brieftexts mit Zeilen- und Randglossen sowie eine Scholienhandschrift vor. Der spätere Kommentar mit seinem deutlich größeren Umfang läßt vermuten, daß Luther im Rahmen der Vorlesung neben den Diktaten auch weitere Ausführungen gegeben hat. Die Diktate der Vorlesung begegnen (zumindest was die Scholien betrifft) größtenteils im Kommentar wieder, teils wörtlich, teils überarbeitet. Der Kommentar hat aber auch Teile, die schwerlich im Rahmen der Vorlesung vorgetragen wurden, und gehört von seiner theologischen Gesamtkonzeption her deutlich in eine spätere Zeit.

3.2. Römerbriefvorlesung

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und weil Luthers Auslegung des Galaterbriefs sich inhaltlich in weiten Teilen mit der des Römerbriefs überschneidet. Die Forschung zur Rechtfertigungslehre in Luthers Römerbriefvorlesung und zu der in ihr implizierten Ethik ist umfangreich und hat zu einander ausschließenden Interpretationen geführt. Charakteristisch für die ältere Forschung ist die These Heinrich Bornkamms, daß Luthers Auffassung von der Gerechtigkeit Gottes in den frühen Vorlesungen das als reformatorisch zu qualifizierende Verständnis der Rechtfertigung und der Demut und »damit den Ansatz einer evangelischen Ethik« enthält.107 Schon die frühesten, 1910 erschienenen Forschungsbeiträge zu Luthers Römerbriefvorlesung von Otto Scheel108 und Karl Holl109 entfalten den Zusammenhang von Rechtfertigungslehre und Ethik. Hier ist vor allem Holls eigentümliche Fassung von Luthers Rechtfertigungslehre wichtig, die zeigen soll, wie eng Luther in der ersten Psalmen- und dann vor allem der Römerbriefvorlesung das Rechtfertigungserlebnis mit der inneren Umwandlung des Menschen und seinem neuen Weltverhältnis und Handeln verbindet: Das neue Leben ist ganz allein ein Handeln Gottes, das im Akt der Rechtfertigung auch als faktische Gerechtmachung begonnen hat und das Gottes Rechtfertigungsurteil nachträglich – angesichts der sich tatsächlich vollziehenden Erneuerung – als analytisches Urteil erweist. Nach Holl sieht Luther schon in der Römerbriefvorlesung das christliche Leben so, wie es die Freiheitsschrift und der Sermon Von den guten Werken später programmatisch formulieren werden: »Er spricht, wenn er auf die Höhe kommt, schon ganz in den Wendungen der Freiheit eines Christenmenschen«, ihm kommt es »nicht auf 107 H. Bornkamm: Iustitia dei in der Scholastik und bei Luther (in: Ders.: Luther. Gestalt und Wirkungen. Gesammelte Aufsätze, 1975, 95–129, 128). 108 O. Scheel: Die Entwicklung Luthers bis zum Abschluß der Vorlesung über den Römerbrief (SVRG 100, 1910, 61–230, hier: 174–206). Der Zusammenhang von Rechtfertigung und christlichem Leben wird nicht schwerpunktmäßig behandelt. Die für die ältere Forschung charakteristischen Urteile Scheels lauten: »So ist der Christ beides zugleich: Sünder und Gerechter, er ist gerechtfertigt und wird fürder gerechtfertigt. Buße und Rechtfertigung sind das bleibende Grundverhältnis seines Lebens und der selbstverständliche Quell alles guten Handelns. In folgerichtiger, geschlossener psychologischer Motivierung ist hier das neue religiöse, aber ganz ethisch bestimmte, den Sakramentalismus durch den Personalismus verdrängende reformatorische Christentumsverständnis zum Ausdruck gebracht. Das Wesen der Reformation ist klar und bestimmt erfaßt. So deutlich und sicher nun auch die religiösen und sittlichen Grundgedanken der Reformation hervortreten, so lebendig sie Luthers Innere erfüllen und schon nach außen drängen, um sich auch in der Wirklichkeit des öffentlichen Lebens Ausdruck zu verschaffen, so unverkennbar sind doch selbst in der Römerbriefvorlesung die auf die mittelalterliche Vergangenheit weisenden Linien« (182). »Das religiöse und ethische Programm der Reformation ist fertig. Der rechtfertigende, der Barmherzigkeit Gottes trauende, die Gerechtigkeit Christi ergreifende lebendige Glaube, der seine eigenen Werke tun muß, die Liebe, die dem gegeben wird, der im Glauben und Namen Christi anruft, und die Freiheit des Christenmenschen, der frei und fröhlich durch den Glauben lebt, und durch die Liebe sich zum Knecht aller macht und wiederum in dieser Knechtschaft die höchste Freiheit gewinnt, diese später eindrucksvoll und nachdrücklich entwickelten Gedanken sind schon im Römerbriefkommentar das Lebenselement der Frömmigkeit Luthers« (206). 109 K. Holl: Die Rechtfertigungslehre in Luthers Vorlesungen über den Römerbrief mit besonderer Rücksicht auf die Frage der Heilsgewißheit (in: Holl 1,111–154); Der Neubau der Sittlichkeit (in: Holl 1,155–287, hier: 203–217).

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3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

die Zahl und Größe der Werke an« und der »Mensch braucht überhaupt nicht etwas Besonderes als Inhalt seiner Handlung erst zu suchen«, sondern er »kann sich genügen lassen an dem, was sein gewöhnlicher Beruf ihm an Aufforderungen zum Handeln darbietet«.110 In der Folgezeit wurde diese für die ältere Lutherforschung repräsentative Deutung der zum theologischen Schlüsseldokument des reformatorisch verstandenen Zusammenhangs von Religion und Sittlichkeit erklärten Römerbriefvorlesung weiter ausgearbeitet und dabei auch zum Teil erheblich weiterentwickelt und variiert.111 Wichtig wurde die Lutherdeutung von Rudolf Hermann und seinen Schülern, die bis in die neuere Lutherforschung nachgewirkt hat.112 Auch für sie ist die Römerbriefvorlesung ein Zeugnis von Luthers reformatorischer Theologie. Hermanns Interesse gilt dabei besonders der paradoxen Gleichzeitigkeit von Sündersein und Gerechtsein, die Luther hier erstmals programmatisch entwickelt. Das simul peccator et iustus bedeutet für ihn eine Infragestellung der traditionellen Zuordnung von Rechtfertigung und Ethik, die Sünde und Gerechtigkeit quantifiziert und mit ihrem sanativen Rechtfertigungsverständnis eine allmähliche tatsächliche Überwindung der Sünde annimmt. Nach Luther wird die Heiligung durch das simul peccator et iustus aber nicht problematisiert, sondern allererst richtig verstanden. Denn das auf der Rechtfertigung beruhende Handeln des Christen ist keine von der Gottesbeziehung ablösbare Größe und hat keinen Eigenwert. Dementsprechend ist die profectus-Vorstellung gerade nicht im Sinne einer faktischen Erneuerung, sondern eines fortdauernd auf Gottes unverfügbare Gerechtigkeit ausgerichteten Selbstverständnisses und dementsprechenden Existenzvollzugs zu verstehen, also nicht als Maß-, sondern als Zeitbegriff. Hermann stellte damit das nach Meinung 110

Holl 1,135. Etwa bei W. Link: Das Ringen Luthers um die Freiheit der Theologie von der Philosophie, 1940, 350–382. 112 Rudolf Hermann hat die Grundlinien seiner Lutherdeutung in den 1920er und 1930er Jahren in mehreren Arbeiten entwickelt und dabei auch die Römerbriefvorlesung als Schlüsseltext für Luthers reformatorische Theologie ausgewertet, und zwar gerade auch für den Zusammenhang von Rechtfertigung und Ethik (Das Verhältnis von Rechtfertigung und Gebet nach Luthers Auslegung von Röm. 3 in der Römerbriefvorlesung, in: Gesammelte Studien zur Theologie Luthers und der Reformation, 1960, 11–43; Willensfreiheit und Gute Werke im Sinne der Reformation. Die Stellung des Christen zu den Fragen des sittlichen Lebens, aaO 44–76; Fragen aus der Geschichte der christlichen Ethik im Lichte der ethischen Gedanken Luthers, aaO 126–152; Luthers These »Gerecht und Sünder zugleich«. Eine systematische Untersuchung, 1930). Zu Hermanns Bestimmung des Verhältnisses von Rechtfertigung und Ethik: H. Assel: Der andere Aufbruch. Die Lutherrenaissance – Ursprünge, Aporien und Wege: Karl Holl, Emanuel Hirsch, Rudolf Hermann (1910–1935), 1994, 387–390.407–416.484–487. Die Nachwirkung zeigen die Arbeiten von H. Beintker zur Römerbriefvorlesung (Glaube und Handeln nach Luthers Verständnis des Römerbriefs, in: LuJ 28, 1961, 52–85; Das Gewissen in der Spannung zwischen Gesetz und Evangelium; in: LuJ 48, 1981, 115–147: Weisheit des Fleisches und Weisheit des Geistes. Zum Gegenüber der prudentia spiritus zur prudentia carnis in Luthers Vorlesung über den Römerbrief, in: J. Rogge, G. Schille [Hgg.]: Themen Luthers. Fragen der Kirche heute, 1982, 41–61). Andere Hermann-Schüler greifen für ihre Interpretation vorrangig auf spätere Lutherschriften zurück, betonen dabei aber den engen Zusammenhang mit der Römerbriefvorlesung, so etwa J. Haar (Initium creaturae Dei. Eine Untersuchung über Luthers Begriff der »neuen Creatur« im Zusammenhang mit seinem Verständnis von Jakobus 1,18 und mit seinem »Zeit«-Denken, 1939). 111

3.2. Römerbriefvorlesung

171

der zeitgenössischen Forschungsdiskussion von Holl nicht hinreichend geklärte Problem des Verhältnisses von Rechtfertigung und Heiligung in ein neues Licht und regte eine Reihe seine Deutung teils stützende, teils problematisierende Arbeiten an, die immer auch Luthers Römerbriefvorlesung berücksichtigen und dabei zugleich Beiträge zum systematisch-theologischen Diskurs sein wollen. Ein typisches Beispiel für diesen Umgang mit Luther ist Eduard Ellweins113 vergleichende Studie über die Auslegung von Röm. 6–8 in der spätmittelalterlichen Theologie, im Humanismus und bei den Reformatoren. Für Ellwein ist Luthers Römerbriefvorlesung der Inbegriff reformatorischer Römerbriefexegese, weshalb er aus dieser Quelle die reformatorische Bestimmung des Verhältnisses von forensischer und effektiver Rechtfertigung sowie von Rechtfertigung und Heiligung rekonstruiert. In den 1940er und 1950er Jahren führte die nordische Lutherforschung die deutsche Diskussion weiter.114 Die 1952 erschienene Studie von Axel Gyllenkrok markiert einen wichtigen Einschnitt, weil sie die frühen Vorlesungen Luthers nicht mehr ohne Weiteres für reformatorisch hält und den erheblichen Wandel in den Jahren der Psalter- und Paulusexegese anhand der Bestimmung des Verhältnisses von Rechtfertigung und Heiligung nachzeichnet. Gyllenkrok war aber nicht der erste, der den breiten Konsens der älteren Lutherforschung hinsichtlich der reformatorischen Verhältnisbestimmung von Rechtfertigung und Ethik in der Römerbriefvorlesung in Frage stellte. Zu erinnern ist etwa an Otto Ritschl, der in seiner Darstellung von Luthers Theologie in seiner Dogmengeschichte des Protestantismus schon 1912 die vor allem anhand der ersten Psalmen- und der Römerbriefvorlesung entwickelte Frühtheologie Luthers als »vorreformatorisch« charakterisiert und in ihrer ethischen Bedeutung gering veranschlagt hat.115 Und der Neutestamentler Adolf Schlatter hatte aufgrund seines Vergleichs von Luther und Paulus die Pro113 Vom neuen Leben. De novitate vitae. Eine systematische und theologiegeschichtliche Untersuchung zur Lehre vom neuen Leben. Durchgeführt an einem Ausschnitt aus der Römerbrief-Exegese der Reformationszeit, 1932. 114 Zu nennen sind hier die Arbeiten von L. Pinomaa (Der existentielle Charakter der Theologie Luthers. Das Hervorbrechen der Theologie der Anfechtung und ihre Bedeutung für das Lutherverständnis, 1940; Die profectio bei Luther, in: F. Hübner [Hg.]: Gedenkschrift für D. Werner Elert, 1955, 119–127), R. Prenter (Spiritus Creator. Studien zu Luthers Theologie, 1954, hier vor allem 75–106.225–238; Luthers Lehre von der Heiligung, in: V. Vajta [Hg.]: Lutherforschung heute, 1958, 64–74; Der barmherzige Richter. Iustitia dei passiva in Luthers Dictata super Psalterium 1513–1515, 1961, hier v.a. 111 f.140–148), S. Lerfeldt (Den kristnes kamp. Mortificatio carnis. En studie i Luthers teologi, 1949) und A. Gyllenkrok (Rechtfertigung und Heiligung in der frühen evangelischen Theologie Luthers, 1952). Einen gewissen Schlußpunkt dieses Diskussionsstrangs markiert M. Schloenbach: Heiligung als Fortschreiten und Wachstum des Glaubens in Luthers Theologie, 1963, der sich vor allem mit Hermann, Pinomaa, Prenter und Gyllenkrok auseinandersetzt. Auch im englischsprachigen Bereich fand die Verhältnisbestimmung von Rechtfertigung und Ethik in der Römerbriefvorlesung Mitte des 20. Jahrhunderts Interesse, allerdings nicht im selben Ausmaß wie in der nordischen und der deutschen Lutherforschung (z.B. A. Wood: The Theology of Luther’s Lectures on Romans, in: SJTh 3, 1950, 1–18.113–126). 115 O. Ritschl: Dogmengeschichte des Protestantismus, Bd. 2, erste Hälfte, 1912, 40– 84. Gleichwohl hat für Ritschl die reformatorische Rechtfertigungslehre eminente ethische Bedeutung, wobei die kreuzes- und demutstheologischen Elemente der Frühtheologie ihren Ort innerhalb der reformatorischen Zuordnung von Glaube und Ethik finden (aaO 222–225).

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3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

blematik der frühen Rechtfertigungslehre Luthers und ihres Verhältnisses zur Ethik aufgewiesen.116 Er erzielte aber mit seinen auch heute noch wertvollen Beobachtungen kaum Wirkung, weil er die Römerbriefvorlesung für einen Ausdruck von Luthers reformatorischen Theologie hielt und die kritische Kontrastierung Luthers mit Paulus auf die gesamte Reformation ausweitete. Schlatters hellsichtige Lutherkritik weist auf eines der Schlüsselprobleme der Forschungsdiskussion der 1920er bis 1950er Jahre hin, das sich unter den von der Mehrheit der Beiträge angenommenen Voraussetzungen schwerlich lösen läßt: auf das Verhältnis des simul peccator et iustus zum profectus novae vitae. Hier scheint die Römerbriefvorlesung zwei einander ausschließende Gedankenreihen zu verfolgen, die es unter Zuhilfenahme allen exegetischen und systematisch-theologischen Scharfsinns zum Ausgleich zu bringen galt. Und zwar so, daß das Ergebnis sich harmonisch in ein anhand der späteren Hauptschriften Luthers – von den reformatorischen Hauptschriften von 1520 über die Rationis Latomianae confutatio von 1521 und De servo arbitrio von 1525 bis hin zum Galaterbriefkommentar von 1535 und den späten Disputationen – entworfenes Gesamtbild seiner Theologie fügte. Dieses Unternehmen war, obgleich es beeindruckende, in mancher Hinsicht auch maßstabsetzende Lutherdeutungen hervorbrachte, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Denn die Voraussetzung des reformatorischen Charakters der Römerbriefvorlesung führte dazu, daß die Luthers Frühtheologie eigentümliche Existenzdialektik von Gericht und Gnade nicht als eigenständige vorreformatorische Konzeption erkannt wurde. Ein wichtiger Impuls für das Verständnis von Luthers Frühtheologie war die Neubestimmung des Verhältnisses von forensisch-effektiver Rechtfertigung und bleibender Gleichzeitigkeit von Sündersein und Gerechtsein durch Wilfried Joest Anfang der 1950er Jahre,117 die in der vorangehenden Forschung latent vorhandene und immer wieder auch ansatzweise entwickelte Unterscheidung von Total- und Partialaspekt der Rechtfertigung systematisch entfaltete. Der Konsens der älteren Forschung brach mit der Bizer-Debatte der 1960er und 1970er Jahre auf und führte zu einer Vielzahl konkurrierender Deutungen.118 Die Position der älteren Lutherforschung wurde energisch verteidigt und fortgeschrieben – etwa durch Heinrich 116 A. Schlatter: Luthers Deutung des Römerbriefs. Ein Beitrag zur vierten Säkularfeier der Reformation, 1917. Zu diesem oft übersehenen Forschungsbeitrag: E. Ellwein: Schlatters Kritik an Luthers Römerbriefvorlesung (Zwischen den Zeiten 5, 1927, 530–543); E.-W. Kohls: Luther oder Erasmus. Luthers Theologie in der Auseinandersetzung mit Erasmus, Bd. 1, 1972, 276 f., Anm. 261; H.-M. Rieger: Adolf Schlatters Rechtfertigungslehre und die Möglichkeit ökumenischer Verständigung, 2000, 175–209. – Auch Schlatter verweist auf die Bedeutung der Ethik in der Römerbriefvorlesung: »Im Gehorsam gegen den Römerbrief machte Luther die kirchliche Predigt vollständig zur Gerechtigkeitslehre, also ganz zur Ethik, und richtete den Willen der Christenheit mit ungeteilter Entschlossenheit auf die Gerechtigkeit, die uns die Befreiung von der Sünde und damit die Fähigkeit zum Leiden gibt, als auf ihr einziges Ziel« (Luthers Deutung des Römerbriefs, 19), sieht aber erhebliche Defizite in Luthers Gerechtigkeits- und Gesetzesverständnis, das die positiven Aspekte gegenüber den negativen in den Hintergrund treten lasse (aaO 48–72.72–90). 117 W. Joest: Gesetz und Freiheit. Das Problem des Tertius usus legis bei Luther und die neutestamentliche Parainese, 1951. 118 Th. Kaufmann: Die Frage nach dem reformatorischen Durchbruch. Ernst Bizers Lutherbuch und seine Bedeutung (in: R. Vinke [Hg.]: Lutherforschung im 20. Jahrhundert, 2004, 71–97).

3.2. Römerbriefvorlesung

173

Bornkamm119 –, und zwar gerade auch aufgrund systematisch-theologischer Interessen.120 Doch bedeutete die von Ernst Bizer in ihren Grundzügen entwickelte121 und von Oswald Bayer weiter entfaltete und abgesicherte122 Neuinterpretation der Frühtheologie Luthers und hier auch und vor allem die Deutung der Römerbriefvorlesung einen tiefen forschungsgeschichtlichen Einschnitt. Bizer und Bayer als die beiden Exponenten der grundlegend anderen Deutung von Luthers Frühtheologie stellen nicht den Zusammenhang von Rechtfertigungslehre und Ethik in Frage, sehr wohl aber den reformatorischen Charakter der Frühtheologie Luthers. Für sie entsprechen weder die frühe Rechtfertigungsanschauung Luthers noch das sich daraus ergebende Ethos dem Wort- und Glaubensverständnis, wie es Luthers Schriften seit 1518 vertreten. Vielmehr wird in ihren Augen die Eigenart der ersten Psalmen- und der Römerbriefvorlesung erst deutlich, wenn man sie Luthers späterer reformatorischer Theologie kontrastierend gegenüberstellt. Der im Folgenden unternommene Versuch Luthers Römerbriefglossen und -scholien erneut auf den Zusammenhang von Rechtfertigung und Ethik hin zu untersuchen verdankt der mehr als hunderjährigen Forschungsdiskussion und gerade auch den zuletzt genannten Beiträgen viel. Allerdings kann er gerade angesichts dieser Forschungsdiskussion nicht in jeder Hinsicht befriedigen, weil er die Vielzahl der Interpretationen um eine weitere vermehrt, dabei aber aus Platzgründen auf eine umfassende Rekonstruktion der Rechtfertigungstheologie von Luthers Römerbriefvorlesung verzichten muß.

Zeigen sich in der ersten Psalmenvorlesung die ethischen Konsequenzen der neuen Rechtfertigungslehre allenfalls ansatzweise, so sind sie in der Römerbriefvorlesung deutlich weiter entwickelt. Das hat auch mit dem auszulegenden Bibeltext zu tun: Während Luther bei der Psalterexgese das christliche Leben über den Umweg des tropologischen Schriftsinns thematisiert, liefert der Römerbrief in seiner Gliederung und seinen Einzelaussagen zahlreiche unmittelbare Anknüpfungspunkte. Im Folgenden soll Luthers Auffassung vom christlichen Leben in der Römerbriefvorlesung in drei Schritten entfaltet werden: Zuerst werden anhand der Scharniertexte Röm. 1 und Röm. 12, in denen Luther den Inhalt des Römerbriefs zusammengefaßt sieht, Grundgedanken seiner Auslegung hinsichtlich des christlichen Lebens skizziert; dann wird der eine wichtige Aussagekomplex zum christlichen Leben kurz behandelt: die Rechtfertigungslehre; und zuletzt ausführlich der andere: die aus der Rechtfertigungslehre sich ergebende Theorie und Praxis des christlichen Lebens. 119 H. Bornkamm: Zur Frage der Iustitia Dei beim jungen Luther (in: B. Lohse [Hg.]: Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, 1968, 289–383, hier v.a. 306–337). 120 Aus der breiten systematisch-theologischen Rezeption der Frühtheologie Luthers im 20. Jahrhundert seien zwei aus der Lutherforschung erwachsene Beiträge genannt: H. Bornkamm: Das bleibende Recht der Reformation. Grundregeln und Grundfragen evangelischen Glaubens, 1963; H. Hübner: Rechtfertigung und Heiligung in Luthers Römerbriefvorlesung. Ein systematischer Entwurf, 1965. 121 E. Bizer: Fides ex auditu, 31966, 23–58. 122 O. Bayer: Promissio, 21989, 32–143.

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3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

Wenn irgendwo in einer Römerbriefauslegung grundsätzliche Überlegungen zur paulinischen Auffassung vom christlichen Leben zu erwarten sind, dann in der Einleitung zu Kapitel 12, mit dem ja der zweite – »paränetische« – Hauptteil des Briefs beginnt. Und in der Tat: Luther spricht in den Scholien zu Röm. 12 mit Blick auf diesen zweiten Hauptteil ausdrücklich von der im Römerbrief enthaltenen »christlichen Ethik«. Allerdings haben wir es hier mit einem eigentümlichen Sprachgebrauch zu tun: Luther geht es nicht um die positive Entfaltung der christlichen Ethik, sondern um die Kritik am Mißverständnis des christlichen Lebens: »Apostolus Instituturus Christianam e¸thicam Nihil ita primum curat eradicare vsque in finem Epistole quam prudentiam seu sensum proprium. Ideo statim ab ea peste omnium nocentissima incipit, Quod ea sola Natiuitatem spiritualem subtili specie bonorum rursum dissipat ac ex ipsis bonis operibus magis occidit. Hoc autem Non solum in hac Epistola, Sed et in omnibus facit diligentissime, Sciens, quod extra vnitatem, pacem, charitatem, humilitatem, Quarum illa prudentia pre¸sens mors est, Nihil sunt omnia opera«.123

Der Zusammenhang der Stelle zeigt, daß die Rede von der ethica christiana nicht das enthält, was moderne Interpreten in ihr vermuten. Die Formulierung ethica christiana ist singulär in Luthers Werk124 und muß angesichts des mittelalterlichen, mit ethica vor allem die philosophische Ethik bezeichnenden Sprachgebrauchs125 als kritische Abgrenzung verstanden werden: Röm. 12 entfaltet die mit der philosophischen Ethik konkurrie123 WA 56,440,20–441,2. Die Eingangsformulierung war Luther so wichtig, daß er sie auch während des Kollegs diktierte (WA 57I,215,19 f.*). Zur »Grundlegung christlicher Ethik« in Röm. 12,1 f.: G. Schmidt-Lauber: Luthers Vorlesung über den Römerbrief 1515/1516, 1994, 113–118. Schmidt-Lauber ist sich allerdings – ähnlich wie H.-W. Krumwiede: Glaubenszuversicht und Weltgestaltung bei Martin Luther, 1983 (29–51) und andere Interpreten der Römerbriefvorlesung, die hier die »erste evangelische Ethik« (Krumwiede, aaO 29) finden wollen – nicht ausreichend der Problematik des hier verwendeten Ethik-Begriffs und der eigentümlichen Zuordnung von Rechtfertigung und christlicher Praxis bewußt. 124 Luther verwendet »ethica« nur selten, in der Regel im Zusammenhang mit Aristoteles und seiner Nikomachischen Ethik, also nicht i. S. einer Disziplinbezeichnung als vielmehr i. S. eines Buchtitels (Stellennachweise in: Lateinisches Sachregister zur Abteilung Schriften Band 1–60 [1993], WA 65,259 [s.v. ethica, ethica (-orum)]). Eine WA 56,440,20 vergleichbare Begriffsverwendung findet sich erst sehr viel später in der hinsichtlich der Textgestalt unsicheren Genesisvorlesung (WA 42,478,23 f.*). 125 Zur Begriffsgeschichte: R. Ilgner: Scito te ipsum – Ethica nostra. Zu Herkunft und Bedeutung des Titels von Abaelards Ethik (ThPh 76, 2001, 253–270, hier: 253–256). Abaelard hat wegen des Titels einer seiner Hauptschriften das besondere Interesse der Forschung gefunden, obwohl die Zahl der Belege bei ihm vergleichsweise gering ist (FC 26II,310,25–312,2; CChr.CM 190,85,2231). Aufschlußreicher ist das Didascalicon de studio legendi des Hugo von Sankt Viktor (FC 27,188–190; 220,13 f.). Daß »ethica« nicht nur als Bezeichnung für eine philosophische Teildisziplin oder ein wissenschaftliches Werk gebraucht wurde, zeigt die beiläufige Verwendung im Enchiridion des Erasmus (ed. Holborn 35,27–31).

3.2. Römerbriefvorlesung

175

rende und sie überbietende christliche »Ethik«, in der es gerade nicht um die Ausbildung und Ausrichtung der handlungsleitenden prudentia geht, sondern um deren Auslöschung als widergöttlicher prudentia carnis. Denn der sündige sensus proprius des Menschen kommt nicht davon los, sich durch eigene Werke das Heil verschaffen zu wollen. Er vermag es nicht, die gottgewirkte Neugeburt als Beginn der nicht mehr zur Konstitution des ethischen Subjekts mißbrauchten christlichen Praxis zu verstehen. Im Hintergrund der Rede von der christiana ethica steht so verstanden keine ausgearbeitete ethische Konzeption. Sie eröffnet aber doch einen Zugang zu Luthers Verständnis der vita christiana in der Römerbriefvorlesung. Denn die Kritik an der Überschätzung der menschlichen Möglichkeiten will nicht die Nichtigkeit überhaupt aller Werke behaupten. Das Verwerfungsurteil gilt nur gegenüber der prudentia carnis, nicht gegenüber der christlichen Praxis, die aus der Gottesbeziehung hervorgeht. Auch Luthers Einleitung zu Röm. 1 zeigt, daß die Kritik an der Eigengerechtigkeit und das Interesse an der Rechtfertigung als dem göttlichen Handeln am Menschen das menschliche Handeln nicht generell infragestellen, sondern das christliche Ethos gerade in die rechte Beziehung zum göttlichen Heilshandeln setzen wollen.126 Nach Luther geht es Paulus in Röm. 1–11 um die Vernichtung der menschlichen Eigengerechtigkeit und zugleich um den Erweis der Notwendigkeit der Gerechtigkeit Christi, um dann in Röm. 12–16 im Anschluß an diese grundlegenden rechtfertigungstheologischen Ausführungen zu zeigen, »que et qualia operari debeamus ex ipsa Iustitia Christi accepta«.127 Dabei gilt die Priorität der Person vor den Werken.128 Weil die von Luther besonders betonte Kritik an der menschlichen Eigengerechtigkeit und der Aufweis der Sünde der angemessenen Entfaltung der Rechtfertigung dienen, sind sie als erstes zu behandeln.129 Luther vergleicht diese Abfolge der Darstellung mit dem mit126 127

WA 56,3,6–14+4,11 f.; 157,2–160,11. WA 56,3,12 f.

128 »Quia Coram Deo non ita res se habet, Vt quis agendo Iusta fiat Iustus [...], Sed existendo Iustus facit Iusta« (WA 56,3,13 f.+4,11). Luther belegt diesen in der Folgezeit immer wieder eingeschärften Grundsatz mit dem in der ersten Psalmenvorlesung im selben Sinn verwendeten Verweis auf Gen. 4,4 (WA 55I,110,8–10; 55I,539 [ZGl. zu Ps. 76/77,2]; Nachweis weiterer Belege in Luthers Frühtheologie: G. Ebeling: Luthers Auslegung des 14. (15.) Psalms, Lutherstudien, Bd. 1, 1971, 15373). Gen. 4,4 wird im übrigen auch in der spätmittelalterlichen Theologie i. S. der sachlichen Priorität der Natur vor den Werken verwendet (Biel: Coll. II, d. 26, a. 1, not. 2 [2,501]). Der Grundsatz der Priorität der Person vor den Werken findet sich in der Römerbriefvorlesung sowohl in der positiven wie in der negativen, kritisch gegen Aristoteles und die scholastische Theologie gewendeten Fassung: WA 56,35,21–23+36,1; 172,9–11; 255,18 f.; 268,4–6; 273,7–9; 336,14–17; 364,17 f.; 395,4–7; 418,27–419,18. 129 WA 56,158,10–14.

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3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

telalterlichen Darstellungsschema »de viciis ad virtutes«, das aber problematisch ist, weil es statt der Christusgnade die als Eigengerechtigkeit mißverstehbaren Tugenden in den Mittelpunkt stellt.130 Diese Christusgnade, die der Römerbrief und Luthers Auslegung herausstellen wollen, fällt aus der Perspektive des Menschen mit der humilitas zusammen – und diese ist als umfassende Selbstpreisgabe des Menschen das wahre Christsein und die christliche Vollkommenheit.131 Nach Luthers Deutung will der Römerbrief dazu anleiten, die »bona spiritualia et opera Iusta« für nichts zu achten und auf das Streben nach Lohn vor Gott zu verzichten, um so die Gerechtigkeit Christi und damit das Heil zu erlangen.132 Dabei macht Paulus die Kritik an der Eigengerechtigkeit nicht deshalb zum Thema, weil er hier bei den römischen Christen ein Problem sieht, sondern weil er sie in der Auseinandersetzung mit Juden und Heiden unterstützen will.133 Von den römischen Christen gilt, was von allen Glaubenden gilt: Zum einen sind sie nach Röm. 1,7 Geliebte Gottes, Berufene und Heilige, zum anderen wissen sie durch ihren Christusglauben, daß alle Menschen Sünder und all ihre Werke vor Gott umsonst sind. Die »Summa et intentio Apostoli in ista Epistola« zielt mit ihrem »omnem Iustitiam et sapientiam propriam destruere et peccata atque insipientiam, que¸ non erant (i.e. propter talem Iustitiam non esse putabantur a nobis), rursum statuere, augere et magnificare (i.e. facere, vt agnoscantur adhuc stare et multa et magna esse)«134

also nicht darauf, christliche Praxis grundsätzlich zu problematisieren oder Ideal und Wirklichkeit zu kontrastieren, sondern will vor dem Mißverständnis der guten Werke bewahren und helfen, die im Glauben gegebene Demut zu vertiefen. 130 »magis etiam de virtutibus ad gratiam Christi oportet exponi, Cum eiusmodi virtutes eo maiora et peiora sunt vitia, quo minus se sinunt putari talia et vehementius affectum humanum sibi deuincunt quam omnia alia bona« (WA 56,158,18–21). Diese beiläufige Bemerkung zeigt, daß Luther nicht mehr die Grundannahmen der mittelalterlichen Tugendlehre teilt: daß sich nämlich in den Tugenden das göttliche Gnadenhandeln und die menschliche Eigenverantwortung harmonisch und in voller Wahrung der jeweiligen Eigenheit verbinden. Gleichwohl finden sich immer wieder terminologische und sachliche Bezüge zur Tugendlehre, die für Luther zwar nicht mehr bestimmend ist, ihn aber als mittelalterliches Erbe lebenslang begleiten wird (z.B. WA 56,179,22–25; 193,22–195,18; dazu: R. Schwarz: Fides, spes und caritas beim jungen Luther, 1962, Teil III). 131 WA 56,158,22–159,4. 132 WA 56,159,19–24. 133 WA 56,159,25–160,8. 134 WA 56,3,6–10. Vgl. den Einleitungssatz der Scholien: »Summarium huius Epistole¸ Est destruere et euellere et disperdere omnem sapientiam et Iustitiam carnis (id est quantacunque potest esse in conspectu hominum, etiam coram nobis ipsis), quantumuis ex animo et synceritate fiant, Et plantare ac constituere et magnificare peccatum (quantumuis ipsum non sit aut esse putabatur)« (WA 56,157,2–6).

3.2. Römerbriefvorlesung

177

Im Zusammenhang des Römerbriefs gilt gerade, daß das allem menschlichen Handeln zuvorkommende göttliche Heilshandeln selbstverständlich auf die Fortführung und Entfaltung in Form christlicher Praxis abzielt. Neben der Kritik an der Eigengerechtigkeit des Menschen finden sich darum auch grundlegende positive Aussagen über das christliche Leben in Luthers Überblicken über den Inhalt des Römerbriefs. Die einleitenden Glossen zu Röm. 12135 wenden im Rückgriff auf 1. Kor. 3 und Matth. 7 das Bild vom Fundament und vom Bau auf das Verhältnis von Röm. 1–11 zu Röm. 12–16 an: Allein Christus und nicht die »Iustitia et merita propria« können die Grundlage der christlichen Existenz sein.136 Das heißt aber auch, daß der Christ aufgrund der Christusgerechtigkeit nun seinerseits tätig wird und immerzu auf diese Gerechtigkeit aufbaut: »sicut terra sine nostro studio prebet fundamentum, Ita Christus sine nobis seipsum Iustitiam, pacem, securitatem conscientie¸, vt deinceps [!] bene operantes semper [!] superedificemus«.137

Das Zuvorkommen Christi macht die Werke des Christen nicht überflüssig und stellt in Luthers Frühtheologie auch nicht generell ihre soteriologische Funktion in Frage, sondern weist nur ihre Verzwecklichung i.S. des facere quod in se est ab. Die Konstitution des christlichen Subjekts durch Christus zielt auf die ethische Praxis dieses Subjekts. In den Glossen zu Röm. 12 kann Luther den Zusammenhang der beiden Hauptteile des Römerbriefs darum so zusammenfassen: »Hucusque docuit nouum hominem fieri et nouam natiuitatem descripsit, que dat nouum esse, Iohann. 3. Nunc vero Noue natiuitatis opera docet, Que frustra presumit nondum nouus homo factus. Prius est enim esse quam operari, prius autem pati quam esse. Ergo fieri, esse, operari se sequuntur«.138

Dieser Dreischritt beruht auf Luthers in der ersten Psalmenvorlesung ausgearbeiteter Konzeption vom opus Dei: In unumkehrbarer Abfolge reihen sich das grundlegende Gotteswerk der Konstitution des ethischen Subjekts (pati / fieri als dem opus Dei korrelierende Perspektive des Menschen), das 135 136

WA 56,116,21 f.+117,3–29.

»Ante omnia enim bona opera, que sunt edificium, oportet habere certum et fidele fundamentum, super quo proponat cor stare ac confidere ine¸ternum« (WA 56,117,5–7). »Ideo harenam vocat Bona opera, que¸ illi pro fundamento querunt sue¸ Iustitie¸, pro habitaculo sue¸ conscientie, pro requie cordis, Cum he¸c solus sit Christus ante omnia opera bona; gratis enim dat fundamentum, requiem conscientie¸ et fiduciam cordis, preueniens omne nostrum satisfacere Vel edificare« (WA 56,117,16–20). Auch die Galaterbriefvorlesung verwendet für die Bestimmung des Verhältnisses der beiden Hauptteile das Bild vom Fundament: »Postquam instruxit eos de fide, que est fundamentum, nunc in fine, ut solet, instruit de bonis moribus, qui edificantur supra fundamentum fidei« (WA 57II,40,14–16*). 137 WA 56,117,22–24. 138 WA 56,117,25–29.

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dadurch begründete neue Sein (novum esse, nova nativitas) und das sich daraus ergebende Handeln in Form guter Werke (novae nativitatis opera, operari) aneinander. In den Scholien zu Röm. 12,2 (»sed reformamini«) greift Luther diese Beschreibung der christlichen Existenz als eines mehrstufigen Prozesses auf und umreißt die einzelnen Momente der nova nativitas im Spannungsfeld von Sünde und Gerechtigkeit.139 Der Christ befindet sich stets in der Bewegung des Fortschreitens (profectus)140 von der Sünde zur Gerechtigkeit. Diese Bewegung führt ihn zwar immer weiter,141 doch im Rahmen der irdischen Existenz nie über die bleibende Spannung von Sünde und Gerechtigkeit hinaus. Für Luther gilt beides gleichermaßen: Der Christ ist Sünder, und er ist Gerechter; er findet sich immer noch als alter, äußerlicher Mensch vor und ist doch der neue, innere Mensch, von dem Paulus in Röm. 12,2 spricht. Und beides ist vermittelt miteinander als Geschehen der Rechtfertigung und der Buße: »Nam sicut in Naturalibus rebus quinque sunt gradus: Non esse, fieri, Esse, Actio, passio, i.e. priuatio, Materia, forma, operatio, passio, secundum Aristotelem, Ita et Spiritu: Non Esse Est res sine nomine et homo in peccatis; fieri Est Iustificatio; Esse est Iustitia; opus Est Iuste agere et viuere; pati est perfici et consummari. Et he¸c quinque semper velut in motu sunt in homine. Et quodlibet in homine est Inueniri – respectiue preter primum non esse et vltimum esse, Nam inter illa duo: Non esse et pati currunt illa tria semper, sc. fieri, esse, agere – per Natiuitatem nouam [Joh. 3142] transit de peccato ad Iustitiam, Et sic de non esse per fieri ad esse. Quo facto operatur Iuste. Sed ab hocipso esse nouo, quod est verum non esse, ad aliud nouum esse proficiendo transit per passionem i.e. aliud fieri, in esse melius, Et ab illo iterum in aliud. Quare Verissime homo semper est in priuatione, semper in fieri seu potentia et materia et semper in actu. [...] Semper homo Est in Non Esse, In fieri, In esse, Semper in priuatione, in potentia, in actu, Semper in peccato, in Iustificatione, in Iustitia, i.e. Semper peccator, semper penitens, semper Iustus. Quod enim penitet, hoc fit de non Iusto Iustus. Ergo penitentia Est medium inter Iniustitiam et Iustitiam. Et sic est in peccato quoad terminum a quo et in Iustitia 139 WA 56,441,13–443,8. Die Grundgedanken der Auslegung von Röm. 12,2 sind nicht neu, sondern finden sich bereits zuvor mehrfach. Wegen seines inhaltlichen Gewichts wurde dieser Abschnitt der Römerbriefvorlesung in der Forschung immer wieder behandelt: O. Bayer: Promissio, 21989, 33 f. u.ö. (das Scholion zu Röm. 12,2 ist für Bayer geradezu der Interpretationsschlüssel für Luthers Wort- und Glaubensverständnis in der Römerbriefvorlesung); Th. Dieter: Der junge Luther und Aristoteles, 2001, 335–343. 140 Der profectus-Gedanke ist wie in der ersten Psalmen- so auch in der Römerbriefvorlesung wichtig. Die wichtigsten Belege sind in die folgende Darstellung eingearbeitet. Dabei ist zu beachten, daß im profectus-Begriff der frühen Vorlesungen das soteriologische (profectus iustificationis) und das ethische (profectus novae vitae) Moment ineinanderliegen und daß das Fortschreiten zugleich eine tatsächliche Besserung und ein immer neues Anfangen meint. 141 Und zwar i. S. einer tatsächlichen allmählichen Besserung »de bono in melius velut egrotus de egritudine in sanitatem« (WA 56,441,15 f.). 142 Joh. 3 wird als Bezugstext für die nova nativitas ausdrücklich in der RGl. zum Summarium von Röm. 12 genannt (WA 56,117,25 f.).

3.2. Römerbriefvorlesung

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quoad terminum ad quem. Si ergo semper penitemus, semper peccatores sumus, et tamen eoipso et Iusti sumus ac Iustificamur, partim peccatores, partim Iusti i.e. nihil nisi penitentes«.143

Für Luther ist das christliche Leben ein Prozeßgeschehen, das sowohl durch die iustificatio als auch durch die poenitentia bestimmt ist. Rechtfertigung und Buße sind die Charakteristika christlichen Lebens zwischen Sünde und Gerechtigkeit. Dabei markiert die Rechtfertigung das das Prozeßgeschehen des christlichen Lebens von außen her bestimmende Moment und die Buße das dieses Prozeßgeschehen in seinem Vollzug bestimmende Moment. Man kann auch sagen: Es geht um die rechtfertigungstheologische Vertikal- und Horizontaldimension christlichen Lebens. In der Horizontale ist das christliche Leben Buße als das Geschehen der ständigen Überwindung der Sünde und der sich fortwährend vollziehenden Erneuerung. Von sich aus kommt der Mensch nicht über diese Buße hinaus; er bleibt stets mit seiner Sünde konfrontiert und auf die immer neu vor ihm liegende Rechtfertigung orientiert. Aber obwohl der gerechtfertigte Sünder die Rechtfertigung nur im Modus der Buße hat, obwohl das neue Sein zugunsten des ständigen proficere relativiert wird, so geschieht hier doch tatsächlich eine Erneuerung des Menschen, die bestimmt ist durch die Vertikale der göttlichen Gnade der Rechtfertigung. Die Buße erweist sich so als ein stufenweises und sich ständig wiederholendes Prozeßgeschehen des Gerechtwerdens, Gerechtseins und Gerechthandelns mit dem Ziel der Vollkommenheit und Vollendung. Und wer so in der Spannung von Buße und Rechtfertigung lebt, wer so von Gott durch die Rechtfertigung erneuert wird, diese Erneuerung aber nur als »nihil nisi peniten[s]« hat, ist ein Baum, der nicht nur wächst und blüht, sondern auch Frucht bringt.144 Auch wenn die von Luther in der Auslegung zu Röm. 12 entwickelten Prozeßschemata jeweils die Praxis (operari, agere) des durch Rechtfertigung und Buße neu konstituierten christlichen Subjekts benennen und als selbstverständlichen Teil in das Prozeßgeschehen integrieren, interessiert Luther das weniger als die dem vorangehenden Schritte. Die Römerbriefvorlesung bietet keine systematische Darstellung des christlichen Lebens hinsichtlich des operari, sondern konzentriert sich auf die Elemente des pati (fieri) und esse. Das heißt mit Blick auf unsere Fragestellung: sie konzentriert sich auf das Rechtfertigungsgeschehen als Konstitution des ethischen Subjekts. Bemerkenswert im Vergleich mit den Dictata ist dabei der Perspektivwechsel: Im Vordergrund steht nicht die göttliche Sicht des 143 144

WA 56,441,23–442,22. WA 56,441,22 f.

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3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

Rechtfertigungsgeschehens (iudicium und iustitia), sondern die korrelierende menschliche Perspektive (fides und humilitas). Das zur Gerechtigkeit führende göttliche Heilshandeln wirkt sich beim Menschen im grundlegenden Glauben und in der diesen Glauben entfaltenden prozessualen Rechtfertigungsexistenz aus. Die Dominanz der rechtfertigungstheologischen Reflexion läßt aber auch Raum für weitergehende, dem Zusammenhang von Glaube und christlicher Praxis und den Konkretionen dieser Praxis gewidmete Überlegungen. Im Folgenden soll das Prozeßgeschehen des christlichen Lebens unter Rückgriff auf die gesamte Vorlesung ausführlicher entfaltet werden, und zwar so, daß zuerst relativ knapp die Neukonstitution des christlichen Subjekts durch die Rechtfertigung und dann ausführlicher dessen ethische Praxis zur Darstellung kommen. Die Rechtfertigungslehre der Römerbriefvorlesung verbindet unterschiedliche Gesichtspunkte, die zusammen ein in sich einheitliches und theologisch konsistentes Gedankengefüge bilden.145 Der Schlüssel der analytischen Zergliederung von Luthers früher Rechtfertigungslehre ist die schon angesprochene Unterscheidung von Vertikal- und Horizontaldimension des christlichen Lebens. Bevor es ausführlicher um die Horizontaldimension – die bußtheologisch verstandene Demutsexistenz der Buße und Erneuerung – geht, muß zuvor die Vertikaldimension – die Rechtfertigung 145 Hinsichtlich der Rechtfertigungslehre der Römerbriefvorlesung ist einerseits L. Grane (Modus loquendi theologicus. Luthers Kampf um die Erneuerung der Theologie (1515–1518), 1975) recht zu geben, der betont, daß die Vorlesung als in sich einheitliches Dokument unter steter Berücksichtigung des auszulegenden Bibeltexts gelesen werden muß; andererseits aber auch M. Kroeger (Rechtfertigung und Gesetz. Studien zur Entwicklung der Rechtfertigungslehre beim jungen Luther, 1968) und Th. Jacobi (»Christen heißen Freie«. Luthers Freiheitsaussagen in den Jahren 1515–1519, 10–100), die auf die inneren Spannungen und die gedankliche Entwicklung innerhalb der Vorlesung hinweisen. Die hier vorgelegte Deutung veranschlagt das Moment der theologischen Entwicklung Luthers während der Vorlesung relativ gering. Jacobis Differenzierung von demuts-, gnaden- und glaubenstheologischem Ansatz innerhalb der Auslegung von Röm. 1–8 weist zwar durchaus richtig auf Akzentuierungen innerhalb von Luthers sich durchhaltender Grundkonzeption hin, berücksichtigt aber nicht ausreichend, daß sich diese Akzentuierungen aus dem ausgelegten Text ergeben und sich sachlich durchaus ergänzen. Stärker berücksichtigt werden muß dagegen die von Kroeger herausgearbeitete Spannung zweier konkurrierender rechtfertigungstheologischer Gesamtkonzeptionen. Dabei darf die Spannung allerdings nicht, und in dieser Gefahr steht Kroegers Arbeit, in einer Weise betont werden, die die innere Einheitlichkeit der Vorlesung in Frage stellt. Tatsächlich gelingt es Luther, und hier ist Grane zu folgen, die unterschiedlichen traditionsgeschichtlichen Elemente von Paulus über Augustinus bis zur Mystik in eine in sich konsistente Auslegung zu integrieren. Damit ist allerdings noch nicht Granes Rekonstruktion von Luthers Rechtfertigungsverständnis bejaht; sondern es stellt sich die Frage, wie Luther die an Paulus und dem Psalter gewonnene Theologie der ersten Psalmenvorlesung unter dem Eindruck der erneuten Beschäftigung mit Paulus und Augustinus und im Gegenüber zur spätfranziskanischen Schultheologie weiterentwickelt.

3.2. Römerbriefvorlesung

181

als Gottes Handeln am Menschen – skizziert und der Schnittpunkt beider Dimensionen bestimmt werden.146 Das Grunddatum des Gottesverhältnisses ist die Sünde, die Luther zweifach unterscheidet, nämlich in die sündliche Ausrichtung der menschlichen Existenz und die sich daraus ergebenden einzelnen sündhaften Werke.147 Luther sieht das eigentliche Problem des Menschen nicht in der einzelnen Tatsünde, auch nicht in der Sündenneigung (fomes), sondern in der als concupiscentia charakterisierten inneren Ausrichtung des Menschen. Sie ist das alles Sein und Handeln bestimmende peccatum radicale, von dem der Mensch sich selbst nicht befreien kann und von dem ihn Gott nur so befreit, daß er nicht die Sünde vom Menschen, sondern den Menschen von der Sünde entfernt und von Grund auf erneuert. Diese sündliche Bestimmtheit des Menschen wird greifbar in der prudentia carnis, die sich anmaßt, durch das eigene Handeln Gerechtigkeit zu erlangen, und die gerade darin, d.h. in ihrem scheinbar besten Wollen und Vollbringen, die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, verfehlt. Das Problem der Sünde ist für Luther also nicht so sehr der einzelne sündhafte Akt, ja gar nicht einmal 146 Der hier vorgelegte Überblick über die Vertikaldimension der Rechtfertigung verarbeitet die Glossen und Scholien zu Röm. 1,16 f. (WA 56,9 f.169–173), zu Röm. 3,4 f. (WA 56,31 f.212–234), zu Röm. 4,6–8 (WA 56,41 f.267–291), die Exkurse zur Hamartiologie i.R. der Auslegung von Röm. 4,7 (WA 56,271,1–277,3) und Röm. 5,12–21 (WA 56,312,1–314,18), die Auslegung von Röm. 5,12–21 selbst (WA 56,314–320), die Scholien zu Röm. 7,7–25 (WA 56,339–347.348–354), die Darstellung der prudentia carnis in den Scholien zu Röm. 8,7 (WA 56,361,4–366,12) und die Auslegung von Röm. 10,10 (WA 56,418 f.). Überall in diese rechtfertigungstheologischen Ausführungen hineinverwoben ist Luthers Darstellung und Kritik der scholastischen Anschauung von der Rechtfertigung und der christlichen Existenz. Diese zielt vor allem auf die spätfranziskanische Schultheologie, wie Luther sie in Erfurt kennengelernt hat. Während sich die Thematisierung der Situation des sündigen Menschen vor Gott, die Rechtfertigung des Sünders durch Gott und das christliche Leben im Verhältnis zu dieser Rechtfertigung auch in der ersten Psalmenvorlesung finden, ist die umfassende Scholastikkritik neu. Die Scholastikkritik der Römerbriefvorlesung wird unten (3.3.) im Zusammenhang der frühen Disputationen mitbehandelt. – Neben der oben im Forschungsüberblick angegebenen Literatur sind zu diesem Thema noch zu nennen: R. Schwarz: Fides, spes und caritas beim jungen Luther, 1962, Teil III (hier besonders 259–316); W. Grundmann: Der Römerbrief des Apostels Paulus und seine Auslegung durch Martin Luther, 1964, 74–139; K.-H. zur Mühlen: Nos extra nos, 1972, 93–176. 147 In der Auslegung von Ps. 32,1 f. unterscheidet Luther hinsichtlich der Sünde den fomes und das peccatum actuale, wobei die Sünde im eigentlichen Sinne die innere Ausrichtung des Menschen (fomes, inclinatio ad malum, inclinatio ad peccata, passio, concupiscentia) ist, deren fructus die opera peccati sind (WA 56,271,2–272,2). Ersteres kann Luther auch als Erbsünde bezeichnen, die Paulus zufolge nicht nur, wie für die scholastische Theologie, »priuatio qualitatis in voluntate« ist, sondern vielmehr »priuatio vniuerse¸ rectitudinis et potentie¸ omnium virium tam corporis quam anime¸ ac totius hominis interioris et exterioris« und darüber hinaus auch »pronitas ipsa ad malum, Nausea ad bonum, fastidium lucis et sapientie¸, dilectio autem erroris ac tenebrarum, fuga et abominatio bonorum operum, Cursus autem ad malum« (WA 56,312,6–13).

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3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

das, was als Sünde offensichtlich ist. Vielmehr geht es um die allein Gott offenbare eigentliche Wirklichkeit des Menschen, sein inneres Verkrümmtsein in sich selbst, das gerade unter dem Schein des Guten und Gott Wohlgefälligen nur dem Eigeninteresse dient. Diese Sünde ist eine auch für den Glaubenden lebenslang bleibende, wenn auch ihn nicht mehr bestimmende Wirklichkeit. Denn durch die Teilhabe am Christusheil wird der Mensch gerecht gemacht und die innere Erneuerung beginnt, die den Glaubenden in das Kreuz Christi hineinzieht und die alte Sündenexistenz zerbricht. Zuteil wird dieses Christusheil durch das im Glauben ergriffene Evangeliumswort, das dem Glaubenden die Gerechtigkeit zuspricht.148 Dieses Wort ist zugleich Heilszuspruch und Gerichtswort, weil sich im Gericht über den alten Mensch das Heil vollzieht.149 Der Glaube macht sich dieses Wort zueigen, indem er sich von Gottes Gerichtswort her neu versteht, und zwar als Sünder, und das gerade darin liegende Heil ergreift.150 Das im Wort zugeeignete Heil ist nicht allein und auch nicht vorrangig negativ als Gericht zu verstehen, sondern ist die Setzung einer positiven Heilswirklichkeit.151 Luther macht das deut148 Das in Röm. 1,16 genannte Evangelium ist eine »potentia ad saluandum omnes credentes, siue est verbum potens saluare omnes credentes ipsum. Et hoc per Deum et ex Deo. [...] qui ipsum habet, est potens et sapiens coram Deo et ex Deo, licet propter hoc coram hominibus stultus et infirmus reputetur« (WA 56,10,15–22; siehe auch die entsprechenden Scholien: WA 56,169,27–171,25). Nach Röm. 1,17 (WA 56,171,26–172,15) ist dieses Heil näherbestimmt als Gerechtigkeit, die Zueignung des Heils ist also Rechtfertigung »per fidem euangelii« (WA 56,172,5; eine vergleichbare summarische Formulierung des Zusammenhangs von Rechtfertigung, Heil, Wort und Glaube findet sich in den Sch. zu Röm. 10,6: »tota Iustitia hominis ad salutem pendet ex verbo per fidem« [WA 56,415,22 f.]). Die im Glauben an das Evangelium gegebene Heilswirklichkeit wird von Luther aber sogleich wieder relativiert, wenn er das »ex fide in fidem« (WA 56,172,16– 173,18) als stetiges Fortschreiten auslegt. Daß die Rechtfertigung qualitative Angleichung an das Wort und Verwandlung in das Wort ist, zeigt die Auslegung von Röm. 3,4 f. und Röm. 6,17 (WA 56,227,2–7; 329,25–330,12). 149 Luther unterscheidet Gesetz und Evangelium zwar terminologisch, nicht aber der Sache nach. Zum Wortverständnis in der Römerbrief- und Galaterbriefvorlesung: WA 56,336–339.424–426 und WA 57II,59 f.* sowie die weiteren von O. Bayer (Promissio, 2 1989, Kap. 2) interpretierten Texte. Das reformatorische Verständnis der Realdialektik von Gesetz und Evangelium setzt ein Neuverständnis des Evangeliumsworts voraus und zeichnet sich erst in der Hebräerbriefvorlesung ab. 150 Obwohl der Glaubensbegriff der Römerbriefvorlesung bereits reformatorische Züge aufweist, ist er doch im wesentlichen noch nicht als reformatorisch zu charakterisieren. Denn der Glaube ist nicht als solcher das Heil, sondern er ist ein Teilmoment des Zusammenhangs von göttlicher Gnade, intellectus fidei, Liebesaffekt und ethischer Praxis (WA 56,239,10–13). 151 Die sich durch die ganze Vorlesung ziehende buß- und demutstheologische Relativierung der Gegebenheit des Heils führt nicht zu seiner grundsätzlichen Infragestellung. Vielmehr gilt – um eine von vielen möglichen Belegstellen anzuführen – : »pacem habemus« (Luther korrigiert den Vulgata-Text von Röm. 5,1 vom Konjunktiv zum Indikativ), d.h. »ipsa quietudo conscientie¸ et fiducia in Deum« (WA 56,297,5), weshalb in

3.2. Römerbriefvorlesung

183

lich, indem er zum einen unter Rückgriff auf Augustin von der infusio gratiae und der effektiv-sanativen Rechtfertigung spricht152 und zum anderen mit Hilfe der mystischen Kategorie des extra nos die Beziehung zwischen dem Glauben und der Christusgerechtigkeit betont.153 Zu dieser durch das Wort gesetzten positiven Heilswirklichkeit gehören die konkreten Veränderungen im und am Menschen: Der Geist erweckt im Glaubenden die Gottesliebe, die den Menschen innerlich zurecht bringt, seinen Willen mit der göttlichen Liebe erfüllt, seinen Intellekt und Affekt erleuchtet und befreit und ihn ganz auf Gott ausrichtet.154 Röm. 5 ein »Iucundissimus et gaudio plenissimus Apostolus« die göttliche Gnade und Barmherzigkeit preist (WA 56,49,17–20). Gleichwohl ist in Luthers Verständnis der Zueignung des Heils an den Glauben durch das Wort noch nicht die Heilsgewißheit im reformatorischen Sinn mitgesetzt. Vielmehr verdichtet Luther seine Rechtfertigungsauffassung immer wieder in Formulierungen, die das Gegebensein des Heils aus der Perspektive des Glaubenden relativieren: etwa wenn er Glaube und Demut in engen Zusammenhang bringt – wie in der ZGl. zu Röm. 10,3: »[iustitia Dei] est per fidem Christi et humilitatem obedientie verbi Dei« (WA 56,99,1) –, wenn er das neue Leben nur dem Glauben, nicht der Erfahrung zugänglich sein läßt (WA 56,58,15–17) oder wenn er die Heilswirklichkeit nur im Modus der Verborgenheit unter dem Gegenteil – »Bonum enim nostrum absconditum est et ita profunde, Vt sub contrario absconditum sit« (WA 56,392,28 f.) – für gegeben hält (die schärfste Zuspitzung dieser Relativierung findet sich in der Auslegung von Röm. 9,3 [WA 56,392,17–393,20]). 152 Diesen Aspekt von Luthers früher Rechtfertigungslehre entfaltet M. Kroeger: Rechtfertigung und Gesetz, 1968, 86–117, und zwar ausgehend von einer für die Struktur von Luthers Rechtfertigungsauffassung aufschlußreichen Definition: »[Deus iustificatur] Quando Impios Iustificat et gratiam infundit siue quando Iustus esse in suis Verbis creditur. Per tale enim Credi Iustificat i.e. Iustos reputat. Vnde he¸c dicitur Iustitia fidei et Dei« (WA 56,220,9–11). Hinsichtlich dieses augustinischen Einflusses ist zu beachten, daß bereits das Neue Testament und auch Paulus selbst die Heilszueignung sowohl in imputativ-forensischen als auch in sanativ-eschatologischen Kategorien formulieren (W. Grundmann: Der Römerbrief des Apostels Paulus und seine Auslegung durch Martin Luther, 1964, 162). 153 Hierzu: K.-H. zur Mühlen: Nos extra nos, 1972, 93–176. 154 Sch. zu Röm. 5,5 (WA 56,306,21–309,5); Sch. zu Röm. 8,3 (WA 56,355,7–26); RGl. zu Röm. 8,35 (WA 56,85,18–26). Daß die Gottes- und die mit ihr verbundene Nächstenliebe nicht nur den amor complacentiae meint, sondern eine existentielle Grenzerfahrung, zeigt die von mystischen Gedanken beeinflußte Auslegung von Röm. 8, deren erwählungstheologischer Schlußexkurs (WA 56,383–388) in der Aussage gipfelt: »Sub nomine Amoris Vel charitatis semper Crux et passiones intelligende¸ sunt, [...] Sine quibus anima languescit, tepefit et Dei desiderium negligit nequa sitit ad Deum, fontem viuum« (WA 56,388,21–24). Das geht sogar soweit, daß der Glaubende, wie Luther am Beispiel des Paulus in der Auslegung von Röm. 9,3 erläutert, sich aus Liebe ganz in den Willen Gottes ergibt, auch wenn dieser ewige Verworfenheit bedeutet (WA 56,389,11– 394,5). – Die grundlegende Bedeutung der Gottesliebe für die Römerbriefvorlesung ist näher ausgeführt bei W. Grundmann: Der Römerbrief des Apostels Paulus und seine Auslegung durch Martin Luther, 1964, 77–89. Zur Wandlung der Affekte im Glaubenden, insbesondere zu spes und timor: R. Schwarz: Fides, spes und caritas beim jungen Luther, 276–287. Zum Verhältnis von Luthers theozentrischer zu Augustins »eudämonistischer« Liebesauffassung, die eine »verschiedene Motivierung und Zielsetzung beider Ethik« beinhaltet: A. Hamel: Der junge Luther und Augustin, Teil 2, 1935, 116–130 (Zitat: 132).

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3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

Doch Rechtfertigung, Gnadeneingießung und innere Erneuerung bilden in der Römerbriefvorlesung nur die eine Dimension des Rechtfertigungsgeschehens. Denn weil die Sünde auch für den Glauben eine weiterhin bleibende Wirklichkeit ist und darum Rechtfertigung, Gnade und Erneuerung in der Gefahr stehen, vom Menschen mißverstanden und mißbraucht zu werden, gehört es nach Luther zur Vollgestalt der Rechtfertigung auch, daß der Glaubende sie eben im Modus des Glaubens hat; d.h. als ihm fremde, die Erneuerung erst initiierende, immer durch das Sündenbekenntnis und das Bittgebet relativierte Gerechtigkeit. Gerade weil die Vertikaldimension der Rechtfertigung für Luther so zentral ist, weil hier im Gottesverhältnis die entscheidende Wende der christlichen Existenz geschehen ist, bettet Luther diese Vertikaldimension in die Horizontaldimension der bußtheologisch verstandenen Demutsexistenz ein. Diese überwindet in stetem Fortschreiten die Sündenreste und macht die zugerechnete Gerechtigkeit in Gestalt einer allmählich werdenden tatsächlichen Gerechtigkeit anschaulich. Die innere Dialektik der beiden Dimensionen der Rechtfertigung, der stete Umschlag vom Glauben zur Demut und zurück, verbürgt für Luther die Reinheit sowohl der Rechtfertigung aus Glauben als auch des Lebens in der Buße. So verstanden, bieten weder die Rechtfertigung noch die Buße die Möglichkeit, sich eigener Gerechtigkeit zu rühmen. Die Horizontal- und Vertikaldimension der Rechtfertigung hängen eng miteinander zusammen und gehen immer wieder ineinander über. So findet sich der für die Römerbriefvorlesung zentrale Demutsbegriff in beiden Sachzusammenhängen. Das dem Glauben entsprechende Selbstgericht als Sünder meint sowohl das Sündenbekenntnis vor Gott als auch die Einübung des Sünderseins des Gerechtfertigten in der täglichen Frömmigkeitspraxis. Damit ist Luthers Rechtfertigungslehre in der Römerbriefvorlesung so konzipiert, daß sie im Rechtfertigungsverständnis selbst den Ansatzpunkt für ein bußtheologisch verstandenes Ethos enthält und damit auch Struktur, Grundgedanken und Grenze einer theologischen Ethik. So sehr Luther das menschliche Handeln problematisiert, wenn es nämlich zur Selbstrechtfertigung dienen soll und damit die Alleinwirksamkeit Gottes zum Heil unterläuft, so wenig ist damit eine grundsätzliche Infragestellung intendiert. Ja, läßt man sich nicht von der ausführlichen, immer neu ansetzenden Polemik Luthers gegen die Eigengerechtigkeit und die sie legitimierende mittelalterliche Theologie ablenken, dann zeigt sich sogar, daß Luther der auf Gnade beruhenden christlichen Praxis eine bestimmte Heilsrelevanz zusprechen kann.155 155 Daß in Luthers Kritik an der scholastischen Lehre vom liberum arbitrium, facere quod in se est und meritum de congruo als Gnadendisposition nicht notwendig bereits

3.2. Römerbriefvorlesung

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Wie sich die von Luther anhand von Röm. 12,2 als Rechtfertigung aus Glaube und Buße in Demut im Spannungsfeld von Sünde und Gerechtigkeit näherbestimmte christliche Existenz konkret vollzieht, wird in anderen Teilen der Vorlesung näher ausgeführt. Viele Einzelmotive werden immer wieder aufgegriffen und variiert, selten aber behandelt Luther einen bestimmten Aspekt ausführlicher.156 Für die Horizontaldimension der Rechtfertigung ist die innere Spannung von Distanzierung von der Sünde und Zuwendung zur Gerechtigkeit bestimmend. Damit entspricht sie strukturell der hoch- und spätscholastischen Rechtfertigungs- und Bußauffassung, für die sich die Lebenswende des Christen im Doppelakt der Zuwendung zu Gott und der Abwendung von der Sünde realisiert.157 So soll im Folgenden zuerst der negative Aspekt des »nihil nisi penitentes«158 und dann der positive Aspekt der »Vita curationis a peccato«159 entwickelt werden, die jedoch aufs engste miteinander und mit der Vertikaldimension der Rechtfertigung verbunden sind. Die enge Verbundenheit der Rechtfertigung aus dem Glauben mit einem bestimmten Selbstverständnis und Vollzug des christlichen Lebens zeigt die Forderung des demütigen peccator fieri in der Auslegung zu Röm. 3,4f.160 Nachdem Luther im Anschluß an die paulinische Aufnahme von Ps. 50/51,6 in mehreren Anläufen ausführlich die Rechtfertigungslehre dargestellt hat,161 fügt er ein Corollarium über die Notwendigkeit der Andie Ablehnung des meritum de condigno als der Verdienstlichkeit des auf Gnade beruhenden menschlichen Handelns impliziert ist, zeigt R. Schinzer: Die doppelte Verdienstlehre des Spätmittelalters und Luthers reformatorische Entdeckung, 1971, 34–39. Die Römerbriefvorlesung stellt den Leser immer wieder vor die Frage, ob und wie weit Luther über die augustinische Gnadenlehre hinausgekommen ist. Denn Luther lehnt zwar wie Augustin eine kausative menschliche Beteiligung hinsichtlich der Gnadenzueignung ab. Er scheint damit aber selbstverständlich zum einen die rezeptive menschliche Beteiligung an der Gnadenzueignung und zum anderen die Forderung auf der Gnade beruhender und hinsichtlich des ewigen Lebens meritorischer Praxis zu verbinden. 156 Wichtige Aussagezusammenhänge sind etwa: Gesetz und Werke (zu Röm. 3 f.); die Tötung des alten Menschen (zu Röm. 6); der Christ im Selbstwiderspruch als Sünder und Gerechter (zu Röm. 3.4.7); die neue Ordnung von Freiheit und Liebe (zu Röm. 12–15). 157 Thomas von Aquin: S. th. 1a 2ae, q. 113, a. 6, resp.; Biel: Coll. IV, d. 5, qu. un., K I (4 ,221,6–8), d. 14, q. 2, E (4I,455,84–458,167); J. Altenstaig, J. Tytz: Lexicon Theologicum, 1619, 473. Für Luthers Römerbriefvorlesung gilt aber, daß hier nicht mehr von einem »motus liberi arbitrii« die Rede sein kann. Obwohl die gegenseitige Verschränkung von Vertikal- und Horizontaldimension der Rechtfertigung noch nicht der späteren reformatorischen Rechtfertigungslehre mit ihrer kategorialen Entflechtung entspricht, so gilt doch für Luthers frühe Vorlesungen durchweg, daß das göttliche Wirken (opus Dei) allem menschlichen zeitlich wie sachlich vorgeordnet wird. 158 WA 56,442,21. 159 WA 56,275,26. 160 WA 56,231–233. 161 WA 56,209–231.

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3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

erkennung der eigenen Sünde aus dem Glauben und über die Auswirkungen dieser Anerkennung auf das christliche Leben hinzu. Er schärft hier mit Blick auf die dem Menschen nicht offensichtliche Sündenwirklichkeit ein, »sola fide credendum est nos esse peccatores, Quia non est nobis manifestum, immo sepius non videmur nobis conscii«.162

Das Sündersein muß aber nicht nur mit dem Mund bekannt, sondern auch innerlich und im Handeln mitvollzogen werden: »Vbi te talem [sc. peccatorem, iniustum, mendacem, insipientem] ore fassus fueris, Ita etiam de te firmiter in corde sentias ac in omni opere et vita geras te huiusmodi«.163

Die Anerkennung des Sünderseins gibt es nicht ohne Bedrängnis und Leiden. Wer sich äußerlich und innerlich als Sünder anerkennt, muß die Konsequenzen tragen: nämlich sich in die Sünderexistenz mit ihren Strafen und Nöten (poena, confusio, iniuria, ignominia, contumelia, flagellum, damnum, morbus, tentatio) einleben (peccatorem agere, peccator fieri)164, und darf nicht das Schicksal eines Gerechten beanspruchen. Diesem äußerlichen Aufsichnehmen der Sündenfolgen entspricht der innere Nachvollzug im »spiritualiter fieri [...] peccator[]«165 durch die Veränderung der Selbsteinschätzung und die Selbstanklage und Selbstverurteilung als Sünder: »tota Vis huius mutationis latet in sensu seu e¸stimatione ac reputatione nostra. Hunc enim mutare intendit omnis sermo Scripture¸ et omnis operatio Dei«.166

Luther warnt aber vor dem Mißverständnis, daß wegen dieser Selbsteinschätzung als Sünder nun die guten Werken zu unterlassen seien – weil sie etwa als ein diese Selbsteinschätzung gefährdender manifester Ausdruck von Gerechtigkeit mißverstanden werden könnten –; sondern die innerliche Selbstnegation geht selbstverständlich einher mit den äußerlichen guten Werken, denen zwar keine unmittelbare soteriologische Relevanz zukommt, die aber als auf die Gerechtigkeit vorbereitende Werke in einem bestimmten Verhältnis zur Rechtfertigung stehen.167 162

56,231,9–11. 56,231,22–24. 56,232,2.34. 56,233,5 f. 56,233,7–9. 167 »Alioquin studiosissime fieri eiusmodi debent aut omni feruore exerceri, eo scil. fine, vt per ipsa tanquam preparatoria tandem apti et capaces fieri possimus Iustitie¸ Dei, Non vt sint Iustitia, Sed vt querant Iustitiam. Ac per hoc iam non sunt Iustitia nostra, dum nos ipsa non pro Iustitia nobis imputamus. Parare enim illis omnibus oportet viam Domini venturi in nobis. Non autem sunt via Domini. He¸c est enim Iustitia Dei, quam presens Dominus post illa in nobis efficit solus« (WA 56,233,14–33). Zu den opera praeparatoria siehe unten S. 195. WA WA 164 WA 165 WA 166 WA 163

3.2. Römerbriefvorlesung

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Diese eigentümliche Spannung zwischen dem geforderten Selbstverständnis als Sünder und den damit einhergehenden guten Werken wird in Luthers Auslegung von Röm. 7 näher ausgeführt.168 Im Anschluß an Augustinus und im Unterschied zur mittelalterlichen Auslegungstradition sieht Luther in Röm. 7 die Selbstdarstellung des Christen Paulus, der sich im Selbstwiderspruch von geistlichem und fleischlichem Menschen vorfindet, und Luther deutet diese Erfahrung des Christen durch die Unterscheidung der »statim« geschehenden Heilung von der Schuldverfallenheit und der »paulatim« geschehenden Heilung von der Schwäche.169 Wenn nun der geistliche Mensch beklagt, daß er tut, was er nicht will, heißt das nicht, daß der in der gläubigen Annahme des göttlichen Gerichtsworts sich als Sünder wissende Mensch nichts Gutes und nur Böses tut, sondern daß er das Gute in zu geringem Maße und aus unzureichender Motivation tut.170 Aus Glauben zum Sünder geworden zu sein, heißt also, sich angesichts einer äußerlich christlichen, vielleicht sogar monastischen Praxis des Zurückbleibens hinter dem Ideal des freien und fröhlichen, aus ganz reiner Motivation hervorgehenden Handelns bewußt zu werden. Damit ist die Deutung von Röm. 7 auf den Christen entschärft, weil der sich als Sünder wissende Glaubende ja nicht äußerlich unchristlich lebt, sondern nur einen Mangel der inneren Motivation aufweist, der zudem dank der vom Heiligen Geist angestoßenen gnadenhaften inneren Erneuerung nicht dauerhaft bleiben wird. Dennoch wird mit dieser Deutung der Selbstwiderspruch nicht aufgelöst, in dem sich der Christ nach Luthers Deutung von Röm. 7 vorfindet und den Paulus hier beklagt. Denn obwohl die Gleichzeitigkeit von Sündersein und Gerechtsein, wie sie die in unterschiedlicher Gestalt verwendete Formel »simul peccator et iustus«171 behauptet, die Gleichzeitigkeit zweier unterschiedlicher Weisen des Selbstverständnisses, nämlich aus der Perspektive Gottes und des Menschen, meint,172 ist das 168 169

WA 56,63–73.334–354. WA 56,70,22 f. In den Glossen und Scholien zu Röm. 7 wird immer wieder Au-

gustin zitiert, und zwar mit Aussagen, die die momenthafte Sündenvergebung und die prozeßhafte Heilung von der noch vorhandenen, wenn auch nicht mehr zugerechneten Sünde verbinden. 170 WA 56,341,27–342,5. Luther versucht diese gezwungene Interpretation von Röm. 7 durch die Differenzierung zwischen Tun (facere) und Vollbringen (perficere) zu stützen (WA 56,342,7–16; vgl. WA 57II,102,6–18*), die die am Anfang der Auslegung von Röm. 7 entwickelte Unterscheidung von moralisch-metaphysischer und theologisch-geistlicher Betrachtungsweise (WA 56,334,3 f.) aufnimmt. 171 WA 56,70,9 f.; 268,27 f.; 269,29 f.; 272,17 f.; 343,18 f.; 344,31–345,2; 347,2–4; WA 57I,165,12 f. 172 Luther stellt die unterschiedlichen Benennungen der beiden Perspektiven im Sch. zu Röm. 4,7 (WA 56,268,27–270,13) ausgehend vom Leitsatz »Sancti Intrinsece sunt peccatores semper, ideo extrinsece Iustificantur semper« (268,27 f.) zusammen: Die Ge-

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3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

Sündersein für den Glaubenden eine bedrängende Wirklichkeit. Und weil der Glaubende sich als Sünder weiß, weil er durch das Gerichtswort Gottes zum Sünder gemacht wird und weil er dieses Gericht durch sein Sündenbekenntnis und Bittgebet innerlich und äußerlich annimmt, erweisen sich das simul peccator et iustus von Röm. 7 und die Forderung des peccator fieri als ein theologisch wie existentiell schwer zu bewältigender Selbstwiderspruch. Das Sündersein des Christen will ganz und gar ernst genommen werden, ohne daß damit aber die begonnene innere Erneuerung und die äußerlich dem Gotteswillen konforme Praxis in Frage gestellt ist. Auch Röm. 6 legt Luther als Entfaltung der existentiellen Konkretion der Horizontaldimension der Rechtfertigung aus.173 Dem Summarium zufolge geht es Paulus darum zu zeigen, »in peccatis non esse manendum / et quod sit virtuose operandum«.174 Die Zeilen- und Randglossen zu Röm. 6 führen diese Inhaltsangabe weiter aus. Wer in den Tod Christi getauft ist, ist mit ihm durch die spiritualis et salutaris mors der Sünde und der Welt gestorben und auf geistliche Weise begraben, um ein neues, geistliches Leben im proficere zu führen.175 Der alte, fleischliche, leibliche, zur Sünde der concupiscentia geneigte Mensch ist mit Christus gekreuzigt und wird »per assiduum noue vite¸ profectum«176 zerstört. Das Ende der Sünde und die anhebende Neuheit des Lebens ist aber keine Erfahrungstatsache, sondern kann nur geglaubt und gehofft werden.177 Der sich von der Sünde distanzierende und an Christus haltende rechtfertigende Glaube ist das entscheidende Signum des neuen Lebens. Neben ihm hat aber auch die in Röm. 6,19 geforderte Heiligung (sanctificatio) ihren Ort. Diese ist hier als eine alle Christen betreffende Verpflichtung zu verstehen.178 Denn die rechten sind zugleich (»simul«) Sünder (»Intrinsece«, »in nobis«, »in nostris oculis«, »in nostra estimatione«, »ex nobis«, »in conspectu meo«, »sibiipsis et in veritate«, »Re vera peccatores«, »Scienter«) und gerecht (»extrinsece«, »apud Deum«, »in reputatione eius«, »non ex nobis nec ex operibus, Sed ex sola Dei reputatione«, »reputatione miserentis Dei«, »Ignoranter«, »in spe«). 173 WA 56,56–63.320–333. 174 WA 56,56,8 f. 175 WA 56,57 f. 176 WA 56,58,9. 177 WA 56,58,15–18. 178 Im Hintergrund steht allerdings nach wie vor die Zwei-Stufen-Ethik. Was die Pflicht aller ist, können bestimmte Gruppen in besonderer Weise leisten (»quod perfecte faciunt, qui omnino continent, diuitias contemnunt, honores fugiunt« [WA 56,62,29+ 63,19]). Siehe auch das Sch. zu Röm. 6,19 (WA 56,332,14–333,5), wo Luther die vollkommene Tötung des Fleischs in der Strenge des Rats (consilium) der Ehelosigkeit verbürgt sieht, wovon Paulus hier aber mit seinem »humanum dico« dispensiert (»velut relaxans«). In solchen Aussagen liegt eine latente Abwertung der Ehe und der innerweltlichen Ordnungen.

3.2. Römerbriefvorlesung

189

iustitia fidei geht nach Röm. 6,22 einher mit der Frucht der »merita et bone¸ conscientie¸ gaudia«, die zur Heiligung, d.h. zur purificatio et castificatio corporis et animae beitragen.179 Die Scholien zu Röm. 6 vertiefen die Auslegung der Glossen. Mit Augustin bezieht Luther Röm. 6 auf den Widerstreit zwischen Fleisch und Geist im Glaubenden.180 Das geistliche Gestorbensein gegenüber der Sünde und das geistliche Leben für Gott muß bis zum Ende des irdischen Lebens gegen das corpus peccati streiten. Weil Gott den Sündenleib haßt, befiehlt er auch den Christen, »ipsum odire [sic] [...] et destruere ac mortificare et petere exitum ab ipso et ›aduenire regnum eius‹«.181

Und dieser Widerstand gegen den Sündenleib vollzieht sich in Bußwerken: »hoc odium et he¸c resistentia corporis peccati non est leuis, Sed laboriosissima, Ad quam necessaria sunt tot opera penitentie¸, quot fieri possunt, pre¸sertim Cautela ocii«.182

Der geistliche Mensch ist wie Christus abgewandt von der Welt, auch wenn er noch in der Welt ist, und läßt sich mit Freude von der Welt verachten.183 Mit der Taufe auf den Tod Christi hat ein Prozeß der Vervollkommnung begonnen, bei dem der Getaufte sich diesen Tod im eigenen Handeln aneignet, um durch ihn zum ewigen Leben zu gelangen.184 Mit Blick auf Röm. 6,6 präzisiert Luther die Stoßrichtung der mortificatio, indem er mit Augustin die Zerstörung des Sündenleibes geistlich versteht als Widerstreit gegen die innerliche Sündenneigung und die concupiscentia des alten Menschen, die mit »laboribus penitentie et crucis« gebrochen und von Tag zu Tag gemindert und getötet werden müssen.185 Dabei teilt er die Erwartung von Röm. 6,14, daß der Glaubende nicht mehr unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade steht. Er kann dem regnum peccati wirksam entgegentreten und die begonnene Gerechtigkeit vervollkommnen.186 Die Sünde ist also auch für den geistlichen Menschen noch gegenwärtige Macht; aber gerade die Anfechtung durch die Sünde, auch durch 179

56,63,6–8. 56,320. 56,321,17 f. 56,321,19–21. 56,324,5–15. 56,324,15–23. Es lassen sich anhand ihrer Reaktion auf diese mortificatio drei Gruppen von Menschen unterscheiden: Die erste Gruppe sind die »Impatientes crucis et mortificationis«, die nicht sterben wollen; »Alii vero patiuntur, sed cum multo sensu et difficultate ac gemitu, Sed tamen superant, Vt saltem patientier moriantur. Durum est iis contemni et fastidiri ab omnibus«; »Tercii autem, qui, Vt dixi, cum gaudio ingrediuntur hanc mortem, quos Christus cum Valido clamore vt fortissimus Gygas moriens significauit« (WA 56,324,24–32). 185 WA 56,325,22–326,10. 186 WA 56,329,20–23. WA WA 181 WA 182 WA 183 WA 184 WA 180

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3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

die Todsünden, dient der Vervollkommnung der Gerechtigkeit des geistlichen Menschen.187 Die Scholien zu Röm. 6 schließen mit der betonten Rückbindung der Heiligung und Kasteiung des Leibes an den Glauben: »Nam idem Vult per sanctificationem et mundiciam intelligere, ipsam scil. corporis castitatem, non quamcumque, Sed que¸ ex spiritu fidei sanctificante ab intra venit. [...] per fidem prius anima castificanda est, Vt sic anima sancta corpus mundum faciat propter Deum, alioquin vana erit castitas. [...] Si ergo seruiatur Iustitie¸, iam talis seruitus secum affert sanctificationem [...]. Qui credit et Iustus est in spiritu, eo ipso iam luxuriam facile vincit et captiuat. Econtra qui seruit Immundicie¸ i.e. luxurie¸ et pollutioni corporis, iam regnante peccato super ipsum fit Iniustus magis ac magis, quia fide amissa iam incredulus est«.188

Die hier anhand der Auslegung von Röm. 3, Röm. 6 und Röm. 7 entfalteten bußtheologischen Konkretionen des christlichen Lebens lassen sich durch zahlreiche weitere Aussagen aus der gesamten Vorlesung ergänzen. Die zeigen zum einen das Ineinander von Glaube und Demut und zum anderen die sich aus dieser Verschränkung von rechtfertigungstheologischer Vertikal- und Horizontalperspektive ergebende Forderung radikaler Selbstnegation.189 Eines der beiden Charakteristika christlichen Lebens ist das Sündenbekenntnis, die Selbstverurteilung, die Tötung des alten Menschen, das willige Aufsichnehmen des Leidens, die Anfechtung und Bedrängnis. Und damit liegt Luther ganz auf der Linie der bußtheologischen Verinnerlichung und Verschärfung, wie sie gerade in der monastischen Observanzbewegung programmatisch gefordert und praktiziert wurde. Die Ausführungen der Römerbriefvorlesung haben aber gegenüber der monastischen Tradition dadurch ein eigenständiges Profil, daß Luther immer wieder auf die Predigten Johannes Taulers zurückgreift und sein Rechtfertigungsverständnis mystisch akzentuiert.190 Die Beschäftigung mit 187 188 189

WA 56,331,15–31. WA 56,333,11–27.

Zu nennen ist hier beispielsweise Luthers Auslegung von Röm. 5,3–5 (WA 56,300– 306), wo er die Anfechtung (tribulatio, tentatio) als wichtigen Teil der christlichen Existenz würdigt, indem sie in Beziehung zum Schicksal Christi bringt, die Sünde und Schwäche des Menschen aufdeckt und so zu einer notwendigen Bedingung des Heils wird. 190 Die Luther spätestens seit 1515/16 bekannten Taulerpredigten sind der früheste eindeutig zu identifizierende Einfluß der deutschsprachigen Mystik auf Luther. Da Luthers Beschäftigung mit Tauler und daraufhin mit der Theologia deutsch erst in die Zeit der frühen Paulusvorlesungen fällt, als Luthers Frühtheologie bereits in der Entwicklung begriffen ist, kann der deutschsprachigen Mystik kaum größere Bedeutung für ihre Entstehung zugesprochen werden, wohl aber für manche sprachliche und inhaltliche Ausformung. Daß die Römerbriefvorlesung mystische Einflüsse aufweist, ist eine seit den frühesten Forschungsarbeiten (F. Loofs: Leitfaden zum Studium der Dogmengeschichte, 41906, 709 f.) vielfach wiederholte Beobachtung. Der traditionsgeschichtliche Nachweis im einzelnen und dessen sachliche Bewertung wird aber nur in wenigen Arbeiten eigens thematisiert; wichtig sind vor allem: K.-H. zur Mühlen: Nos extra nos, 1972, 101–116; Th. Dietz: Der Begriff der Furcht bei Luther, 2009, 143–160.

3.2. Römerbriefvorlesung

191

Tauler bestärkt Luther darin, den Vollzug des christlichen Lebens nicht nur durch die fortwährende Selbstnegation, sondern auch durch das vorausgehende Erleiden des göttlichen Wirkens am und im Menschen bestimmt zu sehen. Luther nennt Tauler ausdrücklich in der Auslegung zu Röm. 8,26, wo er dem göttlichen Wirken im Menschen die umfassende innerliche und äußerliche Passivität des Menschen gegenüberstellt.191 Aber auch an anderen Stellen, wo Luther keinen expliziten Verweis auf Tauler gibt, läßt sich eine inhaltliche und sprachliche Anlehnung vermuten. Denn während der Römerbriefvorlesung las Luther die Predigten Taulers und machte Randbemerkungen, die sich mit Aussagen der Römerbriefvorlesung parallelisieren lassen.192 Der Verweis auf Tauler in der Auslegung zu Röm. 8,26 läßt sich mit zwei ausführlicheren Randbemerkungen Luthers in einem Druck mit Taulerpredigten in Verbindung bringen. Zu Taulers erster Predigt weist Luther dem Gottesverhältnis, das in der Passivität der vita contemplativa gelebt wird, den Vorrang vor der innerweltlichen vita activa zu.193 Charakteristisch für Luthers teilweise Umdeutung Taulers ist dabei sein Bemühen, die vita activa gegenüber der vita contemplativa zu ihrem Recht kommen zu lassen. Er gesteht einerseits zu, daß die operatio virtutum und der Kampf gegen die vitia im Rahmen der vita activa die vita contemplativa behindern, der es nur um quies, pax und silentium geht. Andererseits aber macht er die durch die biblischen Frauengestalten Lea und Martha versinnbildlichte vita activa mit ihrer Abgrenzung gegen die passiones, vitia und mala opera zur Voraussetzung der in Rahel und Maria versinnbildlichten vita passiva.194 Mit diesen Randbemerkungen erweist Luther sich als 191 »De ista patientia Dei et sufferentia« – sc. »Capaces [...] tunc sumus operum et consiliorum eius [Dei], Quando nostra consilia cessant et opera quiescunt et efficimur pure passiui respectu Dei, tam quoad interiores quam exteriores actus« (WA 56,375,22– 24) – »vide Taulerum, qui pre ce¸teris hanc materiam preclare ad lucem dedit in lingua teutonica« (WA 56,378,13 f.). 192 WA 9,95–97.97–104. Einen Überblick und eine treffende Bewertung zu diesen Randbemerkungen und ihrem Zusammenhang mit der Römerbriefvorlesung gibt Brecht 1,138 f. Ausführlicher und unter Einbeziehung sowohl der Theologie Taulers wie der Frühtheologie Luthers werden sie interpretiert von H. Otto: Vor- und frühreformatorische Tauler-Rezeption. Annotationen in Drucken des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts, 2003, 183–214. 193 WA 9,98,14–34. 194 Vgl. die Bestimmung der Liebe als plenitudo legis, die sich im Spannungsfeld von vita activa (Martha) und vita interior (Maria) als äußere Praxis der Werke und inneres Gerechtwerden vollzieht, wobei Luther ausdrücklich auf die Werke als Begleitumstand der Gerechtigkeit (»cum operibus«) hinweist: »Tota enim vita activa ideo ›turbat Martham erga plurima‹, ut ocium preparetur Marie i.e. vite interiori. Inde recte dictum est ab doctoribus rationem date legis esse hanc, sc. ut populus tot oneribus pressus et occupatus vitaret malum, ad quod pronus erat, ac sic apcior fieret ad bonum interioris iusticie. Igitur neque sine operibus neque ex operibus, sed cum operibus salus et iusticia potest haberi, ea tamen differentia, ut quantum crescit interior et proficit, tantum minuantur opera foris« (WA 57II,68,23–30*). Eine ähnlich Aufwertung der vita activa ohne Infragestellung des Vorrangs der vita contemplativa zeigt die möglicherweise schon 1514, vielleicht aber auch erst 1517 entstandene Predigt De assumptione Beatae Mariae Virginis (WA 4,645–650; zur Datierung: O. Bayer: Promissio, 21989, 87316), deren Bedeutung in der Verbindung der Unterscheidung von Aktivität und Kontemplation mit

192

3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

kirchlich verantwortungsbewußter Theologe und Ordensmann, der die Kontemplation und die Innendimension christlichen Lebens nicht isoliert, wie er es ja auch im Studium selbst gelernt und in seiner eigenen Lehrtätigkeit vermittelt hat. Das Interesse Luthers gilt aber trotz dieser Umakzentuierung von Taulers erster Predigt nicht einer Entschärfung der mystischen Leidensforderung, sondern gerade deren Einschärfung, wie sie die Randbemerkungen zur 45. Predigt zeigen.195 Denn entscheidend ist ja das Gottesverhältnis: das heilvolle Wirken Gottes im Menschen, das sich gegen die vom tiefsten Inneren des Menschen, in seinem Eigensinn und Eigenwillen, ausgehende Sünde richtet,196 und dem der Mensch nur in der völligen Selbstpreisgabe des Willens in nacktem Glauben entsprechen kann.197 Gottes Wirken im Menschen beginnt mit der Zerstörung des Menschen durch Kreuz und Leiden. Das ist vom Menschen in Glauben (»nudi stamus in mera fide«) auf sich zu nehmen. Der Mensch darf sich nicht gegen das Leiden sträuben oder nur ein ihm genehmes Leiden hinnehmen. Gott handelt im Menschen gerade gegen das, was der Mensch will und erstrebt, um so den Menschen von Grund auf zu erneuern und ihm die ihm zukommende göttliche Form zu verleihen. Gefordert ist »indifferentem et nudam voluntatem habere ad quancunque ferendam, quando, ubi, quomodo, per quem voluerit deus«.198

Die intensive biblische Durchdringung der bußtheologisch und mystisch akzentuierten Horizontaldimension der Rechtfertigung bedeutet keinen Bruch mit dem spätmittelalterlichen Hintergrund, sondern dessen konsequente Fortführung. Allerdings deutet sich auch schon eine Entwicklung an, die über den spätmittelalterlichen Rahmen hinausführt. Dadurch näm-

der Christusbeziehung besteht. Denn der Christ wird durch die Passionsmeditation in das Leben und Leiden Christi hineingezogen und steht damit in der Existenzgemeinschaft mit Christus, ja, er lebt gar nicht mehr selbst, sondern Christus lebt in ihm. Und dieses Leben in der Christusgemeinschaft realisiert sich auf zweierlei Weise: »Quidam intus colliguntur in unum et foris disperguntur in multa, ut sancti in vita activa, qui semper habent Christum in corde, foris multis operibus occupati: ii non opera eligunt, sed ad omnia sunt parati, quaecunque invenerit manus eorum aut quaecunque eis imposita fuerint, non habentes differentiam inter magna et parva, inter vilia et honesta: omnia sunt eis eadem. [...] Plerique colliguntur intus et foris in unum, ut qui in contemplativa degunt vita et alii quicunque quietis sensibus intendunt devotis meditationibus, in silentio et pausa operationum corporalium, quia totis viribus sese in Christum convertunt« (WA 4,649,22–32). Diese Rückführung der vita activa und contemplativa auf die Christusgemeinschaft ist kaum mehr vereinbar mit dem herkömmlichen Verständnis der Unterscheidung und die eben zitierten Sätze verweisen bereits auf Luthers spätere reformatorische Konzeption des christlichen Lebens voraus, das vita activa und contemplativa zusammenfaßt und beides durch den Gedanken der Existenzgemeinschaft mit Christus zu etwas Neuem umformt. 195 WA 9,102,10–103,11. 196 »Et id summe notandum, quod nihil in nobis i.e. in veteri homine deus ita destruere quaerit quam proprium sensum et voluntatem: iis enim tanquam capitibus et fontibus praecisis caetera etiam membra et vires peccati velut rivi et rami arescunt radice siccata« (WA 9,103,7–11). 197 »tota salus est resignatio voluntatis in omnibus [...] sive in spiritualibus sive temporalibus. Et nuda fides in Deum« (WA 9,102,34–36). 198 WA 9,103,6 f.

3.2. Römerbriefvorlesung

193

lich, daß Luther die rechtfertigungstheologische Horizontaldimension der stückweisen Überwindung der Sünde und des allmählichen Gerechtwerdens soteriologisch entlastet und sie der Vertikaldimension, d.h. der im Glauben an das Wort geschenkten fremden Gerechtigkeit Christi, nachordnet. Schon die Entfaltung des negativen Aspekts des christlichen Lebens in Gestalt der bußtheologischen Konkretionen des »nihil nisi penitentes« weist immer auch auf den positiven Aspekt der »Vita curationis a peccato« hin.199 Luther thematisiert diesen auch selbständig, dann aber auch umgekehrt unter Berücksichtigung des negativen. Denn die Heilung von der Sünde ist nichts weiter als die Kehrseite der Tötung des alten Menschen, so wie das mortificari immer zugleich ein sanari ist. Das soll an zwei Textzusammenhängen der Vorlesung exemplarisch aufgezeigt werden, nämlich an der Auslegung von Röm. 3 und 4, wo es um das Gesetz und die Werke geht, und an der Auslegung von Röm. 12–15, wo Luther die Existenz unter der nova lex als Leben in Freiheit und Liebe entfaltet.200 Die Auseinandersetzung des Paulus mit den Gesetzeswerken in Röm. 3f. wird von Luther vor dem Hintergrund der glaubenstheologisch gefassten Rechtfertigungslehre interpretiert. Das Verhältnis dieser Gerechtigkeit, die im Glauben an das Evangeliumswort besteht und Christi fremde Gerechtigkeit zueignet, zu den auf sie bezogenen Werken ist durch den im Scholion zu Röm. 1,17 programmatisch entwickelten Grundsatz bestimmt, daß die von Gott geschenkte Gerechtigkeit »precedit opera et opera fiunt ex ipsa«.201 Röm. 3 thematisiert daran anschließend die soteriologische Insuffizienz des Gesetzes und der Gesetzeswerke. Dabei geht es Luther aber um eine differenzierte Betrachtung der Bedeutung des Gesetzes und der Gesetzeswerke für den Christen. Diese Ausführungen finden sich nicht erst in der Auslegung von Röm. 3,19–31, wo der Bibeltext selbst von der lex und den opera legis spricht, sondern bereits in der Auslegung von Röm. 3,4 f. (Ps. 50/51,6). Die Frage der Werke wird im 199

Die von Augustins sanativem Rechtfertigungsverständnis angeregte Begrifflichkeit und Bildwelt von Krankheit und Heilung zieht sich durch die ganze Vorlesung (WA 56,70,22 f.; 235,21 f.; 268,10–14; 271,24; 272,3–273,2; 275,11–16.26–28; 276,2 f.8 f.; 351,17– 22; 347,9–14; 441,15 f. u.ö.) und ist eng verbunden mit der glaubenstheologischen Akzentuierung der Rechtfertigung. 200 Vgl. die Auslegung von Gal. 2.3.5, in der Luther seiner Kritik der Gesetzeswerke und der Eigengerechtigkeit positiv eine auf dem Glauben beruhende und sich gemäß dem geistlich verstandenen Gesetz als Liebe realisierende christliche Praxis gegenüberstellt (hier vor allem: WA 57II,17.22.40.63 f.68–74.79 f.99–102*). Auch der Galaterbrief kritisiert nicht die Gesetzeswerke als solche, sondern nur ihre soteriologische Verzwecklichung (WA 57II,63,8–22*). 201 WA 56,172,10 f.

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3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

Rahmen der Auslegung von Röm. 3 dann wieder in den Glossen und Scholien zu Röm. 3,20 aufgegriffen. Für Luther kann es keine Rechtfertigung aus Werken geben, weil das Gerechtsein den gerechten Werken vorangeht: »Ex iustificatione et Iustitia prehabita fiunt opera legis. Non enim Iusti sumus, quia operamur secundum legem, Sed quia Iusti sumus primo, ideo demum operamur legem«.202

Die Scholien erläutern diese auf der Rechtfertigung beruhenden Werke weiter.203 Denn nach Luther geht es Paulus mit seiner Verneinung einer Rechtfertigung aufgrund von Gesetzeswerken nicht darum, eine Rechtfertigung ganz ohne Werke zu behaupten, was sich nicht mit Aussagen wie Jak. 2,14–26, Gal. 5,6 und Röm. 2,13 verträgt, sondern darum, Gesetzesund Glaubenswerke zu unterscheiden: »Opera legis dicit, que¸ fiunt extra fidem et gratiam et ex lege per timorem cogente Vel promissionem temporalium alliciente facta. Opera autem fidei dicit, que¸ ex spiritu libertatis amore solo Dei fiunt. Et he¸c fieri non possunt nisi a Iustificatis per fidem, ad quam Iustificationem opera legis nihil cooperantur, immo vehementer impediunt, dum non sinunt hominem sibi iniustum videri et Iustificatione indigentem«.204

Die neutestamentliche Forderung guter Werke richtet sich gegen diejenigen, die meinen, »fidem sine operibus suis sufficere«.205 Der rechtfertigende Glaube schließt zwar Gesetzeswerke aus, nicht aber die ihm eigenen Werke: »Igitur Iustificatio requirit non opera legis, Sed viuam fidem, que¸ sua operetur opera«.206

Ein Corollarium zu Röm. 3,20207 ergänzt die Ausführungen zu den auf den Glauben folgenden Werken durch die Beschäftigung mit den auf die Rechtfertigung vorbereitenden Werken, die ebenfalls von den Gesetzeswerken abgegrenzt werden. Denn opera legis sind nach Paulus die Werke, die »tanquam sufficientia per se putantur esse ad Iustitiam et salutem«, d.h. die durch die Intention des Handelnden als Gesetzeswerke qualifiziert sind. Das Gesetz wird aber nicht durch Werke, sondern durch die Gnade erfüllt, die auch allein rechtfertigt.208 Die davon zu unterscheidenden po202

WA 56,35,21–23+36,1. WA 56,248,5–250,16. 204 WA 56,248,11–17. Zu den opera fidei und zum Zusammenhang von Glaube und Werken siehe auch WA 56,21,16; 22,26–29; 264,22–26; 271,11–13; 332,4 f. Die Galater203

briefvorlesung erläutert das operari des Glaubens in Gal. 5,6 als die energia und efficacia des Glaubens, kraft derer die fides »operosa et efficax, potens seu, ut dicitur, activa et actuosa« ist (WA 57II,38,21 f.*). 205 WA 56,249,6 f. 206 WA 56,249,10 f. 207 WA 56,254,18–255,19. 208 WA 56,255,4 f.19.

3.2. Römerbriefvorlesung

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sitiv gewerteten Werke verhalten sich zur durch die Gnade geschenkten Gerechtigkeit aber nicht nur als selbstverständliche Folge (opera fidei), sondern auch als Vorbereitung (opera praeparatoria), wobei gerade auch diese Werke nicht soteriologisch verzwecklicht werden dürfen.209 Ein Corollarium zu Röm. 3,21210 warnt vor dem Mißverständnis des im Zusammenhang der Rechtfertigung stehenden Handelns. Wer »in gratia« »opera bona« tut und meint, so die Gerechtigkeit zu haben, macht die »opera gratie¸« zu »opera legis«. Stattdessen kommt es darauf an, nicht bei der Gnade und dem Handeln aus der Gnade stehenzubleiben, sondern »he¸c opera bona velut preparatoria estimare«211 und sich im ständigen Fortschritt der Rechtfertigung zu befinden: »omnia opera Iusta et in gratia facta sunt preparatoria ad sequentem profectum Iustificationis«.212 Der Christ ist »in anteriora extentus, oblitus posteriorum siue precedentium«.213 ›Vorbereitend‹ sind diese Werke nicht in dem Sinn, daß sie die Rechtfertigung in irgendeiner Weise mitbewirken, sondern es handelt sich um Werke aufgrund des Glaubens, die sich für den Glaubenden, der sich im steten Fortgang der Rechtfertigung befindet, immer auch als der Rechtfertigung vorangehend erweisen. Opera fidei und opera praeparatoria sind also nicht unterschiedliche Werke, sondern unterschiedliche Wahrnehmungen derselben Werke. Die Rechtfertigung ist in einen Prozeß eingebettet, bei dem man zwar aus Gnade handelt, doch bei diesem Handeln nie stehenbleiben, ja des eigenen Gerechtseins nicht sicher sein darf, sondern die eigentliche Gnade als zukünftige erwartet. Christliche Existenz ist damit letztlich weder das gegenwärtige Sein in der Gnade noch das gegenwärtige Handeln aus der Gnade, sondern die humilitas als Grundhaltung des Ausgerichtetseins auf eine innerhalb des menschlichen Horizonts niemals gegenwärtig greifbar werdende, sondern immer nur vorausliegende 209 »fiunt preparatorie ad Iustificationem acquirendam« (WA 56,254,19 f.). »Bona sunt illa opera, quia non in ipsa confidunt, Sed per ea ad Iustificationem se parant, in qua sola confidunt Iustitiam suam futuram« (WA 56,254,30–255,2). Es geht um ein Handeln, das von der Anerkenntnis und dem Haß der eigenen Sünde sowie vom Verlangen nach Gnade und der Liebe zu Gott begleitet ist, das aber nicht meint, durch gute Werke gerecht werden zu können. »nec opera precedentia nec sequentia Iustificant, quanto minus opera legis! Precedentia quidem, quia preparant ad Iustitiam, Sequentia vero, qui requirunt iam factam Iustificationem. Non enim Iusta operando Iusti efficimur. Sed Iusti essendo iusta operamur. Ergo sola gratia Iustificat« (255,15–19). Von den opera praeparatoria ist bereits in der Auslegung von Röm. 3,4 f. die Rede (WA 56,233,26–29). 210 WA 56,259,8–261,9. 211 WA 56,259,13. 212 WA 56,259,14 f. Der profectus ist hier in dem Sinn zu verstehen, wie Luther ihn zu Röm. 13,11 auf die knappe Formulierung bringt: »proficere, hoc est semper a nouo incipere« (WA 56,486,7). 213 WA 56,259,17 f.

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3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

soteriologisch und ethisch erfüllte Gnadenwirklichkeit. Gegen Ende der Auslegung von Röm. 3 faßt Luther dann sein Verständnis dieses Kapitels hinsichtlich der vita christiana prägnant zusammen: »tota Vita populi noui, populi fidelis, populi spiritualis Est gemitu cordis, voce operis, opere corporis non nisi postulare, querere et petere Iustificari semper vsque ad mortem, Nunquam stare, nunquam apprehendisse, Nulla opera ponere fidem adepte¸ Iustitie¸, Sed tanquam adhuc semper extra se habitantem expectare, Se vero semper in peccatis adhuc viuere et esse«.214

Zu Röm. 3,28 (»sine operibus legis Iustificamur«) wiederholt Luther dann noch einmal kurz einige bereits bekannte Gedanken.215 Gesetzeswerke sind die Werke, die in der Intention getan sind, dadurch Gerechtigkeit zu erlangen und sich dieser erlangten Gerechtigkeit zu rühmen, ohne weiter auf die vorausliegende Rechtfertigung ausgerichtet zu sein. Überhaupt können Werke als solche das Gesetz nicht erfüllen, »cum lex sit spiritualis, requirens cor et voluntatem, quam impossibile est ex nobis habere«.216 Und er schließt Röm. 3,31 (»legem statuimus«)217 aufnehmend damit, daß das Gesetz durch den Glauben nicht aufgehoben, sondern aufgerichtet wird, weil die lex »bona et Iusta« ist und allein »per fidem et gratiam« erfüllt und bestätigt wird. Diese Beschränkung der paulinischen Gesetzeskritik auf das Mißverständnis und den Mißbrauch des an sich guten und gerechten Gesetzes, das auf die Erfüllung durch den Glauben und die Gnade zielt, ermöglicht es Luther, das Gesetz als positive Leitgröße des christlichen Ethos herauszustellen.218 Ja, Luther kann an Augustin anknüpfend das Willigwerden vor dem Gesetz und die Gesetzeserfüllung als Zweck der Gnadengabe verstehen.219 So zeigen seine Grundsatzüberlegungen zu Röm. 14,220 daß die Christen unter der nova lex stehen, die dem Glaubenden volle Freiheit für die Praxis des Glaubens läßt und ihn nur auf die Liebe verpflichtet. Die Freiheit besteht zum einen darin, daß der Glaube um die soteriologische Irrelevanz der Werke weiß, zum anderen, daß er sich freiwillig aus Liebe dem Nächsten gegenüber bindet. Einen ähnlichen Zusammenhang von neuem, d.h. geistlich verstandenem Gesetz, Freiheit und Liebe entwickelt 214

56,255,16–21. 56,264,21–34. 56,264,32 f. 56,40,2–6. Vgl. WA 56,263,16–29. 218 R. Schwarz: Fides, spes und caritas beim jungen Luther, 1962, 388–413. – Zur Auslegung von Röm. 2,12–15, in der gezeigt wird, daß der Mensch das Gesetz kennt und es zu befolgen, wenn auch nicht in seinem eigentlichen Sinn zu erfüllen vermag: L. Grane: Luthers Auslegung von Röm. 2,12–15 in der Römerbriefvorlesung (in: Ders.: Reformationsstudien, 1999, 25–35). 219 Dazu M. Kroeger: Rechtfertigung und Gesetz, 1968, 86–117. 220 WA 56,493,15–498,12. WA WA 216 WA 217 WA 215

3.2. Römerbriefvorlesung

197

Luther auch in der Auslegung von Röm. 7,6, wo er die Freiheit vom Gesetz durch Glaube und Gnade als Freiheit und Freiwilligkeit zu den Gesetzeswerken in der Liebe bestimmt.221 Die positive Konkretion der christlichen Existenz durch die Forderung der Nächstenliebe ist das bestimmende Thema der Auslegung von Röm. 12,6–15,4. Denn während Röm. 1–11 davon handelt, »quomodo erga Deum nos habere oporteat, Scil. per renouationem mentis et Sanctificationem corporis, Vt probemus, Que¸ sit voluntas Dei«, beginnt mit Röm. 12,6 ein neuer Gedankengang: »Hic nunc vsque in finem Epistole¸ docet, Quomodo erga proximum [nos habere oporteat], Et latissime explicat preceptum hoc diligendi proximi«.222

Wir greifen aus den umfangreichen Ausführungen die zwei wichtigsten Gedankenkomplexe heraus: zum einen anhand der Auslegung von Röm. 12,9–12, 13,10 und 15,2 Luthers Näherbestimmung dessen, was mit Liebe gemeint ist, zum anderen anhand der Auslegung von Röm. 13,1 und 14,1 die innere Einheit von Freiheit im Glauben und Selbstbindung an die kirchlich-weltlichen Ordnungen in der Liebe.223 Luthers Auslegung von Röm. 12,9 (»dilectio sine simulatione, odientes malum, adherentes bono«) nimmt die paulinische Mahnung zu ungeheuchelter Liebe auf und grenzt sich kritisch gegen das Liebesverständnis der scholastischen Theologie ab.224 Es gilt die ganze Strenge des neutestamentlichen Liebesgebots, das keine Abschwächungen und Ausnahmen kennt, sondern sowohl die entsprechende innere Einstellung als auch die efficacia operis fordert. Dementsprechend wendet sich Luther immer wieder gegen ein unzureichendes Verständnis und eine unzureichende Praxis der Nächstenliebe. Er kritisiert die Theorie von der intentio virtualis, die es ermöglicht, sich vom eigentlich Geforderten zu dispensieren. Er kritisiert das Ausweichen vor dem Dienst am Nächsten mit Verweis auf die vermeintlichen Pflichten im Gottesverhältnis und er kritisiert die Widerwilligkeit des Gehorsams, wenn er denn einmal tatsächlich geleistet wird.225 Zugleich gilt, daß die diesem Laxismus entgegenstehende monastische Leistungs221

WA 56,66,22–31. Diese Randglossen müssen vor dem Hintergrund der Scholien zu Röm. 7,6 (WA 56,336–339) gelesen werden, wo Luther die Grundzüge seiner hermeneutisch-soteriologischen Unterscheidung von tötendem Buchstaben und lebendigmachendem Geist (2. Kor. 3,6) entwickelt. 222 WA 56,451,32–452,2. 223 In der Galaterbriefvorlesung ist die Auslegung zu Gal. 2,3 f. (WA 57II,13.63 f.*) zu vergleichen, die die durch die Nächstenliebe motivierten Gesetzeswerke für verpflichtend erklärt und gerade darin die christliche Freiheit bestätigt sieht. 224 WA 56,460,20–461,31. 225 WA 56,56,15–18; 463,12–14; 464,19–29; 473,28–474,4; 500,14–501,14. Zu Luthers Auseinandersetzung mit der scholastischen Moraltheologie anhand des Theorieelements der intentio virtualis: Holl 1,167–175.

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3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

frömmigkeit mit ihren dem freien Willen abgerungenen guten Werken ebenfalls nicht der biblischen Forderung entspricht, sondern letztlich pelagianisch ist.226 Das Liebesgebot ist weder im einen noch im anderen Sinne zu verstehen. Im Unterschied zum traditionellen ordo diligendi, der Gott, die eigene Seele, die Seele des Nächsten und den eigenen Leib als Liebesobjekte unterscheidet und behauptet, die charitas ordinata beginne mit der Selbstliebe,227 sieht Luther in der Selbstliebe gerade das Gegenteil des im Liebesgebot Geforderten und stellt Selbst- und Nächstenliebe gegeneinander.228 Allerdings differenziert Luther im Gefolge der mittelalterlichen Auslegung des Liebesgebots bei der Nächstenliebe zwischen unterschiedlichen Adressaten. Die Nächstenliebe gilt primär den Mitchristen und erst dann den Nichtchristen und Feinden.229 Ganz abgelegt hat Luther das herkömmliche Liebesverständnis also noch nicht, was auch an der inhaltlichen Füllung der Nächstenliebe erkennbar wird. Die Liebe richtet sich auf das bonum duplex des neuen Menschen: zum einen auf Gott, der allein im Glauben ergriffen wird, und zum anderen auf die »Castigatio veteris hominis et bonorum exercitatio«,230 indem der Christ seinen alten Menschen diszipliniert und sich mit allen Gütern und der ganzen Person dem Dienst am Nächsten hingibt. Dabei entgrenzt und radikalisiert Luther allerdings die Liebesforderung: »Vide, quam nihil sibi retineat Charitas et solum ea querat, que sunt aliorum. Supra docuit, quomodo substantias et facultates in alios conferre debemus, scil. tribuendo, Miserendo et diligendo etc., deinde Quomodo et honorem et opinionem bonam 226

WA 56,502,29–503,4. Luthers Kritik an den veräußerlichten und quantifizierenden Frömmigkeitsleistungen entspricht aber noch nicht der 1520 programmatisch entfalteten These, alle aus dem Glauben getanen Werke seien gleichwertig. Das zeigt sich an Aussagen wie der, daß dem »superbus, Qui multa fe¸cerat in vita sua« im Gericht seine Frau, die nichts weiter getan hat, als Kinder zu gebären, vorgezogen wird, »Quia omnia opera tantum habent dignitatis, quantum habent apud Deum reputationis. Nunc autem potest vilissima reputare et paucissima, econtra plurima et maxima refutare« (WA 56,428,6–8). Dabei beruht die göttliche reputatio der Werke nicht auf ihrem Hervorgehen aus dem Glauben, sondern auf ihrem Begleitumstand der Demut (»Sed in humilitate facienda sunt, tunc Deus non refutat ea« [WA 56,428,9 f.]). Es gilt: »Ideo Mire stulti sunt hodie, qui cumulant, vt sibi videtur, multa bona opera et grandia, Arbitrantes ideo esse bona, quia sunt laboriosa, multa et sibi visa bona. Sed frustra. Humilitatis opera sola bona sunt, Quam illi penitus ignorant« (WA 56,428,10–13). 227 Die Grundaussagen der mittelalterlichen Liebestheologie zum ordo diligendi gehen zurück auf Augustinus (De doctrina christiana: I,42f.57 f.84.86.95) und sind zusammengefaßt bei Petrus Lombardus (Sent. III, d. 29). 228 WA 56,390,23–391,6; 482,24–27; 516,30–518,21; WA 57II,100,23–101,3*. Den Rückverweis des Liebesgebots »wie dich selbst« versteht Luther nicht als selbstverständliche Voraussetzung der Selbstliebe, sondern als Aufdeckung der Verkehrtheit des alten Menschen. 229 WA 56,120,11+121,1 f.; 462,2 f.; 463,2 f. 230 WA 56,460,29–461,31. Zitat: 461,7 f.

3.2. Römerbriefvorlesung

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apud nosipsos. Nunc etiam seipsum docet offere dicens, Quod ad obsecundandum, obsequendum, succurendum proprio corpore, Vt est loqui, agere, assistere iis, qui opus habent«.231

So verstanden erweist sich die Liebe nach Röm. 13,10 als »plenitudo legis«232 und Inbegriff christlicher Praxis. Das Liebesgebot scheint nicht besonders komplex zu sein, erweist sich aber im konkreten Lebensvollzug als überreich an Weisung.233 Die Anwendung des Liebesgebots verlangt zwar nichts weiter als die Orientierung an der Goldenen Regel der Bergpredigt, es führt damit aber sogleich zu einem tugendhaften Leben in Gnade und Heiligkeit im umfassenden Sinn: »Qui autem vult ruminare et applicare hoc preceptum, [...] debet [...] omnia opera, dicta, cogitata totius vite¸ sue¸ ad illud preceptum Velut mensuram suam conferre Et semper dicere sibi de proximo suo: Quid velles tu ab illo tibi fieri? Quod cum viderit, incipiat et faciat similiter et illi, Et statim cessabit contentio, detractio, dissensio Et erit presens totum virtutum collegium, omnis gratia, omnis sanctitas Et, vt hic dicit: ›plenitudo Legis.‹«.234

Auf diese Weise wird der Mensch von der verkehrten Ausrichtung auf sich selbst vollkommen frei und damit frei zum selbstlosen Dienst am Nächsten. Ja er schlüpft geradezu in die Person des Nächsten und handelt mit der Spontaneität und Autonomie der sich selbst genügenden Liebe, die keiner ihr fremden Normierung oder Verzwecklichung unterliegt: »Qui hec faceret, Veniret perfecte ad suorum defectuum cognitionem et humiliationem atque timorem Dei, Qui alias manet securus et sanctus sibi. Quia sepius Inueniret sese non tantum pigrum ad proximum Iuuandum, cum tamen Inueniat se velle omnes esse bene affectos, diligentes, fouentes in se, Verum etiam inimicum et falsum fratrem ergo suos fratres, immo detractorem et plenissimum omnibus peccatis. [...] [Charitas] facit hominem abnegare se et affirmare alium, Et induere affectum proximi exuto affectu suo, Se ponere in personam proximi Et tunc Iudicare, quicquid vellet illum facere sibi Vel ei fieri ab ipso Vel aliis. Et Inueniet, quid facere debeat, infallibili doctrina. Qua omissa Multiplicantur precepta et non peruenitur, quo tenditur«.235 231 WA 56,463,6–12. Diese so umfassend verstandene Liebe ist die »Charitas [...] rotunda et universalis, immo eterna« (WA 57II,102,1 f.*). 232 WA 56,482,20–485,15. In der Röm. 13,10 entsprechenden Einschärfung des Gebots der Nächstenliebe in Gal. 5,14 sieht Luther den Schnittpunkt von lex naturae, lex scripturae und lex gratiae, indem hier die vollkommenste virtus (die Liebe, »que est intimum omnium operum, liberrimum atque facillimum«) das würdigste obiectum (der Nächste) und das überzeugendste exemplum (die Selbstliebe) als Leitlinie des Handelns geboten werden: »Ergo omnia propriissime et efficacissime comprehendit hoc precepto« (WA 57II,101,3–18*). 233 »licet hoc preceptum superficie et in genere conspectum exiguum videatur, Si tamen ad particularia applicatur, infinitas doctrinas saluberrime effundit Et in omnibus dirigit fidelissime« (WA 56,483,15–18). 234 WA 56,484,5–11. 235 WA 56,484,21–485,9.

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3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

Daß Luther das Liebesgebot und die Spontaneität und Autonomie der Nächstenliebe hochschätzt,236 heißt aber nicht, daß ihm das Gesetz und die äußeren Ordnungsstrukturen der christlichen Existenz gleichgültig sind. Er folgt damit der von Paulus selbst in Röm. 12–15 entfalteten doppelten Akzentuierung, daß christliches Leben sich als Liebespraxis aufgrund des Glaubens in den Gegebenheiten der Welt und der christlichen Gemeinde vollzieht. Hinsichtlich der Welt macht das Luther in seiner Auslegung von Röm. 13,1 deutlich.237 Wichtig ist hier die für Luthers spätere reformatorische Theologie charakteristische Bestimmung der Welt als des Orts christlicher Existenz. Luther legitimiert die innerweltlichen Herrschaftsstrukturen (ordo saecularis, potestas) und ihre Funktionsträger als von Gott eingesetzt und damit – abgesehen von ihrer Bosheit und Gottlosigkeit im Einzelfall – als gut. Weil von der christlichen Existenz gilt: »in hac Vita Interior homo non potest esse sine exteriori«,238 ist der Christ nicht nur zum Gehorsam gegenüber dem für die Anleitung des inneren Menschen zuständigen ordo ecclesiasticus, sondern auch zum Gehorsam gegenüber dem für die Anleitung des äußeren Menschen zuständigen ordo saecularis verpflichtet. Daß es sich dabei nicht um ein schiedlich-friedliches Nebeneinander von Gottes- und Weltbeziehung handelt, zeigt die dialektische Vertiefung, zu der Luther seine Auslegung weitertreibt und die sich mit sachlicher Notwendigkeit aus der theologischen Grundkonzeption der Römerbriefvorlesung ergibt. Er bringt nämlich die Zweiheit von Geistlichem und Weltlichem, von innerem und äußerem Menschen mittels einer auf die Doppelthese der Freiheitsschrift vorausverweisenden Unterscheidung mit der Dialektik von Freiheit und Knechtschaft in Verbindung: Der Glaubende ist durch den Geist frei und mit Christus Herr über alles; zugleich aber hinsichtlich seiner leiblichen Existenz gerade deshalb in die innerweltlichen Ordnungsstrukturen eingebunden.239 Wie aber 236 Die sich in der Römerbriefvorlesung andeutenden Überlegungen zur Spontaneität und Autonomie der christlichen Praxis sind nur ansatzweise ausgeführt, Luther entfaltet sie aber bald weiter. So ist in der Galaterbriefvorlesung der neue Menschen der gute Baum (Mt. 7,16–18), der vom Gesetz frei ist (1. Tim. 1,9) und das Gute selbstverständlich tut (WA 57II,42,12*; 43,18–20*; 105,23–28*). 237 WA 56,123 f.476–482. Hier mag man zwar auch Anklänge an die ›Zweireichelehre‹ (W. Grundmann: Der Römerbrief des Apostels Paulus und seine Auslegung durch Martin Luther, 1964, 134) und Ansätze zu einer politischen Ethik finden (G. SchmidtLauber: Luthers Vorlesung über den Römerbrief 1515/1516, 1994, 118–133), ertragreich ist die Auslegung von Röm. 13 aber hinsichtlich dieser Themen nicht. 238 WA 56,124,13 f. 239 »Anima est medium inter corpus et Spiritum; Vt ergo ostendat, Quod fidelis simul et semel est exaltatus super omnia et tamen subiectus, Et sic Gemellus duas in se formas habens, sicut et Christus. Nam secundum spiritum est super omnia. [...] Quia per fidem subiicit sibi he¸c omnia fidelis, dum non illis afficitur neque in ea confidit, Sed cogit ea

3.2. Römerbriefvorlesung

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läßt sich die Freiheit durch den Glauben und die Bindung an die innerweltlichen Strukturen zusammendenken? Luther beantwortet die Frage nach dem Verhältnis der von Paulus immer wieder gebotenen Unterordnung zu der von ihm gleichfalls häufig angesprochenen christlichen Freiheit240 mit dem Hinweis auf die Liebe. Der gegenseitige Dienst der Christen in der Liebe ist der Einheitspunkt, der die Freiheit im Glauben und die Knechtschaft gegenüber dem Nächsten innerlich verbindet und beides als eins erweist: »Aliam seruitutem optimam appellat Gal. 5[,13].: ›Seruire Inuicem per charitatem‹, de qua dicit, Quod, cum liber esset, omnium se seruum fe¸cit [1. Kor. 9,19]. Que seruitus est summa libertas, Quia nullus eget, non accipit, Sed dat et exhibet. Ideo est vere libertas optima et propria Christianorum«.241

Auch hinsichtlich der Kirche und ihrer Ordnungen und Strukturen versteht Luther die christliche Freiheit nicht als deren Infragestellung, sondern findet in der Liebe das beide verbindende Moment. Das zeigt in gedrängter Formulierung bereits der Einleitungssatz von Luthers Exkurs zu Röm. 14,1, der neues Gesetz und Freiheit, Glaube und Liebe ins Verhältnis zueinander setzt: »In Noua Lege omnia sunt Libera et nulla necessaria iis, qui credunt in Christo, Sed sufficit ›Charitas‹ (Vt ait) ›de corde puro et conscientia bona et fide non ficta‹ [1. Tim. 1,5]«.242

Obwohl der Glaubende im Rahmen der nova lex der äußeren Ordnung und kirchlichen Strukturen nicht mehr bedarf, sorgt die Liebe doch für die Beibehaltung eben dieser Strukturen als der Ermöglichung der freien, spontanen Selbstbindung im Dienst an Gott und am Nächsten.243 Luthers Relativierung der äußeren Ordnung zielt gerade darauf, die Sphäre des sibi seruire ad gloriam et salutem. Quod Est Deo seruire et sic regnare et spirituale regnum [...]. Igitur Spiritus fidelium Nulli est aut esse potest subiectus, Sed est cum Christo in Deo Exaltatus, omnia he¸c sub pedibus suis habens [...]. ›Anima‹, Que est idem spiritus hominis, Sed inquantum viuit et operatur, in sensibus ac temporalibus occupatur, debet esse ›subiecta omni etiam Creature¸ humane¸ propter Deum‹. Qua subiectione Deo obedit et idem cum Deo vult; ideo iam per eam subiectionem superat illa« (WA 56,476,5–26). »Tria sunt in homine, Corpus, Anima, spiritus; Anima medium vtriusque. Corpus subiectum est potestati, Sed consentiente et volente anima ac Iubente spiritu, qui est Liber super omnia« (WA 56,480,18–20). 240 WA 56,480,20–482,18. Luther verweist auf Gal. 5,13; Gal. 2,4; 1. Kor. 6,12; 1. Kor. 7,23; 1. Kor. 9,19 f.22. 241 WA 56,481,24–26. 242 WA 56,493,15–17. 243 Exkurs zu Röm. 14,1 (WA 56,493,15–498,12) sowie die Auslegung von Röm. 14,1 selbst (WA 56,492 f.498–504). Der Text ist durchsetzt mit Beispielen und Verweisen, die sich auf das Klosterleben beziehen. Luther legt Röm. 14 am Beispiel des Lebenskontexts aus, in dem er selbst und ein Großteil seiner Zuhörer stehen. Seine Verbindung von Freiheit und Liebe ist aber nicht bloß eine Vertiefung der monastischen Reform seiner Zeit, sondern ist von grundsätzlicher Bedeutung für alle Christen.

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3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

Äußerlichen mit Glaube und Liebe zu durchdringen und damit das ganze Leben zu heiligen.244 Das wird besonders am Mönchsgelübde deutlich, das zwar auch der Relativierung aller äußerlichen Ordnung durch die nova lex unterliegt, aber als Selbstbindung in Liebe und freiwilliges Aufsichnehmen des Kreuzes geradezu die Konkretion christlichen Lebens wird, in der die nova lex ihre wahre Verwirklichung findet.245 Freilich führt diese Einschärfung des Liebesgehorsams gegenüber den bestehenden kirchlichen Ordnungen (»obedientia ex charitate debita Deo et Ecclesie«)246 nicht dazu, daß Luther die Augen vor den Mängeln der gegenwärtigen Kirche verschließt. Die Liebe macht nicht blind, sondern erkennt den Widerspruch von Rechtfertigung aus Glauben und soteriologischer Verzwecklichung der kirchlichen Ordnung und bemüht sich um eine Erneuerung der Kirche von innen her. Luther fordert darum nachdrücklich, die kirchlichen Vorschriften einzuschränken, weil sie im Volk das Mißverständnis nähren, ihre Einhaltung sei heilsrelevant, und weil sie damit von der Sorge für den inneren Menschen ablenken.247 Die christliche Freiheit ist also weder der weltlichen noch der kirchlichen Ordnung gegenüber gleichgültig, sondern sie unterwirft sich ihr in Liebe, um in den gegebenen Struk244 »ad Nouam Legem Non pertinet aliquos dies deputare pro ieiunio, alios vero non, Vt lex Mosi fe¸cit. Nec pertinet aliquos cibos excipere et discernere, Vt carnes, oua etc. [...] Nec pertinet aliquos dies festos et alios non festos deputare. Nec pertinet illas Vel illas Ecclesias e¸dificare aut sic ornare aut sic cantare. Deinde Nec organa Nec altarium decora, Calices, Imagines et omnia, que nunc in templis habentur. Tandem nec necesse Est sacerdotes et religiosos radi aut distinctis habitibus incedere, sicut in lege veteri. Quia hec omnia sunt Vmbra et signa rerum et puerilia. Sed omnis dies est festus, omnis cibus est Licitus, omnis locus est sacer, omne tempus est Ieiunii, omnis habitus est Licitus; omnia libera, tantum vt in iis modestia seruetur Et Charitas ac reliqua, que docet Apostolus« (WA 56,493,27–494,7). 245 WA 56,497 f. Zu Luthers mit der monastischen Tradition nicht brechenden, sondern diese vertiefenden und damit auch festigenden Anschauungen über das Mönchtum in der Römerbriefvorlesung, zu denen auch die Unterscheidung von Räten und Geboten, das Vollkommenheitsideal, das Demutsideal, das vertiefte Sündenverständnis u.a. gehören: B. Lohse: Mönchtum und Reformation, 1963, 278–311 (zu Luthers Exkurs zu Röm. 14,1: 302–309). Lohse relativiert aufgrund seiner Gesamteinschätzung der Römerbriefvorlesung die Bedeutung der traditionellen Elemente in Luthers Anschauungen über das Mönchtum und sieht bei Luther die »Zweistufen-Ethik« zugunsten der »Einheitlichkeit des Lebensideals« überwunden (aaO 300 f.). Das wird aber weder der Ambivalenz der Rechtfertigungsanschauung der Römerbriefvorlesung noch der Selbstverständlichkeit, mit der Luther hier die spätmittelalterliche Kirchlichkeit voraussetzt und weiterentwickelt, gerecht. 246 WA 56,496,32. 247 »Sic etiam Vtile esset totum pene decretum purgare et mutare Ac pompas, immo magis ceremonias orationum ornatumque diminuere. Quia he¸c crescunt in dies Et ita crescunt, Vt sub illis decrescat fides et Charitas, Et nutriatur Auaritia, superbia, Vana gloria, immo quod peius est, Quod illis homines sperant saluari, Nihil solliciti de interno homine« (WA 56,497,12–17).

3.2. Römerbriefvorlesung

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turen Gott und dem Nächsten zu dienen. Obwohl Luthers Auslegung von Röm. 12–15 auf die spätere reformatorische Ethik vorausverweist, ist er hier noch nicht zu einer grundsätzlichen Neufassung der innerweltlichen Verantwortung des Christen vorgedrungen.248 Die positive Zuwendung zur Welt in der Liebe ist das Korrelat der Selbstnegation und Ausdruck einer rigoristischen Bußethik und damit durch die eigentümliche Rechtfertigungsauffassung von Luthers Frühtheologie zugleich gefordert und begrenzt. Die unterschiedlichen Entfaltungen der Horizontaldimension der Rechtfertigung zeigen durchweg den engen Zusammenhang von punktueller Rechtfertigung aus Glauben und sich zeitlich erstreckender Buße in demütiger Selbstnegation und konsequenter Liebespraxis im Rahmen der kirchlichen und weltlichen Gegebenheiten. Wer so lebt, steht im steten Fortschreiten des neuen Lebens zur Gerechtigkeit (profectus novae vitae, profectus iustificationis) und der allmählichen Heilung (curatio, sanatio) von der Sünde. Immer wieder greift Luther dieses augustinische Erbe des sanativen Verständnisses der Rechtfertigung auf. Doch er bestimmt das Verhältnis von Rechtfertigung aus Glauben und gnadenhafter Heilung von der Sünde sowie Befähigung zu guten Werken anders als Augustin, indem er die Demut dem Glauben zwar zuordnet, sie aber angesichts der entscheidenden Bedeutung, die das glaubenstheologisch verstandene punctum iustitiae249 gewinnt, seit der Römerbriefvorlesung klar nachordnet: »Aus dem strengen Zugleich von fides und humilitas in den Dictata wird nun auf dem Boden des extra nos ein Nacheinander. Den Primat hat der Glaube, der extra nos wider die bleibende Erbsünde die Gerechtigkeit Gottes ergreift und intra nos durch die humilitas als seine Frucht den bleibenden Anspruch jener überwindet und beherrscht«.250 Luther ordnet die Person der ethischen Praxis vor und grenzt sich in aller Eindeutigkeit von der wechselseitigen Bedingtheit göttlichen und menschlichen Handelns ab, wie sie die Scholastik lehrt. Ja er versteht die christliche Praxis bereits als Praxis aus und aufgrund des Glaubens, was aber durch den der Römerbriefvorlesung eigentümlichen Glaubensbegriff und die Einbindung in die bußtheologisch verstandene Horizontaldimension noch nicht im späteren Sinne verstanden werden kann. Trotz aller sich im Laufe der Vorlesung 248

So auch das trotz aller Herausstellung des reformatorischen Charakters der Römerbriefvorlesung kritische Fazit von Karl Holl (Holl 1,216 f.). In der Auslegung von Gal. 1,4 (»ut eriperet nos de praesenti saeculo nequam«) bestimmt Luther unter Verweis auf Tit. 2,12 die vita in hoc saeculo als leiblich-geistliche abnegatio saeculariorum (WA 57II,55,30–56,2*). 249 WA 56,448,11 f. 250 K.-H. zur Mühlen: Nos extra nos, 1972, 174.

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3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

mehrender Ansätze dringt Luther noch nicht zu einer kategorialen Unterscheidung von Vertikal- und Horizontaldimension, von Glaube und Demut vor. In das Jahr 1516 zu datierende Spitzenformulierungen wie »nihil nisi penitentes«251 oder »Vniuersalis [...] Iustitia Est humilitas«252 machen deutlich, daß wir es hier noch nicht mit einer der späteren reformatorischen Ethik entsprechenden Gesamtkonzeption zu tun haben. Die eigentümliche Zwischenstellung der Römerbriefvorlesung wird deutlich, wenn man solche Formulierungen auf die in ihnen intendierte und implizierte Bestimmung des Verhältnisses von göttlichem und menschlichem Handeln, von Aktivität und Passivität befragt. Von Luther intendiert ist durchweg die Herausstellung des göttlichen Wirkens am Menschen und das diesem korrespondierende Erleiden des Menschen. Doch diese Betonung der menschlichen Passivität scheint immer wieder ein Moment aktiven menschlichen Beteiligtseins zu implizieren, gleichsam als ob die menschliche Passivität Ergebnis eben der Aktivität dieses Menschen ist. Das zeigt sich beispielsweise im Nebeneinander der Forderungen des peccator fieri und peccatorem agere oder im Demutsbegriff, der wie in der ersten Psalmenvorlesung nicht selten eine vom Menschen zu erbringende Leistung – und sei es der Verzicht auf alles Geltenwollen aufgrund eigener Leistung – zu bezeichnen scheint. Das ist angesichts von Luthers spätmittelalterlichem Hintergrund nicht verwunderlich, ist doch für die monastische Observanz wie für die spätfranziskanische Schultheologie die menschliche Beteiligung an der Heilszueignung von zentraler Bedeutung. Selbst die mittelalterliche Mystik in ihren unterschiedlichen Traditionen vermag göttliche und menschliche Aktivität nicht in einer Weise zu unterscheiden und einander zuzuordnen, daß sie gemessen an den strengen Maßstäben der Römerbriefvorlesung nicht doch eine subtile Form von Eigengerechtigkeit lehrt. Ja, Luther scheint nicht nur gegen sein ausdrückliches Interesse eine Demutstheologie und Bußfrömmigkeit zu lehren, die das aktive menschliche Beteiligtsein konstitutiv fordert, sondern seine Rechtfertigungsanschauung selbst ist so konzipiert, daß die menschliche Aktivität in ihr eine für das Ganze unverzichtbare Funktion erhält. Denn für Luther fordert die Zueignung des Heils im Glauben an das Wort zum einen die Sicherung gegen das Mißverständnis und den Mißbrauch dieser Gottesgerechtigkeit durch das innere und äußere Sün251 252

WA 56,442,22. WA 56,449,8 f. Daß im Gerechtigkeitsbegriff der frühen Vorlesung – trotz aller

Veränderung der gegenseitigen Zuordnung im Laufe der Entwicklung der Frühtheologie – das glaubens- und das demutstheologische Moment ineinanderliegen, zeigen die dieser Formulierung vergleichbaren Bestimmungen der universalis iustitia in der Auslegung von Röm. 3,9 (WA 56,234,15–18) und Gal. 2,16 (WA 57II,70,5–8.18*).

3.2. Römerbriefvorlesung

205

denbekenntnis und zum anderen die Entfaltung und das Anschaulichwerden in der zeitlich sich erstreckenden Überwindung der Sünde und tatsächlichen Erneuerung des Menschen. Damit steht das, was von Gott her am Menschen geschieht, und das, was der Mensch im Bezug auf das zeitlich und sachlich vorangehende opus Dei zu dessen Sicherung und Vollendung tut, auf derselben Ebene. Beides ist Teil der Rechtfertigung. Doch will Luther das eben nicht im Sinne des wechselseitigen Bedingungsverhältnisses von göttlichem und menschlichem Handeln verstanden wissen. Die paulinisch-augustinische Wende seiner Theologie führt zwar noch nicht zur kategorialen Entflechtung von göttlichem und menschlichem Handeln, aber doch wenigstens so weit, daß Luther die vorausgesetzte und geforderte menschliche Aktivität im Rechtfertigungsgeschehen als sich im Handeln des Menschen realisierendes Widerfahrnis verstanden wissen will. Das peccatorem agere vollzieht sich im peccator fieri, die humilitas als Selbstnegation vollzieht sich im Gottesgericht über den Menschen. Luther bringt diese Zuordnung von Göttlichem und Menschlichem in unterschiedlichen Formulierungen zur Sprache, die aber alle die notwendige Klarheit der Verhältnisbestimmung noch nicht bieten: die Priorität der Person vor den Werken, die Vorordnung der Gnadeneingießung vor die im Gesetzesgehorsam bestehende Gerechtigkeit, die mystischen Betonung der resignatio voluntatis gegenüber dem Gotteswillen. Es bleibt eine theologische wie existentielle Unausgeglichenheit zwischen den beiden rechtfertigungstheologischen Aussagenreihen. Luther gelingt es noch nicht, Rechtfertigung und Ethik, göttliche und menschliche Gerechtigkeit, Gottes- und Weltbeziehung als voneinander prinzipiell unterschiedene und dabei aufeinander bezogene Bereiche zu denken. Andere Zeugnisse aus dem Frühjahr 1516 können die innere Spannung in Luthers theologischem Denken illustrieren. Zum einen kann er ganz im Sinne der auf Christus gerichteten glaubenstheologischen Rechtfertigungsauffassung in einem Seelsorgebrief an den von Wittenberg nach Memmingen übergesiedelten Augustinermönch Georg Spenlein das »pacem habemus« von Röm. 5,1 unterstreichen: »Fervet [...] nostra aetate tentatio praesumptionis in multis, et iis praecipue, qui iusti et boni esse omnibus viribus student; ignorantes iustitiam Dei, quae in Christo est nobis effusissime et gratis donata, quaerunt in se ipsis tam diu operari bene, donec habeant fiduciam standi coram Deo, veluti virtutibus et meritis ornati, quod est impossibile fieri. [...] Igitur, mi dulcis Frater, disce Christum et hunc crucifixum, disce ei cantare et de te ipso desperans dicere ei: tu, Domine Ihesu, es iustitia mea, ego autem sum peccatum tuum; tu assumpsisti meum, et dedisti mihi tuum; assumpsisti, quod non eras, et dedisti mihi, quod non eram. Cave, ne aliquando ad tantam puritatem aspires, ut peccator tibi videri nolis, imo esse. Christus enim non nisi in peccatoribus habitat. [...] Istam charitatem eius rumina, et videbis dulcissi-

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3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

mam consolationem eius. [...] non nisi in illo, per fiducialem desperationem tui et operum tuorum, pacem invenies«.253

Andererseits flößt ihm die Begegnung mit dem in der Hostie gegenwärtigen Christus bei der Fronleichnamsprozession in Eisleben im Mai 1516 tiefe Angst ein: »Es ist zu schwer, das ein mensch sol glauben, das yhm Got gnedig sei. Humanum cor kan es nit fassen. Wie geschach mir? Ich erschrak ein mal fur dem sacrament, das Doctor Staupitz zu Isleben in der procession trug corporis Christi. Da gieng ich auch mit vnd hett ein priester kleyd an, beichtets darnach Doctor Staupiz, et dicebat mihi: Vestra cogitatio ist nit Christus. Bene me consolabatur hoc verbo. Sic sumus. Christus offert nobis se ipsum cum remissione peccatorum, et nos tamen fugimus a facie eius«.254

Die oben behandelte Auslegung zu Röm. 12,2 macht verständlich, warum Luther trotz aller vorhandenen und sich abzeichnenden »reformatorischen« Elemente seiner Theologie und seines religiösen Lebens noch vor dem entscheidenden Schritt einer grundsätzlichen Neufassung seiner Anschauungen über das christliche Leben steht. Der Glaube stellt den Christen in einen Prozeß der steten Überwindung der Sünde und des steten Ausgerichtetseins auf die Gerechtigkeit. Der Glaube konkretisiert sich damit in einer theologisch wie existentiell schwer zu bewältigenden Spannung. Er bietet keinen festen Punkt, sondern ist ein immer neues Beginnen, das der demütigen Selbstnegation als notwendiger Konkretion bedarf. Das neue Sein des Glaubenden in der worthaft vermittelten Christusbeziehung ist eingeklammert und damit relativiert durch die Forderung des ständigen proficere. Daß Luthers Römerbriefvorlesung noch nicht die entscheidende Distanzierung vom mittelalterlichen Hintergrund enthält, zeigen auch die unterschiedlichen Konkretionen christlichen Lebens, die Luther anspricht. Trotz aller Kritik an Kirche, Mönchtum, Gesellschaft und Obrigkeit sieht er die durch Glaube und Demut bestimmte Existenz sich in den geistlich-weltlichen Strukturen der spätmittelalterlichen Welt vollziehen. Noch scheint Luthers theologisches Denken nur auf eine weitere biblische Vertiefung der spätmittelalterlichen vita christiana hinauszulaufen. Man darf nicht vergessen, daß der Wittenberger Professor und seine Kolleghörer – zumeist Ordensmitglieder und wenigstens Weltkleriker – eingebunden waren in den strengen Rhythmus des religiösen Alltags. So hatte die die ganze Vorlesung durchziehende Forderung des innerlichen und äußerlichen peccator fieri einen konkreten lebensweltlichen Ort, wenn am selben Freitag, wenn die Vorlesung – möglicherweise ja im Kon253 254

WAB 1,35,17–34 (Nr. 11, 8.4.1516). WATR 1,59,7–14* (Nr. 137); vgl. WATR 2,417* (Nr. 2318). Zur Umdatierung dieser

üblicherweise auf das Jahr 1515 bezogenen Texte siehe oben 2.4., Anm. 210.

3.3. Die frühen Disputationen

207

ventsgebäude selbst255 – stattfand, die Augustinereremiten sich zum Schuldkapitel versammelten und sich voreinander demütigten. Weder der Wittenberger Professor noch seine Studierenden scheinen aber ein Bewußtsein davon gehabt zu haben, was sich unter der Oberfläche dieser an der Bibel orientierten und im Interesse der Kirche kirchen- und scholastikkritischen Theologie allmählich entwickelte. So kann es nicht verwundern, daß Luther das Potential der sich anbahnenden reformatorischen Theologie für die Ethik noch kaum nutzte, sondern in der Fortführung des spätmittelalterlichen Erbes ein wesentlich bußtheologisch geprägtes Ethos der Selbstnegation und strengen Liebespraxis vertrat. 3.3. Die frühen Disputationen (1516–1518) Ein wichtiger Strang der Frühtheologie Luthers wurde zwar bereits erwähnt, aber noch nicht eingehender vorgestellt: Luthers Kritik an der Scholastik und am mittelalterlichen Aristotelismus. In der Römerbriefvorlesung begann Luther, diese für die Entwicklung und Ausgestaltung seiner Theologie zentrale Auseinandersetzung offen und konsequent zu führen. Wenn man bedenkt, daß er sich wenige Jahre zuvor erst diese Gedankenwelt zu eigen gemacht, sie zu Beginn seiner Lehrtätigkeit selbst vorgetragen und während seiner ersten exegetischen Vorlesung nicht grundsätzlich kritisiert hatte, erstaunt die Plötzlichkeit und Schonungslosigkeit von Luthers polemischer Auseinandersetzung mit der Scholastik seit dem Frühjahr 1515. Das ist kaum anders als so zu erklären, daß Luther seine Theologie durch die Beschäftigung mit dem Psalter, Paulus und Augustin bereits so weit entwickelt hatte, daß er die kritische Kehrseite seiner eigenständigen Neukonzeption im akademischen Lehrbetrieb präsentieren konnte. Ja, Luther empfand die Verpflichtung, diese Kritik wieder und wieder vorzubringen und einzuschärfen. Die Römerbriefvorlesung bietet dabei das Reservoir, aus dem sich die Scholastikkritik der Folgejahre speiste. Ihre systematische Zuspitzung erhielt diese Kritik in einer Reihe von Disputationen in den Jahren 1516 bis 1518. Diese akademisch-literarische Form war der selbstverständliche Ort für Luthers Scholastikkritik. Ging es doch um die argumentative Auseinandersetzung mit der herrschenden theologischen Lehrmeinung. Die Form der Disputation zog dieser Auseinandersetzung aber auch ihre Grenzen, indem sie zur Verknappung und Zuspitzung zwang, die kritische Abgrenzung statt der positiven 255

Luther verweist während der Vorlesung auf das Wittenberger Augustinerkloster als »hoc monasterium« (WA 56,469,10), was ein Indiz dafür ist, daß Luther dort las. Weil der Konvent ein Ordensstudium beherbergte und für den Universitätsunterricht mitverantwortlich war, gab es dort die für den Studienbetrieb nötige Infrastruktur.

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3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

Entfaltung in den Vordergrund stellte und die weiteren exegetisch-theologischen Zusammenhänge nur andeutete. Im Mittelpunkt sollen im Folgenden – nach einem einleitenden Blick auf die Scholastikkritik der Römerbriefvorlesung und die Quaestio de viribus et voluntate hominis sine gratia vom September 1516 – die beiden großen frühen Disputationen Luthers stehen, in denen er sich programmatisch mit der Scholastik auseinandersetzte: die Disputatio contra scholasticam theologiam vom September 1517 und die Heidelberger Disputation vom April 1518. Die genannten drei Disputationen, die in einem Zeitraum von etwas mehr als anderthalb Jahren entstanden sind, weisen einerseits wichtige Gemeinsamkeiten auf, lassen andererseits aber auch Schritte einer theologischen Entwicklung erkennen, auf die später noch anhand anderer Schriften Luthers aus dem Zeitraum von 1517 bis 1519 eingegangen werden soll. Für die Frage nach Luthers Ethik sind diese frühen Disputationen von einiger Bedeutung, auch wenn man sie nicht einfach als die »ältesten ethischen Disputationen Luthers« bezeichnen kann.256 Sie enthalten primär die negative Abgrenzung und nur einige wenige Ansätze zur positiven Entfaltung der Ethik, die sich zudem schwerlich als reformatorisch qualifizieren lassen. Ihr eigentliches Interesse gilt nicht der christlichen Praxis als solcher, sondern der Gottesbeziehung des Menschen. Wie bei der Römerbriefvorlesung haben wir es also vor allem mit dem rechtfertigungstheologischen Themenkreis als dem Rahmen für Luthers Anschauung vom christlichen Leben zu tun. Die in der Römerbriefvorlesung entwickelte Kritik an der scholastischen Auffassung von der Rechtfertigung und der christlichen Existenz zielt vor allem auf die spätfranziskanische Schultheologie, trifft aber in ihrer Grundsätzlichkeit die mittelalterliche Theologie insgesamt.257 Denn Luther stellt das ganze Gefüge der herkömmlichen theologischen Ethik mitsamt den Einzelelementen in Frage. Das beginnt schon mit den von der Scholastik gelehrten anthropologischen Bedingungen des Handelns. Luthers vertieftes und radikalisiertes Sündenverständnis, wie es die hamartio256

tut.

Wie es der Titel einer 1904 von Carl Stange herausgegebenen Quellensammlung

257 Die Scholastikkritik durchzieht die gesamte Vorlesung, ausführlicher entwickelt Luther sie in den Scholien zu Röm. 4,7 und zu Röm. 8,3. – Literatur zu Luthers Kritik an der scholastischen Theologie und ihrem aristotelischen Hintergrund in den Jahren 1515 bis 1518: L. Grane: Contra Gabrielem. Luthers Auseinandersetzung mit Gabriel Biel in der Disputatio Contra Scholasticam Theologiam 1517, 1962; R. Schwarz: Fides, spes und caritas beim jungen Luther, 1962, 342–357.358–388; K.-H. zur Mühlen: Nos extra nos, 1972, 116–148; Th. Dieter: Der junge Luther und Aristoteles, 2001, hier v.a. Kap. 2 zu Luthers Kritik an der Bestimmung des Verhältnisses von Gerechthandeln und Gerechtsein und an der Vorstellung vom Tugenderwerb.

3.3. Die frühen Disputationen

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logischen Exkurse zu Röm. 4,7 und Röm. 5,12–21 im Gegenüber zur Schultheologie entwickeln,258 macht es ihm unmöglich, in der herkömmlichen Weise die potentiae von voluntas, ratio und liberum arbitrium und die virtutes acquisitae als Grundlage des christlichen Handelns vorauszusetzen. Ist doch die Erbsünde nicht bloß eine die menschlichen Möglichkeiten einschränkende »priuatio seu carentia Iustitie¸ originalis«,259 sondern das den Menschen in all seinem Sein und Handeln zutiefst zeichnende »peccatum radicale«.260 Dementsprechend relativiert Luther die Möglichkeit des Handelns aufgrund der natürlichen Möglichkeiten nicht bloß – er hätte hier etwa dem spätmittelalterlichen Augustinismus folgen können –, sondern er lehnt das facere quod in se est und das dadurch ermöglichte, dank der acceptatio divina anerkannte meritum de congruo grundsätzlich ab. Er setzt zwar auch den freien Willen261 und die grundlegende Ausrichtung auf das Gute in Gestalt der synderesis262 voraus, aber beides hat angesichts der sündhaften Verkrümmtheit des Menschen nicht die in der Scholastik behauptete Leistungskraft und keinerlei Heilsrelevanz. Der Mensch mag – was Luther freilich nur eingeschränkt zu behaupten wagt – um das Gute wissen, der intellectus kann aber die voluntas nicht zu diesem Guten hinlenken.263 Die Behauptung eines dem Menschen von Natur aus möglichen facere quod in se est, das sich sogar als Gottesliebe (actus diligendi Deum super omnia) realisiert, wird von Luther rundheraus abgelehnt.264 Mehrfach kritisiert er die hier im Hintergrund stehende aristotelische These, daß die Gerechtigkeit als virtus aus einzelnen gerechten Handlungen entsteht (iusta operando iusti efficimur) und daß sie nicht notwendig die Gerechtigkeit der Person voraussetzt.265 Auch das darin implizierte Gesetzesverständnis, das die Erfüllung des von Gott Geforderten (facere opera praecepti secundum substantiam facti) auch ohne Gnade für möglich hält und nur für den neuen, über das Gesetz hinausgehenden Gehorsam (nova exactio ultra legem) entsprechend der göttlichen Absicht (ad intentionem praecipientis) die Gnade fordert, weist Lu258

56,273,3–275,25; 312,1–314,18. 56,312,2 f. 56,277,11–13. 56,385,13–22 (siehe auch H. McSorley: Luthers Lehre vom unfreien Willen nach seiner Hauptschrift De Servo Arbitrio im Licht der biblischen und kirchlichen Tradition, 1967, 214–225). 262 WA 56,177,15; 237,5–8; 275,17–23; 355,28–356,6. 263 WA 56,355,13 f.; 359,14 f. Dementsprechend kritisiert Luther die Vorstellung vom actus elicitus (WA 56,280,12; 359,13 f.; 460,21 f.27; 484,5 f.) und die Abstufung von lumen naturae und lumen gratiae (WA 56,356,17–357,26). 264 WA 56,274,11–14; 275,5–16.21 f.; 355,3 f.; 359,13 f.; 502,29–503,4. 265 WA 56,172,9–11; 255,18 f.; 273,7–9; 364,17 f.; 395,4–7; 418,28 f. WA WA 260 WA 261 WA 259

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3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

ther ab.266 Er geht sogar so weit, diese ethische Konzeption als Pelagianismus zu bezeichnen.267 Seine umfassende Kritik an der theologischen Legitimation der Eigengerechtigkeit aus den dem Menschen von sich aus eignenden Möglichkeiten macht den Hauptteil seiner Auseinandersetzung mit der Scholastik aus. Die auf dieser von Luther grundsätzlich kritisierten Grundlage aufbauende Ausführung der scholastischen Ethik bleibt nicht unberührt davon, wenn Luther sich auch hinsichtlich der anderen Theorieelemente nicht mehr im selben Umfang und mit derselben Ausdrücklichkeit äußert. Wenn der Sünder von sich aus keinerlei positiven Anknüpfungspunkt für die göttliche Wiederherstellung der moralischen Leistungsfähigkeit bietet, so steht die Ermöglichung des Handelns durch infusio der gratia gratum faciens, die als gratia operans und praeveniens die Natur zurechtbringt und als gratia cooperans und subsequens das Handeln auf Gott als Letztziel ausrichtet, in Frage. Obwohl die Gnade in der Römerbriefvorlesung im Gefolge Augustins auch als Heilung und als Ermöglichung des wahren Gesetzesgehorsams gedacht ist, steht ihr Verständnis als Sündenvergebung und Rechtfertigung im Vordergrund. Zudem verlieren die in der lex vetus und nova kodifizierten und im Gewissen (conscientia, synderesis) präsenten Normen des Handelns ihre hergebrachte Funktion, auch wenn Luthers Gesetzeskritik nicht so weit geht, die Rede vom Gesetz grundsätzlich zu problematisieren oder gar den Verpflichtungscharakter von Gewissen, Naturrecht und nova lex abzuleugnen. Folglich verlieren die im Zusammenspiel von anthropologischen Bedingungen, gnadenhafter Ermöglichung und äußeren und inneren Normen ausgebildeten Strukturen des Handelns in Gestalt der theologischen Tugenden (fides, spes, caritas), der gnadenhaft durchdrungenen Kardinaltugenden und der Geistesgaben ihre zentrale Bedeutung. Die herkömmliche tugendethische Reflexion vermag die vita christiana nicht mehr adäquat zu erfassen, weshalb Luther trotz aller sprachlichen und sachlichen Reste der Tugendethik von dieser Konzeption theologischer Ethik abkommt. Da für ihn diese Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind, fällt auch die Bestimmung der vita christiana als verdienstlicher Praxis dahin. Das christliche Leben ist keine gnadenhaft initiierte und getragene, vom Gesetz geleitete und sich aufgrund der natürlichen Gegebenheiten realisierende Tugendbetätigung, die auf den Erwerb von merita de condigno zielt. Gleichwohl hat Luther noch nicht in jeder Hinsicht mit dem Verdienstgedanken gebrochen. Denn sein Rückgriff auf das augustinische Gnadenverständnis impliziert notwendig die Vorstellung einer vom Menschen durch sein 266 267

WA 56,274,12–18; 278,25–279,21; 355,8–11. WA 56,502,29–503,4.

3.3. Die frühen Disputationen

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Handeln erbrachten Gerechtigkeit, die zwar auf der Gnade beruht, dieser gegenüber aber eine andere und neue Qualität hat.268 Luthers Römerbriefvorlesung blieb nicht ohne Wirkung. Ein wichtiges Zeugnis für den tiefen Eindruck, den Luthers Frühtheologie bei den Studenten hinterließ, ist eine Thesenreihe, die Bartholomäus Bernhardi anläßlich seiner Disputation zur Erlangung des Grades des Baccalaureus sententiarius am 25. September 1516 vorlegte: die aus Luthers Römerbriefvorlesung schöpfende Quaestio de viribus et voluntate hominis sine gratia.269 Die Disputation behandelt zum einen die Frage der Gebotserfüllung mit natürlichen Kräften und zum anderen die Frage des Erwerbs und der Erkenntnis von Verdiensten unter Voraussetzung der Gnade.270 Sie zeigt auf der Grundlage von Luthers Römerbriefvorlesung sowie unter Heranziehung zahlreicher Aussagen Augustins und der Bibel die Angewiesenheit des alten, fleischlichen, von der Sünde gezeichneten Menschen auf Christus und die Gnade: Ohne sie ist der menschliche Wille auf die Sünde festgelegt;271 es ist keine Gebotserfüllung und keine praeparatio ad gratiam kraft eines meritum de congruo oder condigno möglich;272 es gibt keinen der Gnade vorangehenden guten Willen und keine merita gratiam praecedentia.273 Ja, das facere quod in se est, das ohne die fides operans per charitatem actus elicitos und imperatos vollbringt, ist Sünde. Denn damit wird beansprucht, daß Werke die Person verändern und also die Qualität 268 Luthers positive Aussagen über die Verdienstlichkeit des Handelns aufgrund der Gnade finden sich in der gesamten Vorlesung. Luther betont diesen Gesichtspunkt aber nicht, ja er relativiert ihn durch die Rückführung auf Christus und Kontrastierung mit der Sünde, deretwegen der Mensch eigentlich Gottes Gericht verdient (WA 56,63,7; 135,1; 290,15–291,14; 369,27–370,29; 470,23–471,8; 515,26–28). Auch in der Galaterbriefvorlesung findet sich die positive Bestimmung der Gesetzeswerke als verdienstlich, wenn sie durch das Liebesgebot motiviert sind und unter Voraussetzung der Gnade vollbracht werden (WA 57II,97,23–98,2*). 269 WA 1,142–144.145–151*; Cl 5,311.312–320*; LStA 1,153 f.155–162*. Der von der WA abgedruckte Text weist einige textkritische Probleme auf, für die Emanuel Hirsch Textänderungen vorgeschlagen hat, die in den Anmerkungen der LStA berücksichtigt sind. Inwieweit Luther an der Formulierung der Thesen beteiligt war, ist unklar. Luther selbst spricht von der Thesenreihe als »De positione mea, imo Bartholomaei Feldkirchen« (WAB 1,65,18) und ist für den Inhalt verantwortlich. – Literatur: J.-M. Kruse: Universitätstheologie und Kirchenreform. Die Anfänge der Reformation in Wittenberg 1516–1522, 2002, 78–82. 270 LStA 1,155,5–7*. Der von Valentin Ernst Löscher unter Heranziehung eines heute nicht mehr bekannten Manuskripts herausgegebene Druck E hat bei der zweiten Frage statt »cum gratia mereri« »ad gratiam mereri«. Dieser Text entspricht den Thesen und Corollarien besser, in denen es primär um das Verdienst vor der Gnade und nicht so sehr um das Verdienst unter Voraussetzung der Gnade geht. 271 LStA 1,159,2–4*. 272 LStA 1,157,19–158,2*. 273 LStA 1,155,19 f.*; 158,22*.

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3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

der Früchte die Qualität des Baums beeinflußt.274 Da nach Augustin gilt, daß das Gesetz zur Gnade führt, mit deren Hilfe das Gesetz erfüllt werden kann,275 wird die Gnade als Ermöglichung der christlichen Praxis verstanden. Und zwar einer Praxis, die als Gottes Wirken im Menschen näherbestimmt wird.276 Diese augustinischen Gedanken werden aber gegen das Mißverständnis und den Mißbrauch im Sinne der Eigengerechtigkeit dadurch gesichert, daß die Disputation die Rechtfertigung aus Glauben allein auf Gottes Imputation beruhen läßt und die Gerechtigkeit des Glaubenden damit als nicht anschaulich und erfahrbar qualifiziert.277 Die abschließende These mit ihren Corollarien entwickelt die skizzierten Gedanken Luthers in zwei Richtungen weiter. Die christliche Praxis wird zum einen wie in Luthers Auslegung von Röm. 12–15 als Befolgung des über die Hilfsverpflichtung in der äußersten Notlage ausgeweiteten Liebesgebots verstanden.278 Zum anderen wird sie an Christus als die Gerechtigkeit des Glaubenden rückgebunden, in dem die sich in der Verborgenheit vollziehende christliche Existenz ihren Bezugspunkt hat279 und durch den dem Glaubenden alles möglich ist.280 Die Disputation behauptet zwar nicht ausdrücklich, daß die auf Christus bezogene christliche Praxis meritorischen Charakter hat. Doch der Duktus der Ausführungen und die Aussagen über das Verdienst – nämlich die Ablehnung von der Gnade vorangehenden Verdiensten und die Bezeichnung Christi als des Richters der Verdienste der Christen – führt auf eben diese Behauptung.281 Der Disputation geht es nicht um die Bestreitung der Verdienste, sondern um ihre Relativierung. Inwieweit die Verdienstlogik damit grundsätzlich infragesteht, läßt sich nicht erkennen. Insgesamt zeigt die Quaestio de viribus et voluntate hominis sine gratia, daß Luther 1516 sich zwar über seine Kritik an zentralen Elementen der 274

LStA 1,159,15–20*. LStA 1,158,7 f.* 276 LStA 1,160,1–12*. Charakteristisch für die Unsicherheit, mit der der paulinische 275

Gedanke der Rückführung der christlichen Praxis auf Gott – die Disputation zitiert Phil. 2,13: »Deus est, [...] qui operatus in vobis et velle et perficere pro bona voluntate« – aufgenommen wird, ist die Zuhilfenahme der mißverständlichen Vorstellung vom adiutorium Dei. 277 LStA 1,160,13–161,4*. 278 LStA 1,161,6–16*. Luther erläutert diese These auch in seinem Brief über die Thesenreihe an Johannes Lang (WAB 1,66,36–55 [Nr. 26]). 279 »Christus Iesus, virtus nostra, iusticia nostra, cordium et renum scrutator, solus est cognitor meritorum nostrorum ac iudex« (LStA 1,161,18 f.*). Die hier im Hintergrund stehende Aussage von 1. Kor. 1,30 findet sich auch in der Römerbriefvorlesung (WA 56,279,22–25). 280 LStA 1,161,27*. 281 R. Schinzer: Die doppelte Verdienstlehre des Spätmittelalters und Luthers reformatorische Entdeckung, 1971, 39f.

3.3. Die frühen Disputationen

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ethischen Theorie der Scholastik im Klaren ist: daß nämlich das menschliche Handeln ohne die Gnade keine soteriologische Relevanz hat, sondern daß gerechtes Handeln das durch die Gnadenzueignung und den Rechtfertigungsglauben geschaffene Gerechtsein der Person voraussetzt. Sie zeigt aber zugleich, daß er die Frage nach der Beschaffenheit des Heilsgeschehens und seinem Zusammenhang mit der christlichen Praxis noch nicht überzeugend beantworten kann. Es sind zwar wichtige Gesichtspunkte benannt – die Befähigung zu guten Werken durch die Gnade, der Zusammenhang von Glaube und Werken, das Hervorgehen der christlichen Praxis aus der Christusbeziehung –, aber Klarheit über das einzelne wie den Zusammenhang ist nicht gegeben. Das erweist sich besonders dann, wenn man fragt, wie weit die Scholastikkritik wirklich reicht. Dann zeigt sich nämlich, daß die Disputation – wie die ihr zugrundeliegende Römerbriefvorlesung – die Gnade auch als Ermöglichung meritorischer Akte sehen kann. Und in diesem Interesse an der christlichen Praxis in ihrer Bedeutung für die Gottesbeziehung des Menschen entsprechen beide Texte trotz aller Distanzierung eben doch der theologischen Ethik des Mittelalters. Darum spielt die Frage der Konkretionen der christlichen Praxis gegenüber der Welt und dem Mitmenschen eine untergeordnete Rolle. Das Potential der rechtfertigungstheologischen Neuorientierung Luthers kommt noch nicht angemessen in den ethischen Überlegungen zur Geltung, die sich in der für Luthers Frühtheologie so charakteristischen Verbindung von Selbstnegation und rigoristischem Liebesethos erschöpfen. Doch dieser Mangel verhindert nicht, daß die Disputation im Herbst 1516 Wirkung auch über Wittenberg hinaus zeigte. Denn Nikolaus Amsdorff schickte die Thesen ohne Nennung ihrer Herkunft nach Erfurt, wo sie auf Kritik seitens einiger »Gabrielistae« stießen, auf die Luther im Oktober 1516 mit einem Brief an den Erfurter Augustinereremitenprior Johannes Lang reagierte,282 in dem er seine Scholastikkritik knapp auf den Punkt bringt: »Scio, quid Gabriel [Biel] dicat, scilicet omnia bene, praeterquam ubi de gratia, charitate, spe, fide, virtutibus dicit; ubi cum suo Scoto quantum pelagizat, non est, ut per literas nunc proferam«.283

Aber nicht nur die Scholastik wurde durch Luthers Kritik getroffen, sondern auch die humanistische Zuordnung von Gnadenzueignung und christlicher Praxis, wie Luthers Brief an Spalatin vom 19. Oktober 1516 zeigt, der dem Brief an Lang zeitlich nahesteht.284 Luther kritisiert hier die 282

WAB 1,65,18–66,58 (Nr. 26). WAB 1,66,32–35. 284 WAB 1,69–72 (Nr. 27). E.-W. Kohls (Luther oder Erasmus Bd. 1, 1972, 48–155) 283

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3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

Paulus-Auslegung des Erasmus, besonders die Beschränkung der paulinischen Gesetzeskritik auf das Zeremonialgesetz, und die aristotelische Annahme, daß die Person durch gerechte Werke gerecht wird. Er betont stattdessen, daß die Gesetzesgerechtigkeit bei Paulus alles vom Dekalog Geforderte meint und daß nur der durch den Christusglauben gerechtfertigte Mensch diese Gesetzesforderung erfüllen kann.285 »Mit der erasmischen Gesetzesauffassung und der theologischen Ethik des Erasmus waren die Schwerpunkte der Theologie des Erasmus durch Luther in Frage gestellt. Damit waren die Punkte getroffen, die das Mark der erasmischen Reformtheologie ausmachten: Das Gesetz als lex caritatis – als das durch Christus leicht gemachte Liebesgebot – und die christliche Ethik als ein durch göttliche Gnade ermöglichtes und angebahntes verantwortungsbewußtes und freies Praktischwerden des Christentums hatte ja Erasmus in seinen theologischen Schriften in neuer Weise ausgesagt«.286 Diese aus seiner Frühtheologie erwachsene Erasmuskritik Luthers gehört bereits in die Vorgeschichte der Jahre 1524/25, als Erasmus die Frage von freiem Willen und Gesetz – und damit die Frage der christlichen Ethik – zum Ausgangspunkt der großen Auseinandersetzung beider machte. Knapp ein Jahr nach der Quaestio de viribus et voluntate hominis sine gratia legte Luther selbst eine Thesenreihe vor, die seine Scholastikkritik noch einmal zuspitzt und die dieser Kritik korrespondierenden Grundgedanken der Rechtfertigungslehre und Ethik andeutungsweise ausführt. Die mit dem sekundären Titel Disputatio contra scholasticam theologiam bezeichnete Thesenreihe287 gliedert sich in zwei Teile. In den Thesen 1–55 macht diesen Brief zum Ausgangspunkt seines umfassenden Vergleichs der theologischen Konzeptionen von Luther und Erasmus, wobei er auch Luthers Römerbriefvorlesung heranzieht (aaO 55–72). 285 »Nequaquam igitur iustitia legis seu factorum tantum est in ceremoniis, sed rectius etiam in universi decalogi factis. Quae quando fiunt extra fidem Christi, etiamsi faciant Fabricios, Regulos et plane integerrimos viros apud hominem, non tamen plus sapiunt iustitiam quam sorba ficum. Non enim, ut Aristoteles putat, iusta agendo iusti efficimur, nisi simulatorie, sed iusti (ut sic dixerim) fiendo et essendo operamur iusta. Prius necesse est personam esse mutatam, deinde opera. Prior placet Abel quam munera eius« (WAB 1,70,25–32). – Vgl. die wenig später entstandene Auslegung zu Gal. 2,16, in der Luther zum einen die Unmöglichkeit der Rechtfertigung aus Gesetzeswerken auch auf den Dekalog bezieht und zum anderen das »per fidem Jesu Christi« als »ex operibus Christi, que per fidem sunt nostra« interpretiert (WA 57II,17,14–17+28 f.*; 69,1–5*). 286 E.-W. Kohls: Luther oder Erasmus, Bd. 1, 1972, 54. 287 WA 1,221–223.224–228; Cl 5,311 f.320–326; LStA 1,163 f.165–172; LDStA 1,19–33 (Abdruck des 1983 aufgefundenen originalen Plakatdrucks). Die Überschrift der WA ist sekundär, ebenso die Numerierung der Thesen, wobei sich die Ausgaben in der Zählung voneinander unterscheiden; die WA zählt 97 Thesen, andere ältere Drucke zählen 98, 99 oder 100 (so der wohl ursprüngliche Druck). Im Folgenden wird die durchgehende Zählung in LStA und LDStA zugrundegelegt. – Literatur: L. Grane: Contra Gabrielem, 1962, 42–48.383–385.

3.3. Die frühen Disputationen

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zeigt Luther, daß menschliche Aktivität keine Vorbereitung auf die Gnade oder Voraussetzung der Gnade ist und der Mensch sich nicht von sich aus Gott zuwenden kann; es geht also um den Menschen vor der Gnade. Die Thesen 56–100 zeigen dann, daß die Gnade zuallererst meritorische Aktivität ermöglicht; sie handeln also vom Menschen in der Gnade. Der erste Hauptteil288 behandelt die Unvereinbarkeit der biblischen Sicht des Menschen und seines Handelns mit der von der aristotelischen Philosophie geprägten spätfranziskanischen Schultradition, die Luther vor allem mit Verweisen auf Gabriel Biel belegt.289 Das Grundproblem der Scholastik ist die Verbindung von Theologie und Philosophie, die sowohl die Rechtfertigung als auch die Ethik verfälscht. Ganz grundsätzlich stellt Luther fest: »Tota fere Aristotelis Ethica pessima est gratiae inimica«.290 Zu den mit der Theologie nicht vereinbaren Grundannahmen der aristotelischen Philosophie zählen die von der scholastischen Anthropologie und Ethik selbstverständlich vorausgesetzten Sätze »sumus domini actuum nostrorum a principio vsque ad finem« und »efficimur iusti iusta operando«.291 Daß der Mensch aber weder zu eigenständigem gutem Handeln frei und befähigt ist noch daß er durch dieses Handeln sein Sein verändern kann, zeigt Luther unter Berufung auf Augustins antipelagianische Schriften. Er weist auf die sündige Verkehrtheit der menschlichen Natur hin, die als schlechter Baum nur schlechte Früchte bringen kann, weshalb der natürliche Mensch nur »malum velle et facere« kann. Das Strebevermögen (appetitus) des Menschen ist nicht frei, und der Wille läßt sich nicht durch das dictamen rectae rationis zum Guten bestimmen. Folglich ist die Annahme der Möglichkeit, Gott ohne Gnade aus eigenen Kräften über alles zu lieben, haltlos. Gegen die Behauptung eines natürlich vorhandenen actus amicitiae als Modus des facere quod in se est und als Heilsdisposition sowie gegen die Behauptung der Beherrschung der concupiscentia durch die virtus spei betont Luther die Notwendigkeit der zuvorkommenden Gnade angesichts der von Natur aus vorhandenen unüberwindlichen Sündhaftigkeit der concupiscentia. Das heißt, jede Aktivität des Menschen 288 289

LStA 1,165,5–169,21.

Luther nennt neben Biel (er bezieht sich vor allem auf Coll. III, d. 27) auch Duns Scotus, Ockham und Pierre d’Ailly. Die zu den einzelnen Thesen angegebenen Verweise beziehen sich dabei nicht nur auf die These selbst, sondern auch auf die folgenden Thesen. Luther denkt an Biel nicht nur in den ausdrücklich gegen ihn gerichteten Thesen, sondern auch zahlreichen weiteren ohne spezifizierte Gegnerangabe. Auch die gegen Scotus, Ockham und Pierre d’Ailly gerichteten Thesen zielen auf ihn. L. Grane: Contra Gabrielem, 1962, identifiziert die einzelnen Texte und zeigt den traditionsgeschichtlichen Hintergrund der Disputation auf. 290 LStA 1,169,1 f. 291 LStA 1,168,18.20.

216

3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

in der Gottesbeziehung, die Luther hier als solche gar nicht bestreiten will, beruht auf der vorangehenden Zuwendung Gottes zum Menschen. Diese gründet letztlich in der dem Menschen unverfügbaren electio und praedestinatio und führt den Menschen in das alle eigenen Verdienste negierende Leiden. Von sich aus kann der Mensch keine Disposition bewirken, sondern er leistet der Gnade immer schon Widerstand. Die Problematisierung des menschlichen Handelns im ersten Hauptteil der Thesen gilt aber nur in bestimmter Hinsicht. Denn nachdem »die Verbindung zwischen der natürlichen Aktivität und der Gnade auf diese Weise abgeschnitten worden ist, wird auf der anderen Seite jede Trennung zwischen Gnade und Gehorsam bekämpft«.292 Wie der zweite Hauptteil293 der Thesen zeigt, ermöglicht die im Menschen lebendige und wirkmächtige Rechtfertigungsgnade für Luther meritorische Aktivität. Dabei geht es ihm primär um die christliche Praxis im Gottesverhältnis und um ihre enge Einbindung in das göttliche Handeln am Menschen. Er zielt aber anders als die Scholastik nicht auf die Bestimmung der Gnade als meritorisches Prinzip, das nun allererst den eigentlich geforderten Gesetzesgehorsam ermöglicht, der jenseits des Gnadenstands nur unzureichend möglich ist. Jenseits der Gnade gibt es keinen neutralen Bereich, keine natürlichen Möglichkeiten des Menschen und keinen moralisch als gut zu qualifizierenden Gesetzesgehorsam (actus praecepti), sondern nur die concupiscentia, die alles, auch das scheinbar moralisch Gute, als Sünde qualifiziert. Die Gnade setzt in ihrer Wirkung auf den Menschen weit tiefer an, als die von Luther kritisierte Position es zugesteht: Sie ist nicht ein zusätzlicher Begleitumstand des an sich guten menschlichen Handelns, der dieses nun noch selbst als meritorisch qualifiziert. Vielmehr ist sie die das Sein des Menschen in seiner Grundausrichtung zurechtbringende innere Erneuerung und die das Handeln dieses Menschen leitende Intention. War der Mensch vor der Gnade dem Gesetz – und zwar dem Zeremonial- wie dem im Dekalog zusammengefaßten Moralgesetz – feind und bemühte sich, das Gesetz durch äußerliche Heuchelei für seine Eigengerechtigkeit in Dienst zu nehmen, so bringt die Gnade mit sich, daß der Glaubende am Gesetz Gefallen findet und »opera gratiae Dei«294 tut. Er ist bestimmt von der Gottesliebe und dem Heiligen Geist als der sein Leben tragenden »lex bona«. Und die Gnade ist es auch, die allererst zur Gottesliebe leitet – einer Liebe, die mit der strengen Selbstnegation und der gänzlichen Selbstpreisgabe an Gott einhergeht. 292

L. Grane: Contra Gabrielem, 1962, 47. LStA 1,169,22–172,9. 294 LStA 1,171,12. 293

3.3. Die frühen Disputationen

217

Die Disputatio contra scholasticam theologiam ist wichtig, weil sie Luthers Scholastikkritik übersichtlich und systematisch vor Augen stellt und weil sie im Gegenüber zu dem präsentierten Verständnis der mittelalterlichen Schultheologie Grundzüge von Luthers eigener Anthropologie und Ethik entwickelt. Entscheidend ist das Gottesverhältnis des Menschen, das das Sein und Handeln des Menschen qualifiziert und sein Verhalten Gott und der Welt gegenüber durch und durch bestimmt. Obwohl Luther damit ein grundsätzlich anderes Verständnis des menschlichen Seins und Handelns in den Blick nimmt, bleibt er in mancher Hinsicht doch dem mittelalterlichen Erbe verpflichtet; etwa indem er das in die Gottesbeziehung eingebettete Handeln des Glaubenden als meritorischen Gesetzesgehorsam qualifizieren kann. Die Disputationsthesen scheinen kein größeres Echo gefunden zu haben, obwohl Luther sie wiederum an Johannes Lang und die Erfurter schickte295 und über Scheurl an Eck und andere übersenden ließ.296 Ein knappes Dreivierteljahr nach der Disputatio contra scholasticam theologiam nimmt die Heidelberger Disputation den Faden von Luthers kritischer Auseinandersetzung mit der Scholastik noch einmal auf.297 Luther geht von der in der ersten Psalmenvorlesung entwickelten und für seine Frühtheologie zentralen Kontrastierung von Gottes- und Menschenwerk aus.298 Für den Menschen ist es unmöglich, mit seinen Werken aufgrund des Gesetzes die Gerechtigkeit zu erlangen, denn er kann mit seinen natürlichen Kräften nicht das Gesetz erfüllen. Ja, gerade indem das Gesetz zum Guten mahnt, zeigt es die Sünde auf. Das gilt vor allem für die veräußerlichte Frömmigkeit der Gesetzeswerke, die Todsünde ist, weil sie nicht aus durch Gnade und Glaube gereinigtem Herzen hervorgeht.299 Dagegen sind die opera Dei, mit denen Gott am Menschen unter dem Gegensatz verborgen handelt, »merita immortalia«. Damit ist gemeint, daß 295

WAB 1,103 f. (Nr. 45). WAB 1,106,35–37 (Nr. 46); 107,22–24 (Nr. 47). 297 WA 1,350–352.353–374; WA 59,405–408.409–426; LStA 1,186–189.190–218; LDStA 1,35–69. Im Folgenden werden die theologischen Thesen und probationes (LStA 1,200,4– 296

212,20) zugrundegelegt. – Literatur: Th. Kaufmann: Bucers Bericht von der Heidelberger Disputation (ARG 82, 1991, 147–170); H. Schneider: Staupitz’ Ausschreiben zum Kapitel der deutschen Augustinerkongregation in Heidelberg 1518 (BPfKG 74, 2007, 361–372); J. Vercruysse: Gesetz und Liebe. Die Struktur der »Heidelberger Disputation« Luthers (1518) (LuJ 48, 1981, 7–41). 298 LStA 1,200,7–207,24. 299 »sine gratia et fide impossibile est mundum haberi cor [Act. 15,9]« (LStA 1,201,6 f.). Kriterium der Bewertung von Werken ist nicht der äußere Anschein, sondern die Intention des Handelns, was Luther einmal mehr mit dem Baum-Frucht-Wort belegt (LStA 1,204,11–17).

218

3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

das vom opus Dei am Menschen getragene und umfangene Handeln des Menschen in Demut und Gottesfurcht verdienstlichen Charakter hat: »opera deformia, quae Deus in nobis operatur (id est, humilia et timorata) sunt uere immortalia quia humilitas et timor Dei est totum meritum«.300

Diese Verwendung des Verdienstbegriffs301 entspricht kaum mehr dem mittelalterlichen Verdienstdenken, weil das opus Dei in einer Weise betont wird, daß die im mittelalterlichen Verdienstbegriff vorausgesetzte relative menschliche Freiheit und Eigenständigkeit nicht mehr gegeben sind. Meritorisch ist hier nicht das menschliche Handeln als solches, sondern insofern es mit dem göttlichen Handeln zusammenfällt. Die sich im Handeln des Menschen vollziehenden meritorischen opera Dei sind gleichwohl als Sünden zu qualifizieren. Mit dieser Zuspitzung will Luther den Versuch unterbinden, das Sündersein des Christen zwar zuzugestehen, davon aber die äußerlich guten Werke auszunehmen. Da sich das Gotteswirken immer in einem von der Sünde gezeichneten Menschen auswirkt, trägt auch das auf dem Gotteswirken beruhende menschliche Handeln die Spuren der Sünde. Die Werke der Gerechten sind zwar Sünden, aber keine Todsünden, wenn sie als solche gefürchtet werden. Nur wenn der Gerechte all sein Handeln in der confessio und poenitentia als Todsünde bewertet und damit dessen Mißverständnis und Mißbrauch als Eigengerechtigkeit gänzlich ausschließt, ist es keine Todsünde. Die durch das Sündenbekenntnis gesicherten guten Werke gelten dann vor Gott als verdienstlich.302 Dem Mißverständnis und Mißbrauch der Werke als Eigengerechtigkeit entgeht man nur, wenn man jedes Werk als unter Gottes Gericht stehend ansieht und sich damit gänzlich Gottes Barmherzigkeit anvertraut. Angesichts der 300 LStA 1,202,8–10 (die Setzung der schließenden Klammer oben im Zitat folgt Druck K, die Klammer nach »immortalia« zu setzen ist sprachlich und sachlich die schlechtere Lesart). Die Ineinssetzung von Gottes- und Menschenwerk formuliert auch die 6. These: »Non sic sunt opera Dei merita (de his, quae per hominem fiunt, loquimur) ut eadem non sint peccata« (LStA 1,202,19 f.). 301 Der Verdienstbegriff der Heidelberger Disputation wird in der Forschung unterschiedlich akzentuiert. Während R. Schinzer (Die doppelte Verdienstlehre des Spätmittelalters und Luthers reformatorische Entdeckung, 1971, 19 f.47 f.) auf Luthers auch hier noch zu beobachtende Verhaftung im mittelalterlichen Verdienstdenken hinweist – Luther stellt nach Schinzer noch nicht das meritum de condigno in Frage und denkt die Gnade »noch völlig im Horizont der Gnadenwerke« (47) – stellt R. Söderlund (Der meritum-Begriff der »Heidelberger Disputation« im Verhältnis zur mittelalterlichen und zur späteren reformatorischen Theologie, in: LuJ 48, 1981, 44–53) die Eigenart dieses Verdienstbegriffs heraus. Wenn man die im Vorangehenden besprochenen Texte seit 1515 vergleichend hinzuzieht, wird man einerseits Schinzer Recht geben, aber doch auch den inhaltlichen Fortschritt würdigen müssen, der Luther bald darauf dazu veranlaßt, nicht nur die traditionelle Verdienstlogik, sondern auch den Verdienstbegriff preiszugeben. 302 »non nisi per timorem humilis confessionis sunt eis [sc. Sanctis] meritoria« (LStA 1,203,14 f.).

3.3. Die frühen Disputationen

219

Problematisierung des liberum arbitrium und des facere quod in se est und angesichts der Aufdeckung der Sündhaftigkeit des »ad gratiam uelle peruenire, faciendo quod in se est«303 fragt Luther: »Quid igitur faciemus?«. Seine Antwort ist, daß es nicht um ein Unterlassen allen Handelns geht, sondern um die an Christus gerichtete Bitte um Gnade, die dem Menschen das Heil in Gestalt der Demut verschafft: »ora gratiam, spemque tuam in Christum transfer, in quo est salus, uita et resurrectio nostra. [...] Per Legem enim cognitio peccati, per cognitionem autem peccati humilitas, per humilitatem gratia acquiritur«.304

Luther verdichtet diese demutstheologischen Ausführungen in einer Art Exkurs in den Thesen 19 bis 24. In Gestalt des theologus gloriae und des theologus crucis stellt er zwei einander ausschließende Weisen des menschlichen Verständnisses des Gotteshandelns gegenüber und markiert das Zunichtewerden durch das Kreuz und das Erleiden des göttlichen Handelns als Ansatzpunkt für die christliche Praxis: »Qui uero est per passiones exinanitus, iam non operatur, sed Deum in se operari et omnia agere nouit. Ideo siue operetur, siue non, idem sibi est, nec gloriatur si operetur, nec confunditur, si non operetur Deus in eo, sibi scit satis esse, si patitur et destruitur per crucem, ut magis annihiletur«.305

Daran anschließend entfaltet Luther dann in den Thesen 25 bis 27 seine neuartige Zuordnung von Glauben und Werken. Denn die Rechtfertigung aus Glauben impliziert nicht, »quod iustus nihil operetur, sed quod opera eius non faciunt eius iusticiam, sed potius iusticia eius facit opera. Sine enim opere nostro gratia et fides infunditur, qua infusa iam sequuntur opera«.306

Diese Werke, die aus dem Rechtfertigungsglauben hervorgehen, sind aber strenggenommen nicht die Werke des Menschen, sondern Gottes Werke.307 Und diese Bestimmung faßt Luther nun zusätzlich christologisch, indem er Christi Heilshandeln am Menschen und das christliche Leben eng aufeinander bezieht – »per fidem Christus in nobis, imo unum cum nobis est«!308 Weil Christus dem Glaubenden nach 1.Kor. 1,30 Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung ist, ist der Glaubende »Christi operatio 303

LStA 1,206,13. LStA 1,206,23–29. Die Thesen 17 und 18 führen den Zusammenhang von Demut und Gnade weiter aus (LStA 1,207,1–24). 305 LStA 1,210,12–15. 306 LStA 1,210,23–26. 307 »opera, quae ex tali fide facit, non sua, sed Dei esse nouit« (LStA 1,211,1). 308 LStA 1,211,11 f. Diese Verbindung von Christusbeziehung und christlicher Praxis 304

kündigt sich bereits in den vorangehenden Vorlesungen an und findet im Frühjahr 1517 in der Galaterbriefvorlesung ihren prägnanten Ausdruck in der Formulierung »Vita christiani non est ipsius, sed Christi viventis in eo« (WA 57II,93,28 f.*).

220

3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

seu instrumentum«;309 Christi Werk und das Werk des Christen verhalten sich zueinander wie opus operans und opus operatum.310 Der durch den Glauben im Christen wohnende Christus bewegt den Christen »per uiuam illam fidem operum suorum«311 zur Nachahmung (imitatio) seines Gesetzesgehorsams, was Luther mit einem Zitat Gregors in die Formel »Omnis Christi actio est nostra instructio, imo commotio« faßt.312 Luthers Ethik, so kann man zugespitzt formulieren, ist »die anthropologische Kehrseite seiner Christologie«.313 Und Luther treibt seine Neubestimmung des Verhältnisses von Gott und Mensch bis zu einer Spitzenformulierung, die den Neuansatz der sich in der Zeit der Heidelberger Disputation vollziehenden Klärung der Frühtheologie zur reformatorischen Theologie auf den Punkt bringt, wenn er in der abschließenden 28. der theologischen Thesen sagt: »Amor Dei non inuenit, sed creat suum diligibile«.314

Hier bestimmt er wie in den unmittelbar vorangehenden Thesen positiv, was die ganze Scholastikkritik der ersten 24 Thesen vor allem negativ zum Ausdruck gebracht hat: Das Sein und Handeln des Christen gründet in der Liebe Gottes zum Sünder – dem »amor crucis et ex cruce natus«315 –, die allererst ein christliches Subjekt schafft und ohne die dieses neue Geschöpf nicht sein und leben kann. Das neue Geschöpf, das Gottes Liebe schafft, mag dem Menschen unanschaulich, ja unter der Gegensatzgestalt verborgen sein, aber es ist da und das eigentliche Subjekt der christlichen Praxis. Gottes Heilshandeln in Christus und dessen Zueignung an den Menschen in Gnade, Glaube und Demut sind das positive Grunddatum christlichen Lebens. Angesichts dieser kreuzestheologischen Einsicht in Gottes Heilshandeln erweist sich die scholastische Anthropologie und Ethik im Ganzen wie im einzelnen theologisch in keiner Weise als haltbar. Es ist eine Herrlichkeitstheologie, die nur die der weltlichen Weisheit zugängliche Oberfläche der Wirklichkeit in den Blick nimmt, und nicht das Eigentliche – »id quod res est«316 –, das hinter dem Wahrnehmbaren verborgen liegt, mit dem kreuzestheologischen Schlüssel erschließt und sich von dort her 309 310

LStA 1,211,4.

»Recte opus Christi dicitur operans, et nostrum operatum, ac sic operatum placere deo, gratia operis operantis« (LStA 1,211,16 f.). 311 LStA 1,211,18 f. 312 LStA 1,211,23. 313 So bestimmt E. Käsemann (An die Römer, 41980, 168) die Grundstruktur der paulinischen Ethik, was genauso für Luther gilt. 314 LStA 1,212,2. Th. 28 und ihre probatio sind das Thema des ersten Kapitels von Th. Dieter: Der junge Luther und Aristoteles, 2001, v.a. 136–148. 315 LStA 1,212,13. 316 LStA 1,208,21.

3.4. Hebräerbriefvorlesung

221

in eine ganz andere Denkbewegung, ein neues Kategoriensystem hineinnehmen läßt. Mag das Neue in der Heidelberger Disputation noch in manchen Zügen an Luthers mittelalterlichen Hintergrund erinnern und sprachlich wie inhaltlich in vielem noch der Theologie der ersten Psalmenund der Römerbriefvorlesung verpflichtet sein, so ist doch die Fortentwicklung unverkennbar. Um diese genauer in den Blick zu nehmen, muß anhand der Hebräerbriefvorlesung und weiterer Quellen aus den Jahren 1517 bis 1519 die rechtfertigungstheologische Grundlegung der reformatorischen Ethik behandelt werden. 3.4. Die Hebräerbriefvorlesung (1517/18) Nachdem Luther im März 1517 seine Vorlesung über den Galaterbrief beendet hatte, begann er nicht sofort mit dem nächsten Kolleg. Erst im Herbst setzte er die begonnene Reihe der Paulusvorlesungen mit einem weiteren theologisch gewichtigen Brief fort, dem – von ihm, wenn auch mit Vorbehalten, für paulinisch gehaltenen317 – Hebräerbrief.318 Die Datierung der Vorlesung ist in der Forschung umstritten. Die lange Zeit vorherrschende Auffassung ließ die Vorlesung direkt im Anschluß an die Galaterbriefvorlesung im April 1517 beginnen und bis in den März 1518 dauern, woran sich die zweite Psalmenvorlesung anschließen sollte. Neuere Forschungen datieren die Vorlesung aber in das Wintersemester 1517/18 und das Sommersemester 1518,319 was 317 WA 57III,10,20–22*; 13,9*; 52,20*. Zur zeitgenössischen Diskussion über die Verfasserschaft des Hebräerbriefs: Luthers Vorlesung über den Hebräerbrief nach der Vatikanischen Handschrift, hg. v. E. Hirsch und H. Rückert, 1929, Apparat zu 119 f.; H. Feld: Martin Luthers und Wendelin Steinbachs Vorlesungen über den Hebräerbrief, 1971, Kap. 2; K. Hagen: A Theology of Testament in the Young Luther. The Lectures on Hebrews, 1974, 19–30. 318 WA 57III,III-XLI.1–238*. Hilfreich wegen des Apparats ist immer noch die Ausgabe von Emanuel Hirsch und Hanns Rückert (AKG 13). Zur Vorgeschichte dieser Edition und dem Verhältnis der vorläufigen Ausgabe Fickers von 1929 zur Ausgabe durch Hirsch und Rückert: K. Aland: Einführende Darstellung in Glanz und Niedergang der deutschen Universität. 50 Jahre deutscher Wissenschaftsgeschichte in Briefen an und von Hans Lietzmann (1892–1942), 1979, 120 (sowie die dort in Anm. 47 genannten Briefnummern). Ein Autograph ist nicht erhalten. Die Editionen basieren auf unvollständigen Mitschriften, die einen zum Teil schwer herzustellenden Text bieten, vor allem bei den Glossen. Von den Glossen ist nur eine spätere Abschrift des Textdrucks mit den darin eingetragenen Glossen eines Hörers durch Aurifaber erhalten (in der zugrundeliegenden Handschrift fehlten die Glossen zu Hebr. 10,26–36); von den Scholien gibt es zwei Mitschriften, die eine davon eine Abschrift einer Nachschrift durch Aurifaber, die andere eine unmittelbare Nachschrift der Scholien zu Hebr. 1–5. Die Glossen- und Scholienabschrift Aurifabers ist in der Vatikanischen Bibliothek erhalten; die zweite Nachschrift in Dessau. WA 57III folgt hinsichtlich der Scholien zu Hebr. 1–5 der Dessauer Nachschrift, hinsichtlich des Übrigen der Vatikanischen Abschrift. 319 O. Bayer: Promissio, 21989, 203–205; ihm folgend Brecht 1,130. Gesichert ist nur, daß der für die Vorlesung hergestellte Druck des Hebräerbriefs 1517 entstand, daß Karlstadt im November 1517 auf die Vorlesung anspielte – hinsichtlich der Äußerung Karl-

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3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

zwar eine Lücke in der Vorlesungstätigkeit des Jahres 1517 läßt, aber der neueren Datierung des Beginns der zweiten Psalmenvorlesung auf Anfang 1519 besser entspricht und – was das wichtigste Argument ist – den inhaltlichen Querverbindungen zwischen Luthers Schriften des Jahres 1517/18 besser gerecht wird. Damit wird eine gegenüber der älteren Datierung plausiblere Rekonstruktion dieses zentralen Jahrs seiner theologischen Entwicklung möglich. Folgt man dieser Datierung, dann fallen die für den Stand von Luthers Anschauungen über das christliche Leben entscheidenden Ausführungen in der Auslegung des ersten und zweiten Kapitels des Hebräerbriefs in den Herbst 1517.

Die Eigentümlichkeit der Hebräerbriefvorlesung zeigt sich, wenn man die von Luther dem Hebräerbrief zugeschriebene Untergliederung in einen lehrhaften und einen ermahnenden Teil auf ihre Durchführung hin betrachtet. Wenn Luther in der Randglosse zu Hebr. 10,19 bemerkt, daß hier ein Einschnitt in der Gesamtgliederung des Briefs vorliegt, der nach dem Schema fides und mores aufgebaut ist,320 und wenn er in der Randglosse zu Hebr. 12 davon spricht, daß die Kapitel 1–11 das fundamentum fidei für die darauf aufbauende christliche Existenz gelegt haben,321 erinnert das an die entsprechenden Aussagen der Römerbrief- und der Galaterbriefvorlesung.322 Zugleich setzt Luther aber dadurch einen neuen Akzent, daß er im Scholion zu Hebr. 10,19 den Inhalt der Ermahnung als die Aufforderung zur imitatio des gekreuzigten Christus präzisiert.323 Und schon in der einleitenden Randglosse zum gesamten Brief betont er, daß es dem Brief um die Gnade geht, weshalb dieser »Omnino [...] solum Christum docendum proponit«.324

Die Hebräerbriefvorlesung setzt die theologische Denkbewegung der ersten Psalmen-, der Römerbrief- und der Galaterbriefvorlesung fort und bezeugt einen weiteren wichtigen Schritt in Luthers theologischer Entstadts ist die Deutung von Hirsch und Rückert (AKG 13, S. XXIII.XXVI) der von Ficker (WA 57III,XIX) vorzuziehen –, und daß die Vorlesung mehr als ein Semester gedauert hat. 320 »Ad finem epistole¸ veniens finitaque disputatione exhortationem et commendationem fidei bonorumque adiungit. Sic enim habet Apostoli mos familiaris, ut primum doceat, deinde exhortetur, primum ad fidem, deinde ad mores« (WA 57III,58,13–16*). 321 »Postquam docuit Paulus [Hebr. 1–11], nunc exhortatur [Hebr. 12 f.], et posito fundamento fidei nunc superedificat ›aurum, argentum et lapides pre¸tiosos‹ 1. Cor. 3., id est optimos mores et studia sanctae conversationis. Hunc modum diligenter ubique in Scriptura canonica habet. Nos vero contraria incedimus via pessima, fundamentum ponentes opera, deinde fidem conquirentes« (WA 57III,73,16–20*). Luthers unterschiedliche Bestimmungen der Gliederung des Hebräerbriefs – mit einem Einschnitt entweder bei Hebr. 10,19 oder bei Hebr. 12,1 – lassen sich sachlich zum Ausgleich bringen, wenn man bedenkt, daß Hebr. 11 mit seiner Thematisierung des Glaubens und der aus ihm folgenden Glaubenswerke sowohl dem ersten wie dem zweiten Hauptteil zugeordnet werden kann. 322 WA 56,116,21 f.+117,3–29; WA 56,440,20–441,2; WA 57II,40,14–16*. 323 WA 57III,222,13 f.* 324 WA 57III,5,15 f.*

3.4. Hebräerbriefvorlesung

223

wicklung. Nachdem er die Soteriologie und Ethik ganz auf das opus Dei, das sich als Rechtfertigung aus dem Glauben durch das Wort realisiert und dem der Mensch mit der Selbstnegation seiner Demutsexistenz entspricht, konzentriert hatte, geht er im Jahr 1517/18 über dieses in den Jahren 1513 bis 1517 umfassend ausgearbeitete System seiner Frühtheologie hinaus. Er gibt nun die gedanklich wie existentiell schwer zu bewältigende Verbindung von Glaube und Demut, von Vertikal- und Horizontaldimension der Rechtfertigung preis zugunsten einer gedanklich und existentiell plausibleren neuen Verhältnisbestimmung auf, die zwar auf der Linie der Frühtheologie liegt, aber deren Interesse an der Betonung des opus Dei und des Geschenkcharakters der von Gott gewirkten Gerechtigkeit des Menschen besser zum Ausdruck zu bringen vermag. Einmal mehr gilt es also, sich mit der Entwicklung von Luthers theologischer Gesamtanschauung und insbesondere seiner Rechtfertigungslehre zu beschäftigen, die die Voraussetzung seiner Anschauung vom christlichen Leben bildet und der auch in der Hebräerbriefvorlesung das Hauptinteresse gilt. Auch wenn die Folgerungen dieser rechtfertigungstheologischen Grundsatzüberlegungen für das christliche Leben wie in der ersten Psalmen- und der Römerbriefvorlesung nicht allzu zahlreich sind, so lassen sie doch die Konturen einer ethischen Konzeption erkennen. Die Betonung des opus Dei und des solus Christus erinnern an die erste Psalmenvorlesung. Aber es handelt es sich in der Hebräerbriefvorlesung nicht mehr um die nur wenige Jahre zuvor anhand der Psalmen und des Römer- und Galaterbriefs entwickelte und systematisierte Konzeption. Nicht daß Luther Christus nicht als das opus Dei versteht, von dem Verständnis der Gerechtigkeit als von Gott geschenkter, dem Glauben gnadenhaft zugeeigneter und durch das Wort vermittelter abgeht oder keinen engen Zusammenhang zwischen Rechtfertigung aus Glauben und Demutsexistenz mehr sieht. Aber das Verständnis der einzelnen Elemente wie des gesamten Zusammenhangs hat sich in entscheidenden Punkten erheblich verschoben. Der gegenüber der ersten Psalmen- und der Römerbriefvorlesung erreichte theologische Fortschritt der Hebräerbriefvorlesung legt es nahe, Luthers reformatorische Entdeckung in den Zeitraum 1517/18 zu datieren und inhaltlich mit der durch die worttheologisch-christologische Zentrierung auf die Zueignung der Gerechtigkeit Christi durch das im Glauben ergriffene Verheißungswort charakterisierten Rechtfertigungsauffassung zu identifizieren.325 Dabei darf man die Rede von der 325

Die folgende Deutung der Hebräerbriefvorlesung schließt sich an M. Kroeger (Rechtfertigung und Gesetz. Studien zur Entwicklung der Rechtfertigungslehre beim jungen Luther, 1968, Kap. IV+V, v.a. 165–198.204–208) und O. Bayer (Promissio, 21989, 203–225) an.

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3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

reformatorischen Entdeckung nicht zu eng fassen. Denn was hier in der Hebräerbriefvorlesung zum Ausdruck kommt, enthält zahlreiche Elemente der Theologie der vorangehenden Vorlesungen und wurde in der Folgezeit noch weiter ausgearbeitet. Im theologischen Entwicklungsprozeß Luthers darf jedoch das punktuellereignishafte Moment, wie es die Vorrede zum ersten Band der Gesamtausgabe seiner lateinischen Schriften von 1545326 für Luthers frühe Vorlesungen behauptet, in seiner Bedeutung nicht unterschätzt werden. Das gilt gerade auch für Luthers Auffassung vom christlichen Leben und seine theologische Ethik. Denn das, was die reformatorischen Programmschriften 1520 und die sozialethischen Konkretionen der 1520er Jahre entfalten, ist auf dem Boden der Frühtheologie Luthers theologisch nicht möglich, sondern setzt eine grundlegende Weiterentwicklung voraus. Mit der Annahme einer punktuellen Verdichtung von Luthers theologischer Entwicklung stellt sich das Problem der Bestimmung des Verhältnisses von Vorher und Nachher. Oder konkret gefragt: Wo in der Hebräerbriefvorlesung setzt Luthers Auslegung die reformatorische Erkenntnis voraus und wie ist die vorangehende Auslegung zu bewerten? Die Forschung hat besonders auf die Scholien zu Hebr. 5,1 und Hebr. 7,1 hingewiesen, in denen sich wichtige Momente der reformatorischen Erkenntnis verdichten. Aber betrachtet man beide Scholien als integralen Bestandteil der Vorlesung, so zeigt sich, daß sie in einen von Anfang bis Ende gehenden Spannungsbogen eingebunden sind, der sich vor allem an den christologischen Aussagen der Vorlesung nachverfolgen läßt. So wichtig gerade die in das Frühjahr 1518 fallende Auslegung von Hebr. 5,1 ist, so wenig darf die in den Herbst und Winter fallende Auslegung von Hebr. 1–4 als »vorreformatorisch« abqualifiziert werden. Vielmehr findet sich gerade hier ein nicht unwichtiger Niederschlag der reformatorischen Umgestaltung der Frühtheologie, der einer eigenständigen Würdigung wert ist, die jedoch nicht eine Vordatierung des punktuellen reformatorischen Durchbruchs in den Herbst 1517 intendiert. Auch wenn der eigentliche reformatorische Durchbruch als das punktuelle Erkenntnisgeschehen, in dem Luther das reformatorische Verständnis der Gottesgerechtigkeit als der Zueignung der Christusgerechtigkeit durch das Verheißungswort gewinnt, in das Frühjahr 1518 fällt, so kündigt es sich in immer mehr einzelnen Momenten bereits seit dem Herbst 1517 an. Deshalb ist die Hebräerbriefvorlesung als ganze ein Zeugnis der sich verdichtenden und Luther schließlich bewußtwerdenden reformatorischen Erkenntnis.

Greifbar wird diese theologische Weiterentwicklung beispielsweise an Luthers Verwendung der Unterscheidung von Gottes fremdem und eigenem Werk (opus alienum – opus proprium / suum, Jes. 28,21 [Vg.]).327 Ließ die 326 WA 54,176–178.179–187; LStA 5,618–623.624–638. Hier vor allem: WA 54,185,12– 186,24; LStA 5,635,17–638,2. 327 WA 57III,128,7–19*; 129,21–25*; 79,16+80,11*. Die Eigenart dieser Aussagen zeigt sich durch den Vergleich mit den anderen wichtigen Belegen für die Unterscheidung von opus alienum und proprium in der Zeit von der ersten zur zweiten Psalmenvorlesung: Dictata super Psalterium: WA 55I,362 (RGl. zu Ps. 43/44,11); WA 55II,725,38–42 (Sch. zu Ps. 92/93,4); WA 55II,927,1046–1047 (Sch. zu Ps. 118/119,45). Römerbriefvorlesung: WA 56,376,8 f.; 377,4 f. Sermo in Die S. Thomae, 21.12.1516 (?): WA 1,112,26–113,3. Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute: WA 1,540,23 f.; 613,11–20. Heidelberger Disputation: LStA 1,201,27–202,1. Operationes in Psalmos: AWA 2,97,22–98,2; WA 5,503,26 f.

3.4. Hebräerbriefvorlesung

225

erste Psalmenvorlesung beides noch im »simul« des göttlichen Wirkens zusammenfallen – das Gericht als Vollzug des Heils, das Heil in der Gestalt des Gerichts – und vermochte die Römerbriefvorlesung die göttliche Wirkmächtigkeit und die menschliche Aneignung der Rechtfertigung nur im spannungsreichen Beieinander von Heils- und Gerichtshandeln Gottes einerseits und Glaube und Demut des Menschen andererseits zu verbinden, so versteht Luther nun Gottes fremdes und eigenes Werk als kategorial unterschiedene Größen. Das Gericht über die Sünde und die Rechtfertigung durch den Glauben sind nicht mehr zwei Seiten ein- und desselben Geschehens, die Rechtfertigung hat nicht mehr zwei Dimensionen. Vielmehr ist das Heilsgeschehen – also der Zusammenhang von Christus, Wort, Glaube und Rechtfertigung – selbständig und keiner Ergänzung, Relativierung und Absicherung bedürftig. Denn Christus ist nicht mehr der Richter,328 sondern das heilvolle sacramentum.329 Er tritt als Hoherpriester für die Menschen ein,330 indem er im fröhlichem Wechsel durch den Glauben die Sünde der Menschen auf sich nimmt und dafür seine Gerechtigkeit mitteilt331 und im Glauben eins wird mit dem Menschen.332 Das geschieht, indem der Mensch im Hören das Evangeliumswort,333 das ihm das Heil zuspricht,334 ergreift und sich zu eigen macht. Im Glauben, 328 329

WA 57III,27,5–8*;54,13–17*. WA 57III,114,7–17*; 12,15 f.*; 222,12–224,15*.

330 Das »pro hominibus« des hohenpriesterlichen Diensts Christi arbeitet Luther besonders in der Auslegung von Hebr. 5,1 heraus (WA 57III,27,5–8; 165,15–17; 169,9– 171,8). 331 Christus als Hoherpriester entäußert sich nach Phil. 2 selbst und macht »omnia subditorum mala« zu den seinen und gibt ihnen »per fidelitatem« Anteil an »omnia bona sua« (WA 57III,136,5–7*). Es kommt zu folgendem Austausch: »Sua enim erant iustitia, sapientia, salus, gloria, pax, gaudium etc., nostra erant peccatum, stultitia, perditio, ignominia, crux, tristitia etc. Igitur nostra ista suscepit et egit, quasi nesciret sua« (136,9–12*). 332 WA 57III,129,6–15.21–25*; 151,13–18* 333 WA 57III,108,15–109,23*; 220,15–222,9* (»Nam si quaeras ex Christiano, quodnam sit opus, quo dignus fiat nomine Christiano, nullum prorsus respondere poterit nisi auditum verbi Dei id est fidem. Ideo solae aures sunt organa Christiani hominis, quia non ex ullius membri operibus, sed de fide iustificatur et Christianus iudicatur« [222,5–9*]). Zur Wirkmächtigkeit des Gottesworts: WA 57III,162,2–9*. Das äußere Wort ist begleitet von der inneren Wirkung des Geistes: »Quare in novo testamento fit, ut dum foris ministratur verbum vitae, gratiae et salutis, intus simul doceat spiritus sanctus« (WA 57III,196,4 f.*). 334 Luther entwickelt den Zusammenhang von Christusereignis, Verheißungswort, Glaube, Heilszueignung und Heilsgewißheit in der Auslegung von Hebr. 5,1 (WA 57III,169,9–171,8*), wobei er – wie die RGl. zu Hebr. 5 zeigt (WA 57III,27,20–24*) – Hebr. 4,16 (»adeamus cum fiducia ad thronum gratiae eius ut misericordiam consequamur et gratiam inveniamus in auxilio opportuno«) und 5,1 (»omnis namque pontifex ex hominibus assumptus pro hominibus constituitur in his quae sunt ad Deum ut offerat dona et sacrificia pro peccatis«) miteinander verbindet. Damit thematisiert er die Beziehung zwischen Heilsgewißheit, Gnaden- und Vergebungszueignung einerseits und die

226

3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

der Gottes rechtfertigende Gnade, ja die Gottesbeziehung selbst ist und sich das Heilsgeschehen in Christus persönlich aneignet,335 kommt Gottes Gerechtigkeit beim Menschen zum Zuge;336 und zwar als eine positive Heilswirklichkeit, die nicht unter ihrem Gegenteil verborgen liegt, sondern als Heil greifbar und erfahrbar ist. Zwar ist diese Gegebenheit des Heils im Glauben an das Wort immer begleitet von der Ergebung in das göttliche Gericht über die Sünde und von der partiellen Verborgenheit des göttlichen Heilshandelns. Das ist aber nicht mehr der Modus der Heilsteilhabe, sondern nur noch einer ihrer Begleitumstände.337 Der Glaubende Begründung und Erbringung dieses zuzueignenden und gewißmachenden Heils durch Christus andererseits. Die rechtfertigungstheologischen Schlüsselsätze des Sch. zu Hebr. 5,1 lauten: »nullus consequatur graciam, quia absolvitur aut baptizatur aut communicatur aut iniungitur, sed quia credit sic absolvendo, baptizando, communicando, inungendo se consequi graciam« (WA 57III,169,24–170,1*); »si credant et confidant sese graciam ibi consecuturos, hec sola fides facit eos puros et dignos, que non nititur in operibus illis, sed in purissimo, piissimo, firmissimo verbo Christi dicentis: ›Venite ad me omnes, qui laboratis et onerati estis, ego reficiam vos.‹ [Mt. 11,28] In presumcione igitur istorum verborum accedendum est, et sic accendentes non confundentur« (WA 57III,171,3–8*). – Zur Auslegung von Hebr. 5,1 als Schlüsseltext in der Entwicklung von Luthers reformatorischer Theologie, dessen Gedanken und Formulierungen sich – zum Teil in wörtlicher Entsprechung – in mehreren Schriften des Frühjahrs 1518 wiederfinden: O. Bayer: Promissio, 21989, 206–212; M. Kroeger: Rechtfertigung und Gesetz, 1968, 166–169.175 f. 335 »fides iam est gratia iustificans« (WA 57III,191,24*). »sola enim incredulitas separat a Deo, sicut sola fides coniungit« (WA 57III,19,4 f.*). Christus »practice« und nicht bloß »speculative« zu erkennen, heißt, »certum esse, imo certissimum, Christum pro se apparere et pontificem esse apud Deum. Sicut enim credet, sic fiet ei« (WA 57III,215,18– 20*). 336 Für das Rechtfertigungsverständnis wichtig ist die Auslegung von Hebr. 7,1 (WA III 57 ,187,4–190,11*, hier vor allem 187,4–188,3*). Dazu: M. Brecht: Iustitia Christi. Die Entdeckung Martin Luthers (in: B. Lohse [Hg.]: Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther. Neuere Untersuchungen, 1988, 167–211, hier: 205 f.). 337 Nachwirkungen der in der ersten Psalmen- und der Römerbriefvorlesung entwikkelten Rechtfertigungsanschauung finden sich in der Hebräerbriefvorlesung in unterschiedlicher Gestalt und Gewichtung; etwa zu Hebr. 3,7 mit der Bestimmung des Christusglaubens als »arduissima res [...], quia est raptus et translacio ab omnibus, que sentit intus et foris, in ea, que nec intus nec foris sentit, scil. in invisibilem, altissimum, incomprehensibilem Deum« (WA 57III,144,10–12*) und der Bestimmung des auditus verbi als »redigi in nihilum et in meras tenebras« (WA 57III,143,7 f.18–22*), zu Hebr. 4,4 mit der Abstufung eines quiescere in Wort und Glaube und eines quiescere in der innerlichen nativitas verbi increati (WA 57III,159,15–21*), zu Hebr. 7,1 mit der Bestimmung der durch die Gottesgerechtigkeit gegebenen pax als »abscondita [...] sub cruce et morte non aliter quam sol sub nube« (WA 57III,188,10 f.*) oder zu Hebr. 9,23 mit der Betonung der Unerkennbarkeit des »in tenebris altissimis Dei« wohnenden geistlichen Menschen, die auch für diesen selbst gilt (WA 57III,214,25–27*). Auch andere Quellen aus der Zeit der Hebräerbriefvorlesung nehmen betont Aussagen der ersten Psalmen- und der Römerbriefvorlesung auf, wie etwa der Brief Luthers an Spalatin vom 15.2.1518 (WAB 1,144– 147 [Nr. 59]), der die Intention christlicher Praxis als Selbstnegation und Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit bestimmt und die Verurteilung der guten Werke durch den Christen zur Voraussetzung ihrer Gottgefälligkeit macht (WAB 1,145,11–146,51).

3.4. Hebräerbriefvorlesung

227

ist für Luther in der Hebräerbriefvorlesung nicht mehr gefangen im Widerspruch zwischem dem auf das Unsichtbare gerichteten Glauben und der Selbstwahrnehmung als Sünder mit der dementsprechenden Selbstnegation, sondern er ist ein neuer Mensch (novus homo, creatura nova)338 und weiß sich als solcher. Das Gewissen ist im Glauben an das im Evangeliumswort zugesprochene hohenpriesterliche Selbstopfer Christi rein geworden; es lebt im gaudium remissionis peccatorum, und das heißt in Friede und Freiheit vor Gott.339 Der Glaube bestimmt nun alles Sein und Handeln des Menschen: »fides Christi est omnis virtus [...]. Quia per fidem fit homo similis verbo Dei, verbum autem est filius Dei. Ita autem efficitur, ut sit filius Dei omnis, qui credit in eum, Io. 1., ac per hoc sine omni peccato plenusque omni virtute«.340

Ja, vom durch Gottes Gnadenhandeln wiedergeborenen Menschen gilt: »Impossibile est enim, ut is, qui in gratia Dei est, aliud quam bonum opus faciat«.341

Die in seinem Handeln sich auswirkende Neuheit des neuen Menschen ist nicht verborgen, sie wird nicht bloß gegen die Erfahrung der bleibenden Sündhaftigkeit behauptet, sondern sie hat ihren anthropologischen Ort und wird auch psychologisch verstehbar. So weist Luther auf die Macht von Wort und Glaube hin, das Herz (cor) des Menschen zu verändern342 und so christliches Leben zu ermöglichen. Das Handeln des Christen ist keine gegenüber der göttlichen Gnade relativ selbständige Größe mehr, deren Ausgestaltung mehr oder minder in der Verantwortung des Menschen liegt und in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis wiederum ein göttliches Heilshandeln am Menschen begründet.343 Vielmehr beruht es auf dem Glauben und vollzieht sich als cooperari des Menschen mit Gott: »sine fide impossibile est Deum nobiscum esse aut operari, cum ipse non nisi verbo operetur omnia. Ideo cooperari ei nemo potest, nisi qui adheret verbo, quod fit per fidem, sicut instrumentum non cooperatur artifici nisi apprehensum manu eius.

338

WA 57III,108,15–109,23*; 153,8–10*; 194,5 f.* WA 57III,207,25–208,2.22–26*; 58,1–3*. 340 WA 57III,151,13–17*. 341 WA 57III,217,22–24*. Das gilt wegen der »perseverantia« der »conditio status«: »qui 339

est in gratia, faciat, quicquid faciat, non potest peccare, sed manet in gratia, ita qui est in peccato, non potest bene facere, faciat, quicquid faciat, sed manet in peccatis« (WA 57III,226,3–5*). 342 WA 57III,147,10–148,17*; 156,19–157,4*; 170,10*. Die biblische Belegstelle für dieses Moment von Luthers Glaubensbegriff ist Apg. 15,9 (WA 57III,147,19*; 161,10*; 170,10*; mit Bezug auf die conscientia: 207,25*). 343 Die Kritik am Streben nach Eigengerechtigkeit und der entsprechenden scholastischen Anthropologie und Ethik, die in den Vorlesungen und Disputationen bis 1517 eine wichtige Rolle spielt, tritt in der Hebräerbriefvorlesung umfangmäßig zurück, ohne daß Luther in der Sache von ihr abgeht (WA 57III,5,10–16*; 150,5–22*; 182,13–15*; 188,6 f.*; 230,19–21*).

228

3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

Ideo perversissimum est festinari ad opera, antequam Deus operetur in nobis, i.e. antequam credimus«.344

Biblische Beispiele für die aufgrund des Glaubens vollbrachten Werke bietet die lange Reihe der alttestamentlichen Gestalten in Hebr. 11.345 Am Beispiel von Kain und Abel betont Luther, daß es auf den Glauben des Herzens, nicht auf den Wert der Werke ankommt und daß Gnade und Glaube die Priorität vor den Werken haben.346 Bei Noah bemerkt Luther, der Glaube beim Bau der Arche sei das Entscheidende an seinem Gehorsam gegenüber der göttlichen Weisung (»operis caput et summa[ ]«)347 gewesen. Das größte Interesse unter den alttestamentlichen Glaubensvorbildern zieht jedoch – wohl nicht zuletzt wegen seiner Bedeutung im Römerbrief – Abraham als »summum evangelicae vitae exemplum« auf sich,348 dessen vorbildhafter Glaubensgehorsam darin besteht, daß er alles verläßt und alles auf sich nimmt, um sich ganz Gottes Wort anzuvertrauen, und das »sponte«, d.h. ohne äußeren Zwang, allein aufgrund innerer Selbstverständlichkeit.349

Das christliche Leben ist also immer an Gott zurückgebunden und keine dem Menschen verfügbare oder den menschlichen Wünschen entsprechende Wirklichkeit. In der Fortführung seiner Frühtheologie konkretisiert Luther die Bestimmung der christlichen Existenz als Handeln aufgrund des Glaubens nicht so sehr als positiv zu wertende innerweltliche Verantwortung, sondern als Selbstnegation des Glaubenden. So sieht er das 344 345

WA 57III,143,1–6*.

Obwohl Luther – wie die den zweiten Hauptteil einleitenden Bemerkungen im Sch. zu Hebr. 10,19 zeigen (WA 57III,222,13 f.*) – die Aufforderung zur imitatio des Gekreuzigten für den zentralen Inhalt des Folgenden hält, trägt er den Gedanken des Christus-Exempels nicht in die Reihe der alttestamentlichen Glaubensvorbilder ein. Das zeugt wohl mehr von der Weite dieser Grundbestimmung christlicher Existenz, die nicht immer im engeren Sinn kreuzestheologisch expliziert werden muß, als von der inneren Inkonsequenz von Luthers Exegese. 346 WA 57III,229,25–230,27*. »Sic enim verius et melius vivit, agit, loquitur iustus, quando iam non in se ipso, sed in Deo vivit, agit loquitur« (WA 57III,231,15–17*). 347 WA 57III,234,13*. 348 Sch. zu Hebr. 11,8 (»Fide, qui vocatur Abraham, obedivit in locum exire«): WA 57III,235,19–237,22*. 349 WA 57III,236,4–7*. – Zu dieser Auslegung Luthers bemerkt die Ausgabe von Hirsch und Rückert (AKG 13) 275, Anm. zu Zeile 3: »An dieser Stelle ist die Liebe Gottes über alle Dinge als Bewährung des Glaubens in den Glauben hineingezogen. Damit ist die Einschmelzung der Liebe zu Gott in den Glauben an Gott vollendet und der Grund gelegt für die im Sermon von den guten Werken 1520 für uns am deutlichsten hervortretende neue These Luthers, daß der Glaube selber Erfüllung des ersten Gebots sei [...]. Im Römerkommentar dagegen klingt noch der Doppelschlag von Glaube und Liebe [...]. Auch die Decem praecepta 1518 drücken diese neue Stellung des Glaubens noch nicht klar aus«. Diese Deutung kann sich aber nicht allein auf diese Stelle stützen, die ihr Gewicht erst angesichts der vorangegangenen Aussagen (v.a. dem Sch. zu Hebr. 2,3 mit seiner deutlichen Parallelität zum Sermon Von den guten Werken) erhält und Luthers Einsicht in die Zuordnung von Glaube und Glaubenswerk nicht in der behaupteten Deutlichkeit ausspricht.

3.4. Hebräerbriefvorlesung

229

christliche Leben durch die in Hebr. 10,38 zitierte Aussage des Propheten Habakuk: »Iustus autem meus ex fide vivit« als Gotteswirken und entsprechendes Erleiden des Kreuzes durch den Menschen bestimmt: »Haec sunt enim verba consolationis, necessaria ratione iis, qui patiuntur, ne deficiant, cum fides i.e. vita Christiana magis sit operatio Dei quam nostra i.e. verissima passio nostra. Nemo purgatur nisi vexationibus et turbationibus. Wie mehr leiden und drucken, je besser Christen. Tota vita Christi[ani] est in fide i.e. in cruce et passionibus«.350

Als isoliertes Zitat entspricht das durchaus der Römerbriefvorlesung. Im Zusammenhang der Hebräerbriefvorlesung sind aber Gotteswerk und Glaube anders verstanden als zuvor. Gottes Gerechtigkeit, die dem Menschen im Glauben an das Heilswort zugeeignet wird, ist der feste Punkt christlicher Existenz, von dem sowohl die Gottes- als auch die Weltbeziehung ihren Ausgang nehmen und auf den sie dauerhaft bezogen bleiben. Der Glaubende ist nicht mehr in eine ständige Bußbewegung hineingeworfen, die gerade einen solchen festen Bezugspunkt verneint. Wo das Gotteswerk wirklich als die Zueignung der iustitia Dei in Christus verstanden ist, muß der Gefahr eines Mißverständnisses und Mißbrauchs als Eigengerechtigkeit nicht mit den Mitteln der Demutstheologie entgegengetreten werden, die die Rechtfertigung aus Glauben und die auf sie bezogene christliche Praxis nicht ohne Zweideutigkeiten zu denken vermag und dabei teilweise in spätmittelalterlichen Gedankengängen befangen bleibt. Die überwältigende Heilsmacht des hohenpriesterlichen Wirkens Christi, die im Verheißungswort nicht nur angezeigt, sondern dem Glauben wirkmächtig zugeeignet wird, ist von Luther nun so verstanden, daß an eine Wechselseitigkeit göttlichen und menschlichen Handelns nicht mehr zu denken ist. Was Gott tut und was der Mensch tut, liegt auf kategorial verschiedenen Ebenen und steht in einem unumkehrbaren Abhängigkeitsverhältnis. Ausdruck dieser theologischen Erkenntnis sind die beiden Exklusivaussagen in der Auslegung von Hebr. 11, die den seit der ersten Psalmenvorlesung belegten Gedanken der Glaubenswerke noch einmal zuspitzen: »omnia opera fidei impossibilia nature¸, facillima autem gratiae, qui fiunt nobis patientibus, Deo autem solo operante«.351 – »omnia opera totius Bibliae opera fidei describuntur«.352

Das Scholion zu Hebr. 2,3 (»Si tantam neglexerimus salutem«) macht deutlich, was diese rechtfertigungstheologischen Grundaussagen für das 350

WA 57III,60,29+61,10–13*. WA 57III,69,15–17*. 352 WA 57III,70,15 f.* 351

230

3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

christliche Handeln bedeuten. Luther bestimmt hier den Glauben mit Rückgriff auf Joh. 6,28 als das eine Werk, aus dem alle anderen Werke fließen.353 Die eigentümliche Akzentuierung des Grundgedankens vom Glauben als dem einzigen Werk, aus dem alle anderen Werke fließen, besteht in der Auslegung von Hebr. 2,3 darin, daß Luther die Heilszueignung im Glauben und das daraus hervorgehende Christenleben mit Hilfe der christologischen Unterscheidung von sacramentum und exemplum deutet und somit an Christus und sein Kreuz zurückbindet. Soteriologisch-ethischer Zentralvorgang der vita christiana ist nach der Hebräerbriefvorlesung die Christusgemeinschaft und das Gleichförmigwerden mit Christus. Das soll im Folgenden gezeigt werden, indem die wichtigsten Aussagen des Scholion zu Hebr. 2,3354 Satz für Satz vorgestellt und durch weiteres Material aus der Vorlesung ergänzt werden. Ausgangspunkt des Scholions ist Luthers Deutung von Hebr. 2,1–3 als Gegenüberstellung von richtendem Mosegesetz und heilvollem Christusevangelium.355 Während das Gesetz nur eine äußerliche Forderung aufstellt, der der Mensch durch die äußerliche Gesetzeskonformität entspricht, vermag das Evangelium als Heilswort (verbum salutis) innerlichen Gehorsam gegenüber dem Wort zu bewirken, wodurch es sich als »›Virtus Dei [...] ad salutem‹ [Röm. 1,16]« erweist.356 Das Scholion erläutert das dahingehend weiter, daß das Gesetz vielerlei Werke fordert, während das Evangelium das einzige Werk enthält, auf das es ankommt – den Glauben: (1) »Lex et evangelium eciam hac ratione differunt, quod in lege sunt opera plurima, sed externa omnia, in evangelio vero opus est unicum, sed internum, quod est fides«.357

Luther erläutert die kategoriale Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, von Gesetzeswerken und Glaube mit der gleichermaßen kategorialen Unterscheidung einer zweifachen Gerechtigkeit. Denn die Gesetzeswerke bewirken nur die äußerliche Gerechtigkeit, während der Glaube die in Gott verborgene Gerechtigkeit bewirkt:

353 Die Lutherforschung hat zwar immer wieder dieses Scholion behandelt, ihm jedoch keine größere Bedeutung zuerkannt, ja es sogar Luthers »Demutstheologie« zugerechnet (E. Bizer: Fides ex auditu, 31966, 76 f.). Heinrich Bornkamms Hinweis auf den Zusammenhang von Glaubensbegriff und Ethik in Luthers Auslegung des Hebräerbriefs (in: Nachwort. Heinrich Boehmers »Junger Luther« und die neuere Lutherforschung, in: H. Boehmer: Der junge Luther, 71955, 357–367, hier: 361) bietet leider keinen Quellenbeleg, bezieht sich aber wahrscheinlich auch auf dieses Scholion. 354 WA 57III,113,21–114,20*. 355 WA 57III,9 f.112 f.* 356 WA 57III,10,2–6.16–19*. 357 WA 57III,113,21–23*.

3.4. Hebräerbriefvorlesung

231

(2) »Ideo illa faciunt iusticiam externam, ista facit iusticiam in Deo absconditam«.358

Belegt wird diese besondere Hervorhebung des Glaubens mit dem Zitat Joh. 6,28f., das von Luther als Rückführung und Zusammenfassung der Vielzahl der Werke auf das eine und einzige Werk des Glaubens verstanden wird: (3) »Unde Christus Io. 6., cum Iudei quererent: ›Quid faciemus, ut operemur opera Dei?‹ retrahit eos a pluralitate operum et reducit ad unicum dicens: ›Hoc est opus Dei, ut credatis in eum, quem misit ille.‹«.359

Der Glaube und die Werke aus dem Glauben sind beide an Christus zurückgebunden. Für die Bestimmung des Glaubens als des opus unicum aufgrund von Joh. 6,28 ist der Gedanke der Christusgemeinschaft entscheidend. Denn der Glaube ist bestimmt von seinem Gegenstand, von Christus, der durch den Glauben im Christen lebt, wirksam ist und herrscht und damit Inbegriff der dem Christen geltenden nova lex ist: (4) »Tota itaque substancia nove legis et iusticia eius est unica illa fides Christi, non tamen sic una et sterilis sicut humane opiniones, quia Christus vivit, et non solum vivit, sed operatur, nec solum operatur, sed eciam regnat«.360

Weil dieser im Glauben gegenwärtige Christus der wirkende und herrschende Christus ist, gilt eben vom Glauben, daß er lebt, wirkt und triumphal herrscht und so als bestimmende innere Wirklichkeit zum Quellort der spontan sich aus dem Glauben ergebenden äußeren Werke wird: (5) »Ideo non potest fieri, ut fides in illum sit ociosa, sed vivit et ipsa, operatur atque triumphat, et ita sua sponte fluunt opera foras ex fide«.361

Luther denkt bei der den Christen innerlich und äußerlich bestimmenden Christusgemeinschaft an die Gemeinschaft mit dem für die Menschen leidenden Christus in seiner Funktion als Heilsgabe und Vorbild: (6) »Sic enim nostra paciencia ex paciencia Christi, nostra humilitas ex illius et cetera bona simili modo, si modo firmiter credimus, quod pro nobis ista omnia fecerit, et non solum pro nobis, sed eciam coram nobis, id est (ut b. Augustinus [De trin. IV,3] solet dicere) non tantum ad sacramentum, sed eciam ad exemplum«.362

Mit Verweis auf 1.Petr. 2,21 präzisiert Luther Christi zweifache Funktion näher, indem Christi Kreuz als Überwindung der den alten Menschen zeichnenden Sündenwirklichkeit charakterisiert wird, angesichts dessen 358

WA 57III,113,23 f.* WA 57III,113,24–114,2*. 360 WA 57III,114,2–5*. Die Klimax, daß Christus im Christen nicht nur lebt und wirkt, 359

sondern auch herrscht, kontrastiert die neue Heilswirklichkeit mit der alten Sündenwirklichkeit, in der das peccatum herrschte (Röm. 5,21; 6,12). 361 WA 57III,114,5–7*. 362 WA 57III,114,7–11*. Zur Unterscheidung von sacramentum und exemplum: H. Feld: Martin Luthers und Wendelin Steinbachs Vorlesungen über den Hebräerbrief, 1971, 216–223.

232

3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

die Christen nicht nur die bona Christi – wie seine Leidensfähigkeit und Demut – nachahmen, sondern auch seine Sündenstrafen in der imitatio Christi auf sich nehmen sollen. (7) »Unde b. Petrus 1. Petri 4: ›Christus pro nobis passus est‹ (hoc quoad sacramentum) ›vobis relinquens exemplum.‹ Sacramentum passionis Christi est mors atque remissio peccatorum, exemplum autem est imitacio penarum eius«.363

Luthers Verbindung des Gedankens der aus dem Glauben als der Christusgemeinschaft frei hervorfließenden Werke mit der imitatio des Gekreuzigten soll nicht die zu Beginn des Scholions gemachten Aussagen über den Glauben relativieren, sondern entfalten. Christusgemeinschaft im Glauben heißt Gemeinschaft mit dem Gekreuzigten, wobei der Aspekt des Sakraments dem des Exempels vorgeordnet ist und glaubenstheologisch bestimmt ist: (8) »Ideo qui Christum vult imitari quoad exemplum, necesse est, ut credat primum firma fide Christum pro se esse passum ac mortuum quoad sacramentum«.364

Damit ist das traditionelle Motiv der imitatio Christi neu bestimmt und kann als Inbegriff der vita christiana entfaltet werden. Um diese Aussage des Sch. zu Hebr. 2,3 besser zu verstehen, werfen wir einen Blick auf das, wie Luther an anderen Stellen der Vorlesung die christliche Existenz als Prozeß der Gleichgestaltung mit dem Menschen Christus darstellt. Das durch Christus als »causa salutis« erbrachte Heil vollzieht sich im »modus salutis« der transformatio in das Bild des Gekreuzigten, deren treibende Kraft nicht Zwang und Furcht, sondern das dulce spectaculum misericordiae et charitatis Dei, und das heißt Gottes Liebe, ist.365 Diese Gottesliebe konkretisiert sich aber als Zorn Gottes, als Zerstörung (destructio) der sündigen Existenz des Menschen (corpus peccati, lex carnis). Denn Gott macht lebendig, indem er tötet, er erhöht, indem er demütigt. Der Mensch soll mit weit geöffneten Armen freudig Anfechtung und Tod empfangen und sich in Kreuz und Leiden ergeben. Denn nur so, als der menschliche Gekreuzigte, kommt Christus zum Menschen und lebt in ihm.366 Das wirkmächtige Vorbild Christi führt den Menschen nicht nur in die Gleichgestaltung mit seinem Kreuz, sie verändert auch den Affekt des Menschen, so daß er an Christi Kreuz den amor mortis et passionis 363

WA 57III,114,12–15*. WA 57III,114,15–17*. 365 Sch. zu Hebr. 2,10 (WA 57III,124,4–125,13*). Die Formulierung »Nam Deus pater 364

Christum fecit, ut esset signum et idea, cui adherentes per fidem transformarentur in eandem imaginem ac sic abstraherentur ab imaginibus mundi« (124,12–14*) spielt auf 2. Kor. 3,18 an (vgl. WA 57III,214,9–11*), den Schlußsatz der paulinischen Gegenüberstellung von Mose und Christus und von Gesetz und Evangelium in 2. Kor. 3. 366 Sch. zu Hebr. 2,9 (WA 57III,122,8–23*).

3.4. Hebräerbriefvorlesung

233

lernt.367 Wenn der Gekreuzigte im Glaubenden Gestalt gewinnt, verändert sich auch das Weltverhältnis des Menschen grundlegend. Die transformatio in das Bild Christi zieht ihn weg von all dem, woran er in der Welt hing.368 Der Christ steht zwischen Himmlisch- und Irdischsein, d.h. er distanziert sich von der Welt und ist allein Gott zugewandt und folgt nur dem Gotteswillen; er trägt das Bild Christi an sich und lebt in Entsprechung zur inneren Einstellung (affectus) und zum Vorbild (exemplum) Christi. Diese Existenz des geistlichen Menschen beginnt im gegenwärtigen Leben, sie ist aber verborgen in Gott und wird erst im zukünftigen Leben vollendet. Solange lebt der Glaubende zwar in der Welt, aber vom Hören des Worts, das die Weltwirklichkeit transzendiert.369 Die Forderung, daß es den Christen nur darum gehen soll, täglich mehr und mehr dem diesseitigen Leben abzusterben und dem zukünftigen Leben zuzueilen,370 um so umgestaltet und dem Gekreuzigten gleich zu werden,371 erläutert Luther durch die Unterscheidung von Gottes fremdem und eigenem Werk, die er auch seelsorgerlich entfaltet.372 Denn angesichts von Christi Auferstehung braucht der Glaubende keine Todesfurcht zu haben. Der Tod des Todes ist Gottes eigenes Werk, das sich seines fremden Werks, nämlich des Teufelswerks des Todes, bedient.373 Der mit Christus geeinte Glaubende überwindet den Tod, so wie der mit der unsterblichen Gottheit geeinte Christus den Tod überwunden hat, nämlich durch Gottes fremdes Werk, den Tod des Todes.374 Der Tod ist nicht zu fürchten, sondern er ist überwunden und vollzieht am Glaubenden sein gutes Werk. Deshalb verkündet Paulus auch überall voller Freude die Auferstehung Christi, weil von ihr gilt: »per eam et lex et peccatum et mors et infernus et diabolus, mundus et caro, omnia superata sunt omnibus, qui credunt in eum et invocant eum«.375

Das Verhältnis zum Tod ist darum ein Maßstab für das eigene Christsein. Wer ihn fürchtet, hat den Auferstehungsglauben noch nicht in ausreichendem Maß und ist »non satis [...] Christianus«.376 Ja, Luther spitzt das sogar 367 368 369

WA 57III,126,4 f.* WA 57III,125,2–4*.

Sch. zu Hebr. 9,23 (WA 57III,213,24–215,14*). »Christianorum unicum debet esse studium, ut cotidie magis ac magis moriantur huic vitae eiusque tedio festinent ad futuram vitam« (WA 57III,160,15–17*). 371 WA 57III,125,4 f.* 372 Sch. zu Hebr. 2,14 (»Ut per mortem destrueret«: WA 57III,127,20–134,11*). Die seelsorgerliche Absicht ergibt sich nicht nur aus dem Inhalt, sondern auch aus den Überschriften »De morte contemnenda« (WA 57III,127,21*) und »Consolacio mortis« (WA 57III,132,21*). 373 WA 57III,128,7–19*. 374 WA 57III,129,6–15.21–25*. 375 WA 57III,130,8–11*. 376 WA 57III,131,5*. 370

234

3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

weiter zu, indem er hinzufügt: »Qui non sponte moriatur, non est Christianus appellandus«,377 womit er das Aufsichnehmen des Todes als eine sich von selbst ergebende Selbstverständlichkeit christlicher Existenz kennzeichnet. Denn es handelt sich dabei nicht um eine Forderung an eine religiöse Elite oder eine besondere Frömmigkeitsstufe, sondern um das, was mit der Vaterunserbitte um das Kommen des Gottesreichs von jedem Christen erbeten und mit der Taufe auf den Tod Christi (Röm. 6) jedem Christen zuteil wird.378 Der Glaubende kann den Tod und die Gleichgestaltung mit dem Gekreuzigten zuversichtlich auf sich nehmen, weil sein Gewissen angesichts des die Sünden auf sich nehmenden Gotteslamms Christus keine Sündenstrafe mehr fürchten muß.379 Ja, diesem Glauben dienen Tod, Verdammnis und Hölle zur Übung und Stärkung, weil sie durch Christus überwunden sind. Der Glaube liebt den Tod geradezu, weil er die Sünde tötet.380 Trost angesichts des Todes ist also die auf dem Glauben beruhende Todesverachtung (contemptus mortis), die die Vollkommenheit (perfectio) alles christlichen Lebens (omnis Christianorum vita) ist – eine Vollkommenheit die im diesseitigen Leben erst begonnen hat und nur im dauernden Voranschreiten (assidue proficiendo) den Glaubenden gerecht, heilig und von Sünde frei macht.381 Im Aufsichnehmen des Todes überwiegt für Luther also der positive Aspekt den negativen weit, weil der Tod und alle Übel sich für den Christen zum Guten und zum Gewinn wenden382 und hier der alte, äußere Mensch vergeht und der innere Mensch erneuert wird.383 Bei aller Bedeutung, die das Gleichförmigwerden mit dem Gekreuzigten für die Hebräerbriefvorlesung hat, gilt doch der Hinweis im Scholion zu Hebr. 2,3 zur Vorordnung des glaubenstheologisch zu verstehenden sacramentum vor die Nachahmung des exemplum. Denn dadurch, »daß Luther unsere Gleichförmigkeit mit Christus nicht als eine an sich vorhandene, sondern als eine durch Gottes Tat anhebende und sich vollendende beschreibt, ist [...] jedes moralistische Mißverständnis der ›Nachahmung Christi‹ im ersten Ansatz abgewehrt«.384 Diese Beschränkung des Heilsgeschehens auf Christus und dessen Zueignung an den Glauben durch das Verheißungswort hat auch eine Neubewertung der Buße zur Folge. Das Sch. zu Hebr. 2,3 deutet das kurz an, 377

57III,131,8 f.* 57III,131,12–17*. 57III,131,17–132,1*. 57III,132,1–11*. 57III,132,21–133,2*. 57III,135,11–14*. 57III,223,6 f.* 384 E. Vogelsang: Die Bedeutung der neuveröffentlichten Hebräerbrief-Vorlesung Luthers von 1517/18, 1930, 20. WA WA 379 WA 380 WA 381 WA 382 WA 383 WA 378

3.4. Hebräerbriefvorlesung

235

indem es die Erwartung, dem Vorbild des leidenden Christus entsprechende Bußwerke hätten sündentilgende Kraft, als Mißverständnis kritisiert und betont, daß solche Bußwerke die Heilszueignung durch Christi Heilsgabe voraussetzen: (9) »Vehementer ergo errant, qui peccata delere parant primum per opera et labores penitencie, velut ab exemplo incipientis, cum deberent a sacramento incipere«.385

Das sich darin andeutende Neuverständnis der bußtheologischen Dimension christlicher Existenz will Buße und Christusnachfolge nicht beschränken, sondern nur dem Christusgeschehen und der Rechtfertigung in anderer Weise zuordnen. Die Buße ist nun nicht mehr konstitutiver Bestandteil der Heilszueignung, sondern dieser nachgeordnet. Die in den der Hebräerbriefvorlesung vorangehenden Vorlesungen so wichtigen Themen Buße (poenitentia) und Bekenntnis (confessio) finden sich darum auch in der Hebräerbriefvorlesung. Sie spielen aber keine größere Rolle, will man nicht die für die Vorlesung zentralen christologischen Aussagen zum priesterlichen Amt Christi und zum Gleichförmigwerden mit dem Gekreuzigten als eigentümliche Form der Bußtheologie bewerten. Denn Aufgabe des Hohenpriesters ist die Reinigung von der Sünde. Der Mensch kann nicht von sich aus Buße tun und sich von seinen Sünden reinigen, weil schon vor unserer Buße die Sünden vergeben sein müssen und weil Gott in uns durch Christus die Buße bewirkt, wie auch seine Gerechtigkeit unsere Gerechtigkeit bewirkt. Buße ist also Folge der von Gott her konstituierten Gottesbeziehung.386 Ähnlich ist die Aussage zu verstehen, daß »tota nostra operacio confessio est«,387 mit der Luther unter Rückgriff auf eine bußtheologische Kategorie das Gottesverhältnis des glaubenden Menschen umschreibt, das sich in Gotteslob und Sündenbekenntnis vollzieht und ein Werk des Glaubens ist.388 Dieses weiter gefaßte Verständnis der Buße als Vollzug des christlichen Lebens aufgrund des Glaubens führt Luther aber nicht dazu, die in der altkirchlichen und mittelalterlichen Exegese umstrittenen Aussagen über die Buße im Hebräerbrief (Hebr. 6,6; 10,26; 12,17) in einer Weise zu deuten, daß sie gegen das Bußsakrament zu stehen kommen oder einem Heiligkeits- und Vollkommenheitsideal entsprechen, das den Prozeßcharakter und die bleibende Unvollkommenheit des christlichen Lebens nicht mehr zu denken erlaubt. Vielmehr kritisiert Luther aufgrund seiner Rechtfertigungsanschauung den scheinbaren Rigorismus 385 WA 57III,114,17–19*. Vgl. Luthers Hinweise in dem den Resolutiones beigegebenen Brief an Staupitz, daß die wahre Buße nicht auf die Gottesliebe hinführt, sondern von ihr ausgeht (WA 1,525,11–14). 386 Sch. zu Hebr. 1,3 (WA 57III,101,16–102,3*). 387 WA 57III,137,5*. 388 Sch. zu Hebr. 3,1 (WA 57III,137,4–138,16*).

236

3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

einer solchen Deutung. Die eigentliche Gefährdung der christlichen Existenz ist nicht die Art Sünde, angesichts derer es keine Möglichkeit zur Buße mehr gibt, sondern die Verfehlung des Gottesverhältnisses durch die Aufrichtung der Eigengerechtigkeit und die Preisgabe Christi.389 So wie die Bestimmung des Glaubens als opus unicum und dessen Entfaltung durch das Gleichförmigwerden mit Christus die bußtheologische Konkretion der christlichen Existenz verändert, so wirkt sie sich auch auf das Gesetzesverständnis aus. Der Schlußsatz des Scholions zu Hebr. 2,3 deutet das an, indem er auf den Beginn des Scholions zurückgreifend Gesetz und Evangelium in grundsätzlicher Weise unterscheidet: (10) »Ideo evangelium negligitur per incredulitatem cordis, lex autem per inobedienciam operum«.390

Im vorliegenden engeren und weiteren Zusammenhang kann das kaum anders verstanden werden als so, daß die eigentliche Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, die innere Gerechtigkeit durch den Glauben an das Evangelium ist. Die vom Gesetz geforderte Gerechtigkeit der Werke bezieht sich dagegen nur auf den äußeren Vollzug der im Glauben gründenden christlichen Existenz. Man darf Luthers Aussage also nicht so verstehen, als habe das Gesetz eine selbständige Bedeutung neben dem Glauben und als sei es – und nicht der Glaube – der eigentliche Bezugspunkt der christlichen Praxis. Vielmehr muß man diese Aussage so verstehen, daß das Gesetz durch den Glauben zwar als Ursprung des Handelns außer Kraft gesetzt, dennoch aber Maßstab und Orientierungspunkt der christlichen Praxis und als solches auch für den Glaubenden von Bedeutung ist.391 Luthers 389 Hebr. 6,6 (WA 57III,181,9–24*) verneint für Luther nicht die Buße für die Gefallenen, die im Neuen Testament mehrfach belegt ist, und zwar für Einzelsünden genauso wie für den Abfall vom Glauben (selbst diese Hauptsünde läßt Buße zu: »Imo si non esset poenitentia, tota epistola ad Galatas nulla esset, cum in ea non arguantur peccata, ut vocant, actualia, sed summum, scilicet infidelitatis peccatum, quo a Christo ad legem defecerant« [182,5–8*]). Hier geht es um die Sünde des grundlegenden Mißverständnisses des Glaubens (182,20–23*), das in der völligen Preisgabe Christi und in der Aufrichtung der Eigengerechtigkeit besteht: »Apostolus hoc loco intelligendus est loqui de lapsu fidei in perfidiam ea scilicet opinione, qua existiment se extra Christum posse suis iusticiis salvari, quod prorsus est impossibile« (182,13–15*). – Hebr. 10,26 (WA 57III,225,8– 226,6*) bezieht sich auf das Fehlen eines zweiten Opfers, nicht einer zweiten Buße, denn »extra Christum« kann es keine Buße geben. – Die Glossen zu Hebr. 12,17 (WA 57III,82,1–6.13–21*) sehen hier eine Aussage über den menschlicher Beeinflussung entzogenen Ratschluß Gottes und weisen darauf hin, daß »poenitentia« im biblischen Sprachgebrauch nie die sakramentale Buße meint und Sündenschmerz und Reue sich nicht auf die Strafe, sondern auf die Beleidigung Gottes beziehen. 390 WA 57III,114,19 f.* 391 Diese Grundspannung von Luthers Ethik findet sich von nun an immer wieder. Luther betont einerseits den sua sponte tätigen Glauben, entfaltet andererseits aber ohne irgendwelche Schwierigkeiten die Konkretion des christlichen Lebens anhand des Ge-

3.4. Hebräerbriefvorlesung

237

Neuverständnis des Evangeliums beschränkt die Funktion und die Bedeutung des Gesetzes. Während die im Evangelium zugesprochene Gnade die Sünde beseitigt, den neuen Menschen schafft und ihn anleitet, vermag das Gesetz nur, die Sünde aufzudecken und äußerliches Wohlverhalten zu erreichen, ohne die falsche innere Ausrichtung des Menschen verändern zu können.392 Dieses Verständnis von Gesetz und Evangelium heißt für den Christen, daß er nicht mehr unter der Ordnung des Gesetzes steht. Luther bringt das in unterschiedlicher Weise zum Ausdruck, etwa indem er die mit Christus angebrochene Heilsordnung im Anschluß an das mittelalterliche Gesetzesverständnis als »nova lex« bezeichnet393 oder indem er im Rückgriff auf 1.Tim. 1,9 (»iusto lex non est posita«) für den Christen die Freiheit vom Gesetz behauptet. Allerdings scheint ihm diese Konsequenz seines Verständnisses von Heilswort und Rechtfertigung noch nicht ganz geheuer zu sein, weshalb er die These von der christlichen Freiheit vom Gesetz im Frühjahr 1518 sehr behutsam entfaltet, wie das Sch. zu Hebr. 7,12 (»Translato sacerdotio necesse est, ut legis translatio fiat«) zeigt. Luther unterscheidet hier das Gesetz hinsichtlich seiner fleischlichen inferior intelligentia, d.h. der äußerlichen Zeremonien, die in ihrer alttestamentlichen Gestalt für die Christen nicht verbindlich sind, da es bei ihnen nicht um äußere, sondern um innere Reinheit des Gewissens geht,394 und seiner superior intelligentia, d.h. als göttliche oder menschliche Norm im umfassenden Sinn (»quicquid divinitus et humanitus praecipitur, sive sit ceremoniale sive iudiciale et morale«), die durch Christus als finis legis erfüllt ist und dem Christen ebenfalls eigentlich nicht mehr gilt.395 Allerdings befindet sich der Christ, für den die inferior intelligentia legis überwunden ist, noch in einem Übergang hinsichtlich der superior intelligentia: »haec translatio nondum est perfecta sicut prior, perficitur autem de die in diem. Ideo partim docet, partim monstrat [...] sacerdos novus [Christus], cum setzes, vor allem unter Rückgriff auf den Dekalog. Der erstmals in der Hebräerbriefvorlesung in dieser Klarheit greifbare Gedanke vom Glauben als dem opus unicum, aus dem alle anderen Werke fließen, hat nur in einer Hinsicht eine »antinomistische« Spitze, nämlich was die Heilsbedeutung des Gesetzes anbelangt; in anderer Hinsicht ist er gerade nicht antinomistisch, sondern kann das Gesetz als gültiges, freilich in rechter Weise zu verstehendes Gottesgebot aufs Höchste schätzen. Diese Verschränkung von Gesetzeskritik (hinsichtlich des Heils) und Gesetzespredigt (hinsichtlich der Anleitung zu Glaubenswerken) wird Luther später in der Auseinandersetzung mit der seiner Theologie nicht entsprechenden Gesetzesauffassung Karlstadts und der ›Schwärmer‹ einerseits und mit den antinomistischen Überlegungen eines Agricola weiter explizieren. 392 WA 57III,108,15–109,23*; 55,18–20*. 393 WA 57III,114,2*; 190,19–192,15*. Thomas von Aquin: S. th. 1a 2ae, q. 106–108; Biel: Coll. III, d. 40, q. unica (art. 3, dub. 3, F: 704). 394 WA 57III,190,19–192,15*. 395 WA 57III,192,15–193,8*; Zitat: 192,18 f.*

238

3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

iustus ille, cui lex non sit posita, in hoc tempore nullus sit nisi inchoative«.396 Luther erläutert nicht, worin für ihn die fortdauernde Bedeutung des Gesetzes hinsichtlich der superior intelligentia besteht: ob in der Aufdeckung der Sünde oder der äußeren Disziplinierung. Aber er weist – wohl um ein antinomistisches Mißverständnis seiner rechtfertigungstheologischen Gesetzesauffassung zu vermeiden – darauf hin, daß für den Christen das Gesetz nach 1.Tim. 1,9 zwar nicht mehr gilt, daß es aber in Christus erfüllt und an sein Ende gekommen ist und daß nun für den Christen sein Leben selbst Gesetz ist.397 Klar ist aber, daß damit dem Gesetz keine Schlüsselrolle für die Heilszueignung und die christliche Praxis zukommt. Deshalb ist Christus für Luther auch kein Gesetzes-, sondern Gnadenprediger und bringt gerade als solcher die plenitudo legis.398 Daß damit die äußere Ordnung der christlichen Existenz nicht infragegestellt, sondern vielmehr ein doppelter, nämlich ein innerer und äußerer Gesetzesgehorsam gefordert ist, zeigt Luthers auch auf die Gegenwart bezogene Erörterung der Frage, wie sich bei den »veteris legis sancti« die Rechtfertigung ohne Gesetzeswerke und die Verbindlichkeit der alttestamentlichen Gesetzesordnung, die sogar verdienstliche Werke ermöglichte, zueinander verhalten.399 Für Luther sind die äußeren Zeremonien der Bewährungsort des Glaubens. Damit das aber nicht als soteriologisch relevanter Gesetzesgehorsam mißverstanden wird, weist er auf die Doppelheit des Gesetzesgehorsams hin: Es kommt darauf an, das Gesetz »simul intus spiritualiter et foris corporaliter«400 zu befolgen und die äußerlichen Zeremonien als »occasio duntaxat fidei et charitatis exercendae peccatorumque aptius coe¨rcendorum« zu verstehen.401 Das Problem sind also nicht die Zeremonien oder das Gesetz, sondern deren Mißverständnis, weshalb es für die Bewertung der Werke und Zeremonien auf die opinio ankommt, in der sie getan werden.402 Als gegenwartsrelevante Beispiele wählt er seine eigene Lebenswelt und die seiner Zuhörer: das Mönchtum und das kirch396 397

WA 57III,193,5–8*.

»›lex translata est‹ id est per Christum impleta est. Ipse enim ›finis est legis‹, sicut dicit Matthei 5.: ›Non veni solvere legem, sed implere.‹ Hic prima ad Timot. 1[,9].: ›Iusto non est lex posita‹, id est ex quo iustus habet omnia, quae requirit lex, iam [est] extra legem, quia non debet legi, sed facit legem et vita eius est lex ipsa viva et plena« (WA 57III,192,18–23*). Auch an anderen Stellen der Vorlesung vertritt Luther ein solches positives Verständnis des neuen, verinnerlichten Gesetzes (WA 57III,196,17–19*; 57,25 f.*). 398 »Ideo sacerdotis novi officium proprie non est docere legem, sed monstrare gratiam Iesu Christi, quae est plenitudo legis« (WA 57III,192,23–25*). 399 WA 57III,216,20–217,24*. 400 WA 57III,216,25–217,1*. 401 WA 57III,217,5–7*. 402 WA 57III,217,7 f.*

3.5. Sermo de duplici iustitia

239

liche Leben des späten Mittelalters mit ihren äußerlichen Vollzügen403 – also das, was im Wittenberg des Jahres 1517/18 dem alttestamentlichen Zeremonialgesetz entspricht, das für den Christen nicht mehr gilt. Diese äußerlichen Vollzüge sind zu befolgen, wenn man in ihnen das Gesetz Gottes erfüllt, d.h. wenn man sie im Glauben praktiziert. Denn wer in Gottes Gnade steht, kann gar nicht anders, als gute Werke tun, und erfüllt darum auch im Gehorsam gegenüber der äußeren kirchlichen Ordnung den eigentlichen Gotteswillen. So bricht Luther zwar grundsätzlich mit dem mittelalterlichen Gesetzesverständnis, nicht aber mit der tradierten äußeren Ordnung des christlichen Lebens, für die das recht verstandene Gesetz weiterhin von Bedeutung ist. Die Hebräerbriefvorlesung markiert einen wichtigen Einschnitt in Luthers theologischer Entwicklung. Indem Luther Christus als die im Glauben an das Verheißungswort ergriffene Heilswirklichkeit erkennt, verhilft er seiner in den vorangehenden Vorlesungen und Disputationen entwickelten Theologie zur entscheidenden, »reformatorischen« Klärung. Und damit ist auch seine Auffassung vom christlichen Leben entscheidend weiterentwikkelt. Luther formuliert nun erstmals in Anlehnung an Joh. 6,28 seine Auffassung vom Glauben als dem opus unicum, das sich im Gleichförmigwerden mit dem Gekreuzigten konkretisiert. 3.5. Der Sermo de duplici iustitia (1519) Luther hielt den theologischen Ertrag seiner frühen Vorlesungen und Disputationen 1518/19 in unterschiedlicher Form fest. Neben den umfangreichen Kommentaren zum Galaterbrief und zu den ersten zehn Psalmen ist dabei die konzentrierte Zusammenfassung im Sermo de duplici iustitia wertvoll, einer 1518 oder 1519 gehaltenen und 1519 im Druck erschienenen Predigt über Phil. 2,5–11.404 Luther versteht den Predigttext im Sinne 403 404

WA 57III,217,8–24*. WA 2,143 f.145–152. An einigen Punkten wird der wahrscheinlich etwas früher

entstandene, inhaltlich verwandte, wenn auch weniger prägnante Sermo de triplici iustitia (WA 2,41 f.43–47) mit in die Darstellung einbezogen. Die Datierung und das Verhältnis dieser beiden Sermone zueinander wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Während der Entstehungszeitpunkt des Sermo de triplici iustitia aufgrund des Erscheinungsjahrs des Erstdrucks 1518 unumstritten ist, wird die Entstehung Sermo de duplici iustitia mit unterschiedlichen Argumenten auf das Frühjahr 1518, den Winter 1518/19 oder das Frühjahr 1519 datiert. Die vorgeschlagenen Datierungen verdanken sich einer nicht unproblematischen Indienstnahme des Sermo de duplici iustitia für die jeweilige zeitliche und inhaltliche Fixierung des reformatorischen Durchbruchs. Die gewichtigsten, aber nicht zwingenden Argumente für die Datierung auf das Frühjahr 1518 finden sich bei D. Olivier: Les deux sermons sur la double et triple justice (Oecumenica 3, 1968, 39–69), für die Datierung auf das Frühjahr 1519 bei R. Staats (Augustins »De spiritu et littera«

240

3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

des Paulus als eine Paränese, die sich zur argumentativen Unterstützung der Forderung der Einmütigkeit und Liebe unter den Christen des Christushymnus bedient. Dessen Aussagen über das Heilsgeschehen in Christus stellen zum einen das durch Christus zuteilgewordene Heil als Grundlage und Ermöglichung der christlichen Praxis und zum anderen Christi Lebenshingabe als beispielhaft für die Hingabe des Christen an den Nächsten vor Augen. Der Titel entspricht darum nicht ganz dem Inhalt, geht es Luther doch weniger um die systematische Unterscheidung von zweierlei Gerechtigkeit als vielmehr um die Anleitung zu christlicher Praxis. Weil aber die titelgebende duplex iustitia als kategoriale Unterscheidung von göttlichem und menschlichem Handeln allererst das richtige Verständnis des Predigttexts ermöglicht, ist der Titel dennoch angemessen. Der Titel dient aber nicht nur der systematischen Erschließung des Predigttexts, sondern er öffnet den Predigttext zugleich auch für die Lebenswelt der Predigthörer und der Leser des gedruckten Sermons. Deutlicher als im Sermo de duplici iustitia wird das im Sermo de triplici iustitia, wo gleich zu Beginn »iustitia« als »Teutonice fromkeyt«405 erläutert wird. Der deutsche Begriff Gerechtigkeit scheint Luther unzulänglich, das theologisch damit Gemeinte wiederzugeben. Was aber verbindet sich mit dem Frömmigkeitsbegriff, daß Luther auf ihn zurückgreift? Dazu bedarf es eines kurzen Blicks auf die Geschichte des Frömmigkeitsbegriffs, dessen »Entwicklung [...] vom althochdeutschen Vorteil bringen über mittelhochdeutsch tapfer, rechtschaffen, tüchtig, ehrbar, angesehen, vornehm, also von einer utilis-Bedeutung über eine sittliche Bedeutung, zum modernen fromm mit seiner religiösen Aufladung« verlief.406 Frömmigkeit war im späten Mittelalter als »Inbegriff bürgerlicher Rechtschaffenheit und Tugendhaftigkeit«407 ein Grundwert und eine elementare Forderung der städ-

in Luthers reformatorischer Erkenntnis, in: B. Lohse [Hg.]: Der Durchbruch der reformatorischen Erkenntnis bei Luther, 1988, 365–384, hier: 381–383). Da eine Datierung aufgrund innerer Kriterien nicht eindeutig möglich ist, gilt der Vorrang der äußeren Kriterien, hier vor allem des in der ältesten erhaltenen Ausgabe angegebenen Erscheinungsjahrs, und das ist 1519. Das heißt, daß der Sermo de triplici iustitia wahrscheinlich vor dem Sermo de duplici iustitia gehalten und publiziert wurde. Auch die Gattung der beiden Sermone wird unterschiedlich bestimmt, teils werden sie als Predigten, teils als theologische Traktate gesehen. Für die Druckfassung jedenfalls gilt, daß die theologische Argumentation die homiletische Anrede in den Hintergrund rückt, weshalb beide Texte als programmatische Äußerungen zu betrachten sind. 405 WA 2,43,5. 406 H. Wunder: »iusticia, Teutonice fromkeyt.« Theologische Rechtfertigung und bürgerliche Rechtschaffenheit. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte eines theologischen Konzepts (in: B. Moeller [Hg.]: Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, 1998, 307– 332, hier: 311). 407 AaO 324.

3.5. Sermo de duplici iustitia

241

tischen Gesellschaft hinsichtlich des einzelnen und der Gemeinschaft. Die Reformation griff diesen primär ethischen Frömmigkeitsbegriff auf und reicherte ihn um die religiöse Bedeutungsdimension an, wobei es ihr gerade auf diese Verbindung ankam. Luther versteht die iustitia als fromkeyt, weil die Rechtfertigung die ihr entsprechende Lebensgestaltung innerhalb der weltlichen Gegebenheiten nach sich zieht. Und das heißt in der von Luther vorausgesetzten spätmittelalterlichen Stadtgesellschaft, daß sie als tugendhafte Rechtschaffenheit Gestalt gewinnt. Aber Luther nimmt nicht einfach nur das bei den Adressaten vorausgesetzte »Werte- und Verhaltensmuster« der »aktiven, auf ein christliches Leben in der Welt« gerichteten Gerechtigkeit408 auf. Vielmehr will er durch die enge Verbindung mit der im Glauben geschenkten Christusgerechtigkeit die innerweltliche Rechtschaffenheit in einem neuen Sinn verstehen und von diesem Neuverständnis her auch umformen. Daß Luther nicht einfach an die dem Menschen als solchem eignende Moralität anknüpft, zeigt seine Relativierung der »species iusticiae«, die den Menschen aufgrund seiner Gesetzeskonformität äußerlich als »bonus vir« erscheinen läßt.409 Daß hier eigentlich nicht von Gerechtigkeit gesprochen werden kann, zeigt allein die Tatsache der erbsündlichen Beeinträchtigung aller menschlichen Kräfte, insbesondere des freien Willens, die dazu führt, daß der Mensch als schlechter Baum nur schlechte Früchte bringen kann.410 Darüber hinaus gilt, daß die erzwungene, veräußerlichte, egoistisch verzwecklichte, heuchlerische Gerechtigkeit ihren Lohn in der Welt und – abgesehen von der zukünftigen Milderung der Strafen – keinerlei Heilsbedeutung hat. Sie betrifft die Christen als solche strenggenommen nicht, weil es bei ihr nicht um ein Handeln aus der Gottesbeziehung heraus (ex amore dei) geht. Die Christen sind darum nicht zur innerweltlichen Gerechtigkeit, sondern zu einer besseren Gerechtigkeit anzuleiten (sed dehortandi potius ad meliorem). Wenn Luther also von der »duplex iustitia« spricht, versteht er Gerechtigkeit in einem Rechtfertigung und christliches Leben in der Welt umfassenden Sinn. Dabei knüpft er für die Konkretionen des christlichen Lebens in der Welt zugleich an herkömmliche Vorstellungen an, versteht diese aber durch den Rückbezug auf die Rechtfertigung in Christus neu.411 408

AaO 327. WA 2,43,6–44,13. Im Sermo de duplici iustitia geht Luther auf diese Art von Gerechtigkeit nicht ein. 410 WA 2,44,16–23. 411 Die Rede von zweierlei Gerechtigkeit in diesem Sinne hat Luther in der Folgezeit, abgesehen von einigen vergleichbaren Äußerungen in den späten Disputationen, nicht mehr verwendet (s. W. v. Loewenich: Duplex Iustitia. Luthers Stellung zu einer Unionsformel des 16. Jahrhunderts, 1972), sondern durch andere, vergleichbare Unterscheidungen ersetzt. Angesichts seiner besonderen ›Ontologie der Person‹ (W. Joest), die 409

242

3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

Grundlegend für die christliche Praxis ist die »[iustitia] aliena et ab extra infusa [...] qua Christus iustus est et iustificans per fidem«.412 Für den Sünder, der Gottes Zorn und Verdammnis verdient hätte, gibt eben dieser Gott seinen Sohn am Kreuz hin, damit er ihn erlöst und gerecht macht. Die »pro nobis« geschehene Lebenshingabe Christi und damit alle Güter Christi macht sich der Mensch im Glauben zueigen. Diese in der Bibel in unterschiedlicher Form verheißene und beschriebene geistliche Anteilgabe vergleicht Luther mit der Eheschließung, bei der die Eheleute über die Güter des anderen verfügen. Die Zueignung der Christusgerechtigkeit durch den Glauben umfaßt aber nicht nur die Anteilgabe an den Gütern Christi, sondern auch an ihm selbst: »Igitur per fidem in Christum fit iusticia Christi nostra iusticia et omnia quae sunt ipsius, immo ipsemet noster fit. [...] qui credit in Christo, haeret in Christo, estque unum cum Christo, habens eandem iustitiam cum ipso«.413

Die Einheit mit Christus im Glauben ist als die erste und grundlegende Gerechtigkeit (prima iustitia) »fundamentum, causa, origo omnis iusticiae propriae seu actualis«414 und fungiert als Ersatz der verlorenen Urstandsgerechtigkeit, indem sie dasselbe und mehr bewirkt, als diese vermochte. Das Leben des Gerechten aus dem Glauben (Röm. 1,17) meint darum nichts weniger, als daß nun nicht mehr der Mensch, sondern Christus in ihm lebt und durch den Glauben das Herz des Menschen – und damit seine gesamte Existenz – bestimmt: »Unde Apostolus ad Gala: ij. audet dicere: Vivo iam non ego, vivit vero in me Christus, et ad Eph. iij. Ut det vobis Christum habitare per fidem in cordibus vestris«.415

Aus dieser Christusgemeinschaft im Glauben geht die zweite Gerechtigkeit (iustitia secunda), die »[iustitia] nostra et propria« hervor, die sich als »conversatio bona in operibus bonis« konkretisiert.416 Sie ist nicht ein nicht mehr in den hergebrachten Kategorien von Substanz und Natur, sondern von Person und Relation denkt, kann Luther das mit »duplex iustitia« Gemeinte auch anders formulieren; etwa als Unterscheidung von coram hominibus und coram Deo, von äußerem und innerem oder altem und neuem Menschen. Der Grund für diesen Verzicht auf die Formel von der zweifachen Gerechtigkeit liegt nicht darin, daß sie eine bloße »trouvaille de pre´dicateur« (so D. Olivier: Les deux sermons sur la double et triple justice, 60), sondern daß sie mißverständlich ist, weshalb Luther sogar betont feststellen kann: »est una Iusticia simplex fidei et operum« (WA 30II,659,5 f.). 412 WA 2,145,9–146,35; Zitat: 145,9 f. Vgl. die nicht nur inhaltlich, sondern auch hinsichtlich mancher Formulierungen und biblischer Belegstellen parallele Gegenüberstellung von »peccatum essenciale, natale, originale, alienum« und »[iustitia] natalis, essencialis, originalis, aliena« im Sermo de triplici iustitia (WA 2,44,14–45,33). 413 WA 2,146,8 f.14 f. 414 WA 2,146,16 f. 415 WA 2,146,25–28 (Zitat von Gal. 2,20 und Eph. 3,16 f.).

3.5. Sermo de duplici iustitia

243

Werk des Menschen allein (non quod nos soli operemur), sondern ein Mitwirken des Glaubenden mit der fremden Gerechtigkeit Christi (sed quod cooperemur illi primae et alienae).417 Luther klärt den mißverständlichen Begriff der cooperatio näher, indem er das Verhältnis der zweiten Gerechtigkeit zu der von ihr vorausgesetzten ersten Gerechtigkeit zusätzlich als das Verhältnis von Wirkendem und Werk (opus prioris iusticiae), von Baum und Frucht (fructus) und Ursache und Folge (sequela) bestimmt und zur Erläuterung auf die in Gal. 5,22f. beschriebenen Geistesfrüchte, d.h. auf das Handeln des geistlichen, durch den Christusglauben bestimmten Menschen, verweist.418 Im Sermo de triplici iustitia kann Luther auch vom Hervorfließen der iustitia actualis aus dem Glauben und der iustitia essentialis oder von der durch die Qualifizierung der »persona« gegebenen Qualifizierung des einzelnen »actus« sprechen.419 Hier stellt er auch der meritorischen Verzwecklichung des Handelns das Handeln »ex fide« und »in fide« gegenüber, das dadurch gekennzeichnet ist, daß man keine Verdienste erstrebt, sondern daß der Glaube als von Christus erbrachtes »Verdienst« Voraussetzung des Handelns ist und daß der Handelnde darum von vornherein dessen gewiß ist, daß all sein Handeln »in Christo« Gott gefällt.420 Es geht also nicht um ein gleichrangiges Nebeneinander von göttlichem und menschlichem Handeln, sondern um eine Nach- und Einordnung des menschlichen in das göttliche.421 Gleichwohl ist die menschliche Gerechtigkeit (iustitia propria) nicht geringzuschätzen. Sie bewirkt zwar nicht die Zueignung der grundlegenden Christusgerechtigkeit und ist keine dieser gegenüber selbständige Größe. Sie verhilft ihr aber zu größerer Vollkommenheit (Haec iusticia 416 WA 2,146,36–147,33; Zitat: 146,36–38. Vgl. die Gegenüberstellung von peccatum actuale und »[iustitia] actualis, fluens ex fide et iusticia essentiali« im Sermo de triplici iustitia (WA 2,45,34–47,16). Die dort vorgenommene Unterscheidung einer dreifachen Gerechtigkeit macht auch deutlich, daß es sich bei der »eigenen« Gerechtigkeit nicht um die dem Menschen von sich aus mögliche innerweltliche Gerechtigkeit handelt. 417 WA 2,146,36 f. 418 WA 2,147,7–10. Die Formulierung »opus prioris iusticiae« verweist zurück auf das kurz vorher bei der Interpretation der rechtfertigungstheologischen Schlüsselstelle Ps. 30/31,2 als Zentralbegriff der Psalmenauslegung – und der Frühtheologie Luthers – angesprochene »opus domini« (WA 2,146,23). 419 WA 2,46,1.6 f. Das Baum-Frucht-Wort (Mt. 7,16–18 par.) dient im Sermo de triplici iustitia dem Hinweis auf die Bestimmtheit allen Handelns durch die Erbsünde (WA 2,44,16 f.20 f.; 45,34 f.); dies ist die negative Entsprechung zur positiven Aussage im Sermo de duplici iustitia. 420 WA 2,46,5–38. 421 Zum Verständnis von cooperatio im Übergang von Luthers früher zu seiner reformatorischen Theologie und zur Deutung der eigenen Gerechtigkeit als fructus im Sermo de duplici iustitia: M. Seils: Der Gedanke vom Zusammenwirken Gottes und des Menschen in Luthers Theologie, 1962, 78–81.

244

3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

perficit priorem),422 indem sie den nur nach dem Eigennutzen strebenden alten Menschen überwindet und zu wahrer Nächstenliebe befreit. Diesem Vollzug von Selbstnegation und Nächstenliebe dient die Nachahmung des Vorbilds Christi und das Gleichförmigwerden mit Christus. Denn Christus selbst fordert, genau wie er für den Nächsten alles zu tun und nicht das Eigeninteresse, sondern das Interesse des Nächsten zu verfolgen. Auf diese Weise bekräftigt der Christ durch seine eigene Gerechtigkeit die in der Zueignung der fremden Gerechtigkeit Christi begründete eheliche Gemeinschaft. Luther gibt für die so als Folge, Vervollkommnung und Bestätigung der Glaubensgerechtigkeit verstandene iustitia propria noch ein leicht faßliches Schema an, indem er in Anlehnung an die Aufforderung von Tit. 2,12, »sibi sobrie, proximo iuste, deo pie« zu leben, drei Beziehungsdimensionen christlicher Existenz unterscheidet: Die iustitia propria verwirklicht sich in der Beziehung zu sich selbst (erga seipsum) als Tötung des Fleischs und der Kreuzigung der Begierden, in der Beziehung zum Nächsten (erga proximum) als Nächstenliebe und in der Beziehung zu Gott (erga deum) als Demut und Furcht.423 Luther faßt in der Formel von der duplex iustitia den Ertrag seiner bisherigen theologischen Arbeit zusammen. Im Mittelpunkt steht die das christliche Leben begründende und bestimmende Christusbeziehung im Glauben. Das Heil des Christen und die christliche Praxis sind beide nicht nur auf Christus bezogen, sondern sie sind die Gegenwart Christi im Glaubenden. Das Leben des Christen ist also keine selbständige Größe, sondern ist eingebettet in die umfassende Christusbeziehung. Die Betätigung des christlichen Lebens in guten Werken ist selbstverständlich und notwendig; wirkt sich doch hier mit gleichsam naturhafter Folgerichtigkeit das »vivit [...] in me Christus« aus, das die im Glauben zugerechnete fremde Gerechtigkeit Christi zur Vollendung bringt. Die Formel von der duplex iustitia rückt aber nicht nur Christus in den Mittelpunkt des christlichen Lebens, sondern bietet auch den Ansatzpunkt für die theologische 422 WA 2,147,12. Dieses perficere meint nicht, daß die eigene Gerechtigkeit der fremden etwas hinzufügt, sondern daß sie sie im Vollzug des christlichen Lebens zu ihrer Vollgestalt bringt. Denn es ist Christus, nicht der Mensch, der den alten Adam beginnend, fortschreitend und vollendend immer mehr austreibt (»Christus expellit Adam de die in diem magis et magis, secundum quod crescit illa fides et cognitio Christi. Non enim tota simul infunditur, sed incipit, proficit et perficitur tandem in fine per mortem« [WA 2,146,32–35]). 423 WA 2,146,38–147,6. Der Sermo de triplici iustitia verweist für die Zerstörung des Sündenleibs auf die drei Frömmigkeitswerke Fasten, Beten und Almosen als allgemeine Leitlinie (WA 2,47,1–8) und betont abschließend, daß unter den von Gott auferlegten Werken die besten »passiones, egritudines, penuria, ignominia, mors« sind, »quia hic solus deus operatur et homo patitur, et perfecte occiditur Adam, mundaturque vitis Christus, et palmes eius purgatur« (WA 2,47,12–15).

3.5. Sermo de duplici iustitia

245

Reflexion dieses christlichen Lebens. Denn die kategoriale Unterscheidung von iustitia aliena et ab extra infusa und iustitia nostra et propria erlaubt es Luther, die beiden theologischen Sachzusammenhänge der Rechtfertigungslehre und der theologischen Ethik voneinander zu unterscheiden. Beide dürfen nicht miteinander vermischt werden: Weder darf die innerhalb der Ethik notwendige Betonung der christlichen Gerechtigkeit durch Selbstnegation und gute Werke mit der Erlangung des Heils in Verbindung gebracht werden, noch darf das für die Rechtfertigungslehre grundlegende opus Dei in die Ethik eingetragen werden. Angesichts der mittelalterlichen Vermischung der beiden Ebenen zielt Luther dabei vor allem auf die soteriologische Funktionalisierung der christlichen Praxis, aber er weist auch auf das quietistische Mißverständnis der Rechtfertigung hin. Luthers kategoriale Unterscheidung weiß aber auch um die Bezogenheit beider Ebenen aufeinander. Denn so sehr sie gedanklich und terminologisch zu unterscheiden sind, so sehr sind sie in der Sache aufeinander bezogen und ineinander verschränkt, wie schon Phil. 2,5–11 zeigt. Die im Glauben zugerechnete fremde Gerechtigkeit Christi ist zwar in keiner Weise durch die dem Christen eigene Gerechtigkeit bedingt oder begründet, aber sie gewinnt Gestalt im Zusammenhang mit ihr. Die die fremde Gerechtigkeit vervollkommnende christliche Gerechtigkeit gibt es aber nur in engster Bezogenheit auf jene, was Luther mit dem Bild der Frucht und der Verhältnisbestimmung der Folge zum Ausdruck bringt. Die in diesen Formulierungen liegenden Zweideutigkeiten – Luther scheint die iustitia propria als Gottes Werk zu bestimmen und ihr zugleich eine Funktion für die fremde Gerechtigkeit zuzuweisen – können aufgrund der vorausgesetzten kategorialen Unterscheidung nicht mißverstanden werden.424 Vor dem Hintergrund der in der kategorialen Unterscheidung der duplex iustitia implizierten Identifizierung der Gerechtigkeit mit Christus und der Zurückweisung der soteriologischen Funktionalisierung der eigenen Gerechtigkeit entfaltet Luther im Hauptteil der Predigt in der Auslegung von Phil. 2,5–11 sein Verständnis der Funktion und Ausgestaltung der christlichen Praxis weiter.425 Christliche Praxis in der Welt und gegenüber dem Nächsten ist Christusnachfolge. So wie sich Christus für den Glaubenden erniedrigt hat und seine Gottheit preisgab, um die Sünden der 424

Die Problematisierung mancher Aussagen Luthers über die iustitia propria in der Forschung – Ernst Bizer behauptet etwa, Luther sei »in der Terminologie noch ziemlich sorglos« und habe möglicherweise »das Problem noch nicht bewältigt« (Fides ex auditu, 3 1966, 129), ähnlich W. v. Loewenich: Duplex Iustitia. Luthers Stellung zu einer Unionsformel des 16. Jahrhunderts, 1972, 2–13 – unterschätzen die sprachliche Flexibilität von Luthers Rechtfertigungslehre. 425 WA 2,147,34–152,12.

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3. Luthers Auffassung vom christlichen Leben 1513 bis 1519

Menschen auf sich zu nehmen, geht der Glaubende mit seinem Mitmenschen um. Das heißt vor allem, daß der Christ wie Christus auf seine Freiheit verzichtet und sich bereitwillig zum Diener seines Mitmenschen macht: »Apostolus id vult, ut singuli Christiani exemplo Christi fiant alterius servi«.426

Der Christ soll nicht auf sich selbst achten, sondern seine Stärke, Gerechtigkeit und Weisheit Gott zurechnen und die Schwäche, Sünde und Torheit des Mitmenschen auf sich nehmen. Wer so Christus folgend in Selbstverleugnung und Solidarität mit dem Mitmenschen die »forma servi« annimmt, erfüllt die apostolische Forderung des »Per charitatem servite invicem« (Gal. 5,13). Wie Gott mit seiner Gerechtigkeit den Menschen nicht wegen dessen Ungerechtigkeit richtet, sondern ihn rechtfertigt, so soll der Christ entsprechend der vom Liebesgebot her gedeuteten Goldenen Regel sich nicht seiner eigenen Gerechtigkeit rühmen und den der Gerechtigkeitsforderung nicht genügenden Mitmenschen verurteilen, sondern ihn annehmen und in der Gerechtigkeit unterrichten. Doch dieses Verständnis der Goldenen Regel vom Liebesgebot her und die Forderung eines Gottes rechtfertigender Gerechtigkeit entsprechenden Umgangs mit der Schwäche und Sünde des Mitmenschen scheint die innerweltlichen Ordnungsstrukturen in Fragen zu stellen. Hat dann noch die Unterscheidung von gut und böse Bestand? Darf der Christ noch Sünden benennen und für die Gerechtigkeit eintreten? Luther antwortet auf diese Fragen mit der Unterscheidung von »homines vel publici vel privati«.427 Die homines publici, d.h. die mit einem göttlichen Amt Beauftragten (in officio dei constituti et in praesidentia) – gedacht ist wohl an die weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten –, müssen aufgrund von Röm. 13 »ex officio et necessitate« ihren Amtspflichten entsprechend handeln; d.h. die Bösen strafen und mit Gewalt die öffentliche Ordnung aufrechterhalten. Ausgenommen von dieser Pflicht zur Durchsetzung der Gerechtigkeit ist das Handeln in eigener Sache, das einem anderen vicarius Dei zu überlas426

WA 2,148,32 f. WA 2,150,36. Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund der Unterscheidung von persona publica und privata: LStA 1,227, Anm. 57. Luther selbst weist darauf hin, daß hierzu andere Autoren ausführlicher geschrieben haben (WA 2,151,9). Die Behauptung, 427

daß die »Beschreibung des Christseins mit Hilfe dieser Begriffe [...] einen wesentlichen Aspekt der in enger Verbindung mit der sich entwickelnden Theologie Luthers sich herausbildenden Zweireichelehre erkennen« läßt (LStA 1,227, Anm. 57), ist problematisch, steht Luthers Weiterentwicklung der traditionellen Unterscheidung doch nur in lockerem Zusammenhang mit der späteren Unterscheidung zweier Regimente und Reiche. So erscheint 1519 die Wahrnehmung der Aufgaben der persona publica für den Christen unproblematisch und die eigentlich christliche Existenz auf die persona privata konzentriert.

3.5. Sermo de duplici iustitia

247

sen ist.428 Bei den homines privati unterscheidet Luther drei Gruppen:429 Die erste Gruppe sucht Gerechtigkeit mit Hilfe des Rechtssystems, was zwar von der Bibel als geringeres Übel im Vergleich zur Selbstjustiz toleriert wird, aber wegen der damit verbundenen Durchsetzung des »affectus [...] sui commodi« nicht Gottes eigentlichem Willen entspricht. Die zweite Gruppe verzichtet auf die Durchsetzung der Gerechtigkeit und des Eigenwillens, sie erleidet das Unrecht und führt so den Verfolgern ihre Sünde vor Augen, womit sie dem Evangelium und dem Vorbild Christi entspricht. Die dritte Gruppe teilt die Einstellung der zweiten Gruppe, geht aber darin über sie hinaus, daß sie wie Christus und Paulus um der Besserung des Nächsten und des amor iustitiae – nicht um des Eigeninteresses – willen auf das Erleiden der Ungerechtigkeit verzichtet und die Gerechtigkeit mit Strafe durchsetzt. Entscheidend ist hier nicht die traditionelle Unterscheidung von homines privati und publici, sondern die dritte Gruppe der homines privati. Die im Christusglauben geschenkte Gerechtigkeit und die daraus erwachsende eigene Gerechtigkeit führen im Verhältnis zur Welt weder zur vorbehaltlosen Bejahung der innerweltlichen Eigengesetzlichkeit noch zur Forderung der passiven Hinnahme der Ungerechtigkeit, sondern zur nur den spiritualissimi möglichen Verbindung dieser einander ausschließenden Verhaltensweisen. Im Gefolge Christi die iustitia propria in den Dienst des Mitmenschen zu stellen, heißt beides: in Liebe die Ungerechtigkeit dulden und in Liebe gegen die Ungerechtigkeit angehen. Christliches Leben in der Welt steht in der Spannung von weltüberlegener Passivität und innerweltlicher Verantwortungsübernahme. Daß der Sermo de duplici iustitia mit einigen biblischen Belegen für diese Zuspitzung des Ideals christlicher Existenz endet, muß nicht auf einen plötzlichen Abbruch der Predigt hindeuten, sondern läßt sich auch als Klimax verstehen: Die in Phil. 2 durch den Rekurs auf das Gotteshandeln in Christus eingeschärfte christliche Haltung gegenüber dem Mitmenschen meint nichts weniger als die nur dem geistlichen Menschen mögliche innerlich (affectu) der Bergpredigt und äußerlich (effectu) der Weltverantwortung entsprechende christliche Praxis.

428 429

WA 2,151,1–10. WA 2,151,11–152,12.

248

4. Ethische Konkretionen der Frühtheologie

4. Ethische Konkretionen der Frühtheologie (1517–1519) Die frühen Vorlesungen und Disputationen beschäftigen sich kaum mit den ethischen Konkretionen von Luthers Frühtheologie. Zwar zeichnet sich hier teils implizit, teils aber auch explizit eine grundlegende Neufassung der Vorstellung vom christlichen Leben und damit auch der konkreten Vorgaben für den alltäglichen Vollzug dieses Lebens ab. Aber im Hörsaal sah Luther keine Notwendigkeit, das eigenständig zu thematisieren. Vielmehr verwies er immer wieder auf die spätmittelalterlichen Vorstellungen und hielt auch in seinem eigenen Lebensvollzug selbstverständlich an den hergebrachten äußeren Formen fest. Sein Interesse galt zuerst der Innendimension christlichen Lebens, die er in einer Weise neu verstand, die es ihm ermöglichte, die spätmittelalterlichen Gegebenheiten äußerlich beizubehalten, ja als Rahmen der demuts- und bußtheologischen Vertiefung christlichen Lebens vorauszusetzen. Diese Ungleichzeitigkeit von theologischer Grundlagenreflexion, die Luther früh zu einem Bruch mit dem spätmittelalterlichen Hintergrund und bis 1519 zu einer umfassenden Neukonzeption der rechtfertigungstheologischen Voraussetzungen der theologischen Ethik führte, von ethischen Konkretionen im Rahmen der theologischen Grundlagenreflexion, die nur spärlich vorgetragen wurden und vielfach noch dem mittelalterlichen Hintergrund verpflichtet waren, und konkretem Lebensvollzug, der den auch äußerlich vollzogenen Bruch mit dem eigenen Herkommen bis weit in die 1520er Jahre aufschob und lebenslang manchen spätmittelalterlichen Vorstellungen verhaftet blieb – diese Ungleichzeitigkeit weist auf den tiefen Einschnitt hin, den Luthers reformatorische Theologie bedeutet. Die Tragweite der Gedanken, daß der Glaube an das Verheißungswort das opus unicum ist, das Gott fordert, oder daß göttliche und menschliche Gerechtigkeit sich kategorial unterscheiden, wurde Luther erst allmählich bewußt. Es bedurfte der theologischen Arbeit eines ganzen bewegten Jahrzehnts – der 1520er Jahre –, bis er die ethischen Konsequenzen seiner reformatorischen Theologie erfaßt und entwickelt hatte. Doch die Zeit der frühen Vorlesungen weist auch schon erste Ansätze dazu auf, die in Luthers breitenwirksamen Druckschriften der Jahre 1517 bis 1519 vorliegen. Er war sich im Laufe der Römer- und Galaterbriefvorlesung seiner Sache in einer Weise sicher geworden, die es gefordert erscheinen ließ, damit auch an eine breitere Öffentlichkeit zu gehen. Dazu diente eine Reihe von Schriften, in denen sich auch die in den Vorlesungen und Disputationen vermißten ethischen Konkretionen finden. Im Folgenden sollen diese ethischen Konkretionen anhand zweier Schriftenkomplexe aus den Jahren 1517 bis 1519 vorgestellt werden: anhand der Schriften zu Ablaß und Buße einerseits und zum Dekalog und sozialethischen Einzelthemen andererseits.

4.1. Schriften zu Ablaß und Buße

249

4.1. Schriften zu Ablaß und Buße (1517–1519) Luther wählte die Buße nicht ohne Grund als Leitthema seiner Predigttätigkeit und Publizistik. Angesichts des mittelalterlichen Bußwesens sah er sich herausgefordert, seine in den frühen Vorlesungen und Disputationen formulierte theologische Erkenntnis nun auch in den Dienst der Kirche zu stellen. War die Buße doch der lebensweltliche Ort, an dem die Gottes- und Weltbeziehung des Christen, die Innen- und Außendimension seines Lebens bewußt gemacht und neu ausgerichtet wurden. Buße, das hieß vor allem das Bemühen um verinnerlichte Reue und um äußere Bußakte und Genugtuungswerke. Beides wurde im Rahmen der Anschauung von der Wechselseitigkeit göttlichen und menschlichen Handelns auch als vom Menschen in seiner Freiheit zu erbringendes und von Gott zu belohnendes gutes Werk verstanden. Obwohl die Buße seit ihrer hochmittelalterlichen Sakramentalisierung die von der contritio auf die priesterliche absolutio verlagerte göttliche Gnadengabe voraussetzte und obwohl die Satisfaktionswerke nun nicht mehr die Absolution bedingen konnten, sondern ihr der Sache nach folgen mußten, trat dadurch doch keine Minderung der Bedeutung des bußtheologischen Ethos ein, sondern vielmehr eine weitere Steigerung. Obwohl die Absolution das Zentrum der sakramentalen Buße war, hatten die Verinnerlichung der Reue und die äußerliche Praxis der Genugtuung große Bedeutung. Sollte sich der Christ doch nun in seinem Lebensvollzug des empfangenen Heils würdig erweisen. Dazu leiteten ihn die kirchlichen Amtsträger an, vor denen er mindestens einmal jährlich umfassend Rechenschaft abzulegen hatte und die ihm kraft ihrer Verfügungsgewalt über den thesaurus ecclesiae bei der Bewältigung der sich immer weiter steigernden Ansprüche halfen. Viele dieser Elemente finden sich auch in Luthers Bußtheologie zwischen 1517 und 1519: Die sakramentale absolutio ist für ihn die Verdichtung der Rechtfertigung in einem bestimmten äußeren Vollzug und die satisfactio die Entfaltung der Rechtfertigungserfahrung im christlichen Lebensvollzug. Er integriert in seine Bußauffassung ganz selbstverständlich zahlreiche traditionelle Elemente von der Verinnerlichung über die imitatio Christi bis hin zum Schema der Genugtuungswerke. Aber all die herkömmlichen Züge können nicht darüber hinwegtäuschen, daß Luther in dieser Zeit ein nicht nur anders akzentuiertes, sondern ein grundsätzlich neues Bußverständnis entwickelt. Das zeigt etwa die programmatische Zusammenfassung von Luthers Ideal der vita christiana in der Zeit der frühen Vorlesungen in der ersten der 95 Thesen gegen den Ablaß vom 31. Oktober 1517: »Dominus et magister noster Iesus Christus dicendo ›Penitentiam agite &c.‹ [Mt. 4,17] omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit«.430 Der Entfaltung 430

WA 1,233,10 f.

250

4. Ethische Konkretionen der Frühtheologie

dieser These dienen Luthers zahlreiche Schriften zur Buße und zum Ablaß aus den Jahren 1517 bis 1519.431 Die Reihe dieser Schriften beginnt mit Luthers erster deutschsprachiger Publikation, der ein Dreivierteljahr vor den Ablaßthesen entstandene Auslegung der sieben Bußpsalmen,432 die das »authentische Kompendium« von Luthers früher Theologie ist.433 Sie setzt sich fort mit den Ablaßthesen und ihrer einige Monate später entstandenen Kommentierung in den Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute.434 Eine Reihe von Predigten und seelsorgerlichen Einzelschriften macht in der Folgezeit die breitere Öffentlichkeit mit Luthers in den Ablaßthesen und den Resolutiones entwickelten Bußauffassung vertraut.435 Auch die Schriften im Zusammenhang der Diskussion mit Johannes Eck 1518/19 beschäftigen sich mit dem Thema und sichern die in den Resolutiones entwickelte Kritik in breiterem Rah431 Den besten Überblick über Luthers Bußtheologie in den Jahren 1517 bis 1519 bietet R. Seeberg: Dogmengeschichte, Bd. 4, Teil 1, 41933, § 76 (158–172). Wichtig ist Seebergs Darstellung nicht nur wegen ihres Hinweises auf den spätmittelalterlichen Hintergrund, an den Luther anknüpft und den er zugleich überbietet, sondern auch wegen ihrer Betonung des gleichermaßen »religiösen« wie »sittlichen« Grundgedankens der reformatorischen Bußlehre, die eine umfassende Neuorientierung sowohl hinsichtlich der Gottes- wie der Weltbeziehung in sich schließt. Aus der neueren Literatur sind Ulrich Barths (Die Geburt religiöser Autonomie. Luthers Ablaßthesen von 1517, in: U. Barth: Aufgeklärter Protestantismus, 2004, 53–95) und Berndt Hamms (Die 95 Thesen – ein reformatorischer Text im Zusammenhang der frühen Bußtheologie Martin Luthers, in: B. Hamm: Der frühe Luther, 2010, 90–114) Interpretation der Ablaßthesen wichtig, die jedoch zu sehr das Neue in Luthers Bußtheologie in den Jahren um 1517 hervorheben. Dagegen ist mit Martin Brecht festzuhalten: »Als Luther in den Ablaßstreit hineingeriet, war er noch nicht ›evangelisch‹. [...] Der Angriff auf den Ablaß ist [...] von einer strengen spätmittelalterlichen Theologie und Frömmigkeit aus unternommen worden« (Brecht 1,215 f.). 432 WA 1,154–157.158–220. Zum Inhalt und zur Forschungslage: M. Florin: Ein haß uber den alten menschen und eyn suchen des lebens yn dem newen menschen. Luthers Auslegung der Sieben Bußpsalmen (1517 und 1525), 1985. 433 O. Bayer: Promissio, 21989, 144. 434 Disputatio pro declaratione virtutis indulgentiarum (WA 1,229–232.233–238); Resolutiones disputationum de indulgentiarum virtute (WA 1,522–524.525–628). Die hier entwickelte Bußauffassung kündigt sich bereits in einigen Predigten der Jahre 1516 und 1517 an: Sermo de indulgentiis pridie Dedicationis (31.10.1516 [?]): WA 1,94–99; Tractatus de indulgentiis (1517): WA 1,65–69 und WAB 12,2–5.5–10 (während WA 1 in dem Text eine Predigt zum 10. Sonntag nach Trinitatis 1516 sieht, handelt es sich nach WAB 12 um den Traktat, den Luther am 31.10.1517 seinem Brief an Albrecht von Mainz beigelegt hat). 435 Ein Sermon von Ablaß und Gnade (März 1518): WA 1,239–243.243–246 (zur Datierung dieser Schrift: W. Winterhager: Kurbrandenburg als Zentrum des frühen Kampfes gegen Luther, in: Wichmann-Jahrbuch 34/35, 1994/95, 113–140); Pro veritate inquirenda et timoratis conscientiis consolandis conclusiones (Frühjahr 1518): WA 1,629 f. 630–633; Eine kurze Erklärung der zehn Gebote (Frühjahr 1518): WA 1,246–250.250–256 (lateinische Fassung: Instructio pro confessione peccatorum: WA 1,257.258–265); Sermo de poenitentia (Frühjahr 1518): WA 1,317 f.319–324; Eine kurze Unterweisung, wie man beichten soll (Frühjahr 1519): WA 2,57 f.58–65*; Ein Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi (WA 2,131–135.136–142); Ein Sermon vom Sakrament der Buße (Oktober 1519): WA 2,709–712.713–723; Confitendi ratio (Frühjahr 1520, auf der Grundlage der Kurzen Unterweisung aus dem Vorjahr): WA 6,154–156.157–169.

4.1. Schriften zu Ablaß und Buße

251

men, vor allem unter Berücksichtigung der Ekklesiologie, ab.436 Obwohl sich die Entstehung der frühesten und spätesten hier zu behandelnden Schriften über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren erstreckt und die noch 1517 entstandenen Schriften hinsichtlich der rechtfertigungstheologischen Aussagen zum Teil nicht unerheblich Luthers Frühtheologie verpflichtet sind,437 weisen sie doch alle in ihren bußtheologischen Konkretionen des christlichen Lebens wichtige Übereinstimmungen auf, die eine gemeinsame Behandlung erlauben.438

Grundlegend für Luthers Bußverständnis ist die in der ersten Ablaßthese angedeutete Unterscheidung von sakramentaler Buße (poenitentia sacramentalis) und verinnerlichter, evangelischer Lebensbuße (poenitentia euangelica).439 Für Luther ist die evangelische Buße das Entscheidende,440 weshalb er sie inhaltlich über den Zusammenhang von Reue, Beichte und Genugtuung hinaus ausweitet und das Bußsakrament als einen unverzichtbaren Teilaspekt in sie integriert. Die erste Ablaßthese nun spricht von der poenitentia euangelica und benennt die beiden zentralen Momente der evangelischen Buße: den rechtfertigungstheologischen Rahmen christlichen Lebens (fides) und die bußtheologische Ausgestaltung dieses Rahmens (omnem vitam poenitentiam esse).441 436 Asterisci Lutheri adversus Obeliscos Eckii (1518): WA 1,278–280.281–314; Disputatio et excusatio F. Martini Luther adversus criminationes D. Iohannis Eccii (Frühjahr 1519): WA 2,153–158.158–161 (hier vor allem: WA 2,160,30–161,34); Resolutiones Lutherianae super propositionibus suis Lipsia disputatis (August 1519): WA 2,388–390.391– 435. 437 Das zeigt besonders ein Vergleich der beiden gewichtigsten unter den behandelten Schriften: Während die Auslegung der sieben Bußpsalmen teilweise noch der ersten Psalmenvorlesung entspricht, lassen die Resolutiones deutlich die im Hintergrund stehende Theologie der Hebräerbriefvorlesung erkennen. Diese Unterschiede hängen zum einen mit dem theologischen Umbruch des Jahres 1517/18 zusammen, aber auch mit Inhalt, Form und Wirkungsabsicht der beiden Schriften. Daß die Bußpsalmenauslegung nicht einfach vorreformatorisch ist, zeigt schon ihre Wirkungsgeschichte. Luther weist beispielsweise 1523 bei seiner Bitte um eine Nachdichtung von Psalmen auf seine damals sechseinhalb Jahre alte und regelmäßig wiederaufgelegte Deutung der Bußpsalmen – sie erscheint erst 1525 in einer Neubearbeitung (WA 18,467–478.479–530) – als exegetische Grundlage für das reformatorische Liedgut hin (WAB 3,220,15 f. [Nr. 698]). 438 Angesichts der Vielzahl von Belegtexten für die folgenden Ausführungen werden nur exemplarische Verweise gegeben. 439 Luther entwickelt diese überall verwendete Unterscheidung in den resolutiones zu den ersten vier Ablaßthesen (WA 1,530–534; vgl. die Unterscheidung von poenitentia signi und rei im Sermo de indulgentiis pridie Dedicationis vom 31.10.1516 [?]: WA 1,98,24–36). Die Unterscheidung von äußerer und innerer Buße (poenitentia externa, poenitentia interna / intus) wird zum Teil im selben Sinn wie die von sakramentaler und evangelischer Buße verwendet, zum Teil aber auch zur Kennzeichnung der Außen- und Innendimension der sakramentalen und der evangelischen Buße. 440 Sie ist die »poenitentia vera«, ja sogar »verissima« (WA 1,525,11; 526,5.18). 441 Ob und inwieweit die 95 Thesen rechtfertigungstheologische Aussagen enthalten, ist in der Forschung umstritten. Angesichts der die Thesen durchziehenden Aussagen über die göttliche Gnade und das durch das Evangeliumswort zugeeignete Heil ist nicht zu bestreiten, daß im Hintergrund von Luthers Kritik am Ablaßwesen seine Rechtfer-

252

4. Ethische Konkretionen der Frühtheologie

Luthers Interesse an der Buße in den Jahren nach der Römerbriefvorlesung kam nicht von ungefähr. In der Buße vollzog sich nach mittelalterlichem Verständnis die Rechtfertigung als Abwendung von der Sünde und als Beginn des neuen Lebens. Dabei zeigte sich für Luther im Bußsakrament, und zwar in seinem theologischen Verständnis wie in seiner kirchlichen Praxis, eine grundsätzliche Unterschätzung der Sünde und es zeigt sich eine grundsätzliche Überschätzung der menschlichen Möglichkeiten, die Situation der Sünde zu bewältigen. Der Ablaß war das auffälligste Symptom dieser für Luther unhaltbaren Theorie und Praxis der Rechtfertigung. Seine Kritik zielte ursprünglich nicht auf das Bußsakrament und den Ablaß als solche, sondern auf das Mißverständnis und den Mißbrauch im Dienste der Aufrichtung der menschlichen Eigengerechtigkeit. Dieser rechtfertigungstheologische Ansatzpunkt für Luthers Beschäftigung mit der Buße wird vor allem in der Bußpsalmenauslegung entfaltet. Er ist aber auch in den folgenden Schriften durchweg präsent, obwohl hier die kritische Auseinandersetzung und die seelsorgerliche Anleitung im Vordergrund stehen. In der Buße kann es nicht darum gehen, die Schuld vor Gott durch menschliche Leistungen – sei es die erzwungene Reue, sei es die Ersatzleistung im Zusammenhang des Ablasses – zu tilgen und den praktischen Konsequenzen, die sich aus der Situation des Sünders vor Gott ergeben, auszuweichen. Buße heißt, die Sündenverfallenheit des alten Menschen in ihrer ganzen Tragweite anzuerkennen, sich der eigenen Machtlosigkeit angesichts dieser Sünde bewußt zu werden, sich in Gottes zuvorkommendes Heilshandeln zu ergeben, den sündigen Menschen täglich zu töten und das anhebende neue Leben in guten Werken zu üben. Darum richtet sich auch die in der ersten Ablaßthese zitierte Aufforderung Jesu, Buße zu tun, an den Glaubenden und bestimmt damit die Buße als Auswirkung des Glaubens. Entscheidend für die Buße ist, daß sie die Zueignung des Christusheils voraussetzt. Das macht Luther in den Resolutiones immer wieder deutlich, wobei er auf die Theologie der Hebräerbriefvorlesung zurückgreift.442 Christus hat für den inneren Menschen die tigungslehre steht – allerdings noch mit ihrer für die Frühtheologie Luthers charakteristischen Verklammerung von Heil und christlicher Praxis durch die Buße. 442 Hinsichtlich des rechtfertigungstheologischen Rahmens der Buße besteht ein wichtiger theologischer Unterschied zwischen den Resolutiones und der Auslegung der Bußpsalmen. Letztere versteht die Unterscheidung von Gottes Gerichts- und Heilshandeln und dementsprechend die Unterscheidung der Horizontal- und Vertikaldimension der Rechtfertigung noch nicht durchgängig als kategoriale Unterscheidungen. Vielmehr bezieht sie – der ersten Psalmen- und der Römerbriefvorlesung entsprechend – die Kreuzesexistenz des Glaubenden in die Rechtfertigung mit ein: In den Worten der Bußpsalmen vollzieht sich für Luther durch Sündenbekenntnis und Bittgebet das Zunichtewerden des alten Menschen vor Gott und Gottes heilvolle Zuwendung. Diese Aussagen sind

4.1. Schriften zu Ablaß und Buße

253

Gnade gewirkt, die diesem durch den Glauben an das Verheißungswort des »sacrosanctum euangelium gloriae et gratiae dei« zu eigen wird.443 Durch den Glauben wird der Christ eins mit Christus, und in der »participatio suavissima« und der »iucunda permutatio« nimmt Christus die Sünden des Christen auf sich und schenkt diesem dafür seine Gerechtigkeit.444 Doch Christi Heilswirken, das dem Glaubenden im Evangelium als dem »verbum salutis, verbum gratiae, verbum solatii, verbum gaudii, vox sponsi et sponsae, verbum bonum, verbum pacis«445 zugeeignet wird, vollzieht sich zugleich unter der Gegensatzgestalt des fremden Werks Christi,446 d.h. als Gleichförmigwerden mit dem Gekreuzigten, um den Sündenleib zu zerstören und den irdischen Menschen abzutöten. Im Zunichtewerden des alten Menschen geschieht damit das Werden des neuen Menschen als des »christformig warhafftig mensche[n]«, der »auswendig und ynnewendig mit Christo gecreutziget wirt«.447 Wer sich aber mit Verweis auf die Ableistung der sakramentalen Buße oder gar auf den Erwerb eines Ablasses a poena et culpa des Glaubens an das Verheißungswort Christi und des Gleichförmigwerdens mit dem Gekreuzigten überhoben sieht, der verfehlt sowohl das religiöse als auch das ethische Kerngeschehen der Buße, nämlich die durch das Verheißungswort und die Kreuzesnachfolge gegebene Lebensgemeinschaft mit Christus: »Christus ist gottis gnaden, barmhertzickeit, gerechtickeit, warheit, weißheit, stercke, trost und selickeyt, uns von gott gegeben an [ohne] allen vordinest. Christus sag ich, nit (als etlich mit blinden worten sagen) causaliter, das er gerechtickeit gebe unnd bleybe er draußen. dan die ist tod, ja sie ist nymmer gegeben, Christus sey dan selbs auch da, gleich wie die glentz der sonnen und hitze des feurs ist nit, wo die sonne und das feur nit ist«.448

Was diese Christusgemeinschaft im einzelnen bedeutet, entfaltet Luther in unterschiedlicher Weise. Wichtig sind etwa die für die Bußpsalmenauslegung grundlegenden Unterscheidungen von altem und neuem Menschen und der Innen- und Außendimension des Lebens. aber – abgesehen von ihrer für Luthers Frühtheologie charakteristischen Zweideutigkeit hinsichtlich der Bestimmung des Verhältnisses von göttlichem und menschlichem Handeln – auch in der Folgezeit selbstverständlicher Bestandteil von Luthers bußtheologischer Akzentuierung der christlichen Existenz. Sie können darum auch zur Erläuterung der ersten Ablaßthese herangezogen werden. 443 Wichtige rechtfertigungstheologische Aussagen der Ablaßthesen finden sich in Th. 58 (WA 1,236,14 f.) und Th. 62 (WA 1,236,22 f.). Ausführlicher wird Luther in den resolutiones zu These 7 (WA 1,539–545), These 38 (WA 1,593–596) und These 62 (WA 1,616 f.). 444 WA 1,593,14–31. 445 WA 1,616,21–23. 446 WA 1,612,41–613,20. 447 WA 1,216,28–32. 448 WA 1,219,30–36.

254

4. Ethische Konkretionen der Frühtheologie

Die Buße als Lebenswende von der Existenz des alten, sündigen zum neuen, gerechtfertigten Menschen vollzieht sich innerlich wie äußerlich. Gott wirkt am Menschen sein fremdes Werk, um den alten Menschen zu vernichten und so die Neuschaffung des Menschen als sein eigenes Werk zu beginnen. Grundlegend ist die innerliche Überwindung des alten Menschen durch das »odium sui«, das äußerlich »varias carnis mortificationes« bewirkt.449 Luthers Schriften zur Buße hämmern immer neu das wahre Ausmaß der menschlichen Sünde, die Strenge des göttlichen Gerichts und die sich daraus ergebende Notwendigkeit der Ergebung in das göttliche Gericht und des rückhaltlosen Sündenbekenntnisses ein. Es »mußen alle heyligen und christen sich sunder erkennen und gottis gericht furchten«, »es muß zu eynem undergang kummen mit eynem iglichen menschen«, wobei »der mensch alßo undergehet und zu nichte wirt yn allen seynen crefften, wercken, weßen, das nit mehr dann eyn elender, vordampter, vorlaßner sunder da ist«.450 Die innerliche Distanzierung vom alten Menschen in der »gruntlichen« oder »volkommende[n] rew« (contritio)451 geschieht durch die biblische Offenbarung des Gottesgerichts über alle Menschen, die den erschreckten Menschen demütigt und zu Gott schreien läßt.452 Das Bittgebet des sich als Sünder Bekennenden eröffnet ihm die göttliche Gnade. Ja, die biblische Zornesoffenbarung ist nicht das einzige und letztgültige Gotteswort, sondern es bereitet auf das Heilswort vor, das dem Glaubenden Christi Gerechtigkeit zu eigen macht.453 Das Kreuz, das die Glaubenden in der Nachfolge Christi tragen, bewirkt aber nicht nur die innerliche Überwindung des alten Menschen, sondern auch die äußerliche. Diese Tötung des Fleischs umfaßt zum einen das Erleiden der Anfechtungen durch Teufel, Fleisch und Welt und zum anderen die aktiv geübte Selbstnegation (voluntariae afflictiones).454 Luther warnt jedoch vor 449 WA 1,233,15 f. Die Th. 58 bringt beides in engen Zusammenhang mit Christus: »merita Christi [...] operantur gratiam hominis interioris et crucem, mortem infernumque exterioris« (WA 1,236,14 f.). 450 WA 1,159,35 f.; 160,14–17. 451 WA 1,178,28; 186,12. 452 WA 1,201,12–16. 453 Während die Auslegung der Bußpsalmen hier nur von der Hoffnung auf Gottes Verheißung spricht (WA 1,209,17–23), verweisen die späteren Schriften zur Buße hier auf die im Glauben ergriffene Verheißung, die das Heil in sich enthält und die besonders im priesterlichen Absolutionswort laut wird (WA 1,616,10–617,3). 454 WA 1,533,39–534,3. Die Bußpsalmenauslegung versteht die Feindklage des Psalmisten im Sinne tatsächlicher Verfolgung. Daraus ergibt sich für den Christen als dem »erbtsame[n] und rewigen menschen«, daß etwa Ps. 102 »zum ersten das ynnewendige leyden das die heiligen von yrher sunde wegen tragen yn eym rewigen geist, darnach das vorfolgen der andern umb desselben gecreutzeten lebens willen«, das der Umwelt »nerrisch« erscheint, beschreibt (WA 1,197,1–3; 198,16–19).

4.1. Schriften zu Ablaß und Buße

255

dem Mißverständnis der »erbtsame[n] casteyung des fleischs«455 als selbstgewählten Leidens und betont immer wieder, daß es sich letztlich um Gottes fremdes Werk am Menschen handelt: »es muß geliden seyn und nit nach unserm willen geen«.456 Nähere Ausführungen, woran er im einzelnen denkt, finden sich jedoch kaum, was nicht verwundern kann, setzt Luther doch bei seinen Lesern und Zuhörern die Kenntnis der spätmittelalterlichen Bußfrömmigkeit mit ihren Satisfaktionswerken und ihren differenzierten asketischen Praktiken voraus. Wichtig ist ihm nur die Abwehr des Mißverständnisses solcher Werke und Praktiken. Denn es gilt, »dass eyn rechts leben nit steet yn vilen wercken [...]. Sondern es steet nur yn eynem creutzigen und todten des alten menschen, alßo das des eußern menschen wandel, es sey nach der werlt adder nach der scheynend heyligkeyt soll zu nichte werden, und alleyne das besten, das Christus sagt, Selig seyn die do weynend und hungern und dursten nach der gerechtigkeit, dan ditz leben soll nit anders seyn, dan ein haß uber den alten menschen und eyn suchen und vorlangen des lebens yn dem newen menschen«.457

Das innerliche und äußerliche Aufsichnehmen der »crux [...] poenitentiae« ist also nichts, was der Mensch sich selbst zurechnen kann, sondern es dient der Überwindung des alten Menschen, damit der neue Mensch nach und nach seine gottgemäße Gestalt gewinnt:458 »Adam auß muß und Christus eyn geen, Adam zu nichte werden und Christus allein regiren und seynn, derhalben ist waschens und reynigens kein ende yn disser tzeit«.459

Die anhebende Neuheit des Menschen besteht aber nicht nur in der allmählichen Überwindung des alten Menschen, sondern wird auch innerlich und äußerlich greifbar. Das »gantz leben, werck unnd wandell des ynnewendigen menschen« ist nicht nur das »vorlaßen yn gott und gantz gottis willen gelaßen steen«, sondern auch »das leben yn den hohen dreyen tugenden, als glauben, hoffnung, liebe«.460 Die innerliche Neuheit zeigt sich in der gnadenhaften Erneuerung von Affekt, Wille und Verstand. Der Heilige Geist macht »frywillige menschen«, die mit »reyn[em] hertz« und »auß gutem richtigen willen gott dienen«, und die Gewißheit der Sündenvergebung gibt ein fröhliches Herz und ein gutes Gewissen und ermöglicht so gute Werke.461 Ja, die Buße beginnt allererst mit dem so ermöglichten amor iustitiae et dei als der wahren contritio.462 Und diese Erneuerung 455

WA WA 457 WA 458 WA 459 WA 460 WA 461 WA 462 WA 456

1,198,10. 1,173,5. 1,162,34–163,5. 1,534,11–15. 1,186,25–27. 1,210,6–13. 1,66,9–12; 191,26.34–36; 525,28 f.; WA 2,715,8 f. 1,525,5–526,32; WA 1,319,10–322,20.

256

4. Ethische Konkretionen der Frühtheologie

wirkt sich auch im äußeren Handeln des Glaubenden aus. Denn der Blick richtet sich in der Buße nicht so sehr auf das vergangene sündige Leben, als vielmehr auf die zukünftige christliche Existenz: »Optima poenitentia nova vita«.463 Luther wendet sich ausdrücklich gegen das Mißverständnis, als führe seine Bußauffassung zu einer Relativierung der guten Werke. Vielmehr befreit der Glaube vom Mißverständnis, durch die Werke für das eigene Heil zu sorgen. Er befreit dazu, allein Gott zu Ehren und dem Nächsten zum Nutzen gute Werke zu tun.464 Für deren Näherbestimmung greift Luther auf das herkömmliche Schema der Genugtuungswerke zurück, das sich an Mt. 6,1–18 anlehnt: »Die gnugthuung wirt weyter geteylet ynn drey teyl, das ist, Beeten, vasten, almußen, also das beeten begreyff allerley werck der seelen eygen, als leßen, tichten, horen gottis wort, predigen, leeren und der gleychen. Vasten begreyff allerley werck der casteyung seyns fleyschs, als wachen, erbeyten, hart lager, cleyder etc. Almußen begreyff allerley gute werck der lieb und barmhertzigkeyt gegen den nehsten«.465

Luther sieht in diesen drei Frömmigkeitswerken als der Praxis der poenitentia euangelica die drei Beziehungsdimensionen des Christen vollständig und in ihrer ganzen existentiellen Tiefe erfaßt, indem er Mt. 6,1–18 mit Tit. 2,12 (»[gratia Dei] erudiens nobis ut abnegantes impietatem et saecularia desideria sobrie et iuste et pie vivamus in hoc saeculo«) und 1.Joh. 2,16 (»omne, quod est in mundo, concupiscentia carnis et concupiscentia oculorum est et superbia vitae, quae non est ex patre, sed ex mundo est«) verbindet: »Ieiunium habet in se omnes castigationes carnis sine delectu ciborum aut differentia vestium, Oratio vero omne studium animi meditando, legendo, audiendo, orando, Eleemosyna vero omne obsequium erga proximum, ut ita per ieiunium sibi serviat, per orationem deo et per eleemonsynam proximo, per primum vincat concupiscentiam carnis et vivat sobrie et caste, per secundum superbiam vitae et vivat pie, per tercium concupiscentiam oculorum et vivat iuste in hoc saeculo«.466

In seinen Schriften zu Buße und Ablaß führt Luther diese traditionellen Reihungen nicht weiter aus, weil das Sache einer eigenen, von ihm in derselben Zeit mit mehreren Schriften bedienten Untergattung der bußtheologischen Literatur ist: der Dekalogauslegung, die in im Folgenden 463 WA 1,321,4. Ähnlich auch die resolutio zur fünften Ablaßthese: »Maxime enim deo satis fit per novam vitam« (WA 1,538,4 f.). 464 WA 2,719,34–720,3. 465 WA 1,244,1–6. Siehe auch WA 1,324,25–29. 466 WA 1,532,18–24. Die Trias von concupiscentia carnis, superbia vitae und concupiscentia oculorum (1. Joh. 2,16) ist ein Topos der monastischen Theologie, da die drei Mönchsgelübde eben gegen diese drei Versuchungen des weltlichen Lebens gerichtet sind, wie Luther mehrfach etwa in der ersten Psalmenvorlesung zeigt (WA 55II,37,22– 38,3; 328,503–505; 462,398–401; 790,344–791,357).

4.1. Schriften zu Ablaß und Buße

257

(4.2.) Thema sein wird. Das Ablaßthema gibt Luther allerdings Gelegenheit, in polemischer Absicht einige dieser in der Dekalogauslegung entwickelten ethischen Konkretionen aufzugreifen. Denn der Ablaß gefährdet seiner Meinung nach das ethische Moment der poenitentia euangelica.467 Noch in seiner Vorrede zu den lateinischen Werken von 1545 ist ihm dieses Interesse so wichtig, daß er ausdrücklich darauf verweist, er habe 1517/18 als Alternative zum Ablaß die bona opera caritatis betont.468 Denn in der Ablaßverkündigung liegt die Gefahr der Bevorzugung des Ablasses gegenüber den Liebes- und Barmherzigkeitswerken (opera charitatis / misericordiae).469 Luther denkt dabei an die direkt mit dem Ablaßkauf konkurrierende Verwendung von Geld zur Unterstützung von Armen, zum Verleihen an Bedürftige oder zur Versorgung des eigenen Hauses. Geld soll nicht dem Ablaßhandel, sondern der Unterstützung der Bedürftigen dienen, die der wahre Schatz der Kirche sind.470 Und dabei darf sich die Hilfeleistung nicht nur auf den Notfall (necessitas extrema) beschränken, sondern die Liebe weiß sich entsprechend der Goldenen Regel (Mt. 7,12) zur Hilfe verpflichtet, wann immer sie benötigt wird.471 Das Problem des Ablasses ist dabei nicht, daß die Geldaufwendung für ihn im Vergleich mit den Barmherzigkeitswerken von minderem Wert ist, sondern daß die Verbindung von Geldleistung, Unterstützung des Baus der Peterskirche und Ablaß als eine »manifesta Simonia et venditio turpissima« grundsätzlich problematisch und mit den wahrhaft guten Werken überhaupt nicht vergleichbar ist.472 Gute Werke sollen ohne Rücksicht auf dadurch zu erreichende Verdienste allein um Gottes willen getan werden. Luthers Schriften zur Buße bieten sowohl eine grundsätzliche Kritik am Bußverständnis und an der Bußfrömmigkeit des späten Mittelalters als auch deren Weiterführung und Vertiefung im Rückgriff auf das neutestamentliche Verständnis des christlichen Lebens. Drei Momente dieser Erneuerung des Bußverständnisses sind abschließend noch hervorzuheben. Erstens ist, wie schon die erste Ablaßthese deutlich macht, die poenitentia euangelica und mit ihr die in der Rechtfertigung gründende christliche Praxis für alle Christen selbstverständlich gültig. Denn Christus lehrt die poenitentia, 467 »ßo er [der Ablaß] die selben werck [die umfassend verstandenen Genugtuungswerke] solt all hyn nhemen, blieb nichts gutes mher da, dass wir thun mochtenn« (WA 1,244,9 f.). 468 WA 54,180,7–9.18–20. 469 WA 1,235,18–41; WA 1,245,35–246,10; WA 1,598,18–603,29. Im Hintergrund steht auch Mt. 25,31–46. 470 WA 1,236,16. 471 WA 1,600,23–30. 472 WA 1,599,1–38.

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4. Ethische Konkretionen der Frühtheologie

»quae in spiritu et veritate agitur, Non autem eam, quam foris agere possunt superbissimi hypocritae, in ieiuniis suis facies exterminantes, in angulis orantes et cum tubis eleemosynam facientes. Eam, inquam, doceat Christus oportet, quae in omni vitae genere agi potest, quam rex in purpura, sacerdos in mundicia, principes in dignitate non minus possunt agere quam monachus aut mendicus in suis ritibus et paupertate, sicut egerunt Daniel et socii sui in media Babylone. Omnibus enim hominibus, id est omnium conditioni, debet convenire doctrina Christi«.473

Entscheidend ist das für alle Glaubenden gleichermaßen geltende, »mit demutiger erkentnis unßer sund und bekentnis seyner gerechtigkeit« darzubringende inwendige Opfer des Herzens; nicht das damit verbundene »eußere opfer« der Werke und der Kreuzigung des »eußern Adams menschen« »mit Christo«, das sich in unterschiedlicher Weise, »wie dan got eym iglichen gnade gibt zuthun yn seym stand«, verwirklicht.474 Zweitens liegen die Heilsmittlerschaft und Anleitung zu christlicher Praxis nicht mehr in den Händen der kirchlichen Institution, sondern sind Aufgabe der Lehre Christi, der gegenüber jeder Glaubende unmittelbar ist. Diese »religiöse Autonomie« (U. Barth) des Glaubenden ist, auch wenn sie weder in ihren kritischen Konsequenzen gegenüber der kirchlichen Hierarchie und Institution – insbesondere dem Papsttum und dem Mönchtum – noch in ihren positiven Konsequenzen – nämlich der Ermöglichung eines am Neuen Testament orientierten christlichen Ethos – mehr als in ersten Ansätzen greifbar ist, von großer Bedeutung für Luthers Anleitung zum christlichen Leben. Das zeigt sich drittens darin, daß Luthers Schriften zur Buße erste Ansätze eines christlichen Ethos zeigen, das einen Bogen vom Rechtfertigungsglauben zur innerweltlichen Verantwortung schlägt. Damit wird die poenitentia euangelica mit ihrer charakteristischen Verschränkung von Innen- und Außendimension, von Rechtfertigung und neuem Leben zu einer Voraussetzung der neuartigen Würdigung der Weltverantwortung. 4.2. Die frühe Dekalogauslegung (1518) Neben Luthers Schriften über Buße und Ablaß, in denen er in den Jahren 1517 bis 1519 sein Bußverständnis und seine Kritik an den Mißständen des spätmittelalterlichen Bußwesens darlegte, stehen einige weitere Schriften, deren Sitz im Leben nicht die theologische Reflexion der Buße, sondern die pastorale Anleitung zu deren praktischem Vollzug war. Im späten Mittelalter waren katechetische Predigtreihen in der vorösterlichen Fastenzeit ein wichtiger Teil der religiösen Unterweisung der Laien. Zur Vorbereitung auf die jährliche Pflichtbeichte und die österliche Kommunion 473 474

WA 1,531,6–13. WA 1,194,10 f.28–33.37–39.

4.2. Frühe Dekalogauslegung

259

wurde vielerorts über die Buße gepredigt. Diesen Predigtreihen in der Fastenzeit lag vielfach der Dekalog zugrunde, der sich im Spätmittelalter zu einem zentralen katechetischen Text entwickelt hatte. Mit seiner Hilfe stellten die Prediger ihrer Gemeinde das Ideal des christlichen Lebens vor Augen und leiteten sie zur Einsicht und zum Bekenntnis ihres Zurückbleibens hinter diesem Ideal an.475 So predigte der Wittenberger Stadtkirchenprädikant Martin Luther von Juni 1516 bis Februar 1517 über den Dekalog. Die Predigten selbst sind zwar nur noch bruchstückhaft erhalten, aber Luther arbeitete sie ein Jahr später zu einer umfangreichen und theologisch gewichtigen lateinischen Dekalogauslegung um, die im Sommer 1518 unter dem Titel Decem praecepta Wittenbergensi praedicata populo erschien und sowohl einen Einblick in die Grundlegung des bußtheologischen Ethos als auch in dessen Konkretionen gibt.476 Eine Kurz475

Der Dekalog hatte im Laufe des Spätmittelalters eine solche Bedeutung erlangt, daß er nicht nur für die kirchliche Gemeinde, sondern auch für die städtische Rechtsgemeinschaft zur Leitgröße wurde. Das zeigt das bemerkenswerte Nebeneinander von Luthers Dekalogpredigten in der Stadtkirche 1516/17 und der 1516 für das Wittenberger Rathaus angefertigten Zehn-Gebote-Tafel Cranachs. Beides hatte wohl nichts unmittelbar miteinander zu tun (V. Thum: Die Zehn Gebote für die ungelehrten Leut’. Der Dekalog in der Graphik des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, 2006, 78341), ist aber angesichts der zeitlichen und örtlichen Nähe beider Vorgänge ein aufschlußreiches Indiz für die »normative Zentrierung von Religion und Gesellschaft«, wie sie Berndt Hamm beschrieben hat (B. Hamm: Von der spätmittelalterlichen reformatio zur Reformation. Der Prozeß normativer Zentrierung von Religion und Gesellschaft in Deutschland, in: ARG 84, 1993, 7–82). 476 WA 1,394–398.398–521. Die Exordien der Predigten sind erhalten (WA 1,60–141). Erhebliche theologische Unterschiede zwischen den erhaltenen Predigtteilen aus dem Jahr 1516/17 und der Druckfassung aus dem Jahr 1518 finden sich nicht und sind auch für die verlorenen Predigtteile nicht anzunehmen. Die immer wieder geäußerte Kirchenkritik könnte allerdings durch die Ereignisse der Jahre 1517 und 1518 an Schärfe gewonnen haben. – Luthers frühe Dekalogauslegung ist bislang nicht ausreichend erforscht. Sie hat zwar in der Forschung zu Luthers Katechismen Aufmerksamkeit gefunden (besonders bei J. Meyer: Historischer Kommentar zu Luthers Kleinem Katechismus, 1929), aber darüber hinaus wurde sie nur in wenigen Forschungsarbeiten berücksichtigt oder eigenständig behandelt. Zu bestimmten Aspekten der Auslegung des ersten Gebots ist auf die Arbeiten von Jörg Haustein (Martin Luthers Stellung zum Zauber- und Hexenwesen, 1990, 32–67; Luthers frühe Kritik an der Heiligenverehrung und ihre Bedeutung für das ökumenische Gespräch, in: ThLZ 124, 1999, 1187–1203, hier: 1191–1200), zur Auslegung des vierten Gebots auf Robert Bast (Honor Your Fathers: Catechisms and the Emergence of a Patriarchal Ideology in Germany 1400–1600, 1997, 78–92) zu verweisen. Eine Einführung, die hinsichtlich einiger Einzelheiten und der Betonung der Kontinuitätslinien zwischen der frühen Dekalogauslegung und Luthers reformatorischer Theologie und Ethik zu diskutieren ist, gibt M. Basse: Luthers frühe Dekalogpredigten in ihrer historischen und theologischen Bedeutung (Luther 78, 2007, 6–17). So gewiß Luthers frühe Dekalogauslegung vor dem Hintergrund der Römerbriefvorlesung in ihren reformatorischen Elementen gewürdigt werden muß, so wenig darf man die Unterschiede zu Luthers reformatorischer Theologie im Grundsätzlichen wie in den Einzelheiten – etwa hinsichtlich des Gesetzes- und Glaubensverständnisses, der Bestimmung

260

4. Ethische Konkretionen der Frühtheologie

fassung von Luthers Dekalogverständnis zu dieser Zeit bietet zudem eine wohl in der Fastenzeit 1518 entstandene Beichtanleitung, die in einer deutschen und lateinischen Fassung erschien: die Kurze Erklärung der zehn Gebote.477 Diesen beiden Dekalogauslegungen werden im Folgenden auch einige Sermone aus dem Jahr 1519 an die Seite gestellt, deren Sitz im Leben zwar nicht der Beichtunterricht war, die aber als thematische Vertiefungen einzelner Punkte der religiösen Laienunterweisung in den weiteren Zusammenhang der bußtheologischen Konkretionen des christlichen Lebens gehören. Daß Luther knapp zwei Jahre nach Übernahme der Stadtkirchenprädikatur eine mehrmonatige Predigtreihe über den Dekalog begann und in den Folgejahren immer mehr Schriften zur religiösen und ethischen Unterweisung der Laien veröffentlichte, läßt sich nicht nur als verantwortliche Wahrnehmung seiner pastoralen Aufgabe als Prediger verstehen, sondern deutet auch auf das wachsende Selbstbewußtsein des Theologen Luther hin. Das in der Psalter- und Römerbriefexegese entwickelte Neuverständnis der Rechtfertigung und der Konstitution des christlichen Subjekts sollte nicht nur in der akademischen Lehr- und Disputationstätigkeit weiter ausgearbeitet werden, sondern auch seine Praxisrelevanz für die Kirche und die christliche Alltagsexistenz erweisen. Und indem Luther in seinen Predigten, in der Bußpsalmenauslegung, in den Beichtanleitungen und in den frühen Sermonen die praktischen Konkretionen seiner Frühtheologie vor Augen stellte, trieb er ihre Entwicklung weiter voran. Luthers theologischer Neuansatz fällt in den Decem praecepta nicht gleich ins Auge. Das hängt mit dem literarischen Genus zusammen, dessen formale und inhaltliche Konventionen auch für Luther selbstverständliche Vorgabe waren. Er war einer von vielen spätmittelalterlichen Dekalogauslegern. Der konventionelle Charakter von Luthers Dekalogauslegung bis hin zu den Katechismen zeigt sich an der Übernahme des etablierten katechetischen Dekalogtexts, an der Verwendung der gängigen Untergliederungsschemata, am Rückgriff auf die üblichen inhaltlichen Erschließungsmethoden und an der Integration zahlreicher vorgegebener frömmigkeitspraktischer und ethischer Einzelthemen in die Auslegung. Ein Vergleich mit den Luther bekannten und von ihm verwendeten Dekalogauslegungen sowie mit den zahlreichen Dekalogauslegungen des Hoch- und Spätmittelalters würde im ganzen wie im einzelnen zahlreiche Ähnlichkeiten oder des Verhältnisses von Glaube und Liebe, der Bedeutung des ersten Gebots oder der Zuordnung von Distanzierung von der Welt und innerweltlicher Verantwortungsübernahme – unterschätzen, die sich bei einem Vergleich mit der Dekalogauslegung der 1520er Jahre zeigen. 477 WA 1,246–250.250–256; WA 1,257.258–265 (Instructio pro confessione peccatorum).

4.2. Frühe Dekalogauslegung

261

Übereinstimmungen ergeben.478 Doch nicht die Gemeinsamkeiten mit der mittelalterlichen Tradition sind das eigentlich Interessante, sondern das demgegenüber Neue, das sich durchaus harmonisch mit den Konventionen der Dekalogkatechese verbindet: der rechtfertigungstheologische Rahmen, in den Luther seine Darstellung des christlichen Lebens anhand des Dekalogs einbettet. Schon der Beginn der Auslegung des ersten Gebots zeigt, daß Luther der Dekalogkatechese sein in der ersten Psalmen- und der Römerbriefvorlesung entwickeltes Verständnis von Gesetz, Sünde und Rechtfertigung zugrundelegt. Das erste Gebot (»Non habebis deos alienos«) ist seiner Meinung nach als indikativisches Verbot formuliert, weil es nicht so sehr zukünftige Sünde verhüten als vielmehr schon begangene Sünde aufdecken soll. Der Römerbrief zeigt, daß das Gesetz der Sündenerkenntnis dient und daß es tatsächlich alle Menschen als Sünder überführt.479 Luther will damit nicht die Möglichkeit äußerlicher Gesetzeskonformität bestreiten, sondern den Blick auf die entscheidende innere Dimension des Gebotsgehorsams lenken.480 Er teilt also nicht mehr die selbstverständliche Voraussetzung der mittelalterlichen Dekalogkatechese, daß die göttlichen Gebote vom Menschen mit Hilfe der Gnade befolgt werden können. Ja er stellt die ganze mittelalterliche Anschauung vom freien Willen und den Möglichkeiten des Menschen zu gutem und sogar verdienstlichem Handeln grundsätzlich in Frage – und setzt seine in den Jahren 1513 bis 1517 entwickelte Anschauung von der Rechtfertigung durch die gläubig-demütige Ergebung in das göttliche Gericht dagegen.481 Der eigentliche Ge478 Ein solcher Vergleich kann im Folgenden nicht vorgenommen werden. Die mittelalterliche Dekalogauslegung ist als traditionsgeschichtlicher Hintergrund von Luthers Katechismen seit dem 19. Jahrhundert immer wieder behandelt worden. Nach wie vor wichtig sind die grundlegenden Arbeiten von Johannes Geffcken (Der Bildercatechismus des funfzehnten Jahrhunderts und die catechetischen Hauptstücke in dieser Zeit bis auf Luther, Bd. 1: Die zehn Gebote, 1855) und C. v. Zezschwitz (System der christlich kirchlichen Katechetik, Bd. 2I: Der Katechismus oder der kirchlich-katechetische Unterricht nach seinem Stoffe, 21872, 161–272, wertvoll wegen der zahlreichen Quellenzitate und der detaillierten Untersuchung der Dekalogauslegung). Aus der Literatur des 20. Jahrhunderts ist auf die einschlägigen Lexikonartikel (eine gute Orientierung bietet: LMA 3,649–651 [Ludwig Hödl]; zu Augustin: AugL 2,246–255 [Alfred Schindler]) und die Monographie von Robert Bast (Honor Your Fathers: Catechisms and the Emergence of a Patriarchal Ideology in Germany 1400–1600, 1997) zu verweisen. Weitere Literatur zum Dekalog, zum Beichtunterricht und zur katechetischen Literatur ist bei A. Peters: Kommentar zu Luthers Katechismen, Bd. 1, 1990, genannt. 479 WA 1,398,10–399,9. 480 WA 1,399,10–19. 481 WA 1,426,17–430,2, hier vor allem 427,15–428,4. Auch in den Predigtexordien des Jahres 1516/17 (WA 1,60–141) entwickelt Luther immer wieder seine Rechtfertigungslehre, wobei er sie stärker noch als in den Decem praecepta demutstheologisch akzentuiert.

262

4. Ethische Konkretionen der Frühtheologie

horsam gegenüber dem göttlichen Gebot besteht darum nicht in dessen dem Menschen von sich aus gar nicht möglicher Befolgung, sondern in der allem Handeln vorausliegenden Gottesbeziehung, im Christusglauben. Wenn der Mensch »per gratiam in fide Ihesu Christi« geheilt ist,482 kann er innerlich und äußerlich wahrhaft gehorsam sein. Denn der Christusglaube beendet das Streben nach Eigengerechtigkeit und die damit einhergehende Kreaturvergötterung, und er richtet den Menschen ganz und gar auf Christus und damit auf Gott selbst aus. Das heißt hinsichtlich des ersten Gebots: »nemo implet hoc praeceptum, nisi credens in Christum, sperans, diligens, nudatus ab omnium rerum affectu, Quod sine gratia dei est impossibile«.483

Das erinnert an Luthers Auslegung des Scholions zu Hebr. 2,3 im Spätherbst 1517 und scheint auf die Auslegung des ersten Dekaloggebots in den Operationes in Psalmos und im Sermon Von den guten Werken im Frühjahr 1520 vorauszuverweisen. Beidemale ist für Luther der Glaube die eigentliche und für alles andere grundlegende Erfüllung des Gotteswillens, was er mit Joh. 6,28f. belegt. Die Decem praecepta aber meinen etwas anderes mit der Aussage, daß nur der »credens in Christum« das erste Gebot erfüllt. Denn nicht der Glaube als solcher ist die hier von Gott gewollte Erfüllung, er ist nur deren notwendige Voraussetzung. Die zitierte Aussage, daß einzig der dank Gottes Gnade an Christus Glaubende, Hoffende, Liebende und von der Bindung an das Weltliche Freie das erste Gebot erfüllt, ist die Antwort auf die Frage, wie dieses Gebot erfüllt wird (»Quomodo fiet istud?«).484 In der Antwort auf diese Frage zeigt Luther, daß für die Erfüllung des ersten Gebots affectus und aestimatio im Inneren entscheidend sind. Diese innere Ausrichtung des Handelnden auf die nichtige Welt oder auf Gott ist die entscheidende Voraussetzung des Handelns. Die fides Christi nun setzt an die Stelle der »fiducia[] sapientiae, iustitiae, virtutis propriae« die handlungsleitende »estimatio solius Christi«, auf den alle Hoffnung gerichtet ist und den der Glaubende über alles liebt. Und weil Christus Gott ist, verehrt der Mensch in der Bezogenheit auf Christus den einen Gott und keinen fremden Gott oder gar – wie die Juden – die »idola cordis sui, quae sibi de deo fingunt«. Die Preisgabe der »fiducia creaturae« ist ein Akt des Demütigwerdens. Die innerliche Bindung an Christus läßt die Glaubenden alles erdulden, was ihnen widerfährt. Dieser affectus der Weltverachtung »prae desiderio sui dei Ihesu Christi«, »ut [...] satis eis sit, quod Ihesum Christum habent«, ist zwar mit dem Glauben 482

WA 1,399,20 f. WA 1,400,8–10. 484 WA 1,399,28–400,38. 483

4.2. Frühe Dekalogauslegung

263

verbunden, aber er ist nicht in jedem Christen im selben Maße vorhanden. Wer im Glauben an Christus um diese Unvollkommenheit weiß, sie Gott demütig bekennt und täglich nach der Vollkommenheit des alleinigen Ausgerichtetseins auf Christus und nach der Weltverachtung strebt, dem wird die idolatria des mangelhaften affectus nicht zugerechnet. Daß der Christusglaube Bedingung und Voraussetzung der Erfüllung des Gotteswillens ist, heißt, daß der im Glauben auf Christus ausgerichtete Mensch sich in der sollicitudo proficiendi um die innere Vervollkommnung in Demut und Weltdistanzierung zu bemühen hat. Diese grundlegenden Ausführungen zum ersten Gebot verbinden zwei auf den ersten Blick schwer miteinander vereinbare Elemente: Luthers rechtfertigungstheologische Verschränkung von Glaube und Demut zum einen und das Vollkommenheitsideal zum anderen. Luther ist sich der Problematik dieser Verbindung bewußt. Er bemüht sich aber darum, beidem gerecht zu werden, indem er einerseits seine Aufgabe darin sieht, »Christianos erudire et ad perfectionem inducere et ea quae sunt salubria et meritoria docere«,485 andererseits sich aber mit dem Mißverständnis eines dem Menschen von sich aus möglichen Vollkommenheitsstrebens auseinandersetzt. Das tut er etwa in der der Einleitung zum ersten Gebot korrespondierenden Auslegung des neunten und zehnten Gebots.486 Die hier geforderte innere und äußere Vollkommenheit des Menschen ist nichts weniger als die Eintrittsbedingung in das Himmelreich, und doch ist sie keine Möglichkeit des Menschen: »oportet nos ita puros fieri, antequam in regnum caelorum veniamus, ut nec motus mali in nobis sint nec ullus fomes ad malum inclinans, sed perfecta sanitas corporis et animae ab omni prorsus vitio, quod sane in hac vita non fiet nec est in potestate nostra«.487

Die als »fomes et invincibilis cupiditas«, »radix malarum cogitationum« und »essentialis seu causalis impuritas in nobis« näherbestimmte concupiscentia läßt sich nicht endgültig überwinden. Deshalb können die Heiligen zwar die übrigen Gebote alle durch die geforderte Intention und Praxis erfüllen, diese beiden aber nicht. Sie müssen sich als Sünder bekennen und sind auf Gottes Gnade angewiesen. Doch diese Luthers Dekalogauslegung abschließende Relativierung des Vollkommenheitsideals stellt es nicht grundsätzlich in Frage, sondern versteht es neu. Denn Vollkommenheit (perfectio) und Reinheit (puritas, munditia) sind für Luthers frühe Dekalogauslegung von großer Wichtigkeit. Wenn der Mensch auch 485

WA 1,418,35–37. WA 1,515,1–516,18. 487 WA 1,515,14–17. 486

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4. Ethische Konkretionen der Frühtheologie

nicht die Bedingung für das Eingehen in das Himmelreich von sich aus erfüllen kann, so muß er dennoch danach streben und sich Gottes Gnade anvertrauen. Darum findet sich immer wieder ganz selbstverständlich die Vollkommenheits- und Verdienstterminologie; etwa wenn Luther das fünfte Gebot radikalisiert: Die Eintrittsbedingung für das Himmelreich ist die Reinheit des Willens und die umfassende Befolgung des von der Bergpredigt her interpretierten fünften Gebots, das das Erleiden von Gewalt und die Selbstnegation durch Buße und Kreuz verlangt.488 Auf den Einwand hin, daß dieses Verständnis des fünften Gebots nur den Vollkommenen gilt, daß es also die Unvollkommenen nicht verpflichtet, antwortet Luther mit der Unterscheidung mehrerer Stufen des Gebotsgehorsams. Es geht darum, die Forderung des Erleidens der Gewalt und der Lebenshingabe für den Nächsten »opere«, »verbo«, »signo« und »corde« zu erfüllen und diesen Gehorsam durch freudiges Ertragen des Übels verdienstlich zu machen. Die Vollkommenheitsforderung gilt allen Christen und sie wird durch ein sich stufenweise vollziehendes Aufsteigen erfüllt: »Scio, non oportere statim esse perfectum, sed gradatim ascendendum. Verum oportet tandem perfici et tendere semper ad profectum et non stare ac contentum esse in aliquo graduum praedictorum, sicut multi faciunt, peius peccantes propter non proficere quam alii propter non incipere, eo quod illi superbiant de incepta iusticia«.489

Weil es aber dem geistlich verstandenen Gesetz nicht primär um die Vollkommenheit der äußeren Praxis, sondern um die Vollkommenheit der inneren Einstellung geht, gilt zugleich, daß man durch wahre Bußgesinnung (compunctio) direkt die Vollkommenheit der höchsten Stufe erreichen kann (compuncti statim ita perficiantur, ut in supremum gradum evolent). Das geistlich verstandene Gesetz ist darum nicht nur Anleitung zum vom Menschen zu leistenden Vollkommenheitsstreben, sondern zeigt ihm seine Sünde und die ihm geltende göttliche Forderung. Und damit leitet es ihn angesichts seiner Unfähigkeit, aus eigener Kraft die Sünde zu überwinden und das Gute zu tun, an, Gott um Vergebung der Sünde und um Hilfe beim steten profectus der Sündenüberwindung durch die Kreuzigung des Fleisches und das Sterben des alten Menschen zu bitten. Die vom Gesetz geforderte Vollkommenheit und Reinheit ist also, obwohl sie die Leitlinie menschlichen Handelns ist, letztlich keine Möglichkeit des Menschen, sondern wird allein von Gott geschenkt. Und die Verdienstlichkeit des Gebotsgehorsams ist kein auf menschlicher Leistung beruhender Anspruch Gott gegenüber, sondern gründet letztlich im Christusglauben: »Christus nobis vixit et meritum nostrum est, si credimus in eum«.490 488 489

WA 1,465,35–468,34. WA 1,467,25–29.

4.2. Frühe Dekalogauslegung

265

Das sich im rechtfertigungstheologischen Rahmen von Glaube und Demut vollziehende Vollkommenheitsstreben folgt dem geistlich verstandenen Dekalog. Der Rückgriff auf den Dekalog ist Luther möglich, weil er das von der mittelalterlichen Exegese und Katechese entwickelte Instrumentarium der christlichen Gesetzeshermeneutik verwendet und dieses seinem rechtfertigungstheologischen Ansatz dienstbar macht. Luther legt seiner Auslegung die gegenüber den beiden alttestamentlichen Dekalogfassungen stark gekürzte und christlich bearbeitete Textform zugrunde.491 Diesen katechetischen Dekalog sieht er in zwei Tafeln oder zwei Teile gegliedert.492 Er folgt dabei der in der Westkirche eingebürgerten Abgrenzung der Gebote und ordnet entsprechend dem Doppelgebot der Gottesund Nächstenliebe das erste bis vierte Gebot der Beziehung zu Gott und seinen irdischen Stellvertretern und das fünfte bis zehnte Gebot der Beziehung zum Mitmenschen zu. Im Nacheinander der Einzelgebote erkennt Luther eine Abfolge vom Wichtigen zum weniger Wichtigen und deutet das erste Gebot als das alle anderen Gebote umfassende Grundgebot. Für die Auslegung des so strukturierten Dekalogs ist die Unterscheidung der beiden Gesetzesfunktionen des Aufdeckens der Sünde (ad cognoscendum peccatum) und der Anleitung zu guten Werken (quid faciendum tibi sit) grundlegend. Zu ihnen tritt angesichts der Ohnmacht des Menschen gegenüber der Sünde und der Überforderung durch das göttliche Gebot als Drittes die Anleitung zum Gebet (quid a deo petendum).493 Der Dekalog ist also sowohl ein Beichtspiegel als auch ein ethisches Kompendium. Luther faßt diese Doppelfunktion in den Psalmvers »Declina a malo et fac bonum« (Ps. 36/37,27).494 Um den damit gestellten Aufgaben gerecht zu werden, deutet er im Gefolge der mittelalterlichen Auslegungstradition die alttestamentlichen Dekaloggebote um. Neben der Gliederung 490 WA 1,428,36 f. Die scharfe Kritik am mittelalterlichen Verdienstdenken am Ende der Auslegung des ersten Gebots (WA 1,426,17–430,2) führt nicht zur Preisgabe der Verdienstvorstellung. Denn perfectio und profectus implizieren weiterhin – auch in ihrem durch Luther rechtfertigungstheologisch modifizierten Verständnis – den Verdienstgedanken. So kann er in einer Predigt vom 30. November 1516 (?) von dem wahrhaft guten Menschen sagen: »Sic autem esse affectum, ut nihil sibi de meritis ac praemiis suis vindicet, et opera Dei intelligere ea esse solius nec plus ea sibi arrogare quam si S. Andreas ipsa fecisset, semper manere in suae nullitatis aestimatione et cognitione et hoc ipsum sine dolo et fictione, quod sine perfectissima gratia non est possibile et est officium perfectissimorum« (WA 1,103,27–32). 491 WA 1,250,1–251,23; 258,1–259,11. 492 WA 1,264,6–8; 438,7–439,31; 461,3–16. Weil sich im vierten Gebot Gottes- und Weltbeziehung des Christen überschneiden, gehört dieses Gebot sowohl zur ersten als auch zur zweiten Tafel. 493 WA 1,468,2 f. 494 WA 1,259,20; 263,2.

266

4. Ethische Konkretionen der Frühtheologie

des katechetischen Dekalogs mittels des Gebots der Gottes- und Nächstenliebe, d.h. mittels der beiden Beziehungsdimensionen von Gott und Welt, ist die Unterscheidung von Verboten und Geboten wichtig, die es ermöglicht, die Dekalogverbote positiv umzuformulieren.495 Diese positive Umformulierung bringt die inhaltliche Ausweitung und Radikalisierung des Gebotsinhalts mit sich. Luther bedient sich hierbei zahlreicher biblischer Bezugstexte und theologischer Schemata. So werden die ersten drei Gebote den drei theologischen Tugenden Liebe, Glaube und Hoffnung496 oder den drei menschlichen Handlungsdimensionen von Herz, Mund und Hand zugeordnet.497 Der Dekalog wird mit der Bergpredigt in Beziehung gesetzt. Dabei spielen die Antithesen (Mt. 5,21–48) und die Goldene Regel (Mt. 7,12) eine besondere Rolle. Die Goldene Regel als Inbegriff der allgemeinmenschlichen lex naturae und der christlichen lex charitatis498 öffnet die Dekalogauslegung sowohl für die philosophische Naturrechtsethik als auch für die theologische Tugendethik. Das interessiert Luther aber beides – im Unterschied zu mancher mittelalterlicher oder frühneuzeitlicher Dekalogauslegung – kaum. Stattdessen versteht er die immer wieder als Inbegriff des neutestamentlichen Ethos angeführte Goldene Regel von den Antithesen her, die für ihn als letztgültige Zuspitzung des neutestamentlichen Gotteswillens auf die Innendimension christlicher Existenz eine besondere Bedeutung haben.499 Denn auch der mit Hilfe der christlichen Auslegungsmethoden neuverstandene katechetische Dekalog bleibt tötender Buchstabe, wenn nicht Gott durch die innerliche Erneuerung des Menschen den lebendigmachenden Geist schenkt, der die Dekaloggebote in ihrem eigentlichen Sinn begreift und erfüllt.500 Darum entwickelt Luther 495

1,398,6–8; 470,4–471,29; 499,9–19. 1,400,8–10; 470,37–471,13. 1,430,4–34; 436,14–21. 1,251,24–33; 259,13–18; 502,20–22. 499 Vor allem in der Auslegung des fünften bis achten Gebots greift Luther immer wieder auf die Goldene Regel und die Antithesen zurück. An einigen Stellen (z.B. WA 1,512,35–513,5) macht Luther die Voraussetzung seiner Bergpredigtrezeption für die Laienkatechese anhand des Dekalogs deutlich: Er unterscheidet nicht zwischen Geboten (praecepta) und Räten (consilia), sondern hält die in der Goldenen Regel zusammengefaßten Bergpredigtforderungen für alle Christen gleichermaßen verpflichtend. Das wurde im Mittelalter teilweise ähnlich gesehen (zur mittelalterlichen Bergpredigtauslegung: B. Stoll: De Virtute in Virtutem. Zur Auslegungs- und Wirkungsgeschichte der Bergpredigt, 1988; K. Bornkamm: Umstrittener »spiegel eines Christlichen lebens«. Luthers Auslegung der Bergpredigt in seinen Wochenpredigten von 1530 bis 1532, in: ZThK 85, 1988, 409–454, hier: 412–419). 500 So sind in der Instructio pro confessione peccatorum die nicht näher erläuterten Abschlußworte zur Wiedergabe und teilweisen Paraphrase der Dekaloggebote (»Litera occidens« [WA 1,259,12]) und zur von der Christusgnade getragenen Praeceptorum plenitudo (»Spiritus vivificans« [WA 1,264,5]) zu verstehen. WA WA 497 WA 498 WA 496

4.2. Frühe Dekalogauslegung

267

auch eine geistliche Dekaloghermeneutik, die es ihm erlaubt, den Dekalog in seine rechtfertigungstheologischen Grundanschauungen zu integrieren.501 Weil nach Röm. 7,14 gilt, daß das Gesetz geistlich ist, darf es nicht »ad literam«, sondern muß es primär geistlich verstanden werden. Das meint nicht ein mystice intelligere, das auf einen hinter dem Wortsinn liegenden geistlichen Schriftsinn zielt.502 Vielmehr meint es ein Gebotsverständnis, für das die eigentliche Gebotserfüllung in der durch die Gnade ermöglichten Innendimension des menschlichen Handelns (corde et hylari voluntate, libere sine timore penae et ex hylaritate) besteht. Der für die innerliche Gesetzeserfüllung notwendige Geist wird gegeben »per gratiam spiritussancti, quae facit voluntarios in lege domini«. Und weil dieser von Gott geforderte und vom Heiligen Geist gewirkte innerliche Gehorsam dem Menschen von sich aus nicht möglich ist, bedarf es des »ire ad gratiam, ut [lex] impleatur«. Luther warnt davor, die »euangelii praecepta« »secundum literam legis« und »in litera [...] ex timore« zu verstehen. Stattdessen müssen sie »ex voluntate« gehalten werden. Denn das »vere secundum euangelium vivere« heißt: »praecepta ex voluntate libenter facere«. Wer im Evangelium entsprechend dem Buchstabensinn äußere Werke gefordert sieht, ist geradezu ein Pelagianer, weil er nicht die Priorität der Innendimension und damit die Verborgenheit des eigentlichen Gebotsgehorsams im Willen erkennt.503 Das Evangelium hat darum auch die Aufgabe, als »revelatio et interpretatio veteris legis« das Gesetz auf die Innendimension des Handelns hin auszulegen, indem es etwa die Gebote der zweiten Dekalogtafel von den Antithesen der Bergpredigt her erschließt.504 501

Grundlegend für das Folgende sind die Ausführungen zu Luthers Gesetzesverständnis in der Einleitung zur Auslegung des fünften Gebots (WA 1,461,17–462,38) und in den Predigten des Dezember 1516 und Januar 1517 (WA 1,104–128; hierzu: J. v. Lüpke: Das Evangelium als Interpret des Gesetzes. Luther frühe Dekalogauslegung, in: Th. Wagner u.a. [Hgg.]: Kontexte, 2008, 51–64, wo allerdings die terminologischen und sachlichen Unterschiede zwischen dem duplex officium Euangelii und der reformatorischen Verhältnisbestimmung von Gesetz und Evangelium nicht ausreichend berücksichtigt werden). Zu vergleichen ist auch Luthers Auseinandersetzung mit dem scholastischen Gesetzesverständnis (WA 1,468,35–471,29). 502 Etwa wenn ein bestimmtes gefordertes äußeres Werk als die Forderung eines anderen äußeren Werks verstanden wird, z.B. die Deutung des Tieropfers als Aufforderung zur Selbstkasteiung. 503 »opera Euangelii non nominantur secundum suum exterius, sed secundum suum interius« (WA 1,462,15 f.). 504 WA 1,105,5–18; 126,4–11; Zitat: 126,8. Im Rückblick auf seine Dekalogpredigten kann Luther im September 1517 sein theologisches Anliegen so zusammenfassen, daß er die Gebote »ad euangelicum morem« gelehrt habe (WAB 1,104,17 [Nr. 45]). Die Rede vom Evangelium als Ausleger des Gesetzes in den Predigten 1516/17 zielt weniger auf die katechetische Paränese als auf deren rechtfertigungstheologischen Rahmen und betont darum stärker als die Decem praecepta die durch das Evangelium aufgewiesene Unfähigkeit des Menschen und seine Angewiesenheit auf die Gnade (WA 1,105,6–35; 108,13–18; 110,16–20; 113,6–114,4.26–29; 126,4–17 u.ö.).

268

4. Ethische Konkretionen der Frühtheologie

Die von Christus in Mt. 5,20 geforderte bessere Gerechtigkeit ist nicht die des buchstäblicheren Gehorsams, sondern des Gehorsams »secundum intentionem legislatoris«.505 Diese Intention wird aber nur von den neuen, himmlischen, geistlichen Menschen erkannt und befolgt, d.h. von den Christen. Weil die für den Gebotsgehorsam entscheidende Innendimension dem Menschen nur durch die Gnade und den Geist eröffnet ist, so gelten die dem Evangelium entsprechenden Werke eigentlich nicht als Werke des Menschen, sondern als Gottes Werke: »vocantur opera dei, quia sunt opera gratiae et spiritus, cum homo ex se non habeat voluntatem istam ac per hoc nec opera ipsa«.506

Luther kann die gnaden- und geistgewirkte innere Haltung des Menschen, die allein dem Gotteswillen entspricht, auch kurz als Liebe bezeichnen. Das Gesetz insgesamt und die einzelnen Gebote sind nämlich im Liebesgebot Joh. 15,12 zusammengefaßt und setzen die Liebe voraus. Es kommt nicht allein auf das äußerliche Tun des Werks (manu et extra) an, das mit innerem Unwillen einhergehen kann, sondern es braucht auch die Liebe als die facilis, prompta, hilaris, libens voluntas.507 Die Gebote und insbesondere den Dekalog sind nötig, um die Spontaneität der Liebe konkret werden zu lassen und dem Menschen die Motivation (quo corde et voluntate) des eigenen Handelns zu zeigen: »Data sunt [praecepta] [...] in cognitionem nostrae voluntatis, deinde in exercitationem eiusdem«.508 Luther konkretisiert das grundlegende Liebesgebot Jesu anhand des ersten Dekaloggebots und der Reihe der folgenden Gebote. Er verweist in der Auslegung der einzelnen Gebote immer wieder auf das allen zugrundeliegende Liebesgebot als die Forderung der Gott entsprechenden Herzenshaltung, die eine Gabe des Heiligen Geistes ist, und summiert: »plenitudo legis est dilectio« (Röm. 13,10).509 Das Verhältnis der so als Inbegriff des Gesetzes bestimmten Liebe zum Glauben thematisiert er nicht eigens, und hier scheint auch kein Problem für ihn zu liegen. Beide Größen stehen in engem Zusammenhang miteinander und überschneiden sich teilweise. Luther scheint noch in der mittelalterlichen Tradition zu stehen, die den Glauben als Voraussetzung und die Liebe als Verwirklichung christlicher Praxis betrachtet – auch wenn sein Verständnis des Christusglaubens eine solche Zuordnung eigentlich nicht mehr erlaubt.

505

WA WA 507 WA 508 WA 509 WA 506

1,462,31. 1,462,17–19. 1,436,14–16; 437,25–29. 1,437,36–438,9; Zitat: 438,5 f. 1,499,9–19; Zitat: 499,16 f.

4.2. Frühe Dekalogauslegung

269

Die aus dem Glauben hervorgehende Liebe gewinnt ihre konkrete Gestalt in einzelnen, den Dekaloggeboten entsprechenden Akten. Diesen Konkretionen ist der überwiegende Teil der frühen Dekalogauslegung Luthers gewidmet. Grundlegend ist das erste Gebot, das alle anderen Gebote in sich enthält.510 Es fordert das Vertrauen auf Gott als Helfer in allen Nöten und als Geber aller Güter und es zielt auf »Timor et amor Dei in plena fide et spe, quod est perfecta sui abnegatio et resignatio, id est gratia per Ihesum Christum Dominum nostrum«.511

Das Gottesverhältnis des Christen ist durch die gnadenhafte geistgewirkte innere Haltung von Glaube, Liebe und Hoffnung bestimmt, die den Christen in die demütige Selbstnegation führt und ihn gerade darin gerechtfertigt sein läßt. Im Gegenüber zu Gott ergibt sich der Glaubende in alles, was ihm widerfährt, und nimmt es als von Gott gegeben an. Der Glaubende verläßt sich nicht auf irgendeine Kreatur, auch nicht auf sich selbst. Was das konkret bedeutet, entfaltet Luther ausführlich in der Auseinandersetzung mit der Verfehlung des vom ersten Gebot geforderten Gottesund Selbstverhältnisses durch den Aberglauben,512 durch die falsche Heiligenverehrung513 und durch das Streben nach Eigengerechtigkeit.514 Diese Auseinandersetzung mit der spätmittelalterlichen Frömmigkeit entspricht in vielen Punkten der sich auch bei anderen Predigern findenden Kritik, sie zielt aber auf einen Punkt jenseits des zeitüblichen Bemühens um Frömmigkeitsreform. Luther stellt nämlich all die Phänomene vom Teufelsglauben über die Auswüchse des Heiligenkults bis hin zur hoffärtigen Selbstüberschätzung hinsichtlich »seiner frohmikeit, vorstandt oder andern geistlichen gaben«515 in den Zusammenhang der Rechtfertigung vor Gott. Es geht ihm eigentlich nicht um die vielen einzelnen abergläubischen Praktiken oder die Irrwege der Heiligenverehrung, sondern um die sich darin auf unterschiedliche Weise äußernde Verweigerung des existentiellen Vertrauens auf Gott: Wer sich mit magischen Ritualen und äußerlichen Frömmigkeitswerken Sicherheit vor den Wechselfällen des Lebens und zeitlich-irdisches Wohlergehen verschaffen will, der setzt an die Stelle Gottes die Götzen. Während Luthers Kritik des Aberglaubens, der Astrologie, des Teufels- und Hexenglaubens und verwandter Phänomene diese Elemente der Volksfrömmigkeit als Verstoß gegen das im ersten Gebot 510

Zum ersten Gebot: WA 1,70,5–73,31; 74,4–77,18; 250,3–6; 252,2–15; 254,16–18; 258,3–7; 259,21–260,12; 263,3–5; 398,4–430,2; 430,6 f.22–25; 438,7–9. 511 WA 1,263,4 f. 512 WA 1,252,3–12; 259,22–260,1; 401,1–411,5. 513 WA 1,252,14 f.; 260,7 f.; 411,11–426,16. 514 WA 1,252,13 f.; 260,12 f.; 426,17–430,2. 515 WA 1,252,13 f.

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4. Ethische Konkretionen der Frühtheologie

geforderte Vertrauen auf den einen Gott grundsätzlich ablehnt, will seine Kritik an der Heiligenverehrung zur wahren Heiligenverehrung anleiten. Und diese besteht nicht darin, um zeitlicher Dinge willen die Heiligen für das eigene Wohlergehen zu mißbrauchen, sondern sie als Empfänger und Zeugen von Gottes Gnadenhandeln zu erkennen, Gott für seine Gnade, wie sie an den Heiligen erkennbar wird und wie sie auch für den einzelnen Christen gilt, zu danken, sich im Vertrauen auf diesen heilschaffenden Gott zu üben und dem Glaubens- und Tugendvorbild der Heiligen in Wort und Tat nachzufolgen. Es geht also gar nicht um die Heiligen, sondern um das Streben nach dem Gottesreich und seiner Gerechtigkeit (Mt. 6,33). Dabei kann die Heiligenverehrung eine Hilfe sein: sie ruft zur Buße auf, stellt den Tod vor Augen und verheißt das zukünftige Leben. Angesichts der Nöte des irdischen Lebens ist vom Glaubenden darum auch nicht die Anrufung der Heiligen für das leibliche Wohlergehen, sondern vielmehr die Ergebung in die göttliche Strafe und das Leidensleben der vita passiva gefordert, wodurch der Mensch zurechtgebracht wird und worin allein die Besserung des Lebens (emendatio vitae) besteht. Die Auslegung des ersten Gebots gipfelt in der abschließenden Kritik des Strebens nach Eigengerechtigkeit, das der Grundirrtum im Gottes- und Selbstverhältnis ist. Wer seinen natürlichen Fähigkeiten – dem liberum arbitrium und dem dictamen rectae rationis – vertraut und Christi und der sakramentalen Gnade nur bedarf, um seine von Natur aus moralisch guten zu meritorischen Akten aufzuwerten, richtet an der Stelle des einen Gottes das »idolum sapientiae et iusticiae suae«516 auf. Das erste Gebot wird aber nicht erfüllt, indem der Mensch im Vertrauen auf seine eigenen Kräfte gute Werke tut, sondern indem er sich als Sünder vor Gott bekennt, allein auf die Christusgnade vertraut und auch gegen den Augenschein seiner guten Werke seine Gerechtigkeit allein außerhalb seiner selbst in Christus vorfindet: »Hii habent vere unum deum, ex quo, per quem et in quem iustificantur, et sunt sine peccato per misericordiam dei ignoscentem, non per suam iusticiam operantem. Sic glorificatur deus et colitur vere, dum eius operibus tribuitur quicquid sumus, immo dum opera nostra non sint nostra, sed dei [...]. ita nihil nobis relictum est nisi peccatum, stulticia, malicia, perditio et confusio, ac per hoc non possumus nobis in ullo placere aut idolum facere, redacti in nihilum, ex quo et venimus, remanente solo deo omnia in omnibus«.517

Diese Verneinung der soteriologischen Funktion guter Werke heißt aber nicht, daß man keine guten Werke tun soll. Denn nicht die Werke sind in Frage gestellt, sondern das Mißverständnis, was gute Werke sind. Gut sind 516 517

WA 1,426,18. WA 1,427,37–428,4.

4.2. Frühe Dekalogauslegung

271

die Werke, die im Glauben geschehen; nicht gut sind die Werke, die, auch wenn sie naturaliter und moraliter gut scheinen, nicht aus Gott oder um Gottes willen (ex deo nec propter deum), d.h. ohne Bezogenheit auf Gott getan werden, sondern die sich der Mensch selbst zuschreibt. Entscheidend für das Gottes- und Selbstverhältnis wie für die Praxis guter Werke ist das Vertrauen (fiducia) auf Christus und die Haltung der humilitas, d.h. des Bekenntnisses des Sünderseins und der Erwartung noch ausstehender Vollendung von Gott her. Und an diesem rechtfertigungstheologischen Verständnis des ersten Gebots entscheidet sich nicht nur das rechte Verständnis des Dekalogs und seiner einzelnen Gebote, sondern zugleich auch das Heil. Was im ersten Gebot gefordert ist, ist keine im Diesseits vom Menschen gar nicht erfüllbare Forderung, sondern die für die ganze christliche Existenz grundlegende Begegnung mit dem richtenden und rechtfertigenden Gott: »Qui enim non agnoscit se praeceptum hoc debere, quomodo se agnoscet esse peccatorem? Qui autem non agnoscit se peccatorem, quomodo timebit deum et iudicium eius? Qui autem non timet, quomodo humiliabitur? Qui non humiliatur, quomodo gratiam consequetur? qui gratiam non consequitur, quomodo iustificabitur? Qui non iustificatur, quomodo salvus erit?«518

Die Auslegung des zweiten (»Non assumes nomen Domini Dei tui in vanum«)519 und dritten Gebots (»Memento, ut diem sabbati sanctifices«)520 entfaltet die Auslegung des ersten Gebots weiter: »II. Invocatio, laus, glorificatio sancti nominis Dei ac nominis proprii, vanaeque gloriae contemptus, id est gratia Dei per Ihesum Christum. III. Actuatio primi et secundi praecepti, id est seipsum capacem gratiae facere et materiam sese praebere operaturo Deo. Quod fit orando, Missam et verbum Dei audiendo, Christi passionem memorando et pro peccatis gemendo, quod est spiritualiter communicare: Totum gratia Dei per Ihesum Christum«.521

Während das erste Gebot das Herz (cor) und den inneren Menschen unterweist, zielen die beiden folgenden Gebote auf das aus dem Inneren des Menschen hervorgehende und durch die Herzenshaltung qualifizierte Reden (os) und Handeln (opus) Gott gegenüber. Aus dem ersten Gebot ergibt sich selbstverständlich, daß der Glaubende Gott in der Not anruft und ihm Lob und Dank darbringt und sich jeder mißbräuchlichen Beanspruchung Gottes, sei es in der Anrufung Gottes, sei es in der Behauptung einer dem Menschen von sich aus zukommenden besonderen Stellung ent518 519 520

WA 1,429,36–430,2. WA 1,250,7–10; 252,16–24; 254,19–22; 258,9–11; 260,13–21; 263,6–8; 430,4–436,11. WA 1,250,11–15; 252,25–30; 254,23–28; 258,12–16; 260,22–29; 263,9–14; 436,12–

447,16 (die Einleitung zur Auslegung des dritten Gebots [436,14–439,31] beschäftigt sich mit dem Gesetzesverständnisses im allgemeinen). 521 WA 1,263,6–14.

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4. Ethische Konkretionen der Frühtheologie

hält. Die Auslegung des zweiten Gebots konzentriert sich auf den Eid, der für die mittelalterliche Gesellschaft eine zentrale Rolle spielte. Die eidliche Anrufung Gottes war in einer Zeit, die schriftliche Verträge und eine differenzierte Zivil- und Strafgerichtsbarkeit allenfalls ansatzweise kannte, die entscheidende Gestalt der rechtsförmigen Selbstverpflichtung.522 Umso mehr forderten das Verbot des Namensmißbrauchs im Dekalog und die es verschärfende vierte Antithese der Bergpredigt (Mt. 5,33–38) die theologische Absicherung des für den Zusammenhalt des Gemeinwesens unverzichtbaren Eids. Luther ist sich sowohl der theologischen Problematik als auch der innerweltlichen Notwendigkeit des Eides bewußt und sucht den Ausweg in einer Bestätigung des Eidverbots der Bergpredigt, die aber zwei Ausnahmen zuläßt: Wenn nämlich der Glaubende entweder durch äußeren Zwang oder die Notlage eines Mitmenschen dazu genötigt wird (exactus vi alterius aut necessitate fratris), so daß er entweder in Demut einem fremden Willen nachgibt oder in Liebe einer fremden Not abhilft (servit per humilitatem alienae voluntati vel per charitatem alienae necessati). Ansonsten gilt Jesu Forderung, daß die Rede des Christen »Ja, ja, nein, nein« sein soll, um so den Gottesnamen zu ehren und der Verstrickung in das weltliche Leben abgezogen zu werden. Diese Betonung der Weltdistanzierung als Kehrseite des Gottesverhältnisses betrifft aber nicht nur den Eid, sondern auch das Handeln des Glaubenden insgesamt. Denn im Gegenüber zu Gott soll der Glaubende ganz auf Werke verzichten, sich durch Gebet, Teilnahme am Gottesdienst und Beschäftigung mit dem Gotteswort für Gottes Gnade öffnen und in äußerer und innerer Passivität in das Wirken Gottes ergeben. Das ist die im dritten Gebot geforderte Sabbatruhe als Teil der in den drei ersten Dekaloggeboten geforderten »pura quies«523 mit Herz, Mund und Werk. Diese Sabbatruhe gilt nicht nur an einem einzelnen Wochentag, sondern an allen Tagen, weil die Gottesbeziehung im Glauben das ganze Leben des Christen umgreift. Da aber nicht alle Glaubenden dasselbe Maß an christlicher Vollkommenheit erlangt haben und viele noch des Sonn- und Feiertags als äußerlicher Institution besonderen Charakters bedürfen, muß das dritte Gebot sowohl auf die religiöse Grundhaltung des Christen als auch auf die konkreten Vollzüge der religiösen Praxis hin ausgelegt werden. Luther behandelt darum im Gefolge der mittelalterlichen Dekalogkatechese vor allem den Schutz des Sonn- und Feiertags vor sündhafter Verkehrung und 522

Zum rechtsgeschichtlichen und theologischen Hintergrund im Mittelalter: W. Ebel: Der Bürgereid als Geltungsgrund und Gestaltungsprinzip des deutschen mittelalterlichen Stadtrechts, 1958; LMA 3,1673–1680. 523 WA 1,436,20.

4.2. Frühe Dekalogauslegung

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die sonn- und feiertäglichen religiösen Vollzüge, obwohl sein eigentliches Interesse der geistlich-innerlichen Bedeutung des dritten Gebots gilt. Er schärft die äußere Heiligung des Feiertags ein, diskutiert aber auch eine Reihe von Ausnahmen von der Feiertagsruhe, etwa um erheblichen Schaden abzuwenden, notwendige Alltagsbedürfnisse zu befriedigen oder Bedürftigen zu helfen. Der durch die Feiertagsruhe geschaffene Freiraum ermöglicht die Feiertagsheiligung durch die Teilnahme am Meßgottesdienst (audire Missam), das Hören des Gottesworts (audire verbum dei), das Gebet (oratio verbalis) und die innerliche Buße und Versöhnung mit Gott durch die Meditation der eigenen Sünde und der Wohltaten Gottes (reconciliari deo per examinationem conscientiae et contritionem peccatorum, oratio spiritualis). In seinen Dekalogauslegungen schließt Luther an die Auslegung des dritten gleich die des vierten Gebots an, das er sowohl auf die Gottes- als auch auf die Weltbeziehung des Christen bezieht. Er verzichtet darauf, die Frage des Zusammenhangs von Gottes- und Weltbeziehung eigens zu thematisieren. Deshalb lohnt es sich, noch etwas beim Thema der Auslegung der ersten drei Gebote zu verharren und anhand der Sermone des Jahres 1519 dem Zusammenhang von Sakrament und christlicher Praxis nachzugehen.524 Das Gottesverhältnis des Christen, wie es Luthers Auslegung der drei ersten Dekaloggebote darstellt, gründet in Gottes Zuwendung zum Menschen, die sich in den Sakramenten der Taufe, der Buße und des Abendmahls in besonderer Weise verdichtet. Grundlegend dabei ist die Taufe, in der »der alte mensch und sundliche gepurt von fleysch und blut [...] gantz erseufft« wird »durch die gnad gottis« und »ein newer mensch erauß geht und auff steht, yn gnaden geporen«.525 Die gottgewirkte Erneuerung des Getauften hat zwei Aspekte:526 zum einen die Gnaden- und Geistgabe, die mit der im Glauben angenommenen Sündenvergebung einhergeht, zum anderen das lebenslange Absterben der Sünde und Wachsen in der Gerechtigkeit und Heiligkeit, das vom Getauften sowohl das pas524 Die beiden wichtigsten Quellen hierfür sind: Ein Sermon von dem heiligen hochwürdigen Sakrament der Taufe (WA 2,724–726.727–737) und Ein Sermon von dem hochwürdigen Sakrament des heiligen wahren Leichnams Christi und von den Brüderschaften (WA 2,738–741.742–758). In beiden Sermonen ist die Ethik nicht das eigentliche Thema, sie wird aber ganz selbstverständlich mitbehandelt. Weil in Luthers reformatorischer Theologie Gottes- und Weltbeziehung in dieser Selbstverständlichkeit ineinander liegen, sollte man die sich in den Sakramentssermonen findende Thematisierung der ethischen Dimension christlichen Lebens nicht als eigenständige Ethikkonzeption kennzeichnen, wie es die Forschung etwa hinsichtlich des Abendmahlssermons getan hat (M. Rathey: Eucharistische Ethik in Luthers Abendmahlssermon, in: Luther 63, 1992, 66– 73). 525 WA 2,727,16 f.32 f. 526 WA 2,728,10–29; 730,23–731,2; 732,1–24; 733,1–3; 734,1–7 u.ö.

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4. Ethische Konkretionen der Frühtheologie

sive Erleiden der von Gott verhängten Tötung des Fleisches als auch die aktive Übung in Selbstdisziplinierung und guten Werken verlangt. Damit reicht die Taufe weit über den sakramentalen Akt hinaus und wird zu einer Grundbestimmung christlicher Existenz. Das sich im täglichen Leben vollziehende Sterben und Auferstehen der Christen entfaltet sich aber in unterschiedlicher Weise. Denn Gott hat »mancherley stend vorordenet, in wilchen man sich uben unnd leyden leren soll, ettlichen den eelichen, den andern den geystlichen, den andern den regirenden e e stand, und allen befolen, muhe und arbeyt zu haben, das man das fleysch todte und 527 gewene zum todte«.

Luther zieht hier die für die Sozialethik und die katechetische Paränese des Spätmittelalters grundlegende Dreiständelehre zur Erläuterung seines Taufverständnisses heran. Das Leben des getauften, zu Christus gehörenden, neuen Menschen findet nicht in äußerlicher Distanzierung von der alten Existenz statt, sondern gerade in den weltlichen Gegebenheiten, in denen sich der Getaufte vorfindet. Die drei Stände der oeconomia, ecclesia und politia, d.h. die drei Lebenskreise von Familie, Kirche und Gemeinwesen, sind der Bewährungsort christlicher Existenz. Diese sozialethische Entfaltung liegt in Luthers rechtfertigungstheologischem Taufverständnis selbst begründet. Bedeutet doch die Taufe zwar den Bruch mit dem alten Leben, aber nicht seine endgültige Überwindung. Und das neue Leben bewährt sich gerade darin, daß es sich gegen das als Sünde nicht mehr zugerechnete, aber lebenslang weiter bedrängend vorhandene alte Leben immer mehr durchsetzt. Der Getaufte hat die Freiheit, unter den gegebenen Lebensordnungen die zu wählen, in der er die Taufe lebenslang praktizieren will.528 Trotz der Betonung des allen Christen gemeinsamen ›Taufgelübdes‹529 und der ihnen allen durch den Glauben zukommenden Sündenvergebung spricht Luther im Gefolge der mittelalterlichen Unterscheidung der Stände bestimmten Lebensformen ein höheres Maß an Übung der Taufe und Heiligung zu und fordert: e

»eyn yglicher muß sich selb pruffen, yn welchem standt er am pesten die sund e e moge todten und die natur dempffen. Alßo ist es war, das keyn hoher, besser, e grosser gelubd ist, dan der tauff gelubd, was kan man weyter geloben, dan alle sund vortreyben, sterben, diß leben hassen und heylig werden? Uber das gelubd mag aber sich eyns woll vorpinden yn eynem stand, der yhm fuglich und forderlich sey zu seiner Tauf volnbrengung. [...] Alßo wer sich an eelichen standt bindet, der o wandelt in des selben stands muhen und leyden, darynne er seyne natur beladet, das sie liebs und leyds gewone, sund meyde und sich zum tod deste baß bereyte, 527 528

WA 2,734,25–28. WA 2,735,19–22; 735,37–736,1.5–8.

529 »yn der tauff geloben wir all gleych eyn dingk, die sund zu toe dten und heylig zu werden, durch gottis wircken und gnad« (WA 2,735,34–36).

4.2. Frühe Dekalogauslegung

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daß er nit ßo wol vormocht außer dem selben standt, Wer aber mehr leyden sucht und durch vill ubung will kurtzlich sich zum tod bereyten und seyne tauff werck bald erlangen, der pind sich an die keuscheyt odder geystlichen orden, dann eyn geystlicher stand, wen er recht steht, ßo sol er voll leyden und marter seyn, das er mehr ubung seyner tauff hab, dann der ehliche stand, und durch solche marter sich bald gewene den tod frolich zu empfahenn, und alßo seyner tauff end ubirkome. Ubir dissen stand ist nu noch eyn hoher, der regirende stand ynn geystlichem regiment, alß Bischoff, Pfarrer etc. Die sollen alle stund, gantz woll durch ubet mit leyden und wercken, fertig seyn tzum todt, nit alleyn umb yhr willen, sondernn umb der willen, die yhn untertenig seyn, zu sterben«.530

Diese Verbindung von Luthers rechtfertigungstheologischem Neuverständnis der Taufe mit der mittelalterlichen Zwei-Stufen-Ethik will aber nicht nur die Sonderrolle des geistlichen Stands sichern und die besonderen Anforderungen an diesen Stand herausstellen, sondern auch auch die Meßlatte für die von den übrigen Getauften geforderte und ihnen zugemutete christliche Praxis erhöhen. Solche Konzessionen an die spätmittelalterlichen Gegebenheiten, die sich sachlich kaum mehr mit Luthers theologischen Grundanschauungen vereinbaren lassen, finden sich seit dem Folgejahr 1520 immer seltener. Schon im Taufsermon ist Luthers Verständnis der ethischen Konsequenzen der Taufe so weit entwickelt, daß er zugunsten der einen Taufe und der einen Norm christlichen Lebens auf die Stufung zwischen Klerus und Laien verzichten könnte. Mit der Adelsschrift und ihrer programmatischen Formulierung des Priestertums aller Gläubigen im Sommer 1520531 wird der sich schon seit den frühen Vorlesungen abzeichnende Bruch mit der Zwei-Stufen-Ethik endgültig vollzogen sein. Nicht nur Luthers Taufsermon enthält wichtige Aussagen zum Zusammenhang von Sakrament und Ethik, sondern auch sein ebenfalls im Herbst 1519 entstandener Abendmahlssermon. Der Leitbegriff ist hier die Nächstenliebe, die durch das Gemeinschaftsmahl der Christen mit Christus und miteinander entzündet und gestärkt wird. Die »frucht dißes sacraments [ist] gemeynschafft und lieb, da durch wir gesterckt werden widder tod und alles ubell, Szo das die gemeynschafft zweyerley sey, Eyne, das wir Christi unnd aller heyligen genyessen, Die andere, das wir alle Christen menschen unßer auch lassen geniessen, warynne sie und wir mugen, das alßo die eygen nutzige liebe seyns selbs durch diß sacrament auß gerodtet eyn lasse die gemeyn nutzige liebe aller menschen und alßo durch der liebe vorwandlung eyn brott, eyn tranck, eyn leyp, eyn gemeyn werde, das ist die rechte Christenliche bruderliche eynickeyt«.532 530

WA 2,736,1–22. Im Unterschied zu Luthers späterer Dreiständelehre (s.u. 7.1.) gehört der Christ hier nur zu einem der drei Stände, nicht zu allen dreien gleichzeitig. 531 WA 6,407,9–411,7. 532 WA 2,754,9–16. Die ethische Bedeutsamkeit des Altarsakraments ist ein gängiges

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4. Ethische Konkretionen der Frühtheologie

Das Abendmahl ist das »sacrament der lieb«, in dem dem einzelnen von Christus her Liebe geschieht und aufgrund dessen der einzelne die Not des Nächsten auf sich nehmen und »widderumb lieb und beystand ertzeygen [muß] Christo yn seynen durfftigen«. Konkret heißt das: »Dan hie muß dir leyd seyn alle uneere Christi yn seynem heyligen wort, alle elend der Christenheit, alle unrecht leyden der unschuldigen, des alles zumall ubire schwencklich vill ist an allen ortern der welt: hie mustu weren, thun, bitten, und ßo du nit mehr kanst, hertzlich mit leyden haben«.533

Dementsprechend kritisiert Luther den eigennützigen Gebrauch des Sakraments nur zur eigenen Stärkung, ohne den daraus folgenden Einsatz für die Gemeinschaft zu leisten.534 Das Abendmahl fordert, den Armen zu helfen, die Sünder zu dulden, für die Elenden zu sorgen, mit den Leidenden mitzuleiden, für die anderen zu bitten, der Wahrheit beizustehen, für die Besserung der Kirche und aller Christen mit Leib, Gut und Ehre sorgen. »wo die lieb nit teglich wechst und den menschen alßo wandelt, das er gemeyn wirt yderman, da ist diß sacraments frucht und bedeutung nicht«.535

Das Zeichen des aus vielen Körnern bzw. Trauben zusammengefügten Brots und Weins zeigt, daß im Abendmahl durch die Liebe »Christus mit allen heyligen durch seyne liebe nympt unßer gestalt an, streit mit unß widder die sund, tod und alles ubel, davon wir yn lieb entzundet nemen seyn gestalt, vorlassen unß auff seyn gerechtickeit, leben und selickeit, und seyn alßo durch gemeynschafft seyner guter und unßers unglucks eyn kuche, eyn brott, eyn leyb, eyn tranck, und ist alls gemeyn. [...] Widderumb sollen wir durch die selb lieb unß auch wandeln und unßer lassen sein aller ander Christen geprechen und yhr gestalt und notdurfft an uns nehmen, und yhr lassen seyn alles, was wir guttis vormugen, das sie desselben geniessen mugen, das ist recht gemeynschafft und ware bedeutung dißs sacraments. Alßo werden wir ynn eynander vorwandelt und gemeyn durch die liebe, an wilche keyn wandell nit geschehen mag«.536

Luther nimmt im Anhang des Sermons die Bruderschaften in den Blick,537 denen er eine selbstbezogene, egoistisch verzwecklichte Frömmigkeitspraxis vorwirft. Gerade die Gemeinschaft, die sich um das Altarsakrament sammelt, muß sich ihrer ethischen Verantwortung bewußt sein. Die Bruderschaften sollen darum mit ihrem Geld Freitische für Arme finanzieren oder eine Unterstützungskasse für bedürftige Mitglieder einrichten, und überhaupt fordert Luther die Bruderschaften auf, Thema der spätmittelalterlichen Theologie und Unterweisung (siehe nur die Beschreibung der effectus der Kommunion im Decretum pro Armeniis von 1439 [DS 1322] oder in Gabriel Biels Canonis Misse Expositio [lect. 85: 4,96–118]). 533 WA 2,745,19–746,5; Zitate: 745,25–30. 534 WA 2,747,26–748,5. 535 WA 2,748,3–5. 536 WA 2,748,14–26. 537 WA 2,754,19–758,6.

4.2. Frühe Dekalogauslegung

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»fur die Christenheyt mit Beten, Fasten, Almoßen, guten wercken ettwas besonders [...] thun, nit yhren nutz noch lohn suchen, auch niemant auß schlahen, sondernn wie freye diener der gantzen gemeyn der Christenheit dienen«.538

Angesichts der Liebe Gottes, die im Abendmahl dem Menschen zuteil wird, faßt Luther die Grundforderung in Anlehnung an Röm. 13,10 zusammen: »Summa summarum, Plenitudo legis est dilectio, die lieb erfullet alle gepott«.539 Die christliche Freiheit des Dienens in Liebe relativiert also nicht das Gesetz, sondern ist gerade dessen eigentliche Erfüllung. Luthers Auslegung des vierten bis zehnten Dekaloggebots entfaltet diesen freien Gesetzesgehorsam in Liebe hinsichtlich des Weltverhältnisses des Christen und seiner Beziehung zu den Mitmenschen.540 Wie der Taufsermon zeigt, sind die innerweltlichen Gegebenheiten für den Glaubenden nicht gleichgültig, vielmehr sind gerade sie der Ort christlicher Praxis. Das gilt einmal hinsichtlich der schwachen und noch unvollkommenen Christen, die der äußeren Strukturen bedürfen, wie Luther bereits hinsichtlich der Gültigkeit des Sabbatgebots auch für die Christen ausführt.541 Aber es gilt auch hinsichtlich der solcher äußeren Hilfsmittel nicht mehr bedürftigen vollkommenen Christen, die nach 1.Tim. 1,9 frei vom Gesetz sind. Denn der Glaubende ist nur für seine eigene Person frei vom Gesetz und lebt die Liebe als Erfüllung des Gesetzes; in Verantwortung für andere hat er dagegen das Gesetz zu befolgen und auch selbst für dessen Einhaltung durch andere zu sorgen.542 Luther thematisiert aber diese Spannung von christlicher Freiheit und theologischer Bejahung der innerweltlichen Gegebenheiten, die er an einigen wenigen Stellen benennt, nicht ausführlicher. Vielmehr widmet er sich der zum Teil detaillierten und eng auf die spätmittelalterliche Lebenswelt bezogenen sozialethischen Unterweisung. In deren Mittelpunkt stehen zwei Themen: zum einen die innere und äußere Selbstdisziplinierung im Dienste des Nächsten, zum anderen die Gestaltung der persönlichen Nahbeziehungen in der Familie und im unmittelbaren Lebensumfeld. Die Zusammenfassung der Forderung des vierten Gebots in der Instructio pro confessione peccatorum nennt die wichtigsten Leitlinien, nämlich »Obedientia et humilis subiectio omni humanae creaturae propter Deum, Servare unitatem Ecclesiae, et suo sensui per omnia cedere captivum in obsequium Christi et aedificationem proximorum, id est gratia Christi«.543 538

WA 2,756,38–757,2. WA 2,758,5. 540 WA 1,251,1–23; 252,31–254,2; 539

254,29–255,18; 258,17–259,11; 260,30–262,13; 263,15–264,4; 447,17–516,18. 541 WA 1,436,22–437,10. 542 WA 1,435,11–38; 513,35 f. 543 WA 1,263,16–18. Zum vierten Gebot: WA 1,251,1–4; 252,31–253,2; 254,29–32; 258,17–32; 260,30–261,4; 263,15–18; 447,17–460,38; WA 2,169,30–171,10.

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4. Ethische Konkretionen der Frühtheologie

Gefordert ist zum einen der Gehorsam, d.h. die willige Einordnung in die innerweltlichen Gegebenheiten und die Bejahung der hierarchischen Verhältnisse. Zum anderen geht es um die Übernahme der religiös begründeten innerweltlichen Verantwortung, die Christus entsprechend als Dienst am Nächsten wahrgenommen werden soll. Beides ist nicht nur eine in der Gottesbeziehung begründete religiöse Pflicht, sondern ist die durch die Gnade Christi nach und nach geschaffene Wirklichkeit christlichen Lebens. Der erste Bereich, in dem sich die christliche Existenz als Einordnung in die innerweltlichen Gegebenheiten und Verantwortungsübernahme in ihnen verwirklicht, sind die Beziehungen von Eltern und Kindern. Luther betont zum einen die Pflichten der erwachsenen und minderjährigen Kinder gegenüber den Eltern. Gehorsam und Ehren der Eltern sind dabei umfassend verstanden, meinen sie doch nicht nur die äußere Unterordnung, sondern auch die grundlegende Forderung der »exhibitio cordis et reverentia voluntatis« in Gestalt der über die Nächstenliebe hinausgehenden »prompta obedientia ac voluntas ad omnia, quae volunt parentes« und der »digna aestimatio et opinio parentum«, die ihnen als den Stellvertretern Gottes (vicarii Dei) zukommt.544 Doch noch nachdrücklicher als die Pflichten der Kinder gegenüber den Eltern betont Luther die Pflichten der Eltern gegenüber den Kindern.545 Denn das von ihm anerkannte patriarchalische Grundmuster sozialer Beziehungen sieht in der hierarchischen Über- und Unterordnung nicht nur Pflichten der Unteren gegen die Oberen, sondern gerade auch der Oberen gegen die Unteren begründet. Von besonderer Wichtigkeit ist neben der elterlichen Sorge für das körperlich-seelische Wohlergehen und die äußere Erziehung der Kinder die Heranführung an den christlichen Glauben. Diese religiöse Verantwortung der Eltern geht soweit, daß sie »in propriis filiis possunt mereri vel vitam vel mortem«.546 Die Kinder sind eine gottgegebene Aufgabe, die Vorrang vor allen anderen Frömmigkeitswerken hat. In Luthers kritischer Schilderung der zeitgenössischen Wirklichkeit der Beziehung von Eltern und Kindern wird erkennbar, daß weder die Einsicht in die religiöse Dimension der zwischenmenschlichen Beziehungen noch deren Ausgestaltung im Wechselverhältnis von Gehorsam und Verantwortung selbstverständlich waren. Von den Fragen der Kindererziehung kommt Luther auf die Beziehung der Ehegatten zueinander und die Idealvorstellungen weiblicher und männlicher Lebensführung zu sprechen.547 Zum einen gilt, daß 544

WA WA 546 WA 547 WA 545

1,447,27–449,2; Zitate: 447,27–29. 1,449,3–451,26. 1,451,17 f. 1,453,25–458,24.

4.2. Frühe Dekalogauslegung

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sich die Frau dem Mann als dem ihr von Gott gegebenen Haupt unterzuordnen und sich in ihrer Lebensführung entsprechend den Vorgaben der neutestamentlichen Briefe und den Beispielen der Heiligenlegenden zu verhalten hat. Zum anderen ist der Mann verpflichtet, auf seine Frau Rücksicht zu nehmen, sie wie sich selbst zu lieben und sie als Miterbin der göttlichen Gnade anzuerkennen. Was für Eltern und Kinder sowie für die Ehegatten untereinander gilt, betrifft auch die »Familia« als Haus- und Lebensgemeinschaft von Hausherr und Hausfrau einerseits und Knechten und Mägden sowie Lohnarbeitern andererseits: Gehorsam und Ehrerbietung von Herzen gegenüber den Übergeordneten, Milde und Wohlwollen gegenüber den Untergeordneten, und beides im Wissen um die Verantwortung Gott gegenüber.548 Der ebenfalls in das vierte Gebot eingeschlossene Gehorsam gegenüber den kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten wird von Luther nur erwähnt.549 Das fünfte Gebot550 ist die für die zweite Dekalogtafel grundlegende Unterweisung über die von Gott geforderte Innen- und Außendimension christlichen Handelns gegenüber dem Nächsten. Hinsichtlich der inneren Haltung gilt die Forderung von »Mititas, benignitas, pacientia, pax, benevolentia, misericordia, Et omnino dulcis affectus cordis in omnes homines, etiam inimicos, Quod non habet natura, sed gratia Dei in Christo«.551 Hinsichtlich der äußeren Praxis die Forderung der sich in den »werck der barmhertzigkeit« (opera misericordiae) verwirklichenden Nächsten- und Feindesliebe.552 Wie bei der Auslegung des ersten Gebots betont Luther auch hier die Bedeutung des affectus. Mit Hilfe der ersten Antithese der Bergpredigt (Mt. 5,21–26)553 weitet er das Tötungsverbot auf den Zorn in all seinen Äußerungsformen, insbesondere den inneren Affekt aus. Und diese für alles äußere Handeln grundlegende innere Einstellung liegt nicht in der Macht des Menschen, ja er findet sich immer als der vor, der den Nächsten haßt. Es braucht darum die von Gott gnadenhaft gewirkte innere Erneuerung (gratia dilectionis) und das stete Bemühen um die aus dem dulcis affectus hervorgehende Nächstenliebe, damit man das fünfte Gebot in seinem eigentlichen geistlichen Sinn erfüllt. Eine Beschränkung des Gebots auf das äußere Verhalten und die Annahme, der 548

WA 1,458,25–459,39. WA 1,460,1–12. 550 WA 1,251,5–8; 253,3–11; 255,1–4; 258,23–26; 261,5–17; 263,19–22; 461,1–482,21. 549

Die Auslegung in den Decem praecepta beschäftigt sich nicht nur mit dem fünften Gebot an sich, sondern auch mit den für sein geistliches Verständnis notwendigen gesetzeshermeneutischen Vorüberlegungen (WA 1,461,3–462,38; 465,35–471,29). 551 WA 1,263,20–22. 552 WA 1,253,11; 261,15–17; 479,8. 553 WA 1,462,39–465,34.

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4. Ethische Konkretionen der Frühtheologie

Mensch habe gegenüber dem Nächsten die Möglichkeit der Wahl zwischen Haß und Liebe, weist Luther ab. In freier Anlehnung an die Goldene Regel und die sechste Antithese der Bergpredigt bestimmt Luther das Maß der vom Menschen geforderten inneren Einstellung gegenüber dem Nächsten: Er soll sich ihm gegenüber so verhalten, wie er es von Gott sich selbst gegenüber erwartet und darum »mitis, benignus, suavis, mansuetus, clemens, facilis, tractabilis, bonus, id est deo simillimus« sein.554 Die Entfaltung des vom fünften Gebot geforderten Handelns orientiert sich an den aus der ersten Antithese abgeleiteten vier Stufen des Gebotsgehorsams (opus, verbum, signum, cor) und vertieft einzelne Themen wie die Verbote des Mordes (homicidium), der Verleumdung (detractio) oder des äußeren Zeigens des Zorns (signa irae, signa rancoris) in all ihren Formen. Hinsichtlich der äußeren Praxis in Werken und Worten faßt Luther die »spiritualis intelligentia huius praecepti« so zusammen: »Sicut primum gradum huius praecepti non implet, nisi qui non tantum non occidit aut laedit aut non discordias seminat (quia et omittendo potest committere), sed etiam ita mitis sit, ut potius vivificet ac foveat operibus misericordiae et benivolentiae, et ita pacificus, ut mitibus ac dulcibus verbis etiam conciliare studeat discordes, quantum potest, et mediare, ne fiant discordes [...]: Ita secundum gradum non implet, nisi non tantum non maledicat, detrahat aut vituperet, sed etiam in omnibus benedicat persequentibus et excuset accusatos, oret pro omnibus et resistat detractoribus quantum potest«.555

Eine Auslegung des fünften Gebots in Anlehnung an die Barmherzigkeitswerke (Mt. 25,35f.), auf die die oben zitierten Kurzauslegungen des Dekalogs hinweisen, findet sich nicht. Luther selbst bricht seine Entfaltung des fünften Gebots hinsichtlich der Außendimension von opus, verbum und signum mit dem Hinweis auf die Liebe und die Goldene Regel ab: »Sed longa et multa sunt praecaepta, quae omnia cito videret et faceret charitas: quae si desit, nihil est, quod satis doceri potest. Ipsa enim docet, quomodo homo ipse vult diligi, foveri, sustineri, benefieri, nihil sibi simulari, ita et idem docet proximo exhibere«.556

Angesichts der grundlegenden Bedeutung des Affekts, dessen Ausrichtung außerhalb der menschlichen Möglichkeiten liegt, genügt eine exemplarische Behandlung der Einzelforderungen des fünften Gebots. Zudem wird die Praxis der Nächstenliebe auch in der Auslegung des sechsten, siebten und achten Gebots behandelt, etwa hinsichtlich des verantwortlichen Um554 WA 1,471,31–38; Zitat: 471,33–35. Eine vergleichbare Anspielung auf die Goldene Regel und die sechste Antithese findet sich auch gegen Ende der Auslegung des fünften Gebots: WA 1,480,1–9. 555 WA 1,472,1–482,21; Zitate: 479,5–16. Das vitium detractionis war bereits 1515 Thema einer Predigt (WA 1,44–52). 556 WA 1,481,21–24.

4.2. Frühe Dekalogauslegung

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gangs mit Worten. Denn das Verbot des falschen Zeugnisses fordert eine »veracem, iustam, salutarem, innoxiam et omnino totam fraternis officiis deditam linguam, atque id ex intimo cordis favore. haec est charitas.«557 Das sechste558 und siebte559 Dekaloggebot beschäftigen sich mit zwei weiteren Aspekten der im vierten Gebot verankerten Hausstandsethik: der Sexual- und Wirtschaftsethik. Beide Gebote legt Luther zwar im Sinne einer restriktiven Regelung des Umgangs mit Sexualität und Besitz aus. Sein eigentliches Interesse gilt aber der Innendimension und der positiven Ausweitung der Gebote. Luther sieht im sechsten Gebot zahlreiche Äußerungsformen von Sexualität, und zwar in Vollzug (opus), Sprache (verbum) und Verhalten (signum) verboten. In einer für die mittelalterliche Beichtkatechese typischen Weise stellt er all das Verbotene vom Ehebruch über Vergewaltigung, Inzest und Homosexualität bis zur aufreizenden Kleidung so vor Augen, daß die einzelnen Äußerungsformen unterscheidbar sind, ohne daß aber die Phantasie des Lesers in eine falsche Richtung gelenkt wird. Das sechste Gebot grenzt damit einen Freiraum aus, innerhalb dessen sexuelle Praxis erlaubt und geradezu notwendig ist. Der institutionelle Rahmen des Geschlechtslebens ist die Ehe. Sie ist eine mit der Schöpfung gesetzte göttliche Ordnung und als solche gut. Doch durch die Sünde ist die Ehe beeinträchtigt und gefährdet. Dank göttlicher Gnade e kommt der Ehe als Sakrament das Vorrecht zu, daß »die boße fleischliche lust, der niemant an ist, yn ehlicher pflicht nit vordamlich ist«.560 Die beiden Aufgaben der Ehe sind die Begründung des Treueverhältnisses zwischen den Ehepartnern, innerhalb dessen die Sexualität in beschränktem Ausmaß – aber durchaus auch über die Fortpflanzung hinausgehend – ausgelebt werden kann, und die Zeugung und Erziehung von Kindern als »end und furnhemlich ampt der ehe«.561 Das Gebot zielt aber tiefer, nämlich auf die innere Einstellung (affectus, cor). Mit der zweiten Antithese der Bergpredigt (Mt. 5,27–31) betont Luther die Schlüsselbedeutung der »interna concupiscentia«, die nicht nur durch eine strenge Beschränkung 557 Zum achten Gebot: WA 1,253,28–33; 255,12–15; 261,39–262,7; 263,31–33; 505,33– 514,36; Zitat: 514,25–27. 558 WA 1,251,9–12; 253,12–20; 255,5–8; 258,28–30; 261,18–28; 263,23–27; 482,23–499,6. Ergänzend hinzugezogen wird der 1519 entstandene Sermon Von dem ehelichen Stand (WA 2,162–165.166–171; vgl. den von Luther nicht selbst in den Druck gegebenen Text: WA 9,213.213–219*). 559 WA 1,251,13–17; 253,21–27; 255,9–11; 259,1–4; 261,30–37; 263,28–30; 499,7–505,32. Der 1519 entstandene und inhaltlich der Auslegung des siebten Dekaloggebots in den Decem praecepta entsprechende Sermon Von dem Wucher (WA 6,1 f.3–8) wird im Zusammenhang der reformatorischen Entfaltung der Wirtschaftsethik in den 1520er Jahren (s.u. 8.1.) behandelt. 560 WA 2,168,31–33. 561 WA 2,169,30 f.

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4. Ethische Konkretionen der Frühtheologie

der Sexualität im äußeren Verhalten, sondern durch die äußerliche und innerliche Selbstdisziplinierung in Kreuz und Tod zu bekämpfen ist.562 Gefordert ist umfassende Keuschheit (castitas) und Enthaltsamkeit (continentia) »intus et foris«.563 Konkret bedeutet das eine Begrenzung der Sexualität auf die Ehe und auf bestimmte Verhaltensweisen und Praktiken. Keuschheit meint aber über eine verantwortliche sexuelle Praxis hinaus auch den Verzicht auf Sexualität. Zwar kontrastiert Luther nicht einfach seine Ausführungen zur schöpfungstheologisch begründeten und angesichts der Sündenwirklichkeit durch den Verweis auf den sakramentalen Charakter und die beiden Funktionen als Hilfsmittel gegen die Begierde und Ort der Zeugung und Erziehung von Nachkommen legitimierten Ehe mit dem monastisch-klerikalen Virginitätsideal. Aber er macht doch deutlich, daß die von Christus und den Aposteln geratene Keuschheit »besser« ist als die Ehe.564 Auch die Auslegung des siebten Gebots atmet noch die Strenge der monastischen Armutsforderung, hier gelingt es Luther aber besser als bei der Auslegung des sechsten, das Gebot im Sinne der religiös begründeten Verantwortung gegenüber statt der Distanzierung von der Welt zu deuten. Denn das Verbot zu stehlen fordert die »Paupertas spiritus, largitas seu liberalitas, communicandarum suarum rerum facilitas«.565 Gemeint ist damit nicht die Armut »in effectu«, sondern »in affectu«,566 also nicht die Besitzlosigkeit, sondern eine bestimmte innere Einstellung gegenüber dem Besitz. Luther stellt für den Christen den Besitz nicht als solchen in Frage, sondern sieht in ihm die Ermöglichung der Barmherzigkeitswerke. Der Christ strebt nicht nach Vermehrung seines Besitzes, er begeht keinen Diebstahl oder Raub, er betrügt und wuchert nicht, vielmehr läßt er sich an dem genügen, was er hat, er erduldet es, wenn ihm an seinem Besitz Gewalt geschieht; und er hilft bereitwillig, indem er dem Liebesgebot der Goldenen Regel folgend die Bedürftigen beschenkt oder ohne Erwartung 562

WA 1,498,21–29. WA 1,498,30–36. 564 WA 2,168,6–9. In der von Luther nicht autorisierten Erstausgabe des Sermons von 563

dem ehelichen Stand – einer in ihren Grundaussagen verläßlichen Predigtnachschrift – äußert sich Luther noch stärker im Sinne des traditionellen eheskeptischen und asketischen Virginitätsideals (zum Verhältnis der beiden Fassungen: Th. Kaufmann: Ehetheologie im Kontext der frühen Wittenberger Reformation, in: A. Holzem, I. Weber [Hgg.]: Ehe – Familie – Verwandtschaft. Vergesellschaftung in Religion und sozialer Lebenswelt, 2008, 285–299, hier: 288–290). Die das Virginitätsideal vorerst nicht infragestellende »Tendenz zur Affirmation der weltlichen Lebensform der Ehe« (aaO 290) setzt bereits in der Zeit vor 1519 ein (WA 1,137,30–138,9; zu den Deutungsmöglichkeiten für diesen in manchem nicht ganz klaren Text: WA 9,767). 565 WA 1,263,29 f. 566 WA 1,503,3 f.

4.2. Frühe Dekalogauslegung

283

von Zinszahlung Geld leiht. Wie bei den anderen Geboten zeigt auch hier eine Fülle von Beispielen und Einzelproblemen, daß Luther sowohl die katechetische Tradition kennt als auch die Lebenswelt seiner Zeit kritisch in den Blick nimmt. So sind die Ablehnung von betrügerischen Handelspraktiken (fraus), Wucher (usura) oder Zinskauf auf Wiederkauf (contractus reemtionis) auch in seinen späteren wirtschaftsethischen Stellungnahmen wiederkehrende Themen.567 Die ethischen Konkretionen von Luthers Frühtheologie stehen im Zusammenhang mit dem Bußsakrament. In zahlreichen Predigten und Schriften macht Luther deutlich, was innere, evangeliumsgemäße Buße heißt und in welchen Lebensvollzug sie eingebunden ist. Dabei greift Luther selbstverständlich auf die reiche mittelalterliche Tradition zurück, die er aber den rechtfertigungstheologischen Voraussetzungen seiner frühen Vorlesungen und Disputationen anpaßt. Daraus ergibt sich die den mittelalterlichen Rahmen sprengende Verbindung von Bußfrömmigkeit und Vollkommenheitsstreben einerseits und der Betonung von Gnade und Glaube andererseits. Vorerst aber ist sich Luther der inneren Spannungen seiner ethischen Konkretionen nicht bewußt, sondern begnügt sich mit einigen kritischen Spitzen am Rande. Sein Interesse gilt vielmehr der praxisorientierten Vermittlung seiner Vorstellungen vom christlichen Leben. Dazu bedient er sich des geistlich verstandenen Dekalogs als der Leitlinie des rechtfertigungstheologisch eingerahmten christlichen Vollkommenheitsstrebens, das sich in der Gottesbeziehung als existentielles Vertrauen auf Gott und Ergebung in das göttliche Gerichts- und Heilshandeln und in der Weltbeziehung als von der Liebe motivierte und getragene gehorsame Einordnung in die gegebenen Verhältnisse und als innerweltliche Übernahme von Verantwortung im Dienst des Nächsten realisiert. Entscheidend ist dabei die Innendimension des Handelns, für die der Elementarsatz der Jesusverkündigung (Mt. 4,17: poenitentiam agite) und die Bergpredigt (Mt. 5–7) verbindlich sind. Unter den vielerlei Momenten, die der reformatorischen Ethik entsprechen oder doch wenigstens deutlich auf sie vorausverweisen, ist vor allem das für Luthers reformatorische Theologie grundlegende Ineinander der Radikalität des neutestamentlichen Ethos und der konkreten Praxis dieses Ethos in den innerweltlichen Gegebenheiten hervorzuheben. Dekalog und Bergpredigt werden von Luther verbunden zur Wegweisung christlichen Lebens in der spätmittelalterlichen Wittenberger Stadtgesellschaft. 567 Luthers Auslegung des achten Gebots bietet nichts in diesem Zusammenhang Bemerkenswertes. Die Auslegung des neunten und zehnten Gebots wurde bereits oben (S. 262f.) berücksichtigt.

284

4. Ethische Konkretionen der Frühtheologie

Daß Luther nicht im Geringsten daran dachte, im Interesse der leichteren Faßbarkeit und Bejahbarkeit seiner bußtheologischen und ethischen Unterweisung den theologischen Anspruch seiner frühen Vorlesungen und Disputationen zu ermäßigen, wird auch in den erhaltenen Exordien der Dekalogpredigten deutlich. Besonders interessant ist dabei das Exordium zum Abschluß der Predigtreihe am 24. Februar 1517 (?),568 in dem Luther zwei wichtige Grundgedanken seiner Frühtheologie der Wittenberger Gemeinde gegenüber einschärft: die Kritik an der Eigengerechtigkeit und die Christusbeziehung. In seiner Auslegung von Mt. 11,25–30 beschreibt Luther die vermeintlich Weisen und Verständigen, die der pia intentio, dem dictamen rectae rationis und der prudentia naturae folgend um das Gute wissen, keiner göttlichen Gnade und Anleitung zu bedürfen meinen und für ihre Sünden selbst Genugtuung leisten wollen.569 Dieses nunmehr von allen Kanzeln gepredigte Vertrauen auf die dem Menschen gegebene praktische Vernunft ist für Luther wertlos und irreführend, weil es nicht wirklich um Gottes Gericht über den Menschen und das allein in Christus liegende Heil weiß und den Menschen nicht in die Demut führt. Wahrhaft weise ist dagegen, wer sich als »stultus coram Deo«570 weiß, und Weisheit, Gerechtigkeit, Wahrheit und Tugendkraft nicht in sich selbst, »sed in Christo, extra nos in Deo« findet.571 Christus selbst wurde von Gott zur Gerechtigkeit, Tugendkraft und Weisheit gemacht, auf daß dieses alles durch Christus dem Menschen zuteil, d.h. daß der Mensch durch die ihm zugerechnete Gerechtigkeit Christi gerechtfertigt wird.572 Auf den Einwand, die einseitige Hervorhebung der dem Glaubenden von außen zukommenden Christusgerechtigkeit führe zum ethischen Quietismus, entgegnet Luther, daß vielmehr gilt, »quod non sint otiosi, in quibus sapientia Christi revelata est, et qui non iam ipse sed Christus in eo vivit, non est metuendum, ne Christus sit otiosus, Imo actuosissimus est, et id ipsum cum omni suavitate et facilitate, ubi illi sua sapientia et iustitia laborant, sudant, onerantur mira miseria et frustra«.573

Aus der Unruhe der »officia et opera iustitiariorum«574 ruft Christus zur requies animarum, die nicht darin besteht, dies oder das zu tun, sondern zu Christus zu kommen, das Kreuz auf sich zu nehmen und ihm nachzufolgen – das heißt: auf die Werkgerechtigkeit vor Gott zu verzichten, die 568

Sermo Die S. Matthiae A. 1517.: WA 1,138–141. WA 1,138,20–139,23; 140,22–26; 141,12–15. 570 WA 1,139,8. 571 WA 1,139,35. Luther denkt wohl an 1.Kor. 1,30 als biblische Belegstelle, zitiert aber nicht wörtlich. 572 WA 1,140,7–13. 573 WA 1,140,19–23 (Z. 19 ist »Christi« statt »Christus« zu konjizieren). 574 WA 1,141,5. 569

4.2. Frühe Dekalogauslegung

285

eigene Sünde zu hassen und so zur Demut zu gelangen.575 Das ganze christliche Leben ist ein Leben der Buße in engster Beziehung zu Christus – zu Christus, der für den Glaubenden das Heil und der in dem Glaubenden wirkmächtig ist.

575

WA 1,141,7–21.30–37.

Dritter Teil

Luthers programmatische Darstellung des christlichen Lebens 1519/20 Nicht erst für die Lutherforschung des 19. und 20. Jahrhunderts, schon für Luther selbst waren die erste und vierte der vier reformatorischen Hauptschriften des Jahres 1520 – der Sermon Von den guten Werken 1 und die Freiheitsschrift2 – programmatische Zusammenfassungen seiner reforma1

Nachdem Luther im Winter 1519/20 Spalatin eine kleine Schrift über die guten Werke versprochen hatte, entstand von März bis Mai 1520 der Sermon Von den guten Werken, der im Juni gedruckt vorlag (WAB 2,48,8–10; 55,11–56,12; 75,8–10; 101,20 f.; 103,10 f.; MBW.T 1,197,108 f.; 214,19–21). Zugrundegelegt wird die Druckfassung (WA 6,196–201.202–276), die Heranziehung der vom Textbestand davon im wesentlichen nicht abweichenden, aber in ihrer äußeren Gestaltung schwerer zugänglichen Handschrift Luthers (WA 9,226–229.229–301) ist nicht notwendig. 2 Die Freiheitsschrift verdankt sich dem sich abzeichnenden Scheitern der Vermittlungsmission des päpstlichen Kammerjunkers Karl von Miltitz, der seit dem Herbst 1518 um eine Verständigung zwischen Kurie und kursächsischem Hof in der causa Lutheri bemüht war. Am 28.8.1520 sprach Miltitz mit Staupitz und Linck auf dem Kapitel der Reformkongregation der Augustinereremiten in Eisleben ab, daß diese mäßigend auf Luther einwirken und ihn zur Abfassung eines Briefs an den Papst veranlassen sollten, in dem er herausstellen sollte, nichts gegen die Person des Papsts zu haben; das Gespräch zwischen Staupitz, Linck und Luther fand dann Anfang September in Wittenberg statt (WAB 2,171,3–14 [Nr. 331]; 180,5–12 [Nr. 335]; 184,5–15 [Nr. 337]). Nach der Veröffentlichung der Bannandrohungsbulle, von der Luther spätestens am 1.10. wußte (WAB 2,187,28–188,31 [Nr. 338]; 189,18–22 [Nr. 339]) und die am 10.10. in Wittenberg bekanntgemacht wurde (WAB 2,195,6 [Nr. 341]), war er zu einer Verständigung mit dem Papst nicht mehr bereit (WAB 2,191,9–12 [Nr. 340]; vgl. die Gegenschriften Von den neuen Eckischen Bullen und Lügen, Adversus exsecrabilem Antichristi bullam und Wider die Bulle des Endchrists). Er traf sich aber auf Drängen des Kurfürsten am 12.10. mit Miltitz im Antoniterhaus Lichtenburg bei Prettin und sagte einen auf den 6.9. vordatierten Brief an den Papst und eine Schrift zu, in denen er klarstellen wollte, daß er den Papst nicht persönlich angegriffen habe und daß die Schuld für die Zuspitzung des Konflikts bei Luthers Gegnern, insbesondere bei Eck, liege (WAB 2,195,27 f. [Nr. 341]; 197,5–9 [Nr. 342]). Luther sagte Miltitz zu, er werde in Zukunft schweigen, falls seine Gegner ebenfalls schwiegen (WAB 2,197,11 [Nr. 342]). Die deutsche Fassung des Sendbriefs lag Mitte November als Separatdruck vor, die deutsche und lateinische Fassung des Sendbriefs und der Freiheitsschrift lagen um den 20.11. gedruckt vor (WAB 2,221,21 f. [Nr. 355]; MBW 1,233,15–17 [Nr. 109]). Aufgrund eines lateinischen Konzepts arbeitete Luther wohl zuerst die lateinische Fassung von Sendbrief und Freiheitsschrift aus (WA 7,39–42.42–73), übersetzte dann den Sendbrief ins Deutsche und erstellte anschließend die um einige Teile gekürzte und insgesamt etwas knappere frühneuhochdeutsche Fassung (WA 7,1–3.3–11). – Die Forschungsliteratur zur Freiheitsschrift ist

288

3. Teil: 1519/20

torischen Theologie: »Denn wer mein Buch von guten Werken und christlicher Freiheit lieset und nichts draus geschickt wird zu rechtem Verstand des Glaubens und guter Werk, da trete ich abe [...], denn solchem Menschen wird man nimmermehr gnugtun«.3 Ja, von der Freiheitsschrift konnte Luther in seinem Sendbrief an Papst Leo X. sogar sagen, sie sei »eyn e klein buchle, ßo das papyr wirt angesehen, aber doch die gantz summa eyniß Christlichen leben drynnen begriffen, ßo der synn vorstanden wirt«.4 Will man die Grundgedanken von Luthers Verständnis des christlichen Lebens und damit auch die Grundgedanken seiner reformatorischen Ethik entfalten, kommt man nicht um diese beiden reformatorischen Hauptschriften herum. Allerdings erschließt sich der Reichtum und die Tiefe dieser beiden bewußt knapp gehaltenen und für einen breiteren Rezipientenkreis konzipierten Schriften erst, wenn man sie im Zusammenhang der exegetischen Arbeit des Jahres 1519/20 liest. Darum wird im Folgenden die summa vitae christianae in enger Anlehnung an Luthers eigene Entfaltung anhand der beiden reformatorischen Hauptschriften und unter Heranziehung des Galaterbriefkommentars von 15195 und der zweiten Psalmenvorlesung von 1519 bis 15216 dargestellt. Die notwendige zwar umfangreich (siehe nur die Luthers Freiheitsverständnis gewidmeten neueren Aufsatzsammlungen: LuJ 62, 1995; NZSTh 40, 1998, Heft 2), aber nicht immer hilfreich. Das gilt auch für die beiden neueren der Freiheitsschrift gewidmeten Monographien von E. Jüngel (Zur Freiheit eines Christenmenschen. Eine Erinnerung an Luthers Schrift, 1978) und R. Rieger (Von der Freiheit eines Christenmenschen / De libertate christiana, 2007). Wichtig dagegen sind die Forschungsbeiträge von Birgit Stolt (Studien zu Luthers Freiheitstraktat, 1969), K. Bornkamm (Christus – König und Priester. Das Amt Christi bei Luther im Verhältnis zur Vor- und Nachgeschichte, 1998, 135–214) und M. Ohst (Reformatorisches Freiheitsverständnis. Mittelalterliche Wurzel, Hauptinhalte, Probleme, in: Freiheit und Menschenwürde. Studien zum Beitrag des Protestantismus, 2005, 13–48; allerdings verdankt sich Ohsts These einer inneren Unausgeglichenheit zwischen transzendentalethischer Begründung und am Gesetz orientierter Entfaltung der reformatorischen Ethik mitsamt ihrer Rückführung auf die Luther noch 1520 bestimmende monastische Prägung weniger den Quellen als vielmehr der modernen systematisch-theologischen Problematisierung Luthers). 3 WAB 2,600,12–15 (Nr. 538; 21.9.1522). 4 WA 7,11,9 f. Die zugrundeliegende lateinische Formulierung lautet: »parva res [...], si corpus spectes, sed summa [...] vitae christianae compendio congesta, si sententiam captes« (WA 7,48,35–49,1). »Leben« meint hier den Lebensvollzug in Gestalt der opera vitae (zu diesem mit dem neutestamentlichen »ζωηÁ « parallelisierten Lebensbegriff: AWA 2,405,11–16). 5 WA 2,436–443.443–618. Dieser Kommentar verdiente eine breitere Berücksichtigung, als es im folgenden möglich ist. Da er dem Sermon Von den guten Werken und der Freiheitsschrift im Grundsätzlichen entspricht und eine ausführliche und gute Interpretation vorliegt (K. Bornkamm: Luthers Auslegungen des Galaterbriefs von 1519 und 1531. Ein Vergleich, 1963), beschränkt sich das Folgende auf punktuelle Vertiefungen und Querverweise. 6 WA 5,1–18.19–676; AWA 2. – Literatur: G. Hammer: Historisch-theologische Einleitung (AWA 1); H. Blaumeiser: Martin Luthers Kreuzestheologie, 1995. Blaumeisers

3. Teil: 1519/20

289

Systematisierung des Quellenmaterials wird dadurch erreicht, daß der Sermon Von den guten Werken und die Freiheitsschrift nicht einfach hintereinander behandelt, sondern in die beide übergreifende Gesamtkonzeption von Luthers reformatorischer Ethik eingeordnet werden. Der Übersichtlichkeit wegen ist die folgende Entfaltung dieser in sich einheitlichen Konzeption gleichwohl in zwei Kapitel mit je zwei Unterkapiteln gegliedert, die bestimmten Leittexten folgen und inhaltlich aufs engste miteinander zusammenhängen, also jeweils nicht für sich allein stehen. Zu Beginn (5.1.) wird die grundlegende Bedeutung des Glaubens für das christliche Leben anhand der Auslegung des ersten Dekaloggebots im Sermon Von den guten Werken und des ihr zugrundeliegenden Exkurses De fide et operibus in den Operationes in Psalmos behandelt; dann folgen die Darstellung der theologischen Voraussetzungen für diese Bestimmung des Glaubens anhand des ersten Hauptteils der Freiheitsschrift (5.2.), die Darstellung der Grundstrukturen des christlichen Lebens anhand des zweiten Hauptteils der Freiheitsschrift (6.1.) und schließlich die Entfaltung der ethischen Konkretionen anhand der Auslegung des zweiten bis zehnten Dekaloggebots im Sermon Von den guten Werken (6.2.). Was hier im dritten Teil entfaltet wird, ließe sich auch anhand anderer Schriften Luthers darstellen. Zum einen ist hier auf die Quellen der 1520er Jahre zu verweisen, die unten im vierten Teil behandelt werden, allerdings vorrangig hinsichtlich der darin enthaltenen Weiterentwicklungen und Konkretionen der ethischen Grundideen Luthers. Zum anderen ist auf die Quellen der 1530er und 1540er Jahre zu verweisen. Die Grundzüge des reformatorischen Ethos werden in sachlich weitgehend den Schriften von 1519/20 entsprechender Weise auch in den Vorlesungen und Disputationen dieser späten Jahre behandelt. Zu nennen sind hier vor allem an die zweite Galaterbrief- und die Genesisvorlesung, die Antinomerdisputationen, Von den Konziliis und Kirchen sowie die Thesenreihen zur Anthropologie und Rechtfertigungslehre. Da sich hier – abgesehen von der stärkeren Systematisierung und einigen Umakzentuierungen und Vertiefungen materialreiche Studie zu den Operationes in Psalmos zeigt, daß Luthers Kreuzestheologie – die als Inbegriff der reformatorischen Theologie Luthers verstanden wird – eine Neukonstitution des im Glauben mit Christus verbundenen Menschen lehrt, die aufs engste mit den dadurch ermöglichten und folgenden guten Werken verbunden ist (hierzu v.a. 214–313.375–382). Der Vorwurf der synergistischen Verzeichnung von Luthers Psalmenauslegung gegen Blaumeiser, wie ihn F. Schneider (Christus praedicatus et creditus. Die reformatorische Christologie Luthers in den Operationes in Psalmos, 2004, 16–18) erhebt, hat ein gewisses Recht, was Blaumeisers Tendenz einer – im übrigen zurückhaltenden – Indienstnahme Luthers für das ökumenische Gespräch angeht. Allerdings gilt, daß Blaumeiser die ethische Dimension von Luthers reformatorischer Rechtfertigungslehre ganz zurecht ausführlich würdigt.

290

5. Rechtfertigung als Grundlage des christlichen Lebens

– nichts grundlegend Neues findet und einschlägige Forschungsarbeiten vorliegen,7 wurde auf ihre Heranziehung verzichtet und die Darstellung ganz auf Luthers erste programmatische Darstellung seiner Auffassung vom christlichen Leben 1519/20 konzentriert.

5. Die Rechtfertigung als Grundlage des christlichen Lebens 5.1. Der Glaube als das opus unicum Als Luther im Frühjahr 1520 in seiner zweiten Vorlesung über den Psalter zu Ps. 13/14 gekommen war, fügte er in die Auslegung von V. 1 einen Exkurs »de fide et operibus«8 ein. Angesichts des Psalmverses, der von der Leugnung Gottes und dem daraus hervorgehenden bösen Handeln des Gottlosen spricht, sah Luther sich veranlaßt, den Zusammenhang von »ignorantia Dei« und »studia [...] prava et abominabilia«9 zu erläutern und diesem den Zusammenhang von Glaube und guten Werken gegenüberzustellen.10 Ps. 13/14,1 handelt von der Übertretung des ersten Dekaloggebots, das nicht einfach eines unter den zehn Geboten ist, sondern das »[praeceptum] summum, maximum et primum«, das nichts anderes fordert als »credere, sperare, diligere, timere deum et ea quae dei sunt«.11 Luther meint damit das »opus dei« des Glaubens als des einen und einzigen Werks, das Jesus in Joh. 6,28f. fordert.12 Glaube ist also nicht als 7

Zum Galaterbriefkommentar: K. Bornkamm: Luthers Auslegungen des Galaterbriefs von 1519 und 1531, 1963. Zu den Disputationen: G. Ebeling: Lutherstudien, Bd. 2: Disputatio de homine, drei Teile, 1977–1989; Ch. Schulken: Lex efficax, 2005. Zur Genesisvorlesung: U. Asendorf: Luthers Genesisvorlesung als Paradigma christlicher Weltverantwortung (in: J. Heubach [Hg.]: Christentum und Weltverantwortung, 1992, 71–94); D. Whitford: Cura religionis or Two Kingdoms: The Late Luther on Religion and the State in the Lectures on Genesis (ChH 73, 2004, 41–62); Ch. Voigt-Goy: Die gesellschaftlichen Stände, die Schöpfung und der Fall. Zur Ständelehre in Luthers Genesisvorlesung (1535) (in: Th. Wagner u.a. [Hgg.]: Kontexte, 2008, 65–80); J. Maxfield: Luther’s Lectures on Genesis and the Formation of Evangelical Identity, 2008 (73–140); R. Kolb: Models of the Christian Life in Luther’s Genesis Sermons and Lectures (LuJ 76, 2009, 193–220). 8 WA 5,394,17. 9 WA 5,392,26–394,2. 10 WA 5,394,17–408,13. Die Abfassung dieses Exkurses wie auch der damit eng verwandten Auslegung des ersten Gebots im Sermon Von den guten Werken (WA 6,204,13– 216,39) ist in den Zeitraum von Ende Februar bis Anfang April zu datieren (W. Maurer: Schöpfungswerk und Erlösungswerk in besonderer Beziehung zur Auslegung des Magnifikat, in: Ders.: Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1949, 81–166, 166; AWA 1,222). 11 WA 5,394,20 f.24. 12 WA 5,394,29–31. Eine andere Belegstelle für den Glauben als das opus Dei ist Eph.

5.1. Der Glaube als opus unicum

291

menschliche Haltung und Leistung verstanden, sondern als ein Handeln Gottes am Menschen, das das ganze Sein und Handeln des nunmehr glaubenden Menschen prägt, als ein den Menschen umfassend bestimmendes existentielles Widerfahrnis. Dieser von Gott gewirkte und vom Menschen gelebte Glaube ist der wahre »cultus dei« und wahrhaftig die »latria«, die im ersten Dekaloggebot gefordert ist.13 Indem Luther den Glauben zugleich als opus Dei und cultus Dei bestimmt, macht er deutlich, daß die menschliche Passivität nicht als Unbeteiligtsein verstanden werden darf. Der Glaube ist für den Glaubenden erfahrbare und zu gestaltende Wirklichkeit. Das zeigt sich nicht nur in der traditionellen Reihung von Glaube, Liebe, Hoffnung und Furcht, sondern auch in seiner Näherbestimmung als »zuvorsicht« und Vertrauen14 und in der dem Glauben zugrundeliegenden Aktivität des Hörens.15 Glaube heißt, sich angesichts der Sündenwirklichkeit und der Konfrontation mit dem göttlichen Gericht an das Evangeliumswort von Jesus Christus zu halten. Der Glaube als die »vivax [...] et indubitata opinio, qua homo certus est, super omnem certitudinem sese placere deo, se habere propitium et ignoscentem deum in omnibus, quae fecerit et gesserit«,16 entsteht aus dem Hören des »Evangelium[s] von Christo«,17 das heißt, er fließt und quillt »ausz dem blut, wunden unnd sterben Christi [...], In wilchem szo du sichst, das dir got szo hold ist, das er auch seinen sun fur dich gibt, musz dein hertz susz und got widderumb hold werden, und also die zuvorsicht ausz lauter gunst und liebe herwachszen, gottis gegen dir und deiner gegen got«.18

Und diese Heilsgewißheit macht das Herz des Glaubenden fröhlich und bereitwillig, alles Gute zu tun und alles Übel zu ertragen. Mit ihr beginnen die »bona vita« und das »bonum opus«.19 Luther grenzt dieses Verständnis des Glaubens und des ersten Dekaloggebots gegen das bislang gängige ab, das die Gebotserfüllung primär auf äußere Akte bezog und diese äußeren 2,8–10, die Luther mit Blick auf den Sakramentsglauben in De captivitate so auslegt: »A fide sacramentorum tibi incipiendum est sine ullis operibus, si salvus fieri voles, fidem autem ipsa sequentur opera, tantum ne vilem habeas fidem, quae opus est omnium operum excellentissimum et arduissimum, quo solo, etiam si caeteris omnibus carere cogereris, servaberis. Est enim opus dei, non hominis, sicut Paulus docet. Caetera nobiscum et per nos operatur, hoc unicum in nobis et sine nobis operatur« (WA 6,530,12– 18). 13 WA 5,394,33 f. 14 »Zuversicht« und »Vertrauen« sind auch die beiden wichtigsten, immer wieder variierten Näherbestimmungen des Glaubensbegriffs in der Auslegung des ersten Gebots in Von den guten Werken. 15 WA 5,394,32 f. 16 WA 5,395,13–15. 17 WA 6,216,36. 18 WA 6,216,30–34. 19 WA 5,459,26–39.

292

5. Rechtfertigung als Grundlage des christlichen Lebens

Akte als actus imperati in den vom Menschen zu bewirkenden inneren actus eliciti und den diesen wiederum zugrundeliegenden habitus begründet sah.20 Das erste Dekaloggebot verlangt nicht eine menschliche Haltung – nämlich die neben anderen Tugenden stehende und vor allem der Liebe nachgeordnete virtus theologica des Glaubens als der den Menschen und sein Handeln kognitiv auf Gott ausrichtende fides generalis –, nicht ein aus dieser Haltung hervorgehendes inneres Handeln des Menschen im Wechselspiel von voluntas und ratio und nicht ein von diesem innerem Handeln ausgelöstes Handeln im Äußeren durch religiöse Verrichtungen. Dieses Mißverständnis des Glaubens als einer tugendhaften Disposition und Betätigung des Menschen ist nicht nur soteriologisch problematisch – es handelt sich darum, »quadam spirituali simonia velle donum dei emere«21 –, sondern verhindert auch die Erkenntnis der ethischen Dimension des im Sinne der reformatorischen Rechtfertigungslehre verstandenen Glaubens. Der Glaube und seine Betätigung sind nicht mit den übrigen Tugenden vergleichbar, sondern es ist nötig, den Glauben »super omnia elevare et tanquam incessabilem quandam et generalem influentiam super omnia opera existimare, qua movente et agente omnia moveantur, agant, vigeant, placeant, quae sunt in homine«.22

Die immer neue Einschärfung dieser grundlegenden und entscheidenden Funktion des Glaubens variiert drei Momente: Erstens ist der Glaube für Luther das eine einzige gute Werk, das als Gotteswerk am Menschen diesen innerlich erneuert und zum neuen Handeln führt; zweitens gilt für das Leben aus dem Glauben, daß nur die durch den Glauben qualifizierten Werke gute Werke sind; drittens gilt, daß überhaupt alle Werke aus Glauben gute Werke sind. Weil der Glaube allein das »opus operum omnium«23 und »autor et origo operum, immo primus et novissimus in omnibus operibus bonis et tota vita«24 ist, ist alles, was nicht aus Glaube geschieht, 20

WA 5,394,20–395,3; 396,13–399,6. WA 5,397,10 f. 22 WA 5,396,25–28. Vgl. den ebenfalls im Frühjahr 1520 geschriebenen Brief an Spalatin über Joh. 15,5 (WAB 2,80–82 [Nr. 277], 13.4.1520), in dem Luther sich mit der 21

herkömmlichen Bestimmung des Verhältnisses von influentia generalis und specialis beschäftigt: »vt sit influentia generalis esse & operari nature¸, Spetialis Esse & operari gratie¸« (WAB 2,81,13 f.). Die influentia generalis meint hier das inchoative facere und die influentia specialis das perfective facere, so daß der Heilserwerb aus der Vorbereitung aus eigenen Kräften und der gnadenhaften Vollendung besteht. Luther kritisiert diese Unterscheidung hinsichlich ihrer falschen theologischen Anwendung. Er hält aber den Begriff der influentia generalis an sich für brauchbar, wenn man ihm die Christusbeziehung vorordnet, die allein einen rechten Gebrauch des influxus generalis und der res influxa ermöglicht. 23 WA 5,396,32. 24 WA 5,460,10–12.

5.2. Der neue Mensch

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Sünde – wie Luther mit Verweis auf Röm. 14,23 darlegt.25 Alles aber, was im Glauben geschieht, ist ein gutes Werk. Für diesen Schlüsselgedanken seiner Ethik verweist er etwa auf 1.Sam. 10,6 f.: »In dieszem glauben werden alle werck gleich, und ist einsz wie das ander, fellet ab aller unterscheidt der werck, sie sein grosz, klein, kurtz, lang, viel odder wenig. Dan nit die werck von yrer wegen, sundern vonn des glaubens wegen angenehm seind, welcher einig und on unterscheid in allen und iglichen wercken ist, wirckt und lebet, wievil und unterschidlich sie ymmer sein [...]. Drausz dann weiter folget, das einn Christen mensch, in diessem glauben lebend, nit darff eines lerers guter werck, sondern was ym furkumpt, das thut er, und ist alles wolgethan, wie S. Samuel sprach zu Saul ›du wirst ein ander mensch werden, wen der geist in dich kumpt, dan szo thu was dir vurkumpt, got ist bey dir‹«.26

Diese dreifache Bestimmtheit der ethischen Dimension des reformatorischen Glaubensbegriffs ist der Kern von Luthers reformatorischer Ethik. Sie ist in ihrer Bedeutsamkeit kaum zu überschätzen. Im Frühjahr 1520 formulierte Luther erstmals programmatisch, was sich in der theologischen Arbeit der vorangehenden Jahre entwickelt hatte, und zog sogleich die Konsequenzen. Wenn das Gotteshandeln in Christus – das opus Dei –, das durch das Evangeliumswort dem Glauben zugesprochen wird und die Rechtfertigung und innere Erneuerung des Menschen in der existentiellen Christusgemeinschaft ist, dann ist das christliche Leben aufs engste auf dieses soteriologische Kerngeschehen bezogen. Durch diese Bindung an das opus Dei ist der Christ aber zugleich in ethischer Hinsicht von allen heteronomen Bestimmtheiten freigemacht zu tun, was ihm vor die Hände kommt – »fac quaecunque invenerit manus tua, quia dominus tecum est«.27 5.2. Der neue Mensch Diese steilen Aussagen über den Glauben aus dem Frühjahr 1520 provozieren geradezu die Fragen, wie Luther dazu kommt, dem Glauben eine solch umfassende Bedeutung zuzumessen, und was Glaube für ihn überhaupt ist. Nimmt man sich andere Texte aus dem Zeitraum 1519/20 vor, so finden sich Antworten auf diese beiden Fragen. Die beste und eindrücklichste Zusammenfassung bietet der erste Hauptteil der Freiheitsschrift aus dem Herbst 1520.28 Die Freiheitsschrift ist ja eigentlich eine Schrift über 25 WA 5,393,33 f. Röm. 14,23 fungiert bei Luther als die Joh. 6,28 f. korrespondierende negative biblische Belegstelle für den grundlegenden Zusammenhang von Gottesbeziehung und gutem Werk. 26 WA 6,206,33–207,7. Vgl. die Verwendung von 1. Sam. 10,6 als Belegstelle in WA 2,479,1–10 und WA 5,396,28–31. 27 WA 5,396,30 f. (Zitat von 1. Sam. 10,7). 28 WA 7,50,13–59,23. Im folgenden wird die ausführlichere und theologisch präzisere lateinische Fassung der Freiheitsschrift zugrundegelegt.

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5. Rechtfertigung als Grundlage des christlichen Lebens

den Glauben und das Leben aus dem Glauben, wie die Einleitung zur lateinischen Fassung29 zeigt, die das Freiheitsthema als Entfaltung des sachlich übergreifenden Glaubensthemas präsentiert. Gleich im ersten Satz grenzt sich Luther gegen die herkömmliche Einordnung des Glaubens unter die Tugenden und sein verengtes Verständnis ab. Der Glaube ist eine existentielle Größe, die mit Erfahrung und Anfechtung zu tun hat. Was Luther mit dieser Kritik an der Tugendlehre meint, ist in den Operationes in Psalmos im Exkurs De spe et passionibus zu Ps. 5,12 näher ausgeführt, hier allerdings wegen des Psalmtexts vor allem hinsichlich der Hoffnung (spes).30 Luthers in der Einleitung zur lateinischen Fassung der Freiheitsschrift angedeutete und im Exkurs zu Ps. 5,12 näher ausgeführte Kritik richtet sich nicht so sehr darauf, daß Glaube, Hoffnung und Liebe als – von Gott eingegossene – habituelle Gegebenheiten verstanden werden, aus denen bestimmte Akte hervorgehen, sondern auf die Behauptungen, daß die göttliche infusio virtutum auf menschlichen Vorleistungen beruht und dank der dem Menschen eignenden, nunmehr tugendhaft überformten potentiae von Vernunft und Willensfreiheit gute Werke hervorbringt. Eine solche Depotenzierung und Funktionalisierung des göttlichen Handelns im Interesse der »vita activa« des Menschen verweigert sich der Erkenntnis und Anerkenntnis der göttlichen Alleinwirksamkeit. Darum bricht Gott diese tugendethische Selbstüberhöhung des Menschen durch das opus Dei und zwingt den Menschen in die »vita passiva, quae mortificet et destruat totam vitam activam, ut nihil remaneat meritorium, in quo superbus glorietur«.31 Zum einen heißt das, daß die Eingießung der Tugenden das Erleiden der operatio divina, das Gewährenlassen Gottes als des alleinigen Wirkers der Erneuerung des Menschen und der sich aus dieser ergebenden guten Werke sowie die Zuschreibung dieser Werke an Gott fordert.32 Zum anderen meint die vita passiva das dieses Gewährenlassen Gottes vorbereitende und begleitende Betroffensein durch Leiden und Anfechtungen, das sich als Gleichförmigwerden mit Christus vollzieht: 29

WA 7,49,7–21. AWA 2,283 f.284,1–321,5. 31 AWA 2,302,15 f. 30

32 »operante deo in nobis et nos operari recte dicimur, quamquam hoc operari magis sit rapi, duci et pati operatorem deum« (AWA 2,260,7–9). »Adeo istae tres virtutes sunt divinae tantummodo divinum obiectum, subiectum, operatorem, opus, artem, modum obtinentes« (AWA 2,293,8–10). »tunc opera fieri bona, quando ipse [deus] solus totus ac totaliter ea facit in nobis, ut operis nulla pars ad nos pertineat. Quare hic tibi sit canon: Ubi scriptura praecipit bonum opus fieri, sic intelligas, quod prohibeat te facere bonum opus, cum id non possis, sed ut sabbatum deo sanctifices, mortuus sis ac sepultus sinasque deum in te operari. Ad hoc autem non pervenies umquam nisi per fidem, spem et caritatem, id est, per tui mortificationem et omnium operum tuorum« (AWA 2,308,1–7).

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»Sola vero passiva vita purissima est, [...] atque in hoc oportet nos conformari imagini et exemplo Christi regis et ducis nostri, qui per activam quidem vitam incepit, sed per passionem consummatus est, omnibus scilicet operibus eius tam multis tam magnificis adeo in nihilum redactis, ut non solum coram hominibus sit ›cum iniquis reputatus‹, sed et a deo derelictus. Adeo scilicet omnia a nobis auferenda sunt, ut nec optima dei dona, id est, ipsa merita, reliqua sint, in quibus fidamus, ut sit spes purissima in purissimum deum; tunc demum homo vere purus et sanctus est«.33

Bevor in Anlehnung an die Freiheitsschrift die Grundlegung des christlichen Ethos, das sich in guten Werken konkretisiert, entfaltet wird, muß der für Luthers Rechtfertigungslehre und Ethik wichtige Gedanke der Passivität und der Gleichgestaltung mit dem Gekreuzigten ausführlicher entwickelt werden. Obwohl »vita passiva« als Überschrift über Luthers Anschauungen vom christlichen Leben insgesamt stehen könnte, verwendet er diese Begriffsprägung nicht besonders häufig und auch nicht in herausgehobenem, programmatischem Sinn. Das macht die in der neueren systematisch-theologischen Forschung erfolgte Aufwertung von Luthers Konzeption der vita passiva problematisch, die die Formulierung »vita passiva« überdehnt und als Leitbegriff für zentrale Zusammenhänge von Luthers Theologie in Anspruch nimmt.34 Auch wenn man den ganzen dritten Teil dieser Arbeit mit seiner Darlegung des Zusammenhangs von Rechtfertigung und Ethos mit »vita passiva« – in dem Sinne, daß sich das christliche Sein und Handeln allein dem durch das Wort dem Glauben zugeeigneten Gotteswirken verdankt und daß darum in allen guten Werken letztlich Gott selbst und er allein tätig ist – überschreiben könnte, soll der Inhalt der vita passiva hier auf das beschränkt bleiben, was Luther selbst damit primär aussagen will: Das Erleiden des Gotteswirkens ist nicht nur das im Rechtfertigungsglauben gegebene Widerfahrnis von Gewißheit und Gottvertrauen und die beseligende Christusgemeinschaft im fröhlichen Wechsel, was Luther beides in der Freiheitsschrift in immer neuen fast hymnischen Reihungen als den unerschöpflichen Reichtum der Gottesbeziehung des inneren Menschen preist. Vielmehr ist auch und zuerst die sich im Gewissen ereignende Konfrontation mit dem im Gesetz gegenwärtigen Richtergott, der den Glaubenden unter das Kreuz Christi stellt und in dieses Kreuz existentiell hineinzieht. 33 AWA 2,303,5–13. Vgl. die Bestimmung der »vita purissima« in der Auslegung von Ps. 11/12,7, die nicht in Werken besteht, »sed in fide verbi et passionibus« (WA 5,382,10 f.). 34 Ch. Link: Vita passiva. Rechtfertigung als Lebensvorgang (EvTh 44, 1984, 315– 351); O. Bayer: Theologie, 1994, 42–49; Ph. Stoellger: Passivität aus Passion. Zur Problemgeschichte einer ›categoria non grata‹, 2010, 214–308 (v.a. 298–308).

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5. Rechtfertigung als Grundlage des christlichen Lebens

Das Gleichförmigwerden mit Christus als der Vollzug der vita passiva ist eines der zentralen Themen der zweiten Psalmenvorlesung Luthers.35 Schon die Widmungsvorrede an Kurfürst Friedrich weist auf dieses Zentralthema voraus.36 Und die ersten beiden Psalmen zeigen für Luther den urbildlichen Konflikt zwischen Christus und seinen Feinden (Ps. 2), der sich im Gegeneinander der pii und impii immerzu wiederholt (Ps. 1). Ps. 3 stellt dann das Christusleiden exemplarisch vor Augen, dessen drei auch für das Gleichförmigwerden des Christen mit Christus geltenden Anfechtungsstufen (äußerlich: Verachtung der irdischen Güter – innerlich: geistliche Anfechtung gegen Glaube und Hoffnung – unaussprechlich: extremis mortis et inferni doloribus cruciari) in Ps. 4–6 entfaltet werden.37 In den folgenden Psalmenauslegungen werden die anhand von Ps. 1–6 entwickelten Themen immer wieder aufgegriffen und variiert, wobei die Auslegungen von Ps. 8,5 und Ps. 21/22,2–22 zentral sind. Wichtig ist, daß Krankheit, Unglück, Verfolgung wegen des Evangeliums, geistliche Anfechtung oder Tod für Luther nicht mehr – wie vielfach für die mittelalterliche Frömmigkeit – Spiegel für eine vertiefte Selbsterkenntnis, Hilfen zur besseren Selbstdemütigung und Weltverachtung und weitere Stufen auf dem zur vollkommenen Reinheit führenden 35 Die Quellengrundlage hierfür sind nicht nur der Abschnitt des Exkurses zu Ps. 5,12 zur vita passiva (AWA 2,302,9–304,15) und die Aussagen über die vita activa und contemplativa (AWA 2,136,19–137,4), sondern auch die die ganze Vorlesung durchziehenden Aussagen über die Anfechtungen und Leiden Christi und des Christen. – Die Kreuzesexistenz des Christen wird auch in zahlreichen anderen Schriften der Jahre 1519/20 thematisiert. Der Sermon Von den guten Werken zeigt, daß die Anfechtung zum Glauben gehört und daß die höchste Stufe des Glaubens und das höchste Werk der Glaube in der Heilsanfechtung ist, der gegen Tod, Hölle, Sünde und die Abwesenheit von Gottes Gnade und Barmherzigkeit an Gott festhält (WA 6,208,6–209,5). Den Umgang mit dem Leiden lehren die Trostschriften Luthers, etwa der Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi (WA 2,131–135.136–142), der Sermon von der Bereitung zum Sterben (WA 2,680–684.685–697) oder die Tessaradecas consolatoria pro laborantibus et oneratis (WA 6,99–103.104–134). Die Themen Leiden und Leidensbewältigung werden aber auch in vielen anderen Zusammenhängen angesprochen, etwa in Luthers Auslegung der sechsten Vaterunserbitte (WA 2,122–126). Luther geht es hier überall weniger um das ethische Moment, das für die Erbauungsschriften des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit – die ars-moriendi-Literatur verstand sich als »Kunst des heilsamen Lebens« (TRE 4,144 [Rainer Rudolf]) – vielfach von besonderem Interesse war (TRE 4,151–153 [Rudolf Mohr]), sondern mehr um das rechtfertigungstheologische. – Wichtige Forschungsarbeiten zum Gleichförmigwerden mit Christus, zum Anfechtungsthema und zur Kreuzestheologie sind: E. Vogelsang: Der angefochtene Christus bei Luther, 1932; H. Beintker: Die Überwindung der Anfechtung bei Luther. Eine Studie zu seiner Theologie nach den Operationes in Psalmos 1519–21, 1954 (s. auch Beintkers Artikel in TRE 2,695–704); D. Vorländer: Deus incarnatus. Die Zweinaturenchristologie Luthers bis 1521, 1974, 199–208; H. Blaumeiser: Martin Luthers Kreuzestheologie, 1995. Zu den weiteren Zusammenhängen und zum mittelalterlichen Hintergrund: B. Hamm: Luthers Anleitung zum seligen Sterben vor dem Hintergrund der spätmittelalterlichen Ars moriendi (in: Ders.: Der frühe Luther, 2010, 115– 163); U. Mennecke-Haustein: Luthers Trostbriefe, 1989 (hier vor allem Teil B); TRE 20,688–707 (Walter Sparn). 36 AWA 2,14,21–15,4. 37 Zu dieser Systematik der ersten sechs Psalmen siehe die Themaangaben zu Beginn der einzelnen operationes sowie AWA 2,363,16–364,32.

5.2. Der neue Mensch

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Weg der gnadenhaft getragenen satisfaktorisch-meritorischen Praxis sind – also ethisch funktionalisiert werden –, sondern daß sie auf das Zentrum christlicher Existenz bezogen sind: Das Gleichförmigwerden mit Christus im Kreuzesleben ist die existentielle Einübung des Rechtfertigungsglaubens.

Wie in der ersten Psalmenvorlesung legt Luther die Texte auf Christus und auf die existentiellen Folgen der Christusbeziehung des Glaubenden aus. Da er in den zwei Jahren seiner Vorlesung nur bis Ps. 21/22 gelangt, kreist sein Nachdenken über die Rechtfertigung und das Leben im Horizont und auf dem Boden der Rechtfertigung um die in dieser Reihe dominierenden Klagelieder des einzelnen mit ihrer Beschreibung der Nöte und Anfechtungen des Beters.38 Der Beter der Psalmen ist zuerst einmal Christus, und Luther bemüht sich, gegen die Tradition und bis an die Grenzen theologischer Aussagemöglichkeiten vorstoßend, die Feindbedrohung, Gottverlassenheit und Verzweiflung des Psalmbeters auf den Gottmenschen Jesus Christus hin auszulegen. Und weil der Glaubende in Existenzgemeinschaft mit eben diesem Christus steht, trifft ihn dasselbe Leiden: »hoc vere est Ihesum Christum amplecti, disciplinam et crucem amplecti et, ut Paulus solet dicere, passionibus Christi communicare. [...] Non enim, qui loquitur, sed qui vivit Ihesum Christum crucifixum, salvus erit. At vivere Christum, hoc est, crucifigi, ut Gal. 2[,19 f.] dicit: ›Christo crucifixus sum. Vivo iam non ego, vivit vero in me Christus‹«.39

Das Rechtfertigungsleben ist Kreuzesleben, und zwar das Hineingezogenwerden in Christi Kreuz, das in das Leben des Christen hineingreift und ihn umgestaltet. Der Prozeß des Gleichförmigwerdens mit Christus umfaßt zwar sowohl die Menschwerdung und Passion Christi als auch seine Auferstehung und Verherrlichung, aber in den auszulegenden Psalmen steht ersteres im Mittelpunkt. Die Bezeichnungen für dieses Gleichförmigwerden mit Christus sind zahlreich,40 und Luther verzichtet auf eine Vereinheitlichung und Systematisierung. Eine gute Zusammenfassung von Luthers Grundgedanken des Gleichförmigwerdens mit Christus bietet die Auslegung von Ps. 5,3b (»Rex meus et deus meus«), die als Inbegriff des christlichen Lebens zum einen das diesseitige Zunichtewerden durch das Kreuz und zum anderen die zukünftige Verherrlichung bei Gott vor Augen stellt: 38 Auch die formgeschichtlich anders zu klassifizierenden Psalmen – etwa Ps. 1 (Torapsalm), Ps. 15 (Eingangstora) oder Ps. 18 (Königspsalm) – thematisieren Konflikte und werden von Luther darum ähnlich wie die Klagelieder des einzelnen ausgelegt. 39 AWA 2,130,14–19. 40 Hier eine Auswahl: fieri aequalis, assimilatus, concors, conformis, consors, similis, socius; afformari; transformari; incorporari; passionibus Christi communicare; similia pati; participare; se attemperare; aufferi; duci; suscipi; trahi; immutari; verti; susceptio; transitus; transmutatio; participatio; consortio; incorporatio. Christus ist caput, exemplar, exemplum, figura, forma, imago, sacramentum.

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5. Rechtfertigung als Grundlage des christlichen Lebens

»Atque in his duobus iterum summa totius vitae nostrae exprimitur: habere regem et deum. Regit, dum nos a nobis aufert et ad se ducit; deus est, dum nos venientes suscipit et seipso, id est, divinis bonis replet. Prior conditio est crux, phase, transitus ductus a mundo, a vitiis, et omnino mortificatio nostri; posterior susceptio et glorificatio nostri. [...] Christus enim gemina natura utrumque horum efficit: [1.] Humanitatis seu, ut Apostolus loquitur, carnis regno, quod in fide agitur, nos sibi conformes facit et crucifigit faciens ex infelicibus et superbis diis homines veros, id est, miseros et peccatores. Quia enim ascendimus in Adam ad similitudinem dei [Gen. 1,26], ideo descendit ille in similitudinem nostram [Phil. 2,7], ut reduceret nos ad nostri cognitionem; atque hoc agitur sacramento incarnationis. Hoc est regnum fidei, in quo crux Christi dominatur divinitatem perverse petitam deiciens et humanitatem carnisque contemptam infirmitatem perverse desertam revocans. [2.] At regno divinitatis et gloriae configurabit nos corpori claritatis suae, ubi ›similes ei erimus‹ [1. Joh. 3,2] iam nec peccatores nec infirmi, nec ductiles aut rectiles, sed ipsi reges et filii dei sicut angeli. Tunc dicetur deus meus in re, quod nunc in spe dicitur«.41

Die Gleichgestaltung mit Christus beginnt also damit, daß der Mensch wirklich Mensch werden, d.h. sich mit den Augen Gottes sehen und als Sünder erkennen muß.42 Diese Konfrontation mit dem Richtergott stößt den Menschen – Christus zuerst und dann alle, die an ihn glauben – in die Gewissensnot, sie macht traurig, ängstlich, bestürzt und geht so weit, daß der Mensch sich von Gott abwendet und sich ausweglos in seinem dürftigen Menschsein gefangen sieht. Hier ist jeder Hochmut, jedes Vertrauen auf die eigenen Werke, die Anmaßung, wie Gott zu sein, vergangen. Der Spiegel dieser Selbsterkenntnis ist nicht nur das Gesetz, sondern auch die Passion Christi. Deren rechte Meditation bewirkt das Erschrecken des Gewissens angesichts des göttlichen Gerichts über die Sünde, weil es der Christ und seine Sünden sind, die Christus martern, und das Leiden Christi eigentlich den Christen treffen sollte. Solche Passionsmeditation macht den Christen Christus »gleych formig«, indem Christi Leiden im Gewissen des Christen als Bedrängnis durch die Selbsterkenntnis als Sünder mitvollzogen wird.43 Wo aber der Mensch so weit gekommen ist, ist Raum für die grundlegende Wendung (conversio) des menschlichen Lebens zu Gott hin im Glauben an das Evangeliumswort, in dem nicht Gott der 41 42

AWA 2,225,19–227,4.

Die Parallelität von Christi Menschwerdung und der Selbsterkenntnis des Sünders als »Mensch« zeigt Luther vor allem in seiner Auslegung von Ps. 8,5 (AWA 2,479,4– 485,5). 43 Dazu der Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi, wo es u.a. heißt, daß »der nutz des leydens Christi gar daran gelegen ist, das der mensch zu seyns selb erkentniß kumme und fur yhm selbs erschrecke und zurschlagen werde«, und daß »das eygene naturlich werck des leydens Christi ist, das es yhm den menschen gleych formig mache, das wie Christus am leyb unnd seel jamerlich in unsern sunden gemartert wirt, mussen wir auch ym nach alßo gemartert werden im gewissen von unßernn sunden« (WA 2,138,16 f.19–22).

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Richter erschrickt, sondern Gott der Barmherzige die Gerechtigkeit zuspricht – eine Gerechtigkeit, die Christus selbst ist.44 Christus ist nicht die »causa« oder das »obiectum« der Gerechtigkeit, sondern sie selbst; er selbst ist zur »iustitia, sanctificatio, sapientia, redemptio nostra a deo nobis factus«, und die Christusgemeinschaft im Glauben, die »incorporatio[] nostri in Christum«, bewirkt, daß Christus im Menschen lebt, sich bewegt und wirkt, ja daß der Glaubende und Christus ein Fleisch werden.45 Der beseligende Aspekt dieser Gemeinschaft tritt für Luther in den Operationes in Psalmos – anders etwa als in der Freiheitsschrift – hinter den Aspekt des Gleichgestaltung mit dem leidenden Christus zurück. Denn das von Christus als der Sonne der Gerechtigkeit geschenkte Heil ist notwendig begleitet von der Zerstörung der Sünde, von Schmerz und Schande, so daß der wahrhaft zum Menschen gemachte und mit Christus verbundene Glaubende »intus dolens et foris confusus« und »similis[] fiat Christo, qui similis prior factus est ei«.46 Die Eingießung der Gnade ist stets von Anfechtung und Leiden begleitet, was auch für das ganze Leben aufgrund der Gnade gilt.47 Weil die »vita nova fidei et spei« die »vita Crucis, hoc est mortis« ist,48 beginnt nach der Konfrontation mit dem Gesetz und dem Zuspruch des Evangeliums die Überwindung und Tötung des alten Menschen durch das Kreuzesleiden. Leiden und Anfechtung im Gleichförmigwerden mit Christus sind also weder die Bedingung noch die Vollzugsform des Heils, sondern sie sind Begleitumstände des Glaubens, solange der Mensch als Sünder noch unter Gottes Gericht steht und den Angriffen von Welt und Teufel ausgesetzt ist. Vor allem in der Auslegung von Ps. 21/22, aber schon mehrfach vorher, deutet Luther die Passion Christi als Urbild des Kreuzeswegs des Glaubenden mit seinen körperlichen, sinnlichen und geistlichen Anfechtungen, die in der Prädestinationsanfechtung und dem Gefühl der Gottverlassenheit gipfeln.49 Ein instruktives Beispiel für Luthers Darstellung 44 Die durch das Gesetz und das Evangelium gewirkte »conversio et iustificatio impiorum«, die sich als Gewissensschrecken, daraus folgende contritio in Gestalt des »odium [...] peccati ac iam mors ipsa malorum affectuum« und innere Erneuerung des Willens vollzieht, ist Thema der Auslegung von Ps. 9[a],4 (hier vor allem: AWA 2,516,19– 517,24). 45 »Fides [...] in Christum facit eum in me vivere et moveri et agere [...] efficimurque cum Christo una caro et unum corpus per intimam et ineffabilem transmutationem peccati nostri in illius iustitiam« (AWA 2,547,1–21). 46 AWA 2,484,20–25. 47 AWA 2,299,20–300,17. 48 WA 5,444,26 f. 49 Luther kann die Leiden und Anfechtungen der Passion Christi und der Kreuzesexistenz des Christen unterschiedlich benennen (passio, persecutio, tentatio, tribulatio, terror u.a.) und klassifizieren (Unterscheidung nach dem Grad der Wirkung [leicht,

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5. Rechtfertigung als Grundlage des christlichen Lebens

des Kreuzesleidens des Christen ist der Exkurs zur Auslegung von Ps. 21/22,8f. Dieser Exkurs deutet das Leiden Christi auf Golgatha als eine bildhafte Darstellung (tabula) dessen, worauf sich der Christ am Ende seines irdischen Lebens gefaßt machen muß und was ihm jederzeit während seines Lebens begegnen kann.50 In diesem letzten Krieg kämpft man nicht allein gegen die Welt und den Teufel, sondern gegen Gott selbst. Das verschärft das Sterbensleiden ins Unerträgliche. Denn solange Gott noch auf des Angefochtenen Seite zu stehen scheint, kann man betend fliehen. Das scheint nicht mehr möglich, wenn ein Gewissen mit der Behauptung gequält wird, daß Gott gegen es steht51 – das ist die überhaupt nicht mehr zu ertragende und eigentliche Hölle.52 Luther beschreibt diese Anfechtung als einen Kampf, der um Glaube und Hoffnung geführt wird und in dem die Widerstandskräfte selbst angegriffen sind. Der Angefochtene muß überhaupt erst einmal ums Kämpfen-Können kämpfen, bevor er kämpfen kann. In Anlehnung an Ps. 21/22,2–22 sieht Luther sechs Stufen der geistlichen Anfechtung. Sie beginnt damit, daß die Seele des Angefochtenen erkennt, daß die Schande ihres verfehlten Lebens vor aller Welt sichtbar ist, daß sie gänzlich nackt und bloßgestellt ist und keine Zuflucht mehr hat. Dann bemerkt sie auf der zweiten Stufe, daß diese Blöße wahrgenommen und verspottet wird; und alle Blicke auf sie, auch die wohlmeinenden, kommen ihr wie Anklagen vor. Kann der Glaube hier noch widerstehen, so wird der Mensch auf der dritten Stufe mit dem Gesetz konfrontiert, und das Vorhalten der suggestiv überspitzten göttlichen Anklage und des göttlichen Zorns weckt das Gewissen und die scrupulositas des Angefochtenen, so daß dieser sich ganz und gar verurteilt vorkommt. Ähnlich wird auf der vierten Stufe das Evangelium mißbraucht, um die Anfechtung zu steigern: Nicht, daß Christus nicht der Herr und das Heil des Glaubenden ist, stellt die Anfechtung in Frage, sondern, ob dies auch für den Angefochtenen gilt. Aber obgleich Luther von ihr sagt: »ista concussio, cum sit periculum amittendi Christi, in quo uno sita est salus eius, incredibili cruce torquet animam«,53 ist das noch nicht die Spitze der Anfechtungen. Denn nun, auf der fünften Stufe, kommt die Frage auf, ob der Angefochtene nicht zu den Verdammten gehört, da doch Christus nur der Heiland der schwer], nach der zeitlichen Erstreckung, nach dem Angriffspunkt [körperlich, sinnlich, geistlich], nach dem Gegner [Menschen, Teufel, Gott]). Zu Luthers Darstellung Christusleidens anhand von Ps. 21/22: J. Wolff: Metapher und Kreuz. Studien zu Luthers Christusbild, 2005. 50 WA 5,619,5–624,2. 51 »Passiones [...] si in dei conscientia ferantur, non adeo graves sunt; at ubi conscientia de deo averso vexatur, iam importabiles sunt« (AWA 2,606,8–10). 52 »Haec est insustentabilis prorsus et ipse proprie infernus« (AWA 2,127,7 f.). 53 WA 5,621,38 f.

5.2. Der neue Mensch

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Erwählten (electi) ist. Plötzlich steht der Angefochtene ohne den Mittler da und Gott ganz allein gegenüber. Zuletzt ist der Angefochtene sich auf der sechsten Stufe sicher, daß er nicht bloß nicht erwählt ist, sondern daß er nicht zum Heil, sondern zur Verdammnis vorherbestimmt ist (»non esse eum praedestinatum«).54 Wer so angefochten ist, fühlt sich mit seiner Seele bereits rettungslos in die Hölle gestoßen. Gott kann wohl retten, aber ihn, ihn will er nicht herausreißen. Luthers Deutung der Klagen des Psalters auf die Anfechtungen Christi und der Glaubenden macht immer wieder die enge Zusammengehörigkeit und Gleichläufigkeit des Leidens Jesu und des jedes Glaubenden deutlich. Auch bei der Frage, wie der Angefochtene auf solche Anfechtung reagieren soll, verweist er auf das Kreuz, es gibt keinen anderen Weg als den, den Christus gewählt hat: »Neque alia via vincemus hoc mali, quam qua Christus vicit«.55 Die körperliche und sinnliche Anfechtung werden durch den heilsgewissen Glauben überwunden, der sich durch zeitliche Bedrängnisse nicht irre machen läßt. Die geistlichen Anfechtungen fordern da, wo Glaube und Heilsgewißheit selbst angegriffen sind, das Schweigen.56 Aus eigener Kraft und Geschicklichkeit findet der Mensch keinen Ausweg aus der Anfechtung, sondern er erfährt nur umso mehr, daß alles gegen ihn steht, wenn Gott gegen ihn steht.57 Wer durch das Schweigen das eigenmächtige Widerstehenwollen gegenüber dem Kreuzesleiden aufgibt, gewinnt die Freiheit zum paradoxen Gegenmittel gegen die Anfechtung: Er setzt den Glauben an den in all seinem Handeln gerechten Gott und das Lob dieses Gottes gegen Affekt und Wahrnehmung58 und flieht so von dem erzürnten Gott zu dem gnädigen Gott, der doch der Anfechter ist (»ad deum contra deum confugere«).59 Das geschieht – wie in dem auf Christus gedeuteten Ps. 21/22 – durch das Gebet zu Gott, durch Klage und Anrufung – ja, die Anfechtung ist nicht zuletzt ein Mittel Gottes, den Menschen zum Gebet zu treiben und so den Glauben zu stärken.60 Damit ist nichts Unmögliches 54 Die Prädestinationsanfechtung wird auch im Exkurs zu Ps. 5,12 behandelt (AWA 2,309,10–315,12) und auch an weiteren Stellen angesprochen. 55 WA 5,623,8 f. 56 »tacere, quiescere et sinere, ut irritantissimae et acerrimae voces praeterfluant« (WA 5,623,9 f.). Luther warnt bei der Behandlung der Prädestinationsanfechtung davor, sich auf die Diskussion über die eigene Erwählung und den unerforschlichen göttlichen Ratschluß einzulassen: »Eyn ferlicher furvvicz ist das« (WA 5,623,6). 57 »Omnia cum deo contra eum stant« (WA 5,386,10 f.). 58 WA 5,623,17–624,2. 59 AWA 2,368,31. 60 Zum Verhältnis von Gebet und Anfechtung siehe auch die 1519 erschienene Auslegung deutsch des Vaterunser für die einfältigen Laien zur sechsten Vaterunserbitte (WA 2,122–126) sowie unter Berücksichtigung von Luthers Gesamtwerk: G. Wertelius: Oratio continua. Das Verhältnis zwischen Glaube und Gebet in der Theologie Martin Luthers, 1970, 67–98.

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5. Rechtfertigung als Grundlage des christlichen Lebens

gefordert, sondern der Angefochtene kann seine negative Gotteserfahrung transzendieren und sich im Glauben an Gottes Wohlwollen halten.61 Der Grund dafür liegt darin, daß das Angefochtensein nur die subjektive Wahrnehmung des Menschen ist. Gott hat aber auch den mit der Gottverlassenheit und dem Erwählungszweifel Angefochtenen nicht verlassen, wie das Gewissen meint und fühlt.62 Was auch immer dem Glaubenden in seinem Gleichförmigwerden mit dem Gekreuzigten widerfährt und wie sehr er in diesen Widerfahrnissen Gottes gerechtes Gericht über sich zu erfahren meint, so gilt doch immer: »numquam deus non adiuv[a]t«.63 Die Erneuerung des Menschen in der vita passiva erschöpft sich nicht in der Zerstörung der alten Existenz und der Konfrontation des Glaubenden mit dem Gesetz und der ihm feindlichen Welt, sondern sie weist über sich hinaus. Wie Christus gehen auch die ihm gleichförmig werdenden Christen auf die Auferstehung und Verherrlichung zu, die dem Leiden folgen und durch die sie als »coheredes Christi, filii dei, reges mundi et inenarrabilium bonorum cum Christo possessores«64 in die Gemeinschaft mit Gott eintreten und aufs engste mit ihm verbunden in »vita immortali, laetitia aeterna et iucunditate aeterna«65 leben werden. Diese auf die eschatologische Vollendung hinführende, sich im Diesseits als Gleichförmigwerden mit dem gekreuzigten Christus vollziehende vita passiva ist konstitutiver Teil von Luthers reformatorischer Anschauung vom christlichen Leben. Der für Luthers reformatorische Theologie unverzichtbare Gedanke des Gleichförmigwerdens mit Christus in der vita passiva negiert die Eigenwirksamkeit des Menschen aber nicht, sondern gibt ihr durch die Verneinung einer soteriologischen Funktion menschlichen Handelns ihre wahre Bedeutung als »cooperari«66 mit Gott in den guten Werken. Denn das Erleiden der operatio divina in der Eingießung von Glaube, Liebe und Hoffnung bewirkt die Tötung und Reinigung des Menschen und bringt als Früchte dieser Tugenden freie und spontane Werke im Vertrauen auf Gott hervor, in denen der Mensch als Werkzeug Gottes handelt und die darum 61 »cor hominis debet ac potest [!] hoc capere et credere deum esse iucundum, benevolentem, dulcem, quem non sentit nisi iracundum, horrendum, insustentabilem« (AWA 2,481,24–26). 62 Das ist einer der zentralen Gedanken von Luthers Auslegung der Gottverlassenheitsaussage von Ps. 21/22,2. Die subjektive Wirklichkeit der Anfechtung wird mit dem »ac si« zugleich ernstgenommen und relativiert (WA 5,602,13–603,40). 63 AWA 2,148,3. 64 WA 5,658,19 f. 65 WA 5,464,20. 66 AWA 2,320,26.

5.2. Der neue Mensch

303

nicht mehr auf Lohn und Verdienste aus sind.67 Die Freiheitsschrift deutet diese Auseinandersetzung mit der herkömmlichen Tugendlehre nur an, weil es ihr nicht um Kritik, sondern um die positive Darstellung des reformatorischen Glaubensverständnisses geht. Dieses Ziel scheint sie allerdings nicht auf direktem Wege anzusteuern, beginnt Luther seine inhaltlichen Ausführungen doch mit der vom Glaubensthema wegführenden Doppelthese der Freiheitsschrift – »Christianus homo omnium dominus est liberrimus, nulli subiectus«, »Christianus homo omnium servus est officiosissimus, omnibus subiectus«68 –, die er zudem durch eine weder mit dem Glaubens- noch mit dem Freiheitsthema unmittelbar in Zusammenhang stehende anthropologische Unterscheidung erläutert: »Homo [...] duplici constat natura, spirituali et corporali: iuxta spiritualem, quam dicunt animam, vocatur spiritualis, interior, novus homo, iuxta corporalem, quam carnem dicunt, vocatur carnalis, exterior, vetus homo«.69

Aus dem Zusammenhang von Luthers reformatorischer Theologie, wie sie in der Freiheitsschrift zusammengefaßt ist, läßt sich der argumentative Duktus dieser disparat wirkenden Einleitung verstehen: Der Glaube qualifiziert den Christenmenschen als geistlichen, inneren, neuen Menschen, der durch seinen Glauben frei ist von aller Sorge um seine Existenz vor Gott und zugleich hinsichtlich seines innerweltlichen Seins als fleischlicher, äußerlicher und alter Mensch im Dienst am Nächsten steht. Der Glaube als das Gotteswirken am Menschen, das dieser im Vollzug der vita passiva an sich geschehen läßt, ist das Geisteswirken der inneren Erneuerung des Menschen, die den neuen Menschen als das ethische Subjekt des christlichen Lebensvollzugs allererst schafft. Der diesem neuen Menschen gegenüberstehende alte Mensch ist auf zweifache Weise zu verstehen. Zum einen läßt sich die Unterscheidung von geistlich und fleischlich sowie von innerlich und äußerlich im Sinne des Dualismus zweier einander aus67 AWA 2,307,11–19; 317,7–11. Daß die cooperatio von Luther hier im instrumentellen Sinne verstanden wird, zeigt auch das Beispiel des Schwerts (AWA 2,320,25–321,5). Daß das in der vita passiva gründende cooperari mißverständlich ist und nicht im Sinne der herkömmlichen Moralphilosophie und Bußfrömmigkeit gemeint ist, macht auch eine Äußerung Luthers während der Leipziger Disputation mit Johannes Eck im Sommer 1519 deutlich, der es darum geht, daß der Anteil des Menschen am cooperari nicht betont herausgestellt werden darf: »vita passiva et penosa plus perficiat aut [ac] prosit quam mere activa [...]. Purius enim opus, quod solo deo operante nobis patientibus perficitur quam quod nobis cooperantibus efficitur« (WA 2,354,11–14*; andere, leicht abweichende Textfassung: WA 59,566,4179–4182*). 68 WA 7,49,22–25. 69 WA 7,50,5–8. Zu Luthers Anthropologie, die in ihrer Komplexität in der Freiheitsschrift nur ansatzweise entfaltet wird: WA 2,585–588 (Galaterbriefkommentar 1519 zu Gal. 5,17–21); G. Ebeling: Luther. Einführung in sein Denken, 52006, 219–238; W. Joest: Ontologie der Person bei Luther, 1967; K.-H. zur Mühlen: Nos extra nos, 1972, 1–8.26–31.155–160.265–273.

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5. Rechtfertigung als Grundlage des christlichen Lebens

schließender Seinsweisen, zum anderen im Sinne der Dichotomie als Nebeneinander zweier für den Menschen gleichermaßen konstitutiver Aspekte deuten. Luther geht es um beides. Der durch den Glauben erneuerte Mensch steht im ausschließlichen Gegensatz zum alten, durch die Sünde gezeichneten Menschen. Zugleich ist er im diesseitigen Leben unausweichlich an die äußerlich-fleischliche Wirklichkeit der innerweltlichen Existenz gebunden. Zu dieser verhält er sich auf zweifache Weise: einmal distanziert sich der neue Mensch immer und immer wieder vom alten als dem vorchristlichen Menschen; zum anderen ist gerade die äußerlich-leibliche Existenz der Ort, an dem die Neuheit des Lebens aus Glauben Gestalt gewinnt. Darum kann Luther wie auch das Neue Testament – man denke an die paulinische Unterscheidung des καταÁ σα ρκα und εÆ ν σαρκιÁ ζηÄ ν70 – den äußeren Menschen einmal als die schrittweise zu überwindende vorchristliche Wirklichkeit des Menschen und zum anderen als den neutral qualifizierten Ort alltäglichen christlichen Lebens verstehen. Weil die Unterscheidung von äußerem, fleischlichem, altem und innerem, geistlichem, neuem Menschen angesichts der traditionsgeschichtlichen Hintergründe mißverständlich und in Luthers argumentativer Verwendung mehrdeutig ist, verwendete Luther sie in der Folgezeit immer weniger und nie mehr in derselben programmatischen Weise wie in der Freiheitsschrift. Als sachgerechter und argumentativ eingängiger erwies sich die schon seit längerem von Luther entwickelte Unterscheidung von Person und Werk.71 Der erste Hauptteil der Freiheitsschrift72 beschreibt den Vorgang der Konstitution des neuen Menschen durch den Glauben. Dieser Hauptteil gliedert sich in drei Unterteile, die die drei virtutes bzw. gratiae des Glaubens (WA 7,53,34; 54,31) entfalten, nämlich das Verhältnis von Glaube und Wort (50,13–53,34), von Glaube und Gott (53,34–54,30) sowie von Glaube und Christus (54,31–55,36). Daran angehängt sind weitere Ausführungen, nämlich einmal zum zweiten Unterteil, wo das Verhältnis von Glaube und Gott als Erfüllung des ersten Dekaloggebots näherbestimmt wird (55,36–56,14), und zum dritten Unterteil, wo das Verhältnis von Glaube und Christus als Anteilhabe an Christi Königtum und Priestertum näherbestimmt wird (56,15–58,30). Am Ende des ersten Unterteils steht ein knapper Abschluß (58,31–59,23).

Zum »spiritualis, novus, interior homo« wird der Christ, indem er gerechtfertigt und von den Unheilsmächten Sünde, Tod und Teufel befreit wird.73 Das kann durch nichts Äußerliches, d.h. nicht durch den Menschen und seine Bemühungen – und seien es »speculationes, meditationes et 70 Luther selbst zitiert im Anhang der Freiheitsschrift in einem ähnlichen Zusammenhang 2. Kor. 10,3 (WA 7,70,23 f.). 71 K.-H. zur Mühlen: Nos extra nos, 1972, 176. 72 WA 7,50,13–59,23 (deutsche Fassung: WA 7,21,18–29,30). 73 WA 7,50,14 f.

5.2. Der neue Mensch

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quicquid per animae studia geri potest«74 – gewirkt werden. Vielmehr ist es allein die Sache Gottes, der durch sein »sacrosanctum verbum«, das »Euangelium Christi«, Leben, Gerechtigkeit und Freiheit des Christen schafft.75 Dieses Wort ist eine wirkmächtige Lebens- und Freiheitskraft, ein kaum zu beschreibender Reichtum, und bringt alle nur denkbaren Heilsgüter mit sich: Es ist ein »verbum vitae, veritatis, lucis, pacis, iustitiae, salutis, gaudii, libertatis, sapientiae, virtutis, gratiae, gloriae et omnis boni inaestimabiliter«.76 Der mit diesen Ausführungen einsetzende erste Unterteil des ersten Hauptteils77 beschreibt die Entstehung des Glaubens aus dem Wort und die Verbindung der Seele des Glaubenden mit dem Wort. Diese worttheologische Entfaltung der Rechtfertigungslehre ist grundlegend für alles weitere. Mit Hilfe einer fingierten Frage treibt Luther die Darlegung einen Schritt weiter: Läßt sich das »Wort Gottes« angesichts der Vielzahl der in der Bibel enthaltenen Gottesworte weiter präzisieren? Und in welcher Weise wird dieses Wort beim Menschen aufgenommen? Die erste Frage beantwortet Luther durch den Rückgriff auf das Römerbriefpräskript: Das Wort Gottes ist das »Evangelium« von Kreuz, Auferstehung und Himmelfahrt des fleischgewordenen Gottessohnes. Dieses auf die zentralen Abschnitte der Heilsgeschichte (Weihnachten, Karfreitag, Ostern, Himmelfahrt) konzentrierte Gotteswort bewirkt beim Menschen das Heil in Gestalt von Rechtfertigung und Befreiung – unter der Bedingung, daß der Mensch dem Wort glaubt. Mit Rückgriff auf Röm. 10,4.9 und Röm. 1,17 führt Luther nach dem Wort Gottes den zweiten zentralen Begriff des ersten Unterteils des ersten Hauptteils ein: die »fides«. Von ihr gilt: »Fides [...] sola est salutaris et efficax usus verbi dei«.78 Betont spricht Luther von der Alleingeltung des Glaubens, des Wortes, Christi (sola fides, solo verbo, solus Christus),79 und schließt mit diesen particulae exclusivae eine Rechtfertigung aufgrund von Werken aus. Weil allein der Unglaube Sünde ist, soll sich der Christ vorrangig um die Stärkung dieses Glaubens bemühen und durch den Glauben in der Erkenntnis des Heilswerks Christi zunehmen.80 Der Glaube an das Wort vollzieht sich im zweifachen Widerfahrnis des Gottesworts als Gesetz und Evangelium.81 In 74

7,50,32 f. 7,50,33–35. 7,51,2 f. 7,50,15–53,33. 7,51,17. 7,50,33–35; 51,17.21–23.33–35; 52,20; 53,20 f.; 54,10 f.; 55,37–39; 56,5 f.; 57,21; 61,23; 68,2. 80 Die biblische Belegstelle für den Glauben als das den Christen ausmachende Werk ist übrigens Joh. 6,28 f. (WA 7,52,8–11). 81 WA 7,52,24–53,14. Das reformatorische Verständnis der Unterscheidung von GeWA WA 76 WA 77 WA 78 WA 79 WA 75

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5. Rechtfertigung als Grundlage des christlichen Lebens

der Schrift des Alten und Neuen Testaments findet sich das Wort Gottes in zweifacher Gestalt: als Verheißung und Gebot. Die Gebote haben die Aufgabe, den Menschen seiner Unfähigkeit, dem Gesetz zu genügen, zu überführen, ihn in die Verzweiflung hinsichtlich seiner selbst zu stürzen und ihn auf die Hilfe von außen her auszurichten. In dieser Situation des »vere humiliatus et in nihilum redactus coram oculis suis« kommt dann das andere Wort Gottes zum Menschen, das ihm Christus zum Glauben darbietet und damit »gratia, iustitia, pax, libertas et omnia«. Der Glaube ist das compendium, der Abkürzungsweg, der die Erfüllung aller Gesetzesforderungen ist und direkt zum Heil führt. Denn Gottes allein ist die Gesetzesforderung und ihre Erfüllung und allein im Glauben erhält der Mensch Anteil an dieser plenitudo. Der erste Unterteil des ersten Hauptteils wird abschließend auf seinen argumentativen Höhepunkt geführt: Das Verhältnis von Seele und Wort ist ein Geschehen der Vereinigung, der Teilhabe, der Mitteilung, in dem das Wort der Seele sich und seine Güter durch den Glauben zu eigen macht.82 Die Worte überstürzen sich, wenn Luther versucht, dieses Geschehen zu beschreiben: »fit, ut anima, quae firma fide illis [sc. den promissa Dei], sic eis uniatur, immo penitus absorbeatur, ut non modo participet, sed saturetur et inebrietur omni virtute eorum«.83 Wenn nach den Heilungswunderberichten des Neuen Testaments der »tactus Christi« geheilt hat, um wieviel mehr heilt dann »hic tenerrimus [sc. tactus] in spiritu«, d.h. die unendlich sanfte geistliche Berührung des Wortes. Das Wort Gottes ist es, das den Menschen in seinem Innersten erreicht und heil macht. Ja es ereignet sich eine »absorptio verbi«, ein Über- und Aufgehen der Seele im Wort und des Wortes in der Seele.84 Die folgende zusammenfassende Rechtfertigungsaussage klärt mit Hilfe der gezielt gesetzten Präpositionen das Verhältnis von fides, opera und verbum dei: die Werke bleiben definitiv ausgeschlossen (sine operibus), der Glaube hat instrumentale Funktion (per fidem solam), das Wort ist das Woher und Woraus der Rechtfertigung (e verbo dei). Die Folge des vom Glauben ergriffenen Wortes ist die Zueignung des gesamten Heils, das für die Seele als rein passiv bleibende von außen gewirkt wird:

setz und Evangelium behandelt Luther ausführlicher in seinem Galaterbriefkommentar von 1519 (zu Gal. 1,11 f. u.ö.). Dabei ist das Evangeliumswort als effektive Erneuerung (recreatio) des Menschen verstanden, das nicht wie das Gesetz nur die opera und actus agentis verändert, sondern die operantes selbst (WA 5,544,1–14). 82 WA 7,53,15–33. 83 WA 7,53,16–18. 84 Man kann die Funktion des Genitivs »absorptio verbi« wohl nicht eindeutig festlegen, es kann sich sowohl um einen genitivus objectus als auch subjectivus handeln.

5.2. Der neue Mensch

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»iustificatur, sanctificatur, verificatur, pacificatur, liberatur et omni bono repletur vereque filia dei efficitur«.85

Der Schlußabsatz des ersten Unterteils des ersten Hauptteils betont das Element des per fidem solam nochmals und stellt erneut den Gegensatz zu den Werken vor Augen. Wenn es allein der Glaube ist, der dem inneren Menschen das Heil zuteil werden lassen kann, wenn er allein die Einigung von Seele und Wort herbeiführt, dann ergibt sich eine catena aurea: Wo Werke nicht nötig sind, da ist das Gesetz nicht nötig; wo das Gesetz nicht nötig ist, da besteht Freiheit vom Gesetz, da dem Gerechten kein Gesetz vorgeschrieben ist (1.Tim. 1,9). Damit ist das System der spätmittelalterlichen Frömmigkeit, das seine höchste Vollendung in der monastischen Existenz hat, gesprengt. Es eröffnet sich ein Freiraum, es eröffnet sich die »Christiana illa libertas«, die identisch ist mit der »fides nostra«. Und sogleich muß Luther den durch den Glauben entstandenen Freiraum gegen ein Mißverständnis absichern: Die christliche Freiheit ist Freiheit im Sinne der licentia, nicht Quietismus. Im ersten Hauptteil geht es aber noch nicht um die hier angedeutete positive Füllung des dem Handeln eröffneten Freiheitsraums, das ist Aufgabe des zweiten Hauptteils. Wichtig ist vorerst die doppelte negative Abgrenzung: Freiheit von Gesetz und Werken hinsichtlich der Gerechtigkeit und des Heils, keine Freiheit zur Unterlassung guter Werke oder gar zur Sünde. Der zweite Unterteil des ersten Hauptteils86 ist kurz, verglichen mit dem ersten. Er baut auf der gelegten Grundlage auf, aber nicht so sehr dadurch, daß er den bisherigen Gedankengang fortführt, als vielmehr dadurch, daß er die Gemeinschaft von Seele und Gotteswort als Gemeinschaft von Seele und Gott erläutert. Die Frage stellt sich, welche Funktion dieser Unterteil im Rahmen des ersten Hauptteils hat. Er wirkt wie ein Zwischengedanke, eingeschoben zwischen die Entfaltung der unio von Seele und Wort im Glauben und der unio von Seele und Christus im fröhlichen Wechsel. Es geht nicht wie in diesen beiden anderen Teilen um die Zueignung der bona, sondern um die veritas et iustita et absoluta prorsus bonitas, d.h. um die den bona zugrundeliegende Größe, um Gott selbst: Der Glaube ist nicht nur Mittel der Aneignung der heilsgeschichtlichen Güter, er ist auch auf Gott selbst bezogen. Wo der Glaube so das Wort Gottes annimmt, da nimmt er nicht nur das Wort an und wird mit 85 WA 7,53,21–22. Der Galaterbriefkommentar und die Operationes in Psalmos entwickeln die im Hintergrund des ersten Hauptteils der Freiheitsschrift stehende Rechtfertigungslehre ausführlich. Zu den wichtigsten Textzusammenhängen gehören die Auslegungen von Gal. 2,16 und Ps. 5,9 (dazu: E. Bizer: Fides ex auditu, 31966, 154–164. 168–171). 86 WA 7,53,34–54,30 (deutsche Fassung: WA 7,25,5–25).

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5. Rechtfertigung als Grundlage des christlichen Lebens

ihm geeint, er setzt sich auch zu Gott selbst in Beziehung, indem er ihn im Ergreifen des Wortes für »verax et dignus« hält. Und solcher Glaube ist die höchste Ehre, die jemandem zuteil werden kann. Er ist die Selbstpreisgabe an Gott, die uneingeschränkte Hinnahme aller Dinge, die dieser Gott über den Menschen beschließt. Der so Geehrte antwortet mit der Ehrung des Ehrenden. Wer Gott ehrt, dem erweist er Gerechtigkeit und Wahrheit, dessen Gerechtigkeit verherrlicht Gott. Das Geschehen der promissiofides-Relation des ersten Unterteils wird zurückgeführt auf Gott selbst. Es ist ein Geschehen, das sich wahrhaftig ereignet, in dem sich Wahrheit ereignet. Glaube ist keine subjektive Frömmigkeitserfahrung, sondern Gegenwart Gottes selbst.87 Der dritte Unterteil des ersten Hauptteils88 beschreibt die Relation zwischen dem inneren Menschen und Gott als den fröhlichen Wechsel zwischen der Seele und Christus.89 Luther verwendet unterschiedliche Vergleiche und Bilder, um die Verbindung der Seele mit Christus zu beschreiben. Die durch den Glauben an das wirkmächtige Evangeliumswort geschaffene Einheit von Seele und Wort beinhaltet nicht nur die Anerkenntnis Gottes, sondern auch die Einung mit Christus, die in den Kategorien der ehelichen copulatio des Bräutigams mit der Braut verstanden werden kann. Die Bildwelt des Epheserbriefs (Eph. 5,32) und die mittelalterliche Brautmystik verbinden sich hier zu einer theologisch höchst gewichtigen Aussage über den Glauben. Luther meint diese copulatio, dieses matrimonium nicht bildlich. Vielmehr ist es das eigentliche Urbild aller menschlichen Eheschließung, und ihm kommt Wahrheit und Vollkommenheit zu (»verum [...], immo longe perfectissimum«). Denn nur so, als echtes Rechtsverhältnis, kann diese copulatio echte Rechtsfolgen haben, nämlich die gegenseitige Zueignung der jeweiligen Güter zwischen den 87 Die angedeutete These, daß der Glaube Erfüllung des ersten Dekaloggebots ist, wird in WA 7,55,37–56,14 weiter ausgeführt. Daß erst im Folgenden der Bezug zum ersten Dekaloggebot ausdrücklich gemacht wird, daß also Luther im zweiten Gedankengang des ersten Hauptteils nicht direkt auf das erste Dekaloggebot anspielt, muß beachtet werden, weil es zeigt, daß hier keine schlichte Doppelung der Aussage vorliegt. Vielmehr unterscheidet Luther zwischen der Relation des Glaubens zu Gott und der Erfüllung des ersten Gebots durch den Glauben. 88 WA 7,54,31–55,36 (deutsche Fassung: WA 7,25,26–26,13). 89 Die Aussage vom mirabile et suavissimum commercium wird in unterschiedlicher Ausgestaltung zwischen 1519 und 1521 in den Operationes in Psalmos entwickelt (AWA 2,451,24–452,9; 452,19–28; WA 5,608,6–16; hierzu: H. Blaumeiser: Martin Luthers Kreuzestheologie, 1995, 360–364 mit Auflistung der Forschungsliteratur). Ohne die Begrifflichkeit, dafür mit Verweis auf 1. Kor. 1,30 und einigen schönen Formulierungen (»incorporatio[ ] nostri in Christum«, »Fides [...] in Christum facit eum in me vivere et moveri et agere«) findet sich die Sachaussage auch in der Auslegung von Ps. 9a,15b.16a (AWA 2,547,7–21; hier mit Verweis auf das Altarsakrament).

5.2. Der neue Mensch

309

Eheleuten.90 Luther kommt es auf diesen juristischen Zug der Eheschließung an, nicht auf die emotional-erotische Seite des Liebesverhältnisses. Die eigentliche Pointe des Gedankengangs hebt Luther besonders hervor: »Conferamus ista, et videbimus inaestimabilia«. Daß die Güter beider Partner jeweils dem anderen zu eigen werden, hat bei dieser Verbindung die Folge, daß die Seele, die keine bona hat, sondern nur peccata, mors und damnatio, eben diese mala Christus zueignet, während Christus, der keine mala hat, all seine bona, nämlich gratia, vita und salus, der Seele zueignet. Und eben das geschieht, indem der Glaube zwischen die Ehepartner tritt (»Intercedat iam fides«). Während im ersten Unterteil des ersten Hauptteils das Gesetz die Unheilsmacht war, von der der Glaube befreit, sind es im dritten Unterteil nun die drei herkömmlichen Unheilsmächte Sünde, Tod und Teufel,91 von denen der Glaube an Christus befreit. Sachlich ist das kein Unterschied, stehen doch das Gesetz einerseits und Sünde, Tod und Teufel andererseits in engem Zusammenhang. Aber hinsichtlich der Sprach- und Bildwelt ist die Trias von Sünde, Tod und Teufel in ihrem Gegensatz zum Bräutigam Christus anschaulicher und emotionaler als die abstrakte rechtfertigungstheologische Gegenüberstellung von Glaube an das Wort und Gesetzeswerken. Die Kategorie des eherechtlichen Verhältnisses der gemeinsamen Teilhabe an allen Gütern verdeckt etwas die Tragweite der Aussagen Luthers. Das Geschehen der Befreiung von Sünde, Tod und Verdammnis läßt sich schwerlich so einfach vorstellen, gewissermaßen als Verrechnung von Soll und Haben zwischen zwei Ehepartnern. Ebendarum fährt Luther mit der klärenden Bezeichnung des Geschehens als Krieg (bellum) fort. Das »dulcissimum spectaculum« ist weit mehr als eine »communio«, es ist ein »salutare bellum« und eine »victoria«, in der Heil und Erlösung erworben werden. Die Heilsgeschichte ist ein Kampfgeschehen, das in der Person und im Wirken Christi seine dramatische Zuspitzung erfährt. Luther preßt diese heilsgeschichtliche Kernaussage in 90 Die Zueignung der Gerechtigkeit Christi (1. Kor. 1,30) hat Luther bereits 1519 im Sermo de duplici iustitia mit der Gütergemeinschaft von Braut und Bräutigam, die »una caro« sind, verglichen (WA 2,145,18–20). Vgl. das Sch. zu Hebr. 2,17: Christus als Hoherpriester entäußert sich nach Phil. 2 selbst und macht »omnia subditorum mala« zu den seinen und gibt ihnen »per fidelitatem« Anteil an »omnia bona sua« (WA 57III,136,5–7*). Es kommt zu folgendem Austausch: »Sua enim erant iustitia, sapientia, salus, gloria, pax, gaudium etc., nostra erant peccatum, stultitia, perditio, ignominia, crux, tristitia etc. Igitur nostra ista suscepit et egit, quasi nesciret sua« (WA 57III,136,9– 12*). 91 Statt des Teufels können auch die Verdammnis oder die Hölle stehen. Die Trias von Sünde, Tod und Teufel wird im 1519 entstandenen Sermon von der Bereitung zum Sterben ausführlicher behandelt (WA 2,686,36–688,22) und auch in der im selben Jahr verfaßten, aber erst im Folgejahr gedruckten Tessaradecas consolatoria pro laborantibus et oneratis in die Reihe der sieben Übel integriert (WA 6,107–119).

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5. Rechtfertigung als Grundlage des christlichen Lebens

einen langen, aber wohlüberlegten Satz:92 Weil Christus Gott und Mensch in einer Person und diese Person der Sünde, dem Tod und der Verdammnis nicht unterworfen ist und es auch gar nicht sein kann (denn die Gerechtigkeit, das Leben und das Heil dieser Person sind von göttlicher Qualität); und weil diese so geartete Person sich die Sünde, den Tod und die Verdammnis im Rahmen des ehelichen Verhältnisses wegen des Glaubens des bräutlich mit Christus verbundenen Christenmenschen zu eigen macht (und zwar ohne jede Distanzierung von diesen mala, ohne sie zu relativieren oder irgendeinen Teil der vollen Verantwortung für sie abzuwälzen) und infolge dieser Übernahme den Kreuzestod stirbt, obwohl Tod und Hölle über diese Person keine Macht haben können; darum ist die notwendige Folgerung, die sich aus den beiden Tatsachen der gottmenschlichen Person Christi und ihres Geschicks ergibt, daß der staunenswerte Kampf, der sich da ereignet, die Überwindung von Sünde, Tod und Verdammnis ist. An dieser Person und ihrem Geschick hat sich der Teufel überhoben. Und mit ihr ist die bräutlich geeinte Seele über alle Sünde, Tod und Verdammnis erhaben. Den Abschluß dieses zentralen christologischen Abschnitts der Freiheitsschrift bildet eine Ausgestaltung einzelner Züge des ehelichen Verhältnisses. Die Bedürftigkeit der Seele wird unterstrichen, sie ist eine »uxor paupercula«, eine »impia meretricula«.93 Aber sie ist durch ihre Verbindung mit dem reichen und frommen Bräutigam Christus so sehr der mala enthoben, daß sie zuversichtlich Sünde, Tod und Hölle verspotten kann. Die Abschlußformulierung des dritten Unterteils entspricht der Abschlußformulierung des ersten Unterteils: Dort faßt 1. Tim. 1,9 die Freiheit vom Gesetz durch Glauben zusammen, hier faßt 1.Kor. 15,56f. den Sieg über Sünde, Tod und Gesetz zusammen, was ebenfalls eine Freiheitsaussage ist. Inhaltlich geht es um dasselbe, nämlich um die Rechtfertigung. Diese kann entweder worttheologisch oder christologisch zum Ausdruck gebracht werden, d.h. entweder als Freiheit vom Gesetz durch den Glau92 93

WA 7,55,8–16.

In der Bezeichnung der Seele als meretricula verbindet Luther zwei traditionsgeschichtliche Stränge: Grundlegend ist das aus dem Hohenlied und Eph. 5 entnommene Ehebild, das im Interesse der Akzentuierung der Ungleichheit der Partner durch das Motiv der Heirat mit einer Prostituierten (Hos. 1–3) verbunden wird. Die Vorstellung, daß nur Gleiches mit Gleichem eine enge Gemeinschaft eingehen kann ist alt und gilt auch zu Luthers Zeit. Die reformatorische Rechtfertigungslehre besagt aber genau das Gegenteil und wird von Luther darum mit Hilfe dieses Bilds der nicht standesgemäßen Ehe erläutert, um die Differenz zwischen den Gedanken Gottes und den Gedanken der Menschen deutlich zu machen. Der Hinweis zum deutschen Text in LStA 2,277,11, daß »Hürlein« hier nicht pejorativ gemeint sei, sondern i. S. von »Mädchen« zu verstehen ist, verfängt angesichts des eindeutigen lateinischen »meretricula« nicht.

5.2. Der neue Mensch

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ben oder als Sieg über die Unheilsmächte durch die Christusgemeinschaft. Entscheidend ist, daß beide Aussageformen komplementär sind, so daß die christologische Fassung nicht auf die worttheologische und die worttheologische nicht auf die christologische reduziert werden kann. Das Wort ist immer Christuswort, in dem Christus selbst präsent ist, und es gibt keine Christusgegenwart und Christusgemeinschaft, die nicht durch das Wort vermittelt und getragen wäre. Die auf den dritten Unterteil folgenden Abschnitte des ersten Hauptteils lassen sich als Fortführung und weitere Entfaltung des zweiten und dritten Unterteils verstehen. Zunächst94 nimmt Luther das Thema des zweiten Unterteils auf und unterbricht den christologischen Gedankengang, der vom fröhlichen Wechsel zum zweifachen Amt weitergeführt werden wird. Luther betont nocheinmal, daß sich Glaube und Werke hinsichtlich des Heils gegenseitig ausschließen. Das wird besonders anschaulich am ersten Dekaloggebot, daß mitnichten ein Werk im üblichen Sinne verlangt, sondern dessen ›Werk‹ eben der Glaube ist. Gott will nicht Werke sehen, sondern ihm geht es um den Wirkenden, um die innere Haltung des Menschen, um sein Herz. Der Glaube dieses Herzens ist die Erfüllung aller Gebote. Und erst als Folge dieser im Glauben geschehenen Erfüllung kann es Werke geben. Werke, deren Absicht die Erfüllung von Geboten ist, widersprechen diesem Glauben, setzen sich an seine Stelle. Luther kehrt damit das Folgeverhältnis von Gebot und menschlichem Wirken um: Menschliche Werke beruhen stets auf der vorausgesetzten und zugleich längst geschehenen Erfüllung der Gebote im Glauben. Anschließend95 vertieft Luther die Aussagen über den fröhlichen Wechsel, indem er die Situation des befreiten Christenmenschen in seinem Sein vor Gott näher beschreibt. Denn mit all den Gütern, die Christus inne hat und der Seele mitteilt, teilt er ihr auch sein Königtum und Priestertum mit und macht den Christenmenschen zu einem König und Priester. Freilich ist damit kein äußerlich-weltliches König- und Priestertum gemeint. Das Königtum Christi ist geistlich zu verstehen, weil es über dem der Welt steht und Gewalt über die »terrena et inferna« hat, aber weder »in iis nec ex iis« besteht. Und das Priesteramt Christi, an dem die Christen teilhaben, vollzieht sich in jenem himmlischen Gottesdienst, den der Hebräerbrief beschreibt, aber auch in Christi geistvermittelter Gegenwart in den Christen, sie mit »vivis doctrinis spiritus sui« zu lehren. Das Königtum 94 95

WA 7,55,37–56,14 (deutsche Fassung: WA 7,26,13–31). WA 7,56,15–58,30 (deutsche Fassung: WA 7,26,32–29,6). »hanc gratiam, quam in

Christo habet interior ille homo noster« (56,15 f.) schließt an »Tertia fidei gratia« (54,31 f.) an.

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5. Rechtfertigung als Grundlage des christlichen Lebens

des Christen erhebt ihn »per fidem« über alle Dinge, so daß ihm nichts schaden kann, sondern alles ihm zum Besten dienen muß. Gemeint ist also keine keine innerweltliche Macht (corporalis potentia), wie sie etwa das Papsttum beansprucht, sondern vielmehr eine geistliche Größe (potentia spiritualis, spirituale imperium), die sich gerade unter dem Gegenteil verwirklicht. Die machtvolle Freiheit dieses Königtums ereignet sich in den Anfechtungen und Bedrängnissen christlicher Existenz. Der Triumph über die Anfechtung äußert sich nicht darin, daß der Christ sie auf Distanz hält, sondern daß er sie überwindet, indem er sie siegreich auf sich nimmt. Eben diese potentia, die sich in den Anfechtungen gegen die Todesmächte durchsetzt, sie ist die »Christianorum inaestimabilis [...] libertas«, die Freiheit der »reges omnium liberrimi«.96 Weit überragt wird dieses Königtum durch das Priestertum der Christen, da es auch die Gottesbeziehung betrifft: die Christen sind würdig vor Gott zu treten, zu ihm zu beten, die göttliche Lehre zu vermitteln.97 Hier gilt erst recht, daß das allein aufgrund des Glaubens und durch den Glauben geschehen kann. Der Christ vermag bei Gott alles zu erreichen, weil Gott tut, worum der Glaubende ihn bittet: e

»Wer mag nu außdencken die ehre und hohe eyniß Christen menschen? durch seyn e kunigreich ist er aller dinge mechtig, durch sein priesterthum ist er gottis mechtig, denn gott thut was er bittet und wil«.98

Diese Aussagen über das Priestertum aller Gläubigen relativieren aber nicht die Unterscheidung der kirchlichen Amtsträger von den sonstigen Christen. Der Unterschied zwischen beiden Gruppen ist keiner hinsichtlich der Qualität, sondern allein hinsichtlich der Funktion aufgrund der beiden gleichermaßen eigenen Qualität des Christ- und damit Priesterseins. Die »ministri, servi, oeconomi« dienen den anderen Christen mit dem »ministerium verbi ad docendam fidem Christi et libertatem fidelium«. Diese funktionale Ausgliederung einer besonderen Gruppe relativiert in keiner Weise das »nos omnes aequaliter sacerdotes esse«. Sie verdankt sich allein dem Interesse der kirchlichen Ordnung, daß »non [...] possumus nec [...] debemus omnes publice servire et docere«. Das heißt, daß auch die höchste Steigerung der Aussagen über die Teilhabe der Christen an Christi göttlicher Vollmacht die gegebenen innerweltlichen Verhältnisse nicht umstürzt, sondern vielmehr bejaht und von dieser grundsätzlichen Bejahung her kritisiert. Nicht die funktionale Unterscheidung 96 97

WA 7,57,22–24.

Erstmals programmatisch formuliert hat Luther seine ekklesiologisch und kirchengeschichtlich umstürzende Lehre vom allgemeinen Priestertum der Gläubigen in der einige Monate vor der Freiheitsschrift entstandenen Adelsschrift (WA 6,407,9–411,7). 98 WA 7,28,13–16.

6. Der Vollzug des christlichen Lebens

313

von Amtsträgern und Laien ist das Problem, sondern die gegenwärtige Kirchenstruktur, die nicht der theologischen Grundlage entspricht, auf der sie beruhen muß. Denn die päpstliche Tyrannei überhebt sich über die Christen, als ob sie keine Christen wären, die »scientia Christianae gratiae, fidei, libertatis et totius Christi« geht zugrunde und wird durch menschliche Werke und Gesetze ersetzt. Gegen diese Verkehrung des christlichen Lebens durch die spätmittelalterliche Kirche und Frömmigkeit richtet sich der ganze erste Hauptteil der Freiheitsschrift. Luther setzt gegen diese Verkehrung seine reformatorische Erkenntnis des Zusammenhangs von Gnade, Glaube, Freiheit und Christusbeziehung: Durch die gnadenhafte Zueignung des Verheißungsworts an den Glauben und die Christusgemeinschaft wird der Mensch frei von der Sünde und vom Gesetz und der neue, innerliche Mensch konstituiert, der sich aufgrund seiner christlichen Freiheit ganz und gar in den Dienst am Nächsten stellt.

6. Der Vollzug des christlichen Lebens 6.1. Strukturen des christlichen Lebens Im zweiten Hauptteil der Freiheitsschrift99 geht es um die Strukturen des christlichen Lebens: Der erste Unterteil handelt »de operibus in genere et simul de iis, quae Christianus in proprium corpus exercet«, womit Luther das quasi naturhafte Hervorgehen der guten Werke aus dem Glauben und die Selbstdisziplinierung des alten Menschen durch den neuen meint; der zweite Unterteil handelt »de iis, quae erga proximum suum operatur«, also von der sich in guten Werken vollziehenden ethischen Praxis des Glaubenden.100 Beide Unterteile dienen der Entfaltung des Freiheitsthemas hinsichtlich des äußeren Menschen. Sie zeigen, daß die im ersten Hauptteil dargestellte christliche Freiheit zur christlichen Knechtschaft aufgrund von und aus Freiheit wird. Die Freiheit des Christenmenschen in der Beziehung zu Gott ist so sehr Freiheit, daß er frei ist, sie in den Dienst am Mitmenschen zu stellen, daß er das nicht gezwungen, sondern freiwillig tut und daß er es aus ganzen Herzen, daß er es fröhlich tut. Den zweiten Hauptteil beginnt Luther mit der Aufnahme des in der Einleitung der Freiheitsschrift genannten Themas des inneren und äußeren Menschen.101 Statt aber parallel zum ersten Hauptteil das genannte Thema in einem grundlegenden Gedankengang zu entwickeln, bedient sich Lu99

WA 7,59,24–69,11 (29,31–38,5). WA 7,64,13–15. 101 WA 7,59,24–36 (deutsche Fassung: WA 7,29,31–30,10). 100

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6. Der Vollzug des christlichen Lebens

ther eines gegnerischen Einwands, um es zu entfalten. Wenn der Glaube alles tut und allein zur Gerechtigkeit nötig ist, wozu dann noch das Gesetz und die guten Werke? Ist die Folge dieser Hochschätzung des Glaubens nicht der Verzicht auf ethische Aktivität, der Quietismus? Muß es nicht so sein, damit der Glaube seine Alleingeltung ungeschmälert behält? Stellt nicht jedes operari den Glauben in Frage? Luther hält diesen Einwand durchaus für stichhaltig. Doch nur unter der Bedingung, daß die Glaubenden bereits »penitus et perfecte interni et spirituales« sind, was aber erst mit der Auferstehung am Jüngsten Tag gegeben sein wird. Unter den Bedingungen des Lebens in dieser Welt vor dem Jüngsten Tag muß zum ersten Hauptteil der Freiheitsschrift noch ein zweiter treten, der eben dieser Existenz »in carne« gewidmet ist. Das Nebeneinander von innerem und äußerem Menschen ist ein Nebeneinander auf Zeit. Mit dem Glauben, durch den doch alles schon geschehen und vollendet ist, kommt ein Prozeß des »incipimus et proficimus« hinsichtlich der diesseitigen Existenz in Gang, der »in futura vita perficietur«. Für die Zeit vorher gilt die zweite Aussage der grundlegenden Doppelthese: »Christianum esse omnium servum et omnibus subiectum«. Obwohl der Glaube und seine wachsende Vertiefung das Zentrum christlicher Existenz sind, so drängt sich »in hac vita mortali super terram« unweigerlich die Notwendigkeit auf, erstens den eigenen Leib zu lenken und zweitens mit den Mitmenschen umzugehen (»necesse est, ut corpus suum proprium regat et cum hominibus conversetur«). An diesem Punkt beginnen die Werke, und zwar zuerst einmal als Werke des inneren Menschen gegenüber dem äußeren Menschen, dem Leib.102 Notwendig sind diese Werke, weil im Leib noch der verkehrte Wille und die Begierde vorhanden sind, die sich seiner Indienstnahme für den neuen Menschen entgegensetzen. Nur wenn der innere Mensch den Leib diszipliniert, kann er tun, was sein eigentliches Interesse ist: als im Glauben Gott gleichförmiger Mensch Gott mit Freunde und dankbar in freier Liebe dienen. Diese Disziplinierung des Leibes hat keinen irgendwie verdienstlichen Charakter. Das Movens dieser Werke ist nicht der Lohn, sondern zum einen das Streben der rein gewordenen Seele, nun ihrerseits den Leib von seinen Begierden zu reinigen, zum anderen die unumgängliche Notwendigkeit, 102

WA 7,59,37–60,38 (30,11–31,16). Gerade angesichts der reformatorischen Hauptschriften 1520 ist die bis in die neuere Forschung hinein übliche Rede vom »antiasketische[n] Zug des evangelischen Christentums« (so TRE 4,241 [Manfred Seitz], wo diese einseitige Sichtweise allerdings hinterfragt wird) problematisch. Obwohl sich die Wertung und die praktische Ausgestaltung der Askese in Luthers theologischer Entwicklung bis 1520 verschiebt, so betont er weiterhin die Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit der im neutestamentlichen Sinn verstandenen Selbstdisziplinierung.

6.1. Strukturen des christlichen Lebens

315

die der Leib selbst auferlegt. Hinsichtlich der praktischen Umsetzung der äußeren Disziplinierung des Menschen spricht Luther sich für eine Übertragung der recht verstandenen monastischen Askese auf die christliche Existenz aus: Die Tötung der Begierden (mortificatio concupiscentiarum) geschieht durch die Selbstkasteiung (castigatio), etwa durch Fasten, Wachen oder Arbeiten. Allerdings bedarf es dabei der »discretio«: Die Askese bemißt sich an ihrer Wirksamkeit hinsichtlich des angestrebten Ziels und an der Leistungsfähigkeit des Menschen und sie darf nicht mit Blick auf eine erhoffte Heilswirkung übertrieben werden. Nachdem Luther so die Werke »quae Christianus in proprium corpus exercet« dargestellt hat, behandelt er die Werke »in genere«, indem er den Zusammenhang von Glaube und christlicher Praxis thematisiert. Er illustriert die bereits mehrfach angesprochene Neubestimmung der guten Werke als selbstverständliche Folge der Erneuerung der Person durch Glauben mit den Beispielen der Werke Adams und Evas im Paradies und der Amtshandlungen eines Bischofs.103 Damit führt er den prinzipienethischen Gedankengang zur entscheidenden biblischen Begründung dieses Verständnisses der christliche Praxis weiter: zum synoptischen BaumFrucht-Wort (Mt. 7,16–18 par.).104 Dieses enthymematisch-bildhafte Wort der Bergpredigt besagt, daß die Früchte eines Baums dieselbe Qualität haben wie der Baum selbst. Luther versteht das so, daß die Qualität der »persona« bzw. »substantia« die Qualität ihrer Werke determiniert, daß also Werke nicht die Qualität einer Person ändern können. Sein Interesse gilt allein dem notwendigen Zusammenhang von Person und Werk, der für ihn durch die biblische Autorität dieses Jesusworts vollauf begründet ist. Dieses Wort anthropologisch oder psychologisch ausdeuten zu wollen oder es gar in seiner Überzeugungskraft zu problematisieren, kommt Luther nicht in den Sinn. Solange das »Daß« gesichert ist – der Glaube »dringt durch und endert den gantzen menschen«105 –, braucht das »Wie« 103 104

WA 7,61,1–25; 31,17–32,3. WA 7,61,26–38 (32,4–18). Das Baum-Frucht-Wort verwendet Luther 1519/20 im-

mer wieder, um den Zusammenhang von Rechtfertigung und christlicher Praxis zu verdeutlichen. Die neben der Freiheitsschrift schönste Formulierung findet sich in der Resolutio disputationis de fide infusa et acquisita (WA 6,95,5–19). In den Operationes in Psalmos bringt Luther das Baum-Frucht-Wort mit dem Bild vom an die Wasserbäche gepflanzten Baum (Ps. 1,3) in Verbindung und legt Ps. 1,1–3 auf das spontane Hervorgehen des Liebeshandelns aus dem Glauben aus (die wichtigsten Abschnitte, die bereits zahlreiche Motive der Freiheitsschrift und des Sermons Von den guten Werken miteinander verbinden – Unterscheidund von Innen- und Außendimension, Gesetzeshermeneutik, Selbstdisziplinierung, Liebe, christliche Freiheit, Zeremonien u.a. – finden sich in AWA 2,31,26–32,9; 34,1–7; 37,7–11; 41,6–15; 43,4–17; 44,8–17; 45,30–46,5; 47,5–13; 48,13–50,18; s. auch AWA 2,453,14–454,5 mit Anm. 71). Was von den guten Werken der arbor bona gilt, gilt umkehrt auch von den Sünden der arbor mala (AWA 2,245,15–246,8). 105 WA 7,553,34.

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6. Der Vollzug des christlichen Lebens

nicht zu interessieren. Darum führt Luther sein Argument einfach dadurch weiter, daß er für die im Baum-Frucht-Wort behauptete naturhafte Notwendigkeit zusätzlich auf die menschliche Alltagserfahrung verweist, etwa auf die Arbeit eines Handwerkers.106 Die Qualität der Person ist bestimmt durch Glaube oder Unglaube, so daß gilt: »qualis est ipse [sc. homo] in fide sive in infidelitate, tale est opus eius, bonum, si in fide, malum, si in infidelitate factum fuerit«.107

Dieser Glaube ist der Rechtfertigungs- und Heilsglaube, der die Person des Glaubenden »ex mera dei misericordia per Christum in verbo« erneuert und die »ex mera libertate«, »gratuito« und allein im Blick auf das »beneplacitum dei« geschehende christliche Praxis begründet.108 Darum gilt für das christliche Ethos – und dementsprechend für die dieses Ethos reflektierende theologische Ethik –: »Ita, qui vult bene operari non ab operando sed a credendo incipiat, quod personam bonam facit. Non enim personam bonam facit nisi fides, nec malam nisi incredulitas«.109 Luther will aber mit seiner These der Vorordnung der Person vor das Werk nicht die Werke an sich, sondern nur die falsche Meinung von den Werken infragestellen.110 Gerade die – allerdings nur vom Glauben her einsichtige – Betonung der Vorordnung der Natur des Wirkenden vor das Werk ermöglicht wahrhaft gute Werke und wahrt so das Interesse an der Praxisdimension christlicher Existenz (»opera bona [...] maxime amplectimur et docemus«). Von sich aus kann die Natur das Zutrauen zu den äußerlich so überzeugenden Werken nicht überwinden, erst recht, wenn zur »naturae pravitas« die »consuetudo« tritt. Es braucht die »fides vastatrix«, um diesen Irrtum aufzubrechen und zu beseitigen. Dementsprechend zurückhaltend muß man auch gegenüber der an sich unproblematischen und sogar guten Predigt über die Buße, Beichte und Genugtuung sein, wenn sie das Entscheidende – den Glauben – vergißt und sich anders als Jesu vorbildhafte Predigt von der Buße und dem Kommen des Gottesreichs in »deceptoriae et diabolicae [...] doctrinae« ergeht. Wie die Dialektik von Ge106

7,61,39–62,2; 32,18–22. 7,62,3 f. 7,62,9–14. 7,62,24–26. Luther weist zusätzlich auf die irrtümliche Verkehrung der Vorordnung der Person vor die Werke durch Verwechslung der Erkenntnis- mit der Seinsordnung hin, die viele täuscht, die meinen, das Innere könne durch das Äußere verändert werden (WA 7,62,27–63,7; 33,12–28). Wer so beim operari ansetzt, der ist blind und verfängt sich »in opera, leges aut doctrinas operum«. Er kann das Innere nicht verändern und merkt nicht einmal, daß er diese entscheidende Dimension menschlicher Existenz ganz aus den Augen verliert – und daß er mit diesem Anspruch, aus eigener Kraft sich selbst umzuschaffen, Gottes Majestät in Frage stellt. 110 WA 7,63,7–33; 33,29–34,11. WA WA 108 WA 109 WA 107

6.1. Strukturen des christlichen Lebens

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setz und Evangelium nach dem ersten Hauptteil der Freiheitsschrift grundlegend ist für die Rechtfertigung, so ist sie gleichermaßen grundlegend für das christliche Ethos, wie Luther den ersten Unterteil des zweiten Hauptteils abschließend ausführt.111 Beide Worte der Heiligen Schrift – nämlich die zuvor erwähnte Bußforderung Jesu als »vox legis« und seine Reich-Gottes-Ankündigung als »verbum gratiae« – müssen gepredigt werden. Dabei ist die Bekehrung »[ad] meliorem vitae rationem« durch die Bußpredigt nur der erste Schritt und weder soteriologisch noch ethisch suffizient. Gesetzespredigt ohne Gnadenpredigt demütigt nur und legt den Menschen auf sein Unvermögen fest, ohne ihm zum wahren Verständnis von Gesetz, Reue und Buße zu verhelfen. Dazu bedarf es der den Glauben hervorrufenden Gnadenpredigt. Im zweiten Unterteil des zweiten Hauptteils112 geht es um die Werke, die ein Christ seinem Nächsten gegenüber tut. Neben die Gottesbeziehung im Glauben und die Beziehung zu sich selbst in der Disziplinierung des äußeren Menschen tritt die Beziehung zu den Mitmenschen. Ja diese Beziehungsdimension ist nicht bloß eine neben den beiden anderen: der Christ lebt »omnibus hominibus in terra, immo solum aliis [...] et non sibi«.113 Daß das so zugespitzt gemeint ist, wie Luther es formuliert, zeigt der Verweis auf das Vorbild Christi, der schließlich auch nicht um seiner selbst willen gelebt hat, sondern um anderer Menschen willen, wie es der im folgenden als zweiter zentraler biblischer Bezugstext für die christliche Praxis neben Mt. 7,16–18 par. entfaltete Beginn von Phil. 2 vor Augen stellt.114 Die Christus folgende Selbsthingabe im Dienst am Nächsten ist die Erfüllung der lex Christi, die das Aufsichnehmen der Lasten des Mitmenschen und den in der Liebe wirksamen Glauben fordert (Gal. 5,6; 6,2):115 »Ecce haec est vere Christiana vita, hic vere fides efficax est per dilectionem, hoc est, cum gaudio et dilectione prodit in opus servitutis liberrimae, qua alteri gratis et sponte servit, ipsa abunde satura fidei suae plenitudine et opulentia«.116

111

7,63,34–64,12; 34,11–22. 7,64,13–69,11; 34,23–38,5. 7,64,16 f. 7,64,22. Zur christologischen Begründung der Ethik 1519/20: D. Vorländer: Deus incarnatus. Die Zweinaturenchristologie Luthers bis 1521, 1974, 199–208. 115 WA 7,64,33–35. 116 WA 7,64,34–37. Die auf die einleitende Doppelthese bezugnehmende Formulierung »opus servitutis liberrimae« macht die ganze innere Spannung der christlichen Existenz besser deutlich als die dadurch interpretierte traditionelle Unterscheidung von Glaube und Liebe in Gal. 5,6. WA WA 113 WA 114 WA 112

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6. Der Vollzug des christlichen Lebens

Das christliche Leben ist nicht nur die im Wort gründende Christusgemeinschaft des Glaubens, die den inneren Menschen vor Gott gerecht macht, ihm alle Güter Christi schenkt und ihn in geistlicher Weise zum König und Priester macht, sondern auch die sich mit gleichsam naturhafter Notwendigkeit aus dem Glauben ergebende Christusgemeinschaft der Liebe, durch die der äußere Mensch der heilvollen Zuwendung Christi zu ihm entspricht, indem er sich dem Nächsten willig zuwendet. Als biblische Begründung dafür führt Luther die regula des christlichen Lebens an, wie sie Phil. 2,1–4 enthält, daß nämlich aufgrund der »consolatio Christi«, des »solatium charitatis« und der »societas spiritus« (Phil. 2,1), die der an Christus Glaubende empfangen hat, »omnia opera nostra ad aliorum comoditatem ordinentur, cum per fidem quisque suam sic abundet, ut omnia alia opera totaque vita ei superfluant, quibus proximo spontanea benevolentia serviat et benefaciat«.117

Auf den ersten Blick scheint Luthers Einleitungsformulierung für diesen Satz (»Hic clare videmus, Vitam Christianorum ab Apostolo in hanc regulam esse positam .. .«) dem bisherigen Duktus der Freiheitsschrift zu widersprechen. War nicht von der Freiheit vom Gesetz und der inneren Notwendigkeit des Hervorgehens der guten Werke aus dem Glauben die Rede? Kann dann mit der dem christlichen Leben gegebenen regula eine auch für den neuen, inneren Menschen gültige präskriptive Normierung gemeint sein, wie der oben zitierte Satz eine ist? Diese Frage stellt sich hinsichtlich einiger Formulierungen im zweiten Hauptteil der Freiheitsschrift, etwa wenn vom beneplacitum dei,118 der necessitas oder commoditas proximi,119 der regula Apostoli120 oder der lex Christi121 die Rede ist oder wenn Luther durchweg darauf hinweist, daß die Spontaneität der Praxis aus dem Glauben erkenntnisgeleitet ist und bewußt und gezielt geschieht. Es ist notwendig, sich diese für das Verständnis von Luthers Ethik wichtige Dialektik von Gesetzesfreiheit einerseits und Orientierung an präskriptiven Normierungen andererseits bewußt zu machen. Weil die Freiheitsschrift selbst diese Dialektik nicht entfaltet, kann man sich die wichtigsten Punkte anhand von Luthers Galaterbriefkommentar von 1519 kurz verdeutlichen.122 In Christus ist das Gesetz – das im umfassenden Sinn als Zere117

7,65,6–9. 7,60,19–29; 62,14; 65,36; 66,3. 7,65,5–7; 66,4 f. 7,65,6 (ähnlich: WA 7,64,27). 7,64,33 f. 122 Das Gesetz ist eines der bestimmenden Themen des Galaterbriefkommentars von 1519 (vor allem in der Auslegung von Gal. 1,13 f.; 2,3–5; 2,11–13; 2,16; 2,19; 3,3; 3,19 f.; 3,22–25; 5,1 f.; 5,6; 5,14; 6,2). Zu Luthers Gesetzesverständnis im Galaterbriefkommentar: K. Bornkamm: Luthers Auslegungen des Galaterbriefs von 1519 und 1531, 1963, WA WA 119 WA 120 WA 121 WA 118

6.1. Strukturen des christlichen Lebens

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monial-, Judizial- und Moralgesetz verstanden wird – an sein Ende gekommen, es ist nunmehr lex impleta. Für alle zu Christus gehörenden Menschen gilt, daß sie als bereits Gerechtfertigte weder unter der die Sünde aufdeckenden Anklage und den überführten Sünder treffenden Verurteilung des Gesetzes noch unter der Forderung der Gesetzeserfüllung zur Erlangung des Heils stehen – sie sind frei vom Gesetz und den Gesetzeswerken. Aber insofern sie noch alter, äußerlicher, fleischlicher Mensch sind und als solche sich täglich als Sünder vorfinden und zum Kampf mit der Sünde herausgefordert sind,123 gilt ihnen das Gesetz weiterhin, indem es zum einen ihre Sünde aufdeckt und verurteilt und sie so auf die Rechtfertigung vorbereitet und zum anderen – »lex paedagogus noster« (Gal. 3,24) – ihnen als Leitlinie zur Selbstdisziplinierung und zum Kampf gegen die Sünde dient.124 Auch der neue Mensch hat mit dem Gesetz in seiner paränetischen Funktion zu tun. Aber für ihn hat das Gesetz seinen Zwangscharakter verloren. Als von Christus erfülltes Gesetz ist es für den vom Glauben an das Evangelium bestimmten Menschen ein Freund (amicus)125 geworden, dessen Ratschlägen für die Konkretion der christlichen Praxis er gerne und freudig folgt. Wirkte sich das Gesetz im Zusammenhang der Werkgerechtigkeit als Gericht und Verdammnis aus, so ist es im Rahmen der Glaubensgerechtigkeit eben jenes Gesetz, von dem etwa die Psalmen in hymnischer Weise reden. Die in den Augen der Glaubenden durch das Evangelium liebenswert gemachte lex ist »immaculata, fidelis, recta, electa, pura, vera, convertens animas, sapientiam praestans parvulis, laetificans corda, illuminans oculos, permanens inaeternum, iusta in omnibus«.126 Dabei ist das Gesetz als geistliche Größe zu verstehen, d.h. als die Forderung einer bestimmten inneren Ausrichtung des Menschen – es kommt auf cor, affectus, mens, conscientia, consilium, dictamen etc. an –, woraus sich die guten Werke »sua sponte« ergeben. Der freie Gehorsam entspricht dem Gesetz, gerade weil er nicht dem Zwang einer äußeren Norm folgt, sondern aus dem innerlich erneuerten ethischen Subjekt mit Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit hervorgeht. Beispiele für dieses die christliche Praxis nicht mehr normierende, sondern den freien Gehorsam unterrichtende Gesetz sind das Liebesgebot und der Dekalog.127 235–316. – Auch die Operationes in Psalmos gehen auf die Funktion des Gesetzes für den Glaubenden ein, etwa auf die neue Gesetzeshermeneutik am Beispiel der zweiten Dekalogtafel (AWA 2,43,4–17; WA 5,379,21–380,4), auf den sich zeitlich erstreckenden »Transitus [...] de lege ad gratiam, de peccato ad iustitiam, de Mose ad Christum«, angesichts dessen auch der Christ auch noch unter dem Gesetz steht (AWA 2,93,4–17), oder auf die fortdauernde Bedeutung des geistlich, d.h. vom Glauben her als in Christus erfüllt verstandenen Gesetzes als Forderung der nicht in äußeren Werke, sondern in der inneren Einstellung bestehenden Liebe (die Auslegung des Torapsalms Ps. 18/19,8–15 [hier v.a. WA 5,553,33–562,3] aus dem Sommer 1520 enthält eine umfassende Würdigung des Gesetzes, die den Aussagen des Galaterkommentars entspricht). 123 Zum »Simul [...] iustus, simul peccator« (WA 2,497,13) und der sich daraus ergebenden allmählichen und bis zum Lebensende nie abgeschlossenen Überwindung der Sünde siehe vor allem die Auslegung von Gal. 2,17 f. 124 Die Druckfassung von Luthers zweiter Galaterbriefvorlesung von 1535 spricht hier vom usus theologicus und usus civilis legis (WA 40I,479–486*). 125 WA 2,528,37; 574,36. 126 WA 5,562,35–37. 127 Neben den zahlreichen Hinweisen auf das Liebesgebot ist hier vor allem die Auslegung von Gal. 5,14 zu nennen (WA 2,575–582). Hierzu: K. Bornkamm: Luthers Aus-

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Weil die Liebe »fons omnium bonorum« ist, ist das Liebesgebot für Luther »summa, perfectio, finis omnium legum«:128 »Longum iter per praecepta, compendium habet charitas, quae facile nos omnia in omnibus erudiret«.129 Luther bezieht das ausdrücklich auch auf die lex naturae, deren zusammenfassende Forderung in der Goldenen Regel mit dem biblischen Liebesgebot der lex scripta und euangelica übereinstimmt. Die Grundforderung des Liebesgebots ist die rechte innere Haltung des Herzens, d.h. eine bestimmte »virtus«, die verstanden wird als das »praesentissimum et vivacissimum [...] quod in nobis est, ipsum videlicet pulsum vitae, hoc est affectum cordis«,130 woraus alle anderen guten Einzelwerke hervorgehen. Luthers Auslegung nutzt zwar das dem Wortlaut des Liebesgebots unterlegte herkömmliche Schema von virtus (»diliges«), obiectum (»proximum tuum«) und exemplum (»sicut teipsum«), kritisiert aber ausdrücklich den in der Auslegung seit Augustin gelehrten ordo charitatis. Ihm geht es mit der Behauptung der fortdauernden Bedeutung des im Liebesgebot zusammengefaßten Gesetzes auch für den Gerechtfertigten nicht um eine Rettung der traditionellen Gesetzesreligion vor den Konsequenzen der paulinisch-reformatorischen Rechtfertigungslehre. Vielmehr zielt er auf das richtige Verständnis der paulinischen Gesetzeskritik, die nicht eine Kritik am Gesetz als solchem, sondern eine Kritik am Mißverständnis des Gesetzes als einer vom Menschen zu erfüllenden heilsrelevanten Vorgabe ist. Luthers Bemerkung »Servare legalia non est malum, sed servire legalibus malum est«131 ist eine gleichermaßen sachgerechte und pädagogisch notwendige Entfaltung der ethischen Konsequenzen der Rechtfertigungslehre. Angesichts der Gefahren der Gesetzlichkeit einerseits und des Antinomismus andererseits – Luther war sich lange vor dem Öffentlichwerden antinomistischer Positionen innerhalb der reformatorischen Bewegung in den 1520er und 1530er Jahren dieses Problems bewußt – ist eine positive Bestimmung der Funktion des Gesetzes für den Christen unabdingbar.

Kehren wir zu Luthers Auslegung von Phil. 2 zurück, für die ja gerade charakteristisch ist, daß sie das dem Christen geltende Liebesgebot nicht in gesetzlicher Weise vorschreibt, sondern aus der Existenzgemeinschaft von Christus und Christ herleitet. Den in Phil. 2,1–4 angesprochenen Zusammenhang von empfangenem Heil und Zuwendung zum Mitmenschen entfaltet Luther ausführlicher anhand der ersten Hälfte des Philipperhymnus (Phil. 2,5–8),132 in dem es nicht um eine Darstellung der Zweinaturenlehre legungen des Galaterbriefs von 1519 und 1531, 1963, 252–270; R. Mau: Liebe als gelebte Freiheit der Christen. Luthers Auslegung von G 5,13–24 im Kommentar von 1519 (LuJ 59, 1992, 11–37). – Auf den Dekalog kommt Luther nur an wenigen Stellen und in allgemeiner Weise zu sprechen. Charakteristisch ist die Einschärfung des geistlichen Dekalogverständnisses: »opera decalogi extra gratiam erant et sunt finienda, ut succedant vera opera illius in spiritu« (WA 2,566,20–22). 128 WA 2,578,7–10. 129 WA 5,602,10–12. 130 WA 2,578,32–34. 131 WA 2,539,32 f. 132 WA 7,65,10–66,38 (35,12–36,10). Den Philipperhymnus hat Luther schon zuvor in ähnlicher Weise ausgewertet (WAB 1,284 f.; zum Sermo de duplici iustitia siehe oben 3.5.; vgl. den Briefwechsel mit Hieronymus Ochsenfart von Dungersheim, in dem Luthers neuartige christologische Deutung von Phil. 2 eine wichtige Rolle spielt [WAB 1, Nr. 230.235, WAB 2, Nr. 244]).

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geht, sondern um die Selbsterniedrigung dessen, der nichts mehr tun muß, weil er alles hat, und der dennoch dem Menschen zugute auf das verzichtet, was er hat. Und indem Christus in der Existenzgemeinschaft mit dem Glaubenden dessen Heil begründet, wird er ihm zum Vorbild für seine eigene Lebenshingabe im »servire, adiuvare et omnimodo cum proximo suo agere, sicut videt secum actum et agi a deo per Christum«.133 Christi Heilswirken und Vorbildfunktion sind damit zwar unterschieden und in eine bestimmte Ordnung gebracht, aber dennoch auf engste verschränkt. Die soteriologische und ethische Dimension der Christusgemeinschaft lassen sich nicht voneinander trennen. Ja, es geht strenggenommen nicht nur um die Nachahmung eines Vorbilds, sondern um eine Teilhabe an Christi Selbsthingabe: Der Christ wird seinem Mitmenschen gleichsam ein Christus (»Dabo itaque me quendam Christus«), die Christen sind füreinander »Christusse« (»debemus [...] unusquisque alteri Christus quidam fieri, ut simus mutuum Christi«), einer wird dem anderen zum Christus (»invicem mutuoque sumus alter alterius Christus«).134 Das Christusereignis ist keine ferne, vom Christen durch eigene Tätigkeit anzueignende Tatsache, sondern ein wirkmächtiges Geschehen, das seinerseits den Christen in sich hineinzieht und durch ihn hindurch wirkt. Nicht umsonst verweist Luther auf Gal. 2,20b, wo diese gedanklich kaum nachvollziehbare Gemeinschaft des Christen mit Christus als Geschehen des Glaubens beschrieben wird.135 Das Handeln des Christenmenschen ist nichts weniger als die Fortsetzung und Verlängerung des Christushandelns in den Alltag dieser Welt hinein. In rhetorisch durchgestalteten Sätzen faßt Luther die ethischen Konsequenzen dieser Verschränkung von Glaube und Liebe in der Christusgemeinschaft zusammen: »Ecce sic fluit ex fide charitas et gaudium in domino et ex charitate hilaris, libens, liber animus ad sponte serviendum proximo, ita ut nullam habeat rationem gratitudinis, ingratitudinis, laudis ac vituperii, lucri aut damni. Neque enim agit hoc, ut homines sibi demereatur, nec inter amicos inimicosque discernit, nec gratos nec ingratos suspicit, sed liberrime libentissime dispergit se et sua, sive ea perdat in ingratis sive mereatur. Sic enim et pater eius facit, omnibus omnia distribuens abundanter et liberrime, faciens solem suum oriri super bonos et malos, Ita filius nihil nisi gratuito gaudio, quo in deo per Christum delectatur, tantarum rerum largitore, facit et patitur«.136

Hier wird nicht nur mit der Metapher des Fließens die Selbstverständlichkeit und Freiheit der christlichen Praxis betont, sondern ihr Hervorgehen aus dem Glauben ansatzweise erklärt. Luther unterscheidet vier Schritte: 133

WA WA 135 WA 136 WA 134

7,65,34 f. 7,66,3.26 f.35. 7,65,31. 7,66,7–16 (36,3–10).

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den grundlegenden Glauben; die sich daraus ergebende Gottesbeziehung in der Liebe; die hieraus fließende innere Motivation zum willigen Dienst am Nächsten; und schließlich die sich dieser verdankende christliche Praxis.137 Doch sein Interesse gilt nicht einer psychologischen Erklärung der Entstehung der christlichen Motivation und ihrer Überführung in Einzelhandlungen,138 sondern dem inneren Zusammenhang von Glaube und Handeln und der Freiheit der Motivation und des Handelns von allen Rücksichtnahmen und Verzwecklichungen. Nicht einmal die Dankbarkeit motiviert christliches Handeln. Denn der Glaubende handelt so »liberrime libentissimeque«, wie Gott selbst seinen Geschöpfen gegenüber alles »abundanter et liberrime« schenkt. Drei biblische Beispiele139 und ein Ausblick auf das christliche Leben im weltlichen und kirchlichen Bereich140 zeigen Konkretionen der aus dem Glauben hervorfließenden Liebe. Die Freiheit im Glauben und die Unterordnung in der Liebe gelten gerade auch gegenüber der weltlichen Obrigkeit (potestas, princeps, magistratus) und innerhalb der kirchlichen Strukturen und Institutionen (papa, episcopi, collegia, monasteria, vom sacerdos geleitete Parochialgemeinde [ecclesia]). Das heißt, der Glaubende tut die 137 Eine ähnliche Viererreihe, die genauso Glaube, Liebe und gute Werke hineinanderstellt, hat Luther bereits im Sommer 1520 formuliert: »Verbum dei omnium primum est, quod sequitur fides, fidem charitas, Charitas deinde facit omne bonum opus, quia non operatur malum, immo est plenitudo legis« (WA 6,514,19–21). 138 Hinweise darauf finden sich immer wieder – etwa wenn Luther auf die Motivation guter Werke durch das Vertrauen Gott gegenüber oder die Erleuchtung und Erneuerung des Herzens durch den Glauben zu sprechen kommt (AWA 2,200,3–201,1; WA 5,459,26– 39; 460,37–461,2) –, aber er verzichtet auf die systematische Reflexion dieser in der hochund spätmittelalterlichen Moralphilosophie intensiv diskutierten Fragen. An einigen Stellen läßt er auch seine Zurückhaltung gegenüber solchen Erklärungsversuchen erkennen, etwa wenn er die »philosophia moralis« und einzelne ihrer Theorieelemente wie die synderesis oder das Zusammenwirken von bona intentio und recta ratio kritisiert (AWA 2,178,19–24; 200,3–201,1; 203,3–204,5; 242,15–243,3; 572,26–573,17; WA 5,412,31–35; 544,19–22 u.ö.). 139 Das Reinigungsopfer Marias ist für Luther Beispiel für die Freiheit des Glaubens und die freie Hingabe um des Nächsten willen (WA 7,66,39–67,6 [36,11–16]; ausführlicher würdigt Luther Maria als Vorbild der Freiheit eines Christenmenschen in seiner Ende 1520 begonnenen und im Frühjahr 1521 abgeschlossenen Magnifikat-Auslegung [WA 7,538–543.544–604]). Die unterschiedliche Reaktion des Paulus auf die Forderung der Beschneidung des Timotheus und Titus ist für Luther ein Beispiel für die Freiheit des Glaubens, die sich zum einen als Rücksichtnahme auf die Schwachen und zum anderen als Standhaftigkeit gegenüber den hartnäckigen Zeremonialisten äußern kann (WA 7,67,7–18 [36,16–19]; vgl. die ausführlichere Darlegung dieses Problems im Anhang zur lateinischen Fassung, auf die Luther in WA 7,67,17 mit »latius inferius« voraus verweist). Die Erzählung von Jesu Steuerzahlung ist für Luther ein Beispiel für die Rücksichtnahme auf die Schwachen und die Dialektik der Glaubensfreiheit, die gerade um ihrer Bewahrung willen aufgegeben werden kann (WA 7,67,19–28; 36,20–37,1). 140 WA 7,67,29–68,36 (37,1–32).

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seiner Selbstverpflichtung (professio) und seinem gegebenen Stand (status) entsprechenden Werke, aber nicht um dadurch das Heil zu gewinnen, sondern um seinen Leib zu disziplinieren und seinen Mitmenschen aus freier Liebe zu Willen zu sein. Luther setzt also die Wirklichkeit der kirchlichen und weltlichen Institutionen voraus und befindet, daß ein Christ Glaube und Liebe sehr wohl innerhalb dieser Gegebenheiten leben kann, sofern er sich von ihrer Verzwecklichung zum Heilserwerb fernhält. Das reichhaltige Leben spätmittelalterlicher Frömmigkeit wird nicht als solches angegriffen, ja, Luther sieht die Bedingung und Verwirklichung christlicher Freiheit gar nicht in der Beseitigung der spätmittelalterlichen Gegebenheiten von Kirche und Welt, sondern in deren christlicher Durchdringung und Erneuerung. Deshalb ist diese grundsätzliche Bestätigung wie in den Jahren zuvor schon mit einer hier nur auf den kirchlichen Bereich bezogenen Kritik verbunden. Denn wo die Heilsrelevanz menschlichen Handelns behauptet wird, da ist die Kirche nicht, wo aber menschliches Handeln zur Selbstdisziplinierung und zum Dienst am Nächsten gepredigt wird, da ist sie. Und Luther scheut sich nicht, seiner Furcht Ausdruck zu geben, daß all die »collegia, monasteria, altaria, officia Ecclesiastica«, die »ieiunia et preculae peculiares de certis sanctis« angesichts ihrer soteriologischen Verzwecklichung letztlich nicht christlich sind.141 Bei den Frömmigkeitswerken wie dem Fasten, Beten oder Stiften kommt es nicht auf diese Werke als solche an, sondern auf das Wachstum im Glauben durch stete Übung in Tun und Leiden: »Sic enim eris vere bonus et Christianus«.142 Die hier skizzierten Gedanken entfaltet Luther im Anhang zur lateinischen Fassung der Freiheitsschrift und in anderen Schriften des Jahres 1520 weiter.143 Der Leitbegriff dieser Erörterungen zum innerweltlichen Ort des Lebens aus dem Glauben ist ceremonia, was sowohl die kirchlichen als auch die weltlichen Gegebenheiten und Vollzüge, in denen sich der Mensch vorfindet und durch die er seinen Lebensalltag gestaltet, meint. Hinsichtlich der ceremoniae gilt, »Quod hanc vitam sine ceremoniis agi est impossibile«.144 Das gilt, weil sich die leibliche Existenz inmit141 142

WA 7,68,19–21. WA 7,68,34.

143 Die Quellen für das Folgende sind der im Frühjahr entstandene Exkurs De fide et operibus zu Ps. 13/14,1 in den Operationes in Psalmos (WA 5,401,5–407,32), die im selben Zeitraum niedergeschriebene Auslegung des ersten Dekaloggebots in Von den guten Werken (WA 6,213,15–215,12), die im Sommer verfaßten Conclusiones XVI de fide et ceremoniis (WA 6,379 f.) und der Anhang zur lateinischen Fassung der Freiheitsschrift (WA 7,69,24–73,15). Die Grundgedanken finden sich in ähnlicher Weise in allen genannten Texten, weshalb im Folgenden nur eine Auswahl an Quellenbelegen gegeben wird. 144 WA 5,401,22. Das Folgende bezieht sich auf WA 5,401,23–403,9.

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ten der zeitlichen Dinge in unterschiedlichen Werken, Orten, Ämtern, Zeiten, Personen und anderen Dingen verwirklicht und weil ohne Respektierung und Eingliederung in diese äußeren Strukturen der »ceremoniae prophanae seu ritus politici et saeculariorum rerum iura sive consuetudines« kein »imperium, regnum, principatus, magistratus aut ulla denique administratio mundi«, kein Hauswesen, keine Familie, ja nicht einmal das leibliche Leben des Menschen Bestand haben kann. Auch die göttlichen Gebote und das Evangelium fordern äußere Werke. Beten, Fasten, Wachen, Handarbeit oder Beistand für den Mitmenschen sind nichts anderes als solche »ceremoniae«. Während Luther aber die Notwendigkeit der weltlichen Zeremonien einschärft, warnt er nachdrücklich vor dem Mißverständnis der kirchlichen Zeremonien als heilsrelevanter äußerer Vollzüge: Dadurch wird der im Gottesverhältnis allein relevante Glaube gefährdet. Gegenüber den kirchlichen Vollzügen ist der Glaube frei, das zu praktizieren, was zur Disziplinierung des äußeren Menschen und zum Wachstum des inneren notwendig und nützlich ist – und das ist für Luther sehr viel mehr, als seine Warnung vor den Zeremonien erwarten ließe.145 Aber nicht nur ihre Gegebenheit und ihre Funktion für die Selbstdisziplinierung begründet die Einordnung des Glaubenden in die innerweltlichen Strukturen, sondern auch die Beziehung zum Nächsten. Auch wenn der Christ vielleicht hinsichtlich seiner selbst dieser Zeremonien nicht bedarf und weiß, daß »sub Christo omnia possidente libera licitaque sunt omnia, quae in caelo, terra, mari sunt«,146 so bedürfen andere ihrer, vor allem diejenigen, die für das administrare der Welt Verantwortung übernehmen, sowie die Heranwachsenden und Schwachen. Ihnen beiden ist der Christ schuldig, »ut sese moribus eorum attemperet, cum quibus vivit, immo non solum attemperet, sed etiam per haec serviat eis, ne stulta fiducia sua infirmos aut saecularem politiam contemnat et sic utrosque scandaliset, quod est contra charitatem«.147

Und der Christ hat sich nicht nur in freier Liebe in die innerweltlichen Gegebenheiten einzuordnen, sondern auch gegen das zweifache Mißverständnis der Zeremonien anzugehen. So wie er selbst den Zeremonien keine Heilsfunktion zuschreiben darf, muß er im Interesse der Heran145 So kann Luther im Sommer 1520 – wohl mit Blick auf uns nicht näher bekannte beginnende Auseinandersetzungen um die Aufweichung der Disziplin in Kleriker- oder Mönchskreisen unter dem Einfluß der beginnenden reformatorischen Bewegung – einschärfen: »Non ergo recte faciunt, qui nolunt horas canonicas orare aut statuta hominum servare pretextu operum gratie sive fidei et christianae libertatis. [...] Sed recte faciunt, qui nolunt male orare aut statuta hominum male servare pretextu cuiuscunque mandati hominum, cum extra fidem omnia mala fiant« (WA 6,380,20–24). 146 AWA 2,503,29 f. 147 WA 5,402,36–39.

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wachsenden und Schwachen gegen die Zeremonialisten (ceremoniistae)148 – gemeint sind die Vertreter der geltenden Kirchenlehre und vor allem des Kirchenrechts – und ihr soteriologisches Mißverständnis der Zeremonien vorgehen. Die Heranwachsenden und Schwachen sind dabei zu schonen – ihnen dienen die Zeremonien zur allmählichen Stärkung des Glaubens und sie überwinden sie durch die wachsende Glaubenseinsicht von selbst. Die Prediger der Gesetzes- und Werkgerechtigkeit dagegen müssen offen angegriffen werden. Auf der anderen Seite muß das rechte Verständnis der Zeremonien aber auch gegen ihre quietistisch-libertinistischen Verächter offensiv vertreten werden.149 Luther unterscheidet in der Zeremonienfrage also unterschiedliche Personengruppen. Das mehrfach von ihm verwendete Viererschema wird nicht ganz einheitlich gefüllt:150 Es gibt die Glaubenden, die sich – obwohl ihnen das Gesetz nicht gilt – aus freier Liebe und ohne soteriologische Funktionalisierung in die Gegebenheiten und Vollzüge von Welt und Kirche einfügen, deren Mißverständnis aber offen kritisieren; diesem Mißverständnis unterliegen die beiden Personengruppen, für die die Zeremonien soteriologische Relevanz haben, indem sie die Praxis der äußeren Werke entweder für heilsnotwendig halten oder sie für heilsirrelevant oder gar heilsgefährdend erklären, also die Zeremonialisten und Libertinisten; von den Zeremonialisten zu unterscheiden ist die vierte Personengruppe der Heranwachsenden und Schwachen, die der Zeremonien noch bedürfen und die allmählich an deren richtiges Verständnis heranzuführen sind. Luther weiß also um die sich bei jedem Menschen im Laufe seiner persönlichen Entwicklung ergebende allmähliche Ablösung von der Bindung an das Gesetz und um das Hineinwachsen in die Spontaneität christlicher Freiheit, weshalb man den theologischen Gegensatz von Gesetz und Freiheit nicht ohne Weiteres zu einer paränetisch-seelsorgerlichen Leitlinie machen darf. Ja, in gewisser Weise zählen auch die 148 149

WA 7,70,29.

Angesichts der im Laufe des Jahres 1520 immer wieder geäußerten Kritik an der rechtfertigungstheologisch begründeten Geringschätzung der Zeremonien und äußeren Werke – »omnia esse neutralia et indifferentia et licita, solamque fidem iustificare« (WA 5,403,33 f.) – stellt sich die Frage nach dem Hintergrund von Luthers Aussagen. Sie haben zum einen theologisch-exegetische Gründe, Luther selbst verweist immer wieder auf Röm. 14 oder den 1. Korintherbrief und wird wohl auch die im Laufe der Kirchengeschichte immer wieder auftretenden, von ihm später als »schwärmerisch« bezeichneten libertinistisch-quietistisch-antinomistischen Positionen im Blick haben. Zum anderen scheint Luther die in seinem Verständnis christlicher Freiheit liegenden Mißverständnisse, die bald mit der Ausbreitung der reformatorischen Bewegung von den Gegnern, aber auch von einigen Anhängern als genuin reformatorisch behauptet werden, vorausgesehen zu haben, weshalb er sich 1520 mehrfach gegen diese Fehldeutung seiner Theologie verwahrt. 150 WA 5,403,10–407,32; WA 6,213,15–214,11; WA 7,69,24–72,14.

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6. Der Vollzug des christlichen Lebens

Christen, die zur Freiheit vom Gesetz und zur Spontaneität der guten Werke gelangt sind, zur vierten Gruppe. Denn sie brauchen als noch immer von der Sünde gezeichnete Menschen die äußeren Ordnungen von Welt und Kirche zur Selbstdiszplinierung und als Hilfe zur Überwindung der Sünde. Und in gewisser Weise sind zur vierten Gruppen auch die Bösen zu zählen, die ständig zur Sünde neigen, denen darum die Freiheit vom Gesetz selbstverständlich ebenfalls nicht gilt und die mit geistlichen und weltlichen Gesetzen gezwungen werden müssen. Mit diesen weiteren Ausführungen zu den im zweiten Hauptteil der Freiheitsschrift nur kurz angesprochenen innerweltlichen Gegebenheiten des Lebens aus dem Glauben in der Liebe macht Luther die positive Funktion des Gesetzes auch für den Christen deutlich und zeigt, daß christliche Existenz gerade als solche ihren eigentlichen Ort in der Welt hat. Allerdings fehlt diesen Ausführungen bei aller grundsätzlichen Klarheit die Konkretion hinsichtlich der einzelnen Gegebenheiten und Vollzüge des christlichen Lebens in der Welt. Die 1520er Jahre werden für Luther die Zeit der allmählichen Entdeckung und Durchdringung der innerweltlichen Dimension christlichen Lebens in all ihrer Vielfalt und Komplexität. Hier gilt dasselbe, was sich hinsichtlich des Vergleichs von Luthers Galaterbriefkommentar von 1519 und der Galaterbriefvorlesung von 1531 und ihrer Druckbearbeitung von 1535 sagen läßt: Er hat zu Beginn der 1520er Jahre »in der Strenge seiner Konzentration auf den Geschehensbereich der Rechtfertigung an einer Entfaltung der Inhalte der bürgerlichen Gerechtigkeit kein besonderes Interesse. Obwohl Luther die scheinbar äußeren, alltäglichen Werke im Gegensatz zu rituellen Forderungen auf höchste als Erfüllung des Liebesgebotes preisen kann, ist der Gesamtkomplex der iustitia civilis noch nicht in aller Breite so ununterscheidbar mit dem Leben in der Liebe, die in der Freiheit des Evangeliums besteht, gleichgesetzt, wie es in seinem Denkansatz bereits gegeben wäre«.151 Luthers Thematisierung der innerweltlichen Gegebenheiten als Ort des christlichen Lebens weist bereits auf die sich in den Folgejahren ergebende Verdichtung und Systematisierung dieses Gedankenkomplexes voraus. Doch 1519/20 deuten sich die später leitenden Begriffe und Schemata erst an. Es finden sich Hinweise auf die aus der Tradition ererbte Drei-Stände-Leh151

K. Bornkamm: Luthers Auslegungen des Galaterbriefs von 1519 und 1531, 1963, 315. Die Problematisierung dieser – anders als in der Galaterbriefvorlesung von 1531 – primär rechtfertigungs- und nicht schöpfungstheologisch entfalteten Ethik, wie sie K. Bornkamm vornimmt (aaO 331–360), veranschlagt allerdings die bereits 1519/20 vorhandenen Ansätze und expliziten Aussagen zum »Handeln des Glaubenden« als »Erfüllen der weltlichen Ordnungen, in die er gestellt ist« (358), zu gering und scheint hier nicht nur eine andere Akzentsetzung, sondern einen sachlichen Unterschied zu sehen.

6.1. Strukturen des christlichen Lebens

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re,152 Ansätze zur Würdigung des Berufs153 und Aussagen, die in die Vorgeschichte von Luthers Unterscheidung zweier Regimente und Reiche gehören.154 Hinsichtlich dieser drei für Luthers Theologie in der Folgezeit zentralen Konzepte gilt, daß sie der Sache nach in den Schriften der Jahre 1519/20 angelegt, aber noch nicht ausgearbeitet und terminologisch und sachlich verfestigt sind. Es bedarf der Herausforderungen von außen und der Notwendigkeit der Popularisierung und Pädagogisierung, daß Luther aufgrund seiner 1519/20 vorliegenden ethischen Grundanschauungen die für seine ethischen Konkretionen charakteristischen Formeln und Aussagezusammenhänge entwickelt. Unter diesen Grundanschauungen ist die 152 Der Sermon von dem heiligen hochwürdigen Sakrament der Taufe von 1519 wurde bereits im Zusammenhang der ethischen Konkretionen von Luthers Frühtheologie behandelt (4.2.). Das oben zur Einordnung in die kirchlichen und weltlichen Strukturen aus der Freiheitsschrift Referierte sowie die Aussagen zum vierten Dekaloggebot aus dem Sermon Von den guten Werken weiter unten zeigen, daß die ständisch gegliederte Welt und deren ideelle Repräsentation in der Drei-Stände-Lehre von Luther als selbstverständlich vorausgesetzt werden. 153 Die Predigt über Joh. 21,22 vom 27. Dezember 1519 (WA 9,443*) schärft ein, daß jeder in seiner vocatio – als Priester, Ehemann, Diener, Obrigkeit, Bauer, Handwerker – Gott und dem Nächsten dienen soll. Wer das legitimum officium suae vocationis leistet, tut damit nicht weniger als mit seinen Frömmigkeitswerken, ja diese bedürfen des Berufsgehorsams zu ihrer Voraussetzung. Vergleichbare Aussagen konnte Luther auch schon zuvor in seiner Dekalogauslegung machen (z.B. WA 1,451,17–26). 154 Die These von Wilhelm Maurer (Schöpfungswerk und Erlösungswerk in besonderer Beziehung zur Auslegung des Magnifikat, in: W. Maurer: Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1949, 81–166, hier 126 f.), daß der »Unterschied zwischen den beiden Reichen [...] eigentlich schon mit der Unterscheidung zwischen opus dei factum et actum gegeben« ist, also mit der Unterscheidung des Wirkens Gottes durch kreatürliche Mittelursachen von seinem geistlichen Wirken durch Wort und Sakrament, der die »Operationes von Anfang bis zum Ende von dem Unterschied der beiden Reiche bestimmt« sein läßt, weist auf eine der theologischen Grundunterscheidungen Luthers hin, aus der sich später die Unterscheidung der beiden Reiche und Regimente entwickeln wird, kann und will aber keine traditionsgeschichtliche Herleitung dieser späteren Unterscheidung bieten. Dafür kämen eher einige andere Passagen der Operationes in Psalmos (etwa die Unterscheidung zweier regna bzw. munera in der Auslegung von Ps. 9[a]/9,5 [AWA 2,522,13–523,10]) sowie die 1519 erschienene Vaterunser-Auslegung (mit ihrer Unterscheidung des Teufels- und Gottesreichs in der Auslegung der zweiten Bitte [WA 2,96,16–98,2]) und die im Folgejahr erschienene Adelsschrift (die zwar aus argumentationsstrategischen Gründen nicht die funktionale Unterscheidung von Kirche und Obrigkeit und das Gegenüber von geistlich und weltlich betont, aber doch aus dem Gedanken des allgemeinen Priestertums die Idee des einen corpus christianum entwickelt, innerhalb dessen es unterschiedliche »Ämter« und »Werke« gibt, wobei die obrigkeitlichen Eingriffsrechte in die Kirche durch die Rückführung auf die Verantwortlichkeit als Glied der Kirche beschränkt werden) in Frage. Mit der Adelsschrift vergleichbare Bestimmungen des Verhältnisses von Papstkirche und weltlicher Obrigkeit mit Hilfe der Unterscheidung von Geistlichem und Weltlichem finden sich in der Auseinandersetzung mit dem Papsttum 1519/20 mehrfach (z.B. WA 2,216–225). Die Unterscheidung der »Reiche« wird in diesen frühen Texten teils im Sinne eines Dualismus, teils im Sinne einer Unterscheidung von Bereichen, in denen sich dieselbe Person bewegt, verstanden.

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6. Der Vollzug des christlichen Lebens

anthropologische Grundunterscheidung der Freiheitsschrift mit ihrer Zusammenfassung und der Formel Glaube und Liebe von besonderer Wichtigkeit. Letztlich gründen die drei genannten Konzepte in dieser kategorialen Unterscheidung von göttlichem und menschlichem Handeln. Der Abschluß des zweiten Unterteils des zweiten Hauptteils der Freiheitsschrift155 akzentuiert die Christusgemeinschaft des Glaubenden noch in anderer Hinsicht, indem Luther den fröhlichen Wechsel und die existentielle Gemeinschaft zwischen Christus und Christ sich zwischen Christ und Mitmensch wiederholen sieht. Der Christ begibt sich in die Situation seines Mitmenschen (»proximum suum induat«) und handelt – gemäß der Goldenen Regel – an ihm, wie er an sich selbst gehandelt haben will. Das geht so weit, daß der Gerechtfertigte seine Gerechtigkeit vor Gott dazu gebraucht, die Sünde des Mitmenschen zu bedecken und für sie um Vergebung zu bitten. Der fröhliche Wechsel zwischen Christus und der Seele im Glauben wiederholt sich gewissermaßen zwischen dem Christen und seinem Mitmenschen in der Liebe, und er ist damit die Erfüllung des Liebesgebots: »Haec est enim vera charitas synceraque Christianae vitae regula. Ibi autem vera et syncera est, ubi vera et syncera fides est. Hinc Apostolus 1. Cor. 13[,5]. Charitati tribuit, quod non quaerit quae sua sunt«.156

Die lateinische und deutsche Fassung des Freiheitstraktats schließen mit einer variierenden Wiederholung der Doppelthese vom Beginn.157 Der Christenmensch lebt nicht in sich selbst, sondern durch den Glauben in Christus und durch die Liebe im Nächsten. Der Glaube ist das Weggerissenwerden158 des Menschen über sich hinaus in Gott hinein, die Liebe ist 155

WA 7,69,1–11 (37,32–38,5). WA 7,69,8–11. 157 WA 7,69,12–23 (38,6–15). Dieser Abschluß erinnert an den Abschluß des Exkurses zu Ps. 13/14,1 in den Operationes in Psalmos (WA 5,407,33–408,13), wo Luther ausführt, 156

daß hinsichtlich der christlichen Praxis aufgrund des Glaubens der Christ keinen kirchlichen Instanzen verpflichtet ist, sondern er sich selbst Papst und Kirche ist (WA 5,407,35 f.). Die christliche Existenz ist durch Glaube und Liebe zweifach bestimmt: »omnia sunt libera nobis per fidem et tamen omnia serva per charitatem, ut simul stet servitus libertatis et libertas servitutis« (WA 5,407,42–408,2). Diese Doppelrelation ist christologisch umfangen. Denn im Anschluß an Joh. 10,9 gilt: »Ingressus in Christum est fides, quae nos colligit in divitias iustitiae dei, qua deo iam satisfacientes iusti sumus, nullorum operum egentes ad iusticiam parandam. Egressus autem est charitas, quae nos iusticia dei indutos distribuit in obsequi proximi et exercitium proprii corporis ad succurendum alienae paupertati, ut et ipsi per nos attracti nobiscum ingrediantur in Christum. Sicut enim Christus exivit a deo et attraxit nos, nihil quaerens in omni vita sua quod suum esset, sed quod nostrum, Ita ubi fide ingressi fuerimus, et nos exire oportet, attracturi et alios, nihil quaerentes, nisi ut omnibus servientes multos salvemus nobiscum« (WA 5,408,4–13). 158 Der aus der mystischen Theologie stammende Begriff »raptus« meint hier nicht

6.1. Strukturen des christlichen Lebens

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das Sichergeben des Glaubenden in den Dienst des Nächsten, wobei der Christ stets in Gottes Liebe bleibt:159 »Concludimus itaque, Christianum hominem non vivere in seipso, sed in Christo et proximo suo, aut Christianum non esse, in Christo per fidem, in proximo per charitatem: per fidem sursum rapitur supra se in deum, rursum per charitatem labitur infra se in proximum, manens tamen semper in deo et charitate eius«.160

Der Abschlußsatz betont das, was Luther in der Freiheitsschrift besonders wichtig ist: der erste Hauptteil mit seinen für das christliche Leben grundlegenden Ausführungen über die christliche Freiheit, die die Freiheit von den in der Sünde zusammengefassten Unheilsmächten und vom Gesetz ist, das diesen Unheilsmächten Gewalt über den Menschen verleiht. Das Zitat von 1. Tim. 1,9 unterstreicht diese gesetzeskritische Akzentuierung noch einmal: »›Lex iusto non est posita‹«.161 Luther läßt mit diesem Satz seine inhaltlichen Ausführungen über die christliche Freiheit ausklingen und fügt nur noch eine Hinführung zum Gebet an, weil die Erkenntnis und Bewahrung der christlichen Freiheit letztlich nicht Sache des Menschen, sondern ein Geschenk Christi sind. Schon damit bricht Luther einem möglichen antinomistischen oder libertinistischen Mißverständnis der Gesetzesfreiheit die Spitze ab – sie ist nicht etwas, was der Christ für sich beanspruchen kann, sondern Geschenk Gottes. Und daß hier eigentlich kein Mißverständnis möglich ist, gilt erst recht, wenn man die knappen Ausführungen zum Schluß des zweiten Hauptteils und den folgenden Anhang als Umrahmung dieser thetischen Zuspitzung der Freiheitsschrift nicht aus dem Auge verliert. Sie zeigen, daß es Luther nicht um eine Kritik des Gesetzes, sondern der das Gesetz mißbrauchenden menschlichen Eigengerechtigkeit geht. Gesetzesfreiheit einerseits und Unterweisung zu guten Werken anhand des Gesetzes andererseits stehen nicht im Widerspruch zueinander.

eine besondere Art der Gotteserkenntnis, sondern ist die bildhafte Beschreibung des Glaubens als eines machtvollen Veränderungsgeschehens. Die mystische Sprache dient hier wie auch sonst in der Freiheitsschrift der Verdeutlichung der reformatorischen Theologie. 159 Das Selbstverhältnis des Glaubenden ist dieser summierenden Formulierung zufolge nicht konstitutiv für das Christsein. 160 WA 7,69,12–16. Der folgende Hinweis auf das Himmelsleitermotiv in Joh. 1,51 will wohl die Doppelbewegung der christlichen Existenz auf Gott hin und von Gott her verdeutlichen (zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund und den unterschiedlichen Auslegungsmöglichkeiten s.o. S. 25, Anm. 41; zum Himmelsleitermotiv in Luthers Theologie um 1520: O. Bayer: Promissio, 21989, 294–297). 161 WA 7,69,21.

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6. Der Vollzug des christlichen Lebens

6.2. Gute Werke Weil das Gesetz auch für den Glaubenden nicht einfach abgetan ist, ist die Dekalogkatechese, wie sie der Sermon Von den guten Werken enthält, für Luther die selbstverständliche Entfaltung des aus dem Glauben fließenden christlichen Lebens in der Liebe.162 Und seine zahlreichen Dekalogauslegungen von den Decem praecepta über die Predigtreihen zum Dekalog bis hin zu den Katechismen und insbesondere der Sermon Von den guten Werken gelten nicht ohne Grund seit dem 16. Jahrhundert als Schlüsseltexte von Luthers Ethik.163 Zwar hat die Forschung seit dem 19. Jahrhundert eine Verengung des Blicks auf die Dekalogauslegung zurecht kritisiert.164 Dennoch bietet Luthers Dekalogauslegung die für seine Auffassung vom christlichen Leben überaus wichtigen Konkretionen des Lebens aus dem Glauben hinsichtlich der persönlichen Frömmigkeit und – zumindest ansatzweise – hinsichtlich der Strukturen der Welt. Luthers Dekalogauslegung muß darum nach der Beschäftigung mit den Decem praecepta im zweiten Teil ein weiteres Mal zum Thema gemacht werden, damit das Ganze der 1519/20 entwickelten Konzeption seiner reformatorischen Ethik überblickt werden kann.165 Vergleicht man den Sermon Von den guten Werken mit der zwei Jahre zuvor veröffentlichten Predigtreihe über den Dekalog, so zeigen sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Zu den wichtigsten Gemeinsamkeiten zählen die rechtfertigungstheologische Rahmung des christlichen Ethos, die vom Evangelium bestimmte geistliche Hermeneutik der Dekaloggebote mit ihrer Verinnerlichung und positiven Umdeutung und Ausweitung im Sinne des Neuen Testaments sowie die in die spätmittelalterliche 162 Wegen des engen sachlichen Zusammenhangs des Sermons Von den guten Werken und der Freiheitsschrift ist es wenig hilfreich, beide einander kontrastierend gegenüberzustellen, wie es in der älteren Forschung dann und wann geschah (z.B. noch bei H. Boehmer: Der junge Luther, 71955, 254). 163 In der neueren Forschung wird der Sermon darum auch als »erste evangelische Ethik« (H. Beintker: Glauben lernen in der vollen Diesseitigkeit des Lebens, Luther 58, 1987, 13–32, 14) und sein Inhalt als die »neue Ethik« (Brecht 1,349) bezeichnet. 164 So bemerkt Karl Holl angesichts der Überschätzung des Sermons Von den guten Werken in der zeitgenössischen Forschung: »Mit Unrecht hält man den Sermon von den guten Werken bereits für den Höhepunkt von Luthers Sittlichkeitslehre. Er ist dies nur in beschränktem Maße, nur soweit es sich um die persönliche Sittlichkeit handelt« (Holl 1,2423). 165 Luthers Dekalogauslegung wird in der umfangreichen Forschungsliteratur zu Luthers Katechismen vielfach behandelt. Wegen ihrer Berücksichtigung der Decem praecepta und des Sermons Von den guten Werken sowie der zahlreichen Hinweise auf den spätmittelalterlichen Hintergrund sind zwei Beiträge der Katechismusforschung besonders hilfreich: J. Meyer: Historischer Kommentar zu Luthers Kleinem Katechismus, 1929, 151–256, und A. Peters: Kommentar zu Luthers Katechismen, Bd. 1, 1990, 51–309.

6.2. Gute Werke

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Lebenswelt hineinverflochtenen Konkretionen des christlichen Alltagslebens. Doch es gibt auch Unterschiede. Der Sermon Von den guten Werken ist knapper, einfacher, eingängiger. Das hängt nicht nur mit seiner Adressierung an ein Laienpublikum zusammen, sondern auch mit der reformatorischen Klärung von Luthers Theologie. 1520 bedarf es keiner komplizierten dialektischen Verschränkungen von Glaube und Demut, von Gnade und Selbstnegation, von Sündenbekenntnis und Vollkommenheitsstreben, von Evangelium und Gesetz mehr. Und der sich anbahnende Prozeß der Ablösung von der Papstkirche und ihren Traditionen zeigt sich im Verzicht auf die konventionelle Kasuistik der Gebotsauslegung, die sich 1518 teilweise noch – trotz aller rechtfertigungstheologischen Konzentration – im Vielerlei der zu behandelnden Einzelpunkte verlieren konnte. Das heißt aber nicht, daß der spätmittelalterliche Kontext in Luthers Dekalogauslegung der 1520er Jahre nicht überall weiterhin zu bemerken ist. Luther schöpfte lebenslang aus dem Traditionsstrom der Dekalogauslegung und richtete seine Paränese an den lebensweltlichen Zusammenhängen seiner Umwelt aus. Der Widmungsempfänger des Sermons Von den guten Werken – der sächsische Herzog Johann, Bruder und Mitregent des Kurfürsten – las diese seelsorgerliche Schrift Luthers erst einmal wohl kaum anders als die zahlreiche übrige Erbauungsliteratur des späten Mittelalters: Das Drängen auf gute Werke, die Einschärfung der Innendimension christlichen Lebens, die Darstellung des sich in einzelnen tugendhaften Akten vollziehenden christlichen Lebenswandels, die Voraussetzung der gegebenen kirchlichen und weltlichen Strukturen, all das und mehr wirkte konventionell. Aber auf den zweiten Blick konnte dem Leser klar werden, daß Luther mit dieser Schrift das herkömmliche Ideal christlichen Lebens grundlegend verändert und sich unwiderruflich vom bußtheologischen Ethos der frühen Vorlesungen und Schriften emanzipiert hatte. Schon der Titel der Schrift macht deutlich, daß sich ein zweiter Blick lohnt. Luthers Konzentration auf den Begriff der guten Werke scheint traditionell, ist aber der Sache nach umstürzend, weshalb die Titelformulierung des Sermons »bedenkenswerter [ist], als üblicherweise eingeschätzt«. Und zwar einmal, weil das eine und entscheidende gute Werk, auf das allein es ankommt, der rechtfertigende Glaube ist; und zum anderen, weil »die Konzentration auf die biblische Wendung ›gute Werke‹ [...] der wiederherzustellenden ›Einfalt‹ bei der theologischen Erfassung des Sittlichen insgesamt [entspricht], sowohl was die Frage nach dem von Gott Gebotenen (Dekalog) betrifft, als auch im Hinblick auf das konkret zu tätigende Werk anstatt der Ausrichtung auf eine Tugendlehre«.166 Im 166 G. Ebeling, Lutherstudien, Bd. 2, Teil 3, 1989, 583128. Ebeling kritisiert deshalb auch die unbedachte Rede von »Ethik« in diesem Zusammenhang (581–587).

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6. Der Vollzug des christlichen Lebens

Folgenden werden die von Luther vor Augen gestellten guten Werke, in denen sich das christliche Leben vollzieht, in vier Schritten entfaltet. Erstens ist die anhand des ersten Gebots behandelte Innendimension des christlichen Lebens, zweitens die anhand des zweiten und dritten Gebots entfaltete Frömmigkeitspraxis, drittens die im Zusammenhang des vierten Gebots thematisierte innerweltliche Verantwortung des Christen und viertens die in der Auslegung des fünften bis zehnten Gebots enthaltene Selbstdisziplinierung zu behandeln. In der Widmung an Herzog Johann167 weist Luther darauf hin, daß die guten Werke die gegenwärtig »grossist frag«168 sind. Denn hinsichtlich der mißverstandenen guten Werke geschieht Betrug und Verführung durch verfälschende »tzusetze und abbruch«.169 Durch die gesamte Schrift zieht sich Luthers Kritik am Mißverständnis der guten Werke und an der daraus folgenden Deformation und sogar Verhinderung wahrer christlicher Praxis. Das Bild, das Luther von der spätmittelalterlichen Frömmigkeit zeichnet, hat seinen Fluchtpunkt in Gott dem Schöpfer, Gesetzgeber, Retter und Richter, dessen Gnade den geforderten Gebotsgehorsam ermöglicht, der jedoch keine Gewißheit über den menschlichen Heilsstand schenkt. Dementsprechend ist das menschliche Handeln in die Pflicht genommen, durch das Zusammenwirken mit Gott mittels gnadenhaft ermöglichter satisfaktorisch-meritorischer guter Werke sich um das eigene Heil zu bemühen. Unterstützt wird der einzelne dabei durch die Kirche, die als Gnadenmittlerin, Auslegerin des göttlichen Gesetzes und Kontroll- und Sanktionsinstanz die christliche Praxis durchgängig begleitet. Die um so verstandene gute Werke bemühte Frömmigkeit ist eine gesetzliche, quantifizierende und veräußerlichte Frömmigkeit mit elitär-perfektionistischen Zügen. Zugleich geht es ihr um Verinnerlichung und Individualisierung, wozu es aber immer der äußeren Vollzüge als Sicherung und Bestätigung bedarf. Die guten Werke dieser Frömmigkeit sind Gottesdienstteilnahme, Gebet, Stiftungen, Wallfahrten, Heiligenverehrung, Ablaß, Askese, Selbstkasteiung und andere mehr. Die Polemik gegenüber dieser durchweg kritisch gewerteten Frömmigkeit bleibt im Ganzen zurückhaltend und richtet sich mehr gegen die kirchlichen Verantwortlichen als gegen die Laien. Vor allem ihnen gilt ja Luthers Sermon, und sie sollen nicht durch polemische Kontrastierungen, sondern durch den Rückgang auf das biblische Ideal christlichen Lebens und dessen Vermittlung in die Gegenwart des Jahres 1520 gewonnen werden. Gegen gegen das mittelalterliche Mißverständnis 167

WA 6,202–204. WA 6,202,23 f. 169 WA 6,203,2. 168

6.2. Gute Werke

333

der christlichen Praxis setzt Luther die reformatorische Grundeinsicht, daß für die guten Werke entscheidend ist, daß sie »alle sampt eynn einige einfeltige gute haben« müssen, »auszer der sie lauter farben, gleyssen und betrug sein«.170 Damit verneint er die Vereinzelung und qualitativ-quantitative Abstufung guter Werke. Gute Werke haben teil an der einen, einfältigen Gutheit, aus der sie hervorfließen; sie sind nicht selbst diese Gutheit und konstituieren sie nicht. Deshalb sind nicht eigentlich die guten Werke das Thema dieser Schrift, sondern der Glaube. In Luthers Sermon Von den guten Werken geht es darum, »wie wir den glauben sollen in allen guten wercken uben, brauchen und das furnehmist werck sein lassen«.171 Grundlegend dafür ist die Auslegung des ersten Gebots,172 Luther beginnt seine Argumentation mit der betonten Herausstellung des göttlichen Gebots als der auch für den Christen gültigen Leitlinie.173 Gute Werke sind allein die, die Gott geboten hat.174 Darum ist für die Qualifizierung der Werke als gut allein Gottes Gebot relevant, nicht die Werke selbst oder die menschliche Meinung und Forderung. Gottes Gebot findet sich im Dekalog, wie Jesu Antwort an den reichen Jüngling zeigt (Mt. 19,16–19), womit Luther den Dekalog als Weisung für den Christen auf Jesus selbst zurückführt. Der Gebotsgehorsam bewirkt nach Mt. 19,17–19 die Seligkeit, was so zu verstehen ist, daß der Rechtfertigungsglaube die von Gott geschenkte Erfüllung des Gotteswillens ist. Die wichtigste Forderung Gottes und damit das »erste und hochste, aller edlist gut werck« ist nach Joh. 6,28f. »der glaube in Christum«.175 Der Glaube ist keine einfach zu erbringende Leistung ohne größere Bedeutung, sondern die Gewißheit, daß Sein und Handeln des Glaubenden Gott gefallen, und ein gutes Gewissen Gott gegenüber. Voraussetzung des Gebotsgehorsams ist die Heilsgewißheit, weshalb gilt:

170

WA 6,203,3 f. WA 6,204,2 f. 172 WA 6,204–216 (WA 9,229–242). Diese Passage des Sermons von den guten Werken 171

berührt sich in der Sache und einigen Formulierungen mit dem ungefähr gleichzeitigen Exkurs zu Ps. 13/14,1 in den Operationes in Psalmos und der ein halbes Jahr später entstandenen Freiheitsschrift. Manche der Aussagen wurden schon weiter oben (5.1., 5.2.) anhand dieser anderen Quellen behandelt und werden hier im Zusammenhang der Gesamtwürdigung des Sermons von den guten Werken wiederholt. 173 WA 6,204,13–24. 174 Schon dieser erste Satz enthält eine kritische Abgrenzung gegen die mittelalterliche Zwei-Stufen-Ethik, für die der Gehorsam gegenüber dem göttlichen Gebot nur eine Mindestleistung war, die durch die freiwillige Befolgung der consilia euangelica übertroffen wurde. 175 WA 6,204,25–205,13.

334

6. Der Vollzug des christlichen Lebens

»in diesem werck mussen alle werck gan und yrer gutheit einflusz gleich wie ein lehen von ym empfangen«.176

Der Glaube als Totalbestimmtheit des Menschen macht alle seine Werke gut, was auch für die alltäglichen Verrichtungen gilt.177 Gute Werke dürfen nicht auf die kirchlichen Bußwerke von Beten, Fasten und Almosengeben (Mt. 6,1–18) eingeschränkt werden. Luther nutzt die Trias der Satisfaktionsleistungen nicht wie etwa in früheren Schriften,178 um in ihr die Gesamtheit des christlichen Lebens wiederzufinden, sondern er löst sich von diesem traditionellen Schema, das damit wieder in seinem hergebrachten Sinn verstanden wird und somit als viel zu eng kritisiert werden muß. Er wendet den Blick weg von einzelnen guten Werken hin zu deren Voraussetzung und Inbegriff. An der inneren Haltung zu Gott ist für den Menschen die Qualität seines Handelns ablesbar:179 Gut ist, was aus dem Glauben – dem »heubtwergk« – und der Zuversicht göttlichen Wohlgefallens geschieht, nicht gut, was mit mangelnder Zuversicht oder Zweifel geschieht. Der Glaube macht nicht nur alle Werke gut, sondern im Glauben werden auch alle Werke in all ihrer äußeren Unterschiedlichkeit gleich.180 Wer im Glauben lebt, braucht keine Anleitung zu guten Werken. Denn es ist ja alles, was er tut, aus dem Glauben gut. Und darin besteht die Freiheit des Glaubens. Denn der Glaube ist weder an ein Werk gebunden noch mit einem Werk unvereinbar. Es ist wie in der Ehe, in der die Ehepartner in gegenseitiger Liebe und Vertrauen handeln und alle Werke gleichen Wert haben und ungesucht und spontan zum Gefallen des anderen geschehen.181 Der Glaubende »weisz alle ding, vormag alle dingk, vormisset sich aller ding, was zu thun ist, und thuts alles frolich und frey, nit umb vil guter vordinst unnd werck zusamlen, szondern das yhm eine lust ist got alszo wolgefallen, und leuterlich umb sunst got dienet, daran benuget, das es got gefellet«.182

Diese Betonung der Spontaneität der christlichen Praxis aufgrund des Glaubens und der Nichtnotwendigkeit äußerer Anleitung ist das gegenüber der Rückbindung der christlichen Praxis an Gottes Gebote sachlich primäre Moment, wie es auch die Freiheitsschrift schwerpunktmäßig ausführt. Im Zusammenhang der Dekalogauslegung behandelt es Luther zwar, stellt dann aber doch das sachlich sekundäre Moment der Rückbin176

WA 6,204,31 f. Vgl. die Bestimmung des Glaubens als influentia generalis (s. o. S.

292).

177 178

WA 6,205,14–206,7.

S. o. S. 244, Anm. 423, S. 256. WA 6,206,8–32 180 WA 6,206,33–207,14. 181 WA 6,207,15–208,5. 182 WA 6,207,26–30. 179

6.2. Gute Werke

335

dung der christlichen Praxis an Gottes Gebote in den Vordergrund. Bevor er aber damit beginnt, weist er auf die mit der existentiellen Glaubensdimension der Praxis verbundene Dimension des Erleidens hin. Denn der Glaube ist das entscheidende Werk auch im Erdulden der Anfechtungen, die angesichts des Widerspruchs zwischen der Glaubenserwartung einerseits und der dieser widersprechenden Wirklichkeitserfahrung und des göttlichen opus alienum andererseits den Christen bedrängen.183 Dieser Glaube als existentielles Beziehungsgeschehen von »zuvorsicht, traw unnd glauben«, das eins ist mit der augustinischen Trias von Glaube, Liebe und Hoffnung, ist die Forderung des ersten Dekaloggebots und Quelle und Maß aller anderen Gebote und ihrer Werke.184 Indem Luther das Fremdgötterverbot als exklusive Glaubensbindung an den einen Gott deutet, macht er es zu einer positive Forderung. Werke gleich welcher Art ohne Glaube sind demnach als Verstoß gegen das erste Gebot Abgötterei. Und auch wenn sie mit Blick auf Gott getan werden, verstoßen sie gegen das erste Gebot, weil sie nicht aufgrund der Gottesbeziehung, sondern mit dem Interesse der Herstellung der Gottesbeziehung, gleichsam als Handelsgeschäft zwischen Gott und Mensch, getan werden.185 Dagegen machen Röm. 1,17 und 3,28 klar, daß allein der Glaube rechtfertigt und daß »der gerecht mensch [...] sein leben ausz seinem glauben« hat, weshalb all die Werke der reichen spätmittelalterlichen Frömmigkeit ohne den Glauben verworfen werden.186 Die Alternative, vor die Luther seine Leser stellt, ist aber nicht die von Glaube und Werken, sondern die der Gebotserfüllung »nur mit eusserlichen wercken« oder »mit ynnerlichem vortrawen«.187 Luther will damit nicht die äußere Praxis abwerten, aber er weist auf die für alle äußere Praxis notwendige Voraussetzung der Innendimension christlicher Existenz hin. Die Kritik an der spätmittelalterlichen Frömmigkeitspraxis richtet sich nicht gegen diese als solche, sondern gegen die Verkennung der grundlegenden Innendimension. Und das Bemühen um diese Innendimension ist für sich allein genommen bereits eine das ganze Leben ausfüllende Aufgabe, weil der Mensch stets tätig ist und darum stets gefordert ist, den Glauben »in allem leben unnd wercken zu allen tzeiten« zu üben.188 Diese Fokussierung auf die Innendimension wird auch 183 184

WA 6,208,6–209,5. WA 6,209,24–210,9. WA 6,217,32 verbindet im Rückblick auf das erste Gebot die

beiden Dreiergruppen: »glawbenn, trawen, tzuvorsicht, hoffen und lieb«. – Die Bezeichnung des ersten Dekaloggebots als »metrum« und »mensura« aller anderen Gebote findet sich auch in den Operationes in Psalmos (AWA 2,355,5–9; WA 5,395,6–10). 185 WA 6,210,10–35. 186 WA 6,211,1–36. 187 WA 6,212,1–22. 188 WA 6,212,23–213,14.

336

6. Der Vollzug des christlichen Lebens

nicht durch den Hinweis auf die geistlichen und weltlichen Gesetze sowie die Zeremonien und die durch sie geforderten guten Werke relativiert, weil diese nicht primär dem Glaubenden gelten, sondern disziplinarisch-pädagogische Funktion haben und von den Glaubenden nur mit Rücksicht auf die Schwachen als Verpflichtung auf sich genommen werden.189 Auch der Hinweis auf die täglichen Sünden – selbst wenn man die bei den Glaubenden seltenen Todsünden einbezieht – vermag die Totalbestimmtheit des Menschen durch den Glauben nicht zu relativieren. Denn der Glaube bewirkt gerade die Tilgung dieser Sünden.190 Überhaupt muß man sich klar machen, daß der Mensch mit seinen Werken Gottes Anforderungen grundsätzlich nicht gerecht wird191 und daß nur der Glaube vor Gott gilt. Die Werke sind nicht aufgrund ihrer Natur gut, sondern allein aufgrund von Gottes im Glauben ergriffener Barmherzigkeit. Und diese Barmherzigkeit ist zugesprochen im Evangeliumswort von Christi Kreuzestod und Versöhnung, das Luther zum Abschluß seiner Auslegung des ersten Dekaloggebots in Anlehnung an Röm. 5,8–10 skizziert.192 Dieser Abschluß enthält gedrängt, was der erste Unterteil des ersten Hauptteils der Freiheitsschrift ausführlicher entfaltet: Der die christliche Praxis tragende und bestimmende Glaube kommt aus dem »Evangelium von Christo« und die christliche Praxis wurzelt darum in einer bestimmten Frömmigkeitspraxis. Einer auf Christus zentrierten Frömmigkeitspraxis: »Sich, alszo mustu Christum in dich bilden und sehen, wie in ym got seine barmhertzickeit dir furhelt und anbeuttet an alle deine vorkummende vordinst, und ausz solchem bild seiner gnadenn schepffen den glauben unnd zuvorsicht der vorgebung aller deiner sund«.193

Hier weist Luther darauf hin, daß für das christliche Leben nicht nur die Momente des Glaubens, der Selbstdisziplinierung und der sich innerhalb der Welt verwirklichenden Nächstenliebe wichtig sind, sondern auch die 189 190

WA 6,213,15–215,12. WA 6,215,13–216,11. Dieser Abschnitt zeigt die Spannung von christlichem Ideal –

Luthers Forderungen haben nach wie vor einen elitären, wenn auch keinen perfektionistischen Zug und vertreten die biblische Vollkommenheitsforderung ohne Abschwächungen zugunsten der Praktikabilität – und der dahinter zurückbleibenden Praxis. Die hier im Lebensvollzug des einzelnen tagtäglich aufbrechenden Widersprüche thematisiert Luther immer wieder, indem er die Paränese seelsorgerlich einbindet und frömmigkeitspraktische Hinweise gibt. 191 Die Einsicht in das Ungenügen der Werke, die Furcht vor dem göttlichen Gericht, das Sündenbekenntnis, die Bitte um Gottes Erbarmen (»orator, non operator« soll der Christ sein [AWA 2,225,19]) und die Demut als alles Handeln begleitende Grundhaltung werden in den Operationes in Psalmos immer wieder thematisiert (AWA 2,109,16–17; 223,21–224,3; 248,1–249,7; 397,16–18; 398,12–17; WA 5,399,36–400,25). 192 WA 6,216,12–39. 193 WA 6,216,26–29.

6.2. Gute Werke

337

Verbindung all dieser Momente mit einer sich in bestimmten Formen vollziehenden religiösen Praxis. Um diese Einbettung des Handelns in die täglichen Frömmigkeitsübungen geht es in der Auslegung des zweiten und dritten Dekaloggebots.194 Zwar gehört wie in der herkömmlichen Dekalogkatechese auch für Luther der Verzicht auf abergläubische Praktiken, mißbräuchliches Schwören, Lüge, Betrug und Zauberei zu den Forderungen des zweiten Gebots,195 viel wichtiger ist ihm aber das Gotteslob als das zentrale Werk des zweiten Gebots.196 Es umfaßt den Verzicht auf Eigenlob und weltliche Ehre,197 die Anrufung Gottes in der Anfechtung198 und als größtes und schwerstes Werk das öffentliche Eintreten für die Wahrheit gegenüber der Welt und der geistlichen Obrigkeit.199 Wenn auch die aus dem Glauben hervorgehenden Werke in ihrem Verhältnis zum Glauben alle auf derselben Stufe stehen, so sind sie doch untereinander gestuft. Das Werk des zweiten Gebots – »gottis lob, ehre, namen preiszen, predigen, singen und allerley weisz erheben und groszmachen« – ist das wichtigste, weil in ihm der Glaube erfahrbar gemacht und gestärkt wird.200 Luther knüpft hier an die mittelalterliche Auslegung an, die die im ersten Gebot geforderte Herzenshaltung sich mit »tzung, stym, sprach und [...] mundt«201 äußern und bestätigen sah. Noch bleibt er der herkömmlichen Auffassung der Frömmigkeitspraxis verhaftet, indem er das Gebet weniger als Werk des zweiten denn vielmehr als Werk des dritten, der äußerlichen Handlung (opus) zugeordneten Gebots versteht.202 Sachlich berühren sich beide Aspekte je194 195

WA 6,217–229 (WA 9,242–255) und WA 6,229–250 (WA 9,255–275). WA 6,224,14–225,39. Die hier nicht ausführlicher erörterte Frage des Eids behan-

delt Luther im selben Frühjahr in den Operationes in Psalmos zu Ps. 14/15,4, wobei er ein umfassendes Schwurverbot ablehnt (WA 5,437,7–440,8). 196 WA 6,217,6–219,31. 197 WA 6,219,31–223,12. 198 WA 6,223,13–225,31. 199 WA 6,226,1–229,14. 200 WA 6,217,6–21. 201 WA 6,218,17. 202 WA 6,232,13–243,4. Diese Anleitung zum Gebet ist der mit Abstand ausführlichste Einzelabschnitt innerhalb des Sermons Von den guten Werken. Zählt man die Auslegung des zweiten Gebots noch dazu, die ja weithin auch das Thema des Gebets behandelt, wird die Wichtigkeit dieses Themas noch deutlicher. Diese Schwerpunktsetzung hat nicht nur mit der Bedeutung des Gebets für das christliche Leben zu tun, sondern verdankt sich teilweise auch der Gattung der Schrift. Als Erbauungsbuch für den Laien widmet sich der Sermon selbstverständlich besonders den Aspekten der Frömmigkeit, die der einzelne täglich praktiziert, und dazu gehört das Gebet. Auffällig im Vergleich mit späterer Erbauungsliteratur ist die noch geringe Bedeutung der Katechismus-, Liedund Bibelfrömmigkeit, für die 1520 die wichtigsten Voraussetzungen fehlen. Erst im Laufe der 1520er Jahre werden mit der NT-Übersetzung, der reformatorischen Lied-

338

6. Der Vollzug des christlichen Lebens

doch, und sie müssen in Luthers Verständnis zusammengenommen werden, wie er es selbst in den Folgejahren im Rahmen der Weiterentwicklung seiner Dekalogauslegung tut: Sich ständig an Gott zu wenden in Lob, Dank und Anrufung und das Dank- und Bittgebet für den Mitmenschen und sich selbst sind letztlich ein- und derselbe Kernvollzug christlichen Lebens.203 Die Anrufung Gottes und das Gebet haben ihren Ort nicht nur in der alltäglichen Frömmigkeitspraxis, sondern auch in den kirchlichen Vollzügen des Feiertags. Während das Mittelalter fünf opera sanctificationis des Feiertags kannte – »Sunt autem quinque facienda pro sanctificatione festi, [...] scilicet audire Missam, audire verbum dei, orare, offere secundum aliquos Et conteri de peccatis«204 – reduziert Luther in seiner Dekalogauslegung diese Reihe um das offerre und das reconciliari, weil im Gottesdienst kein Opfer und keine kultische Sühne stattfinden, und weil das reconciliari einen neuen Ort in der lebenslangen Buße hat. Im Rahmen des dritten Gebots werden folglich die drei guten Werke »mesz horen, betten, prediget horen an den heyligen tagen«205 behandelt. Diese drei gottesdienstlichen Kernvollzüge zielen als äußere Vollzüge – Luther bezeichnet diese Werke bewußt als »grob und sinlich«206 – auf die Innendimension christlicher Existenz, indem sie den Glauben durch Sakrament und Evangeliumswort begründen und stärken und einen institutionellen Rahmen für die Erfahrung und das Wachstum des Glaubens in Anrufung Gottes und Gebet bieten. Luthers Anleitung zur Frömmigkeitspraxis betont durchweg diese Verschränkung von innerem Beteiligtsein und äußeren Vorgängen. Der Glaube im Herzen einerseits und das hochgradig ritualisierte Gottesdienstgeschehen mit der Darbietung der vom Evangeliumswort erschlossenen sakramentalen Sündenvergebung und der gemeinschaftlichen dankenden und bittenden Anrufung Gottes andererseits stehen in keinem Spannungsverhältnis zueinander, sondern sind aufs engste miteinander verbunden. Darum darf man den Gottesdienst auch nicht als dichtung und den Katechismen die Medien geschaffen, die die christliche Frömmigkeitspraxis der reformatorisch-nachreformatorischen Zeit prägen werden. 203 In den Katechismen von 1529 ist die Unterscheidung der Werke des zweiten und dritten Gebots klar vollzogen. Das Anrufen des göttlichen Namens, Gebet, Lob und Dank sind dem zweiten, das Hören und Lernen der Predigt und des Gottesworts dem dritten Gebot zugeordnet. – Den umfassenden Charakter und die zentrale Bedeutung des Gebets für Luther zeigt – einschließlich der ethischen Dimension des Gebets – G. Wertelius: Oratio continua. Das Verhältnis zwischen Glaube und Gebet in der Theologie Martin Luthers, 1970. 204 WA 1,443,9 f. (s.a. A. Peters: Kommentar zu Luthers Katechismen, Bd. 1, 1990, 171). 205 WA 6,229,28–233,2. Zitat: 229,29 f. 206 WA 6,229,28.

6.2. Gute Werke

339

einfach abzuleistendes Zeremoniengefüge unterschätzen – »das man meynet es gnug geschehen, wen wir die mesz mit den augen gesehen, die prediget mit den oren gehoret, das gebet mit dem mund gesprochen haben« –, sondern dies alles dient dazu, »das wir etwas ausz der messe yns hertze entpfahen, etwas ausz der prediget lernen und behalten, etwas mit dem gebet suchen, begeren und gewarten«.207 Und das geschieht nicht primär dadurch, daß der Mensch von sich aus dem Gottesdienst etwas abzugewinnen versucht, sondern dadurch, daß Evangelium und Abendmahl den Menschen innerlich verwandeln, daß das Herz des Menschen fröhlich und »in gottis liebe« warm wird und zerschmilzt und daß der so von Gott ergriffene Mensch Gott lobt und dankt »fur solch trostlich, reich, selig testament«.208 Aus dieser Haltung heraus ist das Gebet nicht mehr eine mechanische Ableistung bestimmter Textquanten. Vielmehr soll sich der Christ »etliche anligende not furnehmen, die selben mit gantzem ernst begeren, und darinnen den glauben und zuvorsich zu got alszo uben, das wir nit dran tzweiffeln, wir werden erhoret«.209 Luthers Anleitung zum Gebet handelt nicht so sehr vom gottesdienstlichen Beten als vielmehr vom innerlichen, geistlichen Gebet, das seinen Ort sowohl innerhalb des Gottesdienstes als auch im Alltag hat und als Gespräch des Herzens mit Gott den Christen ständig begleitet.210 Dieses glaubende Gebet verlangt einerseits Erhörungsgewißheit, andererseits die Ergebung in Gottes Willen hinsichlich der Umstände der Erhörung.211 Wer den Glauben im Gebet nicht aufbringen kann, soll Gott um Glauben bitten. Denn Glaubensschwachheit ist nichts Unübliches, und sie ist sogar hilfreich, wenn sie vor Gott gebracht wird.212 Gebetsanliegen sind zum einen die eigenen Nöte und Versäumnisse, vor allem die geistliche Not, aber auch die leibliche,213 zum anderen die Fürbitte für die Christenheit und für die Not aller Menschen.214 Wer Gebetsanliegen sucht, findet im Dekalog, im Vaterunser, in der Wirklichkeit seines eigenen Lebens215 und in der Not seines Mitmenschen genügend Anlässe. Und weil allein die Fürbitte für andere ein wichtiger Teil der Selbsthingabe an den Nächsten ist, ist die Fürbitte ein nicht auszuschöpfendes gutes Werk.216 Zum Gebet 207

WA WA 209 WA 210 WA 211 WA 212 WA 213 WA 214 WA 215 WA 216 WA 208

6,230,1–6. 6,231,1–9. 6,232,14–16. 6,234,31–235,12. 6,233,3–34. 6,233,35–234,30. 6,236,5–237,32. 6,237,33–239,19. 6,240,19–241,16. 6,242,11–243,4.

340

6. Der Vollzug des christlichen Lebens

gehört neben der Bitte auch das Gotteslob, das nicht nur eine Hinwendung zu Gott, sondern auch eine Abwendung von sich selbst mit sich bringt. Die Praxis des Gebets hat Konsequenzen für das Selbst- und Weltverhältnis des Glaubenden. Denn die Forderung des Gotteslobs impliziert für Luther die Forderung, Eigenlob und Streben nach eigener Ehre zu meiden.217 Möglicherweise spricht er das Streben nach Ruhm und Ehre deshalb hier an, weil der Widmungsempfänger seine christliche Existenz im politisch-höfischen Lebenskreis führt, wo Ruhm und Ehre – legitimiert etwa durch die antike Ethik – wichtige Werte sind. An Stellen wie dieser zeigt sich, daß Luthers Auslegung das biblische Ideal christlicher Existenz durchaus konfrontativ gegenüber den Idealen seiner eigenen Zeit und Umwelt zur Geltung bringt. Ehre und Schande sind für Luther keine geeigneten Handlungsmotivationen für junge Menschen, weil damit gut und böse als entscheidende Orientierungsgrößen aus dem Blick geraten. Als Motivation (»treiben«, »treybung«) für »recht gute werck« gibt Luther fünf Punkte an: »gottis gebot, gottis furcht, gottis wolgefallen, und ihr glaube und lieb zu got«.218 Ehre und guter Name sind aber nicht an sich schlecht, man soll sich um sie bemühen, aber sie sollen der Ehre Gottes dienen. Obwohl Luther mit dieser Relativierung einen Mittelweg zwischen radikaler Selbstnegation und weltlicher Ichbezogenheit aufzeigt, verweist er darauf, daß für »Wenig unnd gantz hochgeistliche menschen« selbst die theologisch akzeptable Bemühung um den eigenen Namen nicht in Frage kommt. Dieser durch das Gottvertrauen motivierte Verzicht auf die eigene Ehre, der den Blick vom Menschen auf Gott lenken will, ist das eigentliche neutestamentliche Ideal. Zu den Auswirkungen des Gehorsams gegen das zweite Gebot auf das Weltverhältnis gehört auch die Verpflichtung, öffentlich für die Wahrheit einzutreten, dem geistlichen Mißbrauch des Gottesnamens offen zu widersprechen und sich dabei wenn nötig auch gegen die eigene Familie, die Obrigkeit und die Papstkirche zu stellen:219 »Dan das ist nit gnug, das ich fur mich selbs und in mir selbs gotlichen namen lobe und anruffe in gluck und ungluck. Ich musz erfur tretten und umb gottis ehre und namen willen auff mich laden feyntschafft aller menschen«.220 Und das ist die Aufgabe jedes Christen, »wo es die zeit und stat foddert: dan wir mussen fur den heiligen namen gottis setzen und dar geben alles, was wir haben und mugen, und mit der tat beweissen, das wir got und seinem namen, 217 218

WA 6,219,31–223,12. WA 6,221,4 f. Dieser Satz zeigt, daß für Luther die Spontaneität des Glaubens und

die Orientierung an äußeren Leitgrößen keine konkurrierenden Motivationen sind. 219 WA 6,226,1–229,14. 220 WA 6,226,3–6.

6.2. Gute Werke

341

ehre und lob uber alle ding lieben, unnd in yhn uber alle ding trawen, und guttis vorsehen, Damit zu bekennen, das wir yhn fur das hochst gut achten, umb wilchs willen wir alle ander gutter faren lassen unnd zusetzenn«.221 Dieses Eintreten für den Gottesnamen in der Welt beinhaltet zum einen den Widerstand gegen alles Unrecht, wo Wahrheit und Gerechtigkeit Gewalt geschieht, und zwar gerade gegenüber den Mächtigen und Reichen, deren Lüge und Ungerechtigkeit vielfach geduldet werden. Zum anderen geht es um den Widerspruch gegen die falsche Lehre und den Mißbrauch der geistlichen Gewalt, was letztlich auch die Bereitschaft zum Martyrium einschließt. Und indem der Mensch so für Gottes Sache vor der Welt eintritt, erfüllt er die ihm von Gott zugemutete Funktion als cooperator Dei. Gott kann wohl selbst für die Ehrung seines Namens sorgen, »ehr wil es aber nicht nit allein thun, er wil, das wir mit yhm wircken, unnd thut uns die ehre, das er mit uns und durch uns sein werck wil wircken«.222 Aber nicht nur diese aktive religiöse Praxis im Inneren, im Gottesdienst und gegenüber der Welt, sondern auch der Verzicht auf solche Aktivität, ja das Leiden sind von der ersten Dekalogtafel geforderte gute »Werke«. Luther entwickelt diesen Gedanken in der Auslegung des dritten Gebots, indem er die Frömmigkeitspraxis in Gottesdienstteilnahme und Gebet um die geistliche und leibliche Sabbatruhe als Aufhören der Eigenwerke des Menschen, als Wirkenlassen Gottes und als Überwinden des alten Menschen ergänzt.223 Diese Auslegung des dritten Gebots »nach geistlichem vorstand« stellt »noch vil ein hohers werck« vor Augen, »wilchs begreifft die gantz natur des menschen«. Denn wie »got am siebenden tag ruget und auff horet von allen seinen wercken, die er geschaffen hatte«, so sollen die Christen »den siebenden tag [...] feyren und auff horen von unsern wercken, die wir in den sechs tagen wircken«.224 Die leibliche Sabbatruhe umfaßt 221

WA 6,226,13–18. WA 6,227,29–31. 223 WA 6,243,5–247,25; 247,26–249,37. Schon die Operationes in Psalmos sprechen von 222

der »quies [...] qua Christus nos ab operibus nostris (id est, peccatis) mortuos et quiescentes ac feriatos facit, ut soli deo vivamus, ac iam non nos, sed deus operetur et regnet in nobis« (AWA 2,142,16–143,9). Ein Jahr nach Abfassung des Sermons Von den guten Werken kann Luther in einer Predigt sogar behaupten: »Der Sabbath ist das gantz Christlich leben, das es sein eygen werck nicht wurcke« (WA 9,663,38–664,1*). – Zum Motiv der Sabbatruhe: J. Kaiser: Ruhe der Seele und Siegel der Hoffnung. Die Deutungen des Sabbats in der Reformation, 1996. Kaiser zeigt auf, daß Luther im Sermon Von den guten Werken den geistlichen Sabbat zum »Sinnbild für d[as] Wirken Gottes im Menschen durch Wort und Glaube« macht. Dadurch markiert er »präzise den Ansatz einer reformatorischen Ethik im Werk des Glaubens, d.h. in dessen Wirken« und macht den Sabbat zur »Chiffre für die im Glauben entworfene Existenz gerade in ihren Alltagsbezügen und ihrer Welthaftigkeit« (45). 224 WA 6,243,5–11.

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6. Der Vollzug des christlichen Lebens

den Verzicht auf die Werktagsarbeit und den Besuch der gottesdienstlichen Versammlung zu Messe, Predigt und Gebet.225 Die geistliche Ruhe geht darüber hinaus und fordert, »das wir allein got in uns wirckenn lassen unnd wir nichts eygens wircken in allen unsern krefften«.226 Der Mensch soll im Widerspruch zu seiner Naturneigung auf die egoistisch verzwecklichte Eigenaktivität verzichten, sich um die Ausrottung aller seiner Laster und Bosheit durch strenge Selbstdisziplinierung bemühen und sich in den Widerstreit von Geist und Fleisch ergeben, damit das Aufhören seiner Eigenwerke und seiner sündigen Existenz Raum dafür schafft, daß »hynfurt (wie Paulus Gal. ij. sagt) nit wir, sonder Christus in uns lebe, wirck und rede«. Das Aufhören der eigenen Werke und das Wirken Gottes im Menschen wird von ihm selbst durch Selbstdisziplinierung und von außen her durch das Leiden bewirkt. Zur eigenen Übung gehört der Widerstand gegen das Fleisch mit stetem Gebet und die Preisgabe von recta ratio und bona voluntas:227 »Und dis ist das hochst und erst werck gottis in uns, und die beste ubung, unser werck nach zulassen, der vornunfft unnd willenn mussig gahn, feyren und sich gote befelen in allen dingen, sonderlich wen sie geistlich und wol gleissen«.228 Dazu gehört auch die Kasteiung des Fleischs durch »fasten, wachen, erbeiten«. Die ist nicht an sich ein gutes Werk, sondern es kommt auf ihre Wirkung an, weshalb sie sich nicht an der Verzichtsleistung als solcher, sondern an der dem einzelnen notwendigen Selbstüberwindung bemißt.229 Dieses eigene Bemühen um die innere Sabbatruhe in der Selbstpreisgabe an das Wirken Gottes und der Selbstkasteiung wird ergänzt durch »leyden, sterben und allerley ungluck«, die die eigentliche Heiligung des Feiertags sind, weil sie »den menschen von seinen wercken zu gottis wercken« heiligen.230 Den Glaubenden trifft Gottes fremdes Werk – Beleidigung, Beraubung, Krankheit, Ehrentzug, Tod durch die Welt und den Teufel –, durch das dieser sein eigentliches Werk bewirkt. Nicht daß diese 225 WA 6,243,21–244,2. Für Luther ist der Ruhetag der Sonntag, aber eigentlich kann jeder Tag für den Christen ein Feiertag sein. Die Beibehaltung der Unterscheidung von Werk- und Feiertagen in der Kirche geschieht »umb der unvolkommenden leyen und erbeit leuten willen, das die mugen auch zum wort gottis kommenn«. 226 WA 6,244,3–26. 227 WA 6,244,30–245,18. 228 WA 6,245,15–18. 229 WA 6,245,19–247,25. Wie später in der Freiheitsschrift kritisiert Luther auch hier die Überschätzung und Übertreibung der Selbstdisziplinierung, er warnt aber auch vor der »nachlessige[n] faulheit, den mutwillen des fleisches zu todten«, die sich frei von der Notwendigkeit zu Selbstdisziplinierung wähnt. 230 WA 6,247,26–249,37. Zur den Gottesnamen heiligenden und ehrenden Anrufung Gottes in der Not: WA 6,223,13–224,13. Zum Gebet als dem Streit mit dem Teufel: WA 6,235,13–236,4.

6.2. Gute Werke

343

Bedrängnisse als solche heilvoll sind, sondern sie provozieren den Glaubenden »zu tzorn, ungedult und unruge«, zeigen ihm so, daß er den alten Menschen noch nicht gänzlich überwunden hat. Sie helfen ihm, Gott um Abhilfe anzurufen und allmählich im Ringen mit den Bedrängnissen zu Ruhe und Frieden zu kommen. Leiden und Unfriede können so dazu beitragen, daß der Mensch angesichts der Wechselfälle des Lebens nicht mehr um sein Eigeninteresse bemüht ist, sondern sich ganz Gott anvertraut: »da lustet yhm selb nit, da betrubt yhn nichts, sondern got furet ihn selber, eitel gotliche lust, freud und frid ist da mit allen andern wercken und tugenden«. Diese Bedeutung des Leidens für die Erfüllung des zweiten und dritten Gebots läßt verstehen, warum Luther im Nichtvorhandensein von Anfechtung die gefährlichste Anfechtung erblickt231 und warum er die nicht angefochtenen Christen auf die Sünde hinweist, die mit ihrem dreifachen Angriff durch Fleisch, Welt und den bösen Geist zur Anrufung Gottes treibt.232 Für dieses »leydende[] leben in der widderwertickeit« gilt dasselbe wie für das »fridliche[] leben in den wercken«, daß es aus dem Glauben hervorgeht und den Glauben bewährt und stärkt. Die Werke der drei ersten Dekaloggebote sind darum »wie ein hubscher guldener rinck«, bei dem sich aus dem ersten Werk das zweite und dritte ergeben, die wiederum zum ersten zurückführen: »Dan das erst werck ist glauben, ein gut hertz und zuvorsicht zu got haben. Ausz dem fleust das ander gut werck, gottis namen preysen, seine gnad bekennen, yhm alle ehre geben allein. Darnach folget das drit, gottis dienst uben mit beten, predigt horen, tichten und trachten gottis wolthat, dartzu sich casteyen und sein fleisch zu zwingen. Wan nu der bosse geist solchen glauben, gottis ehre unnd gottis dienst gewar wirt, so tobet er und hebt an die vorfolgung, greifft an leyb, gut, ehre und leben, treibet auff uns kranckheit, armut, schande und sterben, das got alszo verhengt undvorordenet. Sich, da hebt sich an das ander werck oder die ander feyr des dritten gebotis, da durch wirt der glaub fast hoch vorsucht, wie das golt ym fewr [...]. Da dringet dan das leyden den glauben, das er gottis namen musz anruffen und loben in solchen leyden, und kumpt also durch das dritt gebot widderumb in des ander, unnd durch dasselb anruffen gotlichs namen und lob wechst der glaub, und kumpt in sich selb, unnd sterckt also sich selb durch die zwey werck des dritten und andern gebottis, und alszo geht er ausz in die werck unnd kumpt widder durch die werck zu sich selb«.233

Doch dieser Ring ist nicht in sich abgeschlossen, so daß der Christ sich mit dem einen guten »Werk« des Glaubens und der ihn stärkenden und erfahr231 »Ist doch auch das die ferlichst anfechtung, wen kein anfechtung da ist, und alles wol steht und zugaht, das der mensch in dem selben gottis nit vorgesse, zu frey werde und miszprauch der gluckseligen zeit. Ja hie bedarff er tzehenn mal mehr gottis namen anruffen, den in der widderwertickeit« (WA 6,223,33–36). 232 WA 6,225,10–31. 233 WA 6,249,14–33.

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6. Der Vollzug des christlichen Lebens

bar machenden Frömmigkeitswerke begnügen könnte, sondern das in den ersten drei Dekaloggeboten umschriebene Gottesverhältnis ist das Kraftzentrum der Zuwendung zum Mitmenschen, wie sie die zweite Dekalogtafel fordert. Während die Auslegung des ersten bis dritten Gebots im Sermon Von den guten Werken gegenüber den Decem praecepta inhaltlich deutlich weiterentwickelt wurde, erinnert die Auslegung des vierten bis zehnten Gebots stärker an die frühere Deutung Luthers. Dennoch zeigen sich auch hier die reformatorischen Akzente deutlicher als zuvor, und das heißt vor allem, daß die aus Glaube und Liebe sich ergebende innerweltliche Verantwortungsübernahme durch den Christen klarer zum Ausdruck gebracht wird. Das gilt besonders für die Auslegung des vierten Gebots, die nicht mehr wie 1518 an die Wittenberger Stadtgemeinde, sondern an einen Vertreter der weltlichen Obrigkeit adressiert ist und darum neben der innerfamiliären Ordnung auch die Frage thematisiert, wie ein Christ obrigkeitliche Funktionen wahrnehmen kann und soll.234 Hier kündigt sich an, was Luther in den Folgejahren in der Obrigkeitsschrift und den diese vorbereitenden Predigten und Briefen allmählich als seine neuartige politische Ethik entwickeln wird. Einerseits ist Luthers Auslegung des vierten Gebots und damit seine Vorstellung von der innerweltlichen Ordnung der spätmittelalterlichen Katechese verpflichtet, die infolge der Krisenphänomene und kirchlich-gesellschaftlichen Reformbemühungen des 14. und 15. Jahrhunderts den Patriarchalismus zu einem Strukturprinzip der Welt im Kleinen wie im Großen weiterentwickelt hatte.235 Andererseits übernimmt Luther doch nicht einfach diese reformerische Interpretation mit ihrem patriarchalen Ordnungsmuster von Welt und Kirche, sondern gibt ihr eine neue Wendung, indem er durch seine Unterscheidung der beiden Dimensionen christlicher Existenz Geistliches und Weltliches entflicht und die Welt als Ort wahrhaft christlicher Existenz aufzeigt. Doch 1520 ist diese rechtfertigungstheologisch begründete und biblisch konkretisierte ›Weltlichkeit‹ christlicher Existenz erst in Ansätzen greifbar. Nachdem die drei Gebote der ersten Dekalogtafel das christliche Leben im Gottesverhältnis entfaltet haben, lehren nun die sieben Gebote der zweiten Tafel, »wie wir uns gegen den menschen in gutten wercken uben sollen«.236 Dabei ist das erste Gebot der zweiten Tafel das wichtigste: 234 WA 6,250–265. Zu Luthers Auslegung des vierten Gebots: J. Vercruysse: Autorität und Gehorsam in Luthers Erklärungen des vierten Gebots (Gregorianum 54, 1973, 447– 476). 235 R. Bast: Honor Your Fathers: Catechisms and the Emergence of a Patriarchal Ideology in Germany 1400–1600, 1997, Kap. 1. 236 WA 6,250,30 f.

6.2. Gute Werke

345

»Ausz dissem gebot leren wir, das nach den hohen wercken der ersten drey gebot kein besser werck seinn, dan gehorsam und dienst aller der, die uns tzur ubirkeit gesetzt sein. Darumb auch ungehorsam grosser sund ist dan todschlag, unkeuscheit, stelen, betriegen, und was darinnen mag begriffen werden«.237

Mit dem Ungehorsam als der größten Sünde in den zwischenmenschlichen Beziehungen ist die Mißachtung und damit die Zerstörung der die Welt im Großen wie im Kleinen zusammenhaltenden Strukturen gemeint, angesichts derer die anderen Sünden marginal sind. Umgekehrt gilt, daß der Gehorsam als Respektierung und aktive Bejahung der von Gott gegen das Chaos gesetzten Ordnung die Basis aller innerweltlichen Beziehungen ist.238 Deshalb schärft Luther lange vor der Konfrontation mit den Problemen von religiöser Devianz und politischem Aufruhr in den 1520er und 1530er Jahren den Gehorsam als zentrale Forderung menschlichen Zusammenlebens ein. Und das heißt auch, daß sich seine Furcht vor dem innerweltlichen Chaos weniger konkreten Erfahrungen als vielmehr dem biblisch-mittelalterlichen Erbe verdankt. Luther geht es nicht um die religiöse Legitimierung autoritärer Strukturen, sondern um die Sicherung der Lebensgrundlagen. Zu diesen Lebensgrundlagen zählt zuallererst die familiäre Gemeinschaft von Eltern und Kindern.239 Das erste Werk des vierten Gebots ist das Ehren von Vater und Mutter durch die Kinder, was die umfassende äußere und innere Unterordnung im Sinne einer zugleich ehrfurchtsvollen und liebenden Beziehung (timor filialis) meint.240 Der gegenüber den Eltern geforderte Gehorsam gilt auch für die anderen Sozialbeziehungen zu Übergeordneten, in denen sich der Mensch vorfindet (»gefreundt, gefattern, padten, weltliche hern und geistliche vetter«).241 Dieser Gehorsamsforderung entspricht die Verpflichtung der Eltern zur rechten Erziehung der Kinder, was vor allem die religiöse Erziehung, aber auch das rechte Verhältnis zur Welt meint.242 Daß Luther sich hier ausführlich mit der Frage der Kindererziehung beschäftigt, verdankt sich nicht nur der Wichtigkeit dieses Themas für die Katechese – »dan furwar an dissem gebot ligt es gar, das die ersten drey und die letzten sechs werden erkent und ge237 238

WA 6,250,22–25.

Die Über- und Unterordnungsverhältnisse in der Welt sind eine notwendige Gegebenheit (»Dan es musz ein iglicher regiret unnd unterthan werden andern menschen« [WA 6,252,1 f.]), weshalb auch im Gehorsam »alle tugent und gutte werck« (WA 6,252,5) beschlossen sind. 239 WA 6,250,33–255,17. Auf das Verhältnis der Eheleute zueinander geht Luther später nur kurz ein (WA 6,264,10–15). 240 WA 6,250,33–251,15. 241 WA 6,251,32–252,1. 242 WA 6,251,17–21; 252,6–255,17.

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6. Der Vollzug des christlichen Lebens

halten, die weyl den eltern befolen ist, den kindern solchs zuleren«243 –, sondern auch dem Interesse an einer übergeordneten Fragestellung: Es geht um die Bestimmung des Verhältnisses von geistlicher und weltlicher Existenz des Christen. Und indem Luther aufzeigt, daß und wie die Eltern für die Ausgestaltung der Gottes- wie der Weltbeziehung der Kinder verantwortlich sind, handelt er davon, im Vollzug des Lebens in der Welt den christlichen Glauben tätig und leidend zu praktizieren. Denn der Dekalog als Leitlinie der Erziehung wie des christlichen Lebensvollzugs steht in Spannung, ja im Widerspruch zum Eigenwillen des Menschen und zu den weltlichen Werten.244 Nicht daß Luther »weltliche[] ehren, lust unnd gutter« als solche ablehnt – auch die opera familiaritatis wie die »hilares convictus, acute aut facete dicta, risus et iocus humaniores« gefallen Gott als im Glauben getane Werke245 –, aber sie dürfen nicht in Konkurrenz treten zu »gottis lieb, ehre unnd ewiger gutter lust«. Scharf kritisiert er die Eltern, die aus fleischlicher Liebe den Kindern ihren Willen lassen und sie rein weltlich – »Weltlich aber zihen heysz ich das, szo sie leren nicht mehr suchen, dan lust, ehre und gut odder gewalt disser welt«246 – aufwachsen lassen. Luther will nicht das Bemühen um das Lebensnotwendige oder den Überfluß an weltlichen Güter verurteilen, solange die innere Haltung des in der Welt lebenden und darum notwendig an der Welt teilhabenden Christen den ersten drei Geboten entspricht. Denn für das Erdenleben ist die Teilhabe an der Welt unumgänglich, sie ist aber nicht unproblematisch – das Weltliche wird trotz der theologisch positiv qualifizierten Weltlichkeit von Luther durchaus kritisch gesehen – und um der Meidung des Ärgernisses willen auszuhalten. Für diese distanzierte Teilnahme am Leben der Welt ist die Haltung des Herzens entscheidend, so daß der Mensch an der Welt teilhat, ohne sich ihr gemein zu machen. Wo es der elterlichen Erziehung nicht gelingt, diese Balance zwischen äußerer Teilhabe an der Welt und innerem Ausgerichtetsein auf Gott zu vermitteln und einzuüben, sind die Kinder nicht zu Gehorsam verpflichtet.247 Dagegen ist eine ihrer 243 244

WA 6,252,28–30.

In den Operationes in Psalmos zeigt sich Luthers kreuzestheologisch umakzentuierte Fortführung des mittelalterlichen contemptus-mundi-Motivs deutlicher, etwa wenn er sagt, daß der »impius conversus et in Christum mutatus pristinae vitae redditur inutilis dicens cum Apostolo Gal. 6[,14]: ›Mundus mihi crucifixus est, et ego mundo‹« (AWA 2,103,20–22). 245 WA 5,399,15–35. 246 WA 6,253,3–5. Luther unterscheidet in der äußerlich christianisierten und um die religiöse Unterweisung in Familie, Kirche und Schule bemühten spätmittelalterlichen Gesellschaft die innerlich überzeugten von den trotz des vermeintlichen Christseins letztlich der Welt verhafteten Christen. 247 WA 6,253,1–3.

6.2. Gute Werke

347

religiösen Aufgabe gerechtwerdende Familie nichts weniger als »ein rechte kirche, ein auszerwelet Closter, ja ein Paradisz«,248 indem sie die Seelen der Kinder zum Gehorsam gegen die erste Tafel anleitet und sie so zum Heil führt249 und damit gute Werke im Übermaß tut. Die Aufgabe der Eltern ist es, die Kinder zu »speysen unnd trencken mit gutten worten unnd wercken, das sie leren got trawen, glauben und furchten, und yhr hoffnung in yhn setzen, seinen namen ehren, nit schweren noch fluchen, sich casteyen mit beten, fasten, wachen, erbeytten, gotis dienst und worts warten, und yhm feyren den sabbat, das sie zeitlich ding leren vorachten, ungluck sanffte tragen, und den todt nit furchten, disz leben nit lieb haben«.250

Das Leben aus dem Glauben in der Welt verlangt die Bewältigung der Spannung zwischen äußerem und innerem Menschen. Denn Luther zeigt einerseits, daß der Glaube auf das Leben in der Welt, an dem »ort«, den Gott »befolen« hat, abzielt. Andererseits verbindet er damit bei aller Hochschätzung der Familie als Ort wahrer christlicher Existenz doch das anspruchsvolle, an das mittelalterliche Mönchtum erinnernde Programm der Familie als Kirche und Kloster. Die reformatorische Bekehrung zur Welt erweist sich so nicht als Reduktion des biblischen Ideals auf ein zeitgemäßes Ethos, sondern als Radikalisierung des laikalen Ethos in Richtung auf das monastische Ideal. Luther geht es nicht um eine Aufwertung des Weltlichen als solchen, sondern um dessen religiöse Durchdringung, damit die Welt Ort des Lebens aus Glauben wird. Zu den durch Gehorsam und Verantwortung auszugestaltenden Strukturen der Welt zählen neben der Familie die geistliche und weltliche Obrigkeit.251 Das zweite Werk des vierten Gebots neben dem Ehren der Eltern ist darum der Gehorsam gegenüber der geistlichen Obrigkeit. Luther macht diesen Gehorsam zum Thema, indem er sogleich auf dessen Begrenzung hinweist – er darf nämlich nicht dem Gehorsam gegen die drei ersten Gebote widersprechen – und indem er die gegenwärtige Wirklichkeit der kirchlichen Institutionen mit diesem Maß mißt. Und da zeigt sich, daß die Papstkirche ihren Aufgaben – Predigt und Lehre, Strafen und 248 249

WA 6,254,10 f.

Umgekehrt kann man an den Kindern auch die Hölle verdienen, wenn man sie nicht »nach der seelen geystlich« ansieht und nicht der Forderung folgt, »das der kinder eygenn wil sol gebrochenn und sie demutig und sanfftmutig werdenn«, sondern sie mit falscher fleischlicher Liebe aufzieht (WA 6,254,27–255,8). 250 WA 6,254,1–6. 251 WA 6,255,18–258,31; 258,32–263,4. In späteren Auslegungen des vierten Gebots stellt Luther die Frage des Verhältnisses zur geistlichen Obrigkeit zunehmend zurück, bis er ganz darauf verzichtet, weil seine Ekklesiologie und die Wirklichkeit der reformatorischen Landeskirchen eine Gleichordnung von weltlicher und geistlicher Obrigkeit im Sinne der mittelalterlichen Tradition nicht mehr erlauben.

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6. Der Vollzug des christlichen Lebens

Bessern der Sünden, Sorge für Kirchen, Pfarreien, Klöster, Schulen etc. zur Pflege des Gottesdiensts und zur religiösen Erziehung – nicht nachkommt, wodurch sie sich an den ihr anvertrauten Menschen versündigt wie die weltlich gesinnten Eltern an ihren Kindern. Mehrfach weist Luther auf die kirchliche Aufgabe der Anleitung zur christlichen Praxis durch Vorbild und ethische Unterweisung hin, der die gegenwärtige Kirche nicht gerecht wird.252 Luthers scharfe Kritik an der Verweltlichung der Kirche zielt auf eine doppelte Forderung: Weil es zwar viel geistliche Obrigkeit, aber »geistlich regierung nichts oder wenig« gibt, darf man zum einen einer geistlichen Obrigkeit, die im Widerspruch zur ersten Dekalogtafel steht, nicht gehorsam sein, zum anderen muß man angesichts des Mißbrauchs der geistlichen Gewalt Gott um Abhilfe bitten und dann auch »mit der hand dartzu tun«, um die Mißstände abzustellen und die Verhältnisse zu bessern. Luther will damit nicht die geistliche Obrigkeit als solche angreifen, sondern nur ihren derzeitigen Irrweg korrigieren. Und die Instanzen, in deren Verantwortung solch ein Eingreifen zur »besserung der Christenheit und hynderung der lesterung unnd schmach gottlichs namens« liegt, sind nicht die Konzilien, die keine Besserung gebracht haben noch überhaupt bringen können, sondern die weltlichen Instanzen: »Kunig, Fursten, adel, Stet und gemein«.253 Auch gegenüber der weltlichen Obrigkeit kennt Luther eine Begrenzung der Gehorsamsforderung des vierten Gebots. Zwar gilt, daß die weltliche Obrigkeit als Institution und der ihr geschuldete Gehorsam und Respekt in Röm. 13,1–7, Tit. 3,1 und 1.Petr. 2,13–17 biblisch begründet sind und daß ihr unrechtes Handeln für den Christen kein entscheidendes Problem ist. (Denn sie ist ja allein für Leib und Gut zuständig und nicht für die Seele und damit das Heil. Ja, das von der Obrigkeit verursachte Unrecht-Leiden kann sogar der Selbstdisziplinierung helfen.) Aber auch sie darf die von der ersten Tafel des Dekalogs gezogene Grenze nicht überschreiten: Obrigkeitliches Handeln wird da problematisch, wo es zum 252

Hier deutet sich eine vielfach übersehene Dimension von Luthers Kirchenkritik an. Die von Luther tief empfundene und theologisch wirkmächtig reflektierte Delegitimation der mittelalterlichen Papstkirche erstreckt sich nicht nur auf die Lehre und die Organisation, sondern auch auf die seit tausend Jahren selbstverständliche und für die Christianisierung Europas so bedeutsame Funktion als moralische Instanz. 253 WA 6,258,5–31; 262,14–18. Zu dieser frühen, auf die Adelsschrift vorausverweisenden Forderung der obrigkeitlichen cura religionis: J. Estes: Peace, Order and the Glory of God. Secular Authority and the Church in the Thought of Luther and Melanchthon 1518–1559, 2005, 9–13. In der Adelsschrift einige Monate später entwickelt Luther die Ansätze vom Frühjahr weiter zu einem »coherent theological argument that both justifies governmental action in support of reform and carefully sets limits to that action« (aaO 20).

6.2. Gute Werke

349

Unrecht-Tun gegen Gott und Mensch auffordert und damit das Heil gefährdet. Diese Heilsgefährdung begründet aber anders als bei der geistlichen Obrigkeit kein Widerstandsrecht. Weil die weltliche Gewalt keinen Einfluß auf das Seelenheil hat, sind ihre Mißstände weniger schwerwiegend als die der geistlichen. »Drumb ist auch weltlich gewalt gar ein gering ding fur gott, unnd vil tzu gering von yhm geacht, das man umb yhrer willen, sie thu recht oder unrecht, solt sich sperren, ungehorsam und uneinig werden«.254 Während also Ungehorsam und Widerstand gegenüber der in geistlichen Dingen irreführenden geistlichen Gewalt theologisch notwendig sind, sind sie gegenüber der in weltlichen Belangen ungerechten weltlichen Gewalt nicht erlaubt. Diese Zurückhaltung gegenüber der weltlichen Obrigkeit hat nichts mit einer Spiritualisierung der christlichen Freiheit255 oder mit der vermeintlichen Obrigkeitsservilität Luthers zu tun, sondern ist streng theologisch begründet: Weil die weltliche Obrigkeit das Heil nicht betrifft, ist kein aktiver Widerstand aufgrund der ersten Dekalogtafel geboten, sondern nur passiver Widerstand und Erleiden. Die Mißstände im Bereich der weltlichen Obrigkeit, die Luther hier vor Augen hat, werden auch benannt: etwa die Indienstnahme der Politik für die persönlichen Interessen einzelner Personen oder Gruppen oder die Durchsetzung des Rechts ohne Rücksicht auf die damit verbundenen negativen Folgen.256 Die Obrigkeit soll aber nicht nur gegen die sie selbst betreffenden Mißstände vorgehen, sondern auch ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden. Wie viele andere Moralisten des 16. Jahrhunderts fordert Luther eine schärfere Sozialdisziplinierung, wie etwa ein Vorgehen gegen Luxus und Verschwendung bei Essen und Kleidung, Maßnahmen gegen den Wucher oder die Schließung der städtischen Bordelle.257 Begründet wird das mit einem theologischen Argument: Verschwendung und Luxus vertragen sich nicht mit dem Christsein des Volks, »das dem gecreutzigtenn Christo geschworen, getaufft und zugeeygnet ist, das sein Creutz mit yhm tragen und zum andern leben teglich durch sterben sich bereiten sol«.258 Die Reihe der Werke des vierten Gebots beschließen einige Ausführungen zum Verhältnis des Gesindes und der Ge254 255

WA 6,259,33–36.

Christliche Freiheit und Unterordnung unter die »potestas mundi« widersprechen sich nicht, vielmehr ist die christliche Freiheit mit ihrer gleichzeitigen Weltüberlegenheit und Ergebung in die innerweltlichen Widerfahrnisse unvereinbar mit der Verachtung der weltlichen Obrigkeit (WA 5,526,14–20). 256 WA 6,260,4–261,22. Der den konkreten Umständen angepaßte Umgang mit dem Recht, den man nicht aus dem Recht, sondern aus biblischen und profanen Exempeln und Historien lernt, ist für Luther eine der wichtigsten Aufgaben der Obrigkeit. 257 WA 6,261,23–262,13; 262,19–34. 258 WA 6,262,2–4.

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6. Der Vollzug des christlichen Lebens

sellen zu ihren Herren und Meistern. Dieses ist wie die zuvor behandelten Relationen durch die Verpflichtung der einen zu Gehorsam und der anderen zu Billigkeit charakterisiert.259 Abschließend faßt Luther die Werke des vierten Gebots in der Doppelforderung von »Gehorsam und sorgfeltickeit« zusammen:260 »Gehorsam gepurt den unterthanen, sorgfeltickeit den uberhern«.261 Luther führt zunächst aus, was das für die »uberhern« heißt, nämlich »das sie fleisz haben yhr unterthanen wol zu regiren, lieblich mit yhn handeln, und alles thun, das sie yhn nutzlich und hulfflich sein: das ist yhr weg zum hymel«. Und das heißt nichts weniger, als daß die verantwortungsvolle Wahrnehmung der innerweltlichen Aufgabe die wahrhaft christliche Existenz in der Welt ist. Der Christ in elterlicher oder obrigkeitlicher Verantwortung darf nicht vor dieser christlichen Existenz in der Welt ausweichen und eine vermeintlich christlichere Sonderexistenz außerhalb der Welt – etwa im Mönchtum – suchen. Der Weg zum Himmel und die besten Werke liegen nicht in der Distanzierung von der Welt, sondern in der verantwortlichen Übernahme der mit dem eigenen »stand« gegebenen Pflichten. Die guten Werke und Gebote Gottes sind »an allen orten, stenden, zeitten ubirflussig furhanden«. Dieser Verantwortung von Eltern und Obrigkeit entspricht die der ihnen anvertrauten Menschen. Auch sie sind in der Ordnung der Welt von Gott an ihren Platz gestellt und darum zum Gehorsam gegenüber den ihnen Übergeordneten verpflichtet. Aber Gehorsam und Pflicht finden ihre Grenze, wenn »weltlich gewalt und ubirkeit [...] wurden einen unterthanen dringen wider die gebot gottis odder dran hyndernn«. Mit Apg. 5,29 gilt dann: »Man musz gott mehr gehorsam sein, dan den menschen«. Das heißt in der Konsequenz, daß der Christ gegenüber einer Obrigkeit, die zu unrechtem Krieg, falschem Zeugnis, Raub, Lüge oder Betrug auffordert, zu passivem Widerstand verpflichtet ist. Und das bedeutet, der Glaubende soll »gut, ehr, leyp unnd leben faren lassen, auff das gottis gebot bleybe«. Die Auslegung des fünften bis zehnten Gebots füllt das letzte Siebtel des Sermons Von den guten Werken und erinnert mit ihrer Betonung der Selbstdisziplinierung und des tugendhaften Lebens an die Auslegung in den Decem praecepta. Wenn im Vorangehenden das Eigene und Neue von Luthers Auslegung in den Vordergrund gestellt wurde, so muß hier doch an die bleibende Prägung Luthers durch seinen spätmittelalterlichen Hin259

WA 6,263,5–264,9. WA 6,264,16–265,26. 261 WA 6,264,17 f. »sorgfeltickeit« meint Fürsorglichkeit i. S. des lateinischen sollici260

tudo, von der die Vulgatafassung des im Anschluß zitierten Belegtexts Röm. 12,8 spricht.

6.2. Gute Werke

351

tergrund erinnert werden. Man fühlt sich angesichts von Luthers Auslegung mit ihren konkreten Hinweisen auf die christliche Praxis streckenweise an die mittelalterliche Tugend- und Lasterkatechese erinnert.262 So geht es im fünften Gebot263 um die gegen die »zornige und rachsuchtige begird« gerichtete »sanfftmutickeit«. Sie ist der Inbegriff der »euangelica doctrina et vita«264 entsprechend der sechsten Antithese der Bergpredigt. Sie gilt gerade den Widersachern und Feinden: Ihnen gegenüber ist auf Rache, Vergeltung, Fluchen, üble Nachrede etc. zu verzichten und Böses mit Gutem zu vergelten. Möglicherweise mit Blick auf den Widmungsempfänger des Sermons, Herzog Johann gibt Luther ein Beispiel für die Implikationen seiner Auslegung des vierten Gebots: Er zeigt am Beispiel des christlichen Richters, daß sich das Werk des Zorns und der Ungnade gegenüber dem Schuldigen durch den obrigkeitlichen Funktionsträger und die den Christen auszeichnende innere Haltung der Sanftmut nicht gegenseitig ausschließen. Weil die Sanftmut auf Gottes Ehre und Gebot Rücksicht nehmen muß, darf die Obrigkeit nicht ihr Strafamt ruhen und die Sünde herrschen lassen. Luther treibt die sich hier auftuende Spannung bis zur Unterscheidung von Person- und Amtsmoral, wenn er dem Christen in obrigkeitlicher Funktion zumutet, den Widerspruch in sich bewußt auszuhalten und als ein- und dieselbe Person in zwei unter Umständen nicht miteinander vereinbaren Pflichtenkreisen zu agieren.265 Und gerade in diesem scheinbaren Widerspruch zeigt sich die Wahrhaftigkeit der Sanftmut, »das sie auch bleybt unter solchen zornigen wercken, Ja am aller hefftigsten im hertzen quellet, wen sie also tzurnen und ernst sein musz«.266 Innerweltliche Verantwortungsübernahme und Feindesliebe lassen sich aber nur dann ohne Einseitigkeiten und Relativierungen miteinander verbinden, wenn das im Glauben geschieht. In der Auslegung des sechsten und siebten Gebots267 geht es wie bereits 1518 um die Sexual- und Wirtschaftsethik. Gefordert ist zum einen die 262 Bonaventura etwa interpretiert in seinen Collationes de decem praeceptis (VII,8) die Dekaloggebote durch die Gegenüberstellung von (1) »humilis adoratio divinae maiestatis« und »idolatria«, (2) von »fidelis assertio divinae veritatis« und »periurium«, (3) von »devota dilectio divinae bonitatis« und »indevotio«, (4) von »pietas ad parentes« und »inhonoratio«, (5) von »mansuetudo« und »iracundia«, (6) von »pudicia« und »moechia«, (7) von »largitas« und »furtum«, (8) von »veritas« und »mendacium«, (9) von »liberalitas cordis« und »concupiscentia rei temporalis« sowie (10) von »castitas mentis« und »concupiscentia carnis« (Opera omnia 5,530). 263 WA 6,265–268. 264 AWA 2,543,9 f. 265 WA 6,267,32–36. 266 WA 6,267,24–26. 267 WA 6,268–270.270–273. Auch die Auslegung von Ps. 14/15,4 aus dem Frühjahr 1520 beschäftigt sich mit dem Problem des Wuchers und Wiederkaufs (WA 5,440,9– 441,20).

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6. Der Vollzug des christlichen Lebens

»Reynickeit odder keuscheit«, die sich gegen das allgegenwärtige und gefährliche Laster der Unkeuschheit richtet – das Luther nicht auf das Sexuelle verengt versteht – und zu der viele andere gute Werke wie Fasten, Mäßigkeit in Essen und Trinken, Wachen, Frühaufstehen, Vermeidung von Müßiggang, vor allem aber das Gebet und die Beschäftigung mit dem Gotteswort verhelfen. Zum anderen ist die viele gute Werke umfassende »Mildickeit«, d.h. die Freiheit von der Sorge um den materiellen Besitz und die Bereitwilligkeit, mit seinem eigenen Gut anderen zu helfen und zu dienen, geboten. Verboten ist also nicht nur Diebstahl und Raub, sondern auch Geiz, Wucher, überteuerte Preise, Betrug, falsche Ware und alles, wodurch man das Geld zu seinem Gott macht oder wodurch ein anderer geschädigt wird. Alles das ist ein Verstoß gegen die Goldene Regel, die auch für die Wirtschaftsbeziehungen gilt. In beiden Zusammenhängen sind nicht die Sexualität und das Geld als solche das Problem, sondern der falsche Umgang des Menschen mit ihnen. Gerade weil sie selbstverständlicher Teil des christlichen Lebens in der Welt sind, fordert Luther zu einem verantwortlichen, und das heißt: den Maßstäben der Bergpredigt gerechtwerdenden Umgang mit ihnen auf. Und dieser verantwortliche Umgang ist gerade dem Christen möglich, weil der Glaube dazu befreit und befähigt. Das achte Gebot268 fordert das Sagen der Wahrheit und den Widerspruch gegen die Lüge. Luther denkt hier vor allem an den juridischen Kontext, in dem man nicht durch Falschaussagen oder Verschweigen anderen schaden darf. Gefordert ist auch das Zeugnis der Wahrheit des Evangeliums und Glaubens, und zwar vor allem gegenüber den geistlichen und weltlichen Obrigkeiten. Das nur sehr kurz behandelte neunte und zehnte Gebot269 beziehen sich weniger auf die Beziehung zum Mitmenschen als vielmehr auf das Selbstverhältnis des Menschen. Sie verbieten die bösen Begierden des Leibes, der Lust und der zeitlichen Güter. Mit der bösen Neigung und der angeborenen Erbsünde ist der Christ bis zu seinem leiblichen Tod konfrontiert, weshalb er lebenslang diese Begierden bekämpfen muß. Und angesichts der auch für den Glaubenden noch nicht endgültig überwundenen Wirklichkeit des alten Menschen ist der »leypliche[] tod [...] nutzlich und zuwunschen«.270

268 269

WA 6,273–276. WA 6,276. Luther gibt hier anders als bei den übrigen Geboten der zweiten Tafel

keine positive Zusammenfassung in Gestalt einer einzelnen »Tugend«. Man könnte in Entsprechung zu Luthers Auslegung des sechsten Gebots auf die äußere Selbstdisziplinierung von der inneren Selbstdisziplinierung sprechen. 270 WA 6,276,19.

6.2. Gute Werke

353

Die Gebote des Dekalogs werden in Luthers Interpretation von 1520 zu einem selbstverständlichen Teil des glaubenstheologischen Ethos. Der Glaube, der das Sein und Handeln des christlichen Subjekts ausmacht, gewinnt in einer Praxis Gestalt, die sich an der ersten und zweiten Dekalogtafel mit ihrer Beschreibung der Gottes-, Selbst- und Weltbeziehung orientiert. Die Freiheit vom Gesetz und den Gesetzeswerken ermöglicht allererst diesen Gehorsam gegenüber dem Gotteswillen. Denn das sich in Glaube, Gotteslob, Gottesdienstteilnahme, Gebet, gehorsamer Respektierung wie verantwortlicher Mitgestaltung der innerweltlichen Strukturen, tugendhafter Selbstdisziplinierung und Zuwendung zum Mitmenschen vollziehende christliche Leben ist frei davon, sich damit sein Heil verdienen zu wollen, und frei davon, fremden und ihm widerstrebenden Vorgaben gezwungenermaßen folgen zu müssen. Die scheinbare Widersprüchlichkeit von Gesetzesfreiheit und Orientierung am Dekalog ist einer unter mehreren Aspekten des reformatorischen Neuverständnisses des christlichen Lebens, an denen das Neue deutlich aufscheint. Daß Luther damit eine theologische Ethik konzipiert hatte, die sich mit den Sprachund Denkmitteln seiner Zeit nur inadäquat formulieren ließ, war ihm zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewußt. Ein Jahrzehnt später aber, nachdem er seine reformatorische Anschauung vom christlichen Leben in unterschiedlichen Zusammenhängen wieder und wieder formuliert und verteidigt hatte, gestand er 1531 in der zweiten Galaterbriefvorlesung ein, daß das von Paulus gemeinte »facere fidele«,271 das er 1519/20 mit seiner programmatischen Darstellung der vita christiana in seinen unterschiedlichen Hinsichten durchzubuchstabieren versucht hatte, eine »nova grammatica theologica«272 erfordere: »›Facere‹ fit novum vocabulum [...] in theologia. ›Facere‹ in theologia aliud [...] quam in lege. nova prorsus hec res: requirit rectam rationem Et bonam voluntatem theologice, quae est, quod per verbum Euangelii cognosco et credo misisse filium in carnem, ut a peccatis [redimeret nos]. [...] Ergo ›facere‹ praerequirit ipsam fidem«.273

271

WA 40I,412,21* (Druckbearbeitung 1535). WA 40I,418,5 f.* (Mitschrift 1531). 273 WA 40I,411,7–412,2* (Mitschrift 1531, in eckigen Klammern ist eine Ergänzung aus der Druckbearbeitung eingefügt). Die Auslegung von Gal. 3,10 (WA 40I,391–419*), in 272

der sich die zitierten Aussagen finden, ist insgesamt aufschlußreich als eine der seltenen metaethischen Reflexionen Luthers, und sie bietet einen interessanten Anknüpfungspunkt für moderne handlungstheoretische Ethikkonzeptionen (z.B. wird sie herangezogen in J. Fischer: Handeln als Grundbegriff christlicher Ethik. Zur Differenz von Ethik und Moral, 1983, 7). Allerdings ist zu beachten, daß gerade hier die Druckbearbeitung Luthers eigene Konzeption abgeschliffen und mit melanchthonischen Elementen verbunden hat.

354

6. Der Vollzug des christlichen Lebens

Was Luther 1519/20 als Grundzüge dieses glaubenstheologischen Ethos formuliert hatte, blieb bis zu seinem Lebensende unverändert, wenn ihm auch die Eigenart dieser reformatorischen Konzeption von der vita christiana stärker bewußt wurde. Letztlich war es für ihn das, was die Bibel ihm vorgab und was er als ihr Ausleger erschloß und vermittelte. Und das hieß, die eingefahrenen Denk- und Sprachmuster zu verlassen und auf ganz eigene Weise vom Glauben als dem Gotteswerk, von der Erneuerung des Menschen in der Christusbeziehung, vom inneren Zusammenhang von Glaube und christlicher Praxis und vom Leben aus dem Glauben in der Welt zu sprechen.

Vierter Teil

Die Entfaltung der Grundideen und Konkretionen von Luthers reformatorischer Auffassung vom christlichen Leben in den 1520er Jahren Luthers reformatorische Theologie, zu der die 1519/20 programmatisch formulierten Grundgedanken über das christliche Leben gehören, begann zur selben Zeit über die akademisch-kirchlichen Zusammenhänge, in denen er sich bislang bewegt hatte, auszustrahlen. Sie verband sich mit dem seit dem 15. Jahrhundert virulenten kirchlich-gesellschaftlichen Reformdiskurs und mannigfachen Stimmungen und Bestrebungen vom spätmittelalterlichen Antiklerikalismus über das wachsende kirchliche Selbstbewußtsein der Laien bis hin zur stärkeren Einflußnahme der weltlichen Obrigkeiten auf die Kirche. Luthers Botschaft von der christlichen Freiheit wurde zwar nicht immer in seinem Sinne verstanden. Sie erwies sich aber als eine die geschichtliche Entwicklung entscheidend bestimmende Größe. Die Grundgedanken der reformatorischen Rechtfertigungslehre – ihre biblische Fundamentierung, ihre Betonung der göttlichen Gerechtigkeit, ihr neuartiges Verständnis der christlichen Praxis – wurden vielfach rezipiert und kritisch gegen die überkommene Kirchlichkeit gewendet. Die reformatorische Theologie Luthers führte zur reformatorischen Bewegung, die praktische Konsequenzen forderte und vollzog. Dabei kam es zu Problemen, die Luther bereits 1520 angesprochen hatte. Die Dynamik der reformatorischen Bewegung traf auf die Statik der bestehenden Verhältnisse und Mentalitäten in Kirche und Gesellschaft. Welches Recht aber hatte die christliche Freiheit angesichts der gegebenen Ordnung von Kirche und Gesellschaft? Im persönlichen Leben, in der Familie und der örtlichen Nahgemeinschaft und in den übergreifenden gesellschaftlich-politischen Zusammenhängen kam in den 1520er Jahren das Verhältnis zwischen reformatorischer Glaubensüberzeugung und bestehenden Verhältnissen aus der Balance. Luther selbst wurde schon bald mit diesen Folgen konfrontiert. Zum einen biographisch-theologisch, weil er das Verhältnis von Leben aus dem Glauben und Leben in der Welt für sich selbst neu

356

4. Teil: Entfaltung der reformatorischen Ethik

bestimmen und dabei einige in seiner ethischen Grundkonzeption noch nicht hinreichend geklärte oder entfaltete Punkte durchdenken mußte. Zum anderen als Führungsfigur der reformatorischen Bewegung, die von überall her angesprochen und in die Verantwortung genommen wurde, die reformatorische Rechtfertigungslehre und ihre praktischen Konsequenzen so darzustellen, daß die christliche Freiheit ihr Reformpotential konstruktiv entfalten konnte. Die Entwicklung von Luthers Theologie folgte in den 1520er Jahren nicht mehr nur einer ihr immanenten Entwicklungslogik, sondern war auch von äußeren Einflußfaktoren bestimmt. Und gerade dank dieser Herausforderungen von außen – von den Bitten um Schriften und praktische Hilfe durch Anhänger der reformatorischen Bewegung über die Irrwege bei den kirchlich-gesellschaftlichen Reformen und die Neuordnungsversuche reformationsfreundlicher Obrigkeiten bis zu den Polemiken und Winkelzügen der altgläubigen Gegner – konnte Luther seine Vorstellungen vom christlichen Leben weiter präzisieren und entfalten. Allerdings ging damit auch eine Akzentverlagerung einher. Bisher hatte die Frage nach dem christlichen Leben in der Welt nur am Rande eine Rolle gespielt. Nun stellte sich aber immer mehr die Frage nach dem Verhältnis des Christen zu den innerweltlichen Gegebenheiten; man könnte auch sagen: die Frage nach der schöpfungstheologischen Außendimension christlichen Lebens. Diese Frage hatte Luther zwar schon vor 1520 beschäftigt, aber ihr hatte bislang nicht sein Hauptinteresse gegolten. In den 1520er Jahre wandte er sich aber immer mehr dieser schöpfungstheologischen Außendimension zu und ließ die bislang beherrschende rechtfertigungstheologische Innendimension zurücktreten. Die Freiheit des Glaubens wurde stärker als bisher eingebunden in die gegebenen innerweltlichen Strukturen. Das hieß aber nicht, daß Luther irgendetwas zurücknahm, sondern nur, daß er das Evangelium von der Rechtfertigung unter den Bedingungen seiner Zeit und Welt zum Zuge brachte. Die Darstellung von Teil IV wird Luthers Bemühen, seinen Zeitgenossen das Leben aus dem Glauben in der Welt verständlich zu machen, in zwei Unterteilen entfalten: Zu Beginn wird die Weiterentwicklung von Luthers Anschauungen über das christliche Leben im Zusammenhang der frühen reformatorischen Bewegung und seine Lösung des mit der reformatorischen Bewegung gestellten Problems des Verhältnisses von Glaube und Welt dargestellt (7.); anschließend werden die beiden Zusammenhänge, in denen sich christliches Leben in der Welt realisiert, je einzeln behandelt: die »zwey leiblich regiment« »auff erden« – »Stad und Haus«1 1

WA 50,652,10.

4. Teil: Entfaltung der reformatorischen Ethik

357

(8.). Bei der Darstellung der ethischen Konkretionen der Bekehrung zur Welt in oeconomia (»Haus«) und politia (»Stad«) geht es um Luthers Sicht der innerweltlichen Gegebenheiten mit ihrer schöpfungsmäßigen Ordnung und sündhaften Verkehrung und um die christliche Ausgestaltung dieser innerweltlichen Gegebenheiten. Als Quellen für Teil IV dienen die Schriften, Briefe und Predigten Luthers, in denen er über die 1519/20 entfaltete Grundlegung seiner reformatorischen Anschauung vom christlichen Leben hinausgeht. Die zahlreichen Quellen, in denen er die Grundlagen des reformatorischen Ethos wiederholt und variiert, bleiben dabei weitgehend außer Betracht. Dieser Verzicht betrifft vor allem die im Zusammenhang der Popularisierung der reformatorischen Ethik entstandenen Quellen. In zahlreichen Briefen,2 Predigten3 und Liedern,4 in der Bibelübersetzung mit ihren Vorreden und Marginalien,5 im Großen und Kleinen Katechismus,6 in Kirchenordnungen7 und Bekenntnissen8 hat Lu2 Schöne Zusammenfassungen bieten etwa die Briefe Luthers an Herzog Karl III. von Savoyen vom 7.9.1523 (WAB 3,148–154 [Nr. 657], hier: 151,49–153,126) und an die Gemeinde der Stadt Esslingen vom 11.10.1523 (WA 12,151–153.154–159, hier: 157,5– 158,17). 3 In Luthers Predigten und Predigtverständnis spielt die ethische Unterweisung eine zentrale Rolle. Aus der Überfülle des Materials kann man auf die Advents-, Weihnachtsund Fastenpostille (WA 10I/1,VII-X.1–728, WA 10I/2,IX-LXXXIX.1–208; WA 17II,IXXXVI.1–247) verweisen, in denen die Unterscheidungen von Glaube und Liebe, Glaube und Werken sowie von Gesetz und Evangelium wieder und wieder entfaltet und auf das christliche Leben hin ausgelegt werden. Aufschlußreich sind auch einige durch den Druck verbreitete Postillenpredigten und Predigtnachschriften: Sermon von dreierlei gutem Leben (1521, WA 7,792–794.795–802*), Evangelium von den zehn Aussätzigen (1521, WA 8,336–339.340–397, hier: 360,1–367,33), Predigt über Mt. 5,1–12 (1.11.1522, WA 10III,CLXVII-CLXX.400–407*), Summa des christlichen Lebens, aus S. Paulus 1. Timoth. 1. neulich gepredigt (24.11.1532, WA 36,XXVII-XXX.352–375*). 4 Hier sind vor allem Luthers Dekaloglieder von 1524 zu nennen (Dis sind die heylgen zehn gepott und Mensch wiltu leben seliglich [WA 35,135–141.426–428.428 f.]). 5 Hier ist vor allem an die Römerbriefvorrede zu denken (WADB 7,2–26). Aber auch die Vorrede zum Neuen Testament sowie zahlreiche Marginalien vor allem zu den Synoptikern bieten grundlegende Hinweise zum christlichen Leben. Dadurch, daß Luthers Bibelübersetzung seit 1522 weiteste Verbreitung fand, entfalteten diese vielfach knappen Bemerkungen eine schwerlich zu überschätzende Wirkung. 6 WA 30I,426–474.475–536.537–819.123–238.239–425. Hierzu zählen auch die die Katechismen vorbereitenden Katechismuspredigten von 1528 (WA 30I,2–122*). 7 Unmittelbar beteiligt war Luther an dem vor allem von Melanchthon verfaßten Unterricht der Visitatoren an die Pfarrherrn im Kurfürstentum zu Sachsen (1528, WA 26,175–194.195–240), der die Gesetzespredigt besonders betont; und zwar nicht nur in ihrer rechtfertigungstheologischen Funktion hinsichtlich der Buße, sondern gerade auch in ihrer ethischen Funktion hinsichtlich der christlichen Praxis. 8 Hier sind neben Luthers an das 1528 veröffentlichte Bekenntnis (WA 26,499–509) auch die unter seiner Mitarbeit entstandenen oder von ihm beeinflußten Bekenntnistexte im Umfeld des Augsburger Reichstags (etwa Art. 10.12.13 der Marburger Artikel von 1529 [WA 30III,166 f.] oder Art. 6.16.20 der Confessio Augustana [BLSK 60.70 f.75–81, diese Artikel geben trotz der melanchthonischen Akzentuierung Luthers ethische

358

7. Grundideen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

ther wieder und wieder die Grundgedanken seiner reformatorischen Konzeption vom christlichen Leben eingeprägt. In diesen auf Breitenwirkung angelegten Schriften gelang es ihm, das reformatorische Ethos pädagogisch geschickt darzustellen, indem er es vereinfachte, schematisierte und konzentrierte. Immer wieder verweist er auf den rechtfertigungstheologischen Rahmen christlicher Praxis, dessen konkrete Ausgestaltung in enger Anlehnung an die biblische Paränese entfaltet wird. Die Unterscheidungen Gesetz und Evangelium, Glaube und Werke sowie Glaube und Liebe werden dabei zu Leitformeln der ethischen Unterweisung der Reformation. Bemerkenswert ist, daß Luthers Vereinfachung seiner reformatorischen Konzeption vom christlichen Leben nicht zu Abstrichen an der Radikalität des christlichen Ethos oder zur Relativierung des eschatologischen Horizonts führt. Zwar akzentuiert er mit der Zeit die schöpfungstheologische Dimension des christlichen Lebens stärker und bemüht sich um praktikable Formen des christlichen Lebensvollzugs. Doch tut er dies immer im Bewußtsein, daß es um die konsequente Christusnachfolge geht, die in den weltlichen Gegebenheiten und unter den Bedingungen der Alltagsexistenz Gestalt gewinnt.

7. Die Entfaltung der Grundideen des Lebens aus dem Glauben in der Welt Luthers Theologie erregte schon vor den Programmschriften des Jahres 1520 Aufmerksamkeit. Der Ablaßstreit und der folgende kirchliche Prozeß gegen ihn machten seine Person und Theologie weithin bekannt und brachten ihm Sympathie und Unterstützung von vielen Seiten ein. Doch zur reformatorischen Bewegung verdichtete sich diese Öffentlichkeitswirkung Luthers erst mit den Programmschriften des Jahres 1520 und dem Wormser Reichstag 1521. Die kirchliche Verurteilung Luthers und die ihr folgende Reichsacht machten ihn endgültig zu einer öffentlichen Figur. Eine Springflut von Schriften, Predigten und Einzelaktionen machte seine theologischen Grundgedanken und Reformforderungen in Deutschland und darüber hinaus bekannt. Luther selbst hatte an diesem Aufbruch der reformatorischen Bewegung 1520/21 wichtigen Anteil – seine Schriften und sein öffentliches Auftreten in Wittenberg und Worms waren der Kristallisationskern der Bewegung –, im Mai 1521 aber verschwand er mit einem Mal von der Bühne. Für die reformatorische Bewegung, der es Grundanschauungen wieder]) und die Schmalkaldischen Artikel (vor allem die Aussagen zu Gesetz, Buße und guten Werken [LStA 5,395,8–399,20; 437,11–439,13]) zu nennen.

7. Grundideen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

359

letztlich weniger um die Person Luthers als um sein theologisch-kirchliches Programm ging, war das kein Hindernis. Rasch ging es nicht mehr nur darum, die reformatorische Rechtfertigungslehre bekannt zu machen und kirchliche Reformforderungen zu erheben, sondern nun auch praktische Konsequenzen zu ziehen. Die reformatorische Bewegung war da, wo sie Anfang der 1520er Jahre Fuß gefaßt hatte – in Mitteldeutschland, Hessen, Franken, dazu in vielen größeren Städten des gesamten Reichs –, keine marginale Größe, sondern repräsentierte vielfach einen breiten Konsens innerhalb der Bevölkerung. Dieser Konsens bezog sich zwar oft nur auf einzelne Grundgedanken und Reformforderungen. Das aber genügte, um einen Druck von unten her aufzubauen, der sich teils in ungeordneten und auch tumultuarischen Einzelaktionen entlud, teils aber auch schon 1521/22 in die Bahnen einer obrigkeitlichen Neuordnung von Predigt und Kirchenwesen geleitet wurde. Die reformatorische Bewegung wirkte aber auch auf Luther selbst zurück. Eingebunden in ein weitausgreifendes Netz von Korrespondenten war er bereits Anfang der 1520er Jahre über die Auswirkungen der auf die reformatorische Bewegung hinführenden theologischen und kirchlichen Auseinandersetzungen informiert und bemühte sich, den Gang der Dinge in seinem Sinne zu beeinflussen. 1521/22 bekamen diese Rückwirkungen auf Luther und sein Bemühen um die Beeinflussung der beginnenden reformatorischen Bewegung einen neuen Umfang und eine neue Qualität. Es ging nicht mehr um eine Diskussion in den kleinen Kreisen von Mönchen, Universitätstheologen und Humanisten, sondern von überall her stürmten Berichte und Anfragen, Unterstützung und Widerspruch auf Luther ein. Er fand sich in der ihm fremden und unerwünschten Rolle einer Führungsfigur wieder, deren Wort für die Entwicklung im einzelnen wie im ganzen entscheidende Bedeutung zu haben schien. Doch mit seiner Abreise aus Worms am 26. April 1521 liefen diese Erwartungen einer breiten Öffentlichkeit erst einmal ins Leere. Auf der Wartburg wurde Luther dennoch bald mit einigen zentralen Problemen konfrontiert. Denn die Rückwirkung der reformatorischen Bewegung traf den Wittenberger Reformerkreis, der, so gut es ging, Luther zu ersetzen suchte und sich – sobald die briefliche Verbindung mit dem auf der Wartburg versteckten Luther begann – mit den wichtigsten Problemen an diesen selbst wandte. Für die Reformationsforschung ist Luthers Schutzhaft auf der Wartburg ein Glücksfall, weil sich anhand zahlreicher Quellen die Interaktion von reformatorischer Bewegung, Wittenberger Reformern und Luther studieren läßt. Luther nutzte die zehn Monate auf der Wartburg, um die an ihn herangetragenen Probleme gründlich zu bedenken und seine Rolle innerhalb der reformatorischen Bewegung zu finden. In den drei Jahren von der

360

7. Grundideen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

Rückkehr nach Wittenberg bis zum Übergreifen des Bauernkriegs nach Mitteldeutschland füllte Luther dann die auf der Wartburg angenommene Rolle als Leitfigur der reformatorischen Bewegung aus. Aus der Fülle des Materials dieser beiden Phasen der Begegnung Luthers mit der reformatorischen Bewegung werden im Folgenden zwei Problemzusammenhänge herausgegriffen, die von zentraler Bedeutung für die Entfaltung von Luthers reformatorischer Anschauung vom christlichen Leben sind: die Diskussionen um die Mönchsgelübde und das Verhältnis des Christen zur Obrigkeit. In ihrem Zusammenhang bildet Luther seine Vorstellungen vom Beruf und den Ständen sowie von den beiden Regimenten und Reichen aus. 7.1. Leben aus dem Glauben in der Welt I: Das Problem der Mönchsgelübde So, wie die religio Augustini große Bedeutung für Luthers frühe Anschauung vom christlichen Leben hatte (siehe oben 2.4.), so hatte auch seine kritische Auseinandersetzung mit dem monastischen Verständnis des christlichen Lebens 1521 große Bedeutung für die Entfaltung seiner Grundideen des Lebens aus dem Glauben in der Welt. Darum sind das Problem der Mönchsgelübde, Luthers Lösung dieses Problems in der Schrift De votis monasticis und die Bedeutung dieser Schrift für die reformatorische Ethik eigens zu würdigen. In der Adelsschrift hatte Luther mit dem Hinweis auf die christliche Freiheit – »Christus hat uns frey gemacht von allen menschen gesetzen, zuvor wo sie widder got unnd der seelen selickeit sein« – den Pflichtzölibat infragegestellt, die kirchenrechtliche Anerkennung von Pfarrfrauen und -kindern gefordert und das Mönchtum und die Mönchsgelübde kritisiert. Kurz darauf hatte er in De captivitate Babylonica ecclesiae das reformatorische Verständnis der Taufe und der »liberta[s] religiosissima et operosissima baptismi« der Verkehrung der christlichen Freiheit durch das Mönchsgelübde gegenübergestellt.9 1521 zogen die ersten Priester und Mönche praktische Konsequenzen, indem sie heirateten oder ihre Klöster verließen. Die ersten Priester, die den Zölibat offen brachen und in den Stand der Ehe traten, waren von der neuen Wittenberger Theologie beeinflußt: der Kemberger Propst Bartholomäus Bernhardi, ein Schüler Luthers, der 1516 bei der Quaestio de viribus et voluntate hominis sine gratia als Respondent aufgetreten war, Jakob Seidler, Pfarrer in Glashütte im 9 WA 6,440–443; WA 6,526–543 (insbesondere WA 6,538–543); Zitate: WA 6,443,22 f.; 538,28 f. Hierzu: B. Lohse: Mönchtum und Reformation, 1963, 349–355; S. Buckwalter: Die Priesterehe in Flugschriften der frühen Reformation, 1998, 60–78.

7.1. Das Problem der Mönchsgelübde

361

Herzogtum Sachsen, und Balthasar Zeiger, Pfarrer in Vatterode in der Grafschaft Mansfeld.10 Deren offener Bruch mit dem Kirchenrecht war eine Provokation für die Gegner der reformatorischen Bewegung. Die verheirateten Priester und ihre Unterstützer hatten nun nicht nur mit publizistischen Entgegnungen zu rechnen, sondern es waren auch vom weltlichen Arm unterstützte Gegenmaßnahmen der bischöflichen Jurisdiktion zu erwarten oder bereits eingetreten. So wurde Jakob Seidler vom Meißner Bischof zeitweise gefangengesetzt und Bernhardis Lage war so gefährdet, daß die Wittenberger für ihn eine deutsche und lateinische Apologie11 verfaßten. Sie baten die kirchlichen Autoritäten auch mehrfach um Nachsicht und um eine grundsätzliche Neuorientierung in der Zölibatsfrage.12 Außerdem begannen sie, das Problem theologisch zu reflektieren, so etwa Karlstadt, der sich im Sommer 1521 in einer Reihe von Thesen und Schriften intensiv mit Zölibat und Gelübden beschäftigte.13 Die Fragen des Zölibats und der Mönchsgelübde hingen eng miteinander zusammen. Beide wurden darum in der theologischen Diskussion der Wittenberger gemeinsam behandelt. Luther bestand allerdings darauf, den Unterschied zwischen der erzwungenen Ehelosigkeit der Priester und dem freiwilligen Eheverzicht der Mönche nicht zu verwischen. Natürlich wurde Luther auf der Wartburg von Anfang an in die Diskussion und Entscheidungsfindung einbezogen. Vor allem durch Karlstadts in Thesen- und Buchform vorgetragene Grundsatzkritik von Priesterzölibat und Mönchsgelübden im Namen der christlichen Freiheit fühlte er sich herausgefordert. Denn Karlstadts auf eine fragwürdige Exegese gestützte Argumentation mit der faktischen Unmöglichkeit des Zölibats und der Einhaltung der Gelübde erschien ihm unzureichend. Eine Reihe von Briefen vom 1. August bis zum 9. September 1521 dokumentiert Luthers Entscheidungs10 Luther erwähnt Bernhardis Heirat (sowie die des Hersfelder Pfarrers Heinrich Fuchs) in einem Brief an Melanchthon vom 26. Mai 1521 (WAB 2,347,30 f.; 349,79 [Nr. 413]). Zu den frühen Priesterheiraten und ihre Bedeutung für die Wittenberger Theologen und die reformatorische Bewegung: U. Bubenheimer: Streit um das Bischofsamt in der Wittenberger Reformation 1521/22 (ZSRG.KA 73, 1987, 155–209); S. Buckwalter: Die Priesterehe in Flugschriften der frühen Reformation, 1998, erster Hauptteil; J.-M. Kruse: Universitätstheologie und Kirchenreform. Die Anfänge der Reformation in Wittenberg 1516–1522, 2002, 293–301. 11 CR 1,421–440 (Nr. 120). Die Verfasserschaft ist umstritten, möglicherweise ist sie in Zusammenarbeit von Melanchthon und Karlstadt entstanden (Supplementa Melanchthoniana 6I,146–149 [Nr. 160]; Buckwalter: Priesterehe, 1998, 94–96). 12 Etwa in einem Brief Karlstadts, Agricolas und Melanchthons an den Bischof von Meißen vom 18. Juli 1521 (MBW.T 1,312–315 [Nr. 152]) oder in einem Brief Luthers an Albrecht von Mainz vom 1. Dezember 1521 (WAB 2,408,78–82 [Nr. 442]). 13 H. Barge: Andreas Bodenstein von Karlstadt, 1. Teil, 1905, 265–281.286–290.295– 300.

362

7. Grundideen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

findung und grundsätzliche Klärung der Gelübde- und Zölibatsfrage.14 Deren abschließende Zusammenfassung und Entfaltung findet sich in den beiden Thesenreihen zu den Mönchsgelübden von Anfang September,15 zwei Postillenpredigten aus dem Sommer und dem Herbst16 und dem Mitte November verfaßten Gutachten (»iudicium«) De votis monasticis.17 Anfangs, im August 1521, reagierte Luther noch sehr zurückhaltend auf die Wittenberger Diskussion, über die ihn wohl Melanchthon informiert hatte. Während Luther den Pflichtzölibat der Priester für nicht bindend hält, hat er sich hinsichtlich der Mönchsgelübde weder ein abschließendes Urteil gebildet noch denkt er an mögliche praktische Konsequenzen. Einerseits ist ihm klar, daß die Mönchsgelübde in ihrem herkömmlichen Sinn mit der christlichen Freiheit unvereinbar sind. Andererseits macht er deutlich, daß sie eine freiwillige Selbstverpflichtung sind, die zudem der nachdrücklichen neutestamentlichen Empfehlung des ehelosen Lebens entspricht. Deshalb kann ihre Gültigkeit nicht durch Karlstadts Behauptung der praktischen Unmöglichkeit der Einhaltung, die mit der kaum kontrollierbaren Sexualität und mit der fragwürdigen Exegese zusammengesuchter biblischer Belegstellen begründet wird und gar nicht für alle Gelobenden zutrifft, bestritten werden. Vielmehr kann nur eine grundsätzliche theologische Bewertung der Mönchsgelübde ihre Gültigkeit oder Ungültigkeit erweisen, was darüber hinaus die für einen seelsorgerlich verantwortlichen Umgang mit den Mönchen und Nonnen notwendige Gewißheit verschafft. Geht es doch um ein Problem von großer Bedeutung für die einzelnen Betroffenen wie für die gesamte Gesellschaft. Mit der 14 WAB 2,370,1–371,50 (Nr. 424; MBW.T 1,323,1–324,49 [Nr. 157]; 1.8.1521), WAB 2,373,5–375,90 (Nr. 425; MBW.T 1,327,3–330,89 [Nr. 158]; 3.8.1521), WAB 2,377,4 f. (Nr. 426; 6.8.1521), WAB 2,380,20–39 (Nr. 427; 15.8.1521), WAB 2,382,5–385,131 (Nr. 428; MBW.T 1,340,3–346,129 [Nr. 165]; 9.9.1521), WAB 2,390,4–15 (Nr. 430; 9.9.1521). Das Thema findet sich auch in der Folgezeit: WAB 2,404,6–405,14 (Nr. 441; 22.11.1521), WAB 2,412,20–23 (Nr. 444; 12.12.1521), WAB 2,413,3 f. (Nr. 445; 18.12.1521). 15 Themata de votis (verfaßt Anfang September, gedruckt Anfang Oktober; WA 8,313–322.323–335). 16 Grundsätzliche Aussagen über das Mönchtum und die Gelübde enthalten die im August oder September 1521 entstandene Predigt über Gal. 3,23–29 (WA 10I/1,481,9– 499,10) und die Mitte November entstandene Predigt über Mt. 2,1–12 (WA 10I/1,681,24– 709,9). 17 WA 8,564–572.573–669 (gedruckt Ende Dezember 1521, Anfang Januar 1522). – Literatur zu dieser Schrift und zu Luthers Stellung zum Mönchtum seit 1520/21: O. Scheel: Anmerkungen und Erläuterungen zur Schrift Luthers über die Mönchsgelübde (in: Luthers Werke, Ergänzungsband II, 1905, 1–202); B. Lohse: Mönchtum und Reformation, 1963, 363–370; V. Pabst: ›... quia non habeo aptiora exempla.‹ Eine Analyse von Martin Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchtum in seinen Predigten des ersten Jahres nach seiner Rückkehr von der Wartburg 1522/1523, 2007; D. Wendebourg: Der gewesene Mönch Martin Luther – Mönchtum und Reformation (KuD 52, 2006, 303– 327).

7.1. Das Problem der Mönchsgelübde

363

Gültigkeit der Mönchsgelübde steht das Mönchtum und Klosterwesen als ein integraler Bestandteil der spätmittelalterliche Kirche und Lebenswelt in Frage. Luther verweigert sich mit Blick auf die theologische Problematik und die besondere Situation der Betroffenen einer vorschnellen Lösung dieser Frage. Er verdeutlicht sich und den Wittenbergern erst einmal die unterschiedlichen Aspekte des Problems. Es geht nicht um eine akademische Frage, sondern um ein seelsorgerliches Problem. Dieses Problem ist grundsätzlich und im gemeinsamen Gespräch zu lösen. Dabei ist die in der Vollmacht des gegenwärtigen Christus als des »salvator & Episcopus animarum«18 ausgelegte Bibel von entscheidender Bedeutung, ohne daß Luther schon klar wäre, wie diese auf die Schrift gestützte grundsätzliche theologische Lösung aussieht. In den Briefen prüft er zahlreiche unterschiedliche biblische Belegtexte, findet aber keinen Ansatzpunkt für die von ihm geforderte grundsätzliche Lösung der Gelübdefrage. Die von ihm in Anspruch genommene christliche Freiheit in der Verantwortung vor Gott erlaubt es ihm jedoch von vornherein, eine in der libertas spiritus zu findende Lösung jenseits der hergebrachten und nach menschlichem Maß einsichtigen Strukturen anzustreben und dabei auch Karlstadts biblizistische und ohne Rücksicht auf die seelsorgerliche Situationsorientierung entwickelte Argumentationsansätze hinter sich zu lassen. Im September hat Luther dann die grundsätzliche Klarheit über die Mönchsgelübde gewonnen, indem er den Fokus von den Folgen des Gelübdes auf dieses selbst verschiebt und von dort auf den Geist, in dem gelobt wird: Nicht das Halten des Gelübdes oder das Gelübde als solches sind das Problem, sondern die innere Einstellung des Gelobenden, seine Gottesbeziehung. Falsch ist das Gelübde, das gelobt wird »animo contrario euangelicae libertati«, d.h. »animo salutis aut iustitiae quaerendae per votum«.19 Solche gottlosen Gelübde sind ungültig. Wer dagegen im Geist der Freiheit und ohne dadurch sein Heil sichern zu wollen gelobt, hat den rechten affectus cordis und legt ein gutes und verpflichtendes Gelübde ab. Als entscheidend haben sich in Luthers theologischer Urteilsbildung nicht einzelne biblische Belegtexte erwiesen, sondern der Gesamtzusammenhang der paulinischen Rechtfertigungslehre, wie die seine Position zusammenfassenden Thesenreihen über die Gelübde zeigen. Und von hier aus geurteilt, sind die Mönchsgelübde als solche nicht zu verurteilen, sondern nur, wenn sie Teil einer von außen auferlegten oder freiwillig übernommenen kirchlichen Zwangsordnung sind und im Widerspruch zur christlichen Freiheit stehen. 18 19

WAB 2,375,61. WAB 2,383,55–57.

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7. Grundideen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

Die Anfang September skizzenhaft ausgeführte Stellungnahme zum Gelübde- und Zölibatsproblem konnte nicht Luthers letztes Wort zur Sache sein. Er hatte zwar den Ansatzpunkt einer theologisch und seelsorgerlich verantwortlichen Lösung des Gelübdeproblems gefunden, mußte nun aber seine Sicht im einzelnen ausführen und begründen. Während sich im Herbst 1521 die Entwicklungsdynamik gerade auch in Wittenberg beschleunigte, arbeitete Luther in knapp zehn Tagen Mitte November seine grundlegende Schrift über die Mönchsgelübde aus. Kurz nach dem Jahreswechsel erschienen, wirkte sie als weithin vernommener Aufruf an die Ordensleute, Klöster und Konvente zu verlassen. Das war aber gar nicht Luthers Ziel gewesen. Denn seine theologische Argumentation und seine Anerkennung eines rechten Verständnisses der Mönchsgelübde waren weniger als Kritik am Mönchtum, sondern als Ermutigung zur Verwirklichung des monastischen Ideals wahren christlichen Lebens gemeint. Die Schrift gliedert sich in sechs Hauptteile, deren erste vier eine Anwendung der Grundgedanken der Freiheitsschrift auf das Gelübdeproblem sind.20 Luther prüft das Selbstverständnis und die Praxis des Mönchtums an den rechtfertigungstheologischen Kriterien seiner reformatorischen Theologie, indem er die Mönchsgelübde dem Gotteswort, dem Glauben, der evangelischen Freiheit und den göttlichen Geboten gegenüberstellt. Es zeigt sich, wie Luther selbst 1523 rückblickend feststellt, daß diese Anwendung der reformatorischen Theologie auf ein Einzelproblem in ihrem Vollzug wie ihrem Ergebnis durchweg überzeugend ist.21 20

Hier ein Überblick über die Gliederung: Widmungsbrief an den Vater (WA 8,573– 576); Einleitung (»Non disputari, sitne praestari votum, sed quae vota vere vota sint«: 577 f.); »Primum, vota non niti verbo Dei, immo adversari verbo Dei« (578–591); »II. Vota adversari fidei« (591–604); »III. Vota adversari libertati evangelicae« (605–617); »IIII. Vota adversari praeceptis Dei« (617–628); »V. Adversari rationi monasticen« (629– 641); »Ultimo« (641–666; 641–645: Armut, 645–649: Gehorsam, 649–666: Ehelosigkeit); »De viduis apud Paulum 1. Timoth. 5.« (666–668); Abschluß (668 f.). Der fünfte Hauptteil und der Anhang zur Auslegung von 1. Tim. 5 verdanken sich der Diskussion mit den Wittenbergern im August. Luther bedient sich ähnlich wie Melanchthon des Vernunftarguments. Allerdings ordnet er es den theologischen Argumenten nach und hält es für verzichtbar. 21 Luther bezeichnet sein libellus de votis in dem der 1523 erschienenen Widerlegung von Schatzgeyers Gegenschrift durch Johannes Briesmann vorangestellten Brief als »omnium quos scripsi, etiam me teste munitissim[us] et quod ausim gloriari invict[us]« (WA 15,284,26 f.). – Auch wenn Luthers Auseinandersetzung mit dem mittelalterlichen Mönchtum kein um historische Gerechtigkeit bemühtes Bild zeichnet und das rechtfertigungstheologische Entweder-Oder von Glaube oder Werken, von opus Dei oder soteriologisch verzwecklichter menschlicher Praxis eine überscharfe Kontrastierung ergibt, so muß doch festgehalten werden, daß Luther das mittelalterliche Mönchtum durchaus differenziert betrachtet, etwa wenn er neben all seiner Kritik Persönlichkeiten wie Bernhard von Clairvaux oder Franz von Assisi positiv würdigt (z.B. WA 8,579,26–34; 587,32– 39; 601,18–31; 612,27–30; 617,9–15.32–35; 628,24–30; 658,15–21). Luther rückt das spät-

7.1. Das Problem der Mönchsgelübde

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Im grundlegenden ersten Hauptteil22 stellt Luther die fundamenta devotariorum vor Augen. Hier sind zwei principia zu nennen: die Unterscheidung von Räten und Geboten23 sowie die Unterscheidung des Standes der Vollkommenheit und der Unvollkommenheit.24 Für das mittelalterliche Mönchtum gilt das Evangelium nicht allen Christen gleichermaßen (»Euangelium non esse omnibus commune«),25 sondern es gliedert sich in allgemein verpflichtende Gebote (praecepta) und nur einer elitären Minderheit kraft freiwilliger Selbstverpflichtung geltende Räte (consilia). An dieser Einteilung des Evangeliums ist zweierlei falsch: Erstens, daß so die grundlegende Unterscheidung von Gesetz und Evangelium – und damit das Heil und das Leben aus dem Glauben – aufgehoben und das Evangelium zum Gesetz gemacht wird. Dadurch verliert das Evangelium seinen Charakter als »merae promissiones dei«26 und die Bergpredigt läßt sich nicht mehr als in dieses Evangelium eingeflochtene und davon zu unterscheidende Sammlung von »declarationes [...] mandatorum dei et exhortationes ad eadem servanda«27 verstehen. Und zweitens, daß die Geltung von Gesetz wie Evangelium für alle Menschen aufgehoben wird. Daß die Unterscheidung von praecepta und consilia falsch ist, ergibt sich nicht nur aus der paulinischen Rechtfertigungslehre, sondern läßt sich am biblischen Text selbst, und zwar gerade auch an der für diese Unterscheidung in Anspruch genommenen Bergpredigt aufzeigen.28 Die herkömmliche Auslegung macht die Seligpreisungen und Antithesen zu Räten, die nur den Mönchen, nicht dem vulgus gelten: sich nicht rächen, nicht Böses mit Bösem vergelten, nicht vor Gericht streiten, mit dem Mantel auch den Rock lassen, die andere Backe darbieten, die zweite Meile mitgehen, dem Bösen nicht zu widerstehen, dem Widersacher auf dem Wege willfährig sein, den Feind lieben, den Hasser wohltun, für die Verfolger und Verleumder beten, jedem Bittenden umsonst geben, ohne Zinsen borgen, alles verkaufen und verlassen und Christus nachfolgen, sich allen, auch den Unwürdigeren, unterordnen, ehelos leben. Der biblische Text selbst (Mt. mittelalterliche Mönchtum nicht wider besseres Wissen in ein schlechtes Licht, sondern sieht das Selbstverständnis und die Praxis des Mönchtums durchaus richtig, wie Otto Scheel in seinen Anmerkungen und Erläuterungen zur Schrift Luthers über die Mönchsgelübde gegen die Lutherkritik Denifles und anderer nachgewiesen hat. Deshalb ist seine theologische Kritik bei aller Überspitzung geschichtlich und sachlich durchaus nicht im Unrecht. 22 WA 8,578–591. 23 WA 8,580,21–584,22. 24 WA 8,584,23–585,2. 25 WA 8,580,22. 26 WA 8,580,27. 27 WA 8,580,28 f. 28 WA 8,581,19–582,26.

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7. Grundideen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

5,1 f.17–20) macht klar, daß Christus hier – mit Ausnahme der Ehelosigkeit29 – keine Räte, sondern verpflichtende Gebote (»necessaria mandata«, »quid faciendum sit necessario«)30 gibt. Die der Unterscheidung von Geboten und Räten zugrundeliegende Bergpredigtexegese ist aber nicht einfach nur falsch, sondern Ausdruck einer gottlosen und blasphemischen Grundhaltung. Diese folgt nicht Christus als dux et lux nach, sondern gibt die communis via Christianorum zugunsten eines Irrwegs preis.31 Die Einteilung der vita christiana in den status perfectionis für die Mönche und den status imperfectionis32 für den vulgus ist falsch, weil sie die christliche Vollkommenheit an äußerlichen Kriterien wie bestimmten Gelübden und Werken bemißt, und nicht an der inneren, am Geist des Glaubes und der Liebe. Gegen die Hybris der »monasticissimi«,33 deren tatsächliches Leben diesem Anspruch nicht einmal gerecht wird, definiert Luther den Stand der Vollkommenheit im Sinne seiner reformatorischen Theologie neu: »Perfectionis status est, esse animosa fide contemptorem mortis, vitae, gloriae et totius mundi, et fervente charitate omnium servum«.34 Und diese Vollkommenheit ist keine Sache menschlicher Wahl und Eigenwirksamkeit, sondern gründet in dem mit der Taufe anhebenden Gotteswirken am Menschen.35 Schon in der Taufe ist das Gelübde geschehen, das die Mönchsgelübde – bis auf die Ehelosigkeit – einschließt. Die Taufe verpflichtet zu einer christlichen communis via, die der monastischen Vollkommenheitsforderung nicht nachsteht, ja sie sogar übertrifft, weil die Mönche die Vollkommenheit willkürlich auf Armut, Gehorsam und Ehelosigkeit einschränken. Die monastische Hochschätzung der Profeß36 als 29 Die als Ehelosigkeit zu verstehende Keuschheit (die Keuschheit im weiteren Sinne ist nach Luthers Verständnis »Sache aller Christen und in der Ehe ebenso wie im Zölibat zu leben« [D. Wendebourg: Der gewesene Mönch Martin Luther, KuD 52, 2006, 31451]) ist das einzige echte consilium in dieser Reihe (WA 8,583,30–584,22). Aber auch dieser Rat wird für Luther verdreht, wenn durch das monastische Keuschheitsgelübde für alle Gelobenden verbindlich gemacht wird, was nur wenigen von Gott als Gabe gegeben ist und darum frei bleiben muß. Zu Luthers Deutung der biblischen Aussagen über die Virginität: O. Scheel: Anmerkungen und Erläuterungen zur Schrift Luthers über die Mönchsgelübde, 1905, 45–50. 30 WA 8,581,31.34. 31 WA 8,583,21.25 f. 32 Luthers Rede vom »status imperfectionis« ist eine so im mittelalterlichen Sprachgebrauch nicht belegte Zuspitzung, trifft aber das Selbstbewußtsein und die Praxis des mittelalterlichen Mönchtums (s. O. Scheel: Anmerkungen und Erläuterungen zur Schrift Luthers über die Mönchsgelübde, Anm. 57 [51–90] zu WA 8,584,24). 33 WA 8,584,32. 34 WA 8,584,29 f. 35 WA 8,585,38–586,12. 36 O. Scheel: Anmerkungen und Erläuterungen zur Schrift Luthers über die Mönchsgelübde, 1905, Anm. 95 (114–130) und Anm. 101 (134–157).

7.1. Das Problem der Mönchsgelübde

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einer Erneuerung der Taufe, die zusätzliche Gnaden erschließt, dafür aber auch zusätzliche Forderungen auferlegt, ist für Luther eine Verleugnung der Taufe und des in ihr allen Christen gleichermaßen geschenkten göttlichen Heils und der in ihr allen gleichermaßen aufgerichteten göttlichen Weisung. So machte Franz von Assisi – für Luther übrigens im Widerspruch zu seiner ursprünglichen Absicht – mit seiner Ineinssetzung von Evangelium und Franziskanerregel das »commune«, ja »communissimum [...] Euangelium« zu einer singularis regula paucorum, und erklärte gerade so das, was Christus allen Christen gab (»quod catholicum esse Christum voluit«) zum Sonderbesitz weniger (»traheret in schismaticum«).37 Im Gegenüber zum falsch verstandenen Mönchtum stellt Luther das wahrhaft christliche Leben vor Augen. Dieses Leben sucht sich seinen Weg nicht »ultra et praeter Christum«,38 sondern es hat bereits Christus als seinen Weg: »Stat enim invicta haec rupes: ›Ego sum via‹ [Joh. 14,6], et nullus alius«.39 Und Christus ist die communis via Christianorum,40 was erst einmal nichts weiter heißt, als sich im Glauben von Gott leiten zu lassen, um den einen, allen Christen gemeinsamen Glauben in unterschiedlichen Zusammenhängen zu leben: »Stat enim fixa apud deum sententia, omnes sanctos eodem spiritu et eadem fide vivere, agi et regi, sed diversa opera foris operari. Ut enim non eodem tempore, ita nec eodem loco, nec idem opus, nec coram eisdem personis operatur per illos, sed transit per tempora, loca, opera, personas varias, semper eodem spiritu et fide eos regens, ut fiant viae eius absconditae et vestigia eius incognita, dum unumquemque alio opere, alio loco, alio tempore, aliis personis exercet, quam in aliis sanctis vidit et audivit, cogiturque opere, loco, tempore, personis, casibus sibi prius incognitis regentem ac ducentem deum sequi«.41

Luther verdeutlicht seinen Adressaten in den Klöstern und Konventen diese für das christliche Leben maßgebenden Prinzipien des solus Christus und sola fide, indem er den ersten Hauptteil seiner Schrift mit einer Auslegung des allen Mönchen und Nonnen aus dem Stundengebet vertrauten Ps. 62 abschließt.42 Es kommt nicht darauf an, die äußere Lebensform der verehrten monastischen Vorbilder nachzuahmen, sondern sich ihren Glauben zum Vorbild zu nehmen. Denn nicht ihre Werke, sondern ihre Beziehung zu Gott im Glauben ist die eigentliche Berufung (vocatio) der Mönchsväter:

37

WA WA WA 40 WA 41 WA 42 WA 38 39

8,579,38–580,19. 8,579,19 f. 8,579,24 f. 8,583,25 f. 8,588,15–23. 8,588,33–591,3.

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7. Grundideen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

»Haec est enim vera via salutis, subdi deo, in fide ei cedere et silere, ponere tumultum praesumptionis operum, quibus querunt impii eum invenire, et sese ductilem prebere, ut ipse in nobis operetur, non nos operemur«.43

Daß sich Glaube und Werke hinsichtlich des Heils gegenseitig ausschließen, daß also die als heilsrelevant verstandenen Mönchsgelübde und die mit ihnen verbundenen, ebenfalls soteriologisch verzwecklichten Werke gerade kein Heilsweg sind, sondern vielmehr Christi Heilswerk und den Glauben entwerten (»impietas negati Christi et repudiatae fidei«)44, ist das Thema des zweiten und dritten Hauptteils.45 Der Glaube an Christus kann nicht dulden, daß irgendein menschliches Werk soteriologische Relevanz hat, wie es das Mönchtum behauptet. Stattdessen gilt: »Christiani diffinitio est haec: credens solius Christi operibus solis sine propriis iustificari, a peccatis liberari et salvari«.46 Das Mönchtum dagegen lehrt heilsrelevante Werke, »Opus vero non potest doceri, nisi ledas fidem, cum fides et opera in re iustificationis extreme adversentur«.47 Die eigentliche Absicht des Gelübdes (cordis sui sententia coram Deo), nämlich durch eine freiwillige Selbstverpflichtung auf eine Sonderexistenz heilsrelevante Tatsachen zu schaffen, ist darum eine Verleugnung Christi und des Glaubens im Vertrauen auf eigenen Werke.48 Dagegen verläßt sich ein rechtes Gelübde auf Gottes Heilshandeln und verpflichtet sich folgendermaßen: »hoc ago, quandoquidem in carne vivendum est, nec ociandum est, apprehendam hanc formam vivendi exercendi corporis gratia, ad serviendum proximo, ad meditandum in verbo tuo, quemadmodum alius apprehendit agriculturam aut artificium, pro suo quisque exercitio, absque ullo meritorum aut iustificationis respectu, quam oportet in fide priorem esse et semper superiorem manere et in omnibus regnare etc.«49

Das rechte Gelübde sieht im Mönchsstand einen allen anderen Lebensformen gleichwertigen Aktionsraum für die Ausgestaltung der Beziehung zu Gott und zum Mitmenschen. Das monastische genus vitae ist nicht die res ipsa und substantia christlicher Existenz – das ist der Glaube –, sondern nur deren usus und exercitium.50 Um das so legitimierte Gelübde gegen Mißverständnisse zu schützen, arbeitet Luther im dritten Hauptteil die Eigenart der evangelischen Frei43

WA 8,588,24–28; 589,25–35; Zitat: 589,28–31. WA 8,596,28 f. 45 Vor allem WA 8,594,31–617,15. Luther selbst sieht im dritten Hauptteil nur eine 44

Ergänzung und Verdeutlichung des in den beiden grundlegenden ersten Hauptteilen Ausgeführten (WA 8,605,2–10). 46 WA 8,599,30–32. 47 WA 8,600,34–36. 48 WA 8,603,13–28. 49 WA 8,604,18–23. 50 WA 8,604,33–37.

7.1. Das Problem der Mönchsgelübde

369

heit heraus, die nicht frei macht von den ethischen Konsequenzen des Rechtfertigungsglaubens, sondern von der falschen Meinung, als sei das christliche Handeln heilsrelevant. Luther formuliert selbst einen überaus plausibel konstruierten Einwand gegen seine Position: Der Glaube schließe nach dem Neuen Testament Werke zwar hinsichtlich der Konstitution des Heils aus, nicht aber als Voraussetzung für den Eingang in das ewige Leben und als notwendige Folge des Glaubens, welche den Glauben als Glauben erweise.51 Obwohl Luther selbst die Notwendigkeit der guten Werke betont – und zwar in einer diesem Einwand durchaus vergleichbaren Weise –, muß er diesem Versuch der soteriologischen Funktionalisierung menschlichen Handelns widersprechen. Denn diesem Einwand geht es nicht um den engen Zusammenhang von Glaube und Werken, sondern um die Beschränkung des Glaubens auf einen Teilvorgang der Rechtfertigung. Demgegenüber ist die christliche Freiheit zu betonen, die allerdings nicht die Freiheit von guten Werken, sondern die Freiheit des durch Christus vom falschen Vertrauen auf die guten Werke befreiten und nun auf Christi Heilswerk allein vertrauenden Gewissens meint: »libertas conscientiae, qua solvitur conscientia ab operibus, non ut nulla fiant, sed ut in nulla confidat«.52 Gottes Gebote gelten selbstverständlich auch dem Glaubenden und er ist zu ihrer Befolgung verpflichtet, aber er hat die richtige innere Einstellung gegenüber seinen Werken.53 Er tut die im Dekalog befohlenen Werke »secundum substantiam, sed non secundum conscientiam«, d.h. ohne durch sie sein Gewissen beruhigen und sich vor Gott rechtfertigen zu wollen. Die mit dem Glauben gleichnotwendigen guten Werke sind Werke »Christi in nobis per fidem operantis et viventis per omnia« und geschehen »libere et gratis« »ad usum et commodum proximi«. Mit dem Hinweis auf die durch Christus gewirkte Erfüllung des Dekalogs will Luther nicht eine präskriptive Funktion des Gesetzes und der äußeren Ordnungen im herkömmlichen Sinne behaupten.54 Vielmehr geht es ihm darum, daß der Glaubende die äußeren Ordnungen von Kir51 »Opera legis divinae in decalogo mandata, ut castitas, mititas, largitas, obedientia parentum, non iustificant nec sunt necessaria ad salutem, cum Paulus dicat: ›Ex operibus legis non iustificatur omnis caro‹ [Röm. 3,20]. Tamen necessaria sunt, dicente Christo Matth. xvi. [Mt. 19,17] ›Si vis ingredi ad vitam, serva mandata‹. Neque enim possunt omitti, etiam praesente fide, quae sola iustificet, cum sint fructus fidei iustificantis. Fides enim sine operibus mortua et nihil valet, i. Corinth. xiii. [1. Kor. 13,2]. Et Petrus [2. Petr. 1,5] in fide virtutem requirit. Et Galatis [Gal. 5,6] fidem operosam per dilectionem praescribit« (WA 8,606,16–24). 52 WA 8,606,31 f. 53 WA 8,608,15–37. 54 Aufgabe des Gesetzes ist, »non exigere nostra opera, sed ostendere peccatum et impossibilitatem nostram«; hinsichtlich der Werke lebt der Christ ohne Gesetz, jedoch nicht frei von den Werken (WA 8,609,14–23).

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7. Grundideen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

che und Welt – darunter auch die Gelübde und ihre Werke – aus der existentiellen Gemeinschaft des sponsus Christus mit seiner sponsa, der conscientia, »per Christum in nobis spiritu libertatis« befolgt.55 Diese für Luthers Vorstellungen vom christlichen Leben schon in den frühen Vorlesungen kennzeichnende Dialektik von Freiheit und Ordnung wird im vierten Hauptteil von De votis monasticis anhand des Dekalogs weiter ausgeführt. Der Dekalog setzt den Ordnungsrahmen christlicher Existenz, wobei die erste Tafel den Glauben an Gott56 und die zweite die Nächstenliebe57 fordert. Gemessen an den Forderungen der ersten Dekalogtafel erweisen sich das Mönchsgelübde und die monastischen Frömmigkeitswerke – Luther denkt in diesem Zusammenhang gerade auch an die klösterliche Gottesdienst- und Gebetspraxis – gerade als das Gegenteil der wahren Gottesverehrung.58 Während die Mönche ihre Werke für heilsrelevant halten und durch sie nicht im Namen Christi, sondern im eigenen Namen das Heil erlangen wollen und so Gottes Namen entehren, gilt von den Glaubenden: »Christianus ascendit [in coelum] operibus alienis, nempe Christi, in quem baptisatus et transplantatus vivit iam non ipse, sed Christus in ipso, sanctificans ei sabbatum plenissime ab operibus suis omnibus«.59

Aber nicht nur hinsichtlich der Gottesbeziehung, die im Kloster im Mittelpunkt zu stehen und in quantitativ und qualitativ nicht zu übertreffender Weise gepflegt zu werden scheint, sondern auch hinsichtlich der Beziehung zur Welt steht das Mönchtum im Widerspruch zum Gotteswillen. Denn die zweite Tafel des Dekalogs läßt sich in zwei Gebote zusammenfassen: »in obedientiam parentum et charitatem proximi«.60 Die Mönchsgelübde aber lassen einen Gehorsam gegenüber diesen beiden Geboten gar nicht zu. Vielmehr basieren sie gerade darauf, daß der Gelobende sich diesen Forderungen entzieht. Luther hat das im Rückblick auf seinen eigenen Klostereintritt erkannt, wie er im Widmungsbrief an seinen Vater schreibt. Als dieser – in einem Gespräch, das wohl nach der unwiderruflichen Profeß 1506, vielleicht im Anschluß an die Primiz 1507 stattfand – seinen Sohn auf den Gehorsam gegen das vierte Dekaloggebot hinwies, hatte Luther sich im Vertrauen auf die demgegenüber als vorrangig geltenden Gelübde der einfachen Wahrheit des göttlichen Gebots verweigert.61 55

WA 8,609,24–610,12. WA 8,618,1–623,2. 57 WA 8,623,4–629,21. 56

58 »Fides enim in primo [praecepto], laus et confessio nominis in secundo, et opera dei in nobis in tertio praecipiuntur. In his tribus absolvitur verus ille et legitimus cultus dei. At institutio voti, dum docet opera, fidem evacuat (ut diximus) et inde abiecto nomine dei suum erigunt« (WA 8,618,2–6). 59 WA 8,618,30–33. 60 WA 8,623,5.

7.1. Das Problem der Mönchsgelübde

371

Dieses Erlebnis ist für Luther symptomatisch für das Mönchtum als ganzes. Denn es umgeht mit seinen scheinbar so viel großartigeren Werken den schlichten, in der Taufe gelobten Gehorsam gegen Gottes Gebot. Entscheidend ist nicht das »plura et maiora [opera facere]«, sondern das Handeln »maiore fide et charitate«.62 Die in den opera misericordiae (Mt. 25,35f.) geforderte spontane Tat der Nächstenliebe darf nicht durch den ihr übergeordneten Gehorsam gegenüber dem Oberen und die Beschränkung auf den klösterlichen Bereich unmöglich gemacht werden.63 Gegen solche überhebliche Mißachtung des Gotteswillens stellt Luther im Widmungsbrief, der als Zusammenfassung »et causam et argumentum et exemplum huius libelli« enthält,64 den Ansatzpunkt seiner Auseinandersetzung mit dem Mönchtum heraus: »nihil esse sanctius, nihil prius, nihil religiosius observandum, quam divinum mandatum«.65 Scheint sich in dieser Aussage (»nihil religiosius«) wie in manchen anderen66 noch die Bejahung eines anders verstandenen und erneuerten Mönchtums anzudeuten, so endet Luthers Schrift in einer grundsätzlichen Verneinung einer Fortführung des Mönchtums. In der »Summa«67 erklärt er die Mönchsgelübde (vota), ihren Inhalt (res) und ihre Absicht (opinio), und damit das ganze monastische genus vitae, die ganze duch die Mönchsgelübe konstituierte Ordnung für dem Evangelium widersprechend und darum theologisch unhaltbar. Durch den Evangeliumsglauben ist der Christ von den Mönchsgelübden befreit: »Proinde fidendum est Euangelium, et vota ista, quocunque casu, quocunque animo, quocunque tempore emissa, cum tota fiducia deserenda sunt et ad libertatem fidei Christianae redeundum«.68 Die Forderung der Rückkehr aus der Wüstenexistenz des Klosters in die Welt (»habes hic autoritate Christi, ut liceat, immo oporteat redire«)69 heißt für Luther aber nicht, sogleich das Kloster zu verlassen. Allerdings wurde Luther vielfach so verstanden, und schon im Herbst 1521 begann die große Austrittsbewegung, die binnen weniger Jahren vielerorts zu einer fast völligen Beseitigung der monastischen Lebensform führte.70 Luther selbst 61

8,573,19–574,10. 8,637,13 f. 8,625,13–19. 8,573,10 f. 8,573,14 f. 66 Etwa wenn Luther das Mönchsgelübde neuformuliert (WA 8,604,18–23) oder die monastische Lebensweise (res votorum) unter bestimmten Bedingungen für akzeptabel erklärt (WA 8,616,36–38). 67 WA 8,668,10–22. 68 WA 8,668,18–20. 69 WA 8,658,12 f. 70 Zu den Anfängen dieser Austrittsbewegung in Wittenberg: N. Müller: Die Wittenberger Bewegung 1521 und 1522, 21911, Nr. 28.31.101. – Zu den unmittelbaren AusWA WA 63 WA 64 WA 65 WA 62

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bemühte sich 1521/22 dagegen um eine geordnete Möglichkeit des Austritts aus den Augustinereremitenkonventen der deutschen Reformkongregation. Dabei ging er davon aus, daß gar nicht alle Ordensangehörigen daran interessiert waren.71 Er selbst kehrte im Frühjahr 1522 in seinen Wittenberger Konvent zurück und trug noch bis 1524 seinen Habit,72 und er konnte auch später in Einzelfällen die Fortexistenz monastischer Institutionen befürworten.73 Aber dieses im Rahmen der reformatorischen Theologie neu verstandene »Mönchtum« war nicht mehr der Wirklichkeit gewordene Inbegriff christlichen Lebens, nicht mehr herausgehobener Teil der göttlichen Ordnung, sondern ein Teil der menschlichen Ordnung neben anderen, dessen christliche Ausgestaltung sich am allen Christen gleichmaßen geltenden divinum mandatum, an Glaube und Liebe orientierte. Mit Luthers breitenwirksamer Stellungnahme zum Mönchsgelübde war – zumindest in den von der reformatorischen Bewegung erfaßten Gebieten – eine lange Geschichte zu ihrem Ende gekommen. Mehr als tausend Jahre lang hatte es zwei Stufen des Christseins gegeben: Das Christsein der Wenigen, die primär für Gott lebten und dadurch zugleich dem Heil näher waren und strengeren Anforderungen unterlagen; und das der Vielen, die primär in der Welt lebten und einer weniger strengen Disziplin unterlagen, dafür aber auch auf die kirchliche Unterstützung zur Erlangung des Heils angewiesen waren. Luther ging es darum, diese problematische Beschränkung wahrhaft christlichen Lebens auf wenige und seine inhaltliche Füllung durch die Gesetzes- und Werkgerechtigkeit aufzubrechen und den wahren einfältigen Sinn der gottgesetzten Ordnung wieder zur Geltung zu bringen. Gegen das monastische Berufs- und Standesethos setzte er das wirkungen von Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchsgelübde an konkreten biographischen Beispielen: A. Rüttgardt: Klosteraustritte in der frühen Reformation. Studien zu Flugschriften der Jahre 1522 bis 1524, 2007. 71 So in einem Brief an Generalvikar Link vom 18. Dezember 1521 (WAB 2,414,5– 415,32 [Nr. 446]). 72 Nachdem Luther 1522 demonstrativ im Mönchshabit nach Wittenberg zurückgekehrt war, trug er ihn weitere zwei Jahre bis zum 16. Oktober 1524, wobei er auch darauf verzichten konnte, um seine christliche Freiheit zu demonstrieren (WAB 3,299,23– 25 mit Anm. 6 [Nr. 748]; WATR 4,303,17–304,6* [Nr. 4414]; WATR 4,624,14–21* [Nr. 5034]). 73 So 1528, als Luther dem Abt Heino Gottschalk die Fortführung des Klosterlebens empfahl (WAB 4,390 f. [Nr. 1228]), oder 1532/34, als Luther sich für den Fortbestand des Herforder Fraterhauses einsetzte (WAB 6,254 f. [Nr. 1900]; WAB 7,112–114 [Nr. 2144]; WAB 7,114 f. [Nr. 2145]; hierzu: R. Stupperich: Luther und das Fraterhaus in Herford, in: H. Liebing, K. Scholder [Hgg.]: Geist und Geschichte der Reformation, 1966, 219– 238, und Das Herforder Fraterhaus und die Reformation, Jb. d. Vereins f. Westfäl. Kirchengeschichte 64, 1971, 7–37).

7.1. Das Problem der Mönchsgelübde

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Leben aus dem Glauben in den Strukturen der Welt. Und indem er in seiner Schrift über die Mönchsgelübde die zweite Dekalogtafel mit ihren Forderungen von Elterngehorsam und Nächstenliebe als den Ordnungsrahmen christlichen Lebens in der Welt den Mönchsgelübden gegenüberstellte, schuf er die Möglichkeit, dieses Leben in neuer Weise zu erfassen. Über das Ergebnis dieser Entfaltung seiner reformatorischen Bekehrung zur Welt urteilte Luther selbst 1528 rückblickend, indem er seine »reformation« dem mittelalterlichen Kirchenwesen gegenüberstellt: »Widderumb hab ich auff unser seiten von Gotts gnaden so viel ausgericht, das Gott lob itzt ein knab odder medlin von funffzehen iaren mehr weis ynn Christlicher lere, denn zuvor alle hohe schulen und Doctores gewust haben, Denn ist ia der rechte Catechismus bey unserm heufflin widder auff der ban, nemlich das Vater unser, der Glaube, die Zehen gebot, Was die busse, tauffe, gebet, Creutz, leben, sterben und das sacrament des altars sey, Und uber das, was die ehe, die welltlich e oberkeit, was vater und mutter, weib und kind, man und son, knecht und magd, Und ynn summa alle stende der wellt hab ich zu gutem gewissen und ordnung bracht, das ein iglicher weis, wie er lebt und wie er ynn seinem stande Gott dienen solle, Und ist nicht geringe frucht, fride und tugend erfolget bey denen, die es angenomen«.74

Schon 1519/20 diente die Auslegung des vierten Dekaloggebots und die Vorstellung von der aus dem Glauben fließenden Nächstenliebe dazu, christliches Leben in der Welt zu beschreiben. 1521 aber, vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit dem Mönchtum, entwickelte Luther diese Ansätze weiter. In De votis monasticis finden sich dazu aber nur einige verstreute Andeutungen,75 so daß man für diese systematisierende Verdichtung von Luthers Anschauungen über das christliche Leben auf andere Schriften des Jahres 1521 zurückgreifen muß, in denen Luther Grundzüge seiner Berufsethik und Ständelehre entwickelt.76 Sachlich notwendig war dieser Schritt, weil der »Dekalog und das Liebesgebot [...] für sich noch nicht zu bestimmter Weisung für den einzelnen [führen], was er jetzt und hier im Zusammenleben mit den anderen zu tun hat«.77 Wie Dekalog und Liebesgebot im konkreten Lebensvollzug des einzelnen Menschen zur Geltung kommen, zeigen einige der von Mai bis November 74 75

WA 26,530,8.25–35. Z.B. WA 8,604,18–23; 610,5–10.

76 Darauf, daß zwischen Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchtum und seiner Thematisierung von Beruf und Ständen nicht nur eine zeitliche, sondern auch eine sachliche Koinzidenz besteht, hat die Forschung seit dem 19. Jahrhundert immer wieder hingewiesen (z.B. K. Eger: Die Anschauungen Luthers vom Beruf, 1900, 44–68; Holl 3,216–218; TRE 5,660–663 [Gustaf Wingren]). – Auch in der Folgezeit erschöpfte sich Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchtum nicht in der Kritik, sondern diente der positiven Entfaltung der reformatorischen Theologie und besonders des christlichen Lebens (V. Pabst: ›... quia non habeo aptiora exempla.‹, 2007, 308–352). 77 P. Althaus: Die Ethik Martin Luthers, 1965, 43.

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7. Grundideen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

1521 auf der Wartburg entstandenen Postillenpredigten,78 in denen Luther die in den Programmschriften des Jahrs 1520 entwickelten Grundzüge seiner reformatorischen Theologie entfaltet. In der Predigt über Joh. 21,19–2479 kommt Luther darauf zu sprechen, daß der Christ sich in einem bestimmten, von Gott gesetzten Beruf und Stand vorfindet, und daß es seine Aufgabe ist, sein christlichen Leben in eben diesem Beruf und Stand zu führen.80 Wenn der Auferstandene bei der Begegnung mit Petrus dessen Interesse für das Schicksal des Lieblingsjüngers abweist und ihm stattdessen dreimal befiehlt »Weyde meyne schaff«, ihn auf seine Leidensnachfolge vorbereitet und in seine Nachfolge ruft, dann enthält das die »trefflich und mercklich lere«, daß »eyn iglicher wartten [soll], was yhm befolhen ist, unnd warnhemen seynis beruffis«.81 Das an Petrus beispielhaft belegte Ausweichen vor dem jedem einzelnen geltenden besonderen Gotteswillen wiederholt sich in Luthers Gegenwart darin, daß man sich an »menschenlere und weg oder gepott«, an »eygen ersuchte oder erleßene werck« und »der heyligen exempell« hält,82 und etwa »weyb unnd kynd sitzen [läßt], die yhm von gott befolhen sind«,83 um auf Wallfahrt zu gehen. Das aber heißt für Luther, »den rucken [zu] keren tzu dem befelh und beruffen der folge Christi« und zu übersehen, daß der »beruff und befelh« des einzelnen Christen »viell eyn anderer ist, denn des heyligen, dem er folgt«.84 Stand und Beruf meint, daß jeder »beruffen« ist, d.h. sich »ynn eynem stand« vorfindet, nämlich »ehlich man odder weyb odder kind odder tochter odder knecht odder magt« oder »furst, herr, geystlich odder weltlich«.85 In diesem jeweiligen Stand und Amt hat man genug zu tun und muß keine Frömmigkeitswerke zusätzlich oder anstelle der Berufspflichten tun: 78 WA 10I/1,VII-X.1–728 (die editorische Einleitung zur Wartburgpostille insgesamt findet sich in WA 10I/2,IX-LXXXIX). Zu den Postillenpredigten zählt auch das Evangelium von den zehn Aussätzigen (WA 8,336–339.340–397) über den Predigttext des 14. Sonntags nach Trinitatis, das Luther als Vorarbeit für die Fortsetzung der Postille (WA 8,343,28–31) in die Arbeit an der Weihnachtspostille einschob und das »Christianae rei ferme summam complectatur & abunde vitam pietatis format« (WAB 2,392,24 f.). 79 WA 10I/1,305–324. Luther nimmt Joh. 21 immer wieder zum Anlaß, um sich in Predigten mit den Themen Beruf und Stände zu befassen, so 1519 (WA 9,443*) und 1530 (WA 32,66–76*). 80 Diese Predigt ist nicht das erste Zeugnis von Luthers Beschäftigung mit diesem Thema, aber die thematisch vergleichbaren Äußerungen aus den früheren Jahren stehen entweder im Zusammenhang von Luthers Frühtheologie oder lassen seine Position nur unzureichend erkennen (wie die Predigt vom 27. Dezember 1519, s. o. 6.1., Anm. 153). 81 WA 10I/1,306,17 f. 82 WA 10I/1,307,23–308,2. 83 WA 10I/1,307,15 f. 84 WA 10I/1,307,17 f.20 f. 85 WA 10I/1,308,8–10; 308,23–309,1.

7.1. Das Problem der Mönchsgelübde

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»Sihe, wie nu niemand on befelh und beruff ist, ßo ist auch niemand on werck, ßo er recht thun will. Ist nu eynem iglichen drauff tzu mercken, das er ynn seynem stand bleybe, auff sich selb sehe, seynis befelhs warnhem unnd darynnen gott diene und seyn gepott hallte, ßo wirtt er tzu schaffen ßo viell ubirkommen, das yhm all tzeytt tzu kurtz, alle stett tzu enge, alle krefft tzu wenig seyn werdenn«.86

Gott will nicht das besondere gute Werk, sondern den schlichten alltäglichen Gehorsam, der in gleicher Weise in den ganz unterschiedlichen Lebenszusammenhängen, in die der einzelne gestellt ist, geleistet wird87 und der sich auch in gesellschaftlich geächteten oder scheinbar wertlosen Werken – »obs ßo geringe were, als eyn strohalm auffheben«88 – äußert. Daß Luther als Begründung dafür auf 1.Kor. 7,20 und zusätzlich auf 1.Petr. 4,10 verweist,89 zeigt daß er den Berufsbegriff sowohl »im religiösen Sinne« als auch »im Sinne einer bestimmten sozialen Zugehörigkeit« versteht. Dabei bezieht er »beides so eng aufeinander [...], daß es sich für ihn um zwei Aspekte einer und derselben Wirklichkeit handelt«.90 Die Verklammerung von religiöser und sozialer Dimension des Berufs will aber nicht die Situation, in der sich ein Mensch faktisch vorfindet, zu einer unveränderlichen Gegebenheit machen. Auch wenn Luther einschärft, daß der Mensch seinen Stand nicht frei wählen kann und nicht aus Überdruß wechseln, sondern sich an ihm genügen lassen soll, weil er Vorteile und Nachteile in ausgewogener Mischung hat,91 so ist der jeweilige Beruf und Stand doch keine göttliche Zwangsordnung, sondern ein hilfreicher Rahmen, innerhalb dessen der Christ sein Leben führt. Und Teil dieser göttlichen Hilfe zum christlichen Leben ist, daß der gottgegebene Beruf und Stand grundsätzlich mit der jeweiligen Lebenssituation zusammenfällt, in der sich der Christ vorfindet:

86 87

WA 10I/1,309,14–19.

Luther verweist hierfür auch auf das die für mittelalterlichen Ordnungsvorstellungen wichtige Bild vom Körper und seinen Gliedern (Röm. 12,4 f.; 1. Kor. 12,12–26), das ja besagt, daß »nit alle eynerley werck haben«, sondern jeder sein Werk tut »und alle ynn eynem eynfeltigen gehorsam, ynn vielerley befelh und manchfeltigen wercken eyntrechtlich wandeln« (WA 10I/1,311,8–13). 88 WA 10I/1,310,18. 89 WA 10I/1,310,23 f. 90 R. Mau: Beruf und Berufung bei Luther (in: J. Rogge, G. Schille [Hgg.]: Themen Luthers. Fragen der Kirche heute, 1982, 11–28, 12). Luther kann diese beide ineinander verschränkten Aspekte christlichen Lebens aber auch terminologisch differenzieren, indem er etwa den »ruff« in einen bestimmten Stand und den »Evangelischen ruff« zum Christen (Das siebente Kapitel S. Pauli zu den Corinthern, 1523: WA 12,132,23–31) oder die vocatio interna zum Christenstand und die vocatio externa zu einer bestimmten innerweltlichen Existenz unterscheidet (Predigt über Eph. 4, 1531: WA 34II,306 f.*). Zu dieser duplex vocatio: H. Gatzen: Beruf bei Martin Luther und in der Industriellen Gesellschaft, 1964, 15–96. 91 WA 10I/1,315,18–21.

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»wo du ynn eynem stand bist, der nit sund ist an yhm selbs, ßo bistu gewißlich von gott beschickt und ynn dem weßen, das gott wolgefellt«.92

Stände, die an sich selbst nicht Sünde sind, sind die, »die gott gesetzt hatt odder yhr eynsatzung nit widder gott ist, als da sind: ehlich seyn, knecht, magd, herr, fraw, ubirherrn, regirer, richter, ampleutt, bawr, burger etc. Sundlichen stand heyß ich reuberey, wucherhandell, offenttlicher frawen weßen unnd als itzt sind Bapst, Cardinal, Bischoff, Priester, Munch, Nonnen stend, die nitt predigen odder predigen horen«.93

Als ein Beispiel der von Christus geforderten Nachfolge in Gestalt des je eigenen Berufs stellt Luther in der Predigt über Jesu Darstellung im Tempel die Prophetin Hanna – und das heißt, den Witwenstand mit dem ihm eigenen Werken94 – vor Augen. Vorbildhaft ist sie nicht durch ihre guten Werke, also durch ihre asketische, ganz dem Gottesdienst verpflichtete Lebensweise, sondern dadurch, daß sie als durch den Heiligen Geist ohne Werke gerechtfertigte Person in der gottgesetzten Ordnung des Witwenstands – wie sie etwa 1.Tim. 5,3–6 beschreibt – lebt.95 Diese Einordnung in die gegebenen Strukturen der Welt heißt aber nicht, daß Frömmigkeitswerke wie Beten, Fasten oder Gebet weniger wichtig sind: Das hat seinen Ort im jeweiligen Stand und Beruf.96 Das recht verstandene Beispiel der Hanna lädt zur Nachahmung ein: »Alßo thu du auch, sihe dynen stand an, so wirstu guter werck gnug zu thun finden, ßo du wilt frum seyn; es hatt eyn iglicher stand werck gnug, das er frembde nit darff suchen«.97

An zwei ›Stände‹ denkt Luther bei dieser Aufforderung besonders, den ehelichen und den obrigkeitlichen. Das Leben aus dem Glauben in diesen beiden Lebenszusammenhängen von Familie und gesellschaftlich-staatli92 WA 10I/1,317,6–8. Die Einschränkung »der nit sund ist an yhm selbs« ist im gegebenen Zusammenhang von besonderer Wichtigkeit, weil Luther ja gerade die Verfehlung des Berufs aufdecken will. Die Berufsethik hat von ihrem Ursprung – der Auseinandersetzung mit dem Mönchtum und der mittelalterlichen Frömmigkeit – her ein kritisches, das Vorfindliche infragestellendes Interesse. »Der Gedanke des Berufs und seine Beziehung auf die umgreifenden göttlichen Ordnungen dispensiert nicht (zugunsten des Faktischen) von der Notwendigkeit, meinen Beruf zu erkennen, sondern macht eben dies zur Aufgabe« (R. Mau: Beruf und Berufung bei Luther, 15). 93 WA 10I/1,317,19–24. 94 WA 10I/1,411,20 f. 95 »Darumb ists gar ferlich ding, wenn man nur die werck ansihet und sihet nit an widder person noch den stand odder beruffenn. Es ist gott gar unleydlich, das yemandt die werck seynis ruffs oder stands faren lest und will der heyligen werck angryffen« (WA 10I/1,412,18–21). 96 »Gutte werck soll man thun, beten und fasten, ßo fernn das deyneß beruffs und stands werck dadurch nit vorseumet noch vorhyndert werden. Gottis dienst ist nit an eynß ode tzwey werck gepunden, auch nit ynn eynen odder tzween stend gefasset, ßondernn ynn alle werck und alle stend geteyllet«. (WA 10I/1,413,5–9). 97 WA 10I/1,414,7–10.

7.1. Das Problem der Mönchsgelübde

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chen Strukturen – und zwar gleich in welcher Funktion und mit welchen Werken – ist Gottes Ordnung; eine Ordnung, die durch die lebensdienliche Ausgestaltung der innerweltlichen Verhältnisse das Leben im Dienst am Mitmenschen, in der Nächstenliebe möglich macht: »Der Eheliche stand und ubirkeit ist feyn geordnet, denn da ist weyb und kind und unterthan, die da uben und ursach geben der liebe und gleych tzwingen, das du dir selber nit must leben und wircken, sondern must eyttel frembd werck thun, andern tzu gute: wenn du nur den glawben erkennist unnd dich recht dreyn schickist, szo hastu da keyn eygen werck und szo viel tzu schaffen, das du der eygen werck wol must vorgessen. Denn das du fastist, erbeyttist, issist, trinckist, schleffist, eyn weyb nympst, kurtzlich alles, was du tzur leybs und gutts nodturfft thuist, ist allis dahyn gericht, das du hie leben mugist unnd den leyb erhalten, aber darumb erhalten, das du nur andern dienen mugist. Sihe, das ist eygentlich eyn Christen leben. Darumb spricht S. Paulus Gala. v. ›Ihr seid nichts schuldig, denn das ihr euch unternander liebt und ynn liebe eyner dem andern dienet‹«.98

Die Postillenpredigten des Jahres 1521 enthalten zwar die Grundlinien von Luthers Verständnis des Berufs und der damit verbundenen Ständelehre, aber keine näheren Ausführungen. Um die Bedeutung dieser Elemente für Luthers Vorstellung vom christlichen Leben umfassend zu würdigen, ist es notwendig, einige weitere Quellen aus den Folgejahren hinzuzuziehen.99 Das ist methodisch nicht problematisch, weil die Berufsethik und Ständelehre seit der ersten Hälfte der 1520er Jahre immer wieder 98 99

WA 8,367,16–27.

Wichtige Quellen zu Luthers Berufsethik und Ständelehre sind auch die noch zu behandelnden Schriften über Ehe, Wirtschaft und Obrigkeit aus den 1520er Jahren (s. 8.1. und 8.2.) sowie folgende Texte: Der 127. Psalm ausgelegt an die Christen zu Riga in Livland (1524; WA 15,348–359.360–379; hier: 364,1–373,17); Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis (1528; WA 26,241–260.261–509; hier: 503,35+504,10–505,28); Der kleine Catechismus (1529; WA 30I,426–474.537–819.239–425; hier: 326–339); Deudsch Catechismus (1529; WA 30I,426–536.123–238; hier: 147–157); Der 111. Psalm ausgelegt (1530; WA 31I,384–390.391–426; hier: 399 f.408–411); In XV Psalmos Graduum (1532/33; WA 40III,1–8.9–475*; hier: 202–269* [maßgeblich ist Rörers Nachschrift]); De tribus hierarchiis, Ecclesiastica, Politica, Oeconomica, & quod Papa sub nulla istarum sit, sed omnium publicus hostis (Zirkulardisputation zu Mt. 19,21 am 9. Mai 1539; WA 39II,34–39.39–91; hier: 39–44); Von den Konziliis und Kirchen (1539; WA 50,488–509.509–653; hier: 652,1– 653,15). Die Predigten und Vorlesungen der 1530er und 1540er Jahre behandeln Beruf und Stände immer wieder: z.B. die Bergpredigtauslegung von 1530/31 (WA 32,LXXV-LXXXV.299–544*, passim, vor allem die Auslegung von Mt. 7,15–20) oder die regelmäßigen Engelpredigten Luthers am 29. September, die immer wieder auch die göttliche Weltordnung und den Platz der Menschen und Engel in ihr thematisieren (dazu: M. Plathow: »Dein heiliger Engel sei mit mir«. Martin Luthers Engelpredigten, LuJ 61, 1994, 45–70, 52–66). Zur Genesisvorlesung: Ch. Voigt-Goy: Die gesellschaftlichen Stände, die Schöpfung und der Fall. Zur Ständelehre in Luthers Genesisvorlesung (1535) (in: Th. Wagner u.a. [Hgg.]: Kontexte. Biografische und forschungsgeschichtliche Schnittpunkte der alttestamentlichen Wissenschaft, 2008, 65–80); J. Maxfield: Luther’s Lectures on Genesis and the Formation of Evangelical Identity, 2008, Kap. 3.

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in ähnlicher Weise von Luther thematisiert werden. Dabei tritt neben die Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Verkehrung der vita christiana seit Mitte der 1520er Jahre die Abgrenzung gegenüber den von Luther als »schwärmerisch« qualifizierten Gruppen der Täufer und Spiritualisten.100 Angesichts der vorhandenen Forschungsliteratur101 kann sich das Folgende auf die wichtigsten Punkte beschränken. Zuerst ist darauf hinzuweisen, daß Luther durchaus in einer Kontinuität zum mittelalterlichen Ständedenken steht, nämlich hinsichtlich einzelner Elemente der Ständelehre, die seit dem Frühmittelalter in unterschiedlichen Zusammenhängen und Formen entwickelt wurde und im Spätmittelalter zum Stoff des kirchlichen Unterrichts für die Laien gehörte. Spuren dieser Katechese finden sich immer wieder bei Luther. Die verschieden ausgestalteten mittelalterlichen Ständelehren gingen auf antike Konzeptionen zurück. Von Bedeutung waren neben alt- und neutestamentlichen Texten (z.B. Röm. 12,4f. oder 1. Kor. 12,12–26) etwa die mit den drei Seelenteilen und den vier Kardinaltugenden zusammenhängende platonische Unterscheidung von Lehrstand (αÍ ρχοντες), Wehrstand (ϕυ λακες) und 100 Typisch für die doppelte Abgrenzung ist Luthers 1532 erschienene Bergpredigtauslegung (beispielsweise in der Vorrede: WA 32,299–301). 101 Aus der umfangreichen Literatur zu Luther und zu seinem traditionsgeschichtlichen Hintergrund sind neben den einschlägigen Lexikonartikeln (TRE 5,656–666 [Gustaf Wingren]; TRE 12,773–780 [Otto Gerhard Oexle]; GGB 1,491–496 [Werner Conze]; GGB 6,156–200 [Otto Gerhard Oexle]; GGB 6,200–203 [Werner Conze]; LMA 8,44–49 [Ralf Mitsch]) besonders hilfreich: N. Paulus: Die Wertung der weltlichen Berufe im Mittelalter (HJ 32, 1911, 725–755); K. Holl: Die Geschichte des Wortes Beruf (in: Holl 3,189–219); N. Paulus: Zur Geschichte des Worts Beruf (HJ 45, 1925, 308–316); W. Elert: Morphologie des Luthertums, Bd. 2, 21965, 49–79; W. Elert: Stand und Stände nach lutherischer Auffassung, 1940; G. Wingren: Luthers Lehre vom Beruf, 1952; M. Seils: Der Gedanke vom Zusammenwirken Gottes und des Menschen in Luthers Theologie, 1962, 147–154; U. Duchrow: Christenheit und Weltverantwortung. Traditionsgeschichte und systematische Struktur der Zwei-Reiche-Lehre, 21983, 428–435; W. Maurer: Luthers Lehre von den drei Hierarchien, 1970; R. Schwarz: Luthers Lehre von den drei Ständen und die drei Dimensionen der Ethik (LuJ 45, 1978, 15–34); R. Mau: Beruf und Berufung bei Luther (in: J. Rogge, G. Schille [Hgg.]: Themen Luthers. Fragen der Kirche heute, 1982, 11–28); R. Schwarz: Ecclesia, oeconomia, politia. Sozialgeschichtliche und fundamentalethische Aspekte der protestantischen Drei-Stände-Theorie (in: H. Renz, F. W. Graf [Hgg.]: Troeltsch-Studien, Bd. 3, 1984, 78–88); O. Bayer: Natur und Institution. Luthers Dreiständelehre (in: Ders.: Freiheit als Antwort. Zur theologischen Ethik, 1995, 116–146); O. Bayer: Nachfolge-Ethos und Haustafel-Ethos. Luthers seelsorgerliche Ethik (aaO 147–163); O. G. Oexle: Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im frühen und hohen Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte des Wissens (in: F. Graus [Hg.]: Mentalitäten im Mittelalter. Methodische und inhaltliche Probleme, 1987, 65–117); O. G. Oexle: Die funktionale Dreiteilung als Deutungsschema der sozialen Wirklichkeit in der ständischen Gesellschaft des Mittelalters (in: W. Schulze [Hg.]: Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, 1988, 19–51); G. Constable: The Orders of Society (in: Ders.: Three Studies in Medieval Religious and Social Thought, 1995, 249– 360).

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Nährstand (γεωργοιÁ καιÁ δημιουργοι );102 die von Cicero vermittelten antiken Stände-Dichotomien und Unterscheidungen des Rechtsstatus von Personen (Freie – Sklaven, Reiche – Arme, Bürger – Nicht-Bürger, persona publica – persona privata,103 ehrenhafte – unehrenhafte Tätigkeiten); Augustins ordo-Denken mit seiner die mittelalterliche Gegenüberstellung von Klerus und Laien vorbereitenden Unterscheidung von tria genera hominum oder tres ordines ecclesiae (Klerus, Mönche, Laien); die auf Ps.Dionysius Areopagita zurückgehende Hierarchienlehre; sowie die aristotelische Unterscheidung von ethica monastica, oeconomica und politica. Die Welt hatte nach mittelalterlichem Verständnis eine gottgegebene hierarchische Ordnung (ordo), die sich in Gestalt einer immer stärker differenzierten sozialen Wirklichkeit manifestierte. Die Ständelehre fungierte angesichts der wachsenden Komplexität der Sozialbeziehungen als metaphysisch begründetes Deutungsschema und hatte nicht so sehr die Aufgabe, die Weltwirklichkeit zu beschreiben, als vielmehr, sie zu gestalten. Grundgedanke dieser nicht deskriptiven, sondern normativen Ständelehre des Spätmittelalters ist die funktionale Aufgliederung des corpus christianum in die drei Gruppen der oratores, bellatores und laboratores: »tu supplex ora, tu protege, tuque labora«.104 Diese Aufgliederung basiert auf zwei Unterscheidungen: der von geistlichem und weltlichem Stand – der »clerici« der Welt- und Ordensgeistlichkeit einerseits, der »laici« andererseits, wie sie seit dem Hochmittelalter auch kirchenrechtlich verbindlich festgeschrieben war105 – und innerhalb des weltlichen Stands der der beiden Gruppen der Herrschenden und der Bauern sowie Bürger. In der konkreten Durchführung wurden aus diesen Unterscheidungen mannigfache Einzelgruppen und Sozialbeziehungen entwickelt, die dem einzelnen seinen Platz in der Gemeinschaft anwiesen. So gewiß Luther einzelne Elemente der Ständelehre seinem mittelalterlichen Herkommen verdankt, so wenig läßt sich sein Verständnis von Be102 Wenn Luther »wehere ampt« (militia) und »neere ampt« (agricultura) unterscheidet (z.B. WA 19,654,20–26), verdankt sich das wahrscheinlich nicht einer eigenen Lektüre von Platons Politeia; es zeigt aber, daß die politische Ethik Platons durchaus bekannt war (worauf auch andere Aussagen deuten, z.B. WA 51,214,14 f.). 103 Die Unterscheidung von persona publica und privata verwendet Luther etwa in den Decem praecepta WA 1,512,13–514,13 oder im Sermo de duplici iustitia WA 2,150,32– 152,12. 104 So lautet die Aufschrift auf einer bildlichen Veranschaulichung der spätmittelalterlichen Dreiständelehre in Johannes Lichtenbergers Prognosticatio (abgebildet und interpretiert in: R. u. T. Wohlfeil: Verbildlichungen ständischer Gesellschaft, in: W. Schulze [Hg.]: Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität, 1988, 269–331). Luther verwendet diese Dreigliederung ebenfalls (WA 6,428,7–9). 105 »Duo sunt genera Christianorum« (Decretum Gratiani secunda pars, causa 12, q. 1, c. 7, in: Corpus iuris canonici, ed. Friedberg 1,678).

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ruf und Ständen aber auf diesen traditionsgeschichtlichen Hintergrund reduzieren. Denn hinsichtlich des Berufs gilt bis zur Reformation weitgehend der Dualismus des durch die göttliche vocatio zur militia Christi ausgesonderten und der Welt gegenüberstehenden geistlichen Stands – »nemo militans inplicat se negotiis saecularibus« (2.Tim. 2,4) – und des keiner besonderen religiösen Berufung gewürdigten und darum nach wie vor in die weltlichen Verhältnisse verstrickten Laienstands. Die mittelalterlichen Versuche – etwa der Deutschen Mystik –, die Entgegensetzung und Abstufung von Geistlichem und Weltlichem zu relativieren, können kaum als Vorläufer von Luthers Berufsanschauung gelten, weil durch sie die Abstufung als solche nicht in Frage gestellt ist. Was sind die Grundzüge von Luthers reformatorischem Verständnis von Beruf und Ständen? Luthers Sprachgebrauch ist nicht einheitlich. Was in der vereinfachenden Terminologie der Forschung »Beruf« (vocatio) genannt wird, kann bei Luther auch Stand, Amt oder Befehl heißen, und statt von »Ständen« (status) spricht er auch von Orden, Stiften, Ämtern, ordinationes oder Hierarchien. Die einzelnen Bezeichnungen sind zwar nicht deckungsgleich, ihre unterschiedlichen Akzentuierungen gehen aber von einem gemeinsamen Grundverständnis des Bezeichneten aus. Wenn Luther beispielsweise von Ständen spricht, stellt er die menschliche Perspektive des Sich-Vorfindens in der göttlichen Ordnung in den Vordergrund, während die Rede von Ämtern, Orden und Hierarchien die göttliche Setzung der gegebenen Ordnung betont.106 Stand und Beruf hängen zwar zusammen, müssen aber unterschieden werden: Stände sind »transsubjektive ›Ordnungen‹«, Berufe sind Stände, »sofern der einzelne einem von ihnen dauernd zugeordnet und persönlich verpflichtet ist«.107 Der enge Zusammenhang der beiden Größen macht eine gemeinsame Behandlung notwendig. Die Stände sind ein wichtiger Teil der göttlichen Schöpfungs- und Erhaltungsordnung. Sie gelten nicht nur den Christen, sondern allen Menschen und sind darum Teil des natürlichen Rechts, das sich jedoch zeitund ortsspezifisch unterschiedlich realisiert.108 Luther unterscheidet in der Regel drei Stände: »Aber die heiligen orden und rechte stiffte von Gott eingesetzt sind diese drey: Das priester ampt, Der Ehestand, Die weltliche 106 Hinsichtlich der bei Luther Ende der 1530er Jahre öfters verwendeten Rede von den ›Hierarchien‹ ist zweierlei zu beachten: Erstens zeigt der Plural, daß es Luther nicht um ein in sich einheitliches Gefüge hierarchischer, auf eine kirchliche oder weltliche Spitze ausgerichtete Ordnung geht, sondern um drei parallele und selbständige Strukturen. Zweitens sind alle drei gleichermaßen eine »Hierarchie«, so daß es zwischen ihnen keinen qualitativen Unterschied, sondern nur in der funktionalen Wechselbeziehung begründete Abstufungen gibt. 107 W. Elert: Morphologie des Luthertums, Bd. 2, 21965, 65. 108 WA 31I,409,34–410,17.

7.1. Das Problem der Mönchsgelübde

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oberkeit«.109 Gemeint sind damit nicht drei in sich abgeschlossene Gruppen i.S. von »Segmente[n] einer dreigeteilten Gesellschaft«,110 sondern die drei Lebenskreise, in die jeder Mensch von Gott gestellt ist. Dabei nimmt der einzelne in jedem dieser Lebenskreise entsprechend seines individuellen göttlichen Berufs unterschiedliche Funktionen wahr, die Luther ebenfalls als Stände bezeichnen kann. Jeder ist also Teil sowohl des status ecclesiasticus als auch des status oeconomicus als auch des status politicus und dient gerade damit Gott: »Alle die, so ym pfarampt odder dienst des worts funden werden, sind ynn einem heiligen, rechten, guten, Gott angenemen orden und stand, als die da predigen, e sacrament reichen, dem gemeinen kasten furstehen, kuster und boten odder knechte, so solchen personen dienen etc. Solchs sind eitel heilige werck fur Gott, Also wer Vater und mutter ist, haus wol regirt und kinder zeucht zu Gottes dienst, ist auch eitel heiligthum und heilig werck und heiliger orden, Des gleichen, wo kind odder gesind den Eldern odder herrn gehorsam ist, ist auch eitel heiligkeit, und wer darynn funden wird, der ist ein lebendiger heilige auff erden. Also auch furst odder oberherr, richter, amptleut, Cantzler, schreiber, knechte, megde und alle, die solchen dienen, dazu alle, die untertheniglich gehorsam sind: alles eitel heiligthum und heilig leben fur Gott.«111

Die hier genannte Reihenfolge entspricht Luthers Wertung der Stände. Am wichtigsten ist der Stand, durch den »die rechte ewige gerechtigkeit«112 zu den Menschen kommt. Das christliche Leben spielt sich vor allem im Lebenskreis der Kirche ab: in der kollektiven und individuellen Frömmigkeitspraxis vom Gebet »Des Morgens, so du aus dem bette ferest« über die Tischgebete, das Liedersingen, die erbauliche Lektüre, die häuslichen und gemeindlichen Gottesdienstvollzüge sowie die guten Werke bis hin zum Gebet »Des Abends, wenn du zu bette gehest«.113 Eng verbunden damit ist der Lebenskreis des Hauses, der nicht nur der persönliche Nahbereich der familiären Beziehungen und der Sicherung des Lebensunterhalts ist, sondern der auch durch seine göttliche Einsetzung religiös qualifiziert (»in medio domus invenitur deus«)114 und damit ein Teil der ecclesia ist. Mit der aristotelischen Sozialtheorie betont Luther die grundlegende Bedeutung des Hauses für die Entstehung und Strukturierung des Gemeinwesens. Alle Über- und Unterordnungsverhältnisse entstehen letztlich aus dem jedes menschliche Einzelleben begründenden Faktum der Abstammung von Eltern. So wird die biologische Vaterschaft zum Grundmodell 109

WA 26,504,30 f. GGB 6,201 (Werner Conze). 111 WA 26,504,31–505,7. 112 WA 31I,411,16. 110

113 Die Grundtexte der häuslichen Gebetspraxis enthält der Kleine Katechismus: WA 30I,318–326. 114 WA 31II,734,12 f.* (Vorlesung über das Hohelied, 1530/31).

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einer ›patriarchal‹ geordneten Welt von geistlichen und weltlichen Vätern,115 und das so konstituierte Haus zum »fons omnium rerumpublicarum«.116 Das Gemeinwesen mit seinen gesellschaftlich-staatlichen Strukturen117 ist als Lebenskreis gegenüber dem Haus sekundär. Es ist aber auch mehr als die Summe der einzelnen Häuser, aus denen er sich aufbaut. Ihm eignet unter den Bedingungen des Sündenfalls eine neue Qualität, indem er nicht nur das menschliche Zusammenleben auf einer höheren Ebene als der des persönlichen Nahbereichs ordnet, sondern auch kraft seiner Rechtssetzung und Strafgewalt die innerweltlichen Chaosmächte bändigt. Wenn das auch im besonderen für die weltliche Obrigkeit gilt, so muß doch auch mit Blick auf Gottes Ordnung der Welt insgesamt gesagt werden: »Und solche stende [sc. »alle seine ordnung und stifft, so er durch sein wort und befelh gestellet hat«] (wo sie recht gehen) da gehets auch recht zu jnn der welt und ist eitel gerechtigkeit Gottes da, Wo man aber solche stende nicht helt, das heist e ungerechtigkeit. Nu helt Gott uber solchen stenden, das sie mussen bleiben, sonst kund die welt nicht stehen, ob gleich viel da widder thun und toben. Darumb spricht er, das seine gerechtigkeit ewiglich bleibt, Alle Secten und gerechtigkeit von menschen erfunden gehen zu letzt unter, Aber diese stende bleiben und erhalten das recht jnn der welt«.118

Die Berufspflichten innerhalb der Stände sind vielfältig. Ähnlich wie die mittelalterliche Ständedidaxe kann Luther katalogartig zusammenstellen, wie sich der einzelne zu verhalten hat. Von grundlegender Bedeutung ist das bereits im Sermon Von den guten Werken betont herausgestellte Wechselverhältnis von »Gehorsam und sorgfeltickeit«.119 Der einzelne hat sich in die gegebenen Strukturen einzuordnen, indem er den ihm Übergeordneten gehorsam ist und für die ihm Anvertrauten sorgt. Was das im einzelnen heißt, ergibt sich für Luther aus der jeweiligen Stellung innerhalb des Ganzen. Der Ehemann und Hausvater hat »tzu regirn [s]eyn weyb, 115 Auf diese Weise integriert Luther die weiteren Kontexte menschlichen Lebens in das vierte Dekaloggebot (z.B. WA 30I,152,19–156,2). Dieses »patriarchale« Ordnungsmuster ist keine willkürliche Setzung, sondern gründet in der Beziehung zu Gott dem Vater: »In einer Welt der Väterlichkeit spiegelt sich Gottes Vaterschaft ab, bewährt sich die Ehrfurcht vor dem himmlischen Vater im Gehorsam gegen die irdischen Väter im Haus, weltlicher und geistlicher Ordnung« (W. Maurer: Luthers Lehre von den drei Hierarchien, 1970, 18). 116 »Domus est fons omnium rerumpublicarum. Ubi pater, mater, filius, filia, ideo Civitas, Regnum. Ex domo fit Civitas, ex Civitate ducatus, Rex. Civitas est coniunctio plurium oeconomiarum, familiarum, Regnum copulatio multarum Civitatum. Oeconomia ergo est fons« (WA 40III,220,4 f.+221,1–3*). 117 Die modernen Begriffe von Staat und Gesellschaft sind nur eingeschränkt geeignet, Luthers Verständnis des status politicus zu umschreiben. 118 WA 31I,399,26–400,6. 119 WA 6,264,17.

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kind, gesind unnd gutter, das es alles gehe ynn gottis gehorsam«; die Kinder sollen ihre »iugent« »keusch und messig« halten und ihren Eltern gehorsam sein; das Gesinde soll seinem »stand und befelh nach trewlich mit allem vleyß [s]eynem herrn odder frawen dienen« und »[s]eyne iugent ym tzawm furen«; die weltlichen Fürsten sollen für Recht und Frieden sorgen; die Geistlichen sollen »die schaff Christi weyden und folgen nach Christo«.120 Zur weiteren Entfaltung bedient sich Luther oft biblischer Texte, und zwar vor allem des alttestamentlichen Dekalogs121 und der neutestamentlichen Haustafeln,122 die ein wichtiger Bestandteil der katechetischen Unterweisung sind und gezielt der Unterweisung des status oeconomicus und politicus dienen.123 Dieser Rückgriff auf biblische Texte besagt nicht, daß die Unterweisung zum Berufsgehorsam darauf angewiesen ist, sondern nutzt nur die den Christen vertrauten biblischen Texte als Hilfsmittel. Denn Dekalog und Haustafeln sind für Luther Ausdruck des natürlichen Gesetzes und der vernunftmäßig erkennbaren Ordnungsstrukturen der Welt und unterscheiden sich in den Grundzügen nicht von der nichtbiblischen Unterweisung, wie sie sich etwa in der heidnischen Antike findet. Was die oeconomia und politia angeht, handelt es sich um universale Ordnungen, die einer ihnen immanenten Eigengesetzlichkeit124 unter120 121

WA 10I/1,308,6–309,13.

Hier ist vor allem auf die zahlreichen Auslegungen des vierten Dekaloggebots (z.B.

WA 30I,147–157) zu verweisen, in denen Luther die Berufspflichten der einzelnen darin

inbegriffenen Gruppen (Eltern – Kinder, weltliche Obrigkeit – Untertanen, Prediger – Gemeinde) behandelt. Aber auch die Auslegung der anderen Gebote der zweiten Dekalogtafel gibt Anlaß, auf die Berufspflichten zu sprechen zu kommen. 122 Luther hat die entsprechenden neutestamentlichen Texte in seiner dem Kleinen e Katechismus angehängten »Haustafel etlicher spruche fur allerley heiligen orden und stende, dadurch die selbigen als durch eigen lection yhres ampts und diensts zu ermanen« (WA 30I,326–339) zusammengestellt. An Ständen werden behandelt: 1. Bischöfe, Pfarrherrn, Prediger, 2. weltliche Obrigkeit, 3. Ehemänner, 4. Ehefrauen, 5. Eltern, 6. Kinder, 7. Knecht, Mägde, Tagelöhner, Arbeiter, 8. Hausherren, Hausfrauen, 9. Jugend, 10. Witwen, 11. Gemeinde. 123 So wichtig ist Luther diese Unterweisung, daß man sie sogar mit Zwang durchsetzen muß. Gegenüber der kirchlichen Lehre widersprechenden Gemeindegliedern gilt, daß man zwar hinsichtlich des Glaubens keinen Zwang anwenden darf (»ad fidem et euangelion nemo cogendus est«), wohl aber hinsichtlich der sozialethischen Unterweisung: »Caeterum, quando decalogus et catechismus docent etiam politica et oeconomica et is sit frequentissime praedicandus, cogendi sunt ad conciones, quibus discant politicam obedientiam et officia oeconomica, sive credant euangelio sive minus, ne sint aliis scandalo, similiter [sin aliter?] contemnentur doctrinae et politicae et oeconomicae. Si enim in plebe volunt vivere, iura eiusdem plebis discant et audiant etiam inviti, non solum propter eos, sed propter liberos et familiam ipsorum« (Brief an Thomas Löscher vom 26.8.1529: WAB 5,137 f. [Nr. 1467], hier: 137,4 f.13–20). 124 Dieser angesichts seiner Verwendung in der Forschung des 20. Jahrhunderts nicht unproblematische Begriff sollte wegen seiner Prägnanz nicht vermieden werden. Entscheidend für ein angemessenes Verständnis ist, daß man sich der Dialektik bewußt ist,

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7. Grundideen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

liegen und ohne Rücksicht auf einen transzendentalen Ordnungsrahmen auszugestalten sind. Das ist aber unter den Bedingungen der Sünde nicht mehr ohne Weiteres möglich, weil das dem Menschen eingepflanzte und anerschaffene Naturrecht und die »scientia rerum oeconomicarum«125 verdunkelt sind und die Ausrichtung des Handelns an Gott dem Schöpfer durch die Selbstanmaßung des Menschen verdrängt wird. Dennoch kann Luther im Blick auf das Leben in Haus und Gemeinwesen die menschliche Vernunft und Klugheit hochschätzen und wieder und wieder auf das durch andere vermittelte und selbst erworbene Erfahrungswissen verweisen. Der Mensch hat hier großen Gestaltungsspielraum, den zu nutzen gerade seine Aufgabe ist. Im einzelnen können die Strukturen von oeconomia und politia und der konkrete Lebensvollzug unterschiedlich ausgestaltet sein. Luther erklärt keine bestimmte geschichtliche Gestalt sozialen Lebens für verbindlich, und ihm geht es erst recht nicht darum, »in einem kritiklosen Positivismus und Konservatismus die ganze bestehende Ordnung der Gesellschaft als solche religiös zu verklären und heilig zu sprechen«.126 Was die politischen Strukturen angeht, lebte er selbst in einer Welt, die sehr unterschiedliche Verfassungsordnungen aufwies. Er kannte natürlich auch die antike politische Theorie, deren unterschiedliche Verfassungsmodelle von der Monarchie bis zur Demokratie für ihn legitime, wenn auch nicht jederzeit und überall gleichermaßen angemessene Möglichkeiten waren. Die drei Stände finden sich in ihnen allen, und fordern die dem jeweiligen geschichtlichen Zusammenhang entsprechende verantwortliche Gestaltung dieser göttlichen Grundordnungen. Die Freiheit in der Gestaltung der innerweltlichen Zustände heißt aber, daß nicht alles gelingt und nicht immer Idealzustände herrschen. Ja, der Mensch hat auch die Freiheit, innerhalb

in der Gottes- und Weltbeziehung miteinander verbunden sind und angesichts derer es weder eine Vereinseitigung zur weltüberlegenen Glaubensexistenz oder zur weltimmanenten Eigengesetzlichkeit (im Sinne einer Dichotomie zwischen christlichem und natürlichem Ethos) noch ein einfaches Zusammenfallen von christlichem und natürlichem Ethos im Vollzug des christlichen Lebens geben kann. Wenn man Wilfried Härles Differenzierung des Sprachgebrauchs berücksichtigt, ist der Begriff Eigengesetzlichkeit auch für die Lutherinterpretation verwendbar: Der »Begriff ›Eigengesetzlichkeit‹ [ist] doppeldeutig [...], je nachdem, wogegen er abgegrenzt wird. Wenn es sich um eine Eigengesetzlichkeit gegenüber Gottes Willen und seiner weltlichen Regierweise handeln würde, so müßte das mit allem Nachdruck abgelehnt werden. Wenn es sich jedoch um die Eigengesetzlichkeit der weltlichen Regierweise Gottes gegenüber der geistlichen Regierweise Gottes (mit ihrer ›Eigengesetzlichkeit‹) handelt, so ist sie ausdrücklich zu bejahen« (TRE 36,787). Zur Begriffsgeschichte und Sachproblematik: M. Honecker: Das Problem der Eigengesetzlichkeit (ZThK 73, 1976, 92–130). 125 WA 40III,222,6 f.* 126 P. Althaus: Die Ethik Martin Luthers, 1965, 44 f.

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der göttlichen Ordnung seinen sündhaften Egoismus auszuleben.127 Die Ungleichheit zwischen den Menschen in den bestehenden Verhältnissen wird von Luther nicht problematisiert. Insofern sie Folge des Mißbrauchs der Stände ist, kommt ihr kein Bestandsschutz zu, wie Luther in seiner Kirchen- und Gesellschaftskritik mit ihrer Anprangerung von politischem und ökonomischem Machtmißbrauch immer wieder deutlich macht. Aber grundsätzlich ist die Ungleichheit der Menschen und ihre Über- und Unterordnung notwendig und selbstverständlich. Soziale Mobilität innerhalb der geburtsständischen Schichtung der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Gesellschaft ist zulässig, solange sich der einzelne nicht aus eigener Initiative nach oben drängt, sondern »per ordinationem dei et vocationem hominum« erhöht wird.128 Die Ständestrukturen und die Berufspflichten haben eine weitere, wenn auch für ihr Bestehen und ihre Ausgestaltung nicht konstitutive Dimension, die nur für die Glaubenden zu erkennen und zu leben ist: »Uber diese drey stifft und orden ist nu der gemeine orden der Christlichen liebe, darynn man nicht allein den dreyen orden, sondern auch ynn gemein einem iglie chen durfftigen mit allerley wolthat dienet«.129

Indem Gott durch Stand und Beruf die Welt ordnet und jedem einzelnen seinen Platz anweist, schafft er Strukturen, innerhalb derer die Christen ihr Leben aus dem Glauben in der Nächstenliebe führen können. Die Liebe ist nichts, was zu den Berufspflichten hinzukommt, sondern eine alle Berufspflichten durchwirkende Ausrichtung des Handelns auf Gott und den Mitmenschen. Diese nicht quantitative, wohl aber qualitative Veränderung des Berufsgehorsams hat unter den Bedingungen der gegenwärtigen Welt, wo die meisten Menschen ihrem Stand und Beruf nicht gerecht werden, faktisch aber auch die Wirkung, daß die Glaubenden dank ihres Glaubens Stand und Beruf besser wahrnehmen als die meisten Nichtglaubenden. Allerdings bezahlen sie dafür einen Preis. Denn die Eigengesetzlichkeit von Stand und Beruf führt dazu, daß die im Glauben gründende Nächstenliebe Gestalten annehmen kann, die ihr zu widersprechen scheinen. Die hier auftretenden Konflikte versucht Luther mit Hilfe seiner Unterscheidung zweier Regimente und Reiche zu lösen, die ab der Mitte der 1520er Jahre immer wieder auch im Zusammenhang der Thematisierung von Beruf und Ständen mit zur Sprache kommt.

127 »Es sind jn allen Goe ttlichen ampten und stenden viel boe ser menschen. Aber der stand ist und bleibt dennoch gut, wie hoch auch die menschen des misbrauchen« (Eine Predigt, daß man Kinder zur Schulen halten solle, 1530: WA 30II,572,27–29). 128 WA 37,169,23* (Predigt über Lk. 14, 1533). 129 WA 26,505,11–13.

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Der christliche Berufsgehorsam innerhalb der drei Stände ist aber nicht nur durch die Liebe von dem nur der Eigengesetzlichkeit von Beruf und Stand folgenden Gehorsam unterschieden, sondern auch durch das im Glauben gegebene Wissen um Gottes Weltgegenwart. Vor allem in seinen Auslegungen von Ps. 127 behandelt Luther die rechte Unterscheidung und Zuordnung von göttlicher und menschlicher Aktivität in Hausstand (oeconomia) und Gemeinwesen (politia). So sehr die Ausgestaltung der Ordnungen Sache der menschlichen Findigkeit und Anstrengung ist, so wenig liegt das Gelingen in der Hand des Menschen. Wenn der Psalmdichter Salomo – für Luther ein Idealherrscher, der als »doctor politicus« die gubernatio politica und oeconomica und ihre Beziehung zur administratio divina lehrt130 – sagt: »Wo der HERR das haus nicht bawet, So erbeyten umb sonst, Die dran bawen« (Ps. 127,1a), dann heißt das: e

e

»Erbeyten gepurt dyr, Aber erneeren und haushallten gehoret Gott alleyne zu. Darumb mustu weyt von eynander sondern dise zwey, erbeyten und hausbawen odder erneeren, so weyt alls hymel und erden, Gott und mensch voneinander sind«.131

Arbeiten und Sich-Nähren stehen nicht in einem unmittelbaren Kausalzusammenhang, sondern der Mensch arbeitet, um »das fleysch zu zwingen«,132 und Gott sichert unabhängig davon das Überleben. Das Psalmwort verbietet nicht zu arbeiten und lehrt nicht, die Hände in den Schoß zu legen (»frustra est laborare«),133 sondern es geht ihm um das Vertrauen e auf Gottes »gute und segen«134 »wider den leydigen geytz«, die »bauchs sorge« und den »unglauben«.135 Der Berufsgehorsam aus dem Glauben weiß, daß sich das Gelingen letztlich nicht »unserm thun, sondern [...] Gottes segen und beystand«136 verdankt. Das gilt für den Hausstand, bei dem die Menschen sich oft aus Angst um das materielle Wohlergehen in »geitz und sorge«137 verzehren, wie für das Gemeinwesen. Wenn Ps. 127,1b sagt: »Wo der herr nicht die stad bewaret, Da huetet der wechter umb sonst«, dann heißt das, daß das Bemühen der obrigkeitlichen Funktionsträger um die Erfüllung ihrer Berufspflichten zwar die notwendige, nicht aber die hinreichende Bedingung für das Wohlergehen des Gemein130 WA 40III,202,4.7.9*. Das ist auch der Grund, warum Luther in seiner Auslegung des Salomo zugeschriebenen Hohenlieds auf politia und oeconomia zu sprechen kommt (z.B. WA 31II,586 f.734 f.*). 131 WA 15,367,4–7. 132 WA 15,367,18. 133 WA 40III,233,12*. 134 WA 15,367,17. 135 WA 15,369,26 f.; 370,5. 136 WA 15,366,14. 137 WA 15,365,27.

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wesens ist. Es steht nicht, wie die »blinde wellt« meint, »bey yhrer witze [Klugheit], vernunfft und krafft, das eyne gemeyne odder hirschafft gedeye und bleybe«.138 Natürlich sind kluge Gesetzgebung, solide Finanzpolitik, gute Verwaltung und im Dienste des Friedens stehende Machtpolitik unverzichtbar. Ja Luther geht sogar so weit, daß er fordert, die e Obrigkeit müsse »sich eben stellen, alls were keyn Gott da und muste sich selbs erretten und selbs regiren, gleich wie eyn hausherr soll erbeyten, alls wollt er sich mit der erbeyt erneeren«.139 Aber das ist eben nur eine von e zwei Anforderungen. Denn die »Konige, Fursten, radherren«, die »eyn feyn, fridlich, selig regiment furen und behallten« wollen, »das wol zu gehe«, »sollen zum ersten wachen und vleys thun, als yhr ampt foddert«. Aber sie müssen auch »Zum andern [...] solch wachen ym glauben Gott heym stellen und yhn lassen sorgen, wie er behuete, auff das sie nicht sich vermessen, das yhre wache und vleis die statt beware, sondern on sorge seyen, das Gott werde wol die stad bewaren, land und leutte beschutzen«.140 Was der Berufsgehorsam tut, »alls were keyn Gott da«, davon weiß der Glaube, daß es alles »unsers Herr Gottes mummerey« ist, unter der er »seyn werck« verbirgt, damit er darunter »selbs alleyne wircke und ausrichte was wyr gerne hetten«.141 Das Leben in Beruf und Stand erweist sich somit in Konstitution und Vollzug als opus Dei. Denn »der wellt laufft und sonderlich seyner heyligen wesen [...] [ist] Gottes mummerey, darunter er sich verbirgt und ynn der welt so wunderlich regirt und rhumort«.142 In seiner Auslegung von Ps. 127,1 in der Vorlesung über die Stufenpsalmen im Juli 1533 ergänzt Luther diese seelsorgerliche Akzentuierung des Eingebundenseins von Stand und Beruf in die göttliche Weltgegenwart durch einige systematisierende Erläuterungen, die es trotz der inhaltlichen Überschneidungen mit dem bereits Dargestellten Wert sind, abschließend vorgestellt zu werden. Luther grenzt hier Salomos Einsicht in Hausstand und Gemeinwesen gegen die von ihm gleichwohl geschätzten antiken Autoritäten Aristoteles, Cicero und Platon ab, indem er diesen zwar die Erkenntnis der causa formalis und materialis der innerweltlichen Ordnung zugesteht, Salomo aber zusätzlich die diese Erkenntnis allererst auf rechte Weise nutzbar machende Erkenntnis der causa principalis und finalis – nämlich Gottes.143 Der Irrtum der außerchristlichen Ständelehre 138

WA WA WA 141 WA 142 WA 143 WA 139 140

15,370,9–11. 15,373,2–4. 15,371,19–22; 371,26–372,1. 15,373,7–10. 15,373,15–17. 40III,202–207.232–247*.

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7. Grundideen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

liegt nicht in ihren Vorstellungen von den die innerweltlichen Strukturen im Sinne des Rechts und der Gerechtigkeit ordnenden leges bonae und consuetudines honestae, sondern darin, daß sie den Menschen mit seiner Klugheit (prudentia) zum Urheber der innerweltlichen Ordnung und das menschliche Streben nach Ehrbarkeit (honestas) und Ruhm (gloria) zu ihrem Zweck macht. Diese Überhöhung des Menschen führt paradoxerweise dazu, daß die der Weltordnung immanente Rationalität angesichts der Wechselfälle der Geschichte für die rein säkulare Weltsicht fraglich und durch Zufall und Schicksal (fortuna) als Geschichtsprinzipien ergänzt und verdrängt wird. Dagegen weiß der Glaubende, der sich in oeconomia und politia vorfindet, daß er in einer Welt lebt, die von Gott geordnet und auf ihn angewiesen ist und die gerade deshalb eine ihr eigene Binnenrationalität aufweist. So sehr ist Gott die causa principalis des Lebens in der Welt, daß die Menschen als »ministri et cooperatores dei« eigentlich nur »instrumentalis causa«144 sind, durch die Gott die Welt regiert, damit die Menschen ihn als Schöpfer und Erhalter verehren. Wer Gott so erkennt, versteht sein Sich-Vorfinden in der Welt als eine göttliche Berufung und als Verpflichtung zu tun, was man vermag (»Si deus vocat ad magistratum, in familiam, volo, facere, quod possum«),145 dankt Gott für seine Gaben und bittet ihn um seine Hilfe. Das Verhältnis dieser beiden Beziehungsdimensionen christlicher Existenz erläutert Luther mit Hilfe der Unterscheidungen von Fleisch und Geist, äußerem und innerem, altem und neuem Menschen.146 Der geistliche, innere, neue Mensch glaubt von Herzen und ruft Gott an und richtet damit all sein Handeln an Gott aus. Dadurch ist die Voraussetzung geschaffen, daß der fleischliche, äußere, alte Mensch als Teil des Haus- und Gemeinwesens seine Berufspflichten in der rechten Weise wahrnimmt und sich nicht vergeblich abmüht. Wer sich als Werkzeug Gottes in der Welt weiß, ist davor gefeit, das eigene Handeln zu überhöhen, die relative Eigengesetzlichkeit der Welt zu verkennen und sich in der Sorge um das eigene Wohlergehen und das anderer aufzureiben. Gerade dadurch gewinnt er aber die Freiheit, seiner innerweltlichen Verantwortung wirklich gerecht zu werden. »Soli pii, qui credunt deum largitorem boni omnis spiritualis et corporalis, illi laborant, manducant, fruuntur donis et intelligunt esse dona dei, non eorum operatores etc. Si non ghet, ut volunt, dicunt: ›Sit Nomen domini benedictum‹; possunt vincere omnia mala et frui omnibus donis presentibus. Caro non praesentia cernit, sed mit den [Versprechungen] zalden [zahlen] sie: vber 1 iar sols ghen; speculari futura et amittere praesentia«.147 144

WA 40III,210,14*. WA 40III,212,10 f.* 146 WA 40III,233 f.* Die Druckfassung stellt die Unterscheidung von fides und opera voran (WA 40III,234,14*). 145

7.1. Das Problem der Mönchsgelübde

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Aber die Außendimension menschlichen Handelns ist dann gerade nicht mehr das Entscheidende. Die Anerkennung Gottes als causa principalis alles innerweltlichen Geschehens und menschlichen Handelns heißt nicht nur, daß das menschliche Handeln von Überheblichkeit und Sorge befreit und damit als sachgerechtes Handeln allererst möglich geworden ist. Es heißt vielmehr auch und vor allem, daß der Glaubende Gott gegenüber seine umfassende Passivität bekennt. Luthers Vorstellung vom Berufsgehorsam innerhalb der Stände läuft damit auf die rechtfertigungstheologische Elementaraussage vom opus Dei hinaus, das alles Sein und Handeln des Glaubenden begründet und ausmacht. So deutet Luther auch die Aussagen über den Schlaf und die Gottesgaben in Ps. 127,2f., wo von der allem Handeln vorausgehenden und zugrundeliegenden Passivität die Rede ist, die Gott als Geber anerkennt: »Pius non solum dormit in nocte sed toto tempore vitae, lesst ghen, ut deus macht, fruitur donis et sinit se instrumentum et dat deo gloriam, ille dormit et habet omnia tanquam in quiete, ocio et omnia faciendo nihil facit et nihil faciendo omnia facit«.148

So vollzieht sich das Leben in der Welt in den Strukturen von Stand und Beruf im täglichen Handeln in Haus und Gemeinwesen, aber mehr noch und eigentlich in der inneren Einstellung Gott gegenüber, im Verzicht auf das Eigenwirken und in der Ergebung in das opus Dei. Obwohl Luther Beruf und Stand als göttliche Ordnungen versteht und sich in ihnen das Leben aus dem Glauben in der aktiven Übernahme innerweltlicher Verantwortung des äußeren Menschen und der Passivität des inneren Menschen Gott gegenüber konkretisieren sieht, haben Beruf und Stand doch keine soteriologische Relevanz. Die christliche Freiheit gilt gerade auch hier: »Der glaube und Christlicher stand ist so eyn frey ding, das er an keynen stand verbunden ist, sondern ist uber allen stenden, ynn allen stenden, und durch allen stenden, darumb keyn not ist, das du yrgent eynen stand an nemist odder verlassest, das du selig werdest. Sondern ynn wilchem stand dich das Evangelion und der glaube findet, da kanstu ynnen bleyben und selig werden. [...] Das ist alles frey, frey«.149

Diese Betonung der christlichen Freiheit mindert in keiner Weise die Bedeutung und Würde von Stand und Beruf. Das bringt Luther auch damit 147 148

WA 40III,240,7–12+241,1*. WA 40III,253,5–9*. Luther sichert diese Spitzenaussage sogleich dadurch ab, daß er

sie auf den inneren Menschen bezieht: »iste somnus referatur ad ocium et quietem conscientiae vel animi, Non carnis vel Corporis; laborandum et sudandum, sed letandum et fidendum conscientia in benedictione divina« (WA 40III,253,14–16*). 149 WA 12,126,17–28 (Das siebente Kapitel S. Pauli zu den Corinthern, 1523).

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7. Grundideen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

zum Ausdruck, daß er die gottgesetzten innerweltlichen Ordnungen als in Gottes Wort gefaßt und damit »heilig« qualifiziert, während der Glaube an Christus »selig« macht. Im christlichen Leben ist beides verbunden, das im Glauben an Christus gegebene Heil des inneren Menschen und die im Berufsgehorsam innerhalb der Stände wahrgenommene Weltverantwortung des äußeren Menschen: »Denn es ist gar viel ein anders heilig und selig sein. Selig werden wir allein durch e Christum, Heilig aber beide durch solchen glauben und auch durch solche Gotte liche stiffte und orden. Es mugen auch gottlose wol viel heiliges dinges haben, sind aber drumb nicht selig drynn, Denn Gott wil solche werck von uns haben zu seinem lob und ehre, Und alle die, so ynn dem glauben Christi selig sind, die thun solche werck und halten solche orden«.150

Der alltägliche Berufsgehorsam im gegebenen Stand rechtfertigt nicht, aber in ihm vollzieht sich das Leben aufgrund der Rechtfertigung, so daß Luther sagen kann: »wer nit ynn dißer stand eynem erfunden wirt«, nämlich »Man unnd weyb, Jung und allt, Junpfraw und witwe, Ehlich und ehloß«, »der ist nit ym stand der selickeytt«.151 In der Bestimmung des Berufs und Stands als des Orts christlichen Lebens ist die Welt in einer Weise theologisch beansprucht und positiv qualifiziert, die dem monastischen Vollkommenheitsstreben mit seiner Weltdistanzierung und Selbstnegation gänzlich entgegengesetzt ist. Luthers kritische Auseinandersetzung mit den Mönchsgelübden ist geradezu die Bedingung dafür, die ethischen Konsequenzen der in seiner reformatorischen Theologie vollzogenen Bekehrung zur Welt auszuformulieren. Doch er gibt das monastische Ideal nicht einfach preis, sondern in seiner Beanspruchung der Welt und ihrer gegebenen Strukturen als Ort des christlichen Lebens vollzieht sich zugleich »eine Entschränkung und Universalisierung des Monastischen«, die zur »Verinnerlichung und Radikalisierung des christlichen Lebens überhaupt« führt.152 Die im Glauben wahrgenommene Weltverantwortung in Beruf und Stand will nichts weniger sein als die wahre christliche Vollkommenheit, die nun nicht mehr von einer elitären Gruppe im Gegenüber zur Welt, sondern von allen Christen in der Welt gelebt wird.

150 151

WA 26,505,18–23. WA 10I/1,437,16.18 f.

152 D. Wendebourg: Der gewesene Mönch Martin Luther – Mönchtum und Reformation (KuD 52, 2006, 303–327, 315).

7.2. Das Problem der weltlichen Obrigkeit

391

7.2. Leben aus dem Glauben in der Welt II: Das Problem der weltlichen Obrigkeit Nicht nur Priesterzölibat und Mönchsgelübde beschäftigten Luther auf der Wartburg. Ein anderes Problem von ebensogroßer Bedeutung, dessen Tragweite Luther allerdings 1521/22 noch nicht wirklich erfaßte, war die Frage, ob und inwieweit ein Christ Verantwortung als Teil der weltlichen Obrigkeit übernehmen konnte. Man sollte meinen, diese Frage sei durch Luthers reformatorische Bekehrung zur Welt und die daraus folgende Einschärfung des christlichen Berufsgehorsams in den gegebenen innerweltlichen Strukturen beantwortet. Das ist grundsätzlich richtig, aber das Ineinander von Seligkeit und Heiligkeit, von christlicher Freiheit im Glauben und christlicher Weltverantwortung in Beruf und Ständen konnte das Spannungsverhältnis von christlicher Freiheit und weltlicher Ordnung nur unzureichend erfassen und klären. Das gilt nicht zuletzt darum, weil es Luther nicht, wie mancher Konzeption theologischer Ethik des 19. und 20. Jahrhunderts, darum ging, Christsein und Weltverantwortung harmonisch miteinander zu verbinden und das Leben aus dem Glauben – mit Hilfe nicht unproblematischer Kategorien wie ›Eigengesetzlichkeit‹ und ›Schöpfungsordnungen‹ – in den weltlichen Bezügen aufgehen zu lassen. Luther ging es vielmehr darum, »im weltliche[n] Beruf des Christen« den »Protest gegen die Welt in letzter Schärfe« anzumelden, wie Dietrich Bonhoeffer es 1937 pointiert formuliert hat.153 In seiner Nachfolge und seinen Ethikfragmenten zeigt Bonhoeffer das Luthers Auseinandersetzung mit dem Mönchtum innewohnende Spannungsverhältnis von Gottes- und Weltbeziehung auf: »Als Gott durch seinen Knecht Martin Luther in der Reformation das Evangelium von der reinen, teuren Gnade wieder erweckte, führte er Luther durch das Kloster. Luther war Mönch. Er hatte alles verlassen und wollte Christus in vollkommenem Gehorsam nachfolgen. Er entsagte der Welt und ging an das christliche Werk. Er lernte den Gehorsam gegen Christus und seine Kirche, weil er wußte, daß nur der Gehorsame glauben kann. Der Ruf ins Kloster kostete Luther den vollen Einsatz seines Lebens. Luther scheiterte mit seinem Weg an Gott selbst. Gott zeigte ihm durch die Schrift, daß die Nachfolge Jesu nicht verdienstliche Sonderleistung Einzelner, sondern göttliches Gebot an alle Christen ist. [...] Luther mußte das Kloster verlassen und zurück in die Welt, nicht weil die Welt an sich gut und heilig wäre, sondern weil auch das Kloster nichts anderes war als Welt. Luthers Weg aus dem Kloster zurück in die Welt bedeutete den schärfsten Angriff, der seit dem Urchristentum auf die Welt geführt worden war. Die Absage, die der Mönch der Welt gegeben hatte, war ein Kinderspiel gegenüber der Absage, die die Welt durch den in sie Zurückgekehrten erfuhr. Nun kam der Angriff frontal. Nachfolge Jesu mußte nun mitten in der Welt gelebt werden. Was unter den besonderen Umständen und 153

D. Bonhoeffer: Nachfolge, DBW 4, 21994. 35.

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7. Grundideen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

Erleichterungen des klösterlichen Lebens als Sonderleistung geübt wurde, war nun das Notwendige und Gebotene für jeden Christen in der Welt geworden. Der vollkommene Gehorsam gegen das Gebot Jesu mußte im täglichen Berufsleben geleistet werden. Damit vertiefte sich der Konflikt zwischen dem Leben des Christen und dem Leben der Welt in unabsehbarer Weise. Der Christ war der Welt auf den Leib gerückt. Es war Nahkampf.«154

Und das gilt nach Bonhoeffer gerade auch für Luthers scheinbar so weltbejahende Berufsethik: »Der Beruf im neutestamentlichen Sinne ist niemals Sanktionierung der weltlichen Ordnungen als solcher, sein Ja zu ihnen enthält immer zugleich das schärfste Nein, den schärfsten Protest gegen die Welt. Die Rückkehr Luthers aus dem Kloster in die Welt, in den ›Beruf‹ ist – echt neutestamentlich – der heftigste Angriff und Stoß, der seit dem Urchristentum gegen die Welt geführt worden ist. Nun wird in der Welt gegen die Welt Stellung bezogen, der Beruf ist der Ort, an dem dem Ruf Christi geantwortet und so verantwortlich gelebt wird. So ist zwar die mir im Beruf gesetzte Aufgabe eine begrenzte, zugleich aber stößt die Verantwortung vor dem Ruf Jesu Christi durch alle Grenzen hindurch«.155

Luthers erster Schritt zur Klärung dieses Spannungsverhältnisses von Glaube und Weltverantwortung war, hier ein theologisches Problem zu erkennen. Das wichtigste Zeugnis dieser Erkenntnis und des ersten Versuchs seiner Lösung, ist sein Brief an Melanchthon vom 13. Juli 1521.156 Noch bevor das Zölibats- und Gelübdethema im August 1521 den Briefwechsel zwischen der Wartburg und Wittenberg beherrschte, antwortet Luther hier auf einen wohl am 6. Juli geschriebenen,157 nicht mehr erhaltenenen Brief Melanchthons, in dem es um das jus gladii ging. Indem Luther seine Stellungnahme mit den Worten »De gladii iure sic sentio, ut prius« einleitet, zeigt er, daß den Briefen vom Juli 1521 eine Diskussion vorausgegangen war, die sich vielleicht auch in dem Abschnitt über die weltliche Obrigkeit in Melanchthons Loci niederschlägt.158 Dort werden zwar das Wesen der Obrigkeit und die Pflicht zum Gehorsam behandelt, nicht aber die Frage, ob Christen das Schwert gebrauchen dürfen. Melanchthons Position zu dieser Frage läßt sich aus Luthers Brief umrißhaft rekonstruieren.

154

AaO 33–35. D. Bonhoeffer: Ethik, DBW 6, 21998, 291 f. (zweite, 1942 entstandene Fassung des Abschnitts Die Geschichte und das Gute). 156 WAB 2,357,32–359,107 (Nr. 418); MBW.T 1,307,30–310,102 (Nr. 151). Hierzu: K. Müller: Luther und Melanchthon über das jus gladii 1521 (in: Geschichtliche Studien für Albert Hauck zum 70. Geburtstag, 1916, 235–239). 157 WAB 2, Nr. 418, Anm. 1. 158 MStA 2I,180,5–33. Melanchthon arbeitete während des von April bis Dezember 1521 dauernden Drucks der Loci weiter am Text und tauschte sich wohl auch mit Luther aus, möglicherweise eben auch über die Obrigkeitsfrage. 155

7.2. Das Problem der weltlichen Obrigkeit

393

Im Evangelium – das alttestamentliche Gesetz scheint keine Relevanz für die Erörterung zu haben – gibt es weder ein das jus gladii, d.h. die aktive Teilhabe des Christen an der weltlichen Rechtsordnung und Strafgewalt159 begründendes Gebot (mandatum) noch auch nur seine Empfehlung (consilium).160 Gemessen an der neutestamentlichen Heilsordnung ist das jus gladii etwas Unrechtes, das Gott nicht gutheißt, sondern nur aus bestimmten Gründen zuläßt. Die es scheinbar bestätigenden neutestamentlichen Texte, die von den Christen das Gebet für die weltliche Obrigkeit (1. Tim. 2,1 f.) und die Unterordnung unter sie fordern (Röm. 13,1–7; 1. Petr. 2,13–17), enthalten keine Begründung des jus gladii. Melanchthon will aber nicht die Legitimität der innerweltlichen Ordnung relativieren – selbst wenn es sich bei den Obrigkeiten um tyranni inqui handelt –, sondern deutlich machen, daß die Christen nicht auf Seiten der weltlichen Obrigkeit aktiv Verantwortung übernehmen dürfen: »Die Gewaltherrschaft, die im Wesen der Obrigkeit liegt, ist nichts für Christen. Sie sollen sich ihr fügen, aber sich nicht an ihr beteiligen. Ihr Stand ist leidender Gehorsam, nicht zwingende Gewalt«.161

Diese aus Luthers Brief erschlossene Position Melanchthons ist repräsentativ für eine breite christlichen Tradition von den Anfängen der Kirche bis zum Spätmittelalter, die den durchaus anerkannten und respektierten innerweltlichen Strukturen distanziert gegenüberstand. Luther selbst war mit seiner Frühtheologie Teil dieser Tradition gewesen: Augustins Geschichtstheologie mit ihrer Gegenüberstellung zweier civitates – der civitas Dei und der widergöttlichen civitas terrena – und die mittelalterliche Konfrontation von Kaisertum und Papsttum – Luthers Augustinereremitenorden gehörte zu den energischsten Vertretern des Papalismus und der päpstlichen Machtansprüche über Kirche und Welt162 – hatten wohl den kritischen Blick des Erfurter und Wittenberger Mönchs auf die weltliche Obrigkeit geprägt.163 Luther sprach wohl auch von sich selbst, wenn er 159 In seinen Loci versteht Melanchthon den gladius so: »Gladii partes sunt iura civilia, ordinationes civiles iudiciorum forensium, poenae sontium. Estque ius gladii dispensatio legum de non occidendo, de non vindicando etc.« (MStA 2I,180,7–10). Luther faßt 1527 das Schwert noch etwas weiter: »Durchs schwert aber verstehe ich alles was zum welte lichen regiment gehort, als weltliche rechte und gesetze, sitten und gewonheite, geberden [Haltung, Verhalten], stende, unterscheidene empter, person, kleider, etc.« (WA 23,514,1–4). 160 Wichtig für das Verständnis der Diskussion zwischen Luther und Melanchthon ist, daß es nicht um die Begründung der weltlichen Obrigkeit im allgemeinen geht, sondern um die Frage, ob und inwieweit ein Christ obrigkeitliche Funktionen wahrnehmen kann und soll. 161 K. Müller: Luther und Melanchthon über das jus gladii 1521, 236. 162 J. Miethke: Politiktheorie im Mittelalter, 2008, 94–108. 163 In Luthers frühen Vorlesungen und Schriften findet sich immer wieder sowohl grundsätzliche als auch auf einzelne Mißstände gerichtete Kritik an der weltlichen Obrigkeit (zum Beispiel WA 55I,894; WA 56,25,21–27+26,11–13; WA 56,188,18–190,14; WA 56,447,27–448,19; WA 6,40,25–29). Innerhalb der Auslegung des vierten Dekaloggebots ist die Obrigkeitskritik selbstverständlicher Teil der spätmittelalterlichen Ständedidaxe (z.B. WA 6,260,4–13). Luthers kritischer Blick auf die weltliche Obrigkeit tritt aber quantitativ und qualitativ deutlich hinter die immer wieder vorgebrachte Kirchenkritik zurück.

394

7. Grundideen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

1529 in der Rückschau über die gängige Bewertung der weltlichen Obrigkeit vom christlichen Standpunkt keine zehn Jahre zuvor schrieb: e

»So stunds aber dazu mal: Es hatte niemand geleret noch gehoret, wuste auch e niemand etwas von der weltlichen oberkeit, woher sie keme, was yhr ampt odder werck were odder wie sie Gott dienen solt. Die aller gelertesten (wil sie nicht e e nennen) hielten die weltliche oberkeit fur ein heidenisch, menschlich, ungotlich ding, als were es ein ferlicher stand zur seligkeit. Daher hatten auch die Pfaffen und e e e Munche Konige und Fursten so eingetrieben und uberredet, das sie ander werck e fur sich namen Gott zu dienen, als mess horen, beten, mess stifften etc. Summa, e Fursten und herrn (so gern frum gewesen weren) hielten yhren stand und ampt fur e nichts und fur keinen Gotts dienst, wurde recht pfaffen und munche, on [außer] das sie nicht platten noch kappen trugen. Wolten sie Gott dienen, so musten sie ynn die kirchen«.164

Die naturrechtlich begründete Berechtigung, Notwendigkeit und Nützlichkeit der innerweltlichen Ordnung stand dabei nicht in Frage – wie sie Luther selbst bis 1520 mit Verweis auf Röm. 13 immer wieder lehrte165 –, wohl aber die Vereinbarkeit von christlicher Vollkommenheit und innerweltlicher Verantwortungsübernahme. Wo wahres Christsein nur im Gegenüber zur Welt, ja im Konflikt mit ihr möglich war, war dem einzelnen Christen die aktive Teilhabe an der Obrigkeit verwehrt. Und für Christen im obrigkeitlichen Amt war allenfalls eine mindere Form des Christseins denkbar. In Melanchthons Brief traten Luther also Gedanken gegenüber, die ihm vertraut waren, die er aber im Sommer 1521 schon nicht mehr bejahte.166 Die innerweltlichen Strukturen, insbesondere die weltliche Obrigkeit waren für ihn nicht länger mehr nur notwendige und nützliche Einrichtungen, denen ein wahrer Christ nur in sicherer Entfernung gegenüberstand. Aber wie sah die Neubestimmung des Verhältnisses zur Welt hinsichtlich dieser Frage konkret aus? Wie begründete Luther seine Umorientierung? Er gesteht in seiner Antwort an Melanchthon zwar ein, daß es kein explizites »mandatum aut consilium ex euangelio« gibt, daß ein Christ als Funktionsträger der weltlichen Obrigkeit Verantwortung übernehmen darf und soll. Er akzentuiert diese Beobachtung aber anders als Melanchthon, indem er darauf hinweist, daß das nicht verwunderlich ist, da es so etwas gar nicht geben kann, »cum euangelium sit lex voluntariorum et liberorum, quibus nihil commune cum gladio aut gladii iure«.167 Und diese 164 165 166

WA 30II,109,4–14. Z.B. WA 56,123,16+124,5–14; WA 6,409,31–410,8.

Daß Luther Melanchthon gegenüber bereits auf Ansätze täuferisch-spiritualistischer Weltdistanzierung reagierte, die im Laufe der 1520er Jahre die altkirchlich-mittelalterliche Tradition in veränderter Form fortsetzen sollte, ist unwahrscheinlich. 167 WAB 2,357,33.35 f.

7.2. Das Problem der weltlichen Obrigkeit

395

christliche Freiheit ist für Luther gerade nicht die Freiheit von der innerweltlichen Verantwortung, sondern die Freiheit, sie wahrzunehmen. Denn über die »rerum temporalium cura« entscheidet nicht das Evangelium, sondern »solus spiritus in sua libertate disponit«.168 Von diesem Verständnis der christlichen Freiheit aus liest Luther die neutestamentlichen Aussagen über die weltliche Obrigkeit anders als Melanchthon. Entscheidend ist, daß der gladius im Evangelium nicht verboten ist, sondern vielmehr in einer Weise vorausgesetzt und anerkannt wird (»confirmatum et commendatum«), daß sich daraus ein – auch und gerade für den Glaubenden geltendes – »ius [...] utendi« wegen der »necessitas huius vitae« erschließen läßt.169 Diese Berechtigung des jus gladii wird auch durch Vernunftargumente (»rationes«) und Nützlichkeitsargumente (»inconvenientia«) gestützt. Denn die Kirche könnte angesichts der Bedrohung durch die Bösen nicht bestehen in dieser Welt.170 Weil Melanchthon aber nicht durch solche Argumente, sondern durch Schriftstellen überzeugt werden möchte, erwägt Luther im Folgenden unterschiedliche Schriftstellen und biblische Beispiele, aus denen sich für ihn immer mehr die göttliche Legitimation der Obrigkeit als innerweltlicher Friedensmacht ergibt, deren Ausgestaltung und Wahrnehmung Sache der Menschen ist, und in der die primär dem Evangelium verpflichteten Christen Verantwortung übernehmen können und sollen. Sein erstes Schriftargument ist Lk. 3,14, wo der Täufer nicht den Soldatendienst der ihn fragenden »Christiani [...] seu fideles« ablehnt, sondern bestimmte Standards für das Verhalten als Soldat fordert, womit die militia im allgemeinen und für Christen im besonderen zwar nicht instituta, aber doch confirmata ist.171 In ähnlicher Weise bestätigen die Aufforderungen zum Gebet für die weltliche Obrigkeit in 1.Tim. 2,2 und Jer. 29,7, daß es sich bei denen, »qui in sublimitate constituti sunt« – und zwar gerade auch bei heidnischen Obrigkeiten –, nicht um eine »re[s] vel prohibita[], vel nullius iuris existen[s]«, handelt, die zu den Sachen gehört, »quae tantum permissae et ferendae sunt«.172 Auch Röm. 13,1–7 und 1. Petr. 2,13–17 betreffen nicht nur die Gehorsamspflicht der »subditi« gegenüber der weltlichen Obrigkeit, sondern begründen die Obrigkeit als solche, indem sie das jus gladii nicht bloß zulassen, sondern es zur Friedenswahrung (»pro pace ordinare«) einsetzen.173 Dementsprechend haben Abraham, David und andere als evangelische Männer (viri euangelici) auch 168

WAB WAB WAB 171 WAB 172 WAB 173 WAB 169 170

2,357,40.41. 2,357,37.42. 2,357,44–48. 2,357,51–358,56.85–87. 2,358,58–66. 2,358,67–79.

396

7. Grundideen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

ganz selbstverständlich das Schwert gebraucht, und zwar »optime« und »laudabiliter« und ohne explizites mandatum und consilium, wodurch sie ein Vorbild gerade für die Christen sind.174 Wenn Luther zusätzlich darauf verweist, daß das Neue Testament nicht nur die weltliche Obrigkeit bestätigt, sondern auch die Auflehnung gegen sie als Werk des Antichrist verurteilt (2. Petr. 2,10. Jud. 8), heißt das wohl, daß die Christen sich nicht durch eine Distanzierung von der innerweltlichen Verantwortung mit dem Antichristen gemein machen sollen.175 Vorbereitet durch diese Schriftargumente kann Luther nun auch von der Evangeliumspredigt Christi behaupten, daß Christus das Schwert als »divinitus ordinatu[s]« vorfindet und es als solches für die Christen empfiehlt und bestätigt.176 Daß Christus das Schwert im Evangelium nicht ausdrücklich einsetzt, liegt daran, daß es im Evangelium um die res divinae geht, daß die Christuspredigt die innerweltliche Ordnung also gar nicht betrifft. Wäre Christus nicht auf seine soteriologische Funktion beschränkt, würde er das Schwert für die Christen explizit legitimieren. Da er aber auf diese Funktion beschränkt ist, tut er es nur implizit.177 Angesichts dieser Schriftstellen kann Melanchthon keine Einwände mehr machen, er hat keine obrigkeitskritische Stelle zu bieten, die für die Glaubenden das jus gladii »vel damnet vel prohibeat, vel ullo modo fugere doceat«. Luther dagegen ist sich seines Aufweises der Möglichkeit, ja Notwendigkeit innerweltlicher Verantwortungsübernahme durch Christen sicher: »ego tot modis confirmatam, commendatam, honorandam, oratione Deo commendandam habeo potestatem huius mundi, nisi quod ab euangelio neque imperata neque consulta sit, quod nec matrimonium, nec domus, nec disciplina domus aut civitatis, aut ulla rerum corporalium administratio et cura«.178

Wie der Christ also in seinem persönlichen Nahbereich, in Haus, Ehe und Familie, ja in allen innerweltlichen Zusammenhängen, in denen er sich vorfindet, sein christliches Leben lebt, so auch als Funktionsträger der weltlichen Obrigkeit. Luthers Brief vom Sommer 1521 gehört zu den Zeugnissen für den in den gegebenen innerweltlichen Strukturen zu leistenden Berufsgehorsam. Er enthält aber auch Hinweise auf die diesem christlichen Leben in der Welt 174

WAB 2,358,80–87. WAB 2,358,93–96. 176 WAB 2,358,88–92. 175

177 Der Satz »sic eum [sc. gladium] tractat, ut, nisi euangelio repugnaret, eum a se institui, vellet instituere« (WAB 2,358,90 f.) ist so zu übersetzen: »So behandelt er [Christus] das Schwert, daß er es, wenn es nicht dem Evangelium widerspräche, daß es von ihm eingesetzt wird, einsetzen wollen würde«. 178 WA 2,359,99 f.100–104.

7.2. Das Problem der weltlichen Obrigkeit

397

innewohnenden Spannungen und Schwierigkeiten, die weiterer Erörterung bedurften. Über eine sich an den Brief anschließende Diskussion unter den Wittenberger Theologen wissen wir nichts. Luther äußerte sich aber in der Folgezeit immer wieder beiläufig zum Verhältnis von weltlicher und geistlicher Gewalt und zur Führung des weltlichen Schwerts durch Christen.179 Erst im Herbst des Folgejahres nutzte er die Gelegenheit zweier Predigten, um seine Überlegungen zusammenzufassen und zu systematisieren. Im Oktober 1522 reiste Luther auf Einladung von Johannes Lang und Herzog Johann nach Erfurt und Weimar, und am Freitag, den 24., und Samstag, den 25. Oktober, predigte er in der Schloßkapelle von Weimar in Anwesenheit des Herzogs und seines Sohns über die Reichgottesankündigung des Täufers (Mt. 3,2).180 Daß Spalatin Luther im Anschluß an diese Predigtreise danach fragte, worüber er gesprochen habe, deutet darauf hin, daß diese Predigten besondere Aufmerksamkeit fanden. Interessant ist, wie Luther auf diese Frage in seinem Antwortbrief vom 3. November 1522 reagiert: Er beruhigt Spalatin, daß er in Erfurt und Weimar nichts Neues gepredigt habe, sondern nur die bekannte Elementaraussage der reformatorischen Theologie über Rechtfertigungsglaube und Nächstenliebe (»nihil aliud quam fidem et charitatem«). Und Teil dieser Predigten über Glaube und Liebe waren auch die beiden uns hier interessierenden Weimarer Predigten, die angesichts der fürstlich-höfischen Zuhörerschaft in besonderer Weise »de regno dei & potestate se¸culari« handelten.181 Wenn Luther also im Anschluß an die Verkündigung des Gottesreichs durch den Täufer das Thema Glaube und Liebe hinsichtlich des Verhältnisses von Gottesreich und weltlicher Obrigkeit auslegt, dann ist das für ihn nichts Neues, sondern etwas, was in der reformatorischen Grundkonzeption bereits enthalten ist. Allerdings zeigt Spalatins Anfrage und die sie auslösende Bitte von Herzog Johann um eine schriftliche Ausarbeitung von Luthers Predigten, daß das, was Luther klar war, anderen nicht ebenso klar war. Daß Christen gerade auch als weltliche 179 Bemerkenswert ist, daß Luther bereits in seiner Ende 1520, Anfang 1521 entstandenen, Herzog Johann Friedrich gewidmeten Magnifikatauslegung ganz selbstverständlich davon spricht, daß und wie der Christ als obrigkeitlicher Funktionsträger handelt (WA 7,544,24–545,22; 583,9–584,8; 590,3–11; 601,12–603,13 u.ö.). Auch in anderen Schriften und Predigten der Jahre 1521 und 1522 kommt er immer wieder auf die Obrigkeitsthematik zu sprechen (hier nur eine Auswahl einzelner Stellen: WA 8,151,22–33; 173,5–33; WA 10III,121,10–20*; 251–256*). 180 WA 10III,CLX-CLXII.371–379*.379–385*. Angesichts der Parallelen zur Schrift Von weltlicher Oberkeit, die Luther auf Bitten der Herzogs im Anschluß an die Predigten ausarbeitete, sind die Nachschriften als verläßliche Wiedergabe von Luthers mündlichem Vortrag zu betrachten. Schriftliche Notizen hatte Luther sich nicht gemacht (WAB 2,613,7 f. [Nr. 546]). 181 WAB 2,613,7–10 (Nr. 546).

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7. Grundideen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

Obrigkeit Verantwortung übernehmen durften und sollten, war im Herbst 1522 genauso wie im Sommer 1521 immer noch nicht leicht zu verstehen. Allerdings waren die beiden Predigten weit besser als der Brief an Melanchthon geeignet, diesen Aspekt des von Glaube und Liebe bestimmten christlichen Lebens verständlich zu machen, bediente Luther sich doch hier erstmals der für seine Theologie zentralen Unterscheidungen zweier Regimente und Reiche. Es läßt sich nicht entscheiden, ob Luther den Predigttext mit der Absicht wählte, die Unterscheidung der beiden Regimente und Reiche zu behandeln, oder ob sich dieses Thema angesichts der Gottesdienstgemeinde in der Weimarer Schloßkapelle aus einem ihm vorgegebenen Predigttext ergab.182 Jedenfalls liefert der Predigttext – »Bekertt und bessertt euch, dan das reich gottes ist nahe« (Mt. 3,2) – das entscheidende Stichwort. Das Gottesreich, von dem hier die Rede ist, ist für ihn das »Cristlich glaubig volck Cristi«,183 dem das widergöttliche Reich des Teufels, Papsts und Antichrists gegenübersteht.184 Innerhalb des Gottesreichs unterscheidet er zusätzlich das »geistlich unnd weltlich reich Cristi«.185 Hatte Christus in alttestamentlicher Zeit das weltliche Reich noch direkt durch das Gesetz regiert, so gilt seit der Menschwerdung Christi, daß er nur noch sein geistliches Reich direkt regiert, während er über das weltliche nur noch e indirekt und vermittelt durch »fursten, keyser und amptleutt«186 Herr ist. Das geistliche Reich Christi und das ihm zugeordnete geistliche Regiment stehen dem Teufelsreich gegenüber und sind vom weltlichen Reich Christi und dem ihm zugeordneten weltlichen Regiment zu unterscheiden. Christi geistliches Reich und Regiment werden von Gott direkt beherrscht, und zwar durch das von den Predigern geführte »geistlich schwert«187 des Gottesworts. In diesem Reich »[be]darff man keines [weltlichen] schwerts e unnd gesecz«, sondern »da sol man Iderman lassen gehen, da stett Jderman wol mit dem andern, da hilfft man einander«.188 Dieses geistliche Reich Christi ist der primäre Existenzbereich des Christen. Im Glauben und im 182

Für eine eigenständige Wahl des Predigttexts spricht, daß die Täuferperikope Mt. 3,1–12 ein von Luther nur selten gepredigter, und wenn, dann vor allem auf das Taufthema hin ausgelegter Text ist (s. die in WA 22,XLVI nachgewiesenen Predigten aus den 1540er Jahren) und daß Luther sich im Sommer und Herbst 1522 auch aus anderen Gründen (s.u. S. 403 zur Entstehungsgeschichte der Obrigkeitsschrift) mit den in den Weimarer Predigten angesprochenen Themen beschäftigte. 183 WA 10III,371,15*. 184 WA 10III,371,16.18*; 374,27*. 185 WA 10III,371,19*. 186 WA 10III,371,24*. 187 WA 10III,381,14*. 188 WA 10III,379,21–23*.

7.2. Das Problem der weltlichen Obrigkeit

399

Heiligen Geist hat der Christ sein geistliches, inneres Leben als Glied der geistlichen Gemeinschaft der Kirche, das sich in guten Werken äußert, die das von Christus gewirkte opus Dei sind.189 Dieses Leben ist unvereinbar mit dem widergöttlichen Reich der Papstkirche, dessen Glieder – Luther weist immer wieder auf die Mönche hin – in der Befolgung menschlicher Gesetze nach äußerlicher Werkgerechtigkeit streben und damit den Glauben und die nur als Gotteswerk möglichen guten Werke aus dem Glauben verneinen. Der Christ ist aber nicht nur Teil des geistlichen Christusreichs, sondern auch des weltlichen. Der Glaube und die Bestimmtheit durch den Gottesgeist wirken sich auch auf sein Leben in diesem Bereich aus, indem der Christ in seiner innerweltlichen Funktion im Dienst am Nächsten handelt: e

»Was im den nun got gebeutt fur werck, sie sein wie sie sein, so thutt er die seinem nechsten zu nucz und gerne, richt im kein eygne werck auff, und die gescheen aus e dem glauben unnd sein darnach aller erst gutt, Er sicht nit das geringst ader grost e gebott des Bapsts an. Also gebeutt got der Frawen, sie sol die kinder schweygen [zufriedenstellen], die zu ziehen und zu baden, sie thut auch ein gutt werck damit, wiewol es ein unachtsam ding ist. Also thutt auch der man ein gutt werck, So er e sein haus gesinde wol regirtt: und wen er am tag hundertt solcher werck thett, So weren sie alle gutt, und wen er holcz hawett ader die stuben ein heist, so ists so ein e gutt werck als wen ein munch vil Rosenkrencz bett, dann daurch den heiligen geist unnd glauben sein alle werck gutt«.190

Und das gilt natürlich auch für den Christen als obrigkeitlichen Funktionsträger, selbst wenn es sich um den Henker handelt.191 Entscheidend ist e nicht das Äußere (»Darumb leidt es nit in eusserm«),192 sondern die innere Motivation durch den Gottesgeist. Das Thema des christlichen Lebens im weltlichen Christusreich wird in der zweiten Weimarer Predigt vom nächsten Tag weiter entfaltet. Die für das geistliche Christusreich kennzeichnende direkte Gottesherrschaft und der Verzicht auf äußere Machtmittel gelten nicht für das weltliche Christusreich. Auch dieses Christusreich steht als Teil des geistliches und weltliches Christusreich umfassenden Gottesreichs dem Teufelsreich gegenüber, ja es verdankt seine Existenz als innerweltliche Ordnung geradezu dem Teufelsreich: Weil »der teuffel den meisten hauffen gesammelt unnd under seinem regiment« hat, darum 189

»Also mus Cristus in uns regiren und wircken: du bist barmherczig, gnedig, gibst almusen, fastest, bettest, singst, hilfst deinem nechsten, gehst in die kirchen ader thust e sunst was anders, das sein eittel werck gottes, die er muß wircken, wir vermugen der nicht« (WA 10III,374,5–8*). 190 WA 10III,376,32–377,4*. 191 WA 10III,375,22 f. 192 WA 10III,375,27*.

400

7. Grundideen des Lebens aus dem Glauben in der Welt e

»mus ein ander regiment sein, da kumpt das weltlich schwertt, da muß e man fürsten und amptleutt haben, die sein uns vonnoten«.193 Die Aufgabe der weltlichen Regenten ist, die »schelck straffen und die frummen bee huten«.194 Luther will in der Predigt nun aber nicht zeigen, wie die »weltliche[] Oberkeit«195 dieser Aufgabe nachkommt – das ist Sache der Vere nunft. Vielmehr geht es ihm darum, »Wie darinnen sol die lieb gegen dem 196 nechsten erzeigt werden«. Luthers Aufgabe ist nicht die Anleitung zu konkreter Praxis, sondern dazu, daß die Christen ihre Aufgaben innerhalb des weltlichen Regiments ihrem Glauben entsprechend als Dienst der Nächstliebe wahrnehmen: e

e

e

»Also geburtt mir auch nit einen fursten in dem zu unterweisen, Ich sol im allein e sagen, das er Cristlich handel. Unnd also sollen die hern und weltlichen Regentten das schwertt gancz Cristlich annemen und haben, damit sie den andern dienen, e schuczen und hanthaben. Es ist gar ein gros weitleufftig ding, das weltlich Regie e mentt, und wil anzeigen das man allein die lieb darinnen suchen sol«.197 e

Als Christ ein »gutt weltlich schwertt zu furen« und als Fürst »aus gott [zu] regiren«198 fordert als erstes die Anerkennung der göttlichen Einsetzung der weltlichen Obrigkeit, wie sie in Röm. 13,1–7 und 1.Petr. 2,13–17 gegeben ist. Ihre Aufgabe ist es, die Guten zu schützen und die Bösen zu strafen. Jeder, auch und gerade der Christ, hat sich ihr unterzuordnen. Als e »hencker und Stockblocher [Gefängniswärter] Cristi, die im sein volck e straffen und richten mussen«, haben die christlichen Fürsten die Aufgabe zu »thun was in [ihnen] Cristus gebeutt«.199 Und das ist nicht nur, »die e bosen zu straffen und die frummen zu schirmen«, sondern auch kraft ihres Amtes dem Nächsten aus Liebe zu dienen und darin das von Christus empfangene Heil in der Zuwendung zum Mitmenschen weiterzugeben: e

e

»Also sol der furst gedencken: Cristus hat mir gedienett und alle ding zu einer e nachfolgung gethan, also wil ich auch meinem nechsten dienen, in beschuczen und e hanthaben [schützen] bey dem seinen, und darumb hat mir got das ampt geben und e e hab auch das darumb, das ich im dienen sol«.200

Der Christ in obrigkeitlicher Funktion kann also nicht von seinem Christsein absehen, sondern er muß in der Wahrnehmung seiner innerweltlichen Verantwortung die christliche Liebe üben, er »mus regiren im reich gottes«.201 Umgekehrt gilt: »Wu nun ein Crist dem andern nit dienett, da 193

WA WA 195 WA 196 WA 197 WA 198 WA 199 WA 200 WA 201 WA 194

10III,379,30–32*. 10III,380,3 f.* 10III,380,5*. 10III,380,8 f.*. 10III,380,12–17*. 10III,381,29*. 10III,381,31–33*. 10III,382,1–7*. 10III,382,11*.

7.2. Das Problem der weltlichen Obrigkeit

401

wontt got nit, da ist auch nit Cristlich leben«.202 Daß der christliche Fürst sein Handeln im weltlichen Regiment durch die christliche Liebe motiviert sein lassen soll, heißt aber nicht, daß er – wie es im geistlichen Regiment notwendig ist – auf äußere Gewaltanwendung verzichtet. Diese ist ja nicht nur durch die göttliche Einsetzung der weltlichen Obrigkeit legitimiert, sondern die Vernunft erweist sie als notwendig, um der Aufgabe der innerweltlichen Friedenswahrung nachzukommen. Das auch und gerade dem christlichen Fürsten geltende Liebesgebot Christi erweist sich so nicht als Einschränkung und Behinderung, sondern als Aufforderung, im e Geist Gottes – »hat ein furst ader Regentt sein ampt nit im und aus dem geist gottes, so ists nichts« – und mit Hilfe der Vernunft – »Wu aber gute vernunft ist, da stett das Regiment wol« – die weltlichen Machtmittel zum Wohl der Menschen einzusetzen.203 Ein christlicher Fürst, der sein Schwert so führt, weiß, daß er nur ein Werkzeug Gottes ist, und befiehlt sich darum im Gebet Gott an: »er mus auch gott allein regirn lassen Und mus gehen in sein kammern und sagen: e O mein gott, Ich bin ein kindt und ungeschickt zu regirn dein volck, darumb gib mir dein gnade, regir du in mir, uff das ich wol mag urteylen und richten etc. das wer fein«.204

Der Christ handelt also auch im weltlichen Reich in steter Bezogenheit auf seine Angehörigkeit zum geistlichen Reich. Der Abschluß der zweiten Predigt205 zeigt aber, daß sich das geistliche und das weltliche Reich Christi im Vollzug des christlichen Lebens nicht einfach schiedlich-friedlich miteinander verbinden lassen. Was heißt es, wenn Luther seine Predigten so zusammenfaßt: »also mus das geistlich Regiment [...] bey dem weltlichen stehen«?206 Luther ist sich dessen bewußt, daß sich Glaube und Liebe, Gottes- und Weltbeziehung nicht so einfach harmonisieren lassen, weshalb er sich abschließend den biblischen Text vornimmt, der es einem Christen wohl am schwersten macht, die innerweltliche Verantwortungsübernahme nicht als Widerspruch zu seinem Glauben zu empfinden: Nach der fünften Bergpredigtantithese (Mt. 5,38–42) sollen die Christen Gewalt willig erleiden. Das gilt auch für den Christen im weltlichen Christusreich; und zwar sowohl, wenn er Gewalt erleidet, ohne dabei Funktionsträger des weltlichen Regiments zu sein, als auch, wenn er davon als Amtsträger betroffen ist. Allerdings ist die Gültigkeit der Bergpredigtforderung in beiden Fällen begrenzt, freilich in un202

WA WA 204 WA 205 WA 206 WA 203

10III,382,14–16*. 10III,384,13 f.36 f.* 10III,385,1–4*. 10III,385,7–35*. 10III,385,7*.

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7. Grundideen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

terschiedlicher Weise. Hinsichtlich des Christen für sich allein hat Verpflichtung zur Gewaltlosigkeit da ihre Grenze, wo der Angriff »mit frevel«207 geschieht. Die Predigt führt nicht aus, was das genau heißt, gemeint ist wohl wie in späteren Äußerungen zu diesem Problem, daß das Unrechtleiden des Christen im weltlichen Christusreich da seine Grenze hat, wo es dem Mitmenschen zu schaden droht: Der Christ hat nicht das Recht, seine christliche Existenz auf Kosten anderer zu führen. Denn die Radikalität der Christusnachfolge – wie sie die Bergpredigtantithesen vor Augen stellen – steht immer unter dem Vorzeichen der in der die Bergpredigt zusammenfassenden Goldenen Regel geforderten Nächstenliebe. Wird ein Christ »mit frevel« Gewalt zugefügt, dann muß die weltliche Obrigkeit, und eben auch der Christ im obrigkeitlichen Amt, zugunsten des bedrängten Christen eingreifen. Für den Funktionsträger innerhalb des weltlichen Christusreichs gilt die Forderung der Gewaltlosigkeit also nicht, sondern er verwirklicht gerade in seinem der Eigengesetzlichkeit des weltlichen Bereichs folgenden Berufsgehorsam die christliche Nächstenliebe. Allerdings kann die Forderung der Gewaltlosigkeit auch für Christen im obrigkeitlichen Amt verpflichtend werden, wenn »im der keiser ader e konig sein landt nimpt«. Das heißt, dem ihm Übergeordneten gegenüber e e »sol ers gedultig leiden und sagen: Nun ich danck got, das ich meines e e ampts ledig bin, wolt got das ich recht regirt und den nechsten beschuczt e het, gots wille geschee mir, und sol des also fro sein«.208 Obwohl diese beiden Predigten für Luther nur Konsequenzen seiner Rechtfertigungslehre – »uff das er [der christliche Fürst] hab den glauben gegen got und die lieb gegen dem nechsten«209 – formulieren, kann man seinen Adressaten nicht verdenken, daß sie diese steilen und zum Teil nur ansatzweise ausgeführten Überlegungen nicht ohne Weiteres mitvollziehen konnten und Neuartiges vermuteten. Luther sah sich gezwungen, kurz darauf noch einmal ausführlicher und überlegter das christliche Leben in der Welt mit seinen Spannungen zu thematisieren und dabei auch die Unterscheidung der beiden Regimente und Reiche zu vertiefen. Den Wunsch nach einer Schrift zu diesem Thema äußerte Herzog Johann wohl unmittelbar im Anschluß an Luthers Weimarer Predigten, und Luther versprach Anfang November 1522, sich an die Arbeit zu machen, die er mit der auf den 1. Januar 1523 datierten Widmungsvorrede beendete.210 Das entste207

WA 10III,385,15*. WA 10III,385,24–27*. 209 WA 10III,385,34 f.* 208

210 Die Abfassung der Schrift fiel in die zweite Dezemberhälfte (WAB 2,624,112 f. [Nr. 552]; 630,11 f. [Nr. 556]); 638,14–16 [Nr. 560]), der Druck war im März 1523 beendet, so

7.2. Das Problem der weltlichen Obrigkeit

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hende Werk – Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei 211 – war aber nicht nur eine ausführlichere Fassung der beiden Weimarer Predigten, sondern diente noch weiteren Zwecken. Luther deutete in einem Brief Anfang November 1522 an, er habe sich schon längere Zeit (»iam diu«)212 mit dem Plan für solch eine Schrift getragen. Möglicherweise hielt er es von sich aus für notwendig, das jus gladii zu behandeln, möglicherweise meint er damit aber auch etwas, was er im Sommer 1522 – womit schwerlich das »iam diu« gemeint sein kann, dessen Bezug unklar ist – angekündigt hatte. Luther hatte nämlich von dem Juristen Johann von Schwarzenberg ein umfangreiches Manuskript zugesandt bekommen, das auch Fragen der politischen Ethik behandelte. In seinem Antwortbrief an Schwarzenberg verzichtete Luther – »der ich’s mit E. Gn. in dem Stück gar nicht halte« – auf eine inhaltliche Antwort und kündigte stattdessen eine eigene Schrift »Vom weltlichen Schwert, wie das mit dem Euangelio übereinkäme« an.213 Diese Schrift erwies sich als umso notwendiger, als Herzog Georg von Sachsen mitten in den Planungen zur Obrigkeitsschrift am 7. November 1522 ein Mandat erließ, das das weltliche Schwert gegen das reformatorische Evangelium richtete, indem er den Kauf und Verkauf von Luthers Septembertestament verbot und die Auslieferung von Privatexemplaren gegen Erstattung des Kaufpreises bis Weihnachten 1522 forderte.214 Hier interessiert an der Obrigkeitsschrift vorerst nur, was Luther in Anknüpfung an seinen Brief an Melanchthon und die beiden Weimarer Predigten am Beispiel des christlichen Fürsten über das spannungsreiche Verhältnis von christlichem Glauben und innerweltlicher Verantwortung sagt.215 Die Ausführungen zu den Aufgaben der weltlichen Obrigkeit und den Grenzen des Gehorsams ihr gegenüber werden weiter unten216 behandelt. Die Obrigkeitsschrift handelt »von der weltlichen uberkeyt und yhrem schwerd, wie man des selben Christlich brauchen unnd wie weytt man yhm gehorsam schuldig sey«.217 Beide Fragen sind von grundsätzlicher daß sich Herzog Georg schon am 21. März 1523 bei Kurfürst Friedrich über sie beschweren konnte (Akten und Briefe zur Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen, ed. Gess, Bd. 1, 1905, 486,17–19 [Nr. 485]). 211 WA 11,229–244.245–281. 212 WAB 2,613,10 (Nr. 546). 213 WAB 2,600,24–601,26 (Nr. 538; 21.9.1522). Zu Schwarzenbergs Person und zu den mutmaßlichen Aussagen über das Verhältnis von weltlichem Schwert und Evangelium in seinem Manuskript: V. Mantey: Zwei Schwerter – Zwei Reiche, 2005, 236–245. 214 Akten und Briefe zur Kirchenpolitik Herzog Georgs von Sachsen, ed. Gess, Bd. 1, 1905, 386 f. (Nr. 400). 215 Als Quellengrundlage dienen die Widmungsvorrede (WA 11,245,1–246,16) und der erste Hauptteil (WA 11,247,21–261,24) der Obrigkeitsschrift. 216 8.2. 217 WA 11,245,8–10.

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7. Grundideen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

Bedeutung. Es geht in ihnen darum, wie ein Christ seine innerweltliche Verantwortung wahrnimmt und wie er sich im Fall des Konflikts zwischen Glaube und Welt zu verhalten hat.218 Daß Luther diese Fragen am Beispiel des christlichen Fürsten behandelt, erklärt sich aus der besonderen Entstehungssituation der Schrift. Sie ergeben sich aber bereits aus der Bibel und werden – wie wir gesehen haben – von Luther auch nicht zum erstenmal gestellt. Luther beginnt seine Argumentation an dem Punkt, an dem die zweite Weimarer Predigt vom 25. Oktober 1522 geendet hatte: mit der fünften Bergpredigtantithese – hier noch ergänzt um Röm. 12,19 –, die es einem Christen in obrigkeitlicher Funktion nicht zu erlauben scheint, das Schwert zu führen.219 Mit Verweis auf solche Bibelstellen wurde schon Augustin vorgeworfen, daß »die Christliche lere« »den bößen o urlaub gebe, bößes zu thun, und gar nicht bestehen kunde mit dem wellt220 lichen schwerd«. Die in der Zeit nach Augustin entwickelte Lösung für dieses Problem lehnt Luther ab. Damit sich Christsein und obrigkeitliche Funktion nicht gegenseitig ausschließen – »auff das sie ja die fursten nicht o zu heyden mechten«221 –, unterschied die scholastische Theologie die für alle Christen verbindlichen Gebote von den nur für die Vollkommenen verbindlichen Räten der Bergpredigt. Sie löste so die Spannung von Glaube und Weltverantwortung in eine Zwei-Stufen-Ethik auf, die die Fürsten vom Gehorsam gegen die Bergpredigt dispensierte und sogar geistlichen Würdenträgern weltliche Herrschaft ermöglichte.222 Für Luther ist das aber nur eine Scheinlösung, weil sie Christi Bergpredigtgebot aufhebt. Die Lösung des Problems muß erreichen, »das sie [die fursten und welltliche uberkeyt] Christen und Christus eyn herr bleyben sollen und dennoch o Christus gepott umb yhren willen nicht zu redten machen dürffe«.223 Die Luther gestellte Aufgabe ist also aufzuzeigen, daß Christen gerade als solche innerweltliche Verantwortung übernehmen können und zugleich den Anforderungen der Bergpredigt gerecht werden. Gelingt das, so ist erwiesen, daß Christus für jeden Christen in all seinen Lebensbereichen und 218 Das Problem des Gehorsams gegenüber der weltlichen Obrigkeit meint im Zusammenhang der Obrigkeitsschrift nicht das allgemeine Verhältnis zwischen »Staat« und »Individuum«, sondern den nur den Christen betreffenden Konflikt mit der weltlichen Obrigkeit wegen Glaubensfragen, der nicht nur für den christlichen Untertanen, sondern auch für den christlichen Fürsten gilt, insofern er seinerseits einer Obrigkeit untertan ist. 219 WA 11,245,10–13. 220 WA 11,245,14–16. Die Kritik Volusians wird in einem Brief des Marcellinus an Augustin referiert (ep. 136,2: CSEL 44,95,6–15). Darauf hatte auch schon die Predigt vom 25. Oktober verwiesen (WA 10III,385,11 f.*). 221 WA 11,245,18 f. 222 WA 11,245,17–246,5. 223 WA 11,246,6–8.

7.2. Das Problem der weltlichen Obrigkeit

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Lebensvollzügen Herr ist – daß also das Christsein in der Welt und die Christusherrschaft in keinem Widerspruch zueinander stehen. Die Lösung dieser Aufgabe findet sich im ersten Hauptteil der Obrigkeitsschrift, dessen Argumentation sich in drei zweigliedrigen Schritten vollzieht. Luther beginnt mit einem Axiom, nämlich der biblischen Begründung des Schwerts (1a: WA 11,247,21–248,31), das er mit der ebenso axiomatischen Verpflichtung der Christen zur Gewaltlosigkeit (1b: 248,32–249,23) kontrastiert, wodurch er den Leser vor eine eindrückliche Aporie stellt. Die Auflösung dieser Aporie geschieht im zweiten Argumentationsschritt durch die durch Zuordnung der Menschen zu zwei Regimenten und Reichen, die je für sich dargestellt werden: Gottesreich (2a: 249,26–250,34) und Weltreich (2b: 251,1–253,16). Das ist aber noch nicht die entscheidende theologische Grundaussage der Obrigkeitsschrift, die Luther im dritten Argumentationsschritt präsentiert, indem er das zweifache Verhältnis des Christen zum weltlichen Schwert beschreibt: nämlich die passive Teilhabe am Schwert durch Unterordnung unter die weltliche Obrigkeit im Interesse des Nächsten und der Unterstützung der innerweltlichen Ordnung (3a: 253,17–254,26) sowie die aktive Teilhabe des Christen am Schwert in obrigkeitlicher Funktion im Interesse des Nächsten (3b: 254,27–257,28).

Luther beginnt seinen Argumentationsgang mit der Einschärfung der göttlichen Einsetzung des weltlichen Rechts und Schwerts, das »von anfang der welt«, nämlich von Adam, Kain und Abel an gewesen ist, das Gott »mit außdruckten wortten nach der sindflutt widderumb eyngesetzt und bestettigt« hat, das das Mosegesetz bestätigt hat, das Christus in Getsemane bestätigt hat, das Johannes der Täufer als »gottliche[n] stand« gerade auch für die vollkommenen Christen bestätigt hat und das der Römerund der 1.Petrusbrief mit aller Klarheit bestätigt haben.224 Wie im Brief an Melanchthon vom 13. Juli 1521 dient dieser nachdrückliche Aufweis der biblischen Begründung des jus gladii nicht der Legitimation der weltlichen Obrigkeit als solcher, sondern dem Nachweis, daß gerade die Christen in einem positiven Verhältnis zur innerweltlichen Ordnung stehen – und daß sie nicht in neutraler oder gar ablehnender Distanz der Welt gegenüberstehen dürfen. Doch scheint diese Begründung des weltlichen Rechts und Schwerts unvereinbar mit den gleichermaßen biblischen Forderungen der Gewaltlosigkeit, der Feindesliebe und des Verzichts auf Rache zu sein,225 die in der Bibel zum Teil in nächster Nähe der zuvor angeführten, das Schwert begründenden Stellen stehen und es dem Christen verbieten, weltliches Recht und Schwert in Anspruch zu nehmen oder an ihnen gar selbst aktiv teilzuhaben. Am deutlichsten zeigt sich für Luther diese scheinbare innere 224 225

Röm. 13,1 f.; 1. Petr. 2,13 f.; Gen. 9,6; Ex. 21,14.23–25; Mt. 26,52; Lk. 3,14. Mt. 5,38.44; Röm. 12,19; 1.Petr. 3,9.

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7. Grundideen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

Widersprüchlichkeit der Bibel bei der Talionsformel: Die aufgrund von Mt. 5,38 zitierte, durch die Antithese von Jesus aufgehobene Talionsformel steht gegen die aufgrund von Ex. 21,23–25 zitierte, als Teil des Mosegesetzes gültige und von Jesus bestätigte Talionsformel.226 Weil Luther die mittelalterliche Lösung, beide Forderungen als an unterschiedliche Adressaten gerichtet zu verstehen und die Gebote des Gewalt- und Racheverzichts und der Feindesliebe als über das für die weniger vollkommenen Christen geltende Mosegesetz hinausgehende Räte für die vollkommenen Christen zu interpretieren, ablehnt, hat er die Aporie aufzulösen. Nur so kann »Christus wortt yederman gemeyn bleyben, er sey volkomen oder unvolkomen. Denn volkomenheyt unnd unvolkomenheyt steht nicht ynn wercken, macht auch keynen sondern eusserlichen standt unter den Christen, sondern steht ym hertzen, ym glauben und liebe, das wer mer glewbt und liebt, der ist volkomen, er sey e eußerlich eyn man odder weyb, furst odder baur, munch odder leye«.227

Luthers Ansatzpunkt für die theologische Lösung der Aporie im zweiten Argumentationsschritt ist die Unterscheidung der Innen- und Außendimension christlicher Existenz. Kein äußeres Handeln und kein äußerer Stand macht das Christsein aus, sondern allein die innere Ausrichtung alles Seins und Handelns durch Glaube und Liebe. Wie Luther bereits in der Freiheitsschrift gezeigt hat, ist die Außendimension des christlichen Lee bens – »man odder weyb, furst odder baur, munch odder leye«228 – der lebensweltliche Ort der Konkretion dieser inneren Ausrichtung und als solcher neutral zu bewerten, wenn er auch unter den Bedingungen des Sündenfalls stets durch die widergöttliche Verkehrung gefährdet ist. Doch für das Argumentationsziel Luthers reicht die zwei Jahre zuvor entwikkelte Unterscheidung des inneren, geistlichen, neuen und des äußeren, leiblichen, alten Menschen nicht mehr aus, weil sich mit ihr die Möglichkeit und Notwendigkeit innerweltlicher Verantwortungsübernahme, und zwar gerade hinsichtlich der scheinbar besonders unchristlichen obrigkeitlichen Funktionen, nicht angemessen zum Ausdruck bringen läßt. Die Freiheitsschrift und der Sermon Von den guten Werken mochten zwar die Grundgedanken der rechtfertigungstheologisch begründeten Bekehrung zur Welt enthalten, diese aber in der sich beschleunigenden Dynamik der reformatorischen Bewegung überzeugend und praktikabel zu vermitteln, reichten sie nicht aus.

226

WA 11,248,18–25; 248,32–249,2. WA 11,249,17–22. 228 WA 11,249,21 f. 227

7.2. Das Problem der weltlichen Obrigkeit

407

Luthers argumentative Auflösung der Aporie muß also über die Unterscheidung von Innen- und Außendimension und den Hinweis auf den Berufsgehorsam in den gegebenen Ständen hinausgehen und die sachliche Wahrheit dieser beiden grundlegenden ethischen Einsichten durch eine weitere, in den Weimarer Predigten erstmals entwickelte Unterscheidung sichern und explizieren. Dieser neue argumentative Schritt besteht in der Zuordnung der Menschen zu zwei Reichen, dem Gottes und dem der Welt: e

»Hie mussen wyr Adams kinder und alle menschen teylen ynn zwey teyll: die ersten zum reych Gottis, die andern zum reych der welt. Die zum reych Gottis e gehoren, das sind alle recht glewbigen ynn Christo unnd unter Christo«. »Zum e reych der wellt oder unter das gesetz gehoren alle, die nicht Christen sind«.229

Diese Unterscheidung ist weder die von Gottes- und Teufelsreich, noch die von geistlichem und weltlichem Christusreich innerhalb des Gottesreichs, wie Luther sie in den Weimarer Predigten entwickelt. Vielmehr handelt es sich eine zwischen beiden vermittelnde Unterscheidung, die zum einen den eschatologischen Gegensatz von Gottesreich und Welt im augustinischen Sinne aussagt, diesen aber nicht durch die Kontrastierung von Gottes- und Teufelsreich in einer Weise zuspitzt, daß dadurch die positive Bezugnahme des Christen auf das Weltreich unmöglich gemacht wird.230 Die Welt darf nicht einfach, so sehr sie auch von der Sünde gezeichnet ist, als widergöttlicher Bereich gelten, weil dann das christliche Leben in seiner Außendimension nur um den Preis des contemptus mundi und der Zwei-Stufen-Ethik geführt werden kann. Daß Luther die beiden Unterscheidungen der Weimarer Predigten von Gottes- und Teufelsreich einerseits und geistlichem und weltlichem Christusreich innerhalb des Gottesreichs zu der Unterscheidung von Gottes- und Weltreich vereinfacht, hat aber die problematische Folge, daß das Weltreich mit derselben Ambivalenz wie der äußere Mensch der Freiheitsschrift belastet ist. Gottesund Weltreich sowie die ihnen zugeordneten Regimente können, je nach Sachzusammenhang, als einander ausschließende wie als zusammengehörige Größen verstanden werden. Diese Abmilderung der eschatologischen Entgegensetzung von Gottes- und Weltreich geht aber nicht so weit, daß 229 230

WA 11,249,24–27; 251,1 f.

Es ist bezeichnend, daß Luther von nun an im Zusammenhang der politischen Ethik das Weltreich nicht mehr als Teufelsreich abwertet – die Obrigkeitsschrift etwa verzichtet bewußt darauf, das weltliche Regiment und Reich in die Nähe des Teufelsreichs zu rücken –, so sehr er in anderen Zusammenhängen, etwa wenn es um Anthropologie, Ekklesiologie, Eschatologie oder Geschichtstheologie geht, wie selbstverständlich in den Kategorien des augustinischen Dualismus denkt und vom Teufelsreich spricht. Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund der Unterscheidung zweier Regimente und Reiche und zur Sekundärliteratur siehe 8.2., Anm. 441.

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7. Grundideen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

Luther das Gottesreich als den ersten und eigentlichen Existenzbereich des Christen aus dem Blick verliert. Der Christ ist primär dem Gottesreich und seinem Herrn Christus verpflichtet und steht damit immer im Gegenüber zur Welt. Dieser Gedanke der eschatologischen Spannung ist grundlegend für Luthers Unterscheidung der beiden Reiche, der beiden Regimente und der beiden Beziehungsdimensionen des Christen als Person und Amtsträger, d.h. es handelt sich jeweils um asymmetrische Zweiheiten, nicht um ein gleichberechtigtes, schiedlich-friedliches Nebeneinander. Der Christ ist zuerst und vor allem Christ im Gottesreich und unter dem Gottesregiment, und seine Zuwendung zur Welt vollzieht sich nie ohne diese primären Zugehörigkeit zum Gottesreich, die ja allererst die Übernahme innerweltlicher Verantwortung motiviert und anleitet. Eine Verselbständigung oder gar absolute Eigengesetzlichkeit der innerweltlichen Existenz ist undenkbar, wenn man sich dieses Ausgangspunkts bei der Unterscheidung zweier Reiche bewußt ist. Zuerst behandelt Luther die Menschen im Gottesreich, d.h. die an Christus Glaubenden. In diesem Reich ist Christus Herr. Luther greift hier auf die aus der Freiheitsschrift bekannten zentralen Charakterisierungen christlicher Existenz zurück: Der Glaubende ist frei von der äußeren Zwangsordnung des Gesetzes (1.Tim. 1,9),231 und er tut mit selbstverständlicher Notwendigkeit Gutes (Mt. 7,16–18). Die Menschen im Gottesreich brauchen kein Schwert, weil sie den Heiligen Geist im Herzen haben, der sie zu einem rechten Leben anleitet, ja dieses Leben wirkt, das weit über die Gesetzesforderungen hinausgeht: »Also sind alle Christen durch den geyst und glawben aller ding genaturt, das sie wol und recht thun mehr denn man sie mit allen gesetzen leren kan, und dürffen fur sich selbs keyns gesetzs noch rechts«.232

Gekennzeichnet ist dieses christliche Leben im Gottesreich aber nicht nur durch die Gesetzesfreiheit und die Nächstenliebe, sondern auch durch den Gewaltverzicht und das sich daraus ergebende »von yderman gerne und e frolich unrecht leyden, auch den todt«.233 Gerade weil unter den Christen »eyttel unrecht leyden und eyttel recht thun ist«, ist unter ihnen »keyn zanck, hadder, gericht, richter, straff, recht noch schwerdt«, d.h. keine äußere Zwangsordnung notwendig.234 Diese Zwangsordnung gilt im Welt231

Das gilt jedenfalls hinsichtlich der einen Funktion des Gesetzes, die Bösen im Zaum zu halten, während es in seiner sündenaufdeckenden Funktion auch den Christen angeht (WA 11,250,21–31). 232 WA 11,250,18–20 (s.a. auch WA 11,252,28: »Sondernn sind ym hertzen alßo durch den geyst genaturt«). 233 WA 11,250,3 f. 234 WA 11,250,4–6.

7.2. Das Problem der weltlichen Obrigkeit

409

reich. Denn die übergroße Mehrheit der Menschen – und das gilt auch für das äußerlich vollständig christianisierte spätmittelalterliche Europa – glaubt nicht an Christus oder tut zumindest nicht mit Selbstverständlichkeit das Gute und leidet alles Böse. Deshalb hat Gott für sie ein »ander regiment« bestimmt, »wilchs den unchristen und bößen weret, daß sie eußerlich müssen frid hallten und still seyn on yhren danck [ob sie wollen oder nicht]«.235 Die Christen stehen dem Weltreich und dem ihm zugeordneten weltlichen Regiment Gottes, obwohl sie diese äußere Zwangsordnung »umb yhr selbs willen« nicht benötigen, nicht beziehungslos gegenüber, sondern sie finden sich im Weltreich vor und profitieren vom Schutz durch das weltliche Regiment, das die heilschaffende Evangeliumsverkündigung äußerlich ermöglicht. Gerade weil sich die beiden Regimente – »Eyns das frum macht, Das ander das eusserlich frid schaffe und e bosen wercken weret« – nebeneinander finden, müssen sie streng unterschieden werden und je für sich bestehen bleiben. Denn »Keyns ist on das o ander gnug ynn der wellt«.236 Der dritte Argumentationsschritt geht noch weiter: Zwar gehören die Christen primär und vor allem zum Gottesreich und zum geistlichen Regiment, indem sie sich aber in der Welt vorfinden und auf das Weltreich und sein Regiment bezogen sind, müssen sie diese Gegebenheit in verantwortlicher Weise gestalten. Für das Verhältnis der Christen zum weltlichen Schwert heißt das, daß sie im Interesse des Nächsten dem weltlichen Regiment untertan sind. Wenn sie auch für sich selbst und in der Gemeinschaft mit anderen Christen (»die Christen unternander und bey sich und fur sich selbs«) kein weltliches Schwert und Recht brauchen, so gilt für sie doch auch Röm. 13,1 und 1.Petr. 2,13. Und zwar nicht nur als Forderung des Obrigkeitsgehorsams, sondern auch des Diensts am Mitmenschen, o durch den sich ein Christ »zu ydermans knecht macht«, womit er »der welt großen nutz« bringt: »weyl eyn rechter Christen auff erden nicht yhm selbs sondern seynem nehisten lebt unnd dienet, ßo thutt er von art seyns geystes auch das, des er nichts bedarff, sondern das seynem nehisten nutz und nott ist. Nu aber das schwerd eyn groß e nodlicher nutz ist aller wellt, das frid erhallten, sund gestrafft und den bosen geweret werde, ßo gibt er sich auffs willigst unter des schwerds regiment, gibt schos [zahlt Steuern], ehret die uberkeyt, dienet, hilfft und thut alles, was er kan, das der gewalt fodderlich ist, auff das sie ym schwang und bey ehren und furcht erhalten werde«.237

235

WA 11,251,17 f. WA 11,252,13 f. 237 WA 11,253,23–30; 254,3.8 f. 236

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7. Grundideen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

Durch diese Unterordnung stellen sie sich nicht nur in den Dienst des Nächsten, sondern stützen auch das Schwert selbst, so daß gilt: Nicht die Christen brauchen das Schwert, sondern das Schwert braucht sie. Aber die innerweltliche Verantwortungsübernahme geht für Luther noch viel weiter: Die Christen haben nicht nur passiv, sondern auch aktiv am Schwert teil, nämlich wenn sie im Interesse des Nächsten das Schwert selbst führen und obrigkeitliche Funktionen wahrnehmen. Luther behauptet das im vollen Bewußtsein des Bergpredigtgebots der Gewaltlosigkeit: »›du sollt dem ubel nicht widerstehen‹«.238 Daß hier kein Widerspruch vorliegt, daß sich christlicher Glaube und Weltverantwortung nicht gegenseitig ausschließen, entfaltet er in drei Argumentationsschritten.239 Zuerst formuliert er die These, daß die Christen – so wenig sie das Schwert, d.h. eine äußerliche Zwangsordnung für ihre Beziehungen untereinander benötigen – gegenüber den Nichtchristen selbst Funktionsträger der weltlichen Ordnung werden dürfen und müssen.240 Das Schwert »selbs Christlich [zu] brauchen«, ihm zu dienen und es zu fördern, ist der Christ seinem Mitmenschen schuldig, und zwar mit dem Einsatz seiner ganzen Exio stenz (»wo mit du kanst, es sey mit leib, gut, ehre und seele«). Luther zählt beispielhaft auf, in welcher obrigkeitlichen Funktion der Christ dieser e Verantwortung nachkommt, nämlich als »henger, bottell, richter, herr[] oder furst[]«. Indem Luther hier den Scharfrichter an erster Stelle nennt241 – im Mittelalter ein unehrlicher Beruf, der von den Zeitgenossen mit Abscheu und Faszination betrachtet wurde242 – zeigt er, daß gerade auch die Übernahme dieser Funktion mit all ihren Tätigkeiten von der Folter bis zur Hinrichtung in der Konsequenz innerweltlicher Übernahme von Verantwortung durch Christen liegt. Denn es ist gleich, in welcher Funktion e der Christ hilft, die der Welt »nottige gewallt« zu unterstützen. Diese Einschärfung der Forderung zur aktiven Teilhabe am Schwert löst aber das Problem nicht, in welchem Verhältnis die Bergpredigtforderung und die innerweltliche Verantwortungsübernahme, das Gottesreich und das Weltreich zueinander stehen. Um seine Forderung zu erläutern, unterscheidet Luther zwei Dimensionen des christlichen Lebens:243 Für sich selbst und 238 239

WA 11,254,29.

Der Gedankengang gliedert sich in die These mit der abschließenden zuspitzenden Exemplifizierung (WA 11,254,34–255,4), die durch eine Sachargumentation mit Hilfe der Unterscheidung zugleich geltender Dimensionen des Christseins für mich und für andere (255,5–21) und durch eine ausführliche biblische Begründung (255,22–257,28) gestützt wird. 240 WA 11,254,34–255,4. 241 Der Henker wird auch exemplarisch genannt in WA 10III,375,22 f.* und WA 11,258,21; 260,30. 242 LMA 7,1440 f. (W. Schild). 243 WA 11,255,5–21.

7.2. Das Problem der weltlichen Obrigkeit

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wenn es um seine eigene Sache geht, folgt der Christ dem Evangelium und der Bergpredigt. Für seinen Nächsten übernimmt er Verantwortung »ynn frembdem dienst und wercken« entsprechend der innerweltlichen Eigengesetzlichkeit. Es kommt zu einer gleichzeitigen Existenz im Gottesreich und im Weltreich, die jeweils ganz unterschiedlich, geradezu gegensätzlich, gelebt wird, aber doch kein Selbstwiderspruch ist: o

»Also gehets denn beydes feyn mit eynander, das du zu gleych Gottis reych und o o der wellt reich gnug thuest, eußerlich und ynnerlich, zu gleych ubel und unrecht o leydest und doch ubel und unrecht straffest, zu gleych dem ubel nicht widderstehist unnd doch widderstehist. Denn mit dem eynen sihestu auff dich und auff das deyne, mit dem andern auff den nehisten und auff das seyne. An dyr und dem deynen helltistu dich nach dem Euangelio und leydest unrecht als eyn rechter Christ fur dich, An dem andern und an dem seynen helltistu dich nach der liebe unnd leydest keyn unrecht fur deynem nehisten; wilchs das Euangelion nicht verpeutt, ja viel mehr gepeutt am andern ortt«.244

Dieses dreimalige »Zugleich« ist für Luther kein dialektischer Notbehelf, um Bergpredigt und Schwert doch irgendwie auf einen Nenner zu bringen, sondern das, was das Gotteswort selbst sagt. Das Evangelium fordert beides und Altes und Neues Testament bestätigen es vielfach.245 Gerade die alttestamentlichen Beispiele sind dabei hilfreich, auch wenn der Christ darin frei ist, wie er selbst der in ihnen vor Augen gestellten Weltverantwortung nachkommt. Denn das Handeln der Christen ist nicht einfach äußerlich als christlich qualifizierbar – etwa durch die wörtliche Befolgung der Bergpredigt –, sondern in all seiner Unterschiedlichkeit durch die Liebe bestimmt: »Denn die liebe gehet durch alles und uber alles und sihet nur dahyn, was andern nutz und nott ist«.246

Unter den alt- und neutestamentlichen Beispielen und Belegtexten für die Doppelexistenz des Christen im Gottes- und Weltreich ist der stärkste Schriftbeweis Röm. 13, wo das Schwert als »Gottis eygentlich werck, ordnung unnd creatur« bestätigt wird. Das so eingesetzte Schwert ist für den Christen nichts anderes als Essen, Trinken und Heiraten. Und es ist verwegen, ja geradezu gotteslästerlich (»Lieber, sey du nicht ßo frevel«), wenn ein Christ mit Verweis auf die Bergpredigt ein solches, gerade den Christen zum Schwertamt verpflichtendes Verständnis von Röm. 13 ablehnt. Denn damit bejaht er die schon im Neuen Testament verurteilte dualistische Abwertung der Schöpfung bejaht und spielt so den Gott der Bergpredigt gegen den Gott der Schöpfung aus: 244

WA 11,255,12–21. WA 11,255,22–258,11. 246 WA 11,256,18–20. 245

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7. Grundideen des Lebens aus dem Glauben in der Welt o

o

»›Alle Creatur Gottis ist gutt unnd nichts zu verwerffen den glewbigen und die warheyt erkennen‹ [1. Tim. 4,4]. Unter ›allen‹ creaturn gottis mustu yhe nicht alleyn essen und trincken, kleyder und schuch, sondern auch gewallt und unterthenickeyt, schutz und straff seyn lassen«.247

Darum gilt auch vom Schwert, daß es als »Gottis werck und creatur [...] o o gutt und alßo gutt [ist], das seyn yderman Christlich und seliglich brauchen kan«.248 Und Luther geht noch einen Schritt weiter, indem er die Wendung »ϑεουÄ [...] δια κονος« aus Röm. 13,4 aufnimmt und von der vom Christen ausgeübten weltliche Gewalt sagt:249 »Was ists gesagt ›Sie ist gottis dinerynn‹, denn so viel: die gewalt ist von natur der art, das man got damit dienen kan? Nu were es gar unchristlich geredt, das yrgent e eyn gottis dienst were, den eyn Christen menschen nit thun solt oder muste, ßo o Gottis dienst niemant so eben eygent als den Christen. Und auch wol gutt und nott o were, das alle fursten rechte gutte Christen weren. Denn das schwerd und die e o gewallt als eyn sonderlicher gottis dienst gepurt den Christen zu eygen fur allen andern auff erden«.250

Freilich handelt es sich um einen Gottesdienst, dessen Übernahme dem Christen freisteht, »wo es nitt nott were«. Genauso ist er frei, sein Leben im anderen Bereich der weltlichen Ordnung, in der oeconomia, zu gestalten (»gleych als ehlich werden und ackerwerck treyben frey ist, wo es nicht nott were«).251 Luther bekräftigt den dritten Argumentationsschritt des ersten Hauptteils der Obrigkeitsschrift dadurch, daß er mehrere Einwürfe abweist. Der Einwand, daß Christus selbst das Schwert nicht geführt habe und also die Christen es nicht führen dürften, verfängt nicht, weil man die einem Christen möglichen weltlichen Stände, Ämter und Berufe nicht mit dem Hinweis auf das eine von Christus als dem Herrscher seines Reichs wahrgenommene Predigtamt als unchristlich kennzeichnen kann. Sondern der Christ findet sich auch im Weltreich vor, muß hier »seyns beruffens und wercks wartten« und Gott in dem ihm bestimmten äußerlichen Amt diee nen.252 Und das gilt eben auch für Christen in der Funktion von »bottel, hencker, Juristen, fursprechen [Rechtsvertreter] unnd was des gesinds [derart253] ist«, die eben darin »eyn seligen stand haben«, weil sie das Schwert im Dienste Gottes und motiviert durch die Nächstenliebe füh247

11,257,25–28. 11,257,23 f. 11,257,29–258,3. 11,257,31–258,3. 11,257,9–11. 11,258,12–259,6. 253 Gerade diese Formulierung »was des gesinds ist« mit ihrem verächtlichen Nebensinn (DWb 4I/2,4112 f.; vgl. »Gesindel«) zeigt, daß Luther sich der Provokation bewußt ist, die der erste Hauptteil seiner Obrigkeitsschrift für die Zeitgenossen darstellt. WA WA 249 WA 250 WA 251 WA 252 WA 248

7.2. Das Problem der weltlichen Obrigkeit

413

ren.254 Daß das Zugleich zweier unterschiedlicher Relationen in dem einen Christenmenschen spannungsreich ist und daß das für sich selbst und für andere nicht einfach zusammenfällt, gesteht Luther aber auch ein. Im konkreten Vollzug des Lebens in beiden Dimensionen steht der Christ als obrigkeitlicher Amtsträger beispielsweise in der Gefahr, seinen Dienst für Gott egoistisch zu mißbrauchen.255 Allerdings kann dank seines Bestimmtseins durch Geist und Gnade der Fall eintreten, daß Amtsinteresse und Eigeninteresse dasselbe sind und daß er seine amtliche Funktion dann nicht mißbraucht. Am Ende des ersten Hauptteils der Obrigkeitsschrift faßt Luther dann die Ergebnisse hinsichtlich des in der Widmungsvorrede aufgeworfenen und dann im Folgenden immer wieder aufgegriffene Problems des Verständnisses der fünften Bergpredigt-Antithese zusammen.256 Das Zugleich des christlichen Lebens in den beiden Reichen mit seinen gegensätzlichen Konkretionen in den beiden Beziehungsdimensionen »fur sich selbs« und »fur andere« findet sich bereits im Nebeneinander von These (Mt. 5,38) und Antithese (Mt. 5,39). Die Talionsformel wird von Christus nämlich nicht außer Kraft gesetzt, sondern sie gilt weiterhin für alle Menschen – auch für die Christen, insofern sie passiv und aktiv Verantwortung im Weltreich übernehmen. Und sie begründet die weltliche Gewalt als Disziplinierungsmittel der Bösen und als Sicherung der Ordnung im Weltreich. Für die Angehörigen des Gottesreichs jedoch gilt hinsichtlich ihres Verhaltens innerhalb dieses Reichs, d.h. für sich selbst und untereinander, und insofern sie sich nicht als Verantwortungsträger des Weltreichs, sondern im Konflikt mit ihm vorfinden, nicht mehr die Talionsformel – das Schwert ist ihnen geradezu »verpotten«. Vielmehr sind sie zu Gewaltlosigkeit und Feindesliebe verpflichtet. Und das ist für Luther die tägliche Wirklichkeit christlichen Lebens, das sich nicht einfach in der christlich motivierten innerweltlichen Verantwortungsübernahme erschöpft. Die »lere Christi« in den Antithesen ist nicht bloß ein theoretischer Grenzfall, sondern ein jeden Tag zu lebendes »gemeyn strengs gepott fur alle Christen«. Auf eindrückliche Weise bringt Luther diese Priorität des Gottesreichs für das christliche Leben einige Jahre später in seinem Lied Ein feste Burg ist unser Gott auf den Punkt.257 Die Welt ist nicht nur Ort christlichen Lebens, sondern will die Christen auch »verschlingen«, weil sie »voll e Teuffel« ist und vom »Furst dieser Welt« beherrscht wird. Mag dieser 254

WA WA 256 WA 257 WA 255

11,260,30–261,8. 11,261,9–24. 11,259,7–260,29. 35,455–457.

414

7. Grundideen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

bereits gerichtet sein und seine Herrschaft über die Welt jeden Moment enden, so sind die Christen doch bedroht durch die Nichtchristen, denen gegenüber in letzter Konsequenz gilt: »Nemen sie den leib, / gut, ehr, kind und weib, / las fahren dahin, / sie habens kein gewin, / das reich mus uns doch bleiben«.258

Luthers Bekehrung zur Welt und die in ihrem Gefolge eingeschärfte Pflicht zur Übernahme innerweltlicher Verantwortung im durch die Liebe motivierten Dienst für Gott und den Nächsten erhält durch die Unterscheidung der beiden Regimente und Reiche ein sachlich notwendiges Gegengewicht. Die mittelalterliche Weltdistanzierung in Gestalt des Mönchtums ist zwar falsch, weil sie das durch die Liebe gebotene Eingehen des Christen in die innerweltlichen Strukturen geringschätzt. Das in ihm greifbare Bewußtsein aber, daß das christliche Leben nicht einfach im Weltlichen aufgeht, sondern als Leben des inneren Menschen im Glauben primär auf Gott bezogen ist und darum im äußeren Lebensvollzug der göttlichen Selbsterniedrigung zu entsprechen hat, führt Luther dazu, Innen- und Außendimension des christlichen Lebens mit Hilfe der Unterscheidung der beiden Reiche und Regimente auf neuartige Weise zusammenzudenken. So wird es ihm möglich, die eschatologische Radikalität christlichen Lebens und seine schöpfungstheologische Vorfindlichkeit in den Strukturen der Welt, und also das Ethos der Bergpredigtnachfolge einerseits und das Ethos des Dekalogs und der Haustafeln andererseits zusammenzuhalten. Ob und wie ihm das wirklich gelingt, muß die Entfaltung der ethischen Einzelthemen aufweisen. Der erste Hauptteil der Obrigkeitsschrift jedenfalls zeigt, daß er eben diese Verbindung im Auge hat und mit Hilfe der Weiterentwicklung der rechtfertigungstheologischen Unterscheidungen der Freiheitsschrift zur Unterscheidung zweier Reiche, Regimente und Existenzdimensionen die theologischen Grundlagen dafür schafft.

258

WA 35,457,8–12.

8. Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

415

8. Die Entfaltung der Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt 8.1. oeconomia Primärer Bezugsrahmen alles Lebens ist für Luther der persönliche Nahbereich des Hauses. Zwei Themen widmet er sich hier besonders: dem Zusammenleben innerhalb der Familie, vor allem dem Verhältnis der Eheleute zueinander und der Eltern zu den Kindern, und dem Umgang mit Besitz und Arbeit. Das Ehethema beschäftigte Luther nicht erst seit seiner grundlegenden Schrift Vom ehelichen Leben 1522. Schon in den Jahren zuvor hatte er wichtige Voraussetzungen geschaffen. Grundlegende Bedeutung kommt einer Predigt über die Hochzeit zu Kana (Joh. 2,1–11) zu, die Luther im Januar 1519 hielt und – nachdem eine unautorisierte, ihn inhaltlich nicht befriedigende Nachschrift im Druck erschienen war – im Mai 1519 zum Sermon von dem ehelichen Stand umarbeitete.259 Der Sermon teilt zwar die hergebrachte Bestimmung der Ehe als eines remedium gegen die Sünde – »der ehlich stand« ist gleichsam »eyn spitall der siechen [...], auff das sie nit yn schwerer sund fallen«260 –, sieht in ihr aber weit mehr als eine Notordnung für die zur wahren Vollkommenheit der Ehelosigkeit nicht tauglichen Christen. Denn die Ehe ist in Gottes Schöpfungshandeln begründet und verweist zeichenhaft auf das Heilsgeschehen. Damit ist sie eine durch die Sünde zwar beeinträchtigte und der verantwortungsvollen Gestaltung bedürftige, aber gleichwohl intakte und ohne Einschränkung der Qualifizierung als »edler, großer, seliger standt«261 würdige göttliche Ordnung. Luther entfaltet diese zutiefst positive Würdigung der Ehe als Schöpfungsordnung und als heilsgeschichtliches Zeichen dreifach: Die wechselseitige exklusive Bindung der Eheleute in dem ehelichen »vorbuntnuß [...] der trew«262 wird zusammengehalten durch die »eheliche liebe«, die den Ehepartner um seinetwillen und ohne egoistische Verzwecklichung liebt;263 die Ehe ist ein Zeichen der Einheit von Christus und Christenheit;264 die Ehe hat die Zeugung und die religiöse Erziehung von Kindern als ihr »end und furnhemlich ampt«.265 259

WA WA 261 WA 262 WA 263 WA 264 WA 265 WA 260

2,162–165.166–171 (vgl. WA 9,213.213–219). 2,168,2–4. 2,170,35. 2,168,38. 2,167,22–34. 2,168,13–29. 2,169,30–170,34.

416

8. Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

In den reformatorischen Hauptschriften des Folgejahres wird das Ehethema in der Adelsschrift nur kurz behandelt.266 Etwas ausführlicher wird es in De captivitate Babylonica ecclesiae berücksichtigt.267 Die Bestreitung der Sakramentalität der Ehe beansprucht nur relativ wenig Raum:268 Luther erweist die sakramentale Qualifizierung der Ehe als ein Mißverständnis von Eph. 5,31f. und konstatiert das Fehlen der für ein Sakrament notwendigen göttlichen institutio und promissio sowie des Zeichens (signum).269 Ausführlicher kritisiert er das kirchliche Eherecht,270 insbesondere die 18 Ehehindernisse, wie sie die Summa angelica aufzählt, das Scheidungsrecht und die Dispenspraxis. Eingestreut in die Kritik an der Sakramentalisierung der Ehe und an der kirchlichen Überfremdung des Eherechts finden sich auch Aussagen über Luthers eigenes Eheverständnis. Wie schon im Jahr zuvor, geht er auch hier von der Einsetzung der Ehe mit der Schöpfung aus271, weshalb sie sich auch vor und außerhalb der Christenheit findet. Auch auf den heilsgeschichtlichen Zeichencharakter der Ehe weist er wieder hin, wenn er sie in der Auslegung von Eph. 5,31f. als »figura Christi et Ecclesiae«272 bezeichnet. Entscheidend ist aber nicht diese soteriologische Qualifikation der Ehe, sondern die schöpfungstheologische. Das zeigt sich darin, daß Luther das Eherecht für eine Sache der weltlichen Obrigkeit hält, die sich bei der Rechtssetzung und Rechtsprechung statt an geschriebenen Gesetzen mit Hilfe der Billigkeit (aequitas) und der Liebe (charitas) an der Natur (ductus naturae) zu orientieren hat. Allerdings kann das alttestamentliche Eherecht – beispielsweise die in Lev. 18 genannten verbotenen Verwandtschaftsgrade – Orientierung bieten.273 In der Auseinandersetzung mit den Mönchsgelübden im Sommer und Herbst 1521 ging es am Rande auch um die Ehe. Wichtig ist hier vor allem Luthers Stellungnahme zum monastischen Virginitätsideal.274 Er selbst hatte seit seinem Klostereintritt kaum je Probleme mit der Verpflichtung zur Ehelosigkeit und der Unterdrückung der eigenen Sexualität gehabt. Daß er seit 1521 die heiratenden Priester und Klosterpersonen darin be266 Luther kritisiert hier das von der Bibel abweichende kanonische Eherecht mit seiner Vermehrung der verbotenen Verwandtschaftsgrade und die damit verbundenen Dispenszahlungen (WA 6,446,27–31). 267 WA 6,550,21–560,18. 268 WA 6,550,22–553,20. 269 WA 6,550,25–32; 552,18. 270 WA 6,553,22–560,18. 271 »matrimonium fuerit ab initio mundi« (WA 6,550,34). 272 WA 6,553,9. 273 WA 6,554,25 f.30.32; 555,17–30. 274 Die folgende Zusammenfassung beruht auf den einschlägigen Abschnitten in De votis monasticis (WA 8,574,12–575,22; 583,30–584,22; 585,5–37; 611,7–612,22; 630,1– 640,12; 641,23–27; 649,31–666,14).

8.1. oeconomia

417

stärkte und die Eheschließung geradezu als theologische Notwendigkeit forderte, blieb vorerst ohne Rückwirkung auf sein eigenes Leben. Denn die von den Verfechtern des Mönchtums fälschlicherweise auf die Ehelosigkeit gedeuteten alt- und neutestamentlichen Belegstellen für die continentia, virginitas und castitas meinen entweder die eheliche Keuschheit oder die sexuelle Enthaltsamkeit von dazu göttlich erwählten einzelnen, zu denen Luther sich wohl selbst zählte. Luther konnte also die biblische Keuschheitsforderung als verantwortlichen Umgang mit der Sexualität im Rahmen der Ehe deuten. Zugleich konnte er aber auch an ihr als einem biblischen consilium zur Ehelosigkeit festhalten, das nun aber nicht mehr in Form des monastischen Keuschheitsgelübdes für alle Gelobenden verbindlich machen darf, was nur wenigen von Gott als Gabe gegeben ist und daher frei bleiben muß. Solches eheloses Leben ist nicht an sich wertvoll, sondern als Hilfe zur Predigt des Gottesreichs, weil der Ehelose weniger in die alltäglichen Verhältnisse verwickelt ist. Wenn die Ehelosigkeit so ohne soteriologische Verzwecklichung in der Christusbeziehung gelebt wird, ist sie für Luther nichts weniger als eine res maxima.275 An dieser Anerkennung von Ehe und Ehelosigkeit als gleichermaßen legitimer Formen der Keuschheit hielt Luther in der Folgezeit konsequent fest. Allerdings machte er seit 1522 immer deutlich, daß die Ehe als Schöpfungsordnung der Normalfall und daß die – nunmehr kaum noch besonders hervorgehobene, geschweige denn als res maxima gewürdigte – Ehelosigkeit demgegenüber die große Ausnahme ist. Der entscheidende und zugleich abschließende Schritt der Entwicklung von Luthers Eheauffassung war die Qualifizierung der Ehe als »weltlich ding«, die sich seit 1522 immer wieder fand.276 Das meint nicht bloß, daß die Ehe weder ein kirchliches Sakrament noch eine Sache des Kirchenrechts ist; sondern auch und vor allem, daß die Ehe eine Schöpfungsordnung ist, daß sie in ihrer rechtlichen Gestaltung Sache der weltlichen Obrigkeit ist und daß sie gerade als solche mit der Schöpfung gesetzte innerweltliche Ordnung Ort des christlichen Lebens aus dem Glauben ist.277

275 276

WA 8,611,32.

»eußerlich leyplich ding« (WA 10II,283,8); »welltlich geschefft« (WA 30III,74,3); »eusserlich weltlich ding« (WA 30III,205,12); »weltlich eusserlich ding« (WA 32,376,38*). 277 Die Bestimmung der Ehe als weltlich Ding meint also gerade keine – wie ein gängiges, kritisch oder affirmativ gewendetes Mißverständnis besagt – »Verweltlichung der Ehe« (K. Suppan: Die Ehelehre Martin Luthers. Theologische und rechtshistorische Aspekte des reformatorischen Eheverständnisses, 1971, 37, wo diese Formulierung allerdings trotz aller Sachkritik an der reformatorischen Eheauffassung vom römisch-katholischen Standpunkt aus und der dadurch bedingten Verzeichnung im Sinne Luthers gedeutet wird).

418

8. Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

Daß Luther 1522 zu dieser Formulierung und der in ihr implizierten Eheauffassung gelangte, hat unterschiedliche Gründe. Zum einen handelt es sich um die Ausführung seiner sich 1521/22 konsolidierenden Anschauungen über Beruf und Stand sowie die beiden Regimente und Reiche. Das Haus war die grundlegende Ordnungseinheit des Gemeinwesens und der primäre Lebenskreis des einzelnen. Christliches Leben als in der Nächstenliebe wirksamer Glaube hatte sich folglich zuerst und vor allem hier im rechten Umgang mit Ehe, Kindern, Besitz und Arbeit zu vollziehen. Zum anderen veranlassten Luther auch die Anfragen reformatorisch gesinnter Einzelpersonen sowie die Angriffe papsttreuer Kirchenleute und Theologen278 zur Darstellung seiner Auffassungen von Ehe und Familie. Schon während der Wartburgzeit begann ein stetiger Strom von Anfragen und Polemiken nach Wittenberg zu fließen, die es notwendig machten, die Grundlinien der reformatorischen Ethik und ihre einzelnen materialen Konkretionen immer neu darzustellen, zu verteidigen und auf Einzelfälle anzuwenden. So verdanken sich die zahlreichen Aussagen Luthers zur Ehe entweder Anstößen von außen oder dem Bemühen um die katechetische Aufbereitung des Stoffs und seine paränetisch-seelsorgerliche Anwendung.279 Die beste Einführung in Luthers Eheauffassung bietet die kleine 278

Die kritische Auseinandersetzung mit Luthers Stellungnahmen zu Priesterehe und Mönchsgelübden war in den 1520er Jahren eines der wichtigsten Themen der antireformatorischen Kontroverspublizistik (siehe die Schriften von Kaspar Schatzgeyer, Johannes Dietenberger, Jodocus Clichtoveus, Johannes Fabri u.a.). 279 An Schriften sind zusätzlich zu den oben genannten und in Teil 4.1. im Zusammenhang der Berufs- und Ständelehre behandelten wichtig: Welche Personen verboten sind zu ehelichen, 1522 (WA 10II,263–265.265 f.); Vom ehelichen Leben, 1522 (WA 10II,267–275.275–304); Das siebente Kapitel S. Pauli zu den Corinthern, 1523 (WA 12,88– 92.92–142); An die Herren deutschs Ordens, daß sie falsche Keuschheit meiden und zur rechten ehelichen Keuschheit greifen, Ermahnung, 1523 (WA 12,228–231.232–244); Daß Eltern die Kinder zur Ehe nicht zwingen noch hindern, und die Kinder ohne der Eltern Willen sich nicht verloben sollen, 1524 (WA 15,155–162.163–169); Christliche Schrift an W. Reißenbusch, sich in den ehelichen Stand zu begeben, 1525 (WA 18,270–274.275–278); Ein Traubüchlein für die einfältigen Pfarrherr, 1529 (WA 30III,43–73.74–80); Von Ehesachen, 1530 (WA 30III,198–204.205–248); Vorrede zu Johannes Brenz’ Wie in Ehesachen christlich zu handeln sei, 1531 (WA 30III,479–481.481–486). – Dazu kommen die Auslegungen der Schöpfungsgeschichte, der Erzelternerzählungen (deren zahlreiche Ehe- und Familiengeschichten von Luther gerne als Anschauungsmaterial herangezogen werden), des vierten und sechsten Dekaloggebots, des mosaischen Eherechts (Lev. 18), der zweiten Bergpredigtantithese und von Mt. 19,3–12 in Schriften, Katechismen, Predigten und Kommentaren, z.B. in den unterschiedlichen, das Ehethema aber nur zum Teil ausführlicher berücksichtigenden Auslegungen der fünf Bücher Mose in den 1520er Jahren, in den Katechismen und sie vorbereitenden Predigtreihen 1528/29, in den Predigten über Mt. 5–7 (hier v.a. WA 32,369–381*), in den Predigten über Mt. 18–24 (WA 47,312–326*) oder in der Genesisvorlesung von 1535 bis 1545 (v.a. zu Gen. 2,18–25 [WA 42,87–105*], zu Gen. 3,16 [WA 42,148–151*], zu Gen. 24 [WA 43,292–351*], zu Gen. 26,8 [WA 43,449–455*], zu Gen. 28,1–9 [WA 43,558–566*] und zu Gen. 29,9–12 [WA 43,622–624*]

8.1. oeconomia

419

Schrift Vom ehelichen Leben.280 Als Luther sich nach der Rückkehr von der Wartburg und angesichts der auf Veranlassung des Reichsregiments beginnenden Visitationen der Bischöfe von Meißen und Merseburg vor die Aufgabe gestellt sah, den Fortgang der kirchlichen Reform mitzugestalten, sowie zu anderen Kapiteln und Versen). – Auch Luthers Briefwechsel bietet reiches Material (s. die entsprechenden Stichworte in WAB 17), etwa die Briefe zur Ehesache Hornung (WAB 4, Nr. 1179.1205.1206.1304.1309.1332; WAB 5, Nr. 1523–1526), die Briefe zur Frage der Zulässigkeit der Polygamie 1526/27 (WAB 4, Nr. 1056.1057.1089) oder die Briefe zur Scheidung von Heinrich VIII. (WAB 6, Nr. 1861; hierzu: D. Wendebourg: Die deutschen Reformatoren und England, in: Dies. [Hg.]: Sister Reformations, 2010, 53–93, hier: 75–79; A. Null: Princely Marital Problems and the Reformers’ Solutions, aaO 133–149). – Zahlreich sind auch die Äußerungen in den Tischreden (erschlossen in WATR 6,551–554). – Und schließlich gibt es eine Fülle von Predigten, die sich ganz oder teilweise dem Ehethema widmen; regelmäßig etwa die Predigten über Joh. 2,1–11 (Hochzeit in Kana) als dem Evangelium am 1. bzw. 2. Sonntag nach Epiphanias (Einzelnachweis in WA 22,LXVII; Auszüge in D Martin Luthers EvangelienAuslegung, ed. Mülhaupt, Teil 4, 21961, 96–107; wegen der zeitlichen Nähe zu Vom ehelichen Leben interessant ist die Predigt aus dem Januar 1524: WA 15,417–421*) oder Luthers Hochzeitspredigten über Eph. 5,22–33 oder Hebr. 13,4 (WA 34I,50–75*; WA 41,547–563*; WA 49,797–805*). Eine quellenkritisch nicht unproblematische, aber materialreiche und anschauliche Darstellung des Verhältnisses von Luthers Predigt und den örtlichen Verhältnissen bietet H. Werdermann: Luthers Wittenberger Gemeinde wiederhergestellt aus seinen Predigten, 1929, Teil 1 (Werdermann hat dafür die beiden Bände mit den von Georg Buchwald bearbeiteten Predigten D. Martin Luthers auf Grund von Nachschriften Georg Rörers und Anton Lauterbachs, Gütersloh 1925/26, benutzt, die durch einen thematischen Index erschlossen sind). – Die Literatur zu den geschichtlichen Hintergründen und zu Luthers theologischem und rechtlichem Verständnis der Ehe ist überaus umfangreich. Die ältere Literatur gewichtet vielfach die rechtlichen und kulturgeschichtlichen Aspekte stärker als die theologischen und ist nicht selten durch die konfessionelle Perspektive voreingenommen. Die Auseinandersetzung um Denifle und Grisar zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat allerdings zu einer Versachlichung geführt, die sich bereits in der wegen ihrer Materialfülle immer noch hilfreichen Monographie eines römisch-katholischen Autors niederschlägt: S. Baranowski: Luthers Lehre von der Ehe, 1913. Aus der Literatur seither sind wichtig: R. Seeberg: Luthers Anschauungen von dem Geschlechtsleben und der Ehe und ihre geschichtliche Stellung (LuJ 7, 1925, 77–122); O. Lähteenmäki: Sexus und Ehe bei Luther, 1955 (diese inhaltsreiche und vor allem für Luthers theologisches Eheverständnis unverzichtbare Studie leidet an den nicht immer glücklich gewählten Überschriften und dem unübersichtlichen und unvollständigen Sachverzeichnis); G. Kretschmar: Luthers Konzeption von der Ehe. Die Liebe im Spannungsfeld von Eros und Agape (in: P. Manns [Hg.]: Martin Luther. ›Reformator und Vater im Glauben‹, 1985, 178–207; wichtig ist dieser Aufsatz nicht nur durch seinen Aufweis der Bedeutung des Liebesthemas, sondern auch durch seine liturgiegeschichtliche Analyse des Traubüchleins [aaO 193–200]); A. Peters: Kommentar zu Luthers Katechismen, Bd. 1, 1990, 227–254. – Zum Ehediskurs des 16. Jahrhundert und zu dessen kontrovers beurteilter sozial- und mentalitätsgeschichtlicher Bedeutung: J. Harrington: Reordering Marriage and Society in Reformation Germany, 1995; B. Moeller: Wenzel Lincks Hochzeit. Über Sexualität, Keuschheit und Ehe im Umbruch der Reformation (in: Ders.: Luther-Rezeption, 2001, 194–218). 280 Das Material aus den anderen genannten Quellen wird in den dieser Schrift entnommenen Problemaufriß integriert. Das ist möglich, weil sich Luthers Eheverständnis seit 1522 inhaltlich nicht mehr grundlegend verändert.

420

8. Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

tat er das auch durch Predigten, die er in Wittenberg und auf Predigtreisen innerhalb Kursachsens hielt.281 In diesen Predigten des Frühjahrs und Sommers 1522 berührte Luther auch einigemale das Thema Ehe. Angesichts des Bedürfnisses nach seelsorgerlicher Gewissensunterweisung arbeitete er seine Gedanken in einer eigenen Schrift – Vom ehelichen Leben – aus, die wahrscheinlich im Sommer 1522 abgefaßt und im Frühherbst gedruckt wurde. Die Schrift zeigt, daß Luther nicht aus eigenem Antrieb schreibt: Eigentlich will er sich nicht mit dem Ehethema beschäftigen, da das eheliche Leben durch das kirchliche Recht und die nachlässige Rechtsprechung und Rechtsanwendung durch kirchliche und weltliche Obrigkeiten zu schwierig geworden ist. Aber die Not der verwirrten Gewissen zwingt ihn dazu, das Thema zum Zweck der Gewissensunterweisung aufzugreifen. Diese Zweckbestimmung ist wesentlich für das Verständnis der Schrift: Luther geht es nicht – obwohl dieses Thema die ersten beiden Hauptteile beherrscht – um die Klärung eherechtlicher Fragen, sondern um das theologische Verständnis der Ehe. Dieses theologische Verständnis ist durch die Qualifizierung der Ehe als »eußerlich leyplich ding«282 bestimmt, die im Folgenden in drei Schritten entfaltet werden soll: Zuerst geht es um die Ehe als schöpfungstheologische Gegebenheit, dann um das weltliche Regiment und Recht als Schutz dieser Schöpfungsordnung gegen die widergöttliche Unordnung und zuletzt um die religiöse Dimension des weltlichen Dings Ehe. Grundlegend ist die Bestimmung der Ehe als göttlicher Schöpfungsordnung. Wie Gen. 1,27f. und 2,18 zeigen, ist der Mensch als geschlechtliches Wesen in der Polarität von Mann und Frau geschaffen. Sexualität ist eine Gegebenheit menschlichen Lebens und als solche ein »gottlich gutt werck«.283 Die Geschlechtlichkeit des Menschen impliziert die Verbindung der beiden Geschlechter in der ehelichen Beziehung. Diese Verbindung ist e nichts, was in der Freiheit des Menschen steht: Es ist »eyn nottig naturlich ding, das alles, was eyn man ist, muß eyn weyb haben, und was eyn weyb ist, muß eyn man haben«, denn es ist »eyn eyngepflantzte natur und 281

Die Predigten sind gesammelt in WA 10III. WA 10II,283,8. 283 WA 10II,276,7. Damit ist sie zugleich auch als christlich zu qualifizieren, weil Gott auch und gerade in den geringsten und scheinbar einer religiösen Qualifizierung nicht würdigen Dingen geehrt wird: »Est enim Christianum et pium, amare puellam, quam iungas tibi connubio: quia est naturalis στοργηÁ et inclinatio sexus ad sexum, quae quanquam non careat prorsus peccato, tamen Deus non vult tanquam inhonestam contemni: quia est opus Dei conditum in natura hominis, quod non solum non contemnendum aut contumelia adficiendum est: sed etiam honorandum. Vult enim Deus glorificari in omnibus operibus parvis et magnis. Non vult contemni, ne in minimo quidem« (WA 43,623,4–11*). 282

8.1. oeconomia

421

artt«.284 Sowohl das Geschaffensein als Mann oder Frau als auch die daraus folgende Gemeinschaft von Mann und Frau sind nichts weniger als der Vollzug des göttlichen Wirkens in der Schöpfung.285 Das »Wachsset und mehret euch« von Gen. 1,28 ist darum strenggenommen kein Gebot, sondern eine Zustandsbeschreibung: »gleych wie gott niemandt gepeut, das er man sey oder weyb, ßondern schaffet, das sie ßo mussen seyn, Alßo gepeutt er auch nicht, sich mehren, ßondern schafft, das sie sich mussen mehren«.286 Nach Mt. 19,12 gibt es nur drei Ausnahmen von der Selbstverständlichkeit der Ehe: Zeugungsunfähigkeit, Kastration und freiwilliger Eheverzicht aufgrund göttlicher Gnade.287 Die Zeugungsunfähigen und die gnadenhaft zur Ehelosigkeit Befähigten sind von Gott selbst so geschaffen, so daß sie nicht unter die für alle anderen selbstverständliche Schöpfungsordnung der Ehe fallen. Die zweite Gruppe aber, »die Christus heysset mit menschen henden verschnytten, die capp hanen, sind eyn unselig volck«, weil sie ihre Geschlechtlichkeit nicht mehr in der Ehe leben können und wie alle, die wider ihre Natur nicht ehelich werden, ihre Sexualität in sündhafter Verkehrung ausleben. Wer nun nicht unter diese drei Ausnahmen fällt, darf nicht auf die Ehe verzichten, auch nicht durch irgendwelche Gelübde und Selbstverpflichtungen, weshalb Luther auch die Priester, Mönche und Nonnen ausdrücklich zum Heiraten auffordert. Zusammengehalten wird die Gemeinschaft von Mann und Frau nicht durch unpersönliche Naturnotwendigkeiten, sondern durch die eheliche Liebe (amor mutuus), die die »substantia matrimonii« ist.288 Die »eheliche liebe« als die »mans und weybs lieb« ist »dye aller grost und lauterste lieb vor allen lieben«. Denn sie ist weder »falsche« (d.h. egoistisch verzwecklichte) noch »naturliche« (d.h. verwandtschaftlich-solidarische), sondern personale Liebe, indem sie bewirkt, daß Mann und Frau ein Leib werden, weil sie »eyn brawt liebe [ist], die brinnet wie fewer und sucht nicht mehr, dan das eeliche gemalh, dye spricht ›Ich will nit das deyne, ich will widder golt noch sylber, widder dyß noch das, ich will dich selb haben, ich wils gantz odder nichts haben‹. Alle andere liebe suchen etwas anders, dan den sie liebet, dyße alleyn wil den gliebten eygen selb gantz haben«.289

284

WA 10II,276,18–20.25. WA 10II,276,22. 286 WA 10II,276,26–29. 287 WA 10II,277,1–280,6. 288 WATR 4,459,27 f.* (Nr. 4736 [1.2.1539]). 289 WA 2,167,22–34. Diese personale Dimension der ehelichen Liebe zeigt sich auch in 285

Luthers Verhältnis zu seiner Frau Katharina. Seinen letzten Brief an sie unterzeichnet er am 7. Februar 1546 mit »Dein Liebichen« (WAB 11,287,50 [Nr. 4201]).

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8. Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

Die Ehe ist darum vor allem die personale Gemeinschaft von Mann und Frau, die neben der Liebe durch die wechselseitige Treue (fides) gekennzeichnet ist. Die Eheleute können sich wie gute Freunde voll und ganz aufeinander verlassen, und sie handeln stets im gemeinsamen Interesse. Zur personalen Gemeinschaft gehört auch die sexuelle Beziehung. Ja, die Ehe ist als Ordnungsrahmen notwendig, weil die Sexualität seit dem Sündenfall durch den egoistischen Mißbrauch gefährdet ist und die im persönlichen wie im gesellschaftlichen Bereich zerstörerischen Folgen des ungeregelten Geschlechtslebens kanalisiert werden müssen. Solange Sexualität in der Ehe ausgelebt wird,290 ist sie zwar Ausdruck der sündhaften Ausrichtung des alten Menschen, wird aber nicht als Sünde zugerechnet. Die Sexualität ist nicht um ihrer selbst und auch nicht primär um der ehelichen Liebe willen gegeben, sondern als Mittel der Fortpflanzung. Denn auch wenn die Ehe die personale Gemeinschaft von Mann und Frau ist, so ist sie auf die Zeugung und Erziehung von Kindern angelegt. Und schließlich verlangen die eheliche Gemeinschaft sowie die Kindererziehung die wirtschaftliche Subsistenzsicherung, weshalb die Ehe nicht nur eine personale, sexuelle und familiäre, sondern auch eine ökonomische Gemeinschaft ist. Diese Schöpfungsordnung Ehe ist aber durch die Sünde beeinträchtigt. Das heißt nicht, daß sie nicht mehr Vollzug des göttlichen Wirkens innerhalb der Schöpfung wäre oder daß sie im ganzen oder einzelnen an Verbindlichkeit verloren hätte, wohl aber, daß das eheliche Leben in seinen unterschiedlichen Dimensionen sich in Mühsal und Bedrängnis vollzieht: sei es, daß Adam sich im Schweiße seines Angesichts um die Ernährung seiner Familie bemühen muß; sei es daß Eva mit Schmerzen schwanger werden und Kinder gebären muß; sei es, daß die Frau der Herrschaft des Mannes unterworfen ist.291 Und es heißt, daß die Ehe unter dem stetigen Angriff des Teufels leidet, der Gottes gute Schöpfung verkehren will, die Menschen zu schöpfungswidrigem Verhalten verführt und mit Hilfe des Kirchenrechts die äußere Ordnung der Ehe heillos verwirrt.292 Gerade weil 290 Die eheliche Sexualität soll »messig« (WA 12,101,28) praktiziert werden; was das im einzelnen heißt, müssen die Ehepartner entscheiden, hierfür gibt es keine verbindlichen Regeln. Luther hat kein Interesse an der Weiterführung der detaillierten kirchlichen Reglementierung der sexuellen Praxis, wie sie die mittelalterliche Beichtseelsorge seit den frühen Bußbüchern praktiziert hatte (hierzu: H. Lutterbach: Sexualität im Mittelalter. Eine Kulturstudie anhand von Bußbüchern des 6. bis 12. Jahrhunderts, 1999). 291 Diese Sündenfolgen nennt Luther in Anlehnung an Gen. 3,16 f. immer wieder (z.B. WA 42,148–160*). 292 WA 30III,481–486. Luthers Sicht der Ehe als »Schauplatz des Kampfes zwischen Gott und Teufel« wird vor allem von O. Lähteenmäki: Sexus und Ehe bei Luther, 1955 (Zitat: 124), entfaltet.

8.1. oeconomia

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Sexualität, Ehe, Familie und Besitz notwendige Gegebenheiten des Lebens sind, vollzieht sich in ihnen die sündhafte Abkehr des Menschen vom Schöpfer – die gute Schöpfung Gottes ist heillos verwirrt und in Unordnung und Auflösung begriffen. Zum Schutz der Schöpfungsordnung gegen widergöttliche Unordnung hat Gott sein weltliches Regiment eingesetzt. Das gilt auch und – angesichts der mittelalterlichen Unterstellung der Ehe unter das Kirchenrecht – gerade für die Ehe. Schon im Sommer 1522, also vor den beiden Weimarer Predigten und der Obrigkeitsschrift, unterscheidet Luther in Vom ehelichen Leben die beiden Regimente Gottes: »ym gesetz Mosi gab gott tzweyerley regiment und gepott: Ettlich geystlich, die fur gott frumkeyt lereten, als lieb und gehorsam ist [...]. Etlich aber weltlich umb der willen, die die geystlichen gepott nicht hielten, das den selben doch auch eyn maß gesteckt wurde, das sie verfasset wurden, nicht gar nach yhrem muttwillen tzu thun, unnd nicht ergerß thetten«.293

Daß die Ehe ein weltlich Ding ist, heißt nicht nur, daß sie eine alle Menschen betreffende Schöpfungsordnung ist, sondern auch, daß sie in ihrer rechtlichen Ausgestaltung Sache der weltlichen Obrigkeit ist. Dementsprechend beziehen sich Luthers Äußerungen zur Ehe vor allem auf diese von der weltlichen Obrigkeit zu regelnden Eherechtsfragen.294 Er macht aber immer wieder deutlich, daß er sich weder kraft theologisch-kirchlicher Vollmacht und Kompetenz noch gar »als ein rechtsprecher, official odder regent« zu Eherechtsfragen äußert. Vielmehr will Luther nur als Seelsorger Stellung nehmen. Als ein Seelsorger, dem es primär um die Gewissensunterweisung geht und der die rechtlichen Sachproblemen nur »rats weise, wie ichs ym gewissen wolt guten freunden ynn sonderheit zu dienst thun«, in den Blick nimmt.295 Luther setzt damit zwar die Tradition fort, daß die Kirche auch zu eherechtlichen Fragen Stellung nimmt. Zugleich aber verweist er die Zuständigkeit für die Ehegerichtsbarkeit, die im Mittelalter auch von der Kirche wahrgenommen wurde, zurück an die dafür eigentlich verantwortliche weltliche Obrigkeit. In der Rechtspraxis setzte sich allerdings die nicht unproblematische Verquickung weltlicher und kirchlicher Ehegerichtsbarkeit dadurch fort, daß die seit Ende der 1530er Jahre neugeschaffenen landeskirchlichen Konsistorien die Arbeit der bischöflichen Ehegerichtsbehörden (consistoria) weiterführten. Luther beteiligte sich an der Arbeit des Wittenberger Konsistoriums, wobei er die 293 294

WA 10II,288,10–16.

Die 1530 erschienene Schrift Von Ehesachen zeigt diese Schwerpunktsetzung schon in ihrem Titel an, den man lateinisch als De causis matrimonii (»Von Eherechtsfragen«, vgl. WA 30III,211,16) wiedergeben kann. 295 WA 30III,206,25–27.

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Unterscheidung der »zwey ampt odder regiment, Weltlich und Geistlich«296 durchaus nicht unterlaufen wollte.297 Für Luthers Sicht des Eherechts gilt, was seine Rechtsauffassung insgesamt kennzeichnet, daß er nämlich Gottes- und Weltreich strikt unterscheidet und dementsprechend dem positiven Recht einen weiten Freiraum der zeitlich und örtlich angepaßten Ausgestaltung des grundlegenden, auf Gott zurückgeführten Naturrechts zugesteht. Für das Eherecht bedeutet das, daß es nicht religiös überformt werden darf und daß es in seinen konkreten Regelungen sehr unterschiedlich ausgestaltet werden kann. Vorausgesetzt ist die auf lebenslange Dauer und auf Kinder angelegte monogame Beziehung von Mann und Frau, wie sie die Schöpfungsordnung vorgibt und wie sie darum als naturrechtliche Gegebenheit universale Gültigkeit hat. Die Ausgestaltung dieses naturrechtlichen Rahmens durch das positive weltliche Eherecht umfaßt zum einen die Regelung der Ehehindernisse, der Eheschließung und der Ehescheidung, zum anderen die Entscheidung in Eherechtsfällen. Quellen der Rechtssetzung und Rechtsanwendung sind das Naturrecht, die Vernunft, bestehende Rechtssetzungen wie das mosaische Recht, das römische Recht oder das Kirchenrecht und die Billigkeit. Die immer wieder von Luther herangezogenen und empfohlenen alt- und neutestamentlichen Bestimmungen zur Ehe haben keine eigenständige normative Bedeutung. Vielmehr sind sie entweder Ausdruck des Naturrechts – das für Luther schöpfungstheologisch qualifiziert ist – oder bieten eine der göttlichen Ordnung angemessenere Gestaltung, was auch für Vernunft und Billigkeit wenigstens teilweise nachvollziehbar ist. Eine besondere Rolle spielt bei der Rechtsanwendung die Einzelfallprüfung, bei der nach Möglichkeit nach den Maßstäben der Billigkeit im Interesse der Beteiligten entschieden werden sollte, auch wenn das mit der gültigen Rechtsordnung nicht ohne Weiteres vereinbar sein sollte. Luthers Skepsis gegenüber dem geschriebenen Recht und seine Schätzung von Vernunft und Billigkeit zeigt sich deutlich in der nicht 296 297

WA 30III,206,7 f.

Zum Wittenberger Konsistorium: R. Frassek: Eherecht und Ehegerichtsbarkeit in der Reformationszeit, 2005. Frassek kann anhand des für die Arbeit des Wittenberger Konsistoriums Mitte des 16. Jahrhunderts aufschlußreichen und auch von Luthers Eheverständnis geprägten Wittenbergischen Buchs zeigen, daß die gemeinsame Verantwortung der weltlichen Obrigkeit und der reformatorischen Landeskirche für das Eherecht in verantwortlicher Weise ausgeübt wurde und nicht einfach die spätmittelalterliche kirchliche Ehegerichtsbarkeit fortsetzte. Allerdings spielten das kirchliche und das römische Recht weiterhin eine nicht unwichtige Rolle (s. A. Sprengler-Ruppenthal: Zur Rezeption des Römischen Rechts im Eherecht der Reformatoren, in: Dies.: Gesammelte Aufsätze, 2004, 202–250; Das kanonische Recht in Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, aaO 298–373, hier: 354–365).

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selten detailfreudigen Diskussion realer oder – zum Teil gezielt absurd – konstruierter Eherechtsfälle. Luther argumentiert hier ganz bewußt nicht als Rechtsvertreter, sondern als Seelsorger. Angesichts der Komplexität, ja Verworrenheit zwischenmenschlicher Beziehungen und der daraus entstehenden Gewissensnöte bedarf es dem Einzelfall angemessene Lösungen. Vor allem die Schwächeren müssen geschützt werden, was vielfach dazu führt, daß Luther nicht die juristisch korrekte, sondern die dem Gerechtigkeitsempfinden entsprechendere Lösung bevorzugt. Auch zeigt sich die Tendenz, bestehende Verhältnisse nach Möglichkeit zu bestätigen, selbst wenn sie unrechtmäßig zustandegekommen sind. Die durch Naturrecht, Vernunft und Billigkeit legitimierte Freiheit im Umgang mit dem positiven Recht geht sogar soweit, daß Luther in Einzelfällen rechtlich und moralisch durchaus problematische Empfehlungen gibt. Diese vielfach mißverstandene Freiheit Luthers zu unkonventionellen Einzelfallempfehlungen ist letztlich getragen von seiner Einsicht in die dem Menschen anerschaffene Geschlechtlichkeit, die sich durch rechtliche Regelungen zwar kanalisieren, nicht aber in naturwidrige Bahnen zwingen läßt. Und das gilt umso mehr angesichts der sündhaften Verkehrung der Sexualität. Darum muß das Eherecht so gehandhabt werden, daß es den einzelnen und das Gemeinwesen vor den zerstörerischen Folgen einer ohne rechtlichen Rahmen ausgelebten Sexualität schützt.298 Die persönliche und die öffentliche Sittlichkeit, ja das Gemeinwesen überhaupt – die Ehe ist nichts weniger als »fons Oeconomiae et Politiae«299 – haben die intakte Ehe zu ihrer Voraussetzung. Deshalb muß die weltliche Obrigkeit durch strenge Sozialdisziplinierung einerseits und flexible Einzelfallentscheidungen andererseits die Ehe zugleich schützen und für jeden einzelnen lebbar machen. Rigide Sexualmoral und weitherzige Rechtsanwendung verbinden sich so auf eigentümliche Weise. Geschlechtsverkehr vor und außerhalb der Ehe, Prostitution, Anzüglichkeiten und andere von der Öffentlichkeit mißbilligte Verhaltensweisen sind zu verfolgen oder wenigstens unter strenger Kontrolle zu behalten,300 zugleich gelten aber zahlreiche Ausnahmen gegenüber dem positiven, ja sogar gegenüber dem Naturrecht. Was heißt das im einzelnen? Bereits 1520 nahm sich Luther des rechtlichen und seelsorgerlichen Problems der Ehehindernisse (impedimenta) an. Die geltenden kirchlichen Bestimmungen über Ehehindernisse301 be298 299 300

WA 10II,299,15–301,15. WA 42,354,23 f.*

Weil die öffentliche Moral auch in den Zuständigkeitsbereich der Kirche fällt (WA 6,255,34–37), unterstützt Luther in seiner Funktion als Theologe und Prediger die obrigkeitliche Sozialdisziplinierung in seinen Schriften (z.B. WA 6,39,7 f.; 262,19–28; 467,17–26) und Predigten (z.B. WA 32,209,20–28*; WA 34II,21.214*; WA 36,89 f.*).

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deuteten vor allem durch ihre Ausweitung der unzulässigen Verwandtschaftsgrade eine starke Einschränkung der Heiratsmöglichkeiten, weil für zahlreiche Personen aus der näheren und weiteren familiären und sozialen Umgebung ein Heiratsverbot galt. Allerdings wurden diese Einschränkungen durch die kirchliche Dispenspraxis immer wieder im Einzelfall für ungültig erklärt, so daß sich im späten Mittelalter unhaltbare Verhältnisse ergeben hatten: Zwar galten formal überaus strenge Heiratsbeschränkungen, die auch mit kirchlichen Disziplinarmaßnahmen und Kirchenstrafen durchgesetzt wurden; die politisch und wirtschaftlich führenden Schichten konnten sich aber durch Dispense davon freikaufen. Angesichts der rechtlichen und theologischen Problematik des Kirchenrechts und der sich aus ihm ergebenden Gewissensnöte fragt Luther, welche »person [...] mit eye nander tzur ehe greyffen mugen«.302 Gegen die kanonischen Ehehindernisse, die nicht der Ehe dienen, sondern sie geradzu verhindern, argumentiert er zum einen inhaltlich, weil sie vielfach nicht den naturrechtlichen Vorgaben entsprechen, sachlich unbegründet sind und Gewissensnöte verursachen, und zum anderen hinsichtlich der Rechtspraxis, die gegen Geldzahlungen Ausnahmen zuläßt.303 Luther fordert die Reduktion der verbotenen Verwandtschaftsgrade nach dem Vorbild des im mosaischen Gesetz kodifizierten Naturrechts. Er schließt aber nicht noch – wie das Kirchenrecht – von den in Lev. 18 ausdrücklich genannten Personen, die man nicht heiraten darf, auf die vergleichbaren, jedoch nicht ausdrücklich verbotenen Verwandtschaftsgrade.304 Die anderen Ehehindernisse – etwa die Religionsverschiedenheit oder körperliche Gebrechen – verwirft Luther größtenteils und läßt strenggenommen nur die Zeugungsunfähigkeit zu, wobei er aber auch zugesteht, daß Irrtum, Zwang und heimliches Verlöbnis eine rechtsgültige Ehe verhindern können. Gerade die heimlichen Verlöbnisse waren ein Luther immer und immer wieder beschäftigendes Eherechtsproblem.305 Weil der Konsens der Ehe301 Luther übernimmt in seiner ersten ausführlichen Auseinandersetzung mit diesem Thema in Vom ehelichen Leben die Liste der 18 kirchenrechtlichen Ehehindernisse aus der Summa Angelica des Angelus de Clavassio, wobei er dessen Anordnung umstellt: consanguinitas; affinitas; cognatio spiritualis; cognatio legalis, quae est propinquitas personarum ex adoptione proveniens; cultus disparitas; crimen; publicae honestatis iustitia; votum castitatis; error; conditio; ordo; metus; ligamen; impotentia; interdictum ecclesiae; feriae; consuetudo vel statutum; privatio, quando scil. aliquis est surdus, mutus et caecus (WA 10II,506). Auch später hat er sich immer wieder zu diesem Thema geäußert (z.B. WA 30III,244–246). 302 WA 10II,280,7 f. 303 WA 10II,280,7–287,11; WA 30III,244–246. 304 Allerdings kann er die strengere Bemessung der zulässigen Verwandtschaftsgrade im kirchlichen Recht aus disziplinarischen Gründen für möglich erklären (WA 30III,244, 18–24). 305 Z.B. WA 10II,286,12–23; WA 30III,207–240.

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partner als entscheidend für die Eheschließung – und zudem noch als sakramentaler Akt – galt, kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen um die Gültigkeit von Eheschließungen. Zum einen war strittig, in welcher Form der Konsens erklärt werden mußte und wie in Fällen zu verfahren war, wo eine Person mehreren anderen die Ehe versprochen hatte. Zum anderen pochten die Familien und die Gesellschaft auf ihre Einbeziehung, weil die Ehe Rechtsfolgen implizierte, die weit über die beiden eheschließenden Einzelpersonen hinausreichten. Die Ehe als »offentlicher stand«306 muß nach Luther darum öffentlich geschlossen werden, und das heißt mit Zustimmung der Eltern und in einer bestimmten äußeren Form. Diese Zustimmung darf aber nicht so ausgelegt werden, daß die Eltern – von Ausnahmefällen abgesehen – ihren Kindern die Eheschließung einfach verbieten oder sie gar zu einer Ehe zwingen dürfen.307 Hinsichtlich der öffentlichen Form knüpft Luther in seinem Traubüchlein an die etablierten Vollzüge an. Klar unterscheidet er die weltlichen und kirchlichen Akte: Die Eheschließung selbst erfolgt als »welltlich geschefft« mit der wechselseitigen Absichtserklärung, dem Ringtausch und der Zusammenspree chung »Fur der kirchen« und wird nur auf besonderen Wunsch vom Pfare rer vollzogen; der folgende Akt »Fur dem altar« dagegen dient der Unterweisung, dem Segen und dem Gebet für die bereits geschlossene Ehe und ist ein genuin kirchliches Verkündigungshandeln.308 Neben den Ehehindernissen und der Eheschließung ist die Ehescheidung das dritte eherechtliche Thema, das Luther wieder und wieder behandelt.309 Die im mosaischen Gesetz eingeräumte Möglichkeit der Scheidung im Fall der Zerrüttung der Ehe gilt für ihn im Rahmen des weltlichen Regiments grundsätzlich weiter.310 Zudem ist es in vielen Eherechtsfällen, etwa im Fall von Ehebruch, von mehreren Verlöbnissen oder von böswilligem Verlassen des Ehepartners, unumgänglich, die Scheidung auszusprechen. Nach der Scheidung ist die Wiederheirat möglich, allerdings nur für denjenigen, der an der vorangegangenen Scheidung keine Schuld trägt. Wer durch Ehebruch eine Ehe zerstört hat, soll von der weltlichen Obrigkeit verfolgt und hart bestraft werden – Luther fordert hier mindestens die Landesverweisung, hält aber auch die Todesstrafe für angebracht.311 Diese Forderung zeigt, ein wie hohes Gut die Ehe für Luther ist. 306

WA WA 308 WA 309 WA 307

ten.

30III,207–217; Zitat: 207,15. 15,163–169; WA 30III,236–240. 30III,74–80. 10II,287,12–292,6; WA 15,558–562*; WA 30III,241–244; sowie häufig in Predig-

310 Luther kann allerdings im Fall der Trennung auch mit 1. Kor. 7,11 die Ehe für weiterhin gültig halten und die Wiederheirat verbieten (WA 30III,243,31–37). 311 WA 10II,289,8–17; WAB 3,355,5–14 (Nr. 780).

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Ja, das Zugeständnis der Scheidungsmöglichkeit steht eigentlich im Widerspruch zur Schöpfungsordnung, derzufolge die Ehe eine lebenslange Beziehung ist, und verdankt sich nur der sündhaften Unfähigkeit des nachadamitischen Menschen, seine Ehe als Geschenk des Schöpfers im Vertrauen auf Gott zu führen. Die eigentliche Intention der Ehe kommt im neutestamentlichen Scheidungsverbot (Mt. 19,4–6) wieder zur Geltung, das von Luther darum immer wieder auch in Eherechtsfällen herangezogen wird. Unter den wichtigeren Eherechtsproblemen ist noch auf die Frage der Polygamie hinzuweisen, die im Laufe der 1520er Jahre virulent wurde, als manche Laien darüber nachzudenken begannen, ob die im Alten Testament belegte Mehrehe nicht auch in ihrer eigenen Gegenwart praktiziert werden könnte. Luther lehnt diese wie andere Aktualisierungen alttestamentlicher Sozialverhältnisse und Rechtssetzungen ab.312 Die Polygamie der Erzväter war ein von Gott und bestimmten Notwendigkeiten legitimierter Sonderfall, der keine Bedeutung für das gegenwärtige Eherecht hat. Allerdings kann Luther sich in bestimmten Ausnahmefällen vorstellen, eine »heimliche« – d.h. nur die beiden Ehepartner bindende und der Kirche oder Obrigkeit zur Kenntnis gebrachte, der Öffentlichkeit aber verschwiegene – Nebenehe zu befürworten. Das gilt etwa bei Zeugungsunfähigkeit – hier darf der durch die Zeugungsunfähigkeit des anderen »betrogene« Partner diesen wiederum mit dessen Einverständnis »betrügen«, um Kinder zu bekommen, oder bei Verweigerung anderswo erneut heiraten –, bei einer ansteckenden Krankheit des Ehepartners oder bei anders nicht kontrollierbarer sexueller Triebhaftigkeit. In diesen Fällen ist es wichtiger, eine geregelte Möglichkeit zum Ausleben der Geschlechtlichkeit zu schaffen als gegen die Natur eine faktisch unmögliche Monogamie zu erzwingen. Auch wenn Luther sich ausführlich zu den eherechtlichen Fragen äußert, so gilt sein eigentliches Interesse der religiösen Dimension des weltlichen Dings Ehe.313 Deshalb handelt der dritte und inhaltlich wichtigste Teil der 312 WA 10II,278,10–279,6. Praktische Bedeutung bekam die Frage der Polygamie durch Philipp von Hessen, für den Luther in der besonderen Form des Beichtrats eine heimliche Nebenehe als zulässig erklärte (WAB 4, Nr. 1056; hierzu und zu Luthers Stellung zur Polygamie im allgemeinen: W. Rockwell: Die Doppelehe des Landgrafen Philipp von Hessen, 1904, 137–201.236–278). 313 Eine griffige Definition dieser christlichen Ehe enthält Luthers Auslegung von Gen. 24,1–4: »Vera autem definitio haec est: Coniugium est divina et legitima coniunctio maris et foeminae spe prolis, vel saltem vitandae fornicationis et peccati causa ad gloriam Dei. Finis ultimus est obedire Deo, et mederi peccato, invocare Deum, quaerere, amare, educare prolem ad gloriam Dei, habitare cum uxore in timore Domini, et ferre crucem« (WA 43,310,24–28*).

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Schrift Vom ehelichen Leben davon, »wie man den orden Christlich und gotlich furen soll«.314 Damit ist kein spezifisch christliches Eheethos gemeint, sondern die Erkenntnis der Ehe aufgrund des Gottesworts und das im Glauben gründende existentielle Vertrauen. Dieses beides ermöglicht eine entsprechend der ursprünglichen Schöpfungsordnung als »gottis orden und werck [...] auf gottis wort unnd tzuversicht«315 hin praktizierte Ehe. Weil der Glaubende weiß, daß die Ehe ein göttlich eingesetzter Stand ist, kann er sie »on unterlaß« mit geistlicher innerer »lust, liebe und freude« leben, auch wenn er in der konkreten ehelichen Beziehung mit denselben äußeren Nöten und Schwierigkeiten konfrontiert wird wie der Nicht-Glaubende.316 Luthers theologisch-seelsorgerliche Eheunterweisung soll also nicht Erfahrungswissen vermitteln, sondern handelt von der Ehe »nach der schrifft, die myr gewisser ist denn alles erfaren und leugt myr nicht«.317 Ja, das Vertrauen auf das Gotteswort geht für Luther so weit, daß der Glaubende gegen die tägliche Lebenserfahrung, gegen alle Nöte und Schwierigkeiten die Ehe als gutes Werk Gottes weiß. Die gängigen weltlichen und kirchlichen Eheauffassungen, die diesen Stand in seiner Würde relativieren oder gar verachten und stattdessen das Leben ohne eheliche Bindung und die Freiheit ungehemmter Selbstverwirklichung propagieren, werden von Luther darum auch scharf angegriffen.318 So sehr ist die positive Wertung der Ehe als Schöpfungsordnung durch die Sünde in Vergessenheit geraten, daß die Ehefeindlichkeit geradezu Ausdruck der »naturliche[n] vernunfft« ist: Wenn diese »kluge hure« »das ehliche leben ansihet, ßo rumpfft sie die naßen und spricht: ›Ach, solt ich das kind wiegen, die windell wasschen, bette machen, stanck riechen, die nacht wachen, seyns schreiens wartten, seyn grindt und blattern heylen, darnach des weybs pflegen, sie erneeren, erbeytten, hie sorgen, da sorgen, hie thun, da thun, das leyden und diß leyden, und was denn mehr unlust und muhe der ehestand lernet. Ey, solt ich ßo gefangen seyn. O du elender, armer man, hastu eyn weyb genommen, pfu, pfu, des iamers und unlusts. Es ist besser, frey bleyben und 314 WA 10II,292,7–304,12, Zitat: 292,9 f. Dieses Thema wird auch schon im zweiten Hauptteil zur Ehescheidung behandelt. 315 WA 10II,298,19 f. 316 WA 10II,294,25 f.; 298,19–30. 317 WA 10II,299,10 f. Luther hat die biblischen Programmtexte für sein Eheverständnis e im Traubüchlein in Form der Schriftlesungen »Fur dem altar« (also für den die Eheschließung nicht konstituierenden, sie aber begleitenden kirchlichen Akt) zusammengestellt (WA 30III,78,13–80,6): Gen. 2,18.21–24 (das Zusammenleben von Mann und Frau als Schöpfungsordnung); Eph. 5,25–29 (die eheliche Liebe als Entsprechung zur Liebe Christi zur Gemeinde); Eph. 5,22–24 (Unterordnung der Frau unter den Mann); Gen. 3,16–19 (das von Gott auferlegte Kreuz des Ehestands); Gen. 1,27.28.31 (Geschlechtlichkeit und Fortpflanzung als Schöpfungsgegebenheiten); Spr. 18,22 (Ehefrau als »gut ding«). 318 WA 10II,292,10–293,25.

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on sorge eyn rugig leben gefurt. Ich wil eyn pfaff oder Nonne werden, meyne kinder auch datzu halten‹«.319

Daß die christliche Ehe durch den Glauben bestimmt ist, heißt, daß der Glaubende die Geschlechtlichkeit des Menschen und die eheliche Gemeinschaft von Mann und Frau als gutes göttliches Werk erkennt und daraus die Zuversicht schöpft, daß alles eheliche Leben Gott gefällt. Gen. 1 und 2 sind darum die grundlegenden biblischen Bezugspunkte der christlichen Ehe: »Die sinds aber, die es erkennen, die festiglich glewben, das gott die ehe selbs eyngesetzt, man unnd weyb tzusamen geben, kinder tzeugen und wartten verordenet hat. Denn sie haben gottis wort darauff, des sie gewiß sind, das er nicht leugt, Gen. 1. Darumb sie auch gewiß sind, das yhm der stand an yhm selbs gefellet mit allem seynen weßen, wercken, leyden und was drynnen ist. Nu sage myr, wie kan eyn hertz grosser gutt frid und lust haben denn ynn gott, wenn es gewiß ist, das seyn stand, weßen und werck gott gefellet«.320

Der christliche Glaube sieht anders als die für Gottes Schöpfung »blinde wellt unnd vernunfft«321 »alle diße geringe, unlustige, verachte werck ym geyst an und wirtt gewar, das sie alle mit gottlichem wolgefallen als mit dem kostlichsten gollt und edell steyne getzirt sind«. Weil der Glaubende gerade im scheinbar Unwerten Gottes Wohlgefallen erkennt, bekennt er sich als Empfänger eines unverdienten, unschätzbaren Geschenks und als Werkzeug von Gottes Schöpferhandeln: »›Ach gott, weyll ich gewiß bynn, das du mich eyn man geschaffen und von meym leyb das kind tzeugt hast, so weyß ich auch gewiß, das dyrs auffs aller beste gefellet, und bekenne dyr, das ich nicht wirdig byn, das ich das kindlin wiegen solle, noch seyne windell wasschen, noch seyn odder seyner mutter wartten. Wie byn ich ynn die wirdickeyt on verdienst komen, das ich deyner creatur und deynem liebsten willen tzu dienen gewiß worden byn? Ach wie gerne wil ich solchs thun, unnd wens noch geringer unnd verachter were. Nu soll mich widder frost noch hitze, e wider muhe noch arbeyt verdrießen, weyll ich gewiß byn, das dyrs alßo woll gefellet‹«.322

Ähnlich erkennt auch die Frau im Glauben, daß Ehe und Kinder vor Gott e gute Werke sind, selbst wenn »ynn kindes notten« das eigene Leben auf 323 dem Spiel steht. Was Gott dabei gefällt, ist nicht, daß Männer Windeln waschen oder Frauen unter Schmerzen gebären, sondern, daß sie es im Glauben tun. Denn nur, was im Glauben geschieht, und alles, was im Glauben geschieht, ist ein gutes Werk.324 Das heißt aber nicht, daß die Ehe 319

WA WA 321 WA 322 WA 323 WA 324 WA 320

10II,295,16–26. 10II,294,27–33. 10II,299,2. 10II,295,28–296,11. 10II,296,12–26. 10II,296,27–297,4.

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ein sündenfreier Raum ist. Gerade hinsichtlich der Sexualität weiß Luther um die bleibende Gefährdung auch des Christen durch die Sünde, weshalb die »ehepflicht« nicht ohne Sünde geschieht, »aber gott verschonet yhr auß gnaden darumb, das der ehlich orden seyn werck ist und behellt auch mitten unnd durch die sund alle das gutt, das er dareyn gepflantzt und gesegenet hat«.325 Glaube meint aber nicht nur Erkenntnis und Vertrauen, die die Ehe als gutes Werk qualifizieren, er zieht auch praktische Konsequenzen nach sich. Der Ehestand übt »nicht alleyn das hertz und ynnwendig weßen durch den glauben fur Gott, sondern auch den leyb eusserlich ynn wercken, das also der ehestand beyde glauben unnd werck treybt, beyde leyb und seel hilfft, versorget und recht furet«.326 Diese praktischen Konsequenzen bestehen nicht in einer bestimmten spezifisch christlichen Eheführung, sondern in der Praxis der jede christliche Existenz bestimmenden Nächstenliebe gegenüber dem Ehepartner. Dabei verbindet sich die Nächstenliebe für den Glaubenden mit der ehelichen Liebe. Denn gerade den Ehepartner als den ihm durch den amor mutuus nächsten Menschen erkennt er als die ihm von Gott geschenkte Bewährung des in der Liebe wirkmächtigen Glaubens.327 Was das konkret heißt, illustriert Luther vor allem am Umgang mit den ehelichen Schwierigkeiten und Konflikten. Während es im Rahmen des weltlichen Regiments die Möglichkeit der Scheidung gibt, »gillt solch gesetz bey den Christen nicht, wilche sollen ym geystlichen regiment leben«.328 Die Zerrüttung der Ehe ist kein Grund zur Scheidung, sondern für den Christen vielmehr Teil seiner Kreuzesexistenz: »Nu wenn hie eyns Christlicher stercke were und truge des andern boßheytt, das were wol eyn feyn seligs creutz und eyn richtiger weg tzum hymell«.329 Immer wieder zeigt Luther, daß das dem Christen auferlegte Kreuz auch und gerade das »zeyttlich, eusserlich ungemach auff dißem leben [ist], des sich erwegen mus, wer ehlich seyn will odder o mus«,330 und daß es darauf ankommt, nicht vor diesem Kreuz – den zwi325 326

WA 10II,304,9–12. WA 12,108,9–12.

327 Obwohl Luther zwischen ehelicher Liebe und Nächstenliebe auch terminologisch differenzieren kann (nach seiner Heirat mit Katharina von Bora schreibt er am 21. Juni 1525 an Amsdorf: »Ego [...] nec amo nec aestuo, sed diligo uxorem« [WAB 3,541,8 (Nr. 900)]), führt die Überschneidung beider beim Christen dazu, daß nicht immer zu entscheiden ist, von welcher »Liebe« im einzelnen die Rede ist; z.B. wenn Luther in der Auslegung von 1. Kor. 7,3 f. sagt, daß der »ehestand« »ynn der liebe gesetz verfasset [ist], das keyns seins leybs mechtig ist, sondern mus dem andern dienen, wie der liebe art ist« (WA 12,101,15 f.). 328 WA 10II,288,19 f. 329 WA 10II,291,15–17. 330 WA 12,137,10–12.

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schenmenschlichen Konflikten, der Sorge um die Ernährung, dem Leben für andere etc. – zu fliehen, sondern sich in diese Abtötung des Fleisches zu ergeben und sich mit dem Gotteswort und der »praesentia Christi« zu trösten.331 Und die Unfähigkeit des Ehepartners zur ehelichen Gemeinschaft, z.B. aufgrund einer Krankheit, ist für einen Christ kein Grund zur Scheidung, sondern Anlaß zum Dienst in der Nächstenliebe (»occasio charitatis«332): »diene gott yn dem krancken unnd wartte seyn, dencke, das dyr gott an yhm hatt heyllthum ynn deyn hauß geschigkt, damit du den hymell sollt erwerben. Selig und aber selig bistu, wenn du solch gab unnd gnad erkennest unnd deynem gemalh alßo umb gottes willen dienest«.333

Allerdings läßt Luther auch für den Christen die Scheidung zu; etwa wenn die Zerrüttung der Ehe in keiner Weise mehr zu ertragen ist334 oder wenn ein christliches Leben durch den Ehepartner unmöglich gemacht wird.335 Der Glaube umfaßt aber nicht nur die rechte Erkenntnis der Ehe als göttlicher Schöpfungsordnung, ihre Führung im Vertrauen auf Gott und die Zuwendung zum Ehepartner in der aus dem Glauben fließenden Nächstenliebe. Er hat auch Bedeutung über das Gottesverhältnis und das Verhältnis der Eheleute untereinander hinaus: Die im Glauben geführte Ehe ist die wahre Erfüllung der biblischen Keuschheitsforderung,336 ja sie ist die »castissima vita«.337 Keuschheit ist dabei für Luther nicht nur der 331 Z.B. WA 12,136,10–137,25; WA 19,290,26–31; WA 29,2,7 f.* und 7,1 f.*. Das »ferre crucem« ist für Luther geradezu ein finis ultimus der Ehe unter mehreren (WA 43,310,24–28*). 332 WA 15,420,23*.27*. 333 WA 10II,291,27–30. 334 »Soe lch scheyden aber lesst gewißlich der Apostel [in 1. Kor. 7] zu, das er der o Christen schwacheyt durch die finger sihet, weyl sich zwey nicht mugen miteynander betragen« (WA 12,119,19 f.). Über die Möglichkeit zur Wiederverheiratung nach einer solchen Scheidung äußert sich Luther unterschiedlich (WA 10II,291,18–20; WA 12,119,12– 25). 335 Luther weitet den Tatbestand des privilegium Paulinum, das eine Scheidung vom nichtchristlichen Ehepartner erlaubt, auch auf formell Getaufte aus, die unchristlich leben (s. Luthers Auslegung von 1. Kor. 7,10 f.15 [WA 12,118 f.123–125]). 336 Luther hat keine besondere biblische sedes doctrinae im Blick (zu nennen wären etwa die Keuschheit als eine der Geistesfrüchte in Gal. 5,23 oder die Keuschheitsforderungen in 2. Kor. 6,6 und Phil. 4,8). Vielmehr faßt er im Keuschheitsbegriff mit unterschiedlichen biblischen Texten belegbare Aspekte des verantwortungsvollen Umgangs mit Sexualität zusammen. 337 WATR 4,504,3 f.* (Nr. 4786). Zwar ist auch die gnadenhaft ermöglichte Ehelosigkeit des Glaubenden wahre Keuschheit und Luther kann diese »einsame keuscheit« (WA 30II,61,11.14) sogar hochschätzen. Der dazu Befähigte hat auf Erden einen besseren Stand, weil er sich ausschließlich Gottes Wort und der Predigt widmen kann. Aber vor Gott ist die Ehe besser als die Ehelosigkeit (WA 10II,302,1–15; WA 12,138,25–139,17). Vergleicht man Luthers Aussagen über die Ehe mit der mittelalterlichen Würdigung der Ehelosigkeit, dann zeigt sich, daß Luther die zuvor der Ehelosigkeit zugesprochene

8.1. oeconomia

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verantwortungsvolle Umgang mit der eigenen Geschlechtlichkeit (»keusch e und zuchtig leben ynn worten und wercken«)338, der als »gabe vom hymel o erab, von ynnwendig eraus qwellen mus« und »mit freyem geyst« ausgeübt wird,339 sondern auch der Schutz des einzelnen und des Gemeinwesens vor »hurerey und unkeuscheyt« mit all ihren negativen Folgen für die geistliche und physisch-soziale Existenz des Menschen340 sowie die durch diese Begrenzung der Sexualität auf die Ehe ermöglichte Zeugung und Erziehung von Kindern. Die christliche Ehe ist dabei nicht nur »fons Oeconomiae et Politiae«, sondern auch »seminarium ecclesiae«,341 sie mehrt nicht nur die Welt, sondern auch das Reich Gottes.342 Denn Gott bedient sich der Ehe und Kindererziehung nicht nur, damit es überhaupt Menschen gibt und um für diese Menschen zu sorgen »alß eyn mutter ynn aller gutte«,343 sondern um der Heilsgeschichte willen: Die Ehe hilft Seelen zu erlösen, weil die Eltern nicht nur die weltliche, sondern auch die geistliche Gewalt über die Kinder haben und »der kinder Apostel, Bischoff, pfarrer [sind], ynn dem sie das Euangelion yhn kundt machen«.344 Die christliche Familie ist für Luther selbstverständlich eine religiöse Gemeinschaft, ein Teil der Kirche. Ihre Aufgabe liegt vor allem in der religiösen Elementarunterweisung und in der Einübung des alltäglichen christlichen Lebensvollzugs. Dabei wird sie von den im Sinne der Reformation neu organisierten Schulen unterstützt.345 Die eschatologische Perspektive, in die die

Qualifizierung als wahrhaft christlicher Existenz – als eines guten Werks, als der Ermöglichung wahrer Keuschheit und als Ort der alltäglichen Nächstenliebe – auf die Ehe übertragen hat. 338 WA 30I,286,25 f. 339 WA 12,98,21 f.; 99,2. 340 WA 10II,299,15–301,15. 341 WA 42,354,23 f.* 342 WA 49,799,6–9*. 343 WA 10II,298,30. 344 WA 10II,301,23–25. 345 Luthers Schriften über das Bildungswesen – neben der 1524 erschienen Schrift An die Ratsherren aller Städte deutsches Lands, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen (WA 15,9–26.27–53) ist hier vor allem die 1530 erschienene Predigt, daß man Kinder zur Schulen halten solle (WA 30II,508–517.517–588) zu nennen – weisen den Schulen eine wichtige Unterstützungsfunktion für die familiäre religiöse Erziehung zu und betonen den engen Zusammenhang von Bildung und Religion. Beide Schriften verdanken sich bestimmten Konfliktkonstellationen: zum einen der Frühphase der städtischen Reformation Anfang der 1520er Jahre, die zum Teil mit der Beeinträchtigung des Schulwesens und der Relativierung der Bildung einherging; zum anderen der mühsamen, mit vielen Widerständen konfrontierten Anfangsphase der Reform des Bildungswesens Ende 1520er Jahre. Dadurch herausgefordert stellte Luther die eschatologische Dimension der religiösen Bildung heraus: In der religiösen Kindererziehung geht es letztlich um das Heil, weshalb in der gegenwärtigen Entscheidungszeit die Pflicht der Eltern und Schulen zur Vermittlung der religiösen Bildung eingeschärft werden muß.

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Ehe damit einrückt, wird von Luther nicht betont, aber auch nicht verschwiegen. Die Ehe als weltlich Ding ist dadurch, daß sich »das ynnwendig leben des glawbens ym hertzen, da der geyst regirt« »auswendig am leybe« »durch den geyst des glawbens« auswirkt, »der aller geystlichste stand«346 und weist damit über das Weltliche hinaus. Gerade weil der eheliche Stand durch die Sorge um äußerliche Dinge wie Ernährung und Bekleidung gekennzeichnet ist, ist er geistlich. Denn er zeigt die Angewiesenheit des Menschen auf Gott, lehrt ihn, »auff gottis hand und gnade [...] e zu sehen«, und zwingt ihn »zum glauben« als dem »aller ynnerlichst, hohist, geystlich weßen«.347 So kann es nicht überraschen, daß Luther 1. Kor. 7,29–31 als Hinweis darauf versteht, daß das christliche Leben nicht im Weltlichen aufgeht und daß die Christen letztlich nicht von dieser Welt sind: »Das ist eyn gemeyn lere fur alle Christen, das sie sollen yhrs ewigen gutts war nemen, das sie ym glauben besitzen, und diß leben verachten, das sie nicht zu tieff sich mit lieb und lust, odder mit leyd und unlust drynnen versencken, sondern sich o hallten wie gesste auff erden, das sie nur eyn kurtze zeytt alles brauchen, zur nott 348 und nicht zur lust«.

Die Ehe als grundlegender Vollzug des christlichen Lebens steht im Spannungsfeld von schöpfungstheologischer Zuwendung zur Welt und eschatologischer Relativierung aller innerweltlichen Verhältnisse im Vorschein des im Glauben gegebenen ewigen Guts. Zu den Nöten des Ehelebens gehört die Sorge für die wirtschaftliche Absicherung der Familie. Auch hier ermöglicht der Glaube eine christliche Ausgestaltung der Ehe, weil er Gott vertraut, daß er für das tägliche Brot Sorge trägt. Nicht daß der Glaubende die Hände in den Schoß legt, aber er bemüht sich mit seinem für Luther selbstverständlichen »erbeytten« im Vertrauen auf den Schöpfer um die wirtschaftliche Subsistenzsicherung: »Got macht kinder, der wirt sie auch wol erneeren«.349 Was das heißt, führt Luther in seinen Äußerungen zur Ehe oft nur andeutungsweise aus. Dieser wichtige Teil der christlichen Hausstandsethik hat stattdessen seinen Ort in Luthers zahlreichen Äußerungen zu wirtschaftsethischen Fragen. Die christliche Ausgestaltung des status oeconomicus und seine Gefährdung durch die Sünde ist ein Luthers Schriften und Predigten durchweg begleitendes Thema, dessen Grundzüge er in der ersten Hälfte der 1520er Jahre entwickelte und in der Doppelschrift Von Kaufshandlung und Wucher 346

WA WA 348 WA 349 WA 347

12,105,19.27–29. 12,106,26 f.; 107,22 f. 12,138,7–11. 10II,304,2.

8.1. oeconomia

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1524 zusammenfaßte. An dieser Schrift orientiert sich die folgende Darstellung.350 Luthers Urteilsbildung in wirtschaftsethischen Fragen war vor allem von drei Faktoren bestimmt: Grundlegend waren die Vorgaben für den christlichen Umgang mit Besitz, wie sie sich aus dem biblischen Schöpfungs- und Rechtfertigungsglauben ergaben. Damit verband sich in besonderer Weise das mittelalterliche Erbe: Stärker als in anderen Bereichen seiner theologischen Ethik stimmte er hier mit dem überein, was er in der kirchlichen Predigt und Unterweisung sowie in Schule und Universität gelernt hatte.351 Neben den biblischen und mittelalterlichen Anschauungen 350 Der folgenden Darstellung liegen neben dieser Schrift (WA 15,279–292.293–322), in die der Große Sermon von dem Wucher von 1520 (WA 6,33–35.35–60) integriert ist, und den oben (7.1., Anm. 98) bei der Stände- und Berufsethik genannten Schriften an weiteren Quellen zugrunde: Dekalogauslegungen zum siebten Gebot (WA 1,499–505; WA 6,270–273; WA 30I,163–168; ergänzt wird die Auslegung des siebten Gebots durch die Auslegung anderer Katechismusstücke wie des ersten Artikels [s. etwa WA 30I,184,16– 21] und der vierten Vaterunserbitte [WA 30I,203–206]); Kleiner Sermon von dem Wucher (1519): WA 6,1 f.3–8; An den christlichen Adel (hier v.a. WA 6,466,40–467,3); Briefwechsel in der Auseinandersetzung mit Jakob Strauß und über die Frage der Gültigkeit des Mosegesetzes 1523/24 (WAB 3, Nr. 673.674.720.733.750.753.754.755.861); An die Pfarrherrn, wider den Wucher zu predigen (1539/40): WA 51,325–330.331–424 (diese späte Wucherschrift verschärft zwar den Ton, entspricht inhaltlich aber den Wuchersermonen von 1519/20 und Von Kaufshandlung und ist in der Sache nicht radikaler als diese [wie es Brecht 3,259 zu suggerieren scheint]). – In Luthers Predigtwerk ist hinzuweisen auf die Auslegungen von Mt. 6,19–23 (WA 32,436–452*), Mt. 6,24–34 (Nachweis der Predigten in WA 22,XLVII; Auszüge in D Martin Luthers Evangelien-Auslegung, Teil 2, 31960, 178–192; WA 32,452–472*), Mt. 19,16–30 (WA 47,337,32–362,32*; vgl. die Thesen zu Mt. 19,21: WA 39II,39,3–40,15), Lk. 5,1–11 (Nachweis der Predigten in WA 22,LX; Auszüge in D Martin Luthers Evangelien-Auslegung, Teil 3, 31961, 60–67), Lk. 16,1–12 (Nachweis der Predigten in WA 22,LXIII f.; Auszüge in D Martin Luthers Evangelien-Auslegung, Teil 3, 31961, 236–246), und Lk. 16,19–31 (Nachweis der Predigten in WA 22,LXIV; Auszüge in D Martin Luthers Evangelien-Auslegung, Teil 3, 31961, 261–270). Siehe auch die bereits erwähnte Darstellung von H. Werdermann über Luthers Wittenberger Gemeinde. – Auch in der Tischredenüberlieferung werden häufig wirtschaftsethische Fragen angesprochen (s. das Wort- und Sachregister WATR 6, s.v. Geld, Handel, Teuerung, Wucher, Zins). – Einen hilfreichen Überblick über den Forschungsstand und eine Einführung in Luthers Wirtschaftsethik unter Berücksichtigung der geschichlichen Rahmenbedingungen bietet H.-J. Prien: Luthers Wirtschaftsethik, 1992. Wichtige Beiträge der theologischen Forschung zu Luthers Wirtschaftsethik sind: H. Reymann: Glaube und Wirtschaft bei Luther, 1934 (diese zahlreiche Quellen verwertende, systematisch angelegte Studie arbeitet die Grundstruktur von Luthers Wirtschaftsethik in bislang unübertroffener Weise heraus); A. Peters: Kommentar zu Luthers Katechismen, Bd. 1, 1990, 255–278. – Angesichts der sehr unterschiedlichen Bewertung Luthers in der wirtschaftsgeschichtlichen Forschung (hierzu vom Standpunkt der marxistischen Wirtschaftswissenschaft aus: Herm. Lehmann: Luthers Platz in der Geschichte der politischen Ökonomie, in: G. Vogler [Hg.]: Martin Luther. Leben. Werk. Wirkung, 21986, 279–294) kann die Frage nach der Angemessenheit und Bedeutung von Luthers Sicht der wirtschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit im Folgenden nicht eigens behandelt werden. 351 Die mittelalterliche Wirtschaftsethik lernte Luther wohl auf unterschiedlichen We-

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spielte aber auch die Begegnung mit dem Wirtschaftsleben seiner Zeit und mit der zeitgenössischen wirtschaftsethischen Diskussion eine wichtige Rolle für Luthers Urteilsbildung.352 Luthers eigene Erfahrungen mit dem Wirtschaftsleben begannen schon im Elternhaus.353 War sein Vater doch ein ökonomischer und sozialer Aufsteiger, dessen Engagement in der für den Frühkapitalismus zentralen Montanindustrie zu Luthers familiärem

gen kennen, ohne daß wir Genaueres wissen. Grundlegend für sie waren die aristotelischen Anschauungen über Wirtschaft und Geld (Pol. I,8–13). Das kirchliche Zinsverbot und dessen Ausnahmen waren immer wieder Thema lehramtlicher Äußerungen (DS 280 f.716.764.906.1355–1357.1442–1444; Decretum Gratiani prima pars, dist. 47, prima pars, dist. 88, cap. 11, secunda pars, causa 14 [in: Corpus iuris canonici, ed. Friedberg 1,170–173.308 f.732–744]). – Wirtschaftsethische Fragen wurden im Zusammenhang der Tugendlehre oder des Bußsakraments in den Sentenzenkommentaren und theologischen Summen behandelt (Thomas von Aquin: S. th. 2a 2ae, qq. 77+78; Biel: Coll. IV, d. 15, qq. 10+11). – Wirtschaftsethische Unterweisung und die Warnung vor Wucher und Geiz waren häufige Themen in Predigten und lateinischen wie volkssprachlichen Tugendlehren (z.B. im Liber Floretus [ed. Orba´n, 1979, 10 f.42 f.], bei Sebastian Brant [Das Narrenschiff, Kap. 3.17.25.63.83.93.102] oder bei Geiler von Kaysersberg [R. Voltmer: Wie der Wächter auf dem Turm. Ein Prediger und seine Stadt. Johannes Geiler von Kaysersberg (1445–1510) und Straßburg, 2005]). – Literatur: J. Noonan: The Scholastic Analysis of Usury, 1957; A. Gurjewitsch: Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, 51997, 247–326; J. Le Goff: La bourse et la vie. E´conomie et religion au Moyen Aˆge, 1986; H.-J. Gilomen: Wucher und Wirtschaft im Mittelalter (HZ 250, 1990, 265–301); J. Fried: Zins als Wucher. Zu den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Predigt gegen den Wucherzins. Eine Einführung (in: J. Le Goff: Wucherzins und Höllenqualen. Ökonomie und Religion im Mittelalter, 22008, 134–174); sowie die einschlägigen Artikel (LMA 4,1027 f. [R. Holbach]; LMA 7,735–738 [Hans-Jörg Gilomen]; 9,341–345 [Hans-Jörg Gilomen]; TRE 12,284–286 [Martin Honecker]; TRE 36,681–687 [Rolf Sprandel]). 352 Literatur zu den wirtschaftlichen Verhältnissen am Ende des 15. und in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts sowie zur wirtschaftsethischen Diskussion: G. Schmoller: Zur Geschichte der national-ökonomischen Ansichten in Deutschland während der Reformations-Periode (Zs. f. d. ges. Staatswissenschaft 16, 1860, 461–716; ausführlich auch zu Luther, wegen des Materialreichtums und der Herausarbeitung des für die zeitgenössische Diskussion zentralen ethisch-religiösen Motivs nach wie vor lesenswert); F. Blaich: Die Wirtschaftspolitik des Reichstags im Heiligen Römischen Reich. Ein Beitrag zur Problemgeschichte wirtschaftlichen Gestaltens, 1970; H. Oberman: Werden und Wertung der Reformation. Vom Wegestreit zum Glaubenskampf, 31989, 161–200; F. Mathis: Die deutsche Wirtschaft im 16. Jahrhundert, 1992; J. Wurm: Johannes Eck und der oberdeutsche Zinsstreit 1513–1515, 1997 (wertvoll ist hier nicht nur die Darstellung der spätmittelalterlichen Theorie und Praxis des Zinswesens [5–55], sondern auch das Glossar zum Wirtschaftslatein [284 f.]). 353 Zu Luthers wirtschaftlichen Erfahrungen und zur ökonomischen Seite seines alltäglichen Lebens sind neben den Lutherbiographien (hier v.a. Brecht 2,200–203.413– 415; 3,240–244) hilfreich: S. Oehmig: Katharina von Bora, die Lutherin – Eine Wirtschafterin und Saumärkterin (in: P. Freybe [Hg.]: Mönchshure und Morgenstern. »Katharina von Bora, die Lutherin«, 1999, 96–119); M. Fessner: Die Familie Luder und das Bergwerks- und Hüttenwesen in der Grafschaft Mansfeld und im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel (in: R. Knape [Hg.]: Martin Luther und Eisleben, 2007, 11–31); B. Frank: Luther und Geld. Luthers Wirtschaftsethik in Theorie und Praxis (Luther 80, 2009, 12–35).

8.1. oeconomia

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Hintergrund gehört. Auch die Klosterzeit darf nicht vergessen werden, die zwar einerseits durch die Armutsexistenz eine Distanzierung von weltlichem Besitz und dessen Verstrickungen mit sich brachte, aber andererseits umso mehr wirtschaftlichen Sachverstand und wirtschaftliches Handeln erforderte, waren doch die Ordensoberen – zu denen auch Luther in verschiedenen Ämtern, etwa als Subprior und Distriktsvikar, gehörte – für die Verwaltung des gemeinschaftlichen Klosterguts, die nicht unerheblichen laufenden Einnahmen und Ausgaben der Konvente sowie die großen und kleinen Bauprojekte verantwortlich. Als Wittenberger Stadtkirchenprädikant sah sich Luther zudem seit 1514 in der Verantwortung, seine Gemeinde im christlichen Umgang mit Besitz zu unterweisen und dessen sündhaften Mißbrauch in seinen unterschiedlichen Formen anzuprangern. Und seit 1525 lernte Luther das Wirtschaftsleben auch aus der Pespektive eines großen Bürgerhaushalts kennen, der zwar vor allem von seiner Frau Katharina geführt wurde, an dessen Verpflichtungen und Nöten aber auch Luther immer teilhatte.354 Grundlegend für Luthers eigenen Umgang mit Besitz wie für seine Wirtschaftsethik war die Anerkennung von Besitz und Arbeit als mit der Schöpfung gegebener Notwendigkeiten menschlichen Lebens.355 Schon vor dem Sündenfall war es die Aufgabe des Menschen, den Paradiesgarten zu bebauen und zu bewahren,356 ist er doch »geborn zur erbeyt« »wie der fogel zum fliegen« (»Homo natus ad laborem, sicut avis ad volandum« [Hiob 5,7 Vg.]). Und seit dem Sündenfall gilt das erst recht, hat doch Gott »in Adam alle tzur erbeit vorurteylt« (»labor et sollicitudo omnibus imposita sunt«), wenn er sagt: »In dem schweysz deines angesichtes soltu essen dein brot«.357 Beide Bestimmungen – die Arbeit als Erfüllung der Geschöpflichkeit des Menschen und als Sündenstrafe – gelten für Luther gleichzeitig und schließen einander nicht aus. Die Notwendigkeit und Selbstverständlichkeit der Arbeit – »venter cogit nos laborare. Oportet ut laboremus«358 – meint nicht, daß der Mensch auf sich gestellt ist und für sich zu sorgen hat, sondern daß ihm die Fürsorge und die Disziplinierung des Schöpfers durch das Medium seiner eigenen Arbeit zuteil werden: 354 Ein schönes Zeugnis dafür ist Luthers »Hausrechnung« von 1541/42 (WAB 9,579– 587 [Nr. 3699, Beilage IV]), die zeigt, daß Luther für die Haushaltsführung mitverantwortlich war, dieser aber nur unzureichend gerecht werden konnte. Resignativ sagt er von sich selbst: »Ich armer Mann so halt ich haus: Wo ich mein gelt sol geben aus, Da durfft ichs wol an sieben ort, Und feylet mir allweg hie und dort« (WAB 9,585,206–209). Schon zehn Jahre früher hatte er bemerkt: »Ich kan mich in das haußhalten [diese haußhaltung] nicht richten« (WATR 2,13,12.13* [Nr. 2835a/b]). 355 H. Reymann: Glaube und Wirtschaft bei Luther, 1934, 29–59. 356 WA 7,61,5–9. 357 WA 1,505,19–21; WA 6,271,33–37. 358 WA 11,179,1*.

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e

»Erbeyten gepurt dyr, Aber erneeren und haushallten gehoret Gott alleyne zu. Darumb mustu weyt von eynander sondern dise zwey, erbeyten und hausbawen odder erneeren, so weyt alls hymel und erden, Gott und mensch voneinander sind. [...] Gott hat Adam gepotten, seyn brod zu essen ym schweys seynes angesichts, und will, er soll erbeytten, Und on erbeyt will er yhm nicht geben. Widderumb will er yhm auch nichts durch seyne erbeyt geben, sondern blos alleyne durch e seyne gute und segen, Das die erbeyt soll seyne ubunge seyn ynn disem leben, das fleysch zu zwingen. Wo er darynnen yhm gehorsam ist, so will er yhm auch gnug geben und wol erneeren«.359

Luther will mit dieser Entkoppelung von menschlichem »erbeyten« und göttlichem »erneeren« nicht das menschliche Bemühen abwerten, sondern sein Mißverständnis und damit die Gefährdung des Menschen durch ein verkehrtes Bemühen um Subsistenzsicherung abwehren. Wer weiß, daß sich das Leben und dessen Erhaltung nicht primär dem eigenen Bemühen, sondern Gott dem Schöpfer und Erhalter verdankt, ist allererst in der Lage, recht zu »erbeyten«. Grundlegend ist die Erkenntnis der Angewiesenheit des Menschen auf die natürlichen Ressourcen, auf »den acker«, aus dem »solch gros gut [...] e an korn, weyn und allerley frucht« »eraus wechst«.360 Denn aus dieser Erkenntnis folgt die Einsicht in die grundlegende Bedeutung der Landwirtschaft und des Bauernstands. Luthers Hochschätzung der Landwirtschaft, in der biblische und antik-mittelalterliche Vorstellungen zusammenfließen, macht ihn gegenüber anderen wirtschaftlichen Tätigkeiten voreingenommen.361 So wichtig die Landwirtschaft ist, so macht sie das Wirtschaftsleben doch nicht alleine aus. Denn die Nutzbarmachung und Verteilung der gottgegebenen Ressourcen bedarf einer arbeitsteiligen Gesellschaft. Handwerk und Handel sind darum selbstverständlicher Teil von Gottes »erneeren« und eine legitime Form menschlicher »erbeyt«. Der Handel – gemeint ist der lokale und regionale Handel mit Waren des täglichen Bedarfs, nicht der Fernhandel mit Luxusgütern – ist notwendig zur Verteilung der zum täglichen Leben notwendigen Gottesgaben »aus 359 360

WA 15,367,4–19.

Zu den natürlichen Ressourcen gehören auch »die berge«, in die »das sylber und gollt« gelegt ist, »das mans da findet«, ohne daß Luther dem Bergbau eine ähnlich grundlegende Bedeutung zuweist wie der Landwirtschaft (WA 15,368,24–27). 361 Der schöpfungstheologischen Hochschätzung entsprechende positive Würdigungen von Landwirtschaft und Bauernstand – beispielsweise: »Das weysz ich wol, das viel gotlicher weere acker werck mehren und kauffmanschafft myndern, und die viel besser thun, die der schrifft nach die erden erbeytten und yhr narung drausz suchen« (WA 6,466,40–467,3) – sind freilich gegenüber der gegenwartsorientierten Kritik und Polemik an die Adresse der Bauern eher selten (S. Bräuer: Luthers Beziehungen zu den Bauern, in: H. Junghans [Hg.]: Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546, Bd. 1, 1983, 457–472). Luther weiß sehr wohl: »acker werck freylich der besten ampt eins ist, Noch e [dennoch] ist ein geitziger ackermann unrecht und verdampt fur Gott« (WA 19,657,14 f.).

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der erden« wie »vieh, wolle, getreyde, butter, milch und ander gueter«, was schon die alttestamentlichen Erzväter zeigen.362 Das Naturrecht und die Billigkeit ziehen darum dem Wirtschaftsleben auch keine allzu engen Grenzen. Besitz, Geld und bestimmte Formen von Warenaustausch sowie von Kredit und Zins sind unverzichtbar und an sich unproblematisch. Hinsichtlich Kredit und Zins denkt Luther vor allem an den gängigsten Ersatz für das Verleihen von Geld gegen Zinsen: an den Zinskauf, d.h. an die als Kaufgeschäft verstandene Überlassung von Kapital gegen eine regelmäßige als Kaufpreis verstandene Zahlung.363 Diese im späten Mittelalter nördlich der Alpen »bedeutendste Kreditform«364 ist für Luther unter bestimmten Bedingungen akzeptabel: wenn beide Vertragspartner von ihm profitieren, der Zinskauf also nicht als Umgehung für den vom Kreditnehmer aus Gründen der Existenzsicherung benötigten unproduktiven Konsumtivkredit dient; wenn der »Zinssatz« moderat ist, Luther denkt an um die 5 % – oder wenn man in Anlehnung an das vorbildhafte mosaische Gesetz eine ertragsabhängige, das Risiko auf beide Parteien verteilende Zahlung365 vereinbart; wenn nicht das Gesamtvermögen und die Arbeitskraft des Schuldners, sondern ein genau benanntes, Zins und Tilgung tragendes Unterpfand als Sicherheit gilt; wenn der »Schuldner« das »Darlehen« jederzeit zurückzahlen, der »Gläubiger« es aber nicht ohne Weiteres zurückfordern darf. Der gängige Zinskauf auf Wiederkauf dagegen, bei dem der kapitalgebende Zinskäufer sein gegen die Zinszahlung verkauftes Kapital durch Einrechnung in die Zinsen oder in Form einer separaten Rückzahlung zurückerhält und das Recht hat, es jederzeit zurückzufordern, wird von Luther als Wucher klassifiziert, weil der Kapitalverkäufer damit Zins und Tilgung ohne Rücksicht auf den tatsächlichen Ertrag des verkauften Kapitals erhält, was das Kaufgeschäft faktisch zum Darlehen macht. Gleiches gilt für den Zinskauf »mit blossem gelt«, d.h. ohne Bindung an eine bestimmte Produktivinvestition, und für den »blind[en] zinß kauf, der nit auff bahre benante stuck und stuck eins grunds, sondern in der gemeyn hyn auff vil gutter, in eynen hauffen gezogen, gemacht ist«.366 Mit der mittelalterlichen Wirtschaftsethik erkennt Luther zudem bestimmte Arten des Zinses an, nämlich als Ausgleich für tatsächlich entstandenen Schaden.367 Obwohl er Zinsforderungen nur unter bestimmten Bedin362

WA 15,293,29–294,20. WA 1,505,15–31; WA 6,6,17–8,33; WAB 3,307,33–59; WA 6,51,3–60,13; WAB 3,484– 486; WAB 10,349–352 (Nr. 3895). 364 LMA 7,736 (Hans-Jörg Gilomen). 363

365 »den zehenden odder (dar nach die not foddert) den neunden odder achten odder sechsten« (WA 15,321,16 f.). 366 WA 6,55,18; 57,22–24. 367 WA 51,343–352. Die Begründung des Zinses (»interesse«, d.h. »›quod inter est‹, nämlich zwischen der gegenwärtigen Lage der geschädigten Partei und der Lage, in der sie sich befände, wäre sie nicht geschädigt worden. Jenes ›interesse‹ ist die schädigende Partei gehalten, der geschädigten zu erstatten« [J. Wurm: Johannes Eck und der oberdeutsche Zinsstreit 1513–1515, 1997, 15]) mit dem Argument des damnum emergens, d.h. als Ausgleichszahlungen für tatsächlich entstandenen Schaden durch verzögerte Kapitalrückzahlung, ist für Luther dem weltlichen Recht und der Billigkeit gemäß: »Solchen Schadewacht heissen die Juristen bucher zu Latin Interesse, Vnd solch leyhen ist freylich kein wucher, sondern ein rechter, loblicher, ehrlicher dinest vnd gut werck dem nehesten erzeigt. Vnd wo die person dazu Christen ist, so ists auch ein Christlich werck«

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gungen für berechtigt hält und sogar der weltlichen Obrigkeit die Pflicht zur Aufhebung geltender Verträge zugestehen kann, gilt für den Kapitalschuldner die Pflicht, die Zinsen zu zahlen, wobei er allerdings gegen den Wucher protestieren soll. Als unzulässige Vermischung von Gesetz und Evangelium weist er die Thesen des Eisenacher Predigers Jakob Strauß zurück, daß ein Christ, der – ohne mit Gewalt dazu gezwungen zu werden – wucherische Zinsen zahlt, Christus und das Evangelium verleugne, und daß die Verweigerung der Zinszahlung somit ein heilsnotwendiger Bekenntnisakt sei.368

Schon diese Hinweise auf die nach Luther naturrechtlich legitimen Wirtschaftsaktivitäten zeigen, daß die vom Schöpfer gesetzte und durch das Naturrecht jeden Menschen verpflichtende Ordnung durch die Sünde beeinträchtigt und von immer neuer sündhafter Verkehrung betroffen ist.369 Getrieben vom Hochmut (superbia), die Subsistenzsicherung in die eigenen Hände nehmen zu können, maßen sich die Menschen Gottes Vollmacht an und verfallen dem Geiz (avaritia): das heißt der Gier nach immer mehr Besitz und der Unfähigkeit, ihren Besitz nur als Mittel zum Zweck – nämlich der Selbsterhaltung und der Fürsorge für den Mitmenschen – statt als Selbstzweck zu betrachten.370 Die gegen Gott gerichtete »idolatria« des Geizes371 und die gegen den Mitmenschen gerichtete egoistisch verzwecklichte »sorge« des Geizes372 äußern sich in unterschiedlichen Formen.373 (WA 51,345,4–7). Auch das lucrum cessans, d.h. die durch verspätete Rückzahlung des Kapitals entgangenen Gewinne, die durch eine anderweitige Investition des Kapitals möglich gewesen wären, kann für Luther Zusatzzahlungen begründen. Allerdings ist die Berechtigung und Höhe solcher Zahlungen von den konkreten Umständen abhängig. 368 J. Strauss: Hauptstücke und Artikel christlicher Lehre wider den unchristlichen Wucher, 1523 (in: Flugschriften der frühen Reformationsbewegung (1518–1524), ed. Laube, Bd. 2, 1983, 1073–1076.1076 f.). Nach Luthers Kritik (WAB 3, Nr. 673.674.720.733) relativiert Strauß 1524 seine Aussagen (J. Strauss: Daß Wucher zu nehmen und zu geben unserem christlichen Glauben entgegen ist, Teilabdruck in: Flugschriften der Bauernkriegszeit, ed. Laube / Seiffert, Berlin 21978, 178–189.589 f.). Luthers Kritik an Strauß wird dessen anders akzentuierter Wirtschaftsethik nicht wirklich gerecht, weil sie nicht dessen Bemühen würdigt, den inneren Zusammenhang von Glaube und Liebe gerade auch im wirtschaftlichen Handeln des Christen zum Zuge zu bringen (s. dazu J. Rogge: Der Beitrag des Predigers Jakob Strauß zur frühen Reformationsgeschichte, 1957, 71–86). 369 H. Reymann: Glaube und Wirtschaft bei Luther, 1934, 60–86. 370 Das deutsche Wort »Geiz« meint in Luthers Sprachgebrauch wie das lateinische »avaritia« sowohl den Aspekt des Behalten-Wollens als auch den des Mehr-HabenWollens (letzterer Aspekt wird im modernen Sprachgebrauch als »Habgier« oder »Habsucht« bezeichnet, Habgier ist nach dem entsprechenden Artikel im Grimmschen Wörterbuch »ein neues, doch gut [...] gebildetes wort, das noch nicht hundert jahre im gebrauche ist. bis 18. jahrh. drückt geiz noch immer nicht nur die begierde etwas für sich zusammenzuhalten, sondern auch zu erwerben aus« [DWb 4II,89]). Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund und zu Luthers Verständnis des Mehr-Haben-Wollens: R. Rieth: »Habsucht« bei Martin Luther. Ökonomisches und theologisches Denken, Tradition und soziale Wirklichkeit im Zeitalter der Reformation, 1996. 371 WA 17I,416,19 f.* 372 Geiz und Sorge werden von Luther immer wieder eng miteinander verbunden

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Die sündhafte Verkehrung des Umgangs mit weltlichem Besitz beginnt nicht erst mit manifesten Mißständen wie Wucher und betrügerischen Handelspraktiken. Sie beginnt schon damit, daß die meisten Menschen meinen, zwei Herren – Gott und dem Mammon – dienen zu können, ja geradezu dienen zu müssen. Denn eben aus dem Gefühl der Verantwortung und Verpflichtung für das eigene Haus sorgen sie sich um ihr tägliches Brot und machen durch diese Intention – das »cor avarum et thesaurizan[s]«374 – aus dem unproblematischen habere Mammon ein problematisches servire Mammon.375 Die Folgen dieser Einstellung stellt Luther seinen Lesern und Predigthörern wieder und wieder vor Augen: Die Menschen sind auf ihren eigenen Vorteil bedacht, halten ihr Geld zusammen und nehmen den Schaden des Nächsten billigend oder sogar bewußt in Kauf. Die Befreiung von den zahlreichen Aufwendungen für Kirche und Frömmigkeitspraxis begreifen sie nicht als Möglichkeit, ihren Besitz zum eigenen und gemeinschaftlichen Besten einzusetzen – etwa durch die Unterstützung der Pfarrer, des Bildungswesens oder der Armenfürsorge –, sondern als Freiheit, ihr egoistisches Sicherheitsstreben umso leichter durchzusetzen. Am krassesten äußert sich der Geiz im Wucher (usura) und in naturrechtswidrigen und unbilligen Handelspraktiken (fraus). Und weil beides nicht nur die offensichtlichste Folge der falschen inneren Ausrichtung des Menschen ist, sondern auch die Existenz des einzelnen und des Gemeinwesens gefährdet, beschäftigt Luther sich immer wieder damit. Er setzt damit also nicht nur die hoch- und spätmittelalterliche Tradition der wirtschaftsethischen Unterweisung fort,376 sondern reagiert auch auf die wirtschaftlichen Verhältnisse seiner eigenen Zeit. (z.B. WA 6,271,33–37; 272,1; WA 15,369,26 f.). 373 Nicht ohne Grund übernimmt Luther die Bestimmung des Geizes als der »wurtzel alles ubels« aus 1.Tim. 6,10 (WA 15,293,13). 374 WA 29,394,22*. 375 WA 20,494,20*. 376 Die Unterscheidung von Finanz- und Handelsgeschäften und die entsprechende Unterscheidung der beiden vielfach untergliederten Sünden von usura und fraus findet sich ähnlich bei den hoch- und spätmittelalterlichen Theologen. Gabriel Biel etwa spricht nacheinander (Coll. IV, d. 15, qq. 10+11) vom Handel mit Waren, bei dem im selben Vollzug Ware und Geld oder Ware und Ware ausgetauscht werden (»de negotio, in quo merx cum pretio simul tempore currunt« [4II,215]), und von den Geld- und Warengeschäften, bei denen Geld und Ware zeitlich entkoppelt werden (»dum emuntur quae futura sunt et pretium in prompto solvitur aut merx praesens emitur et pretium ad certum terminum solvendum exspectatur« [4II,215]) und bei denen die Gefahr des Wuchers besteht (s. auch die Abfolge von fraudulentia und usura bei Thomas von Aquin: S. th. 2a 2ae, qq. 77+78). Daß sich Luther in diese Tradition stellt, zeigt schon seine Untergliederung der Sünden gegen das siebte Dekaloggebot in den Decem praecepta, wo er neben Diebstahl (furtum) und Raub (latrocinium) auch Wucher (usura) und betrügerische Handelsgeschäfte (fraus) nennt (WA 1,500,27–502,15).

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Die beginnende frühkapitalistische Transformation der überkommenen Wirtschaftsverhältnisse führte im 15. und 16. Jahrhundert zu Veränderungen, die für die Zeitgenossen nur schwer nachvollziehbar waren und darum vor allem in moralischen und theologischen Kategorien reflektiert wurden. Die Veränderungen war gewaltig, man denke etwa an die Expansion von Montanindustrie, Güterproduktion, Fernhandel und Geldwirtschaft; an die Entstehung großer Vermögen und mächtiger privater Wirtschaftsakteure wie der Fugger; an die Preisrevolution durch inflationär oder deflationär wirkende Prozesse wie Münzverschlechterung oder Edelmetallzufluß, durch Warenverknappung wegen Bevölkerungszunahme und durch Abkoppelung der Preis- von der Einkommenssteigerung. In der Rückschau ist es leicht, diese Hand in Hand gehenden Veränderungen als einen sich mit innerer Notwendigkeit vollziehenden Entwicklungssprung zu verstehen, der zwar von krisenhaften Phänomenen und moralisch zurechenbaren Fehlentwicklungen begleitet war, der aber mit der modernen wirtschaftsgeschichtlichen Forschung als primär strukturgeschichtlich zu betrachtendes Umbruchgeschehen zu deuten ist. Wenn Luthers moralisch bestimmte Sicht des Wirtschaftslebens nach heutigen Maßstäben nicht immer sachgerecht ist, so lohnt es sich dennoch, sich seine Kritik vor Augen zu stellen. Denn weil die wirtschaftliche Transformation ein von einzelnen Menschen getragenes und gestaltetes Geschehen war, waren Luthers Stellungnahmen weder sachlich irrelevant noch geschichtlich wirkungslos. Luther sah sich in seiner eigenen Zeit mit einer Fülle wirtschaftlicher Mißstände konfrontiert.377 Der Geldverleih gegen Zinsen im kleinen wie im großen Maßstab, mit moderaten wie mit überzogenen Zinsen war weit verbreitet, und zwar sowohl offen als auch kaschiert durch Scheingeschäfte. Gängig waren Umgehungsgeschäfte, die die Zinszahlung als ein Verkaufsgeschäft konstruierten, bei dem der Kapitalgläu377 Die im folgenden geschilderten Mißstände und Krisen beschreibt Luther selbst an unterschiedlichen Stellen, oder sie lassen sich aus seinen wirtschaftsethischen Äußerungen erschließen. Wichtige Quellen sind Von Kaufshandel (hier v.a. WA 15,294,21–300,25; 304,24–313,33) und An die Pfarrherrn, wider den Wucher zu predigen. Die letztgenannte Schrift geht auf eine Predigt zurück, in der sich Luther mit der existentiell bedrohlichen und in einen apokalyptischen Horizont eingeordneten Teuerungswelle Ende der 1530er Jahre beschäftigte (s. auch die in den Universitätsakten bezeugten Versorgungsschwierigkeiten [Urkundenbuch der Universität Wittenberg, hg. v. W. Friedensburg, Teil 1, 1926, 214–220, Nr. 216–221] sowie die Hinweise in Briefen, Tischreden, Predigten und Schriften, z.B. WATR 4,99* [Nr. 4046]; WATR 4,329 f.* [Nr. 4472]; WAB 8,403–405 [Nr. 3319]; WA 47,721–730*; WATR 4,345* [Nr. 4496]; WATR 4,465* [Nr. 4746]; WATR 4,465 f.* [Nr. 4747]; WATR 4,351* [Nr. 4505]; WATR 4,369* [Nr. 4545]; WATR 4,466* [Nr. 4749]; WATR 4,410* [Nr. 4632]; WA 51,590,31–591,21; E. Eschenhagen: Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Stadt Wittenberg in der Reformationszeit, LuJ 9, 1927, 9–118, hier: 78–87).

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biger keinerlei Risiko zu tragen hatte. Problematisch war solcher Geldverleih vor allem dann, wenn es sich um Konsumtivkredite zur Überbrückung von Notlagen oder um Produktivkredite für die Landwirtschaft handelte. Denn im einen Fall wurde das Kapital nicht investiert und konnte so weder die Zinszahlungen noch die Kapitalrückzahlung tragen, und im anderen Fall waren Zins und Tilgung abhängig von schwankenden Erträgen. War hier der Zinssatz zu hoch und die Tilgungsfrist zu kurz bemessen, waren die Zahlungen unabhängig von der Einkommenssituation des Schuldners zu leisten und haftete der Schuldner mit seinem Gesamtvermögen, konnten selbst kleine Kredite den wirtschaftlichen Ruin bedeuten. Und das nicht nur für den Kreditnehmer, sondern auch für dessen Bürgen. Das Übernehmen von Bürgschaften war für Luther keine »tugent der liebe«, sondern Anmaßung göttlicher Vollmacht: »Es ist burge e werden eyn werck, das eym menschen zu hoch ist und nicht zugepurt und greyfft mit vermessenheyt ynn Gottis werck«. Denn der Bürge vertraut auf einen anderen Menschen und auf sich selbst, obwohl er weder seines eigenen Leibs und Guts, noch des eines anderen gewiß sein kann. Dadurch macht er sich »selbst zum Gott (Denn warauff eyn mensch trawet und sich verlesst, das ist seyn Gott)«.378 Luther selbst geriet mehrfach durch leichtfertig übernommene Bürgschaften in Schwierigkeiten.379 Auch im lokalen Wirtschaftsleben begegnete ihm der Wucher, etwa wenn bei Ratenzahlung Aufschläge verlangt wurden, die die Zeit zu einem geldwerten Faktor machten. Wichtiger waren im Handel aber andere Formen des Geizes, etwa wenn knappe oder begehrte Waren zu überteuertem Preis verkauft wurden. Luther wußte zwar um die Freiheit des Markts – im lokalen wie im allgemeinen Sinne –, hielt aber mit der mittelalterlichen Tradition des gerechten Preises (pretium iustum)380 daran fest, daß der Preis sich an Warenwert und Beschaffungsaufwand zu orientieren habe und nur in bestimmten Grenzen schwanken durfte. Darum wandte er sich auch gegen den Aufbau von Kartellen oder Monopolen durch anfängliches Preisdumping und die so ermöglichte Durchsetzung willkürlicher Preise. Warenverknappung und Preissteigerungen, wie sie etwa im Zuge der Lebensmittelteuerung Ende der 1530er Jahre in Mitteldeutschland existentielle Not verursachten, waren für ihn nicht marktwirtschaftliche Gegebenheiten, die innerhalb eines sich selbst regulierenden Systems immer nur phasenweise auftreten konnten, sondern vor allem Folge eines einzelnen 378 379

WA 15,299,1 f.9 f.

S. etwa den Brief Luthers an Eberhard Brisger vom 1. Februar 1527 (WAB 4,164 f. [Nr. 1078]; s.a. Brecht 2,100.146.201). 380 Biel: Coll. IV, d. 15, qu. 10, a. 1–3.

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Marktakteuren zurechenbaren moralischen Fehlverhaltens. Auf dem Markt begegnete ihm eine Vielzahl betrügerischer Praktiken von der Warenmanipulation über die Manipulation von Maßen und Gewichten bis zur irreführenden Präsentation der Ware. Luthers Kritik richtete sich aber nicht nur gegen die lokal und regional tätigen Händler, Bauern und adligen Gutsbesitzer, sondern er wußte auch um die großen überregional tätigen Finanz-, Bergbau- und Handelsgesellschaften. Schon in seiner Kindheit hatte er den Bergbau kennengelernt, dessen Intensivierung und Expansion – wie sie sich Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts gerade in Sachsen vollzog – große Investitionen und komplexe Geschäftsnetzwerke voraussetzte. Daß die zeitgenössischen Montanunternehmungen eine Luther verdächtige Form der Nutzung des von Gott in die Berge gelegten Reichtums waren, zeigt sich an seiner Ablehnung der ihm von Kurfürst Johann Friedrich angebotenen Übertragung von Bergwerksanteilen (Kuxe) – Luther konnte sich das ohne eigene Arbeit aus diesen Bergwerksbeteiligungen fließende große Einkommen nur durch illegitime Praktiken erklären.381 Ausdrücklich wandte sich Luther gegen die Fugger und die ihnen vergleichbaren Handelsunternehmen,382 denen er vorwarf, durch Kartell- und Monopolbildung Preise zu manipulieren und durch die interne Quersubventionierung unterschiedlicher Geschäftsbereiche etwaige Verluste auszugleichen und so – im Widerspruch zu der von Gott gegebenen Unsicherheit des Lebenserwerbs im Wechselspiel von Gewinn und Verlust – das Geschäftsrisiko zu minimieren und den Gewinn zu maximieren. Luthers Interesse für die großen Handelshäuser hing auch mit der zeitgenössischen Monopoldiskussion zusammen. Nachdem der Reichstag 1512 erstmals über die Antimonopolgesetzgebung diskutiert hatte, wurden der Wormser Reichstag 1521 und die Nürnberger Reichstage 1522 bis 1524 zum Hauptschauplatz der publikumswirksamen Auseinandersetzungen um die Wirtschaftspolitik des Reichs. Trotz der gegenüber den süddeutschen Handelshäusern mehrheitlich kritischen Haltung der Reichsstände zeigten die Reichstagsbeschlüsse und die durch den Reichsfiskal angestrengten Prozesse gegen die Handelsgesellschaften wegen der kaiserlichen Verzögerungstaktik und Schutzpolitik kaum Wirkung.383 Luthers wirt381

WATR 3,341,1–3 (Nr. 3471, Herbst 1536) und WATR 5,314,28–32 (Nr. 5675, 1544). So schon in der Adelsschrift (WA 6,466,31; s. auch 426,25–427,4). 383 DRTA.JR 3,554–644 und 4,467–524. Die zeitgenössische Diskussion und die Ver382

handlungen und Abschiede der Reichstage verwenden oft einen unscharfen Monopolbegriff, der neben Angebotsmonopolen auch andere wirtschaftliche Praktiken der großen Handelsgesellschaften (Preiskartelle, Exklusivverträge, spekulative Aufkäufe und Preisunterbietung durch Unterkostenverkauf u.a.) mitbezeichnet (F. Blaich: Die Reichsmonopolgesetzgebung im Zeitalter Karls V., 1967, 17–37).

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schaftsethische Schriften in der ersten Hälfte der 1520er Jahre sind auch in diesem Zusammenhang zu lesen. Ja, Luther hatte sogar die Hoffnung, daß die Reichstage in dieser Frage mehr ausrichten könnten als in Sachen der Religion.384 Luthers Erwartung obrigkeitlichen Einschreitens angesichts wirtschaftlicher Mißstände bezog sich nicht nur auf eine reichsrechtliche Regulierung der großen Handels- und Finanzhäuser, sondern auf die ganze Breite der geschilderten Äußerungsformen des Geizes in Wucher und Handelspraktiken. Weil Arbeit und Besitz Schöpfungsgegebenheiten waren, darum galt für den Umgang mit ihnen ein enger naturrechtlicher Rahmen, für dessen Einhaltung die weltliche Obrigkeit Sorge zu tragen hatte. Luther dachte dabei nicht nur an die Verfolgung illegaler Praktiken bis hin zur Aufhebung bestehender Verträge und zur Enteignung von Wucherern, sondern auch – entsprechend der durch biblische und antike Vorbilder385 legitimierten spätmittelalterlichen Praxis obrigkeitlicher Wirtschaftsregulierung – an verschiedene Lenkungsmaßnahmen: von der Preiskontrolle über die Festsetzung von Darlehenszinsen bis zur obrigkeitlichen Einmischung in den Markt, etwa durch Verkauf von subventionierten Nahrungsmitteln. An den grundlegenden Strukturmerkmalen des überkommenen Wirtschaftsgefüges wollte er jedoch nichts ändern: weder an der mobilitätshinderlichen geburtsständischen Gliederung der Gesellschaft noch an der Regulierung von Bodenbesitz und Handwerkswesen durch die Feudalstruktur und den Zunftzwang,386 noch an der auf Subsistenzsicherung angelegten, regional orientierten, Geld nur als Wertmesser und Tauschmittel nutzenden einfachen Warenwirtschaft. Das hängt vor allem damit zusammen, daß für Luther eine andere Wirtschaftsordnung gar nicht denkbar war. Weder die biblischen oder mittelalterlichen Utopien einer eigentumslosen Gesellschaft noch deren Umsetzungen in einigen Gruppierungen der radikalen Reformation nahm er als mögliche Alternative zum herrschenden Wirtschaftssystem wahr.387 Wichtiger aber noch 384 So bemerkt Luther in einem Brief an Spalatin vom 1. Februar 1524 mit Blick auf die Monopoldiskussion: »Atque vtinam Comicia illa saltem ea curarent, que¸ ad publicum comodum pertinent, vt taceam Euangelii causam; abunde haberent, quod agerent« (WAB 3,241,7–9 [Nr. 709]). 385 Luther verweist zum einen auf das mosaische Recht (z.B. WA 15,321,14–322,26) – das er aber nicht wie andere zeitgenössische Autoren zur Norm christlichen Umgangs mit zeitlichen Gütern macht –, zum anderen auf griechische und römische Vorbilder (WA 51,357–367). 386 Das Zunftwesen wollte Luther allerdings reformiert wissen (Holl 1,274 f.; 3,130– 133). 387 Das Streben nach der Wiederherstellung eines idealen Urzustands – sei es der Schöpfung, sei es der Gesellschaft, sei es der Kirche – hatte zur Folge, daß im mystischen Spiritualismus, im Täufertum und in der bäuerlichen Aufstandsbewegung Ideen zur Verwirklichung einer »kommunistischen« Wirtschafts- und Sozialordnung kursierten, die

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ist, daß unter den Bedingungen der Erbsünde keine ideale innerweltliche Wirtschaftsordnung möglich ist. Die weltliche Obrigkeit kann nur in den gegebenen Strukturen den einreißenden Mißständen »steuren und wehren mit gewalt«. Denn »Weltlich recht ist ein schwach, geringe, vnrein recht, das kommerlich, den zeitlichen friede und des bauchs leben erhellt [...]. Darumb kans nicht allen sunden wehren, sondern so viel es muglich ist«.388 Das heißt aber nicht, daß die Welt der sündhaften Deformation des status oeconomicus durch den Geiz mehr oder minder hilflos gegenübersteht. Zwar ist die innerweltliche Ordnungsmacht des Rechts schwach, aber sie hilft »zu mehren und nehren das menschlich geschlecht vmb der heiligen willen zu ihenem ewigen leben«.389 Und diese Heiligen führen in der Welt ein sich aus dem Glauben in der Nächstenliebe vollziehendes Leben, das das Gegenbild zur idolatria des Geizes ist. Die Wirklichkeitssicht des Glaubens weiß um die Schöpfung und ihre Verkehrung durch die Sünde, und sie bringt eine grundlegend neue Motivierung und Ausrichtung des Umgangs mit Arbeit und Besitz mit sich. Zwar ißt auch der Glaubende sein Brot im Schweiße seines Angesichts »eusserlich«, aber er tut das »mit e glauben und frolichem gewissen ynnerlich«,390 so daß die Schöpfungswerke Gottes (»Omnia opera quae deus creavit«) »in dem glauben ghen«.391 Der Glaubende bejaht Arbeit und Besitz sowie deren naturrechtliche Ausgestaltung als Grundgegebenheiten des menschlichen Lebens. Aber er weiß auch darum, daß im neutestamentlichen Liebesgebot die eigentliche Intention des Naturrechts allererst zum Tragen kommt, daß sich sein Umgang mit Arbeit und Besitz also nicht allein im naturrechtlichen Rahmen bewegen kann. Das christliche, die Schöpfungsordnung in ihrer eigentlichen Absicht ernstnehmende Verhältnis zur Welt ist das Leben in der Christusnachfolge entsprechend der Bergpredigt. Das meint hier nicht wie bislang selbstverständlich vorausgesetzt, ein Leben in äußerer Armut und im freiwilligen Verzicht auf weltlichen Besitz, wie es vom Mönchtum als Bedingung christlicher Vollkommenheit geführt wurde.392 Solche mit Mt. aber nur punktuell Umsetzung fanden, etwa im Täuferreich von Münster (G. Schmoller: Zur Geschichte der national-ökonomischen Ansichten in Deutschland während der Reformations-Periode, 692–712; TRE 9,423–425 [Hans-Jürgen Goertz]). Die in Apg. 4,32 belegte Gütergemeinschaft der Jerusalemer Urgemeinde hat für Luther keine grundsätze liche Bedeutung. Denn das »Euangelion [macht] nicht die guter gemeyn, on alleyne, e wilche solchs williglich von yhn selbs thun wollen« (WA 18,359,6 f.). 388 WA 51,354,13–16; 355,14. 389 WA 51,354,14 f. 390 WA 15,374,18 f. 391 WA 11,179,6*. 392 »status religionis est quoddam exercitium et disciplina per quam pervenitur ad perfectionem caritatis. Ad quod quidem necessarium est quod aliquis affectum suum

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19,21 begründete äußerliche Armut ist für Luther in der vom mittelalterlichen Mönchtum beanspruchten Form gar nicht möglich, weil alles menschliche Leben auf Nahrung, Kleidung, Unterkunft etc. angewiesen ist und weil die Bibel das ausdrücklich bestätigt.393 Arbeit und Besitz sind also nicht bloß allgemeinmenschliche Gegebenheiten, sondern auch für den Glaubenden selbstverständliche Rahmenbedingungen seines christlichen Lebens. Deshalb kommt es nicht auf die äußerliche Freiheit von Arbeit und Besitz, sondern auf den verantwortlichen Umgang mit beidem an. Was die Bergpredigt hierzu sagt, entfaltet Luther in seiner immer wieder verwendeten Unterscheidung »drey[er] unterscheydliche[r] grad und e orden [...], wol und vordinstlich handelln mit den zeytlichen gutern«.394 Angesichts der von »geytz und wucher« beherrschten gegenwärtigen e »ferlichen zeyt« ist es notwendig, »yn den hendellnn zeytlicher guter mit rechtem unterscheyd [zu] wandelnn, mit vleyssigem auff mercken des heyligen Evangelii Christi unsers herrn«.395 Dieses Evangelium ist vor allem in der fünften Antithese der Bergpredigt, und zwar in den Forderungen des Leidens, Gebens und Leihens (Mt. 5,40.42), enthalten. Der erste »grad und orden« ist die Bereitschaft, wie Christus die zeitlichen Güter preiszugeben und Gewalt zu erdulden.396 Die Forderung der Gewaltlosigkeit und des willigen Erleidens bestimmt das ganze christliche Leben, nicht nur den Umgang mit dem Besitz. Denn der Christ steht durch den Glauben in der Christusgemeinschaft und damit in der Kreuzesnachfolge und wie Christus ist er »altzeyt bereyt [...], mehr und mehr zu leyden«.397 Diese Forderung des Erduldens der Gewalt ist nicht bloß – wie die Ehelosigkeit – ein Rat für die Vollkommenen und sie läßt sich auch nicht abmildern, indem man auf das Recht zur Gegen- und Notwehr, auf biblische Beispiele für Gewaltanwendung oder auf die Forderung der natürlichen Vernunft, dem Bösen im Interesse der Erhaltung der Ordnung zu widerstehen, verweist. Das göttliche Recht der Bergpredigt und das in seiner äutotaliter abstrahat a rebus mundanis [...]. Ex hoc autem quod aliquis res mundanas possidet, allicitur animus eius ad earum amorem. [...] Et inde est quod ad perfectionem caritatis acquirendam, primum fundamentum est voluntaria paupertas, ut aliquis absque proprio vivat: dicente Domino, Matth. 19,[21]: Si vis perfectus esse, vade et vende omnia quae habes et da pauperibus, et veni, sequere me« (Thomas von Aquin: S. th. 2a 2ae, q. 186, a. 3, resp.). 393 WA 39II,39,3–40,15; WA 47,337,32–362,32*. 394 WA 6,36,16 f. Luther erwähnt diese Unterscheidung häufig beiläufig (z.B. WA 10III,227,1–4.22 f.*; WA 16,554,17–555,10*; WA 19,321,1–9*; WATR 5,269,2–4* [Nr. 5593]) und entwickelt sie mehrfach ausführlicher (WA 6,3,5–5,2; WA 6,36,5–51,2; WA 15,300,26–304,10; WA 51,376–413). 395 WA 6,36,7.12.13–15. 396 WA 6,36,17–41,11. 397 WA 6,36,30 f.

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ßerlichen Ordnungsfunktion von Luther anerkannte kirchliche und weltliche Recht schließen sich wechselseitig aus und lassen sich durch keine die Gültigkeit der Bergpredigt relativierende Stufenethik miteinander vereinbaren. Für den Christen gilt nur die göttliche Bergpredigt-Forderung: »Es hilfft keyn auß redt, es ist schlecht ein gepot, dem wir schuldig seyn zuvolgen, wie Christus und seyne heyligen yn yhrem leben uns dasselb bestetiget und furtragen haben«.398

Der Christ steht nur insofern unter dem Schutz des weltlichen Rechts, als Dritte im Interesse der innerweltlichen Ordnung die Obrigkeit für den Christen zu Hilfe rufen können.399 Indem der Christ für sich selbst angesichts von Gewalt auf Gegengewalt verzichtet, ermöglicht er ein »fridlich, reyn und hymelisch leben«400 und trägt zum Frieden in der Welt bei, weil das Erleiden von Gewalt die Eskalation von Gewalt und Gegengewalt durch Leiden unterbricht. Diese Einschärfung der Leidensforderung der Bergpredigt zeigt den eschatologischen Horizont christlicher Existenz: Die Bergpredigtgebote üben die Weltdistanzierung ein und richten den Christen auf die jenseitige Existenz aus. e

»solch gepot wollen unß loßen von der wellt und begirig machen des hymelß, e drumb sollt man den trewen rad gottis fridlich und frolich auffnehmen, dan wo er das nit thet und unß nit ließ unrecht und unfrid widderfaren, mocht sich das menschlich hertz nit erhalten, es vorwicklet und vorklebet sich zu tiff yn den zeytlichen dingen, darauß dan folget uberdrutz und unachtsamkeyt der ewigen e guter ym hymell«.401

Allerdings bedeutet diese innere Weltdistanz nicht, daß das diesseitige Leben einzig vom Leiden bestimmt ist. Es »ist nit zubesorgen, ab uns schon alles genommen wurd, das uns got vorlasse und auch nit zeytlich vorsorge«.402 Das Erleiden ist darum zwar das grundlegende, aber nicht das einzige Charakteristikum christlichen Umgangs mit Arbeit und Besitz. Der zweite Grad ist, »das wir sollen geben frey umbsonst yderman, der seyn bedarff odder begeret«.403 Dieser Grad ist im Vergleich mit dem ersten geringer, aber »schweer und pitter denen, die mher schmecken die e zeytlichen dan die ewigen gutter, dan sie haben nit ßovill vortrawen yn gott, das er sie erneren muge odder wolle yn dißem elenden leben«.404 Wer aber Gott vertraut, daß er einem das ewige Leben gibt, der muß ihm umso mehr vertrauen, daß er einem das zeitliche Leben erhält. Diesen Grad 398

WA WA 400 WA 401 WA 402 WA 403 WA 404 WA 399

6,39,3–5. 6,39,23–40,7. 6,40,9. 6,41,6–11. 6,41,1 f. 6,41,12–47,3; Zitat: 41,16 f. 6,41,19–21.

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kennt auch das Alte Testament mit seinen Geboten der Unterstützung Armer (Dtn. 15,4.11), was zeigt, wie »geringe« er verglichen mit dem ersten Grad ist, was zugleich aber auch deutlich macht, daß es gerade unter Christen keine Armut und keinen Bettel geben darf. Und so, wie der erste Grad nicht abgemildert werden darf, so darf man sich nicht dem zweiten Grad entziehen, indem man etwa sein Geben auf Wechselseitigkeit hin anlegt, seine Feinde davon ausschließt, nur in der äußersten Notlage hilft oder nur bestimmte Zwecke unterstützt. Christus fordert, unterschiedslos allen Bittenden zu geben, und zwar ohne Rücksicht auf Gegenleistung, und sich dabei besonders um die bedürftigen »lebendigen glidmaßen Christi« zu kümmern, was er selbst nach Mt. 25,42f. im Jüngsten Gericht zur Grundlage seines Urteils machen wird. Allerdings hat die Verpflichtung zu geben auch ihre Grenzen, sie darf nämlich den Gebenden nicht überfordern und sie darf nicht ausgenutzt werden. Die Begrenzung des Gebens durch die Leistungsfähigkeit des Gebenden ist begründet in der Priorität der dem Christen anvertrauten Angehörigen seines Hauses – hier gilt die Pflicht zur »cura charitatis«405 – und in der dauerhaften Erhaltung der Möglichkeit zu geben: »du bist am meysten und ersten schuldig, deynem weyb und kind und gesind die notturft zu schaffen, und must yhn dasselb nicht entwenden, das yhn von dyr e gepurt«.406 – »Sol ein Christ geben, so mus er zuvor haben, Was nichts hat, das gibt nichts. Und sol er morgen oder vber morgen, oder vber ein iar auch geben, Denn Christus heist mich geben so lange ich lebe, so kan ers nicht heut alles weg geben«.407

Der Schutz vor Ausnutzung bezieht sich auf die Vorspiegelung von Bedürftigkeit durch fremde Betrüger und »faule[ ] leüte«, die sich darauf verlassen, »das die Christen und frome leute gerne geben«.408 Um Überforderung und Ausnutzung zu vermeiden, plädiert Luther dafür, daß die weltlichen und kirchlichen Obrigkeiten die örtliche Kirchenfinanzierung und Armenunterstützung so regeln, »das eyn iglich statt und fleck yhre kirchen, turn, glocken baweten unnd yhre arme leut selb vorsorgeten, das der bettell gar abe ging, oder yhe nit alßo tzu ging, das eyn iglich fleck seyne kirchen oder armen ynn allen andernn steten erbettellt«409 und daß 405 Während dem Glaube die Sorge verboten ist, nimmt die Liebe die Sorge auf sich: »Si maritus, dicat: mihi commissa uxor, liberi, familia, oportet curem, ut edant. Das heist fur die ander gsorgt, quia est cura charitatis. [...] Di sorg ghe nicht weiter denn wie er die erbeit ausricht: pro esu et vestitu sinat dominum solicitum« (WA 27,345,13–18*; s. auch WA 32,459,6–39* zur »sorge der liebe« als »sorge des ampts«). 406 WA 15,303,10–12. Diese Aussage steht zwar im Zusammenhang der dritten Weise – des Leihens – gilt aber genauso für die zweite Weise. 407 WA 51,384,4–7. 408 WA 51,383,1–384,3. 409 WA 6,45,23–26.

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8. Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

nicht fremde Kirchenbauprojekte und Arme unterstützt werden. Die hier angedeutete Neuregelung der Kirchenfinanzierung und Armenunterstützung führte im Laufe der 1520er und 1530er Jahre zur Überprüfung der kirchlichen Finanzverhältnisse vor Ort und zur Einrichtung einer aus Spenden und Vermögensanlagen gespeisten Kasse, um kirchliche Ausgaben und Hilfe für bedürftige Gemeindemitglieder zu finanzieren (gemeiner Kasten).410 Der dritte, geringste, ebenfalls bereits im Alten Testament (Dtn. 15,7f.) o gebotene Grad »die zeytlichen guter zu handeln« ist, »das wir willig und gerne leyhen oder borgen sollen, an allen auffsatz und zinß«.411 Die Pflicht zu leihen – gemeint ist, auf Christi Zusage hin sein Gut ohne Zins zu verleihen mit der Vereinbarung, das Entliehene nach einer gewissen Zeit wieder zurückzuerhalten –, gilt gegenüber allen Menschen, auch den Feinden. Leihen gegen Zins ist Wucher und verstößt gegen die Forderung von Mt. 5,42, gegen das »naturlich gesetze« der Goldenen Regel und gegen »das alte und new gesetz«, genauer gegen das biblische Gebot, den Nächsten zu lieben wie sich selbst (Lev. 19,18; Mt. 22,39). Daß das zinslose Leihen als wirtschaftsethische Implikation der Goldenen Regel und des Liebesgebots als nicht praktikabel gilt und faktisch kaum befolgt wird, nimmt dieser Forderung nichts von ihrer Verbindlichkeit. Ja, Luther sieht in der Mißachtung der Forderung von Mt. 5,42 eine schwerwiegende Gefährdung des menschlichen Zusammenlebens im allgemeinen durch hemmungslosen Egoismus und endlosen Rechtsstreit und die »tzurstorung gottis reych, das do ist frid unnd eynickeit ynn bruderlicher lieb unnd trew«412 im besonderen durch Christen, die meinen, im Wirtschaftsleben von der Goldenen Regel und dem Gebot der Nächstenliebe dispensiert zu sein. Die drei Weisen des christlichen Umgangs mit dem Besitz, wie sie der im Winter 1519/20 entstandene große Wuchersermon enthält, wiederholt Luther in der Folgezeit immer wieder, wobei er auch andere Akzente setzt. Während der große Wuchersermon die Radikalität der Bergpredigt betont und eine auch äußerlich sichtbare Christusnachfolge einfordert, weist etwa die 1539 entstandene Schrift An die Pfarrherrn, wider den Wu410 M. Beyer: Die Neuordnung des Kirchengutes (in: H. Junghans [Hg.]: Das Jahrhundert der Reformation in Sachsen, 22005, 93–114). Luther war an dieser Neuordnung von Beginn an beteiligt, anfangs durch schriftliche Gutachten wie die Vorrede zur Leisniger Kastenordnung von 1523 (WA 12,1–10.11–15.16–30), später durch seine Tätigkeit als kurfürstlicher Berater und Visitator. In seiner Vorrede kritisiert Luther den Zinskauf und verlangt eine Neuordnung der auf dem Zinskauf beruhenden kirchlichen Einnahmen (WA 12,14,25–15,7; 15,23–25). 411 WA 6,47,4–51,2; Zitat: 47,4–6. 412 WA 6,49,32 f.

8.1. oeconomia

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cher zu predigen zusätzlich auf die Innendimension dieses Bergpredigtgehorsams hin. Das ist bereits im großen Wuchersermon angedeutet, wenn Luther beiläufig auf Augustins Bergpredigtdeutung verweist, »der diße wort Christi alßo auß legt, das man den mantell soll faren lassen nach dem rock secundum preparationem animi, das ist, man soll dar zu bereyt seyn ym hertzen«. Das ist für Luther so zu verstehen, daß man sowohl dazu verpflichtet ist, »zu geben eußerlich yn der thatt«, als auch dazu, »ym hertzen ynnerlich [...] bereyt und geschickt [zu] seyn, solchs zu thun«.413 Für Luther zielt die Bergpredigt natürlich auf die äußerliche Befolgung, aber eben auch und zuerst auf eine bestimmte, allem Handeln vorausliegende und dieses erst ermöglichende innere Haltung. Diese innere Haltung ist in Mt. 6,3 gemeint, wenn hinsichtlich des Almosengebens gefordert wird, »das deine lincke hand nicht wisse was deine rechte hand thut«.414 Gemeint ist damit die auch an anderen Stellen des Neuen Testaments geforderte Herzenseinfalt, die das gute Werk um seiner selbst willen und ohne Nebenabsichten tut. Für Luther ist das eigentlich Schwere am Bergpredigtgehorsam gar nicht »ihenes geben, [...] da die hand oder beutel gibt beide feinden und freünden«, sondern »dis geben, aus Einfeltigem hertzen«, das »weder, gelt, muhe noch erbeit« kostet, sondern »allein das sich das hertz recht drein schicke«.415 Während für Luther »Christlicher handell und woll brauch zeytlicher guter stet in den dreyen obgesagten graden odder weyßen, geben umbsonst, leyhen an auffsatz unnd mit frid faren lassen, was mit gewalt genommen wirt«,416 gilt von den weiteren »grad und weyß, die zeytlichen guter zu handelnn, als kauffen, erben, bescheyden und der gleychen, die mit weltlichem und geystlichem recht vorfasset seyn«, daß durch diesen von der Bergpredigt nicht betroffenen und naturrechtlich legitimierten Umgang mit Besitz »niemant besser noch erger wirt fur gott, dan das ist keyn Christlich vordienst, ßo du ettwas kauffst, erblich besitzist odder sonst redlicher weyß uber komist«.417 Hier eröffnet sich für den Christen also jenseits der Trias von Leiden, Geben und Leihen ein weites Feld wirtschaftlicher Aktivitäten. Ja, Luther kann sogar so weit gehen, diese Freiheit nicht nur für neutral zu erklären, sondern auch als vierte Weise christlichen Umgangs mit Besitz positiv zu qualifizieren. Bezeichnenderweise tut er das in seiner an die christlichen Kaufleute adressierten Schrift 413 414 415

WA 6,38,5–7.9 f. WA 51,386,10 f. WA 51,389,2–5. Ähnliches sagt Luther auch vom Leihen und Leiden (WA 51,394,4–

13; 400,13). 416 WA 6,51,10–12. 417 WA 6,51,4–8.

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8. Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

von 1524. So sehr die Bergpredigt eine bestimmte innere Haltung und ein bestimmtes äußeres Verhalten des Christen fordert, so wenig hindert sie ihn daran, in unterschiedlichsten Bereiche wirtschaftlich tätig zu werden. Das aber verlangt von den Predigern und Seelsorgern, in ihrer Unterweisung klare Grenzlinien zu ziehen und aufzuzeigen, wo und wie Christen mit ihrer Arbeit und ihrem Besitz wirtschaftliche Aktivität entfalten können. Luther tut das in seiner Schrift an die Kaufleute exemplarisch für eine Berufsgruppe:418 »Die vierde weyse ist keuffen und verkeuffen, und das mit bargelt odder wahr mit wahr betzalen«, also ohne Borgen und Bürgen.419 Weil »keuffen und verkeuffen eyn nottig ding ist, des man nicht emperen und wol Christlich brauchen kan sonderlich ynn den dingen, die zur nott und ehren dienen«,420 kann der »Christliche[] kauffmann« am Wirtschaftsleben teilhaben. Allerdings muß er einige Regeln befolgen, insbesondere soll er sich direkt mit Bargeld oder durch Warentausch bezahlen lassen, d.h. auf keine anderen Zahlungsmodalitäten und keine Bürgschaftsgeschäfte eingehen. Luther hält die Entkopplung von Kaufgeschäft und Bezahlung und die bargeldlose Abwicklung von Handelsgeschäften für ein Grundübel, weil beim Verzicht auf die Bezahlung mit Bargeld oder Ware die Möglichkeit für riskante Geschäfte und Betrügereien gegeben ist, und vor allem, weil sich hier ein Einfallstor wucherischer Praktiken auftut. Unter Christen allerdings hält er einen Verzicht auf Barzahlung für möglich, begegnen sie sich doch gegenseitig in der Bereitschaft, auf die Durchsetzung des eigenen Rechts zu verzichten und benötigen darum nicht die vor den problematischen Konsequenzen dieser Haltung sichernde Begrenzung auf ungefährliche Geschäftspraktiken. Selbstverständlich ist für christliche Kaufleute, daß sie im Wissen um die Unverfügbarkeit des guten Gelingens ihrer Geschäfte etwaige Verluste hinnehmen und sich nicht göttlich Verfügungsmacht anmaßen, indem sie für andere bürgen. Als Prediger hat Luther aber nicht nur die Aufgabe, zum rechten Umgang mit Arbeit und Besitz anzuleiten, indem er in Anlehnung an die Bergpredigt die drei bzw. vier Grade zu »handelln mit den zeytlichen 418 Bemerkenswert ist Luthers Einleitung zu Von Kaufshandlung, wo er zwar den traditionellen Vorwurf gegen die Kaufleute wiederholt, daß sie »schwerlich on sunde o e seyn mugen«, und darauf hinweist, »das unter yhrem handel manch boser griff und schedliche fynantze [Geldgeschäfte] ym brauch sind« (WA 15,293,9–12), diese Vorwürfe aber eben nicht verallgemeinert und damit das Christsein und die Tätigkeit als Händler als einander ausschließende Bestimmungen betrachtet. Gerade auch Kaufleute können als solche christlich leben, weshalb die Kirche ihnen gegenüber die Pflicht hat, ihre Arbeit positiv zu würdigen und sie zur christlichen Wahrnehmung ihrer Berufspflichten anzuleiten. 419 WA 15,303,19–304,10. 420 WA 15,293,29–31.

8.1. oeconomia

453

e

gutern« vor Augen stellt, sondern er muß seiner Unterweisung im Konfliktfall auch durch Kirchenzuchtmaßnahmen Geltung verschaffen. Ausgeführt hat Luther das am Beispiel des Wucherers: Das Vorgehen gegen Gemeindeglieder, die sich des Wuchers schuldig machen, beginnt mit der Unterweisung und Ermahnung in der Predigt und im Seelsorgegespräch, umfaßt aber auch den Ausschluß offensichtlicher Wucherer aus der Abendmahlsgemeinschaft oder die Verweigerung des christlichen Begräbnisses.421 Aber die Möglichkeiten des Predigtamts, wirtschaftliche Mißstände anzugehen und Geiz und Wucher zu bekämpfen, sind für Luther ähnlich eingeschränkt wie die der weltlichen Obrigkeit. Die Welt ist gegenüber der Evangeliumspredigt taub und spottet sogar über ihre Beanspruchung wirtschaftsethischer Kompetenz.422 Luthers Wucherschriften verstehen sich deshalb als Erinnerung an die zutiefst anstößige reine Lehre Christi, wie sie die fünfte Bergpredigtantithese enthält.423 Letztlich steht der Christ in einer Welt voll von »vneinickeit, feindschafft, has, neid, rauben, stelen, kratzen, reissen, schaden vnd vnsaglicher bosheit«, die von Gott auf wunderbare Weise erhalten wird und in der der Christ in seinem jeweiligen »ampt« zu leiden hat. Das Leben aus dem Glauben im innerweltlichen status oeconomicus ist darum immer auch leidvolle Konfrontation mit der Welt.424 Aber es ist ein Leben im Horizont des im Kommen begriffenen Gottesreichs, weshalb der Glaubende sich nicht um sein Leben sorgt,425 sondern der Fürsorge Gottes anvertraut und »am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner gerechtigkeit« trachtet – gerade darum fällt ihm alles Lebensnotwendige zu (Mt. 6,33).426 421

WA 51,367,10–368,16. Die Exkommunikation hat Luther selbst praktiziert: »Hac hebdomada etiam nobilem quendam Heinrichum Ryder, insignem usurarium, in faciem corripuit et suo pastori prohibuit, ne illum ad sacramenta admitteret, qui 30 florenos a 100 singulis annis auderet accipere« (WATR 4,114,11–14* [Nr. 4073a, 17.10.1538]; s. auch WATR 5, Nr. 5216.5586.5593). Eine Aufhebung der Exkommunikation setzt Buße und Wiedererstattung des Erwucherten voraus. Der Ausschluß von der Kommunion war auch im Spätmittelalter die kirchliche Strafe für unbußfertige publici usurarii (Biel: Coll. IV, d. 9, qu. 2, a. 3, dub. 2 G [4I,336]). 422 Luther berichtet im Mai 1540, der Kaufmann Bonaventura Fortenbach habe, als er ein Werk Luthers über den Wucher gesehen habe, gesagt: »Si ego scriberem commentarium in Lucam, omnibus viderer ineptus; sic etiam Lutherus, cum scribit de usura, cum is nunquam versatus sit in eo quaestu« (WATR 4,560,13–15* [Nr. 4863]). 423 Am 18. Dezember 1519 schreibt Luther an Lang: »Sermonem de usura sub incudem revocavi, facturus, ut multo plures offendat Christi pura doctrina« (WAB 1,597,13 f. [Nr. 232]). Vielleicht bezieht sich Luthers ausdrückliche Nennung der Fugger in der Adelsschrift (WA 6,466,31) auf eine vorangegangene Kritik an seinem Wuchersermon aus dem Kreis der die Fugger unterstützenden Theologen und Kirchenleute. 424 WA 51,411,10–412,17. 425 »wer Gott gleubt, der sorget nicht fur den morgen, lesst yhm benue gen heutte und thut seyn erbeyt mit freuden und stillem hertzen« (WA 15,374,13 f.). 426 Luthers Auslegung von Mt. 6,25–34 ist ganz auf diesen zuversichtlichen Ton gestimmt (WA 32,458–472*).

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8. Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

8.2. politia Bezugsrahmen des christlichen Lebens ist nicht nur der persönliche Nahbereich des Hauses, sondern auch das Gemeinwesen. Der Christ findet sich auch im status politicus vor, indem er in die gesellschaftlich-staatlichen Strukturen eingebunden ist und in ihnen verantwortlich handeln muß. Neben die Hausstandsethik tritt darum die politische Ethik, deren theologische Grundlegung bereits oben (7.2.) behandelt wurde.427 Auch sie entfaltete Luther seit den 1520er Jahren in engem Zusammenhang mit der reformatorischen Bewegung und den Anfängen des reformatorischen Landeskirchentums. In drei Zusammenhängen finden sich Äußerungen zur politischen Ethik. (1) Von den frühesten bis zu den spätesten exegetischen Vorlesungen und Predigtreihen äußert Luther sich auch immer wieder zur politischen Ethik, und zwar zum einen bei der Auslegung einschlägiger biblischer Texte wie Röm. 13,1–7 und 1. Petr. 2,13–17, zum anderen aber auch da, wo das Thema nur beiläufig angesprochen oder von Luther aus dem biblischen Text erschlossen wird.428

427 In der Forschung wird die politische Ethik seit den 1930er Jahren immer eng mit der Unterscheidung der beiden Regimente und Reiche verbunden. An Literatur zu diesem Thema ist darum auf die entsprechenden teils mehr fundamentaltheologisch, teils mehr sozialethisch akzentuierten Darstellungen zu verweisen (s. u. Anm. 441). – An wichtigen Darstellungen von Luthers politischer Ethik sind darüber hinaus zu nennen: H. Jordan: Luthers Staatsauffassung: ein Beitrag zu der Frage des Verhältnisses von Religion und Politik, 1917 (wertvoll wegen der zahlreichen Zitate und der ausführlichen Berücksichtigung der Entwicklung nach 1526); W. Elert: Morphologie des Luthertums, Bd. 2, 21965, 313–350; Harald Diem: Luthers Lehre von den zwei Reichen untersucht von seinem Verständnis der Bergpredigt aus. Ein Beitrag zum Problem: »Gesetz und Evangelium«, 1938, 50–98 (mit zahlreichen gut gewählten Lutherzitaten verwobener Überblick); P. Althaus: Die Ethik Martin Luthers, 1965, 116–164; E. Wolgast: Die Wittenberger Theologie und die Politik der evangelischen Stände. Studien zu Luthers Gutachten in politischen Fragen, 1977, 20–94; J. Cargill Thompson: The Political Thought of Martin Luther, 1984; M. Basse: Ideale Herrschaft und politische Realität. Luthers Auslegung des 101. Psalms im Kontext von Spätmittelalter und Reformation (ZKG 114, 2003, 45–71). 428 Das Alte Testament mit seinen Geschichtserzählungen (hier vor allem die Urgeschichte und die Erzelternerzählungen der Genesis, die Luther in einer Predigtreihe 1523/24 und in der Genesisvorlesung 1535 bis 1545 auslegt, sowie die Samuel- und Königebücher, auf die Luther im Zusammenhang der Auslegung der David oder Salomo zugeschriebenen Psalmen und Weisheitstexte zu sprechen kommt), seinen Gesetzestexten (hier sind vor allem die Auslegungen von Ex. 18, Dtn. 16 sowie des Dekalogs zu nennen, wie sie beispielsweise die Predigtreihen und Vorlesungen über die Bücher Exodus und Deuteronomium in den 1520er Jahren sowie die Katechismuspredigten und Katechismen enthalten), seinen Weisheitstexten (Vorlesungen über den Prediger Salomo [1526] und über das Hohelied [1530/31]; hierzu: E. Wölfel: Luther und die Skepsis. Eine Studie zur Kohelet-Exegese Luthers, 1958, 196–238; W. Maurer: Der kursächsische Salomo. Zu Luthers Vorlesungen über Kohelet (1526) und über das Hohelied (1530/31), in: W. Sommer [Hg.]: Antwort aus der Geschichte, 1969, 99–116) und seiner von Luther der Prophetie zugeordneten Apokalyptik (z.B. Luthers Widmungsbrief zu seiner Da-

8.2. politia

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(2) Was Luther aus den biblischen Texten lernte, ließ er immer auch in die ihn beschäftigenden Probleme und Auseinandersetzungen einfließen. Am Beginn der gegenwartsorientierten Anwendung exegetischer Erkenntnisse stand die sich aus dem Ablaßstreit entwickelnde Auseinandersetzung mit der Papstkirche.429 Dadurch, daß Luthers theologische Gegner im Ablaßstreit und dann auch die kurialen Ankläger im Häresieprozeß den Fokus von der theologischen Auseinandersetzung um die Buße und die Soteriologie auf die Stellung Luthers zur Papstkirche und damit die Ekklesiologie verschoben, war Luther gezwungen, sich damit zu beschäftigen. Er tat das nicht nur in Form einer theologischen Besinnung auf das biblische Verständnis der Kirche und des kirchlichen Amts, die den geistlichen Charakter der Kirche betont herausstellte, sondern auch in Form einer kirchenrechtlichen Auseinandersetzung mit dem spätmittelalterlichen Papsttum. Seine eigene Beschäftigung mit dem Kirchenrecht und seine Rezeption der zeitgenössischen Kirchenkritik, wie sie etwa im Humanismus oder der Gravamina-Bewegung virulent war, führten Luther zur Bestreitung der politischen Ansprüche der Papstkirche, zur Erkenntnis der Eigenständigkeit der weltlichen Obrigkeit und zur Forderung des Engagements der weltlichen Obrigkeit im Dienste der Kirchenreform. Die im Sommer 1520 entstandene Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung 430 ist die programmatische Zusammenfassung dieser Auseinandersetzung und in mehrfacher Hinsicht wichtig für das Werden von Luthers politischer Ethik. Zwar enthält sie noch nicht die in den Folgejahren entwickelten begrifflichen Verdichtungen; aber sie zeigt, daß Luther die weltliche Obrigkeit als gegenüber der Kirche selbständige Größe denkt, sie als legitimen und notwendigen Teil der innerweltlichen Ordnung anerkennt und sie in die Verantwortung für die Kirchenreform nimmt. Für die Entwicklung von Luthers politischer Ethik hat die frühe Auseinandersetzung mit der Papstkirche eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Luthers reformatorisches Verständnis der Kirche, ihrer Aufgabe und ihres Amtes war der Abschied vom alten Anspruch der Kirche auf politische Mitsprache und ermöglichte dem weltlichen Bereich eine zwar immer noch religiös begrenzte und beanspruchte, aber in ihrem Eigenrecht anerkannte Säkularität. (3) Die aus Luthers früher exegetischer Arbeit entstehende reformatorische Theologie und die aus dieser hervorgehende, sich durch den Ablaßstreit und den nielübersetzung an Herzog Johann Friedrich vom Frühjahr 1530: WADB 11II,376–379. 380–387) sind für Luther eine reiche Quelle zur argumentativen Herleitung und exemplifizierenden Veranschaulichung der politischen Ethik. Hinsichtlich des Neuen Testaments kommt Luther 1522/23 in der Predigtreihe über 1. Petr. (hier v.a. WA 12,327– 335*), 1528 in der Vorlesung über den 1. Timotheusbrief (zu 1. Tim. 2,1 f.: WA 26,32–34*) oder 1530/31 in der Auslegung der Bergpredigt (in einzelnen über den Text verstreuten Bemerkungen und Ausführungen: WA 32,299–544*; hierzu: Harald Diem: Luthers Lehre von den zwei Reichen untersucht von seinem Verständnis der Bergpredigt aus, 1938) auf Fragen der politischen Ethik zu sprechen. 429 Resolutio Lutheriana super propositione sua decima tertia de potestate papae (per autorem locupletata) (Juni 1519): WA 2,180–182.183–240; Von den Papsttum zu Rom wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig (1520): WA 6,277–284.285–324; Assertio omnium articulorum M. Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum (1520): WA 7,91–93.94–151; Passional Christi und Antichristi (1521): WA 9,677–700.701– 715 (die Holzschnitte sind als Beilagen abgedruckt). 430 WA 6,381–403.404–469.

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8. Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

Lutherprozeß beschleunigt formierende reformatorische Bewegung forderten von Luther seit 1519/20 immer wieder die Entfaltung, Präzisierung und Konkretisierung seiner ethischen Grundanschauungen. Die reformatorische Theologie begann durch die reformatorische Bewegung die kirchlichen Verhältnisse in Deutschland grundlegend zu verändern, was in zweierlei Hinsicht ein eminent politischer Vorgang war: Erstens war wegen der engen Verbindung von Kirche und Gemeinwesen die Kirchenreform immer auch eine politische Frage; zweitens war die reformatorische Bewegung eine Bewegung von unten, die die vorhandenen kirchlich-staatlichen Strukturen zum Teil grundsätzlich in Frage stellte und auf eigene Faust – auch mit Gewalt – veränderte. Luther sah sich früh in die Pflicht genommen, die spätestens seit dem Wormser Reichstag 1521 unaufhaltsame Veränderungsdynamik durch Unterweisung und Stellungnahmen zu beeinflussen. Das tat er zum einen in seiner für die Gemeinde gedachten Darstellung der Grundzüge der politischen Ethik in Predigten oder katechetischen Veröffentlichungen, 431 und zum anderen in einzelnen Briefen, Predigten und Schriften zu bestimmten Anlässen. Wichtig sind hier die Unterweisung zur Funktion der weltlichen Obrigkeit und zu guter Regierungsführung im allgemeinen432 wie die Stellungnahmen zu Einzelfragen im besonderen: zur Durchführung religiöser Reformmaßnahmen ohne oder gegen die weltliche Obrigkeit433, zum Bauernkrieg434, zum Kriegsdienst435, zum Umgang mit religiöser Devianz436, zum Türkenkrieg437, zur Reform des Bildungswesens438, zum 431 Weil in der von Synoptikertexten beherrschten Perikopenordnung die für die politische Ethik einschlägigen biblischen Texte kaum Berücksichtigung finden, hat Luthers Unterweisung zur politischen Ethik keinen festen Ort in der Perikopenabfolge. Am ertragreichsten sind dabei noch die Predigten über das Evangelium am 23. Sonntag nach Trinitatis (Mt. 22,15–22; Nachweis der Predigten in WA 22,LII f.) und die Epistel an Jubilate (1. Petr. 2,11–17; Nachweis der Predigten in WA 22,LXXXI), die immer wieder auf Fragen der politischen Ethik (Unterscheidung zweier Regimente und Reiche, Aufgaben der weltlichen Obrigkeit, Forderung und Begrenzung des Untertanengehorsams etc.) eingehen, ohne das allerdings zu vertiefen. Häufig behandelt Luther in Predigten Fragen der politischen Ethik mit Blick auf konkrete äußere Anlässe, ohne daß sich das durch den Predigttext nahelegen würde (etwa in den Predigten des Sommers und Herbsts 1525, die in WA 17I gesammelt sind). Weniger ertragreich sind die Katechismuspredigten und Katechismen zur zweiten und vierten Vaterunserbitte und zum vierten Dekaloggebot (WA 30I,2–122*; WA 30I,147–157), die Hinweise in der Bibelübersetzung (z.B. die Marginalien zu Röm. 13,1–7) oder das Betbüchlein (hier v.a. WA 10II,480,23–36). 432 Das Magnificat verdeutschet und ausgelegt (1521): WA 7,538–543.544–604 (dazu s. o. 7.2. Anm. 179); Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (1523): WA 11,229–244.245–281; Der 82. Psalm ausgelegt (1530): WA 31I,183–188.189– 218; Auslegung des 101. Psalms (1534/35): WA 51,197–200.200–264. 433 Eine treue Vermahnung sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung (1522): WA 8,670–675.676–687. 434 Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben (1525): WA 18,279–290.291–334; Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern (1525): WA 18,344–356.357–361; Vertrag zwischen dem löblichen Bund zu Schwaben und den zwei Haufen der Bauern vom Bodensee und Allgäu (1525): WA 18,335 f.336–343; Ein Sendbrief vom harten Büchlein wider die Bauern (1525): WA 18,375–383.384–401. 435 Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können (1526): WA 19,616–622.623–662. 436 Von weltlicher Oberkeit (1523), hier v.a. WA 11,262–265.268–270; Ein Brief an die

8.2. politia

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Widerstandsrecht439, oder zu einzelnen politischen Entwicklungen und Problemen440. Inhaltlich überschneiden sich die Äußerungen Luthers zur politischen Ethik vielfach, und wo immer er zu konkreten Anfragen und Einzelproblemen Stellung nimmt, sind implizit oder explizit die Grundlagen seiner politischen Ethik präsent. Sachlich entsprechen sich die Äußerungen seit der Obrigkeitsschrift (1522/23). Nur in einigen Einzelfragen lassen sich Umakzentuierungen angesichts neuer geschichtlicher Konstellationen und einer neuen Situationswahrnehmung Luthers bemerken. Was die Betonung der Selbständigkeit und positive Würdigung der Funktion der weltlichen Obrigkeit angeht, reicht die sachliche Kontinuität sogar bis zur Adelsschrift zurück. Für die Darstellung von Luthers politischer Ethik relevante Aussagen finden sich über die genannten Quellen hinaus auch in anderen Schriften, Predigten, Briefen und Tischreden, wobei für die beiden letzteren Quellengruppen die jeweiligen Indizes das Material ansatzweise erschließen.

Luthers politische Ethik ist von drei Faktoren bestimmt: von der reformatorischen Theologie mit ihrer Konzeption des Lebens aus dem Glauben in der Welt, von der antik-mittelalterlichen Tradition und von Luthers Wahrnehmung der gesellschaftlich-staatlichen Verhältnisse und Entwicklungen seiner eigenen Zeit. Fürsten zu Sachsen von dem aufrührischen Geist (1524): WA 15,199–209.210–221; Luthers Predigt über das Evangelium für den 5. Sonntag nach Epiphanias (Mt. 13,24–30, Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen) in der Fastenpostille (1525): WA 17II,123– 126; WAB 3,616,20–617,41 (Nr. 946); Von der Wiedertaufe an zwei Pfarrherrn (1528): hier v.a. 26,145 f.; WAB 5,137 f. (Nr. 1467, 26.8.1529); Der 82. Psalm ausgelegt (1530), hier v.a. WA 31I,207–213; Daß weltliche Oberkeit den Wiedertäufern mit leiblicher Strafe zu wehren schuldig sei, Etlicher Bedenken zu Wittenberg (1536): WA 50,6–8.8–15. 437 Unterricht der Visitatorn (1528), hier WA 26,228 f.; Vom Kriege wider die Türken (1529): WA 30II,81–106.107–148; Eine Heerpredigt wider den Türken (1529): WA 30II,149–159.160–197. 438 Eine Predigt, daß man Kinder zur Schulen halten solle (1530): WA 30II,508–517. 517–588. 439 Hier sind neben den Aussagen über den Aufruhr in anderen Schriften (Ermahnung zum Frieden [1525], hier v.a. WA 18,303,27–304,26; Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können [1526], hier v.a. WA 19,632,31–644,32; Warnung an seine lieben Deutschen [1531], WA 30III,276–320; De tribus hierarchiis, Ecclesiastica, Politica, Oeconomica, & quod Papa sub nulla istarum sit, sed omnium publicus hostis [1539], hier v.a. WA 39II,42,1–43,2) vor allem zahlreiche Gutachten, Briefe und Tischreden zu berücksichtigen (im Folgenden werden die wichtigsten Quellen in zeitlicher Reihenfolge aufgezählt): WAB 12,35–45 (Nr. 4222, 8.2.1523); WAB 4,421–424 (Nr. 1246, 28.3.1528); WAB 5,75–81 (Nr. 1424, 22.5.1529); WAB 5,180–183 (Nr. 1496, 18.11.1529); WAB 5,208–211 (Nr. 1511, 24.12.1529); WAB 5,249–262 (Nr. 1536, 6.3.1530); WAB 5,662 (Beilage zu Nr. 1740); WAB 6,16–18 (Nr. 1772, 15.1.1531); WAB 6,55–57 (Nr. 1796, 18.3.1531); MBW.T 7,293,48–296,151 (Nr. 1818; 6.12.1536); WATR 3,631 f.* (Nr. 3810, 3.4.1538); WATR 4,235–239* (Nr. 4342, 7.2.1539); WAB 8,364–368 (Nr. 3297, 8.2.1539); WATR 4,271 f.* (Nr. 4380, 3.3.1539); WATR 4,388* (Nr. 4582, 9.5.1539); WAB 8,515–518 (Nr. 3369, Sommer 1539). Ein Teil dieser Quellen ist zusammen mit weiteren abgedruckt in: H. Scheible (Hg.): Das Widerstandsrecht als Problem der deutschen Protestanten 1523–1546, 1969. 440 Beispielsweise Luthers Brief an Kurfürst Johann Friedrich und Herzog Moritz vom 7. April 1542 wegen der Wurzener Fehde: WAB 10,31–37 (Nr. 3733).

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8. Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

Leben aus dem Glauben in der Welt, das heißt für Luther seit Anfang der 1520er Jahre, im Spannungsfeld der beiden Regimente und Reiche Gottes seinem Beruf in den drei Ständen gerechtzuwerden. Diese Konzeption ist eine Weiterentwicklung von Luthers reformatorischer Theologie und der in ihr implizierten Ethik. Sie greift zwar sprachlich und sachlich Elemente der antik-mittelalterlichen Tradition auf, verdankt sich aber entscheidend Luthers Verständnis der biblischen Anthropologie, Soteriologie und Ethik mit ihrer konstitutiven Asymmetrie von Gottes- und Weltbeziehung, wie sie in der Unterscheidung zweier Regimente und Reiche zur Rahmentheorie der politischen Ethik wird. Luthers politische Ethik ist gleichwohl nicht identisch mit seiner Unterscheidung zweier Regimente und Reiche – geschweige denn mit einer vermeintlichen »Zweireiche-« und »Zweiregimentenlehre« Luthers –, sondern die Anwendung dieser Unterscheidung auf einen Teilbereich christlichen Lebens in der Welt. Die in vielen Darstellungen übliche enge Verbindung der »Zweireiche-« und »Zweiregimentenlehre« mit der politischen Ethik ist zwar sachgerecht, insofern Luthers politische Ethik nicht ohne diesen theologischen Rahmen verstehbar ist. Diese Verbindung führt aber nicht selten dazu, daß fundamentaltheologische und ethische Fragestellungen vermischt und die Rekonstruktion und Bewertung von Luthers politischer Ethik von sachfremden Erwägungen überlagert werden.441 Ihre Bedeutung für die politische Ethik liegt darin, daß sie die Sphäre der politia als selbständige, von der religiösen verschiedene, eigenen Regeln gehorchende Sphäre konstituiert – und damit zugleich relativiert. Christliches Leben in der Welt besteht ja gerade darin, aus der Gottesbeziehung heraus in der Welt zu leben und dabei die Horizontal- und Vertikaldimension dieses Lebens zugleich eng aufeinander zu beziehen und dennoch klar zu unterscheiden. Luthers Rede von zwei Regimenten und Reichen scheint zwar in der Tra441 Die sachnotwendige Differenzierung des fundamentaltheologischen und ethischen Aspekts von Luthers Unterscheidung zweier Regimente und Reiche – zu denen als dritter auch der selbständig zu würdigende hermeneutische Aspekt gehört –, und die Gefahr ihrer unzulässigen Vermengung hat in der vorliegenden Darstellung dazu geführt, beides in unterschiedlichen Zusammenhängen (7.2. und 8.2.) zu behandeln. – Unter den Forschungsarbeiten zu Luthers Unterscheidung zweier Regimente und Reiche sind wichtig: F. Lau: Luthers Lehre von den beiden Reichen, 21953; H. Bornkamm: Luthers Lehre von den zwei Reichen im Zusammenhang seiner Theologie (in: H.-H. Schrey [Hg.]: Reich Gottes und Welt. Die Lehre Luthers von den zwei Reichen, 1969, 165–195); P. Althaus: Die Ethik Martin Luthers, 1965, 49–87; H. Oberman: Thesen zur Zwei-Reiche-Lehre (in: E. Iserloh, G. Müller [Hgg.]: Luther und die politische Welt, 1984, 27–34); H. Grass: Luthers Zwei-Reiche-Lehre (ZevKR 31, 1986, 145–176); W. Härle: Luthers Zwei-Regimenten-Lehre als Lehre vom Wirken Gottes (in: Ders.: Spurensuche nach Gott. Studien zur Fundamentaltheologie und Gotteslehre, 2008, 257–285, siehe auch TRE 36,784–789); HWP 12,1532–1540 (Martin Seils).

8.2. politia

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dition der spätantik-mittelalterlichen Unterscheidungen zweier potestates, gladii oder lumina innerhalb des einen corpus christianum zu stehen, bedeutet aber tatsächlich den Bruch mit dieser Tradition.442 Denn Luther kann von den kategorialen Grundunterscheidungen seiner Theologie her – göttliche und menschliche Gerechtigkeit, innerer und äußerer Mensch, Gesetz und Evangelium, Person und Werk etc. – die beiden Regimente und Reiche Gottes nicht mehr als bloß funktional unterschiedenes Nebeneinander zweier Größen innerhalb eines beide übergreifenden Ganzen denken – geschweige denn mit einer cäsaropapistischen oder papocäsaristischen Spitze in Person des Kaisers oder des Papsts –, sondern sagt dieselbe kategoriale Unterschiedenheit auch von Gottes beiden Regimenten und den durch sie konstituierten Herrschaftsbereichen aus. Der Einheitspunkt, in dem die Zweiheiten zusammenkommen, ist von der Bibel her nicht in irgendeiner innerweltlichen Größe – und sei es in der Kirche – zu suchen, sondern liegt in Gott und in dem auf Gott bezogenen Lebensvollzug des einzelnen Christen.443 Damit lenkt die Unterscheidung zweier 442 Die traditionsgeschichtliche Analyse der Unterscheidung zweier Regimente und Reiche in der bisherigen Forschung hat gezeigt, daß Luther auf traditionelle Unterscheidungen zurückgreift, diese aber weiterentwickelt und im Rahmen seiner reformatorischen Theologie in einer Weise versteht, die diese Unterscheidung als neuartig qualifiziert. Die Traditionsgeschichte läßt sich grob in zwei Linien einteilen: Die kontradiktorische Linie sieht ein Gegeneinander zweier sich ausschließender Bereiche (so die neutestamentliche Unterscheidung der Äonen oder die augustinische Unterscheidung von civitas Dei und diaboli), die konträre Linie sieht ein Gegenüber oder Nebeneinander zweier funktional oder personal unterschiedener Bereiche (so die mittelalterlichen Bestimmungen des Verhältnisses der beiden potestates von Kaisertum und Papsttum, etwa in Gestalt der Reichsidee oder der Zwei-Schwerter-Theorie). Die Literatur zur Traditionsgeschichte von Luthers Unterscheidung der zwei Regimente und Reiche tendiert teilweise zur Überschätzung der Bedeutung der traditionsgeschichtlichen Fragestellung. Die Frage, ob und inwieweit Luther von antiken oder mittelalterlichen Konzeptionen und Begriffen abhängig ist, ist für das Verständnis seiner Unterscheidung der zwei Regimente und Reiche nicht von ausschlaggebender Bedeutung, vielmehr sind die zentralen Unterscheidungen seiner reformatorischen Theologie der Schlüssel zum Verständnis. An wichtiger Literatur zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund sind zu nennen: H. Junghans: Das mittelalterliche Vorbild für Luthers Lehre von beiden Reichen (in: Ders.: Spätmittelalter, Luthers Reformation, Kirche in Sachsen, 2001, 11–30); U. Duchrow: Christenheit und Weltverantwortung. Traditionsgeschichte und systematische Struktur der Zwei-Reiche-Lehre, 21983, 437–573; HWP 12,1532–1540 (Martin Seils); V. Mantey: Zwei Schwerter – Zwei Reiche, 2005. Die unterschiedlichen traditionsgeschichtlichen Herleitungen in der Forschung vom Ende der 1940er bis zum Beginn der 1970er Jahre, als die Diskussion besonders intensiv geführt wurde, werden dargestellt in R. Ohlig: Die Zwei-Reiche-Lehre Luthers in der Auslegung der deutschen lutherischen Theologie der Gegenwart seit 1945, 1974. 443 Die »beiden Reiche Luthers [sind] zweifach miteinander verklammert [...], oben und unten. [...] Die Verklammerung oben erfolgt im Gottesgedanken. Indem Gott beide Regimente führt, gehören sie bei aller Verschiedenheit zusammen. Die Verklammerung unten erfolgt in der vita Christiana« (F. Lau: Luthers Lehre von den beiden Reichen, 2 1953, 55).

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8. Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

Regimente und Reiche den Blick weg vom Menschen als Gestalter der Geschichte hin zu Gott, in dessen Hand der Geschichtslauf liegt und der direkt und indirekt das Subjekt der Geschichte ist. Es sind seine Regimente, in denen er durch von ihm bestimmte Menschen in den beiden Bereichen des Geistlichen und Weltlichen wirkt. Dieses Geschichtswirken Gottes in den beiden Regimenten und Bereichen vollzieht sich nicht nur im konträren Gegenüber zweier unterschiedlicher Verwirklichungsgestalten ein- und desselben göttlichen Wirkens, sondern auch im kontradiktorischen Gegensatz von Gott und widergöttlicher Macht. Die Welt ist nicht nur der Ort, an dem der Glaubende immer neu die Unterscheidung zwischen den beiden Reichen und Regimenten in seinem Handeln zu vollziehen hat, sondern auch der Ort, an dem die geistlich-weltliche Doppelexistenz des Christen mit der von Sünde und Teufel bestimmten Negation und Destruktion von Schöpfung und Heilsgeschichte konfrontiert wird.444 Wenn auch Luthers Unterscheidung zweier Regimente und Reiche Gottes etwas grundsätzlich Neues gegenüber der antik-mittelalterlichen Tradition darstellt, nimmt doch die inhaltliche Füllung des damit gegebenen Rahmens der politischen Ethik – ähnlich wie in anderen Teilbereichen der Ethik – traditionelle Elemente auf. Luther kennt die hergebrachte politische Theorie und die übliche Unterweisung zu tugendhafter politischer Praxis und knüpft an beides an.445 Die spätmittelalterliche politische Theorie bewegt sich im Rahmen der seit dem 13. Jahrhundert intensiv rezipierten aristotelischen Ethik. Der Aristotelismus bringt zweierlei mit sich: zum einen die Verwissenschaftlichung der politischen Ethik, zum anderen die Verselbständigung und Säkularisierung des Gegenstands dieser Wissenschaft. Das Gemeinwesen hat zwar nach wie vor eine religiöse Dimension 444 Die Differenzierung von konträrem und kontradiktorischem Moment der Unterscheidung der beiden Reiche und deren Parallelisierung mit der schöpfungstheologischen und der eschatologischen Aussagedimension dieser Unterscheidung hat Gerhard Ebeling in die Diskussion eingebracht (Die Notwendigkeit der Lehre von den zwei Reichen, in: G. Ebeling: Wort und Glaube, Bd. 1, 1960, 407–428, hier: 414–420; RGG3 4,509–511). 445 Im Zusammenhang mit Luthers Erfurter Philosophie- und Theologiestudium wurde oben bereits gezeigt, wie Luther wahrscheinlich die spätmittelalterliche politische Ethik kennenlernte (siehe 2.3. und 2.5.). – Das Folgende ist nur eine die Darstellung von Luthers eigener politischer Ethik vorbereitende Skizze, für deren weitere Ausführung zu verweisen ist auf die bereits oben (8.2., Anm. 427) genannte Literatur. Da Luther nicht nur an die politische Theorie, wie sie im Zusammenhang der mittelalterlichen Philosophie und Theologie gelehrt und diskutiert wurde, anknüpft, sondern auch an die lange Tradition der Obrigkeitsunterweisung, ist zusätzlich zu verweisen auf: W. Berges: Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters, 1938; LMA 4,1040–1049 (Hans Hubert Anton); TRE 11,707–711 (Bruno Singer).

8.2. politia

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und einen religiösen Rahmen, es ist aber als innerweltliche Größe auch Sache philosophischer Analyse. Das zeigt sich bereits in der Antwort auf die grundlegende Frage, was denn die politia sei. Sie wird mit der aristotelischen These beantwortet, der Mensch sei von Natur aus ein politisches, d.h. auf Gemeinschaft hin angelegtes Lebewesen (»homo natura civile animal est«.446), Die politia wird hier also nicht geschichtlich – geschweige denn heilsgeschichtlich –, sondern anthropologisch, nämlich in der Sozialität des Menschen begründet. In das Ganze der nach wie vor theologischen Weltsicht wird die politia eingebunden, indem sie als Teil einer sie übergreifenden göttlichen Struktur oder als relativ selbständige göttliche Setzung neben anderen verstanden wird, d.h. als Teil des universalen, Natur und Übernatur umfassenden göttlichen ordo (Thomas von Aquin) oder als eine von Gott eingesetzte potestas (Wilhelm von Ockham). Die äußere Gestalt der politia kann entsprechend der aristotelischen Systematisierung der Staatsformen je nach Zeit, Ort und Umständen unterschiedlich sein. Selbstverständlich für die mittelalterliche Sozialtheorie ist die an die antike politische Theorie angelehnte funktionale und geburtsständische Differenzierung des Gemeinwesens, die es zudem ermöglicht, durch die Unterscheidung von Klerus und Laien die innerweltliche Hierarchie stufenweise in die himmlische Hierarchie übergehen zu lassen und damit in die überweltlichen Strukturen einzubinden. Die Glieder der politia haben dabei unterschiedliche Rechte und Pflichten. Herrschaft ist für das späte Mittelalter durch Recht und Konsens charakterisiert; d.h. sie ist gebunden an das Recht und dient dem Recht, das die einzelnen Glieder in ein bestimmtes Verhältnis zueinander setzt. Dieses Verhältnis ist nicht einfach das von Weisungsbefugnis und Gehorsam, sondern ein kompliziertes Geflecht von wechselseitigen Ansprüchen und Rechtstiteln, wie es exemplarisch das Lehenswesen zeigt. An der Spitze des Gemeinwesens steht der Herrscher, der als rex iustus persönlich tugendhaft und gemeinwohlorientiert regieren soll. Die disciplina morum und das bonum commune sind darum sowohl Anforderungen an die Persönlichkeit des Herrschers als auch zentrale obrigkeitliche Aufgaben, ja der gemeine nutz wird im Spätmittelalter »zur legitimierenden Formel obrigkeitlicher Herrschaft«.447 Inhaltlich umfaßt die Vorstellung vom gemeinen Nutzen die drei Elemente »pax, iustitia und soziale Harmonie«, die »Obligation, Limitation und Legitimation politischer Entscheidungen und ihrer Träger« sind und sich 446 »οë αÍ νϑρωπος ϕυ σει πολιτικοÁ ν ζωÄìον εÆ στι « (Pol. I,2: 1253a2 f., lateinische Übersetzung nach Wilhelm von Moerbeke, ed. Susemihl 7). 447 E. Schubert: König und Reich. Studien zur spätmittelalterlichen deutschen Verfassungsgeschichte, 1979, 284. Zur Traditionsgeschichte der Gemeinwohlvorstellung: LMA 2,435 (Kurt Walf); TRE 12,339–346 (Heinz-Horst Schrey).

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8. Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

in einer als Rechtssetzung und Rechtsanwendung verstanden Herrschaft verwirklichen.448 Das Recht als Rahmen und Inhalt der Herrschaft wird entsprechend der theologischen Rechtstheorie abgestuft in die grundlegende lex aeterna und die aus ihr abgeleitete lex naturalis und lex positiva und mit Hilfe der unterschiedlichen Rechtstraditionen (kanonisches Recht, gemeines Recht, Landrecht, römisches Recht, biblisches Recht) konkretisiert. Weil der Herrscher Verantwortung für die öffentliche Sittlichkeit und das Wohl des Gemeinwesens trägt, hat er immer auch eine religiöse Verantwortung. Zwar wurden die älteren, aus den Patronats- und Vogteirechten erwachsenen Formen der herrscherlichen Vollmachten im Raum der Kirche durch die hochmittelalterlichen Auseinandersetzungen zwischen Kaisertum und Papsttum im Gefolge der Gregorianischen Reform reduziert; aber die Verpflichtung der weltlichen Obrigkeit gegenüber der Kirche und der Einfluß auf sie blieben bestehen. Und mit den spätmittelalterlichen Vorformen des landesherrlichen Kirchenregiments etablierte sich wieder eine selbständige Verantwortung der weltlichen Herrscher für die Religion. Trotz ihres aristotelischen Ansatzes schöpft auch die spätmittelalterliche Herrscherethik aus dem reichen Schatz der antiken Überlieferung von Platons Politeia, über die zahlreichen griechischen und römischen Historiker und Ciceros De officiis bis hin zur Bibel. Dabei kann all die in Anlehnung an diese reiche Tradition entfaltete Würdigung der Eigenständigkeit und Eigenart der innerweltlichen Ordnung nicht vergessen machen, daß die politia während des Mittelalters nicht, sieht man einmal von den radikalsten Theoretikern des Eigenrechts des Weltlichen wie Marsilius von Padua ab, aus ihrer Unterordnung unter die religiöse Sphäre befreit wird. Die christliche Relativierung der Welt und das Streben nach der Vollkommenheit in der Weltdistanzierung beschränken letztlich die Bedeutung der politischen Ethik und ihres Gegenstands. Innerhalb des einen corpus christianum mag die politia in ihrer Weltlichkeit eigenständig gewürdigt werden, am Ende ist sie als äußere Ordnung nur Abbild des Himmlischen, zu dem der Weg der Christen eigentlich führt. Schon der Überblick über die zahlreichen für die Darstellung von Luthers politischer Ethik relevanten Quellen zeigt, daß Luther die politische Dimension seiner Theologie bewußt und daß er als Beobachter und Teilnehmer aufs engste in das gesellschaftliche Leben und politische Geschehen seiner Zeit eingebunden war.449 Anfangs war es vor allem der enge 448 P. Hibst: Utilitas Publica – Gemeiner Nutz – Gemeinwohl. Untersuchungen zur Idee eines politischen Leitbegriffs von der Antike bis zum späten Mittelalter, 1991, 219. 449 Die beiden wichtigsten Darstellungen dazu sind: H. Kunst: Evangelischer Glaube und politische Verantwortung. Martin Luther als politischer Berater seines Landesherren und seine Teilnahme an den Fragen des öffentlichen Lebens, 1976; E. Wolgast: Die

8.2. politia

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Kontakt zu Georg Spalatin, dem Sekretär und Vertrauten von Kurfürst Friedrich dem Weisen, der dem Mönch Martin Luther die politische Welt eröffnete. Anfang der 1520er Jahre wurde Luther dann von vielen weiteren Seiten informiert und in Anspruch genommen, so daß er – wie vor allem die Briefe und Tischreden zeigen – über wichtige Ereignisse und Entwicklungen Bescheid wußte und mit seinen Einschätzungen und Gutachten zum Teil erheblichen Einfluß auf politische Entscheidungen nehmen konnte. Obwohl Luthers Informationsstand und Lageeinschätzung nicht immer zutreffend und seine Handlungsempfehlungen darum nicht immer sachgerecht waren, bezog er doch stets die vorfindliche Situation in seine ethische Urteilsbildung ein und brachte auch das in der jeweiligen Situation Mögliche und Nützliche für die theologische Stellungnahme in Anschlag. Allerdings ist gerade angesichts dieser engen Einbindung Luthers in die politische Entwicklung auf der Ebene des Reichs und einzelner reformatorischer Territorien und Städte darauf hinzuweisen, daß er seine ethische Urteilsbildung und deren bewußt berücksichtigte Bedingtheit durch die vorfindliche Situation immer auch transzendierte. Vor allem die Unterscheidung der beiden Regimente und Reiche war es, die den weltimmanenten Aspekt der politischen Ethik relativierte. Denn letztlich gestalten für ihn nicht Menschen das Gemeinwesen, sondern Gott ist es, der durch sein weltliches Regiment und sein Geschichtshandeln den Weltlauf mittelbar und unmittelbar lenkt. Und dieses zweifache Gotteshandeln steht im steten Kampf mit dem Teufelsreich, der sich auch und gerade im Raum der politia ereignet. Der eschatologische Horizont, in dem auch die politia steht, ist wichtiger als alle besonderen Umstände und alle innerweltlichen Ziele. Diese Charakteristika von Luthers politischer Ethik – Gott als eigentliches Subjekt der Geschichte und der Gegensatz von Gottes- und Teufelsreich als der die Geschichte strukturierende Grundkonflikt – machten es den Zeitgenossen und machen es der Reformationshistoriographie nicht leicht, mit Luthers politischen Stellungnahmen angemessen umzugehen; scheint er doch seine Zeit durch theologische Voraussetzungen verzerrt wahrzunehmen und damit das in bestimmten Situationen Notwendige und Angemessene gerade zu verfehlen.

Wittenberger Theologie und die Politik der evangelischen Stände. Studien zu Luthers Gutachten in politischen Fragen, 1977 (hier vor allem die Fallstudien 95–284). Wichtige Ergänzungen dazu bieten: K. Trüdinger: Luthers Briefe und Gutachten an weltliche Obrigkeiten zur Durchführung der Reformation, 1975; W. Günter: Martin Luthers Vorstellung von der Reichsverfassung, Münster 1976; D. Stievermann: Sozial- und verfassungsgeschichtliche Voraussetzungen Martin Luthers und der Reformation. Der landesherrliche Rat in Kursachsen, Kurmainz und Mansfeld (in: V. Press, D. Stievermann [Hgg.]: Martin Luther. Probleme seiner Zeit, 1986, 137–176).

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8. Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

Besonders Luthers Bauernkriegsschriften haben diese Kritik auf sich gezogen. Sie zeigen aber bei genauerer Betrachtung gerade das spannungsreiche Ineinander von theologischer Geschichtsdeutung vor dem Hintergrund der Unterscheidung zweier Regimente und Reiche und geschichtlicher Situationswahrnehmung im Hier und Jetzt.450 Über Thomas Müntzers Wirken in Allstedt (April 1523 bis August 1524) und Mühlhausen (August / September 1524, Februar bis Mai 1525) war Luther gut informiert und hegte schlimme Befürchtungen. Von der im Herbst und Winter 1524/25 sich in Oberdeutschland und Franken formierenden bäuerlichen Aufstandsbewegung wußte er nur wenig und bekam erst genauere Kenntnis, als er Mitte April 1525 die Zwölf Artikel erhielt, in denen um sein Urteil über die rechtlichen, wirtschaftlichen und kirchlichen Forderungen der Bauern gebeten wurde. Eine Reise nach Eisleben, um dort auf Einladung von Graf Albrecht von Mansfeld die neue Schule einzurichten, führte ihn in die Nähe des beginnenden Thüringer Bauernaufstands. Luther nutzte diese Möglichkeit, um sich ein eigenes Bild der Lage in Thüringen zu machen. Die Reise- und Predigtstationen sind zwar nicht mit letzter Sicherheit zu rekonstruieren, doch läßt sich zeigen, daß Luther Ende April und Anfang Mai 1525 im Raum zwischen Harz und Saale der Aufstandsbewegung oder wenigstens ihren direkten und indirekten Auswirkungen begegnete.451 Zusätzlich erhielt er wohl durch einen Aufenthalt in der Residenzstadt Weimar und durch den Kontakt mit dem Mansfelder Rat Johannes Rühel weitere Kenntnisse über das Ausmaß des Aufstands, die seine bisherigen Informationen und Augenzeugeneindrücke ergänzten. Zugleich erfuhr er wohl, daß die weltlichen Obrigkeiten – vor allem der im Sterben liegende Kurfürst und sein in Weimar residierender Bruder – zögerten, gegen den Aufstand vorzugehen (»fuerunt in ea opinione non esse resistendum«).452 Luther reagierte auf die Zwölf Artikel und das Übergreifen der Aufstandsbewegung nach Thüringen mit zwei inhaltlich einander scheinbar widersprechenden Stellungnahmen. Mitte April, als er noch kaum über Informationen und eigene Anschauung verfügte, konzipierte er die Ermahnung zum Frieden mit der scharfen Kritik an Obrigkeiten und Bauern, der Abweisung der religiösen Be450 Zu Luthers Stellung zum Bauernkrieg: Brecht 2,172–193; M. Greschat: Luthers Haltung im Bauernkrieg (in: ARG 56, 1965, 31–47); H. Kirchner: Luthers Stellung zum Bauernkrieg (in: H. Foerster [Hg.]: Reformation heute, 1967, 218–247, Zusammenfassung von H. Kirchner: Der deutsche Bauernkrieg im Urteile der Freunde und Schüler Luthers, 1968); J. Wallmann: Ein Friedensappell – Luthers letztes Wort im Bauernkrieg (in: D. Henke u.a. [Hgg.]: Der Wirklichkeitsanspruch von Theologie und Religion, 1976, 57–75); Ch. Griese: Luthers Haltung im Bauernkrieg 1524/25, 1986; S. Bräuer: Luthers Reise in das Bauernkriegsgebiet (in: G. Vogler [Hg.]: Bauernkrieg zwischen Harz und Thüringer Wald, 2008, 299–312). 451 Belegt oder wahrscheinlich sind folgende Reisestationen: Eisleben (19./20.4.); Stolberg (20./21.4.); Nordhausen (wohl eher 22.4. als 2.5., hier sah sich Luther erstmals mit der in der Bevölkerung virulenten Unruhe konfrontiert [WATR 5, Nr. 6429*]); Wallhausen bei Sangerhausen (1.5.); Weimar (3.5.); ; Seeburg zwischen Eisleben und Halle (4.5.). Auf der Reise nach Weimar, sei es auf der westlichen Route von Nordhausen her, sei auf der östlichen von Sangerhausen her, muß Luther entweder den Aufständischen selbst oder wenigstens den Folgen des Aufstands von Langensalza und der Gewalttaten des Mühlhäuser Haufens begegnet sein. 452 WATR 5,657,18* (Nr. 6429); Neues Urkundenbuch zur Geschichte der evangelischen Kirchen-Reformation, hg. v. C. Förstemann, Bd. 1, 1842, Teil V, Nr. 21.23.25.30. 35.36.42.43.

8.2. politia

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gründung der – an sich durchaus berechtigten – bäuerlichen Artikel und der Forderung einer Verhandlungslösung. Auf der Rückreise nach Wittenberg am 4./5. Mai beendete er die Schrift, ohne daß er vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem Aufstand die argumentative Linie änderte. Stattdessen ergänzte er die Ermahnung zum Frieden um einen Anhang – Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern –, in dem er die angesichts des Aufruhrs paralysierten Obrigkeiten zur Wahrnehmung ihrer Aufgabe der Rechts- und Friedenswahrung aufrief. Kurz darauf unterstrich er seine Forderung einer im Rahmen der von den Obrigkeiten wiederhergestellten Rechts- und Friedensordnung ausgehandelten Verständigung der Parteien, indem er den Weingartener Vertrag mit einer Vorrede und Vermahnung nachdrucken ließ. Luther war also von vornherein für eine Verhandlungslösung und unterstrich diese Forderung angesichts des Ausbruchs der Gewalt nur umso nachdrücklicher. Allerdings machte es der Bruch des obrigkeitlichen Gewaltmonopols notwendig, zuvor geordnete Verhältnisse wiederherzustellen: Luther verlangte in der zweiten Bauernkriegsschrift einen massiven, aber zeitlich begrenzten und einem bestimmten Zweck dienenden Gegenschlag der weltlichen Obrigkeiten. Lassen sich Luthers Bauernkriegsschriften auf diese Weise als Versuch einer an den geschichtlichen Gegebenheiten und Entwicklungen orientierten rationalen Problemlösungsstrategie verstehen, so ist das doch nicht alles und auch nicht das Wichtigste. Denn so sehr Luther bereit war, für seine ethische Urteilsbildung die Binnenlogik geschichtlicher Ereignisse zu berücksichtigen, so wenig war es für ihn damit getan. Entscheidend war zu begreifen, daß in der Unterdrückungspolitik der Obrigkeiten und im Bauernaufruhr letztlich Gott und sein eschatologischer Gegenspieler, der Teufel, auf dem Plan waren. Zu Luthers Situationswahrnehmung gehörte darum nicht nur die Beschäftigung mit den Forderungen der Bauern und die Reise ins Aufstandsgebiet, sondern auch die Einordnung seiner Beobachtungen in den großen geschichtstheologischen Rahmen. Für das Jahr 1524/25 erwartete man Naturkatastrophen und geschichtliche Umstürze,453 und Luther sah diese Erwartung durch den Bauernkrieg bestätigt: »Denn so viel grausamer zeichen, so bisher beide am hymel und auff erden ynn Deutschen landen gesehen sind, eyn e gros ungluck furhanden und ein treffliche verenderunge ynn Deutschen landen anzeigen«.454 Der Konflikt zwischen Bauern und weltlichen Obrigkeiten drohte, würde er nicht im Rahmen der bestehenden Ordnung entweder durch Verhandlungen oder durch die rechtmäßige obrigkeitliche Gewaltanwendung gelöst werden, die Ordnung als solche zu zerstören, so daß »beide reich untergehen, das e e widder welltlich regiment noch Gottlich wort, sondern eine ewige verstorunge e 455 gantzes Deutschen landes folgen wurde«. Denn für Luther war der »auffrurie sche[ ] mensch« »teuffelisch[ ]«, und der Teufel »eyn mechtiger furst«, der »die wellt 456 ynn henden hat und ynneynander mengen kan«. Angesichts dieser geradezu apo453 Auch Luther spricht davon, daß 1524 – im Jahr der Fische – eine besondere Planetenkonstellation und damit einhergehend eine Sintflut drohe (WA 10I/2,107,20–108,10). Diese Äußerung steht im Zusammenhang einer seit dem Ende des 15. Jahrhunderts virulenten und Anfang der 1520er Jahre heftig diskutierten Erwartung apokalyptischer Ereignisse (s.a. WA 10I/2,LXXVIII f.). 454 WA 18,293,21–23; s.a. WA 18,294,28 f. 455 WA 18,292,33–35. 456 WA 18,358,16.28–30.

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8. Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

kalyptischen Überhöhung des Bauernaufstands wird die eigentliche Forderung Luthers nach einer durch obrigkeitliche Gewaltanwendung ermöglichten Verständigungslösung überlagert von einer sachfremden Perspektive. Das Handeln der Bauern und der Obrigkeiten entzieht sich damit letztlich einer an innerweltlichen Gesichtspunkten orientierten Urteilsbildung. Wo sich in den innerweltlichen Konflikten der endzeitliche Zusammenstoß von Gottes- und Teufelsreich ereignet, gilt nicht mehr der argumentativ begründete Rat des Theologen, sondern das mit dem Anspruch auf göttliche Vollmacht ergehende Wort des »christlichen Apokalyptikers«.457 Luther hat darum seine Bauernkriegsschriften bewußt zugespitzt und das seinen zeitgenössischen und modernen Lesern anstößige Nebeneinander von sachorientierter Argumentation und gleichsam prophetischen Schelt-, Droh- und Mahnworten als die einzig angemessene Stellungnahme zur Lage gesehen.

Luther hat sich stets bemüht, seine theologischen Grundanschauungen und seine Situationswahrnehmung zu einer in beiderlei Hinsicht verantwortlichen Stellungnahme zu verbinden. Daß dabei seine Geschichtstheologie manchmal die Wahrnehmung der besonderen geschichtlichen Situation überlagerte und zu nicht unproblematischen Folgerungen führte, ändert nichts daran, daß für ihn die Wahrnehmung der eigenen Gegenwart konstitutiv in den Prozeß der ethischen Urteilsbildung hineingehört. Wie bei der Hausstandsethik, so sind auch bei der politischen Ethik die vorfindlichen innerweltlichen Strukturen und Normen zu unterscheiden vom Lebensvollzug der einzelnen Menschen – Christen wie Nichtchristen – in ihnen.458 Gottes weltliches Regiment mit seinen Ämtern und seiner äußerlichen Gerechtigkeit ist eine innerweltliche Gegebenheit, die es anzuerkennen und zu begreifen gilt, wenn man als Christ verantwortlich in der Welt handeln will. Darum ist im Folgenden zuerst nach der Struktur und Funktion der politia und danach erst nach der Verantwortlichkeit des Christen für die Ausgestaltung des Gemeinwesens zu fragen. So sehr Luthers politische Ethik von theologischen und moralischen Gesichtspunkten bestimmt ist, so wenig darf man darüber vergessen, daß die politia nichts von sich aus christlich Qualifiziertes, weder ein christlicher, noch ein zu verchristlichender Staat ist. Luthers politischer Ethik geht es nicht darum, eine besondere christliche Gestaltung der politia aufzuweisen, sondern darum, zu einem durch den Glauben motivierten Leben in den vorfindlichen Gegebenheiten der Welt anzuleiten. Die Darstellung der Struktur und Funktion der politia darf darum nicht – wie Luther es in seiner an 457

M. Greschat: Luthers Haltung im Bauernkrieg (ARG 56, 1965, 31–47, 32). Diese Grundunterscheidung entfaltet Luther in der Einleitung zur Kriegsleuteschrift (WA 19,624,18–630,2). Bereits der Sendbrief vom harten Büchlein wider die Bauern hatte im Jahr zuvor die Unterscheidung von himmlischer und irdischer Gerechtigkeit sowie von Gottes- und Weltreich zum Ansatzpunkt seiner Verteidigung gegen die Kritiker seiner Stellungnahmen zum Bauernkrieg gemacht (WA 18,385,5 f.; 389,14–24). 458

8.2. politia

467

Christen gerichteten seelsorgerlichen Unterweisung ganz selbstverständlich durchweg tut – schon mit der Frage vermischt werden, ob Christen obrigkeitliche Funktionsträger sein können und wie sie als solche zu handeln haben. Um die Eigenart des christlichen Lebens in der politia zu begreifen, muß man sich deutlich machen, daß Luther das Gemeinwesen und die Obrigkeit als innerweltliche Gegebenheiten versteht, denen eine relative Selbständigkeit und Eigengesetzlichkeit zukommt. Daß Luther selbst diese Gegebenheiten aus der Perspektive des Christen thematisiert und selten nur über Struktur und Funktion des weltlichen Regiments und Bereichs als solcher handelt, bedeutet für die Darstellung, daß das Quellenmaterial aus unterschiedlichen Schriften gesammelt und in einer von Luther selbst so nicht verwendeten, aus seinen Schriften jedoch zu erschließenden lockeren Systematisierung präsentiert werden muß. Die inhaltliche Darstellung von Luthers politischer Ethik kann anders als die Darstellung der Hausstandsethik im vorangehenden Kapitel nicht einzelnen Leitquellen folgen. Denn keine einzelne Schrift Luthers verbindet die Darstellung der Grundstruktur der politischen Ethik mit einer Entfaltung ihrer wesentlichen Einzelaspekte. Die Obrigkeitsschrift Luthers ist zwar in der Tat eine »Summe seiner politischen Ethik«,459 aber weil sie hinsichtlich ihrer Gliederung und der Auswahl an Einzelthemen zu sehr bestimmten, aus der Entstehungsgeschichte erklärbaren Zwecken folgt, muß die Ausführung der ihr entnommenen Grundgedanken und wichtigsten Themen der politischen Ethik weitere Quellen berücksichtigen. Die politia ist nicht wie die oeconomia eine unmittelbar mit der Schöpfung gegebene Ordnung. Denn anders als die Geschlechtlichkeit und das Selbsterhaltungsstreben, die dem Menschen anerschaffen sind und zu Fortpflanzung und elementarer Vergemeinschaftung im Rahmen des Hauses führen, gibt es für höhere Vergemeinschaftungsformen keine der Schöpfung innewohnende Notwendigkeit. Die politia entsteht erst da, wo die Schöpfungsordnungen durch die Sünde in Gefahr geraten sind.460 Ge459

H. Bornkamm: Martin Luther in der Mitte seines Lebens, 1979, 110. Luther verbindet die Einsetzung des weltlichen Schwerts mit unterschiedlichen Genesis-Texten. Er verweist auf Kain (Gen. 4,14 f.), den Noahbund (Gen. 9,6) oder Nimrod (Gen. 10,8). Angesichts der Beschreibung der »institutio Ecclesiae« in Gen. 2,16 f. bemerkt Luther: »Politia autem ante peccatum nulla fuit, neque enim ea opus fuit. Est enim Politia remedium necessarium naturae corruptae« (WA 42,79,7–9*). Erst mit Kain wird dieses Heilmittel notwendig: »Wer menschen blut vergeust, des blut sol auch durch menschen vergossen werden« »ist das erste gepot von dem weltlichen schwerd. e [...] Ynn den worten ist eingesetzt die weltliche oberkeit und das recht von Gott, das schwerd yhr ynn die hand geben«, das Adam und Noah beide geführt haben (WA 24,203,9 f.13–17*; siehe auch WA 11,247,31–248,15; Gen. 9,6 ist für Luther auch der biblische Belegtext für die Todesstrafe). Die Entstehung der staatlichen Zwangsordnung e wird auch auf Nimrod zurückgeführt, »den ersten Fursten auff erden« (WA 30II,123,29), 460

468

8. Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

sellschaftlich-staatliche Strukturen und insbesondere die weltliche Obrigkeit – gemeint ist damit primär die geordnete Rechtsgewalt, erst sekundär eine Institution und ein Personenkreis461 – sind als Ordnungsmacht der politia eine Notordnung angesichts der Sünde. Weil die Mehrheit der Menschen nicht an Christus glaubt und also unter der ungebrochenen Herrschaft der Sünde steht, ist die menschliche Gemeinschaft in ihrem Bestand bedroht. Denn die Ungläubigen, die die übergroße Mehrheit der Menschen ausmachen, verhalten sich wie wilde Tiere, die einander zerfleischen wollen, d.h. ihre physische Existenz gefährden und das Wüstwerden der Welt heraufbeschwören.462 Für sie hat Gott neben seinem geistlichen Regiment, in dem Christus durch das Wort über die Gläubigen herrscht, ein »ander regiment« geschaffen, »wilchs den unchristen und bößen weret, daß sie eußerlich müssen frid hallten und still seyn on yhren danck [ob sie wollen oder nicht]«.463 Friede ist hier als Sicherung des Gemeinwesens gegen die Bösen durch deren Bestrafung und Disziplinierung mittels äußerer Gewaltandrohung und -anwendung verstanden. Nicht ohne Grund ist das Schwert Inbegriff der obrigkeitlichen Aufgabe und Vollmacht. Friede ist unter den Bedingungen der Sünde der erzwungene Verzicht auf das Ausleben des gemeinschaftswidrigen Egoismus. Aber Luther kann das weltliche Regiment nicht nur aus seiner Disziplinierungsfunktion, sondern auch aus seiner positiven Zweckbestimmung legitimieren, etwa wenn er in der Disziplinierung der Bösen die Bedingung für die körperliche Unversehrtheit des einzelnen und das Zusammenleben im persönlichen Nahbereich sieht. Das weltliche Regiment sichert den Frieden als die Existenzgrundlage des einzelnen und der Gemeinschaft:

»qui suppressit populum et vi factus est dominus« (WA 14,210,3*). Die Gewaltherrschaft ist ein Merkmal aller ihm folgenden Herrscher bis zur Gegenwart (»Hec natura adhuc e est omnium principum« [WA 14,210,3 f.*]; »fast alle konigreich der art sind auß gotis II ordnung wie Nymrods« [WA 10 ,233,14]). Nimrod hat diese Herrschaft allerdings durchaus gut ausgeübt (»gubernationem pulchram incepit« [WA 14,210,4*; die Genesisvorlesung wird Nimrod später allerdings deutlich kritischer sehen: WA 42,400–403*]). 461 »uberkeyt« meint in der Obrigkeitsschrift entsprechend dem älteren Sprachgebrauch nicht eine »durch Personen repräsentierte[ ] Institution (die Regierenden: der Fürst, der Stadtrat oder sonst eine Behörde)«, sondern eine bestimmte »Funktion (Oberhoheit, Herrschaft, Rechtsgewalt)«, was sich auch in den von Luther verwendeten Synonymen »Amt, Gewalt, Recht, Herrschaft, Schwert (= Strafgewalt und Schutz), Regiment u.a.« zeigt (H. Bornkamm: Die Frage der Obrigkeit im Reformationszeitalter, in: Ders.: Das Jahrhundert der Reformation. Gestalten und Kräfte, 1983, 379–410.485–491, 383 f.). 462 WA 10I,454,8–21; WA 11,251,1–252,23. 463 WA 11,251,17 f.

8.2. politia

469

»Nu haben wir ja vom friede unser leib und leben, weib und kind, haus und hoff, ja e alle gliedmas, hende, fusse, augen und alle gesundheit und freyheit und sitzen sicher ynn dieser mauren des friedes. Es ist wol ein halb himelreich, wo friede ist«.464

Obwohl natürlich letztlich Gott der Geber aller innerweltlichen Güter ist, e e »so konnen wir doch des selben keins behalten noch sicher und frolich brauchen, wo er uns nicht ein bestendig fridlich regiment gebe«, weshalb die Fürsten in ihre Wappen oder auf ihre Münzen eigentlich besser »ein Brod setzen fur ein lawen odder rawten krantz«, »zuerynnern beide sie und die unterthanen, das wir durch yhr ampt schutz und friede haben und e on sie das liebe brod nicht essen noch behalten konnen«.465 Das Schwert ist so lebensnotwendig wie Essen und Trinken, ja es macht letztlich dieses Leben selbst aus.466 Aber nicht nur der Hausstand (»weyb und kind zihen, sich neeren«), sondern auch die Gottesverehrung (»Gotte dienen«)467 und die christliche Praxis in Gestalt der »fructus charitatis«468 bedürfen der obrigkeitlichen Friedenssicherung. Denn »Ubi pax non est et stil, nihil boni efficietur praedicatione Euangelii«.469 Allerdings: so sehr Gottes weltliches, durch das Schwert ausgeübtes, seinem geistlichen, durch das Wort ausgeübtem, Regiment dienstbar ist, so wenig heißt das, daß »gottis reych nit on [...] schwerd und der gleychen eußerlichs dings bestehen [kundte] [...] ßo es doch nur durch Gottis wort und geyst bestehet«.470 Die positive Funktion weltlicher Obrigkeit kommt auch darin zum Ausdruck, daß Luther in Anknüpfung an die antik-mittelalterliche bonum-commune-Tradition die salus populi zum Inhalt des fürstlichen officium macht.471 Er fordert vom Fürsten, daß der »sein volck lieb hat«472 und »alle seynen synn da hyn richtet, das er den selben [seyn unterthan] nutzlich und dienstlich o sey«; d.h. stets so handelt, »wie es yhn nutz und gut ist« und »sie mit o 473 guttem frid beschutzt und verteydingt werden«. Auf dieser Linie liegt die in anderen Zusammenhängen anzutreffende Bestimmung der politia als einer mittelbaren Schöpfungsordnung. In seiner Auslegung des vierten Dekaloggebots leitet er die politia nämlich aus der oeconomia – konkret aus dem Elternamt – ab: »Denn aus der eltern oberkeit fleusset und breitet sich aus alle andere«, insbesondere die weltliche Obrigkeit, die »ynn den 464

WA WA 466 WA 467 WA 468 WA 469 WA 470 WA 471 WA 472 WA 473 WA 465

31I,202,8–12. 30I,204,26–28.31–34. 18,392,9 f. (ähnlich WA 30II,556,23–26). 11,251,14. 26,32,10*. 16,339,3*. 11,258,38–259,2. 5,569,22–28. 7,602,12. 11,273,8 f.11–13.

470

8. Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt e

vater stand gehoret und am aller weitesten umb sich greiffet«.474 Und in der für seine politische Ethik grundlegenden Obrigkeitsschrift führt er die Reihe der biblischen Belege von Röm. 13 und 1.Petr. 2 bis zum Buch Genesis zurück und konstatiert, daß »des selben schwerds recht von anfang der welt gewest« ist.475 Die unterschiedlichen Akzentuierungen in der Qualifizierung der politia erklären sich aus dem zeitgeschichtlichen Kontext und der Abzweckung von Luthers jeweiligen Äußerungen. Es ist kein Selbstwiderspruch, wenn Luther die politia einmal als Ausdruck des eigentlichen Gotteswillens und ein andermal als von der Sünde erzwungene Notmaßname zur Erhaltung der Welt betrachtet. Oft genug stellt er beides nebeneinander, etwa wenn er als Aufgabe der weltlichen Obrigkeit sowohl die Wahrung des innerweltlichen Friedens als auch den Schutz des in dieser Welt anhebenden Gottesreichs nennt: »wo kein oberkeit ist, odder wo sie on ehre ist, da kan auch kein friede sein. Wo kein friede ist, da bleibt auch keine narung und kan keines fur des andern frevel, dieberey, rauberey, gewalt und untugent leben oder etwas behalten. So wird viel weniger da bleiben raum, Gotts wort zu leren und kinder zu Gottes furcht und zur e zucht zihen. Weil denn Gott die welt nicht wil wust und leer haben, sondern hat sie e geschaffen, das menschen drauff wonen und das land erbeiten und fullen sollen. [...], Und solchs alles nicht mag geschehen, wo kein friede ist, wird er gezwungen als ein schepffer sein eigen geschepffe, werck und ordnung zu erhalten, das er oberkeit mus einsetzen und erhalten und yhr das schwerd und gesetze befelhen, das e sie alle, die yhr nicht gehorchen, todten und straffen solle, als die auch widder Gott und seine ordnung streben und des lebens nicht werd sind«.476

Die Grundstruktur der Obrigkeit ist durch ihre Funktion gegeben. Als Strafgewalt gegenüber den Bösen und als Friedenswahrerin ist sie den Gliedern der politia übergeordnet. Sie verfügt über weitreichende Vollo machten »uber leyb und gutt und was eußerlich ist auff erden«477 und hat Anspruch auf Gehorsam. Im Gegenzug – »Gehorsam gepurt den unterthanen, sorgfeltickeit [sollicitudo (Röm. 12,8)] den uberhern« – ist sie gegenüber den ihr Untergeordneten zur verantwortungsvollen Wahrnehmung ihrer Aufgabe verpflichtet, »das sie fleisz haben yhr unterthanen wol zu regiren, lieblich mit yhn handeln, und alles thun, das sie yhn nutzlich und hulfflich sein«.478 Dieses patriarchale Modell innerweltlicher Herrschaft mit seiner Hierarchie und wechselseitigen Verantwortlichkeit impliziert jedoch keine bestimmte Verfassungsordnung. Luther kennt und bejaht unterschiedliche konkrete Ausgestaltungen der Grundstruktur von 474

WA WA 476 WA 477 WA 478 WA 475

30I,152,20 f.; 153,30 f. 11,247,31. 31I,192,21–32. 11,262,8 f. 6,264,17–20; WA 7,545,14–17.

8.2. politia

471

der Monarchie über die Aristokratie und Oligarchie bis hin zur Demokratie,479 und er weiß, daß je nach den zeitlich-örtlichen Verhältnissen unterschiedliche Ausgestaltungen möglich und gut sind. Entscheidend ist nicht, wie das Gemeinwesen organisiert ist, sondern daß die obrigkeitlichen Funktionsträger ihrer gottgegebenen Aufgabe nachkommen. Nicht den Institutionen und Strukturen gilt darum das Interesse der politischen Ethik Luthers, sondern den Personen. e o Die Bestimmung der weltlichen Obrigkeit »zur rach der bosen und zu 480 lob den frumen« (1.Petr. 2,14) umfaßt zwei Teilbereiche: die Durchsetzung des Friedens mit den Mitteln des Rechts und mit denen des Kriegs.481 Obwohl Luther sich zur Durchsetzung des Friedens innerhalb des einzelnen Gemeinwesens kaum ausführlicher äußert – sein Interesse gilt nicht der »mechanics of politics«,482 sondern der seelsorgerlichen Unterweisung: »Mir zymet nicht weiter zu reden, denn einem iglichen sein ampt anzuzeigen und sein gewissen zu unterrichten«,483 – läßt sich doch umrißhaft erschließen, wie er sich das vorstellt. Die Obrigkeit vereint als von Gott eingesetzte innerweltliche Ordnungsmacht legislative, exekutive und judikative Funktionen, die von den obrigkeitlichen Funktionsträgern als Einzelfunktionen oder zusammen ausgeübt werden. Da Luther in einer Welt lebte, in der die Ablösung der Macht von Personen und ihre Übertragung auf Institutionen sowie die Spezialisierung und Professionalisierung der obrigkeitlichen Funktionsträger erst begonnen hatte, ist der obrigkeitliche Apparat überschaubar: An der Spitze steht eine Einzelperson oder ein Kollektiv, unterhalb dieser Spitze gibt es zum einen die Berater und die Mitarbeiter der erst im Entstehen begriffenen zentralen Behörden wie Juristen, Sekretäre und Kanzleischreiber, zum anderen die einzelnen lokalen Funktionsträger wie Richter, Amtmänner, Vögte, Büttel.484 Wich479

In einer Tischrede aus dem Jahr 1539 unterscheidet Luther wohl im Anschluß an Aristoteles (Pol. III): »Politicus magistratus habet multas species: Monarchiae, als da ist regnum Galliae, Angliae, Portugaliae, Bohemiae, Vngariae, Poloniae. Aristocratia est magistratus civilis, ut Germaniae; democratia, ubi plures regunt, als in Schweitzen vnd Dytmars. Oligarchia, als zu Erfurdt« (WATR 4,238,12–15* [Nr. 4342]). 480 WA 11,247,29 f. »Frum« meint »rechtschaffen« und hat hier keine religiöse Nebenbedeutung. Es ist damit eine präzise Übersetzung des biblischen Texts: »ειÆ ς εÆ κδι κησιν κακοποιω Ä ν εÍ παινον δεÁ αÆ γαϑοποιω Ä ν«. Gleiches gilt für Röm. 13,1–7, wo die beiden Gruppen als die τοÁ κακοÁ ν πρα σσοντες und τοÁ αÆ γαϑοÁ ν ποιουÄ ντες unterschieden werden. 481 In der Obrigkeitsschrift werden diese beiden Aufgaben der Obrigkeit nur kurz und verengt auf die Frage nach der Gewaltanwendung nach innen (Strafrecht) und außen (Krieg) behandelt: WA 11,276,6–26; 276,27–278,12. 482 J. Cargill Thompson: The Political Thought of Martin Luther, 1984, 5. 483 WA 30II,129,24 f. 484 An »zum gericht« gehörendem Personal kann Luther »Rethe, Richter, Rechtkue ndige, stockmeister [Gefängnisaufseher], Hencker« (WA 19,653,17 f.) aufzählen; zum »rechte des regiments« gehören »Cantzler, schreiber, Richter, Fursprechen [Sachwalter],

472

8. Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

tig ist, daß die einzelnen obrigkeitlichen Funktionsträger ihrer Aufgabe persönlich und fachlich gerechtwerden. In der Tradition der mittelalterlichen Herrscherethik verlangt Luther vor allem Tugendhaftigkeit als Voraussetzung: »Vides ergo [sc. in Dtn. 16,18 und Ex. 18,21], quo animo oporteat esse eum, qui iudicis et gladii officium exercere debet nempe victore omnium affectuum, timoris, amoris, favoris, misericordiae, avariciae, spei, famae, vitae et mortis, et amatore simplicissimo simplicissimae veritatis et iusti iudicii«.485

Daneben sind aber auch entsprechende Kenntnisse und Erfahrungen wichtig, wie sie die antik-mittelalterliche Obrigkeitsunterweisung und die politische Praxis vermitteln. Besonders die »historien beyder heyligen und heydnischen bucher«486 vermitteln wertvolles Erfahrungswissen. Während die biblischen Texte die grundlegende Orientierung bieten, indem sie die Unterscheidung der Regimente und Reiche zeigen und Gott als die eigentliche Geschichtsmacht erkennen lehren, bieten die heidnischen Bücher die Füllung des theologischen Rahmens, indem Autoren wie »Homerus, Plato, Aristoteles, Cicero, Ulpianus etc.« in die politische Theorie und vorbildhafte Herrscher wie »Alexander, Augustus etc.« in die politische Praxis einführen. Deshalb soll jeder, der »im weltlichen Regiment wil lernen e und klug werden [...] die Heidnischen bucher und schrifften lesen. Die e habens warlich gar schon und reichlich ausgestrichen und gemalet, beide e mit spruchen und bildern, mit leren und exempeln«.487 Die theoretische Machtfülle der Obrigkeit ist faktisch durch die Bedingungen des »schwache[n] deutsche[n] Territorialstaats des 16. Jahrhunderts«488 mit seinen begrenzten wirtschaftlichen Ressourcen, seiner Einbindung in übergreifende politische Strukturen und seiner Machtbegrenzung durch ständische Rechte und Mitherrschaft beschränkt, mehr noch aber durch die Bindung an das Recht. Das nimmt auch Luther in seiner politischen Ethik auf: Für ihn darf die weltliche Obrigkeit als Wahrerin von Friede und Recht nicht im Widerspruch zu dieser Verpflichtung handeln – »Luthers Gewaltgedanke ist dem Rechtsgedanken unter- und eingeordnet«.489 Recht und Gewalt sind kein Widerspruch, sondern aufeinander angewiesen, denn das Recht bedarf des Schwerts, um sich Geltung zu verschaffen, und das Schwert braucht das Recht, um nicht tyrannisch zu werden: Notarius« (WA 30II,559,21 f.). Dem behördlichen Fachpersonal bringt Luther hohe Wertschätzung entgegen. Er empfiehlt den Bürgern nachdrücklich, ihre Kinder für eine Karriere in der Verwaltung und im Rechtswesen auszubilden (WA 30II,554–588). 485 WA 14,667,1–4. 486 WA 6,261,17 f. 487 WA 51,243,7.8 f.; 242,36–39. 488 H. Holborn: Machtpolitik und lutherische Sozialethik (ARG 57, 1966, 23–32, 24). 489 F. Lau: Luthers Lehre von den beiden Reichen, 21953, 47.

8.2. politia

473

»nisi sint administratores et executores legis, qui gladium gerant et exerceant, frustra est omnis legislatio quantumvis sancta, cum gladius sit virtus et efficacia ac ipsa vita legis, qui arcet malos et tuetur bonos. [...] Ubi lex ponitur, ibi gladium simul institui oportet, ut lex doceat, quae facienda et omittenda sunt, gladius autem id exequatur et puniat factores et omissores cogens impios vi ad faciendum et omittendum. Nam sine gladio lex inutilis et solum causa multiplicandorum facinorum est. Rursus gladius sine lege tyrannis et saevicia bestialis est. Utrunque autem, scil. lex et gladius simul iuncti, pulchra et stabilis politia est«.490

Auch wenn das Schwert Inbegriff der obrigkeitlichen Vollmacht ist und oft genug zur Anwendung kommt, so vollzieht sich weltliche Herrschaft doch nicht durch »die faust allein« und auch nicht primär, so daß »kurtz umb nicht faust recht, sondern kopffrecht, nicht gewalt, sondern Weisheit e odder vernunfft mus regieren unter den bosen so wol als unter den guten«.491 Und das heißt, daß – »wenn friede und nicht krieg ist« – es die »Cantzler, Stadschreiber, Juristen und das volck jnn seinen ampten« sind, die »mit der that die herrn auff erden« sind und mit ihrer »schreibfedder« »land leute und leute« regieren, und nicht die »reissigen [Bewaffneten] odder feld heubtleute«.492 Herrschaft ist also durch das Recht gebunden und wird mittels des Rechts ausgeübt, ja – entsprechend der mittelalterlichen Tradition – ist »der Herrscher für Luther in erster Linie iudex« und die »Regierung [...] iurisdictio«.493 Grundlegend für Luthers Rechtsverständnis494 ist die Unterscheidung der beiden göttlichen Regierweisen über die Menschen »ynn Gottis reych unter Christo« und »ynn der wellt reych unter der uberkeyt«, die »zweyerley gesetz« mit sich bringt. Denn »eyn iglich reych muß seyne gesetz unnd recht haben, unnd on gesetz keyn reych noch regiment bestehen kan«.495 Für die politische Ethik relevant ist der weltliche Rechtsbereich o mit den Gesetzen, die sich »uber leyb und gutt und was eußerlich ist auff erden« erstrecken.496 Die hier geforderte iustitia civilis ist zwar verglichen 490

WA 14,665,1–10. WA 30II,557,29–31. 492 WA 30II,567,22–25.33–35. 491

493

J. Heckel: Lex charitatis, 21973, 118609. Zu Luthers Rechtsverständnis siehe die Literatur zur politischen Ethik (8.2., Anm. 427), die immer auch dieses Thema mitbehandelt, sowie: J. Estes: Luther’s Attitude Toward the Legal Traditions of his Time (LuJ 76, 2009, 77–110); TRE 24,153–155 (Falk Wagner); TRE 28,228 (Hans-Richard Reuter). – Die 1953 erstmals erschienene, forschungsgeschichtlich wichtige, in ihrer Anlage wie in ihrer Durchführung aber problematische Monographie Lex charitatis. Eine juristische Untersuchung über das Recht in der Theologie Martin Luthers, von Johannes Heckel ist wegen der zahlreichen Quellenzitate und der – freilich allzu schematischen und in einem Luther nicht gerechtwerdenden Dualismus befangenen – Systematisierung immer noch wertvoll. 495 WA 11,262,4–7. 496 WA 11,262,8 f. 494

474

8. Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

mit der Glaubensgerechtigkeit des Gottesreichs weniger wichtig, aber zugleich ist sie gerade wegen ihrer Heilsirrelevanz eine eigenständige Größe. Luthers rechtfertigungstheologische Kritik der praktischen Vernunft und des Gesetzes hat für den weltlichen Rechtsbereich keine unmittelbare Bedeutung. Stattdessen »führt die soteriologische Kritik der Vernunft [...] zu einer positiven Würdigung der empirischen Rationalität in weltlichen Dingen, die Luther [...] der natürlichen Rationalität anvertraut«, indem die »ratio durch den Glauben soteriologisch entlastet und gleichzeitig in ihrer säkularen Funktion der instrumentalen Weltverantwortung legitimiert« wird.497 Vernunft und Recht sind hier für den Menschen im allgemeinen und für den Christen im besonderen die entscheidenden Leitgrößen. Luthers Aussagen über das Recht ziehen sich durch sein ganzes Werk und bilden weder terminologisch noch sachlich ein einheitliches und systematisches Ganzes. Der Versuch mit Hilfe zeitgenössischer und moderner Rechtssystematiken Luthers Aussagen zu vereinheitlichen – wie es etwa Johannes Heckel getan hat – und ein hochdifferenziertes, in sich stimmiges Ganzes zu rekonstruieren, ist nur teilweise überzeugend. Besser ist es, erstens das Recht im Gottesreich – nämlich die im Liebesgebot zusammengefaßte und in »Leyden leyden, Creutz creutz«498 führende neutestamentliche Paränese – und im Weltreich sowie zweitens innerhalb des Weltreichs das Vernunft- und Naturrecht einerseits und das Land- und Buchrecht andererseits zu unterscheiden. Mit diesen beiden Unterscheidungen lassen sich die meisten Aussagen Luthers über das Recht sachgerecht interpretieren. Allerdings ist zu beachten, daß Luther einen inneren Zusammenhang zwischen den jeweils unterschiedenen Größen voraussetzt. Er kann sie also sowohl enger aneineinder rükken, aber auch terminologisch und sachlich weiter differenzieren.

Der letzte Maßstab allen obrigkeitlichen Handelns ist die Vernunft und das in ihr enthaltene Recht: »jnn welltlichem reich mus man aus der vernunfft (da her die Rechte auch komen sind) handeln, denn Gott hat der vernunfft unterworfen solch zeitlich regiment und leiblich wesen«.499 Kern dieses Vernunftrechts ist das natürliche Recht, das für Luther keinen festumschriebenen Inhalt hat, sondern alle universalen, selbstevidenten Normen umfaßt. Immer wieder verweist er auf diese selbstverständlichen Vorgaben, deren Inbegriff die Goldene Regel500 und deren wichtigste Kodifizierung die zweite Dekalogtafel501 ist. Die elementaren »gemeynen natur497 K.-H. zur Mühlen: Reformatorische Vernunftkritik und neuzeitliches Denken, 1980, 72.155. Zur »Aufgabe der ratio in der Welt«: B. Lohse: Ratio und fides. Eine Untersuchung über die ratio in der Theologie Luthers, 1958, 119–126. 498 WA 18,310,28. 499 WA 30II,562,28–30. 500 WA 2,120,22–24; WA 17II,102,8–10; WA 18,80,31 f.; WA 19,638,30 f. 501 WA 18,80,28–30; 81,4. Auch die erste Dekalogtafel ist für Luther Ausdruck des natürlichen Rechts, sofern sie inhaltlich mit diesem übereinstimmt. So kann etwa das erste Dekaloggebot allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen, das Bilderverbot dagegen nicht (WA 18,80,15–27; 81,4–17).

8.2. politia

475

lichen gesetze«, die »durch alle lande gehen und bleyben« sind »elltern ehren, nicht morden, nicht ehe brechen, Gott dienen«.502 Daneben ordnet Luther zahlreiche weitere mehr oder minder allgemeine Forderungen dem Natur- und Vernunftrecht zu.503 Allerdings bedeutet die Selbstevidenz und Selbstverständlichkeit des vernünftigen ius naturale nicht, daß es von allen Menschen gleichermaßen gewußt und bejaht wird. Zwar fließt »alles gee e schrieben recht« aus dem »naturliche[n] recht« und der »naturliche[n] vernunfft«, aber das heißt längst nicht, daß jeder davon ausgehen kann, »Es e sticke das naturliche recht jnn seinem kopffe«.504 Neben dem individuell verschiedenen Wissen und Vermögen der Menschen, angesichts dessen das natürliche Recht immer neu bewußt gemacht und in seiner Verbindlichkeit erschlossen werden muß, ist ein weiterer Grund dafür, daß es nicht ohne Weiteres verfügbar ist, die Beeinträchtigung des natürlichen Vermögens durch die Sünde. So hoch Luther die Vernunft schätzen kann, so sehr weiß er darum, daß sie unter den Bedingungen der Sünde und auf sich allein gestellt zur »tolle[n] [unvernünftigen] vernunfft«505 werden kann. Es gibt für Luther genug Beispiele politischen Handelns, das – einer Binnenlogik folgend und äußerlich vernünftig erscheinend – eine Verkehrung der Vernunft und des natürlichen Rechts ist. Abhilfe dagegen bietet letztlich auch nicht die ethische Unterweisung, sondern nur die göttliche Gabe, die es einzelnen »Wunderleuten« (viri heroici) ermöglicht, intuitiv das Richtige zu tun. Das natürliche Recht verpflichtet darum die Obrigkeit nicht unmittelbar, sondern nur vermittelt durch das von ihm abgeleitete positive Recht: »weil solche vogel [sc. die »das recht auswendig treffen« können, weil sie »von natur so weise und klug« sind] seltzam [selten] sind und da zu das exempel ferlich, Auch umb der andern willen, die solchs von natur e nicht vermugen, ists besser jnn stettigem regiern das gemein buchrecht halten, so hats deste mehr ansehen und glimpff [Ehre] und darf keines wunders noch sonders«.506 Allerdings müssen sich die Sätze des »geschriebene[n] recht[s]« stets an der »vernunfft« messen lassen, aus der sie »ge502 503

WA 18,81,12–14.

Dazu gehören beispielsweise: suum cuique (WA 12,685,1–4*); »niemand solle noch muge seyn eygen richter seyn, noch sich selbs rechen« (WA 18,303,34–304,19); »Wer schaden verhueten kan und thuts nicht, der ist auch selbschuldig an solchem schaden« e (WA 30II,544,30–32); »das man solle nicht verdammen, man hore denn zuvor die antwort III des verdampten« (WA 30 ,284,15 f.). 504 WA 51,211,34–212,2. 505 WA 32,519,33*. Luther kann darum auch geradezu vor der sich selbst überschätzenden Vernunft warnen: »Das ist der groste, nehiste, mechtigster, schedlichster feynd aller menschen, zuvor der ubirhern, das heyst vornunfft, gutte meynung odder gut dunckel, ausz wilchem alle radschleg und regiment fliessen mussen« (WA 7,602,23–25). 506 WA 30II,558,19 f.21–25. »sonders« ist hier »formelhaft mit wunder verbunden« und als »besondere wendung« zu verstehen (DWb 10I,1576). e

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8. Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

quollen sind als auß dem rechts brunnen«.507 Insbesondere muß man bei der Rechtsanwendung »mit eygener vernunfft messen, wann und wo das o o recht der strenge nach zu brauchen odder zu lindern sey, Also das alltzeyt uber alles recht regiere unnd das uberst recht unnd meyster alles rechten bleybe die vernunfft«.508 Dieses geschriebene Recht gibt es in zeitlich und örtlich unterschiedlichen Formen. Für das Deutschland zu Luthers Zeit sind vor allem vier Rechtstraditionen wichtig:509 Erstens das deutsche Recht oder gemeine Recht oder Landrecht, wie es beispielsweise im Sachsenspiegel kodifiziert ist; zweitens das aus der Antike ererbte römische Recht, wie es im Corpus Iuris Civilis kodifiziert ist und im spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Reichsrecht fortentwickelt wird; drittens das im Laufe der Spätantike und des Mittelalters entstandene und seit dem Hochmittelalter gesammelte und systematisierte kanonische Recht, wie es in nachreformatorischer Zeit im Corpus Iuris Canonici kodifiziert werden wird, aber zu Luthers Zeit bereits als Sammlung seiner fünf Hauptbestandteile bekannt ist; und viertens das alttestamentliche Recht. Verbindlichkeit haben für Luther nur die ersten beiden Rechtstraditionen, und das auch nur in bestimmter Hinsicht. Obwohl Luther das kanonische Recht als illegitime Vermischung der beiden Regimente und Reiche ablehnt, behalten einzelne kirchen- und zivilrechtliche Bestimmungen ihre Bedeutung und werden von Luther etwa im Rahmen des Eherechts oder der Kirchenreform rezipiert. Das mosaische Gesetz hat für Luther vorbildhafte Funktion, weil es das von Gott selbst erlassene positive Recht des 507 508

WA 11,280,16 f. WA 11,272,14–17. Luthers Skepsis gegenüber dem geschriebenen Recht kann sogar

so weit gehen, daß er – etwa angesichts des spätmittelalterlichen Eherechts – behauptet, »nullam rem publicam legibus foeliciter administrari«, und meint, daß der »Magistratus [...] ductu naturae omnia foeliciter administrabit quam legibus« (WA 6,554,24–26). Auch die Entgegensetzung von »zweyerley Recht, Justum Natura, Justum Lege«, d.h. von »gesunde[m] recht«, das »aus krafft der natur geschicht« und »frisch hindurch [gehet] auch on alles Gesetz«, ja sogar »alle Gesetze« durchreißt, einerseits und »krancke[m] recht« andererseits (WA 51,214,14–17) führt zu einer problematischen Abwertung des positiven Rechts. 509 Die rechtshistorische Forschung hat gezeigt, daß diese vier Rechtstraditionen für die juristische Theorie und Praxis zu Luthers Zeit nicht alle ein festumrissenes, systematisches Ganzes sind; man ist sich zwar ihrer Unterschiede und Eigenarten bewußt, verbindet sie aber auch miteinander. Die in der älteren reformationsgeschichtlichen Forschung beliebte Gegenüberstellung der vier Traditionen und die daraus abgeleiteten Aussagen über Luthers Rechtsverständnis sind zumindest schief. – Wichtige Literatur zum rechtsgeschichtlichen Hintergrund: H. Berman: Law and Revolution. The Formation of the Western Legal Tradition, 1983; G. Strauss: Law, Resistance, and the State. The Opposition to Roman Law in Reformation Germany, 1986; LMA 3,270–277 (Peter Weimar); LMA 3,777–781 (Jürgen Weitzel); LMA 4,1214 (Matthias Schwaibold); LMA 5,904– 907 (Rudolf Weigand); LMA 5,1672 f. (Gerhard Köbler); LMA 7,1014–1016 (Filippo Ranieri); TRE 19,23–34 (Georg May); TRE 28,277–281 (Anneliese Sprengler-Ruppenthal).

8.2. politia

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alttestamentlichen jüdischen Volks ist. Aber gerade weil »Mose der Juden Sachssenspiegel«510 und damit zeitlich-örtlich beschränktes Recht ist, steht seine Rezeption frei. Das deutsche und römische Recht schätzt Luther zwar – in Deutschland richtet sich das Regiment selbstverständlich »nach e dem Romischen Keiserlichen recht«, »Welchs auch unsers regiments Weisheit und vernunfft ist, von Gott gegeben«511 –, er weiß aber um die jeweiligen Schwächen und scheut sich nicht, beides zu kritisieren. Das römische Recht etwa ist sehr umfangreich und kompliziert. Es bedarf einer nur von Juristen zu leistenden Pflege und Deutung, die es zum einen weiter wachsen und an Komplexität zunehmen und zum anderen sich immer weiter von der alltäglichen Lebenswirklichkeit und dem Rechtsempfinden entfernen läßt.512 Demgegenüber sind »landrecht und land sitten« zwar vorzuziehen und »eyn iglich land« soll nach »seine[r] eygen art und gaben« »mit eygenenn kurtzen rechten geregiert« werden.513 Aber auch das Landrecht ist nicht unproblematisch, etwa durch seine allzu große Härte (»Lex Saxonica est nimis rigida«514). Grundsätzlich muß sich das positive Recht auf seine Vernünftigkeit und Entsprechung zum natürlichen Recht hin prüfen lassen. Dadurch ergibt sich von selbst eine Reduktion und Vereinfachung des Rechts, an der Luther angesichts der »wildnisz«515 des weltlichen Rechts gelegen ist. Er ist der Überzeugung, »vornunfftige regenten [...] werenn ubrig [im Überfluß] recht gnug«516 und das Gemeinwesen sei umso glücklicher, je weniger Gesetze es gebe.517 Desweiteren muß das positive Recht mit Rücksicht auf die konkrete Situation und den jeweiligen Einzelfall gehandhabt werden.518 Die hier geforderte Billigkeit (aequitas, εÆ πιει κεια) ist keine Relativierung des Rechts, sondern für Luther eine im Recht selbst enthaltene Vorgabe. Denn das Recht ist kein Selbstzweck, sondern dient dem Schutz der Rechtsgüter, so daß in den nicht seltenen Fällen, in denen die strikte Durchsetzung des Rechts die Rechtsgüter gefährdet – Luther zitert hier gerne die Regel »summum ius summa iniuria«519 –, das Recht um seiner selbst willen frei gehandhabt 510

WA 18,81,14 f.; WA 16,378,11*. WA 30II,557,32–34. 512 WA 6,460,2 f. 513 WA 6,459,36.38 f. 514 WATR 3,446,32* (Nr. 3604 B). 515 WA 6,459,30. 516 WA 6,459,33 f. 511

517 »Res publica quanto paucioribus legibus administratur, tanto foelicior est« (WA 2,617,1–3). 518 WA 7,580,13–584,33; WA 11,272,6–24; WA 11,276,6–26; WA 11,278,27–280,19; WA 19,632,8–24. Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund: LMA 1,186 f. (Hans-Jürgen Becker). 519 WA 17II,92,11; WA 19,630,12 f.; WA 37,157,18*; WA 51,206,2 f.; WATR 3,3604 A.

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werden muß. Ja, Luthers Ideal ist es, daß die obrigkeitlichen Funktionsträger ganz ohne die Behinderung durch das positive Recht und kontrolliert durch die Vernunft aus ihrem natürlichen Rechtsempfinden heraus Recht sprechen und anwenden. Solche »Wunderleute«, die ihre obrigkeitlichen Funktionen intuitiv in idealer Weise ausüben, sind aber selten. Deshalb gilt für die große Mehrheit der obrigkeitlichen Funktionsträger die Bindung an das positive Recht und die Mahnung zu einer auch die Folgen berücksichtigenden Rechtsprechung und Rechtsanwendung. Der wichtigste Teil der obrigkeitlichen Tätigkeit ist dabei die Strafjustiz, also der Rechtsbereich, in dem sich der gemeinschaftsgefährdende Egoismus am krassesten zeigt, der mit der ganzen Strenge des obrigkeitlichen Machtapparats verfolgt werden muß. Die Durchsetzung des Friedens beschränkt sich aber nicht auf das Strafrecht, sondern betrifft die ganze Lebensordnung des Gemeinwesens. Luther spricht nicht nur »von der sozialen Pflicht der Obrigkeit« »in der regulativ-prohibitiven [...] [F]unktion der Bestrafung bei Übertretung der verbindlichen Normen«, sondern auch von der Pflicht der Obrigkeit »in ihrer edukativ-positiven Funktion«.520 Das heißt zum einen, daß der weite Bereich der strafrechtlich zwar nicht immer relevanten, aber mit der öffentlichen Sittlichkeit unvereinbaren Verhaltensweisen obrigkeitlich reglementiert wird und daß bestimmte moralische Standards in der Öffentlichkeit durchgesetzt werden. Diese Sozialdisziplinierung gilt einer ganzen Reihe von Punkten, die Luther immer wieder anführt: Verschwendung und Luxus bei Ernährung und Kleidung und besonders das den Deutschen eigene Laster des »miszprauch[s] fressens und sauffens«, wucherische Finanzgeschäfte, Fernhandel mit Luxusgütern, Prostitution, anzügliches Verhalten in der Öffentlichkeit oder Unbotmäßigkeit des Gesindes.521 Zum anderen heißt das, daß die Obrigkeit die materiell und rechtlich Benachteiligten unterstützt. Ihre Aufgabe ist es, »den elenden, waisen und widwen zum recht [zu] helffen und yhre sachen [zu] foddern«,522 was nicht so sehr die materielle Unterstützung als vielmehr den Rechtsschutz meint. Denn das eigentlich »ale mosen« ist die »oberkeit, die das Recht schaffet und hellt«.523 Aber in Ausnahmefällen sieht Luther die weltliche Obrigkeit auch in der Pflicht, materielle Hilfe zu leisten, etwa durch Zuwendungen von Geld oder Nahrungsmitteln. Die Armenfürsorge ist für ihn keine genuin obrigkeitliche Aufgabe, sondern Sache des Gemeinwesens als ganzem und seiner einzel520 E. Wolgast: Die Wittenberger Theologie und die Politik der evangelischen Stände, 1977, 62. 521 WA 6,261,23–262,13.29–34; 465,23–467,36. 522 WA 31I,200,5 f. 523 WA 31I,201,17 f.

8.2. politia

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nen Glieder. Die Obrigkeit setzt zwar den rechtlichen Rahmen und kontrolliert die Armenfürsorge, finanziell und organisatorisch ist sie aber Sache der von den Kirchengemeinden getragenen Gemeinen Kästen und des Engagements von Gruppen und Einzelpersonen. Die Durchsetzung des Friedens mit dem Mittel des Kriegs ist für Luther selbstverständlicher Teil der obrigkeitlichen Vollmacht. Das »kriegse ampt und werck« ist »an yhm selbs recht und gottlich« und »kriegen und e wurgen [...] und was krieges laufft und recht mit bringet«524 ist als Strafen von Unrecht und Bösem und Bewahrung von Frieden und Gehorsam Teil der innerweltlichen Ordnung. Allerdings muß sich jede kriegerische Gewaltanwendung an eben diesem Zweck messen lassen. So ist der Krieg gegen die eigene Obrigkeit oder der Angriffskrieg gegen gleichrangige Obrigkeiten verboten, weil damit die innerweltliche Ordnung gerade nicht bewahrt, sondern zerstört wird. Krieg ist nur als Verteidigungskrieg gegen Angriffe von außen durch gleichrangige Obrigkeiten oder gegen Angriffe von innen durch Untertanen möglich, um »das land zu schutzen und fride zu handhaben [erhalten]«.525 Luther schließt sich damit der augustinischthomasische Theorie vom bellum iustum mit ihren drei Kriterien für den gerechten Krieg – auctoritas principis, causa iusta, intentio recta – an.526 Von den Untertanen ist die Unterstützung eines gerechten Kriegs gefordert. Besonders der Adel und die Inhaber von Lehensgütern haben das »wehere ampt« inne, wofür sie ja vom bäuerlichen »neere ampt« durch »zinse und narung« versorgt werden.527 Eine Grenze hat die Gehorsamspflicht der zum Kriegsdienst geforderten Untertanen erst da, wo der Krieg offensichtlich unrecht ist; gegen das eigene Gewissen darf man keinen Kriegsdienst leisten und soll lieber die sich daraus ergebenden negativen Konsequenzen tragen.528 Luthers Verständnis der obrigkeitlichen Berechtigung und Verpflichtung zum Krieg hat Auswirkungen auch auf die in den 1520er Jahren für das Reich existentielle Frage des Türkenkriegs. Die spätmittelalterliche Überhöhung der Auseinandersetzung mit dem auf den Balkan und nach Ungarn expandierenden Osmanischen Reich zum religiösen Abwehrkampf des Christentums gegen den Islam verwirft er.529 524

WA 19,625,12 f.21–23. WA 19,654,10 f. 526 Augustin: De civ. XIX,7; Thomas von Aquin: S. th. 2a 2ae, q. 40, a. 1; LMA 525

1,1849–1851 (Adriano Cavanna, Hartmut Boockmann). 527 WA 19,653,23–656,21. 528 WA 19,656,22–657,10. 529 Anfangs kritisiert Luther den Türkenkrieg noch grundsätzlich, indem er die osmanische Expansion als göttliche Strafe und Weckruf zur Buße für die Christenheit versteht, die man anzunehmen und nicht zu bekämpfen habe (WA 1,535,35–39; WAB 1,282,11–14 [Nr. 125]; WA 7,140,18–141,25). Diese nur im Zusammenhang von Luthers

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8. Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

Stattdessen fordert er die weltlichen Obrigkeiten auf, schlicht ihrer Aufgabe der Friedenssicherung nachzukommen, d.h. sich gegen etwaige Angriffe von Seiten der Osmanen zu verteidigen. So sehr dieser obrigkeitliche Verteidigungskrieg von der Kirche geistlich begleitet werden soll – ist doch der Türke nicht nur ein innerweltlicher Feind, sondern auch und vor allem der eschatologischer Gegenspieler Gottes, gegen den die Christen mit Buße, Besserung des Lebens und Gebet zu kämpfen haben –, so wenig darf man die beiden Sphären vermischen. Die eigentliche Auseinandersetzung mit dem Islam als dem eschatologischen Gegenspieler Gottes ist dessen Sache, und die Kirche ist mit ihren geistlichen Mitteln daran beteiligt. Die weltlichen Obrigkeiten haben sich nur um den äußeren Frieden gegenüber einem Aggressor zu kümmern. »Des Keisers schwerd hat nichts e zuschaffen mit dem glauben, Es gehort ynn leibliche, weltliche sachen, Auff das nicht Gott auff uns zornig werde, so wir seine ordnung verkeren und verwirren«.530 Das obrigkeitliche Gewaltmonopol betrifft aber nicht nur die Gewaltanwendung nach außen, sondern auch die Gewaltanwendung nach innen. Für Luther ist jeder gewaltsame Aufruhr gegen die Obrigkeit von unten verboten und durch rasches und konsequentes Vorgehen der Obrigkeit dagegen zu bekämpfen. Das schärft er vom Beginn der 1520er Jahre an immer wieder ein. Als im Gefolge des Wormser Reichstags 1521 die beginnende reformatorische Bewegung in eine gewaltsame Veränderung der kirchlichen Verhältnisse von unten umzuschlagen drohte, warnte er in seiner Treuen Vermahnung nachdrücklich vor der für Kirche und Gemeinwesen zerstörerischen Dynamik solcher forcierter Reformen. Und während des Bauernkriegs wies er auf die katastrophalen Folgen hin, wenn die Untertanen ihr vermeintliches Recht mit Gewalt durchsetzen: »auffrur ist nicht eyn schlechter mord, sondern wie eyn gros feur, das eyn land anzundet und verwustet, also bringt auffrur mit sich eyn land vol mords, blutvergissen und macht widwen und weysen und verstoret alles, wie das allergrossest ungluck«.531

Während die Trägergruppen des Aufstands sich in einer Position der Stärke befinden, ja sich selbst zu Tyrannen532 und Richtern in eigener Sache533 Auseinandersetzung mit der Papstkirche verständliche Stellungnahme hat ihre Bedeutung darin, daß sie zeigt, daß Luther die religiöse Dimension des Türkenkriegs als problematisch erkennt. Die positive Kehrseite dieser Erkenntnis ist die in den 1520er Jahren aus den Grundsätzen seiner politischen Ethik abgeleitete Bejahung eines als innerweltlichen Verteidigungskriegs verstandenen Türkenkriegs. 530 WA 30II,131,8–10. 531 WA 18,358,11–14. 532 WA 19,634,31–636,16. 533 WA 8,680,36–681,5.

8.2. politia

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aufschwingen, trifft der mit dem Aufruhr einhergehende Zusammenbruch der Friedensordnung vor allem die Schwachen und Unschuldigen. Die Aufrührer kämpfen zwar gegen aus ihrer Sicht nicht hinnehmbares Unrecht. Aber sie können als unmittelbar Beteiligte nicht hinreichend zwischen gut und böse zu unterscheiden und schaffen damit selbst Unrecht: »wen Er [Herr] omnes auffstehet, der vormag solch unterscheyden der boszenn und frumen wydder treffen noch halten, schleget yn den hauffen, wie es trifft, und kan nit on grosz greulich unrecht tzu gehen«.534 Weil »auffruhr [...] keyn vornunfft [hat] und [...] gemeynicklich mehr ubir die unschuldigen denn ubir die schuldigen [geht,] [...] ist auch keyn auffruhr recht, wie rechte sach er ymer haben mag. Und folget alletzeyt mehr schadens den besserung dar ausz«.535 Luther formuliert darum schon 1521 einen Satz, der all seine späteren Äußerungen zum Thema, vor allem die Bauernkriegsschriften, vorwegnimmt: »Ich halt und wills alletzeyt halten mit dem teyl, das auffruhr leydet, wie unrechte sach es ymer habe, und wydder seyn dem teyll, das auffruhr macht, wie rechte sache es ymer habe, darumb das auffruhr nit kan on unschuldig blutt odder schaden ergehen«.536

Und dementsprechend schärft er der Obrigkeit ein, daß ihre Aufgabe auch die Bekämpfung des Aufruhrs ist.537 Diese Stellungnahme zum Aufruhr der Untertanen gegen die Obrigkeit gilt genauso auch für den Widerstand unterer obrigkeitlicher Hierarchieebenen gegenüber oberen.538 Mit den religionspolitischen Herausforderungen der 1520er Jahre stand im Reich eine größer werdende Gruppe von Reichsständen in der Religionsfrage gegen den Kaiser, und immer wieder stellte sich die Frage, ob und wie die reformationsfreundlichen Reichsstände gegen die antireformatorische Reichsreligionspolitik des Kaisers und der Reichstage vorgehen sollten. Motiviert war diese Frage nicht primär durch machtpolitische Ambitionen, sondern durch das Gefühl obrigkeitlicher Verantwortung für die Kirche: Müssen die der Reformation zuneigenden Obrigkeiten nicht die einzelnen Gläubigen und die im Entste534 535

WA 8,680,25–27. WA 8,680,18–21. Möglicherweise wirkt in Luthers Ablehnung des Aufruhrs auch

die antik-mittelalterliche Tradition nach, die »peioris generis bella, socialia scilicet et civilia« (Augustin, De civ. XIX,7) kannte und darum den Bürgerkrieg mehr fürchtete als den Krieg gegen einen auswärtigen Feind. 536 WA 8,680,32–34. 537 WA 8,680,22–25. 538 Zu Luthers Stellungnahmen zum Widerstandsrecht siehe oben 8.2., Anm. 427 die Literatur zur politischen Ethik (vor allem die Fallstudien von Eike Wolgast) sowie: H. Dörries: Luther und das Widerstandsrecht (in: Ders.: Wort und Stunde, Bd. 3, 1970, 195–270).

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8. Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

hen begriffenen reformatorischen Landeskirchen gegen die Repressionspolitik von Kaiser und Reich schützen? Die Gehorsamspflicht läßt für Luther keine Möglichkeit, einen solchen Widerstand zu legitimieren. Er beantwortet die schon in der mittelalterlichen politischen Ethik diskutierten Fragen der Legitimität der Absetzung von Herrschern durch die Untertanen und des Tyrannenmords klar ablehnend.539 Allerdings führte die mit der immer weiteren Ausbreitung der Reformation zunehmende Dringlichkeit der Frage des Umgangs mit dem Reformationsverbot des Wormser Reichstags und der von ihm gedeckten antireformatorischen Maßnahmen der 1520er und 1530er Jahre dazu, daß Luther die Gehorsamspflicht in zweierlei Hinsicht einschränken konnte.540 Zum einen erkannte er – freilich widerwillig und ohne letztlich davon überzeugt zu sein – seit 1530 an, daß die Reichsstände nicht einfach dem Kaiser untergeordnet, sondern reichsrechtlich an der Regierung des Reichs beteiligt sind. Das impliziert, daß der Kaiser ihnen gegenüber rechtliche Verpflichtungen hat, deren Einhaltung sie auch erzwingen dürfen. Im Interesse ihrer Rechtsposition dürfen die Reichsstände auch politisch-militärische Bündnisse – wie den Schmalkaldischen Bund – schließen und aktiven Widerstand gegen den Kaiser vorbereiten und auch tatsächlich leisten. Zum anderen erklärte er Widerstand für berechtigt und sogar zwingend notwendig, wenn der Kaiser sich zum Werkzeug des im Papst verkörperten Antichristen macht, weil dann die durch die antichristliche Infragestellung aller gegebenen Ordnungen drohende Zerstörung der Welt aufgehalten werden muß.541 Dabei geht es nicht um eine extreme Form der Tyrannei, 539 Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund: LMA 8,1135–1138 (Jürgen Miethke); LMA 9,64–66 (Thomas Brückner). Luther bezieht sich nicht direkt auf die mittelalter-

liche Diskussion, wird aber von den Unterstützern des Widerstandsrechts unter den Juristen und fürstlichen Beratern – beispielsweise im Vorfeld der theologisch wie politisch umstrittenen Gründung des Schmalkaldischen Bunds – mir ihr konfrontiert. Die Diskussion über das Widerstandsrecht in den 1520er und 1530er Jahren ist keine Fortsetzung der mittelalterlichen Diskussion, sondern verdankt sich der besonderen historischen Konstellation im Reich zwischen 1521 und 1555. Daß wir es hier wegen der besonderen zeitgeschichtlichen Umstände mit einer gegenüber der Tradition neuen Frage zu tun haben, heißt auch, daß die unterschiedlichen Stellungnahmen nicht ohne Weiteres auf spätere historische Konstellationen übertragen werden können. Während die Gehorsamspflicht konstitutiv für jedes Gemeinwesen ist, sind die Grenzen dieser Gehorsamspflicht je nach Zeit und Ort unterschiedlich gezogen. 540 Die schwer zu deutenden Äußerungen seines ersten Gutachtens in dieser Frage von 1523 (WAB 12,39 f. [Nr. 4222]), das unter bestimmten, eng gefaßten Bedingungen ein Widerstandsrecht befürwortet (E. Wolgast: Die Wittenberger Theologie und die Politik der evangelischen Stände, 1977, 101–106), bleiben hier außer Betracht. 541 WA 39II,42,1–43,2. Für die Interpretation dieser Thesen ist der Zusammenhang mit den vorangehenden Thesen zu beachten, die Luthers Aussagen über die Bekämpfung des antichristlichen Papsttums relativieren, indem sie als Normalfall des christlichen Weltverhältnisses die Einordnung in die innerweltlichen Strukturen (»Extra causam primae

8.2. politia

483

also um den Mißbrauch obrigkeitlicher Macht und die Verfolgung der wahren Christen, sondern um die Verneinung der doch auch vom Tyrannen anerkannten und zumindest teilweise gewahrten innerweltlichen Ordnung. Anders als gegenüber dem Tyrannen542 gilt gegenüber dem Antichristen und seinen Handlangern ein Recht, ja vielmehr eine Pflicht, Widerstand zu leisten. Angesichts des »Beerwolf[s]«, des widergöttlichen »monstr[um] furios[um] et obsess[um]«, der »vastatrix omnium belua« geht es nicht um Leiden und Erdulden – auch nicht für den Christen! –, sondern darum, gemeinsam dem Untier zu widerstehen (resistere), es zu überwältigen (opprimere) und zu töten (occidere). Allerdings formuliert Luther dieses »Widerstandsrecht« so, daß es in der politischen Praxis seiner Zeit keinerlei Relevanz haben konnte: Die apokalyptische Ausnahmesituation, die Luther als einzige wirklich tragfähige Begründung des Widerstands vor Augen steht, lag auch in der von Endzeiterwartungen durchzogenen politischen Welt des Reformationsjahrhunderts jenseits der täglichen Erfahrungswirklichkeit. Für die politische Praxis seiner Zeit waren die Gehorsamspflicht der Untertanen und die Rechte der Reichsstände gegenüber dem Kaiser entscheidend, und vor allem der Gehorsam ist und bleibt das, was Luthers politische Ethik durchweg bestimmt. Obwohl Luther die Gehorsamsforderung nicht durch ein allgemeines und in der politischen Wirklichkeit relevantes Widerstandsrecht beschränkte, hat dieser Gehorsam für ihn eine Grenze, nämlich da, wo eine obrigkeitliche Forderung den einzelnen vor einen Gewissenskonflikt stellt. Daß hier Gott mehr zu gehorchen ist als dem Menschen (Apg. 5,29), ist aber kein Satz, der zu den innerweltlichen Gegebenheiten zählt, sondern speziell den Christen betrifft, weshalb er weiter unten zu behandeln ist. Vom Widerstandsrecht gilt, »Quod princeps vt princeps sit politica persona et sic agens non agat vt Christianus [...]. Si igitur principi vt principi liceat resistere Cesari, illorum sit et iudicii et conscientie¸. Christiano certe nihil licet, vt qui mundo sit mortuus«.543 tabulae seu confessionis sunt omnia paranda, servanda, deferenda, administranda« [Th. 24]) darstellen und im Konfliktfall Selbst- und Weltverleugnung sowie Leiden fordern (»In causa enim primae tabulae [...] relinquenda et amittenda sunt omnia« [Th. 22], »qui in causa Dei non dixerit ad se, suos, sua: Nescio vos, non solum legem primae tabulae, sed nec secundae servat« [Th. 28]). 542 Das strikte Verbot von Aufruhr und Widerstand gegen die Obrigkeit heißt aber nicht, daß Luther Gewaltherrschaft einfach hinnimmt. Vielmehr sind dem Menschen hier darum die Hände gebunden, weil der Mißbrauch obrigkeitlicher Gewalt von dem unnachsichtig verfolgt und gestraft wird, der eigentlich Herr im weltlichen Reich ist: Die Rache ist Sache Gottes allein, wie Luther mit Verweis auf Röm. 12,19 immer wieder einschärft. Gottes Gericht trifft den Tyrannen auf vielerlei andere Weise als durch den Aufruhr oder Widerstand der Untertanen (WA 19,636,17–639,3). 543 WAB 6,17,9–13 (15.1.1531, Nr. 1772).

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8. Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

Gefährdet wird die innere Ordnung des Gemeinwesens aber nicht nur durch Rechtsbrüche, Abweichen von der öffentlichen Sittlichkeit, inneren Aufruhr und Angriffe von außen, sondern auch durch religiöse Devianz. Ganz abgesehen von der religiösen Wahrheitsfrage gehört zur innerweltlichen Verantwortlichkeit der Obrigkeit darum auch die Aufsicht über die öffentliche Gottesverehrung. Wie die Obrigkeitsschrift aber deutlich macht, erstreckt sich diese Verantwortlichkeit weder auf das Gewissen des einzelnen noch auf die inhaltliche Auseinandersetzung mit religiöser Devianz. Die Unterscheidung von Geistlichem und Weltlichem und die Unmöglichkeit der Beeinflussung des Inneren durch Äußeres haben zur Folge, daß äußerlicher Glaubenszwang unmöglich ist544 und daß sich Ketzerei nicht mit weltlichen Machtmitteln, sondern allein durch geistliche Überzeugungsarbeit mit dem Wort bekämpfen läßt.545 Wie Luther in den Folgejahren angesichts unterschiedlicher Herausforderungen – zu nennen sind etwa der Umgang mit den Resten problematischer altgläubiger Frömmigkeitspraxis, mit Thomas Müntzer, Andreas Karlstadt, dem Täufertum oder den Juden – deutlich macht, hat die Obrigkeit da zu reagieren, wo die Religion für das weltliche Gemeinwesen gefährlich wird. Luthers Stellungnahmen zum Problem religiöser Devianz werden dabei im Laufe der Jahre immer eindeutiger und klarer. Das als »Entwicklung zur Intoleranz«546 zu beschreiben, übersieht, daß die vermeintlich religiöse Toleranz implizierenden frühen Äußerungen Luthers weiterhin in Geltung bleiben und nun angesichts neuer geschichtlicher Erfahrungen um zusätzliche Hinweise zum Umgang mit für die weltliche Existenzdimension des Gemeinwesens problematischer religiöser Devianz ergänzt werden. Wäre Luther schon 1522/23 mit Müntzer oder dem Täufertum konfrontiert gewesen, hätte er sich schon damals wohl kaum anders als später geäußert. Man wird allenfalls sagen können, daß Luther sich der Implikationen seiner politischen Ethik für das Problemfeld der religiösen Devianz erst nach und nach bewußt wurde.547 544 545

WA 11,262,3–265,5. WA 11,268,19–270,29. Die Kritik am mittelalterlichen Ketzerrecht (Decretum Gra-

tiani secunda pars, causa 23.24 [in: Corpus iuris canonici, ed. Friedberg 1,889–1006]; Const. 3 des 4. Laterankonzils 1215 [QGPRK 1, Nr. 603]; Thomas von Aquin: S. th. 2a 2ae q. 10, a. 8, q. 11, a. 3; Ketzergesetze Kaiser Friedrichs II. [QGPRK 1, Nr. 617 f.]) und an der gewaltsamen Unterdrückung der Häresie findet sich auch schon in der Auseinandersetzung mit der Papstkirche in den Jahren zuvor (WA 6,455,21 f.; WA 7,139,13– 140,17). 546 J. Lecler: Geschichte der Religionsfreiheit im Zeitalter der Reformation Bd. 1, 1965, 247. 547 Die folgenden Ausführungen basieren darum vor allem auf den Äußerungen der 1530er Jahre, hier vor allem der Auslegung von Ps. 82,4 (WA 31I,207–213) und dem Gutachten über den Umgang mit den Täufern von 1536 (WA 50,9–15*), deren Tendenz

8.2. politia

485

Drei Gefährdungen nennt Luther immer wieder: Erstens die Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch religiös motivierten Aufruhr. Als Aufruhr gilt Luther nicht nur die offene Bekämpfung der Obrigkeit, sondern auch die Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch die Verweigerung des Eides oder die Distanzierung von der Welt durch das Verbot der Übernahme obrigkeitlicher Funktionen und den Güterkommunismus. Hier hat die Obrigkeit die Pflicht, den äußeren Frieden zu sichern. Zweitens die Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch falsche öffentliche Gottesverehrung und daraus folgende Spaltungen. Hier hat die Obrigkeit für eine einheitliche Gottesverehrung zu sorgen. Drittens die Gefährdung des Seelenheils des einzelnen durch falsche Schriftauslegung, Predigt und religiöse Praxis. Hier hat die Obrigkeit die Vermittlung und Ausübung des wahren Glaubens zu fördern.548 Dadurch wehrt sie der Destabilisierung des Gemeinwesens von innen infolge des religiösen Dissenses und dem göttliche Zorn von außen, der die manifeste Gotteslästerung durch Uneinigkeit und offene Bestreitung allgemein anerkannter religiöser Grundwahrheiten nicht ungestraft lassen wird. Die weltliche Obrigkeit hat dafür zu sorgen, daß die öffentliche Religionsausübung einheitlich, dem allgemeinen religiösen Konsens entsprechend und friedlich vor sich geht. Was das konkret heißt, expliziert Luther je nach Zusammenhang unterschiedlich. Geht es um die reformatorische Evangeliumsverkündigung und Glaubensfreiheit, kann er die Grenzen der religionspolitischen Vollmacht enger ziehen, als wenn es um religiöse Devianz in reformatorischen Städten und Territorien geht. Zwar gesteht er der reformatorischen Obrigkeit keine besondere, in ihrem Bekenntnis begründete Vollmacht über die allgemeine religionspolitische Vollmacht hinaus zu. Aber dank ihres Wissens sich aber bereits seit 1524 abzeichnet (WA 15,219,5–10; WA 18,86,7–88,30). Luthers Judenschriften bleiben hier außen vor, weil das Verhältnis von Gemeinwesen und Judentum noch einmal komplexer ist als das von Gemeinwesen und christlicher religiöser Devianz (zu Luthers Verhältnis zum Judentum zusammenfassend: Th. Kaufmann: Luthers »Judenschriften«, 2011). Grundsätzlich gilt das im Folgenden Skizzierte auch gegenüber dem Judentum. Ihm gegenüber bejaht Luther das Recht auf die Bildung einer sozialen und religiösen Sondergemeinschaft und deren Religionsausübung einerseits grundsätzlich, will dieses Recht aber andererseits je länger desto mehr beschränkt und im Fall der Gefährdung des öffentlichen Friedens ganz aufgehoben sehen. 548 Luther gesteht dabei der reformatorischen Obrigkeit einer höheres Maß an religionspolitischer Kompetenz zu als der altgläubigen. Die religiös indifferenten oder das wahre Christentum verfolgenden Obrigkeiten haben nur das Recht zur Regulierung der öffentlichen Gottesverehrung in ihrem Sinne und dürfen dabei auch gegen die Reformation vorgehen (darauf scheint Luthers Aussage in WA 31I,209,15–31 hinauszulaufen), sie haben aber kein Recht in die nichtöffentliche Religionsausübung einzugreifen. Die reformatorischen Obrigkeiten dagegen dürfen auch in diesen Bereich eingreifen und insbesondere religiöse Devianz verfolgen, müssen allerdings die Gewissensfreiheit respektieren.

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8. Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

um die religiöse Wahrheit kann sie zielgenauer religiöse Devianz erkennen und bekämpfen und dank ihres wahren Glaubens kann sie dessen gewiß sein, im Auftrag Gottes zu handeln und von Gott selbst unterstützt zu werden. Dabei weitet Luther von der Mitte der 1520er bis zur Mitte der 1530er Jahre den Tatbestand von der weltlichen Obrigkeit zu bekämpfender Devianz immer weiter aus und fordert immer strengere Gegenmaßnahmen. Zwar gelten diese Forderungen nach Restriktion und Repression allen Obrigkeiten, vor allem aber wendet er sich an die reformatorischen Obrigkeiten. Nachdem Müntzer, Karlstadt und der Bauernkrieg in Luthers Augen gezeigt haben, wohin die mißverstandene und mißbrauchte Evangeliumspredigt führen kann, sind es vor allem die unterschiedlichen Gruppen des Täufertums, die mit ihrer den religiösen Grundwertekonsens infragestellenden Ablehnung der Kindertaufe und ihrem die innerweltlichen Strukturen relativierenden Biblizismus gefährlich erscheinen. Auch wenn gilt, daß man niemanden zum Glauben zwingen kann, so impliziert das nicht, daß man falschen Glauben und falsche Praxis zu dulden hat. Luther fordert darum je nach Einzelfall unterschiedliche Maßnahmen. Grundlegend ist die Ermöglichung der theologischen Auseinandersetzung: »Man lasse die geyster auff eynander platzen und treffen«.549 Im selben Maße aber, wie sich die Reformation konsolidiert und die Auseinandersetzungen mit religiös devianten Gruppierungen sich zu wiederholen beginnen – also die Überzeugungskraft von Luthers reformatorischem Evangelium an ihre Grenzen stößt –, tritt die theologische Auseinandersetzung hinter weltlichen Zwangsmaßnahmen zurück. Zu diesen Maßnahmen zählen einzelne obrigkeitliche Auflagen wie das Verbot öffentlicher Äußerungen in Rede und Schrift, Versammlungsverbote oder Schriftenkonfiskation, aber auch Einschränkungen der persönlichen Freiheit hinsichtlich der Berufstätigkeit oder des Wohnorts und im äußersten Fall auch die Landesverweisung oder gar die Todesstrafe.550 All diese Maßnahmen werden mit der innerweltlichen Fürsorgeaufgabe der Obrigkeit begründet. Diese wird von Luther allerdings so gefaßt, daß die Grenzziehung zwischen Weltlichem und Geistlichem manchmal verwischt wird. Luther analysiert oft nicht ausreichend, ob in einer konkreten geschichtlichen Situation tatsächlich eine 549 550

WA 15,219,1 f.

In einer handschriftlichen Anmerkung zum Gemeinschaftsgutachten zum Umgang mit den Täufern von 1536, das auch die Todesstrafe vorsieht, fordert Luther, die konkreten Umstände zu berücksichtigen (»Dis ist die gemeine Regel, doch mag vnser gn. herr, allezeit, gnade neben der straffe gehen lassen, nach gelegenheit der zufelle« [WA 50,15, App. zu Z. 4]), worin eine gewisse Distanzierung gegenüber allzu harter Bestrafung zum Ausdruck kommt.

8.2. politia

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nicht hinnehmbare Störung der öffentlichen Ordnung durch religiöse Devianz vorliegt. In der Regel hat er wohl die Gefährlichkeit etwa des Spiritualismus oder der Täufer überschätzt, wenn nicht gar bewußt überdramatisiert. Zudem beraubt er seine eigene Reflexion der Selbstkontrolle und Selbstbeschränkung, wenn er immer wieder den Teufel als widergöttliche Chaosmacht am Werk sieht und daraus faktisch die Konsequenz zieht, daß dann wegen des eschatologischen Kampfes die Forderung innerweltlicher Verhältnismäßigkeit nicht mehr gelten kann. Gemäß der Obrigkeitsschrift müßte die Obrigkeit eigentlich eine größere Vielfalt an religiöser Lehre und Praxis dulden. So macht er sich selbst der unzulässigen Vermischung der beiden Regimente und Reiche schuldig, wenn er die Überschneidungszone von Geistlichem und Weltlichem letztlich zugunsten des Weltlichen, das für ihn notwendig, gefährdet und der christlichen Verantwortungsübernahme bedürftig ist, verschiebt. Trotz dieser nicht unproblematischen Ausweitung der religionspolitischen Kompetenz der Obrigkeit gilt für Luther jedoch nach wie vor, daß die obrigkeitlichen Machtmittel nicht im Dienst der herrschenden Religion stehen, sondern allein weltlichen Zwecken dienen. Wie verhält sich nun der Christ gegenüber der politia? Er findet sich immer schon in der politia vor und bejaht das Gemeinwesen und die weltliche Obrigkeit als göttliche Setzungen und Ordnungen. Diese Bejahung gründet jedoch nicht einfach darin, daß sich der Christ in gegebenen Strukturen vorfindet und diese Vorfindlichkeit mit der göttlichen Setzung dieser Strukturen identifiziert, sondern darin, daß Gott selbst in seinem Wort diese Strukturen bestätigt und den Christen zum Gehorsam verpflichtet. Der »ubirkeyt gehorsam« wird also »umb Gottis willen«551 geleistet. Die biblische Bestätigung der innerweltlichen Strukturen impliziert freilich keine politische Ethik und keine Einzelanweisungen für das Verhalten innerhalb des Gemeinwesens. Die konkrete Ausgestaltung des innerweltlichen Bereichs kann zwar aus vielen biblischen Weisungen, Geschichten und Beispielen schöpfen, ist aber letztlich Sache »eigener theologischer Urteilskraft und menschlicher Erfahrungsklugheit, [...] die zwar weithin durch biblische Aussagen bekräftigt werden, jedoch nicht mehr [...] darin gründen«.552 Diese Bejahung betrifft sowohl die Struktur als auch die Funktionen der politia und umfaßt damit auch die Anerkennung ihrer relativen Eigengesetzlichkeit. 551 552

WA 12,328,32*.

A. Beutel: Biblischer Text und theologische Theoriebildung in Luthers Schrift »Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei« (in: Ders.: Reflektierte Religion, 2007, 21–46, 36).

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8. Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

Die eine Forderung, in der sich das Verhältnis des Christen zur weltlichen Obrigkeit zusammenfaßt, ist die des Gehorsams. Darum ist auch die Unterweisung des einzelnen Christen hinsichtlich seiner »Privata vita« im Rahmen der politia »facilis«. Denn »Civis, puer, ancilla kan hin durch komen mit yhrem wesen, quod in mera obedientia«. Aber da, wo der Christ obrigkeitlicher Funktionsträger wird, verkompliziert sich die theologische Unterweisung, weil man mit der bloßen Gehorsamsforderung nicht weit kommt: »Docere enim reges et principes das ist difficillimum«.553 Die im Gehorsam geforderte Bejahung der innerweltlichen Gegebenheiten und Unterordnung unter die weltliche Obrigkeit hat allerdings ihre Grenze. Der Christ ist ja zuerst und vor allem Teil des Gottesreichs und steht unter dem geistlichen Regiment Christi – und damit der Welt gegenüber. Von Anfang an zieht sich diese Bestimmung des eigentlichen Orts und der damit verbundenen Charakteristika christlicher Existenz durch Luthers Werk: »non in violentia, Sed in amore regnum Christi incepit et stat et perseuerat«.554 Dieses »am hertzen« aufgehende »gotis reich« ist »nit anders dan frid, tzucht, demutigkeit, keuscheit, liebe und allerley tugenth, und das nit da sey tzorn, hassz, bitterkeit, unkeuscheit und alles des gleychen«.555 Solange das weltliche Regiment seinen Aufgaben nachkommt und die ihm gegebenen Grenzen nicht überschreitet, gibt es für den Christen keine Spannungen und Konflikte. Ja, die Kirche profitiert von der äußeren Ermöglichung der Evangeliumspredigt durch eine verantwortliche weltliche Obrigkeit. Aber oft genug überschreitet die weltliche Obrigkeit die ihr gesetzten Grenzen, indem sie entweder in Einzelfällen durch Kompetenzüberschreitungen oder Fehlentscheidungen dem Christen eine gehorsame Hinnahme unmöglich macht oder im Ganzen die gegebenen Ordnungen in Frage stellt. Im ersten Fall hat der Christ die Pflicht, die Obrigkeit darauf hinzuweisen, was Luther selbst oft getan hat, was er der Kirche als ihr Wächteramt aufgetragen hat und was das reformatorisch-nachreformatorische Luthertum in seiner Unterweisung und Kritik der Obrigkeit als seine selbstverständliche Aufgabe angenome e men und praktiziert hat:556 Es ist »nicht auffrhurissch [...] die oberkeit straffen, wo es geschicht nach der weise, die hie [Ps. 82,1] berurt stehet, e nemlich das es durch Gottlich befolhen ampt und durch Gotts wort ge553

WA 31II,590,6–8*. WA 55II,249,265 f. (ähnlich auch WA 55II,9,4–6). 555 WA 2,98,21; 97,29–31. 554

556

Luther hat mit seiner Auslegung von Ps. 101 dieser Obrigkeitsunterweisung wichtige Impulse gegeben (s. W. Sommer: Gottesfurcht und Fürstenherrschaft. Studien zum Obrigkeitsverständnis Johann Arndts und lutherischer Hofprediger zur Zeit der altprotestantischen Orthodoxie, 1988).

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8.2. politia e

schehe offentlich frey und redlich, Sondern es ist eine lobliche, edle, seltzame tugent und ein sonderlicher grosser Gottes dienst«.557 Das Eintreten gegen »alle[s] unrecht, wo die warheit odder gerechtickeit gewalt und not leydet«, und gegen die »gewalt« durch die »gewaltigenn« und »reychen«, die dem »armen und geringen menschen [...] widderfereth«, ist zudem bereits im zweiten Dekaloggebot von jedem Christen gefordert.558 Falls der Christ selbst durch Mißbrauch und Fehler der obrigkeitlichen Gewalt betroffen ist und eine ihn selbst betreffende Forderung mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann – etwa wenn er zur Teilnahme an einem unrechten Krieg oder zur Auslieferung von Luthers Bibelübersetzung verpflichtet wird –, muß er entsprechend Apg. 5,29 den Gehorsam verweigern.559 Die Gehorsamsverweigerung aus Gewissensgründen verschafft ihm gegenüber der Obrigkeit aber keine Rechtsposition. Sie bedeutet vielmehr, daß er die Konsequenzen gemäß der fünften Bergpredigtantithese zu erleiden hat. Gehorsam oder Leiden – gemeint ist damit nicht leidender Gehorsam, sondern gerade »leidendender Ungehorsam, d.h. passiver Widerstand«560 –, das sind gegenüber der Obrigkeit die beiden Möglichkeiten des Christen. Geht die weltliche Obrigkeit so weit, daß sie die gegebenen Ordnungen als solche infragestellt – etwa wenn sie sich in den Dienst des im Papst verkörperten Antichrist stellt –, dann kann Luther auch von einer Widerstandspflicht des Christen sprechen. Allerdings ist das eine Ausnahmesituation, von der Luther zwar weiß, die er sich aber schwerlich vorstellen kann. Machtmißbrauch und Tyrannei innerhalb der gegebenen Ordnungen sind für ihn alltägliche, vom Christen zu benennende, aber auch in Gehorsam und Leiden hinzunehmenende Wirklichkeit. Daß aber eine Obrigkeit die gegebenen Ordnungen als solche infragestellt, ist für ihn ein Selbstwiderspruch. Der ist nur dann möglich, wenn sich die Obrigkeit göttliche Vorrechte anmaßt und Gottes Ordnungen durch ihre eigenen ersetzt und sich selbst religiös überhöht.

557

WA 31I,197,29–33. WA 6,226,19–228,2. Die hier gegebene Begründung mit Ps. 82 führt Luther in der zehn Jahre später entstandenen Auslegung dieses Psalms weiter aus (hier v.a. WA 558

31I,198–204). 559 WA 19,656,22–657,10 (ein konkretes Beispiel für einen unrechten Krieg war die wegen der Wurzener Fehde drohende militärische Auseinandersetzung zwischen dem Kurfürstentum und dem Herzogtum Sachsen [WAB 10,36,157–162, Nr. 3733]); WA 11,265,28–268,18. Diese Gehorsamsverweigerung fordert Luther bereits 1520 in seiner Auslegung des vierten Dekaloggebotes (s. 6.2.). 560 H. Kunst: Evangelischer Glaube und politische Verantwortung, 1976, 227. Die Formulierung »leidender Ungehorsam« findet sich bereits bei Harald Diem: Luthers Lehre von den zwei Reichen, 1938, 94.

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8. Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

Der Christ steht der weltlichen Obrigkeit aber nicht nur gehorsam und leidend gegenüber, sondern ist selbst gefordert, dem Gemeinwesen in der liebenden Hingabe an den Mitmenschen in obrigkeitlicher Funktion zu dienen.561 Diese Liebespflicht macht es notwendig, daß die Kirche die Christen in deren konkreter Ausgestaltung unterrichtet. In der Tradition der mittelalterlichen Gemeindeunterweisung und Fürstenspiegel behandelt Luther darum regelmäßig die politische Ethik im allgemeinen sowie einzelne Fragen. Denn das Predigtamt hat nicht nur »sein eigentlich furnemlich werck«, nämlich daß es »das ewige leben gibt und vom tode und e sunden erloset«, sondern daneben auch die Aufgabe, mit seiner ethischen Unterweisung »das zeitlich leben und alle weltlichen stende« zu fördern.562 Das tut es, indem es »alle stende berichtet und unterweiset, wie sie eusserlich jnn jhren ampten und stenden sich halten sollen, da mit sie fur Gott recht thun« und insbesondere »bestettigt, sterckt und hilfft erhalten alle Oberkeit, allen zeitlichen friede, steuret den auffrurischen, leret gehorsam, sitten, zucht und ehre, Unterricht Vater ampt, mutter ampt, kinder ampt, knecht ampt, und summa alle weltliche empter und stende«.563 Nimmt die Kirche ihre Pflicht zur ethischen Unterweisung ernst, dann gilt nichts e weniger, als daß der »zeitliche fried, der das grosseste gut auff erden ist, e darinn auch alle andere zeitliche guter begriffen sind, [...] eigentlich eine frucht des rechten predig ampts« ist.564 Inhaltlich geht es bei der kirchlichen Unterweisung nicht darum, aus dem Gotteswort spezifisch christliche Normen für das Leben in der politia abzuleiten,565 sondern auch um die rechte Unterscheidung der beiden Regimente und Reiche und den Umgang mit den unterschiedlichen jeweiligen Anforderungen und den sich daraus ergebenden Spannungen im Vollzug des Lebens aus dem Glauben in der Welt. Luther selbst hat sich in seinen Predigten und katechetischen Schriften um diese Unterweisung bemüht, die bis hin zum in e e 1. Tim. 2,1f. geforderten566 »gebat fur die Obrigkeyt« in seinem Betbüch567 lein reicht. 561

Siehe auch oben S. 410 f. WA 30II,527,22–24. 563 WA 30II,537,22–30. 564 WA 30II,538,18–20. Die einleitende Relativierung dieser Aussage (»so man die warheit sagen wil«), zeigt, daß diese Aussage keine allgemeine Evidenz beanspruchen kann. 565 »Gottes wort ist nicht darumb hie, das es lere wie ein magd odder knecht jm haus erbeiten sol und sein brod verdienen odder ein burgermeister regieren, ein ackerman e pflugen odder hew machen. Summa es gibt noch zeiget nicht zeitlich guter, dadurch man dieses leben erhalte, denn solchs hat die vernunfft vorhin alles einen iglichen geleret« (WA 32,304,25–29*). 566 WA 26,32,1–34,29*. 567 WA 10II,480,23–36. 562

8.2. politia

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Der Dienst des Christen in obrigkeitlicher Funktion umfaßt alle obrigkeitlichen Aufgaben und beinhaltet auch die Gewaltanwendung. Luther hat das für zwei obrigkeitliche Funktionen ausführlicher entfaltet: für den christlichen Soldaten und für den christlichen Fürsten. Für beide gilt, daß sie mit ihrer Wahrnehmung obrigkeitlicher Aufgaben dem geradezu widersprechen, was die Bergpredigt vom Christen verlangt, daß sie damit aber genau das tun, was Gott von Christen in obrigkeitlicher Funktion verlangt. Die Vorstellung, man könne als Christ – zumal in einem christlichen Gemeinwesen – »die wellt nach dem Euangelio regirn und alle welltliche recht und schwerd auffheben«, will und braucht das Evangelium für die wahren Christen doch »keyn recht noch schwerd«,568 weist Luther nachdrücklich ab. Denn das hieße unter den Bedingungen der Sünde – »denn die wellt und die menge ist und bleybt unchristen, ob sie gleych alle getaufft und Christen heyssen«569 und auch die wahren Christen stehen als gerechtfertigte Sünder noch unter dem Regiment zur Linken –, »den wile e o den boßen thieren die band und keten auffloßen, das sie yderman zu ryso sen und zu byssen«, und die »Euangelische[] freyheytt mißbrauchen«.570 Für Luther ist die vorhandene Ordnung angesichts der weiterhin in der Welt herrschenden Sünde fragil, die weltliche Obrigkeit ist weniger gefährdend als vielmehr gefährdet und darum der aktiven christlichen Sorge für die Aufrechterhaltung der innerweltlichen Ordnung bedürftig. Der Christ unterscheidet sich in der Wahrnehmung des obrigkeitlichen Amts äußerlich in nichts vom Nichtchristen, geleitet von der Vernunft sorgt er für Recht und Frieden. Um seine obrigkeitliche Funktion ordnungsgemäß zu versehen, bedarf es keines christlichen Glaubens, nur die Vernunft ist notwendig. Die Welt bedarf also strenggenommen gar nicht der Christen als solcher, sondern verantwortlich handelnder weltlicher Funktionsträger.571 Gleichwohl ist der christliche Glaube nicht einfach irrelevant für die Wahrnehmung der obrigkeitlichen Verantwortung. Die christliche Wahrnehmung obrigkeitlicher Funktionen unterscheidet sich für Luther auch 568 WA 11,251,22–24. Luther grenzt sich hier wahrscheinlich nicht gegen bestimmte Personen und Gruppierungen ab, denn eine solche Position ist für die Entstehungszeit der Obrigkeitsschrift nicht nachweisbar (die von H.-J. Gänssler: Evangelium und weltliches Schwert, 1983, 46–51, für die vermeintliche utopistische Front beigebrachten frühen Quellenhinweise bleiben vage), sondern Luther spricht wohl ein für die in der traditionellen Diastase von Kirche und Welt befangenen Christen naheliegendes Mißverständnis an. 569 WA 11,251,35–37. 570 WA 11,251,26 f.29 f. 571 »Non indiget [mundus] Christianis ad magistratum, Ideo non opus ut Sanctus sit Caesar, non indiget ad regimen suum, ut sit Christianus. Satis est ad Caesarem, ut habeat rationem. [...] principes, praefecti, Iuristae et qui pertinent ad Cesaris officium et regimen, sollen gedencken, ut rite sua officia exequantur« (WA 27,418,2–7*).

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8. Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

qualitativ von der durch Nichtchristen. Christlicher Glaube ist zwar weder eine Bedingung noch eine Garantie für eine bessere Herrschaftsausübung, aber durchaus ein Vorteil. Die Bibel und die Geschichte zeigen für ihn vielfach, daß wahrhaft gottesfürchtige Herrscher – von Salomo bis zu Friedrich dem Weisen – der größte Segen für das Gemeinwesen waren. Die Besonderheit des christlichen Handelns in der obrigkeitlichen Funktion liegt in der inneren Motivation und dem geschichtstheologischen Horizont dieses in seiner Durchführung an Vernunft und Recht orientierten Handelns. Die innere Motivation besteht darin, daß der Christ das Schwertamt als Liebesdienst am Nächsten erkennt. Das verändert sein Verhältnis zu der ihm anvertrauten Macht grundlegend. Denn anders als andere Herrscher steht er weniger in der Gefahr, seine obrigkeitliche Gewalt mehr oder weniger subtil zum eigenen Vorteil zu mißbrauchen. Die von jedem obrigkeitlichen Amtsträger geforderte Uneigennützigkeit und Orientierung am gemeinen Nutzen kann darum gerade vom Christen tatsächlich auch umgesetzt werden: »Welcher nu eyn Christlicher furst sein will, der muß warlich die meynung ablegen, das er hirschen und mit gewallt faren wolle. Denn verflucht und verdampt ist alles o o o leben, das yhm selb zu nutz und zu gutt gelebt und gesucht wirt, verflucht alle werck, die nit ynn der liebe gehen. Denn aber gehen sie ynn der liebe, wenn sie nicht auff eygen lust, nutz, ehre, gemach [Ruhe] und heyl, sondern auff anderer nutz, ehre und heyl gericht sind von gantzem hertzen«.572

Der christliche Fürst ist durch das Vorbild Christi in Phil. 2,5–11 motiviert, was aber in der Sache keine Veränderung der innerweltlich gegebenen obrigkeitlichen Fürsorgepflicht bedeutet, sondern die Orientierung am bonum commune umso mehr einschärft: »Und soll Christum ynn seyn augen bilden und also sagen: ›Sihe, Christus, der o uberst furst, ist komen und hatt myr gedienet, nicht gesucht, wie er gewallt, gutt und ehre an myr hette, Sondern hatt nur meyn nott angesehen und alles dran o gewand, das ich gewallt, gutt und ehre an yhm unnd durch yhn hette. Alßo will ich auch thun, nicht yn meynen unterthanen das meyne suchen, sondern das yhre, e e unnd will yhn auch alßo dienen mit meynem ampt, sie schutzen, verhoren [anhöo ren] und verteydingen und alleyn dayhn regirn, das sie gut unnd nutz davon haben und nicht ich‹«.573

Allerdings führt dieser durch die Liebe motivierte Dienst am Nächsten in die scheinbare Paradoxie, daß gerade die äußere Gewaltanwendung zur Durchsetzung von Friede und Recht nichts weniger als ein christliches »werck« oder ein »dienst der liebe« ist.574 Die sich hier auftuende Span572

WA 11,271,35–272,5. WA 11,273,13–20. 574 WA 12,330,22–24*; WA 18,361,27; WA 19,625,26 f. 573

8.2. politia

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nung zwischen der dem Vorbild und den Forderungen Jesu entsprechenden Nächstenliebe einerseits und der innerweltlichen Eigengesetzlichkeit, die ein äußerlich dem in der Bergpredigt gelehrten Nachfolgeethos geradezu widersprechendes Verhalten fordert, andererseits, läßt das christliche Leben in der Welt aber nicht in zwei letztlich unverbundene Lebensvollzüge und eine sie regulierende »doppelte Moral nach geradezu entgegengesetzten Prinzipien«575 zerfallen. Vielmehr denkt Luther beides zusammen als die »Doppelgestalt der Liebe«.576 Wohl im Bewußtsein der Überforderung seiner Rezipienten durch solche Spitzenformulierungen spricht Luther häufig auch von der im Weltreich geforderten Barmherzigkeit.577 Diese ist gewissermaßen die naturrechtlich-innerweltliche Entsprechung zur christlichen Nächstenliebe. Sie mag äußerlich von verantwortungsvoller weltlicher Herrschaftsausübung nicht zu unterscheiden sein. Innerlich aber ist die Barmherzigkeit durch das Liebesgebot motiviert und erweist sich als den weltlichen Anforderungen in besonderer Weise gerechtwerdendende, spezifisch christliche Herrschaftspraxis.578 Der geschichtstheologische Horizont der christlichen Übernahme innerweltlicher Verantwortung liegt darin, daß nach Einsicht des Christen das Gemeinwesen, in dem er obrigkeitliche Verantwortung übernimmt, Teil des Weltreichs und des weltlichen Regiments Gottes ist. Er erkennt, daß die Eigengesetzlichkeit dieses Bereichs keine Autonomie bedeutet. Vielmehr verweisen Recht und Vernunft auf Gott zurück – alles menschliche Handeln ist eingebunden in das übergreifende göttliche Wirken.579 Wegen dieser umfassenden Geschichtsmächtigkeit Gottes kann Luther seine »rein säkulare Begründung politischer Herrschaft« mit ihrem »gegenüber aller spezifisch christlichen Motivation neutralen Begriff von politi575 E. Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, 1912, 488223. 576 I. Kisˇsˇ: Fünf Formen der Zwei-Reiche-Lehre Luthers (ZdZ 32, 1978, 1–16, 6). 577 WA 18,390,22.36 (der Sendbrief vom harten Büchlein wider die Bauern thematisiert durchweg das Verhältnis von Barmherzigkeit im geistlichen und im weltlichen Bereich); WA 30II,144,19. 578 Das Verhältnis von Naturrecht und Nächstenliebe ist von Luther allerdings nicht gänzlich geklärt. Auf jeden Fall ist es komplexer, als es Karl Holl mit seiner Relativierung der bleibenden Unterschiedenheit der beiden Regimente und Reiche (Holl 1,242– 252) nahelegt. Die eigentlich unzulässige Vereinfachung des Zusammenhangs von lex naturalis und Liebesgebot ist Luther selbst zuzuschreiben, der die Goldene Regel als Inbegriff der einen und das Gebot der Nächstenliebe als Inbegriff des anderen allzu nah aneinanderrückt (z.B. WA 11,279,16–34; WA 18,80,28–35). 579 Schon in seiner Magnifikatauslegung (1521) betont Luther, daß es eigentlich und vor allem Gott ist, der in der Geschichte wirkt, und daß alles menschliche Handeln das opus Dei voraussetzt. – Zur cooperatio zwischen Gott und Mensch in der Welt: M. Seils: Der Gedanke vom Zusammenwirken Gottes und des Menschen in Luthers Theologie, 1962, Teil B.III und C.

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8. Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

scher Herrschaft« »dennoch theologisch [...] interpretieren«.580 Und diese Erkenntnis der Geschichtsmächtigkeit Gottes bleibt nicht ohne Auswirkungen auf das konkrete Handeln des Christen in obrigkeitlicher Funktion. Er handelt in der Gewißheit, daß die Eigengesetzlichkeit des Weltlichen von Gott gewollt ist und daß die Welt gerade nicht mit der Bergpredigt regiert werden darf. Zugleich aber handelt er in der Gewißheit, daß es eigentlich Gott ist, der den Weltlauf lenkt, und daß das Gemeinwesen entscheidend auf Gott angewiesen ist. Maria (Lk. 1,46–55) und David (Ps. 101) zeigen deshalb vorbildhaft, daß Gottesfurcht und Demut die Charakteristika eines christlichen Herrschers sind. Der christliche Herrscher weiß darum, daß sein eigenes sich an Gottes Wollen und Handeln messen lassen muß. Grundlegend für die christliche Wahrnehmung obrigkeitlicher Funktionen ist die gelebte Frömmigkeit;581 etwa derart, daß sich der Herrscher im Gebet ganz Gott anvertraut, das eigene Unvermögen bekennt und bittet: »Sihe mein gott und vatter, das ist dein werck und ordnung, das ich in dissem stand zu regirn byn geporn und geschaffen [...]. Drumb gib mir mein herr und vatter, das ich deinem volck muge furweszenn [vorstehen] zu deinem lob und yhrem nutz; lasz mich nit folgen meiner vornunfft, szondern sey du meyn vornunfft«.582 Die Gottesfurcht läßt ihn äußerliche Gewalt nur als letztes Mittel gebrauchen. Im Bauernkrieg etwa fordert Luther die sich als Christen verstehenden Fürsten auf, »mit furchten« zu handeln, das heißt sie sollen »zum ersten die sachen Gott heym geben und bekennen, das wyr solchs wol verdienet haben, Dazu besorgen, das Gott villeicht den teuffel also errege zu gemeyner o straffe Deutschs lands«; zweitens sollen sie »demutiglich bitten widder den e teuffel umb hulffe«; und drittens, wenn »das hertze so gegen Gott geriche e tet ist, das man seynen gotlichen willen lesst wallten, ob er uns wolle e o odder nicht wolle zu Fursten und herren haben«, »soll man sich gegen die tolle bawren [...] zu recht und gleichem erbieten«. Erst wenn dieser Versuch der gütlichen Einigung scheitert, heißt es, »flux zum schwerd greyffen«.583 Diese Überlagerung von Entscheidungsprozessen durch scheinbar sachfremde Rücksichtnahmen und die dadurch eintretende Verlangsamung der ethischen Urteilsbildung und ihrer praktischen Umsetzung heißt aber nicht, daß der Christ seiner innerweltlichen Verantwortung nicht mehr 580

W. Pannenberg: Luthers Lehre von den zwei Reichen (in: Ders.: Ethik und Ekklesiologie, 1977, 97–114, hier: 99.109). Pannenberg weist in seinem lesenswerten Aufsatz auf die Problematik dieser Bestimmung des Verhältnisses der Reiche hin. 581 WA 10III,385,1–4*; WA 11,278,18–26. 582 WA 7,602,35–603,6. 583 WA 18,359,27–37. Wer so Gewalt anwenden muß, kann von sich sagen: »Ego amo pacem, cogor bellare« (WA 40III,264,2*).

8.2. politia

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adäquat nachkommt. Obwohl er nämlich in der Gottesbeziehung »vere zagt, furchtsam und demutig« ist und seine Sache Gott befiehlt, damit »ers e nicht nach unserm recht sondern nach seiner gute und gnaden schicke, auff e e das man Gott zuvor gewinne mit eym demutigen, furchtsamen hertzen«, behindert ihn das in seinem Verhalten gegenüber den Menschen dennoch nicht; denn hier ist er »kecke, frey und trotzig«, um »mit trotzigem, getrostem gemut sie [zu] schlahen«.584 Aber er nutzt dieses letzte Mittel eben bewußt und nur dann, wenn es sich nicht vermeiden läßt. Sich vor Gott für sein obrigkeitliches Handeln verantwortlich zu wissen, führt darum dazu, daß der Christ weniger gewalttätig und am Ende wohl besser regiert als jemand, der das Schwert rücksichtslos und unbedacht einsetzt. Zeigt sich der christliche Glaube des obrigkeitlichen Funktionsträgers vor allem in der Motivation und dem Horizont seines Handelns und weniger in diesem Handeln selbst, so gibt es doch einen Bereich der obrigkeitlichen Verantwortlichkeit, in dem dieser Glaube das Handeln inhaltlich prägt – die Religionspolitik. Die religionspolitische Verantwortlichkeit besteht wie oben gezeigt ganz abgesehen von dem religiösen Bekenntnis des Funktionsträgers. Aber eine wahrhaft christliche Obrigkeit ist für Luther nicht nur dafür zuständig, daß die Gottesverehrung äußerlich einheitlich und friedlich vor sich geht, sondern sie steht auch in der Pflicht, den wahren Glauben bestmöglich zu fördern und dessen Gegner in den Wirkungsmöglichkeiten zu beschränken.585 Das landesherrliche Kirchenregiment, wie es sich seit dem Spätmittelalter als neuartige territoriale religionspolitische Zuständigkeit der Obrigkeit herauszubilden begonnen hatte, war für Luther der Anknüpfungspunkt für die Forderung der obrigkeitlichen Unterstützung der Kirche. Angesichts des Versagens der kirchlichen Hierarchie verlangt schon 1520 die Adelsschrift, daß der »Christliche[] Adel deutscher Nation« in seiner obrigkeitlichen Funktion die Kirchenreform unterstützen soll. Zugleich macht sie klar, daß die Kirchenreform etwas ist, was der weltlichen Obrigkeit als solcher nicht zukommt. Zwar 584 585

WA 19,651,7–12.

Aus der umfangreichen Literatur zum Verhältnis von Staat und Kirche (dazu zählen auch die oben 8.2., Anm. 427 genannten Überblicksdarstellungen zur politischen Ethik) bei Luther sind die Forschungen von J. Estes (hier vor allem die Monographie Peace, Order and the Glory of God. Secular Authority and the Church in the Thought of Luther and Melanchthon 1518–1559, 2005, zu Luther: 1–52.179–212) besonders wichtig. Aus der älteren Literatur ist K. Holl: Luther und das landesherrliche Kirchenregiment (in: Holl 1,326–380) nach wie vor unverzichtbar, weil hier nachdrücklich auf das theologische Problem der obrigkeitlichen cura religionis aufmerksam gemacht und die Unterscheidung der beiden Regimente und Reiche als bleibendes Charakteristikum von Luthers Bestimmung des Verhältnisses von christlicher Obrigkeit und Kirche aufgewiesen wird.

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8. Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

hat die Obrigkeit von sich aus die Pflicht, kirchliche Mißstände, die die weltlich-leibliche Existenz der Untertanen gefährden, abzustellen; etwa indem sie ihre Untertanen vor der Ausbeutung und Unterdrückung durch die Kurie, der »offentlich rauberey, triegerey und tyranney der hellischen pfortten«, die »die Christenheit on leyp und seel vorterbet«,586 schützt oder indem sie die offen gotteslästerlichen, den göttlichen Zorn provozierenden Meßfeiern unterbindet.587 Aber die eigentliche Reform, nämlich die Einberufung des Konzils und die durch das Konzil zu initiierenden theologischen und institutionellen Veränderungen, fallen nicht in die obrigkeitliche Kompetenz. Denn ein »ander man ists, der das redle treybt«.588 Dieses Geschichtswirken Gottes vollzieht sich entweder durch das Wort, das die Menschen innerlich überzeugt und die Kirchenreform im Gefolge der Evangeliumspredigt unausweichlich mit sich bringt,589 oder unmittelbar durch göttliches Wirken, wie Luther beispielsweise gegenüber Kurfürst Friedrich 1522 bei seiner Rückkehr von der Wartburg hinsichtlich des Fortgangs der Reformation einschärft: »Dieser Sachen soll noch kann kein Schwert raten oder helfen, Gott muß hie allein schaffen, ohn alles menschliche Sorgen und Zutun«.590 Obrigkeitliche Funktionsträger sind an der Kirchenreform nur insofern beteiligt, als daß sie als von der Evangeliumspredigt ergriffen werden und damit als »mitchristen [...], mitpriester, mitgeystlich, mitmechtig in allen Dingen«,591 ihre weltlichen Kompetenzen im Notfall hilfsweise in den Dienst der Kirche stellen. Die obrigkeitliche Nothilfe zielt darauf, daß die Kirche sich am Ende selbst helfen kann, sie läuft weder auf einen christlichen noch auf einen zu verchristlichenden Staat, sondern im Gegenteil auf die bleibende Unterschiedenheit beider göttlicher Regimente hinaus. Und sie hat ihre letzte, entscheidende Begrenzung darin, daß es Gott selbst ist, der den christlichen Adel für die 586 587

WA 6,427,13–15.

Nachdem Luther 1521/22 ein obrigkeitliches Vorgehen gegen problematische altgläubige Frömmigkeitsformen nur indirekt befürwortet hatte (etwa 1521 in De abroganda missa privata oder in seinen Stellungnahmen zur Wittenberger Bewegung und zur Wittenberger Kirchenordnung, z.B. in den Briefen des Herbsts und Winter 1521/22 oder in den Invokavitpredigten), forderte er in den Folgejahren ihre auch mit obrigkeitlichen Machtmitteln durchgesetzte Unterbindung (z.B. WAB 3,375–377 [Nr. 794], WAB 4,27–29 [Nr. 978]; K. Trüdinger: Luthers Briefe und Gutachten an weltliche Obrigkeiten zur Durchführung der Reformation, 1975, 45–54). 588 WA 8,683,24 f. 589 Die Treue Vermahnung, in der das weiter ausgeführt wird, ist ein Seitenstück zur Adelsschrift, indem sie zeigt, daß sich die Kirchenreform als Gottes Geschichtshandeln nicht gewaltsam vollzieht, sondern der vorhandenen kirchlichen und weltlichen Strukturen und Institutionen bedient. 590 WAB 2,455,80–456,82 (Nr. 455). 591 WA 6,413,30 f.

8.2. politia

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Kirchenreform in Dienst nimmt. Das zeigen bereits die Widmungsvorrede und der Abschluß der Adelsschrift. Hier gibt Luther seiner Hoffnung Ausdruck, daß »got wolt doch durch den leyen standt seiner kirchen helffen, seintemal der geistlich stand, dem es billicher geburt, ist gantz unachtsam worden«.592 Und er bittet Gott, »uns allen einen Christlichen vorstand, und szonderlich dem Christlichen Adel deutscher Nation einenn rechtenn geystlichen mut, der armen kirchen das beste zuthun«593 zu geben. In den Folgejahren, als die reformatorische Bewegung von unten zusammen mit der obrigkeitlichen Regulierung von oben zur Kirchenreform und zur Entstehung reformatorischer Landeskirchen führte, verwies Luther immer wieder auf die Pflicht zur obrigkeitlichen Nothilfe im Raum der Kirche und auf die durch die Unterscheidung der beiden Regimente und Reiche gegebene Grenze dieser Hilfe.594 So fordert Luther im November 1526 den Kurfürsten zur Übernahme des die äußere Ordnung der Kirchengemeinden betreffenden Teils der bischöflichen Visitationsverpflichtungen auf, weil »vns allen« – gemeint ist das aus Christen bestehende Gemeinwesen, dessen Gliedern im Fall des Versagens der episkopalen Ordnung die Wahrnehmung der bischöflichen Rechte zufällt –, »sonderlich der Oberkeit geboten ist, für allen di[ngen] doch die arme iugent, so teglich geborn wird vnd daher wechst, [zu] ziehen vnd zu gotts furcht vnd zucht halten«. Dem Kurfürsten kommt zwar kein geistliches Aufsichtsrecht über die Kirchengemeinden zu, aber er muß die äußeren Bedingungen dafür schaffen, daß reformatorische Kirche vor Ort möglich ist. Insbesondere heißt das: »Wo nu stad odder dorff ist, die des vermugends sind, hat E.C. f.g. macht, sie zu zwingen, das sie schulen, predigstuelen, pfarhen halten [finanzieren]. Wollen sie es nicht zu yhrer seelickeit thun noch bedencken, So ist E.C.f. g. da als oberster furmund der iugent vnd aller, die es bedurffen, vnd sol sie gewalt dazu halten, das sie es thun mussen, gleich als wenn man sie mit gewalt zwingt, das sie zur brucken, 592 593

WA 6,404,15 f. WA 6,469,15–17.

594 Daß dabei seine Hinweise auf die Grenze der religionspolitischen Verantwortung von den reformatorischen Obrigkeiten, die die Reformation zum Anlaß der Weiterentwicklung der bereits vorhandenen Ansätze des landesherrlichen Kirchenregiments nahmen, nicht verfingen, zeigt die unterschiedliche Einschätzung der kursächsischen Visitationen 1527/28. Karl Holls Aufweis des latenten Gegensatzes zwischen landesherrlichem Kirchenregiment und Luthers Begrenzung der obrigkeitlichem Befugnis (Holl 1,366–379) ist trotz der dagegen gemachten Einwände der neueren Forschung (H. Kunst: Evangelischer Glaube und politische Verantwortung, 1976, 191–206; TRE 19,60 f. [Hans-Walter Krumwiede]; J. Estes: Peace, Order and the Glory of God, 2005, 51 f.) grundsätzlich richtig.

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8. Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

steg vnd weg, odder sonst zufelliger lands not geben vnd dienen mussen«.595 Allerdings läßt sich im Laufe der Jahre eine Umakzentuierung erkennen. Angesichts der drängenden Probleme der Kirchenreform und der im Ganzen positiven Erfahrungen mit der Wahrnehmung der religionspolitischen Verantwortung durch die reformatorischen Obrigkeiten betonte Luther weniger die Grenzen der obrigkeitlichen cura religionis als die Verpflichtung der obrigkeitlichen Funktionsträger zur Unterstützung der Kirche. Am Beispiel Davids, des von Gott besonders befähigten alttestamentlichen Idealherrschers, macht Luther klar, was es heißt, daß beide Regimente letztlich Gottes Regimente sind und daß Gott in Welt und Kirche die eigentlich handelnde Geschichtsmacht ist: Auch die weltliche Obrigkeit steht im Dienst Gottes, weshalb sie einerseits auf die Unterscheidung der Regimente zu achten hat, andererseits aber ihre weltlichen Machtmittel Gott als der »einige[n] Oberkeit uber alles, was geschaffen ist«596 auch in seinem geistlichen Regiment zur Verfügung stellt. Nicht daß Luther ein christlicher Staat vor Augen steht – das würde der kategorialen Unterscheidung der beiden Regimente und Reiche widersprechen. Aber in einem vom Christentum geprägten Gemeinwesen ist es selbstverständlich, daß die sich in bestimmten staatlichen oder kirchlichen Funktionen vorfindenden Personen gemeinsam dafür sorgen, daß Gottes beide Regimente verantwortungsvoll wahrgenommen werden. Dabei nähert er sich in den Konsequenzen – nicht in der Begründung oder Durchführung! – seiner Bestimmung des Verhältnisses von weltlicher Obrigkeit und Kirche der gleichermaßen vom Humanismus wie von Luthers politischer Ethik beeinflußten Konzeption Melanchthons an, die der Obrigkeit eine cura utriusque tabulae zugesteht. Auch wenn Luther die über die jeder weltlichen Obrigkeit aufgetragene religionspolitische Pflicht hinausgehende Verantwortung für die Neuordnung der Kirche der christlichen Obrigkeit nicht in ihrem Amt, sondern in der Person des Funktionsträgers begründet sieht, so heißt das letztlich praktisch, daß in einer äußerlich christlichen Welt die weltlichen Obrigkeiten weitreichende Einflußmöglichkeiten auf die reformatorischen Landeskirchen beanspruchen konnten. Schon bei Luther selbst zeichnet sich so ab, daß aus dem Not- der Normalfall und aus der im persönlichen Glauben begründeten eine in der amtlichen Funktion begründete Aufgabe wird. Im einzelnen heißt das, daß die Obrigkeit die Kirche dabei unterstützen soll, der Aufgabe der Evangeliumsverkündigung dienliche und angemessene äußere Strukturen zu schaffen. In den 1520er und 1530er Jahren bedeutete das, daß mit Hilfe der Obrigkeit die 595 596

WAB 4,133,13–15; 134,32–38 (Nr. 1052). WA 51,240,2.

8.2. politia

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Finanzierung und Organisation der Kirchengemeinden neu geordnet wurde (Visitationen), daß anstelle der sich verweigernden Bischöfe eine neue Aufsichts- und Verwaltungsstruktur geschaffen wurde (Superintendenten, Konsistorium) und daß für die Ausbildung der Pfarrer und die Lehrentwicklung und Lehrkontrolle schulisch-akademische Institutionen geschaffen wurden (Schul- und Universitätsreform). Allerdings spielte die weltliche Obrigkeit im sich herausbildenden predigtzentrierten und lehrorientierten Institutionengefüge der reformatorischen Landeskirche immer mehr eine von Luther so nicht befürwortete Führungsrolle. Obwohl er je länger desto mehr von der Unerläßlichkeit der obrigkeitlichen Unterstützung für die Kirchenreform überzeugt war, entsprach das sich entwickelnde Landeskirchentum nicht seinem Ideal von Kirche.597 Blickt man vom ersten Teil der Obrigkeitsschrift auf Luthers Aussagen über den Christen im obrigkeitlichen Amt, so fragt man sich angesichts seiner durchweg affirmativen und positiven Aussagen über die Wahrnehmung obrigkeitlicher Aufgaben durch Christen, ob Luther die dort aufgewiesene Spannung von Bergpredigt und Talionsformel vergessen hat. Das ist nicht der Fall. Die Affirmation der innerweltlichen Strukturen und die positive Würdigung der Verantwortungsübernahme in ihnen durch den Christen führt nicht dazu, daß sich die Grundspannung des Lebens aus dem Glauben in der Welt in eine umfassende geistlich-weltliche Harmonie auflöst. Zwar besagt die Unterscheidung der beiden Regimente und Reiche nicht, daß sich die christliche Existenz in der Welt in zwei getrennte, womöglich einander widersprechende Verstehens- und Existenzvollzüge aufspaltet. Aber diese Unterscheidung heißt doch, daß der Christ sich im Gegenüber oder sogar Gegeneinander zur Welt vorfindet. Die bleibende Spannung von geistlicher und weltlicher Lebensdimension zeigt sich beim christlichen Fürsten daran, daß – wie der Abschluß der Obrigkeitsschrift deutlich macht – die Signatur seiner Existenz in der Welt das Kreuz ist. Der Fürst steht in vier unterschiedlichen Beziehungen, denen er jeweils mit bestimmten Tugenden zu entsprechen hat: »mit rechtem vertrawen unnd hertzlichem gepett« Gott gegenüber; »mit liebe unnd Christlichem dienst« den Untertanen gegenüber; »mit freyer vernunfft und ungefangenem verstandt« den Beratern und Bevollmächtigten gegenüber; und »mit bescheydenem ernst und strenge« den Übeltätern gegenüber. Diese Beziehungen machen zusammen einen »stand« aus, der »außwendig und ynn597 Das zeigen nicht nur seine Stellungnahmen zur kursächsischen Visitation 1527/28 (s. die oben 8.2., Anm. 594, angegebene Literatur), sondern auch viele andere kritische Bemerkungen (z.B. WAB 10,436 f. [Nr. 3930]). Zu Luthers Verhältnis zum Landeskirchentum und der kontroversen Forschungsdiskussion darüber: A. Kohnle: Luther und das Landeskirchentum (Luther 85, 2014, 9–22).

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8. Konkretionen des Lebens aus dem Glauben in der Welt

wendig recht« ist und »Gott und den leutten gefallen wirtt«. Aber gerade indem der christliche Fürst diesen unterschiedlichen Anforderungen, der Innen- und Außendimension sowie der Gottes- und Weltbeziehung, gee recht zu werden versucht, muß er »sich viel neyds unnd leyds druber erwegen. Das Creutz wirtt solchem furnehmen gar bald auff dem hals liegen«.598 Der Christ ist zwar Teil des Gemeinwesens und kann und muß in ihm Verantwortung übernehmen. Aber er steht auch hier entweder als bis hin zum Leiden gehorsamer Untertan oder als seiner weltlichen Verantwortung nachkommender, von Liebe motivierter und um Gottes Herrschaft wissender obrigkeitlicher Funktionsträger in der Kreuzesnachfolge Christi.

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WA 11,278,18–26.

Zusammenfassung Der erste Teil stellt den mittelalterlichen Hintergrund Luthers dar. Luthers früheste überlieferte Predigten über Mt. 7,12 und Joh. 3,16 von 1510 enthalten eine Darstellung des spätmittelalterlichen Ideals des christlichen Lebens. Dieses Leben vollzieht sich in der Verschränkung von göttlicher Heilsgabe und menschlichem Vollkommenheitsstreben durch Glaube und gute Werke. Die Grundzüge dieses Ideals wurden Luther durch sein Elternhaus, die kirchliche Sozialisation seiner Kindheits- und Jugendjahre und den Schulunterricht vermittelt. Der spätmittelalterliche Mensch lebte auf das göttliche Gericht hin. Vor dem konnte er nur bestehen, wenn er die in überreichem Maß kirchlich vermittelten göttlichen Gnadengaben zu einem Leben der steten inneren und äußeren Buße und der tugendhaften Vervollkommnung in Form von satisfaktorisch-meritorischen guten Werken nutzte. Luther lernte aber nicht nur die Grundzüge des laikalen und semireligiosen Vollkommenheitsideals kennen, sondern wurde während seines Philosophie- und Theologiestudiums in Erfurt auch in die das mittelalterliche Ethos reflektierende philosophische und theologische Ethik eingeführt. Die aristotelische Moralphilosophie und die biblische, altkirchliche und aristotelische Elemente verschmelzende hoch- und spätmittelalterliche Moraltheologie vermittelten ihm das im Hintergrund der wechselseitigen Verschränkung von göttlichem und menschlichem Handeln stehende Menschen- und Gottesbild: Gott ist der Schöpfer und Richter und hat der Welt eine Ordnung gegeben, die der Mensch als freies und vernunftbegabtes, wenn auch auf Gnadenhilfe und göttliche Weisung angewiesenes Wesen, erkennen und in Gestalt eines von der praktischen Vernunft angeleiteten, tugendhaften, sich in einzelnen guten Werken vollziehenden Lebens befolgen kann. Das Bemühen um die christliche Vollkommenheit führte Luther ins Kloster, wo er ohne Hemmung durch weltliche Bindungen nach der Verwirklichung des neutestamentlichen Ideals christlicher Existenz durch Buße und tugendhaftes Leben streben konnte. Doch durch seine im Kloster gelebte Bußfrömmigkeit verschärfte sich die dem mittelalterlichen Ethos innewohnende Antinomie von göttlichem und menschlichem Handeln, von Gnade und Gericht in einer Weise, daß Luthers vorbildliche Mönchsexistenz je länger umso weniger seinen eigenen Anforderungen genügen konnte. Gerade indem Luther das in seinen frü-

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Zusammenfassung

hesten erhaltenen Predigten von 1510 skizzierte mittelalterliche Ideal christlichen Lebens konsequent zu verwirklichen versuchte, gelangte er an dessen Grenzen. Die Bedeutung von Luthers spätmittelalterlichem Hintergrund liegt aber nicht nur darin, daß er der biographische Ansatzpunkt und die Negativfolie für die sich zwischen 1510 und 1520 vollziehende Entwicklung von Luthers reformatorischer Theologie war. Sie liegt auch darin, daß Luther unterschiedliche Formen des christlichen Ethos und das reiche Erbe der dieses Ethos reflektierenden antiken und mittelalterlichen Moralphilosophie und -theologie kennenlernte. Und an dieses Erbe hat er später durchaus angeknüpft. Der zweite, dritte und vierte Teil vollziehen die Entwicklung von Luthers Anschauung vom christlichen Leben nach. Hier sind zwei Entwicklungsphasen zu unterscheiden: Zwischen 1510 und 1520 bildete sich Luthers Konzeption des Lebens aus dem Glauben in der Welt im Zusammenhang seiner werdenden reformatorischen Theologie aus. In den 1520er Jahren entwickelte und entfaltete er dann seine in der Exegese gewonnene und bewährte reformatorische Ethik angesichts der praktischen und theologischen Herausforderungen durch die reformatorische Bewegung und die Institutionalisierung der Reformation. Hier erst wurde Luther sich der Konsequenzen seiner reformatorischen Theologie voll bewußt, bildete wichtige Elemente seiner ethischen Grundanschauung wie die Unterscheidungen zweier Regimente und Reiche oder dreier Stände aus und zog die ethischen Konsequenzen seiner reformatorischen Theologie hinsichtlich der unterschiedlichen ihm begegnenden Probleme. Die Quellen für die Darstellung der Entstehung von Luthers reformatorischer Auffassung vom christlichen Leben und für die Darstellung ihrer Grundlegung und Konkretionen sind für die Jahre bis 1519/20 die frühen Vorlesungen, Disputationsthesen, Predigten und kleineren deutschsprachigen und lateinischen Schriften, für die Jahre seit 1519/20 die reformatorischen Hauptschriften von 1520 mit den in ihrem Hintergrund stehenden exegetischen Arbeiten sowie die zahlreichen Predigten und Schriften, mit denen Luther auf die Herausforderungen von Seiten der reformatorischen Bewegungen und des werdenden reformatorischen Kirchentums reagierte. Da Grundlegung und Konkretionen des reformatorischen Ethos in der zweiten Hälfte der 1520er Jahre abgeschlossen vorliegen, werden die Quellen der 1530er und 1540er Jahre nur ergänzend hinzugezogen. Der zweite Teil behandelt die Entstehung von Luthers reformatorischer Auffassung vom christlichen Leben zwischen 1513 und 1519. Die beiden Erfurter Predigten von 1510, in denen Luther das mittelalterliche Ideal programmatisch zusammenfaßt, sind das letzte Zeugnis für seine mittelalterliche Anschauung vom christlichen Leben. In die Zeit zwischen diesen

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Predigten und dem Beginn der Arbeit an der ersten Psalmenvorlesung fiel die von einem neuartigen Verständnis der Bibel angestoßene theologische Umorientierung Luthers, die in einer intensiven, zehn Jahre dauernden exegetischen Arbeit zu einem gänzlich anderen Verständnis des christlichen Ethos und damit auch der theologischen Ethik führte. Bis 1518/19 waren die Rechtfertigungslehre und die in ihr implizierte Ethik allerdings noch in steter Entwicklung begriffen, so daß Luthers Verständnis des christlichen Lebens insgesamt noch nicht als reformatorisch zu kennzeichnen ist. Luther entwickelte in den Jahren 1513 bis 1519 die Grundgedanken seiner reformatorischen Ethik: Die Konstitution des ethischen Subjekts geschieht durch die Rechtfertigung und vollzieht sich als Zueignung Christi als der Gerechtigkeit des Glaubenden (1. Kor. 1,30), d.h. als im Glauben an das Wort wirksam werdendes opus Dei. Das neue Verständnis der göttlichen Gerechtigkeit und ihres Zuteilwerdens im Verheißungswort führte zu Luthers neuartiger ›Ontologie der Person‹ und zur kategorialen Unterscheidung von göttlichem und menschlichem Handeln, von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit. Die Hochschätzung der menschlichen Freiheit und Tugendbefähigung sowie die soteriologische Verzwecklichung christlicher Praxis wurden damit unmöglich gemacht, wie Luthers seit der Römerbriefvorlesung immer wieder vorgebrachte Kritik an der scholastischen Theologie zeigt. Neben der Konstitution des ethischen Subjekts beschäftigte Luther sich auch mit dem Zusammenhang von Glaube und christlicher Praxis. Er bestimmte den Glauben als den Inbegriff christlicher Praxis (Joh. 6,28f.) und die christliche Praxis als notwendige Folge des Glaubens (Mt. 7,16–18). Die sich hier abzeichnende Grundlegung der reformatorischen Ethik war aber noch nicht konsequent durchgeführt, weil Luther zumindest bis 1518 die demutstheologisch verstandene christliche Praxis als soteriologisch notwendige Horizontaldimension der Rechtfertigung in das Geschehen der Heilszueignung integrierte. Erst allmählich kam es zu einer Entkoppelung von Vertikal- und Horizontaldimension der Rechtfertigung, und Buße und Demut wurden immer weniger als soteriologisch funktionalisierte Korrelate der Rechtfertigung verstanden. Luther füllte den sich entwickelnden rechtfertigungstheologischen Rahmen seiner Ethik mit Konkretionen, die sich als bußtheologisches Ethos charakterisieren lassen. Die anfangs nur bruchstückhaft und erst später ausführlicher entwickelten ethischen Konkretionen seiner Frühtheologie knüpfen inhaltlich vielfach an die mittelalterlichen Anschauungen vom christlichen Leben an. So finden sich weiterhin Elemente wie das Vollkommenheitsstreben (perfectio, profectus), die Zwei-Stufen-Ethik, die

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Zusammenfassung

Weltdistanzierung (contemptus mundi), die soteriologische Verzwecklichung menschlichen Handelns (satisfactio, meritum), die Tugendethik (fides, spes, caritas), die Selbstnegation (humilitas), die Orientierung am Dekalog, die Drei-Stände-Lehre, die Buße als lebensweltlicher Ort oder die heilsinstitutionelle Einbindung des christlichen Lebens, die die Kirche als Normen setzende und vermittelnde, die Praxis kontrollierende und sanktionierende Instanz anerkennt. Das gegenüber diesen mittelalterlichen Elementen besondere Profil von Luthers demutstheologischer Integration christlicher Praxis in die Rechtfertigung besteht darin, daß Luther die Innendimension christlicher Existenz und das bußtheologische Ethos der Selbstnegation, des Gleichförmigwerdens mit dem Gekreuzigten, des Vollkommenheitsstrebens, der Weltdistanzierung und des rigoristisch verstandenen Liebesgebots besonders betonte und in eine bestimmte, soteriologisch notwendige Entsprechung zur Rechtfertigung brachte. Nicht die innerweltliche Verantwortungsübernahme, sondern die monastische Selbstnegation war anfangs die lebensweltliche Ausdrucksgestalt der Rechtfertigung. Indem Luther diese Elemente des mittelalterlichen Ethos aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herauslöste und in den rechtfertigungstheologischen Rahmen seiner werdenden reformatorischen Theologie einbettete, veränderte er sie zugleich auch. Seine Betonung der Unfähigkeit des Menschen zu wahrhaft guten Werken, sein Aufweis der umfassenden Angewiesenheit auf die Gnade, seine Relativierung der Zwei-Stufen-Ethik, seine Kritik ihrer Ermäßigung des biblischen Ethos und seine allmähliche Entdeckung der schöpfungstheologischen Dimension des christlichen Lebens machten je länger desto mehr ein herkömmliches Verständnis der von ihm rezipierten Elemente des mittelalterlichen Ethos unmöglich. Allerdings führte das zu einer Ungleichzeitigkeit: Die sich allmählich ausbildende glaubenstheologische Grundlegung der christlichen Praxis und ihre bußtheologischen Konkretionen im Gefolge mittelalterlicher Vorstellungen und Strukturen, denen auch Luther selbst in seiner eigenen Lebensführung noch lange Zeit verpflichtet blieb, standen in latenter Konkurrenz zueinander. Der dritte Teil beschreibt anhand der Schriften der Jahre 1519 und 1520 – vor allem der beiden Kommentare zum Galaterbrief und den Psalmen, des Sermons Von den guten Werken und der Freiheitsschrift – Luthers reformatorische Anschauungen vom christlichen Leben, das bestimmt ist durch die Doppelrelation zu Gott im Glauben und zur Welt in der Liebe. Die in der anthropologischen Doppelthese der Freiheitsschrift und ihrer rechtfertigungstheologischen und ethischen Entfaltung entwickelte kategoriale Unterscheidung von Gottes- und Weltbeziehung ermöglicht ein christliches Leben im Sinne der Bibel frei vom mittelalterlichen Mißver-

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ständnis der soteriologisch verzwecklichten Praxis. Das christliche Leben beginnt mit der Erneuerung des Menschen durch den Rechtfertigungsglauben und die Christusbeziehung. Es ist Leben aus dem Glauben, der das eine und einzige von Gott geforderte Werk ist, alle anderen guten Werke in sich enthält und alles Handeln des Glaubenden als gut qualifiziert. Das Leben aus dem Glauben verwirklicht sich im Gleichförmigwerden mit Christus, indem der Mensch sich in der Beziehung zu Christus als Sünder erkennt und durch das Leiden in das Christuskreuz hineingezogen wird. Hier integriert Luther Elemente des bußtheologischen Ethos, das nicht mehr der Inbegriff, wohl aber ein wichtiger Aspekt des christlichen Lebens ist. Die Christusbeziehung im Glauben macht den Christen aber auch zu einem neuen Menschen, indem das wirkmächtige Gotteswort ihn innerlich durch die Existenzgemeinschaft mit Christus rechtfertigt und an Christi Königtum und Priestertum Anteil gewinnen läßt. Dieser Glaube ist die christliche Freiheit als eine Freiheit von den Unheilsmächten der Sünde und des Gesetzes. Das Leben aus dem Glauben konkretisiert sich zum einen in der Selbstdisziplinierung, durch die der innere den äußeren Menschen in Dienst nimmt, zum anderen in der mit der vom BaumFrucht-Wort ausgesagten Notwendigkeit der aus dem Glauben fließenden Nächstenliebe, wodurch der Christ seinem Mitmenschen ein Christus wird. Die mit dem Glauben gegebene Notwendigkeit guter Werke darf nicht als Forderung und Überforderung mißverstanden werden, sondern ist der Ausdruck eines Ethos der positiven Zumutung, des Könnens und Vollbringens. Obwohl der Glaubende hinsichtlich seines Heils frei vom Gesetz ist, so ist es doch weiterhin die Anleitung zum Leben aus dem Glauben. Das Gesetz ist nicht mehr Heils-, wohl aber Lebensordnung. Auch die äußerliche Ordnung von Welt und Kirche ist für den Glaubenden nicht gleichgültig, sondern der selbstverständlich respektierte und verantwortlich ausgestaltete Rahmen des Lebens aus dem Glauben in der Welt. Dieses Leben verwirklicht sich in einzelnen guten Werken, die Luther in Anlehnung an den Dekalog vor Augen stellt. Sie lassen sich vier Bereichen zuordnen: erstens der Frömmigkeitspraxis als dem lebensweltlichen Haftpunkt des Glaubens in Gotteslob, Gottesdienst, Beschäftigung mit Gottes Wort und Gebet; zweitens dem Verzicht auf das Eigenwirken des Menschen, der sich in Gottes Handeln am Menschen fügt und willig Leiden und Anfechtung auf sich nimmt; drittens der Einordnung in die innerweltlichen Strukturen und der aktiven Verantwortungsübernahme in ihnen; viertens der Selbstdisziplinierung und dem tugendhaften Leben in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Mit Luthers Schriften aus den Jahren 1519/20 war seine theologische Entwicklung noch nicht abgeschlossen, was besonders hinsichtlich der

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Bestimmung des Verhältnisses von Glaube und innerweltlicher Existenz gilt. Der vierte Teil zeigt, wie Luther seine reformatorische Auffassung vom Leben aus dem Glauben in der Welt in den 1520er Jahren sowohl hinsichtlich der Grundideen als auch hinsichtlich der Konkretionen weiter entfaltete. Diese Weiterentwicklungen verdankten sich nicht nur der immanenten Logik seiner theologischen Gedankenbildung. Sie stehen auch in engem Zusammenhang mit den Anfragen und Anstößen, die durch die reformatorische Bewegung und die Entstehung reformatorischer Landeskirchen von außen an Luther herangetragen wurden. Die Entfaltung der Grundideen und Strukturen von Luthers reformatorischer Auffassung vom Leben aus dem Glauben in der Welt vollzog sich 1521/22 zum einen in der Beschäftigung mit der Frage der Mönchsgelübde, zum anderen in der Beschäftigung mit dem Problem der Übernahme obrigkeitlicher Funktionen durch Christen. Luthers kritische Auseinandersetzung mit den Mönchsgelübden führte dazu, daß er die mittelalterliche Zwei-StufenEthik und die Beschränkung wahrhaft christlicher Existenz auf die elitäre religiose Lebensform verwarf und stattdessen den Gehorsam gegen die jedem Christen gegebene göttliche Berufung in den drei Lebenskreisen (Ständen) von ecclesia, oeconomia und politia als Inbegriff des Lebens aus dem Glauben in der Welt erkannte. Das bedeutete einerseits die Ausweitung der monastischen Radikalität und Innerlichkeit auf alle Glaubenden, zum anderen aber auch die Qualifizierung der Welt und ihrer gegebenen Strukturen als Ort des christlichen Lebens. Luthers Beschäftigung mit der Frage, ob und inwieweit Christen obrigkeitliche Funktionen wahrnehmen können, führte dazu, daß er die von der Berufs- und Ständelehre geforderte Bejahung innerweltlicher Verantwortungsübernahme so mit der zugleich und zuerst geltenden Nachfolgeforderung der Bergpredigt verband, daß er entsprechend der Zweiheit des göttlichen Handelns gegenüber den Glaubenden und der Welt eine Zweiheit christlichen Verhaltens gegenüber Gott und der Welt formulierte: Der Christ findet sich in den durch Gottes beide Regimente konstituierten beiden Bereichen, dem Gottes- und dem Weltreich, vor; er handelt im einen entsprechend dem radikalen Bergpredigtethos und im anderen entsprechend der innerweltlichen Eigengesetzlichkeit; in beiden Fällen jedoch motiviert und angeleitet durch die Liebe in ihren unterschiedlichen Realisierungsformen. Die Entfaltung der Konkretionen von Luthers reformatorischer Auffassung vom Leben aus dem Glauben in der Welt vollzog sich in der ersten Hälfte der 1520er Jahre, indem Luther das christliche Leben in den beiden innerweltlichen Lebenskreisen von oeconomia und politia behandelte. Ehe, Besitz und Arbeit sind für Luther weltliche Gegebenheiten. Das heißt dreierlei: Erstens sind sie Schöpfungsordnungen, in denen sich alle Men-

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schen vorfinden und die darum auch für jeden Christen selbstverständlich und notwendig sind; zweitens sind sie durch die Sünde beeinträchtigt und bedürfen der weltlichen Obrigkeit und des weltlichen Rechts zu ihrem Schutz; drittens sind sie als weltliche Ordnungen Ort des Lebens aus dem Glauben, indem der Christ in ihnen das Gebot der Nächstenliebe erfüllt. Das Gemeinwesen und die weltliche Obrigkeit sind für Luther ebenfalls weltliche Gegebenheiten. Die Aufgabe der weltlichen Obrigkeit ist es, mit Recht und Gewalt den innerweltlichen Frieden zu sichern und damit das Leben der Glieder des Gemeinwesens zu ermöglichen. Der Christ erkennt die Struktur und Funktion der Obrigkeit an und ordnet sich ihr unter, indem er ihr Gehorsam erweist und selbst im Dienst am Nächsten obrigkeitliche Funktionen übernimmt. Luthers reformatorische Konzeption des Lebens aus dem Glauben in der Welt, wie sie im dritten und vierten Teil vorgestellt wird, verbindet in spannungsreicher Einheit die rechtfertigungstheologische und die schöpfungstheologische Dimension christlichen Lebens. Diese Grundspannung verdankte sich dem biblischen Ethos, wie Luther es verstand, und er bemühte sich, die Grundlegung und Konkretionen seiner Auffassung vom christlichen Leben in engem Anschluß an die Bibel zu entfalten. Die Bergpredigt, der Dekalog und das Liebesgebot sind dabei die biblischen Leittexte, die gleichermaßen die rechtfertigungstheologische und die schöpfungstheologische Dimension des christlichen Lebens markieren. Die rechtfertigungstheologische Dimension christlichen Lebens ist der Rechtfertigungsglaube, die konsequente Kreuzesnachfolge und der Liebesradikalismus; die schöpfungstheologische Dimension ist die damit einhergehende Zuwendung zur Welt und der Dienst am Mitmenschen in den innerweltlichen Ordnungen. Beides verbindet sich für Luther aufs engste und macht zusammen das christliche Leben aus. Dieses christliche Leben ist zugleich auf Gott und auf die Situation, in der sich der Christ vorfindet, ausgerichtet. Seine innere Einheitlichkeit hat es durch den Rückbezug auf den Glauben und durch die Konkretion in der Nächstenliebe. Daß Luther die neutestamentliche Ethik für seine Zeit aktualisierte, gab und gibt seiner Konzeption enorme geschichtliche Wirkung und dauernde Bedeutung für die Theologie.

Quellen und Literatur Die Abkürzungen entsprechen den in der TRE (Siegfried M. Schwertner: IATG 2. Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete. Zeitschriften Serien, Lexika, Quellenwerke mit bibliographischen Angaben, Berlin und New York 21992) und der RGG4 (Redaktion der RGG4 [Hg.]: Abkürzungen Theologie und Religionswissenschaften nach RGG 4, Tübingen 2007) verwendeten. Darüber hinaus oder anstelle der dort vorgeschlagenen Abkürzungen werden folgende Abkürzungen verwendet (die ausführlichen bibliographischen Angaben finden sich in den folgenden Verzeichnissen): Brecht Cl Coll. Const. EN

Exp. Holl LDStA LStA RGl.

Sch. Scheel Sent. S. th. WAB WADB WATR ZGl.

Martin Brecht: Martin Luther, drei Bände Luthers Werke in Auswahl, hg. v. Otto Clemen Gabriel Biel: Collectorium circa quattuor libros Sententiarum Johannes von Staupitz: Constitutiones fratrum Eremitarum Aristoteles: Ethica Nicomachea Gabriel Biel: Canonis Misse Expositio Karl Holl: Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, drei Bände Martin Luther: Lateinisch-Deutsche Studienausgabe Martin Luther. Studienausgabe, hg. v. Hans-Ulrich Delius Randglosse (Marginalglosse) Scholion Otto Scheel: Martin Luther. Vom Katholizismus zur Reformation Petrus Lombardus: Sententiae in IV libris distinctae Thomas von Aquin: Summa theologiae WA.Br WA.DB WA.TR Zeilenglosse (Interlinearglosse)

Quellen Acta Sanctorum, Augusti Tomus Sextus, Paris u. Rom 1868 Alain de Lille (Alanus ab Insulis): Summa de arte praedicatoria (PL 210,109–198) Aland, Kurt; Mirbt, Carl (Hgg.): Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Tridentinum, Tübingen 61967 Altenstaig, Johannes; Tytz, Johannes: Lexicon Theologicum quo tanquam clave theologiae fores aperiuntur, et omnium fere terminorum, et obscuriorum vocum, quae S. Theologiae studiosis facile remorantur, etymologiae, ambiguitates,

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Quellen und Literatur

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Quellen

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Quellen und Literatur

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Literatur

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Literatur

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– : Natur und Institution. Luthers Dreiständelehre [1984] (in: Oswald Bayer: Freiheit als Antwort. Zur theologischen Ethik, Tübingen 1995, 116–146) – : Nachfolge-Ethos und Haustafel-Ethos. Luthers seelsorgerliche Ethik [1986] (in: Oswald Bayer: Freiheit als Antwort. Zur theologischen Ethik, Tübingen 1995, 147–163) – : Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen 2003 – : Angeklagt und anerkannt. Religionsphilosophische und dogmatische Aspekte (in: Hans Christian Knuth [Hg.]: Angeklagt und anerkannt. Luthers Rechtfertigungslehre in gegenwärtiger Verantwortung, Erlangen 2009, 89–107) Baylor, Michael G.: Action and Person. Conscience in Late Scholasticism and the Young Luther, Leiden 1977 Beintker, Horst: Die Überwindung der Anfechtung bei Luther. Eine Studie zu seiner Theologie nach den Operationes in Psalmos 1519–21, Berlin 1954 (ThA 1) – : Glaube und Handeln nach Luthers Verständnis des Römerbriefs (LuJ 28, 1961, 52–85) – : Zu Luthers Verständnis vom geistlichen Leben des Christen im Gebet (LuJ 31, 1964, 47–68) – : Das Gewissen in der Spannung zwischen Gesetz und Evangelium (LuJ 48, 1981, 115–147) – : Weisheit des Fleisches und Weisheit des Geistes. Zum Gegenüber der prudentia spiritus zur prudentia carnis in Luthers Vorlesung über den Römerbrief (in: Joachim Rogge, Gottfried Schille [Hgg.]: Themen Luthers als Fragen der Kirche heute. Beiträge zur gegenwärtigen Lutherforschung, Berlin 1982, 41–61) – : Glauben lernen in der vollen Diesseitigkeit des Lebens (Luther 58, 1987, 13–32) Berges, Wilhelm: Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters, Stuttgart 1938 Berman, Harold J.: Law and Revolution. The Formation of the Western Legal Tradition, Cambridge (Mass.) 1983 Beutel, Albrecht: Biblischer Text und theologische Theoriebildung in Luthers Schrift »Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei« (1523) [2001] (in: Albrecht Beutel: Reflektierte Religion. Beiträge zur Geschichte des Protestantismus, Tübingen 2007, 21–46) Beyer, Michael: Die Neuordnung des Kirchengutes (in: Helmar Junghans [Hg.]: Das Jahrhundert der Reformation in Sachsen, Leipzig 22005, 93–114) Bizer, Ernst: Fides ex auditu. Eine Untersuchung über die Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes durch Martin Luther, Neukirchen-Vluyn 31966 Blaich, Fritz: Die Reichsmonopolgesetzgebung im Zeitalter Karls V. Ihre ordnungspolitische Problematik, Stuttgart 1967 – : Die Wirtschaftspolitik des Reichstags im Heiligen Römischen Reich. Ein Beitrag zur Problemgeschichte wirtschaftlichen Gestaltens, Stuttgart 1970 Blaschke, Karlheinz: Sachsen im Zeitalter der Reformation, Gütersloh 1970 (SVRG 185) Blaumeiser, Hubertus: Martin Luther zum Thema Freiheit. Ein Beitrag anhand der »Operationes in Psalmos« (1519–1521) (in: Dennis D. Bielfeldt, Klaus Schwarzwäller [Hgg.]: Freiheit als Liebe bei / Freedom as Love in Martin Luther, Frankfurt a. M. u.a. 1995, 35–62) – : Martin Luthers Kreuzestheologie. Schlüssel zu seiner Deutung von Mensch und Wirklichkeit. Eine Untersuchung anhand der Operationes in Psalmos (1519– 1521), Paderborn 1995

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Quellen und Literatur

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Literatur

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Quellen und Literatur

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Literatur

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Quellen und Literatur

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Literatur

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Quellen und Literatur

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Literatur

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Quellen und Literatur

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Literatur

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Quellen und Literatur

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Literatur

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534

Quellen und Literatur

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Indizes Bibeltexte Genesis 1 1,26 1,27 1,28 1,31 2 2,16 2,17 2,18 2,18–25 2,21–24 3,16–19 3,16 3,17 4,4 4,14 4,15 9,6 10,8 24 24,1–4 26,8 28,1–9 28,12 29,9–12

430 298 420, 429 420 f., 429 429 430 467 467 429 418 429 429 418, 422 422 154, 175 467 467 405, 467 467 418 428 418 418 → Himmelsleiter 417

Exodus 18 18,21 21,14 21,23–25

454 472 405 406

Leviticus 18 19,18

416, 418, 426 450

Psalmen 1–6 1 1,1–3 1,2 1,3 1,5 2 3 4–6 5,3 5,9 5,12 6,2 8,5 9,5 9a,4 9a,5 9b,15 9b,16 11/12,7 13/14,1

Deuteronomium 15,4

449

14/15 14/15,2–5

15,7 15,8 15,11 16

450 450 449 454

1. Samuel 1 10,6 10,7

45 293 293

Hiob 5,7

437 296 157, 165, 297 315 165 315 165 296 296 296 297 307 294, 296, 301 151 296, 298 307 299 327 308 308 295 153, 290, 323, 328, 333 153 f., 157, 158, 296 153 f.

536 14/15,4 16/17,8 18 18/19,8–15 21/22,2–22 21/22,2 21/22,8 21/22,9 27/28,1 27/28,4 27/28,5 30/31,2 31/32,1 31/32,2 31/32,1–3 32/33,3 32/33,4 32/33,7 33/34,15 36/37,6 36/37,27 36/37,28 43/44,11 49/50,23 50/51 50/51,6 50/51,7 50/51,12 57/58,3 57/58,4 59/60,9 61/62,5 61/62,8 62 63/64,10 67/68,13 67/68,14 68/69,17 70/71,19 71/72,2 74/75,9 76/77 76/77,2 76/77,12 76/77,15 82 82,1 82,4 83/84

Indizes 337, 149 297 319 296, 302 300 300 166 158, 158, 243 145, 181 144, 147 160 147 164 147 157, 148 224 146 147 144, 144 144, 160 158 163 146 147 367 159 165 165 150 150 147, 152 161 175 159, 160 489 489 484 154,

351

299–301

159, 160 160 181 147

164, 265

145, 185, 193 145, 147

150

83/84,4 83/84,6 83/84,7 84/85 84/85,7 84/85,14 89/90,16 91/92,13 92/93,4 95/96,6 97/98,5 100/101 101 101/102,7 101/102,8 102 103/104,2 103/104,3 103/104,23 105/106,3 110/111,3 110/111,6 118/119,45 118/119,109 127 142/143,5

154 21, 155, 157, 160 155, 157, 160 158 158 158 157, 160, 161 160 224 158 147 146 487, 493 162 162 254 147 147 159 147, 150 159, 160 160 224 151 386–389 159

Sprüche 18,22

429

Hoheslied

310

Jesaja 11 28,21

126 224

Jeremia 29,7

395

Hosea 1–3

310

160, 162

Tobias 4,16

155

Matthäus 2,1–12 3,1–12

42, 91 → Goldene Regel

362 398

537

Bibeltexte 3,2 4,17 5–7 5,1–12 5,1 5,2 5,17–20 5,20 5,21–48 5,21–26 5,27–31 5,33–38 5,38–42 5,38 5,39 5,40 5,42 5,43–48 5,44 6,1–18 6,3 6,19–23 6,24–34 6,33 7,12 7,15–20 7,16–18 10,22 11,25–30 11,28 13,24–30 18–24 19,3–12 19,4–6 19,12 19,16–19 19,17 19,16–30 19,21 22,15–22 22,37–40 22,39 25,31–46 25,35 25,36

397, 398 249, 283 → Bergpredigt 126, 357 366 366 366 268 266, 267, 280, 365, 402, 413 279, 280 281, 418 272 401, 404, 406, 413, 447, 453, 489 405, 406, 413 413 447 447, 450 280, 351 405 256, 333 451 435 435, 453 270, 453 → Goldene Regel 377 157, 200, 243, 315, 317, 408, 503 → Baum und Frucht 75 284 226 457 418 417 428 421 333 369 25, 435 377, 435, 447 456 42 450 17, 257 280, 371 280, 371

25,42 25,43 26,52

449 449 405

Lukas 1,46–55 3,14 5,1–11 10,30 16,1–12 16,19–31 22,38

322, 494 395, 405 435 109 435 435 134

Johannes 1,51 2,1–11 3 3,16 6,28 f. 10,9 14,6 15,5 15,12 21,19–24 21,22

329 415, 419 178 15, 17–23, 26, 501 160, 161, 230, 231, 239, 262, 290, 292, 305, 333, 503 328 367 292 268 374 327

Apostelgeschichte 4,32 446 5,29 350, 483, 489 15,9 11, 154, 217, 227 Römer 1 1–4 1–8 1–11 1,7 1,16 1,17 2,12–15 2,13 3 3,4 3,5

173, 144 180 175, 176 181, 181, 305, 196 194 185, 196 181, 195 181,

175 177, 197 182, 230 182, 193, 242, 335 190, 193, 194, 182, 185, 193, 182, 185, 193,

538 3,9 3,19–31 3,20 3,21 3,28 3,31 4 4,6 4,7 4,8 5 5,1 5,3 5,4 5,5 5,8–10 5,12–21 5,21 6 6,6 6,12 6,14 6,17 6,19 6,22 7 7,6 7,7–25 7,14 8 8,3 8,7 8,26 8,28 8,35 9,3 9,16 10,3 10,4 10,6 10,9 10,10 12–15 12–16 12 12,1 12,2

Indizes 195 204 193 194, 369 195 196, 335 196 185, 193 181 181, 187, 208, 209 181 183 182, 205 190 190 183, 190 336 181, 209 231 185, 188–190, 234 189 231 189 182 188 189 185, 187 f., 190 197 181 267 183 183, 208 181 191 18, 20 183 183 124 183 305 182 305 181 185, 193, 197, 200, 202, 212 175, 177 173, 174, 177, 179 174 174, 178, 185, 206

12,4 12,5 12,6 12,8 12,9–12 12,9 12,19 13,1–7

13,1 13,2 13,4 13,8 13,10 13,11 14 14,1 14,23 15,2 1. Korinther 1. Kor. 1,30

375, 375, 197 350, 197 197 403, 134, 393, 411, 471 197, 405 412 130 197, 195 196, 197, 293 197

3 6,12 7,3 7,4 7,10 7,11 7,15 7,17 7,20 7,23 7,29–31 9,19 9,20 9,22 12,12–26 13,2 15,56 15,57

325 119, 308, 177 201 431 431 431 426, 432 16 374 201 434 201 201 201 374, 368 310 310

2. Korinther 3,3 3,6 3,18

11 197 232

378 378 470 405, 200, 394, 454,

482 246, 348, 395, 400, 456, 470,

200, 405, 409

199, 268, 277 201, 325 201, 202

212, 219, 284, 309, 503

431

378

539

Bibeltexte 5,22–33 5,22–24 5,25–29 5,31 5,32

6,6 10,3

432 304

Galater 1,4 1,11 1,12 1,13 1,14 2 2,3 2,4 2,5 2,11 2,12 2,13 2,16 2,17 2,18 2,19 2,20 3 3,3 3,10 3,19 3,20 3,22 3,23–29 3,23 3,24 3,25 5 5,1 5,2 5,6 5,13 5,14 5,17–21 5,22 5,23 6,2 6,14

203 306 305 318 318 193 197, 197, 318 318 318 318 204, 319 319 297, 242, 193 318 353 318 318 318 362 318 318, 318 193 318 318 194, 201, 198, 303 157, 243, 317, 346

Epheser 2,8–10 3,16 3,17 4 4,24

290 242 242 375 75, 76

Philipper 1,6 2,1–11 318 201, 318

214, 307, 318 318 297, 321, 342

319

317, 318, 368 246 318, 319 243 432 318

2,7 2,13 4,8 1. Timotheus 1,5 1,9

419 429 429 311, 416 308, 416 74 225, 239, 245, 247, 309, 318, 320, 492 298 157, 212 432

2,1 2,2 4,4 5 5,3–6 6,10

201 200, 307, 393, 393, 412 364 376 441

2. Timotheus 2,4

380

Titus 2,12 3,1

203, 244, 256 348

1. Petrus 2,13–17

237, 309, 455, 395,

238, 277, 329, 408 490 455, 490

2,21 3,9 4,10

134, 348, 393, 395, 400, 405, 409, 454, 456, 470, 471 231 405 16, 375

2. Petrus 1,5 2,10

369 396

1. Johannes 2,16 3,2 4,16

25, 89, 149, 162, 256 298 91

540 Hebräer 1–11 1–4 1,3 2,1–3 2,3 2,9 2,10 2,14 2,17 3,1 3,7 4,4 4,16 5 5,1 6,6 7,1 7,12 9,23

Indizes 222 224 235 230 228, 234, 232 232 233 309 235 226 226 225 225 224, 235, 224, 237 226,

229, 231, 232, 236, 262

225, 226 236 226 233

10,19 10,26 10,38 11 11,1 11,8 12 12,1 12,17 13 13,4

222, 228 234, 236 229 222, 228, 229 126 228 222 222 236 222 419

Jakobus 2,14–26

194

Judas 8

396

Apokalypse 1,8

82

Personen und Orte

541

Personen und Orte Abaelard 66, 101, 174 Ägidius Romanus 96 Agricola, Johannes 237, 361 Albrecht von Mainz 250, 361 Albrecht von Mansfeld 464 Allstedt 464 Amsdorf, Nikolaus von 213, 431 Angelus de Clavassio 35, 133, 416, 426 Antoninus von Florenz 133 Argyropoulos, Johannes 58 Aristoteles → Aristoteles / Aristotelismus Arnoldi, Bartholomäus 58, 60, 62, 63, 64, 72 Augustinus → Augustinus / Augustinismus Bernhard von Clairvaux 84, 364 Bernhardi, Bartholomäus 211, 360, 361 Biel, Gabriel 61, 95, 96, 99–138, 143, 213, 215, 276, 441 Bonaventura 49, 84, 107, 351 Bonhoeffer, Dietrich 391 f. Bora, Katharina von 421, 431, 436, 437 Brant, Sebastian 436 Brenz, Johannes 418 Briesmann, Johannes 364 Buridanus, Johannes 58 Calvin, Johannes 3, 5 Cicero 44, 56 f., 64, 66, 379, 387, 462, 472 Clichtoveus, Jodokus 418 Cochläus, Johannes 2 Cranach, Lukas d. Ä. 25, 259 David von Augsburg 84 Dietenberger, Johannes 418 Dionysius Areopagita 135, 379 Duns Scotus 96, 125, 215 Eck, Johannes 217, 250, 287, 303 Eckhart 52 Eisenach 27, 44, 47, 54, 440 Eisleben 206, 287, 464 Erasmus von Rotterdam 13, 174, 213 f. Erfurt 15, 17, 27, 45, 47, 48, 54, 55, 56,

57, 58, 59, 60, 73, 74, 79, 80, 82, 83, 84, 86, 88, 92, 93, 94, 95, 96, 101, 135, 136, 137, 141, 181, 213, 217, 397, 460, 501, 502 Faber Stapulensis, Jakob 58, 141 Fabri, Johannes 418 Fortenbach, Bonaventura 453 Franck, Sebastian 4 Franziskus von Assisi 364, 367 Friedrich der Weise 287, 296, 331, 403, 463, 492, 496 Fuchs, Heinrich 361 Fugger (Familie) 442, 444, 453 Gelasius I. 134 Geiler von Kaysersberg, Johannes 37, 38, 436 Georg von Sachsen 45, 403 Gerhard Zerbolt von Zütphen 21, 26, 47, 48, 49–51, 52, 54, 84, 154 Gregor I. 220 Gregor von Rimini 96, 108, 116 Groote, Geert 49, 52 Grosseteste, Robert 58, 60 Heinrich VIII. 419 Homer 472 Hornung, Katharina 419 Hugo Ripelin von Straßburg 89 Hugo von St. Viktor 66, 83, 91 Isidor von Sevilla 134 Jan von Ruusbroec 52 Jodokus Trutfetter 58 Johann der Beständige 331, 332, 351, 397, 402, 464, 497 Johann Friedrich von Sachsen 397, 444, 455, 457 Johannes von Paltz 79, 80, 81, 82, 83 Jordan von Quedlinburg 79, 80, 90, 91 Karlstadt, Andreas 221, 237, 361, 362, 363, 484, 486

542

Indizes

Lang, Johannes 212, 213, 217, 397 Langensalza 464 Leisnig 450 Leo X. 287, 288 Linck, Wenzeslaus 287 Livius 56 Ludolf von Sachsen 85 Ludwig von Anhalt-Zerbst 45 Luther, Hans 27, 370 Magdeburg 27, 44, 45, 46, 47, 48, 49, 53, 54 Mansfeld 27, 28, 29, 30, 31, 37, 39, 44, 45, 54, 361, 464 Marsilius von Padua 462 Mauburnus, Johannes 47 Melanchthon, Philipp 3, 4, 5, 56, 138, 353, 357, 361, 362, 364, 392, 393, 394, 395, 396, 398, 403, 405, 498 Memmingen 205 Mühlhausen 463 Miltitz, Karl von 287 Moritz von Sachsen 457 Müntzer, Thomas 4, 464, 484, 486 Nathin, Johannes 95 Nordhausen 463 Nürnberg 74, 444 Ochsenfart von Dungersheim, Hieronymus 320 Ockham 70, 71, 96, 105, 133, 135, 215, 461 Ovid 44 Petrus Lombardus 15, 23, 66, 95, 96, 99, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 110, 111, 113, 114, 115, 116, 117, 118, 123, 124, 125, 126, 129, 131, 132, 133, 136, 137, 147, 198 Philipp von Hessen 428 Pierre d’Ailly 215 Platon → Platon / Platonismus Proles, Andreas 79, 80, 81, 82 Radewijns, Florens 49 Reisch, Gregor 71, 72 Rühel, Johannes 464 Ryder, Heinrich 453

Salomo 386, 387, 454, 492 Schatzgeyer, Kaspar 364, 418 Scheurl, Christoph 217 Schwarzenberg, Johann von 403 Schwenckfeld, Caspar von 4 Seeburg 464 Seidler, Jakob 360, 361 Seneca 44 Seuse, Heinrich 52 Spalatin, Georg 213, 226, 287, 292, 397, 445, 463 Spenlein, Georg 205 Staupitz, Johannes von 74, 206, 235, 287 Steinbach, Wendelin 136 Stolberg 464 Strauß, Jakob 435, 440 Tauler, Johannes 52, 168, 190, 191, 192 Thomas von Aquin 25, 61, 66–71, 79, 96–99, 100, 101, 102, 103, 107, 111, 118, 126, 130, 131, 132, 436, 441, 461, 479 Thomas von Kempen 47, 49, 51 f., 54 Ulpian 472 Vergil 44, 56 Versor, Johannes 58 Volusian 404 Wallhausen 464 Wartburg 359, 360, 361, 374, 391, 392, 418, 419, 496 Weimar 397, 398, 464 Wilhelm von Moerbeke 59, 60, 61 Wittenberg 55, 56, 58, 74, 86, 87, 95, 137, 138, 141, 166, 167, 205, 206, 207, 213, 239, 259, 283, 287, 344, 358, 359, 359, 361, 362, 363, 364, 371, 381, 392, 393, 397, 418, 420, 423, 424, 435, 437, 442, 465, 496 Wolff, Johannes 32–35 Worms 358, 359, 444, 456, 480, 482 Wurzen 457, 489 Zeiger, Balthasar 361 Zenn, Conrad von 79, 81, 82, 83 Zwingli, Huldrych 4

Sachen

543

Sachen Abendmahl 31, 51, 87, 133, 258, 273, 275–277, 306, 339, 453 Äsop 41 f. affectus 19, 20, 21, 50, 62, 82, 91, 127, 129, 156, 166, 182, 183, 232, 233, 247, 255, 262, 263, 279, 280, 281, 282, 301, 319, 320, 363 Alter, leiblicher, äußerer Mensch 12, 74 f., 77, 143, 147, 148, 149, 150, 152, 162, 167, 178, 181, 187, 188, 189, 190, 193, 200, 209, 211, 231, 232, 234, 244, 253–255, 258, 264, 273, 293–313, 314, 319, 324, 341, 347, 406, 407 Anfechtung 85–88, 186, 189, 190, 232, 254, 294, 296–302, 312, 335, 337, 343, 505 Antinomismus 1, 237, 238, 320, 325, 329 Aristoteles / Aristotelismus 55–73, 94, 96, 102, 116, 119, 120, 125, 131, 133, 134, 137, 138, 158, 174, 175, 178, 207, 208, 209, 214, 215, 379, 381, 387, 436, 460, 461, 462, 471, 472, 501 Arbeit 9, 12, 51, 92, 315, 316, 324, 342, 383, 386, 415, 418, 437, 445, 446, 447, 448, 452, 506 Armenunterstützung 257, 276, 441, 449 f., 478 f. Askese 81 f., 88–90, 163, 190, 255, 282, 314 f., 332, 342, 376, 416 Aufruhr 345, 457, 465, 480–485 Augustinus / Augustinismus 15, 17, 48, 65, 66, 67, 68, 75, 78, 79, 80, 83, 84, 85, 90, 92, 95, 96, 101, 102, 103, 105, 108, 110, 111, 113, 115, 116, 117, 123, 124, 126, 128, 134, 135, 149, 150, 164, 168, 180, 183, 185, 187, 189, 193, 196, 198, 203, 205, 207, 209, 210, 211, 212, 215, 231, 261, 320, 335, 379, 393, 404, 407, 451, 459, 479, 481 → religio Augustini Augustinereremiten 55, 73–94, 166, 167, 207, 287, 372, 393 Barmherzigkeit 33, 89, 165, 166, 257, 279, 280, 282, 371, 493

Bauernkrieg 360, 456, 464–466, 480 f., 486, 494 Baum und Frucht 5, 157, 164, 179, 200, 212, 215, 217, 241, 243, 315 f., 505 → Mt. 7,16–18 Beichte → Sündenbekenntnis Beichtsummen 32, 35, 36, 136 Bekehrung 45, 75, 81, 149, 158, 298 f., 317 Bekehrung zur Welt 9 f., 161, 347, 357, 373, 390, 391, 406, 414 Bekenntnisschriften 3–5, 11 Bergbau 30, 436, 438, 442, 444 Bergpredigt 4, 9, 11, 15, 16, 22, 53, 85, 89, 164, 199, 247, 264, 266, 267, 272, 279, 280, 281, 283, 315, 351, 352, 365, 366, 377, 401, 402, 404, 410, 411, 413, 414, 418, 446, 447, 448, 450, 451, 452, 453, 455, 489, 491, 493, 494, 499, 506, 507 Beruf 5, 170, 327, 360, 372–390, 391 f., 396, 402, 407, 410, 412, 418, 435, 452, 458, 486, 506 Besitz 16, 78, 89, 116, 281, 282, 352, 415, 418, 423, 435, 437, 439, 440, 441, 445, 446, 447, 448, 450, 451, 452, 506 Beten 32, 50, 80, 92, 164, 165, 184, 188, 254, 265, 272, 273, 277, 300, 301, 323, 324, 329, 332, 334, 337–343, 352, 353, 381, 393, 395, 401, 480, 494, 505 Bibel 1, 18, 37 f., 44 f., 52 f., 73, 83, 87, 94, 96, 112 f., 131, 140 f., 143, 144, 167, 192, 206 f., 305, 332, 337, 354, 355, 357, 358, 363, 429, 435, 445, 454, 462, 492, 501, 503, 504, 507 Bildungswesen 433, 441, 456 Billigkeit 164, 350, 416, 424 f., 439, 477, 478 Buße 5, 31–38, 43, 50, 52, 54, 64, 65, 66, 68, 81, 82, 83, 85, 86, 87, 88, 101, 108, 123, 129, 133, 135, 136, 139, 144, 149, 154, 155, 157, 161, 162, 167, 168, 169, 178, 179, 180, 182, 184, 185, 189, 190, 192, 193, 203, 204, 207, 218, 229, 234–236, 248–258, 259, 260, 264, 270, 273, 283, 284, 285, 303, 316, 317, 331,

544

Indizes

334, 338, 357 f., 422, 436, 453, 455, 479, 480, 501, 503, 504, 505 Christus 19, 22, 29 f., 37, 50 f., 52, 53, 54, 76, 85, 86, 101, 132, 143, 147, 152, 158, 177, 182 f., 205 f., 212, 219 f., 222 f., 225 f., 230–239, 242–247, 253– 255, 262 f., 264, 284, 290, 291, 295– 302, 308–313, 320 f., 336, 398 f., 407, 408, 503, 505 Christusgemeinschaft 4, 9, 51, 143, 150, 152, 231 f., 242–247, 253, 275 f., 284, 293, 295–302, 308–313, 320 f., 328, 354, 505 Confessio Augustana 2–4, 357 concupiscentia 25, 48, 50, 54, 89, 109, 111, 181, 188, 189, 215, 216, 244, 256, 263, 281, 282, 314, 315, 351, 352, 440 cooperatio 18, 19, 20, 23, 24, 54, 61, 69, 121, 151, 157, 159, 160, 227, 243, 302, 303, 322, 341, 388, 493 Dankbarkeit 314, 322, 338, 388 Dekalog 4, 11, 30, 32 f., 37, 38, 42, 43, 53, 85, 88, 89, 111, 113, 114, 115, 125, 127, 130, 133, 153, 154, 214, 216, 237, 248, 256, 258–285, 289, 290–293, 304, 308, 311, 319, 320, 323, 327, 330–353, 357, 369, 370, 373, 382, 383, 393, 414, 418, 435, 441, 454, 456, 469, 474, 489, 504, 505, 507 Demut 12, 48, 50, 51, 52, 54, 76, 78, 79, 82, 86, 88, 90, 93, 146, 147, 148, 149, 151, 152, 155, 158, 161, 162, 163, 166, 169, 171, 176, 180, 182, 183, 184, 185, 190, 195, 198, 202, 203, 204, 205, 206, 218, 219, 220, 223, 225, 229, 230, 232, 244, 248, 261, 263, 265, 271, 272, 284, 285, 331, 494, 503, 504 Devotio moderna 21, 46–54, 84 Ehe 28, 64, 133, 135, 188, 242, 278 f., 281, 308–310, 334, 345, 376 f., 382 f., 396, 415–434, 506 Ehelosigkeit 188, 361, 362, 364, 365, 366, 415, 416, 417, 421, 432, 447 Eherecht 416, 418, 420, 423–428, 476 Ehescheidung 424, 427, 428, 429, 431, 432, 433

Eid 154, 272, 337, 485 Eigengerechtigkeit 146, 159, 164, 175, 176, 177, 184, 193, 204, 210, 212, 216, 218, 227, 229, 236, 243, 244, 245, 247, 252, 262, 269, 270, 284, 329 Eigengesetzlichkeit 10, 247, 383, 384, 385, 386, 388, 391, 402, 408, 411, 467, 487, 493, 494, 506 Eltern und Kinder 278 f., 281, 345–348, 383, 415, 418, 422, 424, 427, 433 ›Ethik‹ 13, 60, 62, 63, 72, 132, 174 f., 331, 379 Ethische Urteilsbildung 435–437, 463, 465, 466, 494 Ethischer Grundkonsens der Reformation 2–6 Evangelium 2, 13, 44, 110, 112, 147, 148, 149, 150, 165, 166, 167, 182, 193, 225, 227, 230, 236, 237, 247, 251–258, 267, 268, 291, 293, 298, 299, 300, 305, 308, 317, 319, 320, 324, 326, 330, 331, 336, 338, 339, 352, 356, 351, 353, 358, 365, 367, 371, 393, 394, 395, 396, 403, 409, 411, 433, 440, 447, 453, 459, 469, 485, 486, 488, 491, 496, 498 facere quod in se est 104, 107 f., 110, 112, 116, 120, 123, 125, 128, 164, 177, 184, 209, 211, 215, 219 Feindesliebe 26, 89, 129, 131, 279, 351, 365, 405, 406, 413, 450 Flugschriften 4 Freiheit vom Gesetz 3, 4, 9, 114, 197, 200, 237, 277, 307, 310, 318, 319, 326, 329, 353, 505 → 1. Tim. 1,9 → libertas christiana Fröhlicher Wechsel 225, 295, 307–311, 328 Frömmigkeitspraxis 28–38, 46–54, 64, 73, 74, 82–88, 123, 136, 150, 155, 167, 184, 197 f., 217, 255, 256, 260, 276, 332, 337–344, 370, 374, 376, 381, 441, 484, 494, 501, 505 Frömmigkeitstheologie 13, 79, 82, 123 Frömmigkeitswerke 32, 43, 244, 256, 269, 278, 323, 327, 344, 370, 374, 376 Frühkapitalismus 436, 442

Sachen Gehorsam 3, 9, 12, 26, 28, 71, 77, 78, 79, 81, 88, 89, 90, 93, 114, 120, 121, 125, 132, 159, 162, 166, 197, 200, 202, 205, 209, 210, 216, 217, 220, 228, 230, 238, 239, 261, 262, 264, 265, 267, 268, 277, 278, 279, 280, 283, 319, 327, 332, 333, 340, 345–350, 353, 366, 370, 371, 373, 375, 381, 383, 385, 386, 387, 389, 390, 391, 392, 395, 396, 402, 403, 404, 407, 409, 451, 456, 461, 470, 479, 482, 483, 487, 488, 489, 490, 500, 506, 507 Geistesfrüchte 97, 126, 157, 243, 432 Geiz 12, 33, 352, 436, 440–446, 453 Geldverleih 283, 365, 436, 439, 440, 442, 443, 445, 450 Genugtuung 29, 32, 35, 81, 82, 135, 162, 249, 251, 255, 256, 257, 284, 297, 316, 332, 334, 501, 504 → Mt. 6,1–18 Gericht Gottes 11, 30, 31, 37, 54, 72, 77, 81, 82, 103, 104, 147–152, 165, 166, 172, 182, 187, 188, 205, 211, 218, 225, 226, 252, 254, 261, 283, 284, 291, 298, 299, 302, 336, 449, 483, 501 Gesetz 1, 3, 4, 13, 17, 36, 38, 42 f., 68, 73, 88, 97, 99, 107, 110, 111–115, 132, 134, 145, 147, 149 f., 156, 165, 166, 172, 182, 185, 189, 193, 194, 196, 200, 201, 202, 209, 210, 212, 214, 216, 217, 230, 231, 232, 233, 236–239, 259, 261, 264, 265, 266, 267, 268, 277, 295, 298, 299, 302, 305, 306, 307, 309, 310, 313, 314, 317, 318–320, 325, 326, 329, 330, 331, 332, 357, 358, 365, 369, 393, 394, 398, 399, 406, 426, 427, 439, 440, 450, 459, 462, 473, 476, 505 Gesetzeswerke 193–197, 211, 214, 217, 230, 238, 309, 319, 353, 369 Gesinnungsethik 12 Gewissen 21, 36, 60, 66, 68, 72, 73, 81, 85, 106, 107, 109, 110, 111, 210, 151, 177, 189, 201, 209, 210, 227, 234, 237, 255, 295, 298, 299, 300, 302, 319, 322, 333, 369, 370, 420, 423, 425, 426, 446, 471, 479, 483, 484, 485, 489 Glaube 1, 3, 4, 5, 8 f., 11, 16, 20 f., 23, 24, 42–44, 126 f., 148 f., 151–166, 176, 180, 182–185, 188, 190, 193–195, 196, 201 f., 203–206, 212, 219 f., 223, 225– 239, 242–247, 252 f., 258, 262 f.,

545

268 f., 289, 290–293, 293–354, 368 f., 385, 389, 390, 430 f., 434, 446 f., 491 f., 495, 501–507 → Joh. 6,28 f. Glaubenswerke 146, 160, 161, 194, 195, 222, 229, 237 Gleichförmigwerden mit Christus 9, 51, 230, 234, 235, 236, 239, 244, 253, 294, 296, 297, 299, 302, 504, 505 Glückseligkeit 61 f., 65, 68, 73, 103 f., 112 Gnade 1, 15, 22 f., 35, 37 f., 43 f., 69, 73, 75, 81, 82, 86, 88, 97, 99, 103 f., 107– 110, 114 f., 115–124, 125 f., 128, 137, 148, 150, 151, 156, 176, 179, 184, 194 f., 209–214, 215 f., 220, 222, 227, 237, 253, 255, 261, 262, 267 f., 273, 283, 284, 299, 313, 332, 367, 501, 504 Goldene Regel 15–17, 18, 20, 22, 23, 26, 42, 91, 199, 246, 257, 266, 280, 282, 320, 328, 352, 402, 450, 474, 493, 501 Gottesdienst 33, 37, 44, 52, 80, 82, 85, 92, 272, 273, 332, 338, 339, 341, 342, 348, 353, 370, 376, 381, 505 Gottesfurcht 11, 50, 183, 218, 244, 291, 340, 494, 497 Gottesliebe 11, 18, 19, 23, 24, 26, 33, 34, 42, 48, 50, 68, 69, 78, 80, 82, 91, 92, 99, 103, 104, 107, 108, 114, 115, 118, 121, 127, 128, 129, 131, 183, 209, 215, 216, 228, 235, 255, 265, 340 Güterethik 12 Güterkommunismus 445 f., 485 Gute Werke 3, 4, 17, 81, 93, 146, 153, 155, 156, 157, 176, 177, 178, 186, 187, 194, 195, 198, 203, 213, 218, 239, 242, 244, 245, 252, 255, 256, 257, 265, 270, 271, 274, 287, 288, 289, 290, 292, 294, 295, 302, 307, 313, 314, 315, 316, 318, 319, 322, 326, 329, 330–354, 358, 369, 376, 381, 399, 430, 501, 504, 505 Handel 283, 435, 438, 441, 442, 443, 444, 445, 447, 450, 451, 452, 478 Haustafel-Ethos 9, 383, 414 Heiliger Geist 3, 11 f., 21, 33, 43, 75, 77, 104, 112, 117, 118, 119, 120, 126, 131, 147, 187, 155, 158, 183, 187, 197, 200, 210, 216, 225, 255, 266, 267, 268, 269, 293, 303, 376, 399, 401, 408, 413, 432

546

Indizes

Heiligkeit 11, 75, 77, 166, 199, 235, 273, 381, 391 Heiligung 5, 170, 171, 188, 189, 190, 197, 219, 273, 274, 299, 338, 342 Heilsgewißheit 183, 225, 291, 295, 301, 333 Heilung 170, 183, 185, 187, 193, 203, 210, 306 Herz 16, 32, 48, 49, 50, 90, 91, 146, 155, 196, 206, 217, 227, 228, 242, 255, 258, 264, 266, 267, 268, 272, 271, 279, 280, 281, 291, 311, 319, 320, 322, 338, 339, 346, 363, 368, 408, 441, 451 Himmelsleiter 25, 51, 156, 329 Humanismus 1, 3, 13, 39, 54, 56, 58, 171, 213, 359, 455, 498 imitatio Christi 51, 155, 157, 220, 222, 228, 232, 234, 244, 249, 321 Juden 176, 262, 477, 484, 485 Keuschheit 25, 77, 78, 81, 89, 90, 162, 282, 352, 366, 417, 432, 433, 488 Kirchenordnungen 5, 357 Kreuzestheologie 52, 163, 220, 228, 289, 296, 346 Krieg 134, 348, 454, 469, 471, 477, 478, 479 f., 487 Kriegsdienst 395, 456, 479, 491 Landesherrliches Kirchenregiment 462, 495–500 Landwirtschaft 438, 443, 444 Laster 17, 24, 30, 37, 38, 41, 42, 43, 50, 51, 53, 54, 60, 66, 72, 85, 98, 110, 129, 133, 162, 191, 280, 342, 351, 352, 478 Leiden 9, 52, 150, 155, 156, 177–179, 186, 190, 191, 192, 204, 216, 219, 229, 232, 247, 254, 255, 264, 270, 274, 276, 294–302, 232, 335, 341, 342, 343, 346, 348, 349, 374, 393, 401, 402, 447, 448, 451, 453, 483, 489, 490, 500, 505 libertas christiana 110, 169, 193, 196, 197, 201, 202, 237, 256, 277, 302–313, 319, 321, 322, 324, 329, 349, 355, 356, 360, 361, 362, 363, 369, 389, 391, 395, 505 liberum arbitrium 1, 19–22, 67, 68, 69,

70, 71, 97, 102, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 110, 111, 116, 117, 118, 120, 121, 122, 123, 124, 125, 151, 184, 198, 209, 214, 219, 241, 261, 270, 294, 501, 503 Liebe 3, 9, 12, 16, 17, 22, 43, 50, 77, 78, 79, 81, 86, 90, 91, 92, 93, 98, 99, 101, 104, 111, 114, 117, 118, 119, 120, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 148, 153, 165, 183, 191, 197, 198, 199, 202, 203, 210, 213, 255, 268, 269, 276, 277, 280, 283, 291, 292, 294, 302, 317, 318, 320, 321, 322, 323, 324, 325, 326, 329, 344, 357, 358, 397, 406, 411, 414, 431, 500, 504, 506 Liebesgebot 33, 42, 78, 89, 111, 113, 114, 115, 121, 128, 129, 165, 198, 199, 200, 211, 212, 214, 246, 265, 266, 268, 282, 320, 326, 328, 373, 401, 446, 450, 474, 493, 504, 507 Lohn 20, 77, 176, 241, 249, 277, 303, 314 Maria 30 f., 75, 80, 322, 494 Mensch 3, 8, 16, 18 f., 21, 23, 60–64, 67–71, 72 f., 96–131, 136 f., 141, 146, 175, 204 f., 215 f., 266, 420, 501 Mönchtum 15, 23, 24, 25, 27, 28, 45 f., 48, 73–94, 143, 144, 146, 150, 156, 160, 161, 162, 163, 167, 187, 190, 197, 201, 202, 204, 205, 206, 238, 256, 258, 282, 307, 315, 324, 347, 350, 359, 360–372, 373, 376, 390, 391, 399, 414, 416, 417, 418, 421, 446, 447, 463, 501, 504, 506 Motivation 3, 41, 169, 183, 187, 197, 268, 283, 322, 340, 399, 401, 408, 412, 413, 414, 446, 466, 492, 493, 495, 500, 506 Mystik 11, 52, 84, 180, 183, 190, 192, 204, 205, 308, 328, 380 Nachfolge 3, 9, 11, 25, 51, 235, 245, 253, 254, 358, 365, 374, 376, 391, 402, 414, 446, 447, 450, 493, 500, 506, 507 Nächstenliebe 3, 16, 17, 23, 24, 25, 26, 33, 42, 54, 75, 78, 80, 82, 88, 90, 91, 92, 93, 98, 99, 113, 118, 129, 183, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 207, 240, 244,

Sachen 247, 256, 257, 265, 272, 275, 276, 278, 279, 280, 328, 329, 336, 370, 371, 373, 377, 385, 386, 397, 400, 401, 402, 408, 412, 418, 431, 432, 446, 450, 490, 492, 493, 505, 507 Naturrecht 42, 43, 68, 112, 113, 199, 210, 266, 320, 380, 384, 394, 424, 425, 426, 439, 440, 441, 445, 446, 451, 462, 474, 475, 477, 478, 493 Neuer, geistlicher, innerer Mensch 12, 74 f., 77, 82, 143, 147, 151 f., 154, 164, 166, 167, 178 f., 182, 187, 189, 190, 198, 200, 202, 205, 227, 233, 234, 252–254, 255, 268, 271, 273, 274, 293–313, 314, 318, 319, 324, 339, 347, 406, 414, 505 oeconomia 59, 61, 62, 70, 110, 131, 272, 279, 353, 376, 378, 381, 382, 383, 384, 385, 409, 412–450, 451, 463, 464, 466, 503 → Ehe → Stände → Wirtschaft opus Dei 147, 151, 152, 157, 159, 160, 161, 166, 167, 177, 185, 205, 217, 218, 219, 223, 231, 245, 268, 290, 291, 293, 294, 327, 364, 387, 389, 399, 420, 493, 503 ordo charitatis / diligendi 129, 198, 320 Passivität 127, 150, 152, 191, 204, 247, 272, 291, 295, 389 → vita passiva Patriarchalismus 278, 344, 382, 470 Pelagianismus 22, 71, 108, 114, 121, 198, 210, 213, 215, 267 Person und Werk 60, 62, 102, 145, 146, 153, 154, 175, 203, 205, 209, 211, 213, 214, 243, 304, 315, 316, 376, 408, 459 Pflicht 13, 41, 50, 73, 104, 115, 164, 210, 246, 278, 332, 350, 365, 374, 382, 385, 386, 414, 478, 479, 482, 483 Platon / Platonismus 25, 64, 65, 66, 67, 68, 72, 378, 379, 387, 462, 472 politia 63, 134, 135, 274, 324, 344, 357, 383, 384, 386, 388, 391–414, 425, 433, 454–500, 506 → zwei Regimente, zwei Reiche → zwei Gewalten, zwei Schwerter profectus 48–52, 53, 115, 128, 129, 162, 163, 164, 170, 172, 178, 179, 188, 195, 203, 206, 234, 263, 264, 265, 314, 503

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promissio-fides-Relation 149, 308 prudentia 40, 43, 61, 68, 98, 125, 130, 174, 175, 181, 284, 384, 387, 388, 429, 472, 475, 487 Räte 25, 37, 43, 79, 85, 88, 89, 90, 93, 115, 163, 165, 202, 266, 333, 365 f., 404, 406 Recht 72, 112, 132, 133, 134, 135, 259, 349, 379, 380, 382, 383, 416, 420, 423, 424, 425, 426, 427, 428, 439, 440, 445, 446, 448, 461 f., 468, 471–479, 492, 507 Rechtfertigung 1, 3, 4, 5, 9, 10, 31, 35, 69, 97, 116, 139, 140, 147, 149, 158, 163, 165, 166, 168–207, 208, 212, 213, 214, 219, 221, 223, 225, 226, 229, 235, 237, 238, 241, 245, 249, 251, 252, 258, 260, 261, 289, 290–313, 316, 326, 355, 356, 364, 369, 390, 397, 402, 435, 503, 504, 505, 507 Reformatorische Erkenntnis 140 f., 223 f., 239, 313 religio Augustini 78–81, 84, 360 ›Religion und Sittlichkeit‹ 6, 13, 170 Religionspolitik 481, 484–487, 495–499 Sabbatruhe 272, 341–344, 347, 505 Schmalkaldischer Bund 482 Schöpfungsordnungen 391, 415, 417, 420, 421, 422, 423, 424, 428, 429, 446, 467, 469, 506 Schöpfungstheologische Außendimension 4, 9, 10, 11, 18, 356, 358, 414, 416, 434, 504, 507 Scholastik 17, 55–73, 94–138, 151, 181, 184, 185, 203, 207–221, 227, 267, 404, 503 Schwert 392, 393, 396, 397, 398, 401, 403, 404, 405, 408, 409, 410, 411, 412, 413, 467, 468, 469, 472, 473, 492, 495, 496 Selbstdisziplinierung 25, 28, 40, 41, 78, 82, 88–93, 163, 274, 277, 282, 313, 314, 319, 323, 324, 326, 332, 336, 342, 348, 350, 352, 352, 505 Selbstgericht 86, 150, 151, 152, 155, 161, 184 Selbstnegation 51, 150, 186, 190, 191,

548

Indizes

203, 205, 206, 207, 213, 216, 223, 227, 228, 244, 245, 254, 264, 269, 331, 340, 390, 504 → Demut → Sündenbekenntnis Sexualität 12, 136, 281, 282, 351, 352, 362, 416, 417, 420–423, 425, 428, 431, 432, 433 simul peccator et iustus 170, 172, 187 f., 319 Sozialdisziplinierung 5, 35 f., 349, 425, 478 Sozialethik 7, 10, 13, 94, 131–135, 224, 248, 274, 277, 383, 454 → oeconomia → politia Spiritualismus 3, 150, 378, 394, 445, 487 Stände 8, 30, 45, 46, 69, 98, 133 f., 258, 274 f., 323, 350, 360, 365, 366, 372– 390, 405, 412, 415, 418, 429, 434, 458, 502, 504, 506 Stoa 41, 57, 64, 65, 66, 72 Sünde 17, 22, 26, 31–37, 43, 50, 69, 85, 87, 93, 97, 102, 108–111, 114, 120, 121 f., 135, 144–149, 158, 163, 167, 175 f., 178, 179, 181–193, 203, 206, 208 f., 211, 218, 225–227, 252–256, 261, 264, 273, 298, 304, 309 f., 319, 415, 446, 467 f., 475, 491, 505, 507 Sündenbekenntnis 31, 32, 34, 35, 36, 81, 82, 88, 135, 145, 147, 149, 163, 184, 188, 190, 218, 235, 251, 252, 254, 331 Synergismus 151, 289 → cooperatio Täufertum 3, 376, 392, 443, 444, 482, 484, 487 Taufe 43, 45, 81, 145, 189, 234, 273–275, 360, 366, 367 Teufel 2, 11, 30, 233, 254, 269, 299, 300, 304, 309, 310, 316, 342, 398, 399, 407, 413, 422, 459, 460, 463, 465, 466, 487, 494 Toleranz 484, 485 Türkenkrieg 456, 457, 479, 480 Tugend 11, 13, 16, 24, 25, 26, 30, 34, 38, 40–44, 48–54, 60, 61, 62, 63, 65, 66, 68, 69, 71, 72, 73, 80, 85, 90, 91, 98, 99, 101, 103, 104, 110, 116, 120, 125– 131, 133, 148, 153, 165, 176, 208, 210, 266, 270, 284, 292, 294, 302, 303, 331, 350, 351, 378, 436, 460, 461, 472, 499, 501, 503, 504, 505

Verdienst 16, 22 f., 31, 73, 76, 81, 97, 103, 104, 109, 110, 114, 116, 117, 119, 120, 121, 122, 124, 125, 126, 158, 162, 163, 164, 177, 184, 185, 189, 209, 210, 211, 212, 213, 215, 216, 217, 218, 238, 243, 257, 261, 263, 264, 265, 270, 297, 303, 314, 332, 501, 504 Verantwortung 1, 3, 13, 41, 68, 104, 160, 203, 214, 227, 228, 247, 258, 276, 277, 278, 279, 280, 282, 283, 332, 344, 347, 350, 351, 352, 388, 390, 391, 394, 395, 396, 400, 401, 403, 404, 406, 408, 410, 411, 413, 414, 441, 454, 462, 466, 470, 474, 484, 487, 493, 495, 499, 500, 504, 505, 506 Vernunft 60, 61, 62, 66, 68, 71, 72, 73, 91, 104, 105, 106, 107, 108, 109, 114, 120, 122, 125, 127, 130, 151, 183, 209, 215, 270, 284, 292, 294, 322, 342, 384, 400, 401, 424, 425, 447, 474, 475, 477, 478, 491, 492, 493, 501 vita activa 25, 26, 80, 92, 98, 129, 163, 191, 192, 294, 296 vita contemplativa 26, 61, 80, 83, 92, 98, 129, 163, 191, 192, 296 vita passiva 191, 270, 294–296, 302, 303 Vollkommenheit 3, 5, 24–26, 27, 28, 30, 31, 37, 46, 47, 48, 50, 51, 52, 53, 54, 69, 73, 74, 75, 77, 79, 81, 82, 86, 93, 98, 128, 163, 166, 176, 179, 202, 234, 235, 243, 263–265, 272, 283, 331, 365, 366, 390, 394, 415, 446, 462, 501, 503, 504 Wechselseitigkeit von göttlichem und menschlichem Handeln 137, 161, 203, 205, 227, 229, 249, 501 Weltdistanzierung 3, 24, 41, 42, 51, 53, 74, 90, 156, 157, 160, 188, 263, 272, 296, 346, 390, 394, 407, 414, 429, 430, 448, 462, 504 Weltliche Gegebenheiten, weltliche Ordnung 3, 9, 10, 112, 132, 134, 188, 200, 201, 202, 241, 246, 274, 277, 278, 283, 304, 312, 323, 324, 325, 326, 327, 344, 346, 347, 353, 356, 357, 358, 376, 377, 384, 387, 388, 390, 391, 392, 393, 394, 407, 417, 446, 448, 455, 461, 466, 467, 479, 483, 505, 506, 507

Sachen Weltverantwortung 3, 4, 9, 10, 24, 41, 160, 203, 228, 241, 247, 258, 260, 277, 278, 283, 324, 326, 332, 344, 346, 351, 376, 377, 390, 391, 392, 399, 400, 401, 402, 404, 408, 409, 410, 411, 412, 413, 417, 474, 484, 500, 504, 505, 506, 507 Widerstand 341, 349, 350, 457, 481–483, 489 Wille 19–22, 53, 62, 66, 68, 97, 101, 104– 110, 111, 120–122, 124, 125, 165, 183, 209, 211, 215, 255, 267, 268, 292, 342 → liberum arbitrium Wirtschaft 28, 57, 63 f., 136, 281, 283, 351 f., 377, 422, 434–453, 506, 507 Wucher 12, 17, 33, 63, 136, 154, 282 f., 349, 351 f., 376, 435 f., 439 f., 441, 442, 443, 445, 447, 450, 452, 453, 478

549

Zeremonien 5, 112, 113, 132, 145, 202, 214, 216, 237, 238, 239, 315, 322, 323, 324, 325, 336, 339 Zinskauf 283, 439, 450 Zölibat 360–363, 365, 391, 392 Zwei Gewalten, zwei Schwerter 134, 153, 459 Zwei-Stufen-Ethik 188, 202, 275, 333, 372, 404, 407, 503, 504, 506 Zwei Regimente, zwei Reiche 7, 8, 13, 200, 246, 327, 356, 360, 385, 398–402, 407–409, 414, 418, 423, 424, 454, 456, 458, 459, 460, 463, 464, 472, 476, 487, 490, 496, 497, 498, 499, 502, 506