Theodor Fontane: Effi Briest: Ein Leben nach christlichen Bildern [Reprint 2012 ed.] 9783111384122, 9783484180512


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German Pages 215 [252] Year 1978

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
I Die Gottesmauer
II Verkündigung
III Fontanes Voraussetzungen
IV Rollenfixierung in »Effi Briest« als Gesellschaftskritik
V Der Heliotrop – die Apologie des Humanen
VI Fontane und die christliche Gesellschaft
VII Literarische Bilder – zu Fontanes Realismus
VIII Schluß
Abbildungsverzeichnis
Abbildungsnachweis
Mehrfach zitierte Literatur
Register
Abbildungen
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Theodor Fontane: Effi Briest: Ein Leben nach christlichen Bildern [Reprint 2012 ed.]
 9783111384122, 9783484180512

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STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR

Herausgegeben von Wilfried Barner, Richard Brinkmann, und Friedrich Sengle

Bandjj

Peter-Klaus Schuster

Theodor Fontane : Effi Briest Ein Leben nach christlichen Bildern

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1978

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Schuster, Peter-Klaus Theodor Fontane » E f f i Briest«, ein Leben nach christlichen Bildern. - i. Aufl. Tübingen : Niemeyer, 1978. (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 5$) I S B N J-484-18051-X

I S B N 3-484-180JI-X © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1978 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany Satz : E. Eisele, Stuttgart. Einband : Heinr. Koch, Tübingen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort I II III

IV

V VI VII

VIII

IX

Die Gottesmauer

ι

Verkündigung

3

Fontanes Voraussetzungen

10

a) »Disguised symbolism« in der Malerei Altniederländische und altdeutsche Malerei 10; Nazarener 16; Präraffaeliten 29; Trivialkunst und Genremalerei 40

10

b) Christliche Leitbilder Die Hl. Familie als Leitbild 49; Bilder der Kunst als Vorbilder des Lebens bei Fontane 66; Rollenkritik und Rollenerneuerung in der Malerei der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts 73

49

Rollenfixierung in » E f f i Briest« als Gesellschaftskritik . Bethlehem 88; Heimsuchung 9 1 ; Geburt, Taufe, Marientod 92; Sündenfall 93; Passion 99; Erlösung 102; Der Gesellschaftsgötze 104

88

Der Heliotrop - die Apologie des Humanen

110

Fontane und die christliche Gesellschaft

126

Literarische Bilder — zu Fontanes Realismus Typik und Detail 136; Diskretes Zitat 138; Kritik und Verwandlung der Allegorie 150; Exaktheit, Kleines Glück, Desillusion i y 5 ; Enzyklopädische Kunstwelt 164; Zur Methode und zum Realismusbegriff 170

136

Schluß

180

Abbildungsverzeichnis

186

Abbildungsnachweis

188

Literaturverzeichnis

189

Register

200

Abbildungen

207

V

»Sah mir die Augen aus dem Kopf, indem ich wieder einmal >Effi< las, eine Seite pro Tag, wieder unter Tränen. E f f i . . . Hätte mit ihr glücklich sein können, da oben an der Ostsee, und die Kiefern und die Dünen.« Samuel Beckett, Das letzte Band

Vorwort

Theodor Fontanes Roman »Effi Briest«, nach Thomas Mann jenes »Meisterwerk«, das »ins Europäische reicht«,1 wird hier als ein Leben nach christlichen Bildern und hierin als Abbild gesellschaftlicher Konventionen gedeutet. Der Mann, so zeigt es Fontane in »Effi Briest«, hat in dieser Gesellschaft unvermeidlich die Rolle Gottes inne, die Frau ist die züchtige Maria. Weicht sie von dieser Vorstellung ab, so wird sie zur sündigen Eva, und unerbittlich vollzieht sich an ihr das göttliche Strafgericht. Gesellschaftliches Leben ist so nur noch Reproduktion christlicher Mythologeme, ist nur noch ein gesellschaftlich erzwungenes Leben nach christlichen Bildern zur Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung. Diese Deutung wird hier von der Kunstgeschichte her begründet. Zum einen durch den Nachweis der umfassenden Kenntnisse Fontanes über bildende Kunst, ihre Darstellungsweisen und Bildinhalte bis hin zu den damals neuesten Produktionen der englischen Präraffaeliten. Gezeigt wird zum anderen, mit welcher Konstanz seit langem schon die gesellschaftlichen Vorstellungen von der Frau, der Ehe und der Familie auf christliche Leitbilder hin ausgerichtet waren. Zu beobachten ist dabei, wie bei fortschreitender Säkularisierung die ursprünglichen Wunschbilder in den Dienst eines Zucht- und Ordnungsdenkens treten. Eben diesen Wertekosmos der preußisch-wilhelminischen Welt hat Fontane in »Effi Briest« durch eine Fülle von Verweisen und Anspielungen mit beklemmender Genauigkeit wiedergegeben. Deutlicher als bisher wird damit der so liebenswürdige Plauderer Fontane, noch von Gottfried Benn ob seiner Pläsierlichkeit getadelt,2 in seiner präzis kalkulierenden Artistik erkenntlich. Aber auch in seiner subtilen Bosheit und bitteren Ironie, mit der er die vorgeblich christlichen Ordnungstrukturen dieses wilhelminischen Preußens der Gründerjahre illusionslos seziert. Seiner 1

2

Thomas Mann, Die Kunst des Romans, in: Th. Mann, Gesammelte Werke, F r a n k f u r t / M . i960, X , p. 360. Gottfried Benn, Fontane, in: G . Benn, Gesammelte Werke, hrsg. von Dieter Wellershoff, Wiesbaden 1 9 6 1 , I V , p. 2 7 2 sq.

VII

Kritik an den beherrschenden Mythologemen der Zeit hat Fontane jedoch, auch das läßt sich von der Kunstgeschichte aus zeigen, durch ein verbreitetes christliches Sinnbild zugleich sehr genau seine Vorstellungen von einer humanen Gesellschaftsordnung kontrastiert. Kritisches Kalkül und virtuose Meisterschaft im Umgang mit den Bildungsgütern seiner Zeit, Fontane als gelehrter und respektloser Enzyklopädist, der Wirklichkeit als ein Leben nach den Bildern der Kunst vorstellt, all diese hier betonten Aspekte geben abschließend Anlaß, Fontanes Realismus in seinem Kunstcharakter erneut zu bedenken. Umgekehrt werden von Fontane aus, von seinem erstaunlichen Gebrauch, den er in »Effi Briest« wie in anderen Romanen von den Bildern der Kunst gemacht hat, sich schließlich weitergehende Überlegungen auch für einen Realismusbegriff in der Kunstgeschichte ergeben. Bei einer Arbeit mit solch interdisziplinärem Interesse kann es sich immer nur um einen Versuch handeln. Aber auch ein solcher Versuch weiß sich mit jenem Wort des alten Stechlin ein wenig entschuldigt: »Unanfechtbare Wahrheiten gibt es überhaupt nicht, und wenn es welche gibt, so sind sie langweilig.« 3 Daß der hier unternommene Versuch in dieser Form vorgelegt werden kann, verdanke ich Herrn Professor Dr. Richard Brinkmann. Er hat die Arbeit von ersten Anfängen an mit kritischem Rat und ermunternder Teilnahme nachhaltig gefördert. Für kritische Lektüre des Ganzen oder wesentlicher Teile sowie für zahlreiche Hinweise habe ich ferner zu danken Herrn Professor Dr. Karl Arndt, Herrn Professor Dr. Walter Jens, Frau Dr. Renate Kroos und Herrn Professor Dr. Willibald Sauerländer. Herr Dr. Ulrich Finke ließ mich freundlicherweise sein Manuskript zur Manchester Art Treasures Exhibition einsehen. Hilfreiche Auskünfte verdanke ich weiterhin den Mitgliedern eines von Professor Dr. Richard Brinkmann geleiteten Fontane-Kolloquiums, ferner Herrn Dr. Konrad Feilchenfeldt, Herrn Dr. Gottfried K o r f f , Frau Dr. Christa Pieske, Herrn Dr. Martin Scharfe und Herrn Professor Dr. Karl-August Wirth. Der Hauptteil dieser Arbeit entstand 1976 unter günstigsten Bedingungen während eines Stipendiums am Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München. Auch hierfür sei ganz herzlich gedankt.

' Theodor Fontane, Der Stechlin, in: Th. Fontane, Sämtliche Werke, München: Nymphenburger Verlagshandlung 1959 sqq., V I I I , p. 8. Diese Ausgabe wird im folgenden zitiert als N F A .

VIII

I Die Gottesmauer

Im 18. Kapitel, während der Schlittenpartie zu Oberförster Ring am dritten Weihnachtsfeiertag, läßt Fontane die Titelfigur seines Romans »Effi Briest« ihrem künftigen Geliebten, Major von Crampas, die Geschichte von der »Gottesmauer« erzählen. Es handelt sich hierbei um ein Gedicht, der Dichter Clemens Brentano wird nicht genannt, dessen Inhalt E f f i folgendermaßen wiedergibt: »Eine kleine Geschichte, nur ganz kurz. D a w a r irgendwo Krieg, ein Winterfeldzug, und eine alte Witwe, die sich vor dem Feinde mächtig fürchtete, betete zu Gott, er möge doch >eine Mauer um sie bauennein< sagst, was ich mir von meiner klugen E f f i kaum denken kann, so stehst du mit zwanzig da, wo andere mit 18

V g l . Menzel, Christliche Symbolik, I, p. 2 7 1 u. Friedreich, Symbolik der Natur, pp. 3 1 7 sqq. V g l . ferner Oswald Goetz, D e r Feigenbaum in der religiösen Kunst des Abendlandes, Berlin 1965.

7

vierzig stehen. Du wirst deine Mama weit überholen.« (180) Bei Lukas 1,29 heißt es nun von Maria: »Sie erschrak aber über diese Rede.« Bei Fontane fällt E f f i ihrer Mutter ins Wort: »Aber Mama, was hast du nur? Mir wird ja ganz angst und bange.« (180) Und als dann im gleichen Moment Innstetten an der Seite des Ritterschaftsrats von Briest die Gartensalonschwelle überschreitet, kam E f f i »in ein nervöses Zittern« (180). Nach dem von Fontane hier zugrundegelegten Handlungsschema wäre Geert von Innstetten, »schlank, brünett und von militärischer Haltung« (180), ein Mann »von Charakter, von Stellung und guten Sitten« (180), hier die Rolle Gottes, oder doch die seines irdischen Stellvertreters zugewiesen. Im ausdrücklich angemerkten Unterschied zu den Briest von Uradel wird er in dieser Rolle bestätigt, wenn im Hochzeitsgedicht von ihm ständig nur als dem »Hohen Herren« gesprochen wird, worüber sich Briest aufs äußerste entrüstet (187), ebenso wenn E f f i später gegenüber den Dienstboten nicht »so ohne weiteres von ihrem >Manne< zu sprechen« wagt, sondern ihn den »Herren« nennt (211). Und Gott ist Innstetten schließlich auch in jenem Bekenntnis, das E f f i kurz vor ihrer Hochzeit gegenüber ihrer Mutter macht: »Er ist so lieb und gut und so nachsichtig, aber . . . ich fürchte mich vor ihm.« (195) Den eigentlich Fontaneschen Beweis, daß Geert Gott ist, liefern jedoch die Pastorenund Kantorstöchter. Lachend gestehen sie der erstaunten E f f i , daß sie von einem Menschen, der Geert heißt, in dieser Gegend noch nie etwas gehört hätten (175). Pastor Niemeyer dagegen, der dabei seine Stirn »in Respekts- und Bewunderungsfalten« zog, erklärt E f f i : »Ja der Baron! Das ist ein Mann von Charakter, ein Mann von Prinzipien.« (195) Dies geradezu überirdisch Vorbildliche Innstettens betonen auch Effis Briefe von der Hochzeitsreise nach Italien: »Er ist überhaupt sehr gerecht, und vor allem ist er engelsgut gegen mich (...).« (201) Allein sein nie erlahmender Kunstenthusiasmus ist etwas anstrengend. Die Berichte hierüber nehmen nochmals den religiösen Hintergrund der HohenCremmer Geschehnisse auf. So vermelden die täglich eintreffenden Karten aus Italien regelmäßig den Besuch des jungen Ehepaares »in irgendeiner Kirche >Santa MariaL'Adultera< und >Der StechlinBlechenWie< ankommt als auf das >Was wie sich jede Einseitigkeit am letzten Ende rächt, so auch in der Kunst. Mit anderen Worten : A u f d i e D a u e r mußte es auf Irrwege führen, nur Luft und Licht malen zu wollen. Die bildenden Künste führen ihren Namen nicht umsonst; ( . . .).«53 Der Kolorismus allein genügt also Fontane nicht. Vielmehr muß sich in diesem, entsprechend der Fontaneschen Grundüberzeugung, »das Menschliche . . . ist das einzige, was gilt«,54 auch etwas Bedeutsames für den Menschen darstellen. Im Sinne einer solchen Auffassung von Kunst, in der etwas vom Menschen und seiner jeweiligen historischen Situation abzulesen wäre, hat auch Fontane Kunstwerke als historische Zeugnisse, als eine redende Bildersprache in seinen »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« behandelt. 55 Offensichtlich wird in den »Wanderungen«, welche Befähigung und Kenntnis Fontane zu solchem Entschlüsseln von Werken der bildenden Kunst besaß. So, wenn er zu wiederholten Malen ausführlich über die Symbolik von Grabdenkmälern handelt, wobei er — höchst bedeutsam für »Effi Briest« — stets die Efeubepflanzung der Kirchhöfe erwähnt. 56 Seine Kenntnis der Bildersprache zeigen auch seine Entzifferungen religiöser Allegorien oder hieroglyphischer Heraldik. 57 Solch emblematisches Wissen hat Fontane auch in »Effi Briest« eingebracht. Etwa im Verlobungstoast des alten Briest, Geert »habe die Bedeutung von einem schlank aufgeschossenen Stamm, und E f f i sei dann also der Efeu, der sich darum zu ranken haben« (i81). Dieses, von der Ritterschaftsrätin als gänzlich unpassend getadelte poetische Bild ist tatsächlich nichts anderes als das traditionelle Emblem der Freundschaft. 58 53 54

Fontane, Eduard Hildebrandt (1868), N F A X X I I I , 1 , p. 496. Theodor Fontane, Briefe an Georg Friedländer. Hrsg. von Kurt Schreinert, H e i d e l b e r g (1954), p . 27J.

55

56

57

58

20

Zu Fontanes Kunstbegriff im Zusammenhang mit den »Wanderungen« s. Wüsten, Die historischen Denkmale, pp. 187 sqq. Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, N F A , X , pp. 168 sqq.; X I , pp. 237 sqq.; X I I I , p. 132 sq. Vgl. N F A , X , p. 194; X I , pp. 241, 397 u. 417. Fontanes Kenntnisse religiöser Symbolik bezeugen auch seine sonstigen Reisenotizen, etwa über den Wormser D o m : »Ueberm Südportal ( . . . ) befindet sich (sehr alt) ein vierköpfiges Thier, auf dem eine Frau reitet. Unzweifelhaft sind es die 4 Evangelisten (Engel, geflügelter Löwe, Ochs, Adler), die die Kirche tragen.« (Zit. nach Wüsten, Fontane, Rheinreise, p. 239). Hierzu ausführlich Willibald Sauerländer, Uber die ursprüngliche Reihenfolge von Fragonards »Amours des BergersReue nach dem Sündenfall< wäre somit »The awakening conscience« weit zutreffender bestimmt, denn als Marienverkündigung, wie dies neuerdings vorgeschlagen wurde von Erika Klüsener, Das erwachende Bewußtsein, in: Das Münster, X X V I I I , 1975, pp. 145 sqq· Vgl. Hunt, Pre-Raphaelitism, I, p. 404 sq. u. Kat. W. H. Hunt, Liverpool 1969, Nr. 24 u. 27, mit Abdruck der Kritiken. The Works of Ruskin, X I I , p. 333. Zum Phänomen präraffaelitischer Bilderläuterungen allg. s. Hönnighausen, Präraphaeliten und Fin de Siècle, pp. 63 sqq., bes. p. 71 u. Allastair Grieve, The applied art of Dante Gabriel Rossetti. I. His picture frames, in: The Burlington Magazine, C X V , 1973, pp. 16 sqq.

nicht nur bei den Präraffaeliten, sondern ebenso bei den offiziellen Größen der victorianischen Malerei üblich waren, hat sich Fontane amüsiert geäußert. Die englischen Kataloge seien »mit Versen und Zitaten ganz durchschossen«, was schließlich wenig anderes sei »als der Zettel, der früher aus dem Munde der Heiligen hing«. 121 Fontane hat damit nicht nur die Tradition solch literarischer Zusätze, sondern auch die dadurch sich ergebende Verwandlung der Bilder ins AllegorischDidaktische sehr wohl erkannt. Abgesehen von solchen Hilfsmitteln zur Verständlichkeit gilt ferner, daß die Themen der Hochkunst ja keineswegs isoliert stehen, sondern dem Publikum durch populäre Kunstbereiche durchaus schon geläufig waren. So etwa hat Hunts religiös-didaktisches Gemälde »The light of the world« nicht nur durch die Reproduktionsgraphik massenhafte Verbreitung erlangt. 122 Vielmehr ist Hunts Bild selber in seinem Hauptmotiv, dem an die Seelentür anklopfenden Christus, seit langem schon in Stichen nach Entwürfen der Nazarener überaus populär gewesen.123 Wie sehr bei gleicher Thematik der Hoch- und Trivialkunst aber auch das hier interessierende Phänomen des »disguised symbolim«

gemeinsam

war, zeigt eine weitverbreitete Chromolithographie (Abb. 18), die um 1850, also wenig vor oder doch zumindest gleichzeitig mit Hunts »Erwachendem Gewissen«, erschien.124 Wie Hunt illustriert sie in einer Ν FA, X X I I I , ι, pp. 19 sqq. 122 Vgl. Rodney Κ. Engen, Victorian engravings, London 1973, p. 60 mit Abb., ferner Kat. Die Bilderfabrik, Frankfurt, Historisches Museum 1973, p. 90 u. Abb. 73 u. Metken, Präraffaeliten, p. 58. Zum Phänomen der Kunstpopularisierung im 19. Jh. durch Trivialkunst und Reproduktionsgraphik allg. s. ferner Sigrid Metken, Trivialkunst aus der Chromopresse, in: Kunstchronik, X X V I I , 1974, pp. 145 sqq.; Wolfgang Brückner, ElfenreigenHochzeitstraum. Die Öldruckfabrikation 1880-1940, Köln (1974) u. Kat. Bürgerliches Wandbild 1840-1920 mit weiterer Lit. Zur Forschungslage s. auch Sigrid Metkens Rezension zu Erik Forssman (»Die Kunstgeschichte und die Trivialkunst«, Heidelberg 1975) in: Kunstchronik, X X I X , 1976, pp. 20 sqq. Zum Bilderbogen im 19. Jh. s. Anm. 128. 123 Vgl. Adolf Spamer, Das kleine Andachtsbild vom XIV. bis zum X X . Jahrhundert, München i960, p. 16 sq., Scharfe, Evangelische Andachtsbilder, p. 136 u. Mary Bennet, Footnotes to the Holman H u n t Exhibition, in: Liverpool Bulletin, Walker Art Gallery, X I I I , 1968-70, p. 30 sq. Ergänzend sei auf die Verwendung des geistlichen Türklopfmotives bei Ludwig Richter hingewiesen, die ebenfalls vor dem ersten Nachstich des Hunt'schen Bildes von 1858 datiert. Es handelt sich um die 1855 und i8$6 im Holzschnitt publizierten Zeichnungen Richters »Jesu, komm doch selbst zu mir« und »Erlöse uns von dem Übel« (Das Ludwig Richter Album, München 1971 2 , I, N r . 100; II, N r . 1310). 121 Adolphe Lafosse nach Louis Fr. Corréard, Le Fruit Défendu, um i8$o, Chromolithographie; vgl. Kat. Bürgerliches Wandbild 1840-1920, N r . 4.

121

41

Interieurszene die Beziehung der Geschlechter, ihre erotische Verführbarkeit, als »Sündenfall« worauf hier deutlich im Titel »Die verbotene Frucht« angespielt ist. Diesen christlich-moralischen Blickpunkt reflektieren auch alle anderen Einzelheiten des Blattes. So ist das Küchenmädchen durch ihr entblößtes Bein wie durch ihr Hantieren mit den Äpfeln auf Eva und zugleich durch ihr Kruzifix wie ihre weiß-blaue Kleidung auf das Marienvorbild und dessen exemplum virtutis bezogen. Traditionelle marianische Keuschheitssymbole werden auch links von der Magd durch das weiße Handtuch und die verschlossenen Gefäße angespielt. Auf Maria als die neue Eva läßt sich ferner das Stilleben auf dem Kaminsims beziehen. Befindet sich dort doch über einem Apfel als Hinweis auf Evas Fall und weiterem, durch seine grüne Farbe ausdrücklich als unreif und verderblich gekennzeichnetem Obst pointiert ein Bild der Gottesmutter mit dem Kind. Auf dessen Passion und damit auf die Erlösung vom Sündenfall verweisen unmittelbar darunter die österlichen Palmzweige. Im Gegensatz zu Hunts »Erwachendem Gewissen« ist auf dieser Chromolithographie nun aber gerade nicht jener Moment dargestellt, in dem das Bewußtsein zu tugendhafter Reue, sondern zur Sünde erwacht. Und da hier ein Geistlicher der Verführer ist, ergibt sich zugleich eine Travestie auf das Thema von Hunts »Licht der Welt«. Anders nämlich als Christus bei Hunt oder auch auf dem hier am Kamin links oben angebrachten Bildchen, das Christus als guten Hirten zeigt, ist der Geistliche hier weniger um die Errettung der verirrten Seelen bemüht. Die Lampe, die Licht in der Finsternis verbreiten sollte, steht vielmehr erloschen und ungebraucht auf dem Kaminsims. Der Geistliche, die anstrengenden Pflichten seines Seelenamtes vernachlässigend, läßt es sich dagegen lieber in der warmen Häuslichkeit vor dem prasselnden Kamin gefallen. Diesen hatte schon Petrus Berchorius als den Platz all jener bezeichnet, die ihren Leidenschaften zum Opfer fallen, während im Volksmund drastischer noch der Kamin als der Sitz des Teufels gilt.125 Und in einen rechten Teufelsbraten scheint sich in der Tat der lüsterne Geistliche mit seinen hervortretenden Augen verwandelt zu haben. Auf seiner Seite des Kamins befindet sich zudem mit der gerupften Gans ein

125 p e t r u s Berchorius, Repertitorium morale, ed. Köln 1 7 3 1 , I, p. 2 3 6 sq.: »In tertio camino sunt iniqui, furore frementes, et iste ardor iracundiae, avaritiae, lucuriae, de quo potest exponi illud.« Fürs 19. Jh. vgl. Friedreich, Symbolik der Natur, p. 55. S. ferner Heckscher, The annunciation of the Merode altar-piece, p. 54.

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traditionelles Sinnbild der amor carnalis,126 das auffällig zu den marianischen Tugendsinnbildern auf der Gegenseite kontrastiert. Das Blatt aus dem Bereich der Trivialkunst, das mit seiner dreisprachigen Bildunterschrift deutlich auf einen weiten Abnehmerkreis rechnet, zeigt also nicht nur dieselben Themen wie die gleichzeitige Hochkunst, nur satirisch variiert. 127 Es bedient sich hierzu auch ganz derselben kaschierenden Darstellungsweise wie die Hochkunst. Offensichtlich wird so nicht nur die Allgemeinverständlichkeit des »disguised symbolism«, sondern zugleich die themenspezifische Konstanz seiner Motive. Fontanes Vertrautheit mit solchen Produktionen der Trivialkunst ist durch ihn selber gut bezeugt. Seit seiner Jugend in Neu-Ruppin - dem Sitz der Kühnschen Offizin, der Produktionsstätte der Neu-Ruppiner Bilderbogen - von solch populärem Bildgut beeindruckt, hat er diesem ebenso wie gleichzeitig Flaubert und Courbet größte Aufmerksamkeit entgegengebracht. In seinen »Wanderungen« findet sich eine der wohl frühesten deutschsprachigen Betrachtungen zu diesem populären Bildbereich überhaupt. Künstlerisch, so Fontane, 128 seien diese Dinge gänzlich preiszugeben. Was sein Interesse erregt, ist das soziologische Phänomen und der Inhalt der Blätter, »die Macht des Stoffes«. Die Fähigkeit dieser Produktionen, über alle Sprachgrenzen hinweg den Bildbedürfnissen einer weltweiten Öffentlichkeit nach Information und Anekdotischem unverzüglich Genüge zu tun, hierin besteht für Fontane das Faszinierende »der Ruppiner Kunst«. ΐ2β V g l . hierzu die in A n m . 1 3 3 zit. Arbeiten von Emmens und Grosjean. 127 Den über erotischen Wünschen seine Pflichten vernachlässigenden Geistlichen, jene uralte Satire, die das Trivialkunstblatt fortführt, hat mit gleicher Anspielung auf den Sündenfall Hunt selber in seinem Gemälde »The hireling shepherd« dargestellt. In Manchester ausgestellt, von Fontane erwähnt ( N F A , X X I I I , ι , p. 1 4 2 ) , steht es ebenfalls in enger Beziehung zu »The light of the world« und »The awakening conscience«, vgl. John Duncan M a c millan, Holman Hunt's Hireling Shepherd: Some reflections on a Victorian pastoral, in: The A r t Bulletin, L I V , 1 9 7 2 , pp. 1 8 7 sqq. 128 N F A , I X , pp. 1 2 1 sqq. V g l . Hans-Heinrich Reuter, Fontane, Berlin 1968, I, p. 93 sq., ferner Lisa Riedel, Neuruppiner Bilderbogen, Neuruppin 1 9 7 0 u. Klaus Lankheit, Bilderbogen. Deutsche populäre Druckgraphik des 19. J a h r hunderts, K a t . Karlsruhe, Badisches Landesmuseum 1 9 7 3 , bes. p. 1 1 4 , mit weiterer Lit. Z u r Rezeption der Bilderbogen vgl. Meyer Schapiro, Courbet and popular imagery. A n essay on realism and naïveté, in: Journal of the Warburg Institute, I V , 1 9 4 0 / 4 2 , bes. p. 1 7 5 sqq., Jean Seznec, Flaubert and graphic arts, in: The Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, V I I I , 1 9 4 5 , pp. 1 7 5 sqq., ferner K a t . Französische Bilderbogen de 19. J a h r hunderts, Slg. Sigrid Metken, Paris, Baden-Baden, Staatliche Kunsthalle 1 9 7 2 , p. 14 sq.

43

Auch in seinen Romanen wird von Fontane immer wieder auf die Trivialkunst und kunstpopularisierende Reproduktionsgraphiken Bezug genommen, wobei sich häufig sehr pointiert Zusammenhänge zwischen den Bildinhalten und der erzählten Romanhandlung ergeben. So begegnet in »Irrungen, Wirrungen« eine Lithographie aus dem gleichen, mit dreisprachigen Unterschriften versehenen Zyklus, dem auch »Le fruit défendu« (Abb. 18) entstammte. Diesmal ist es das Blatt »Si jeunesse savait«, das Lene bereits in der Dörrschen Wohnung gesehen hatte, das sie jedoch in >Hankels Ablage< im Zusammenhang mit Botho als überaus störend empfindet. 12 ' Bedeutsam begegnet die »imagerie populaire« wie die Reproduktionsgraphik auch in »Effi Briest«. So wenn sich die schuldig gewordene E f f i von Reproduktionen preußischer Schlachtensiege bedrückt fühlt (358), während sie in einem Moment der Hoffnung einen Nachstich von Guido Renis »Aurora« an der Wand erblickt, freilich auch Aquatinten von Benjamin West mit »viel Licht und Schatten« (404). Dem Bereich der Trivialkunst entstammt in » E f f i Briest« ferner der >ChineseVanitasoben< nach den gängigen Vorstellungen des Patrimonialstaates am Urbild der Familie und damit ebenfalls an den verbindlich christlichen Vorbildern orientierte, die von der königlichen Familie als einem Muster aller Häuslichkeit natürlich besonders strikt beachtet wurden. Auf bildlichen Darstellungen wurde denn auch beispielhaft etwa Königin Luise mit ihrem ältesten Sohn im Anschluß an Raffael zu einer »preußischen Madonna« verklärt. 181 Wie sehr im christlichen Haushalt des protestantischen Preußens sogenannte katholische Motive üblich waren, zeigt auch der Umstand, daß die vom preußischen Königshaus 1820 bei dem Nazarener Schadow bestellte »Hl. Familie«, abgesehen vom Austausch der Axt gegen einen Hobel in der Hand des Joseph, eine getreue Replik jenes Bildes war, das Schadow früher bereits an das bayerische Königshaus geliefert hatte.192 190 191

192

62

Zit. nach Wüsten, Die historischen Denkmale, ρ. 189. Schoch, D a s Herrscherbild, p. 1 0 7 , mit weiteren Abbildungsnachweisen. V g l . auch Schicks Portrait der Caroline von Humboldt, A n m . 1 8 3 . V g l . K a t . Klassizismus und Romantik, N r . 1 5 0 mit A b b . u. Kat. Wilhelmvon-Schadow-Gedächtnis-Ausstellung, Kunstmuseum der Stadt Düsseldorf 1962, N r . 2 mit Abb.

Die überkonfessionelle Schätzung von Marienbildern und Darstellungen der Hl. Familie bestätigt auch die Notiz von 1891 aus der Zeitschrift »Kunst für Alle«, die Werken des Düsseldorfer Spätnazareners Karl Müller gilt: »Das schöne Rundbild, welches Maria und Elisabeth mit ihren Kindern im Garten vereinigt, und »Die Heilige Familie mit den musizierenden Engeln«, die zuerst in Photographie erschienen, sind Lieblingsbilder unseres ganzen Volkes ohne Unterschied der Konfessionen geworden.« 193 Die gar nicht zu überschätzende Bedeutung dieser christlichen Bildthemen für den Wandschmuck des deutschen Hauses ergibt sich ferner aus der ständigen Polemik von evangelischer Seite gegen die Produkte der Bilderfabriken. In Stadt und Land verbreitet, popularisierten sie Bilder der Hl. Familie und ihrer Mitglieder, die man nur als verlogen, süßlich und als bunten Kitsch bezeichnen könne, weshalb man diesen Bildern entschieden entgegentreten müsse.194 Angeboten wurden dagegen von evangelischer Seite Holzschnitte nach den großen Meistern, wobei Raffaels »Sixtinische Madonna« stets als ein besonders geeigneter Zimmerschmuck hervorgehoben wurde, ferner Holzschnitte der Nazarener anstelle ihrer verflachten Nachahmer und schließlich Blätter von Ludwig Richter, dem wohl populärsten deutschen Illustrator, über den Fontane in einer Ausstellungsbesprechung bemerkte: »Von Ludwig Richter ist alles schön.«195 In der Nachfolge der Nazarener Raffaelisches und Dürermotive verbindend, zugleich klassizistische Linienkunst mit romantischer Landschaftsdarstellung vereinend, geben Richters Blätter ihrem Inhalt nach - so die Formulierung Fontanes - vorzüglich Bilder des »deutschen Volkslebens«.196 Bilder, auf denen unter der Devise »Das walte Gott« die Familie noch immer als Hl. Familie aufgefaßt ist (Abb. 33) 197 : der Mann als Zimmermann Joseph, die Frau als Maria, die örtlichkeit als ein Stück Bethlehem inmitten eines hortus conclusus. Eine Welt, in der das Bild der keuschen Braut (Abb. 34) 198 durch das Kirchturmkreuz und die heranfliegende 193

Zit. nach Waetzoldt, Bemerkungen zur christlich-religiösen Malerei, p. 37. V g l . Scharfe, Evangelische Andachtsbilder, pp. 62 sqq. íes N F A , X X I I I , ι , p. 4 2 2 . Z u m protestantischen Bilderangebot s. »Künstlerische Festgaben. Zehn religiöse Bilder vom Rauhen Hause«, in: Christliches Kunstblatt, X X I X , 1 8 8 7 , p. 1 9 1 sq. Raffaels »Sixtinische Madonna« gehörte auch zu dem 1865 von Fontane angezeigten Wandschmuck-Angebot des Berliner Kupferstichvereins, N F A , X X I I I , 2 , pp. 1 5 1 sqq. 19 · N F A , X X I I I , ι , p. 424. 194

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198

Ludwig Richter, Das walte Gott, Holzschnitt aus: Christenfreude in Lied und Bild, Geistliche Lieder mit Holzschnitten, Leipzig 1 8 5 5 ; Das Ludwig Richter Album, II, N r . 1 1 3 7 . L u d w i g Richter, Die Braut, Holzschnitt aus: Schiller's Lied von der Glocke in Bildern von Ludwig Richter, 1 8 5 7 ; Das L u d w i g Richter Album, I, N r . 1 0 7 .

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Taube noch immer Verkündigungsallusionen trägt. Eine Welt auch, in der Brautzüge die Braut just unter einem Marienbilde zeigen (Abb. 35), in der Mutterglück und Mutterleid (Abb. 36) dem Marienvorbild zugeordnet werden und in der die Stationen des Familienlebens durchgehend dem Musterleben der Hl. Familie nachgestellt sind: Das Familienglück orientiert sich an der Idylle Bethlehem, die Besuche in der Nachbarschaft an der Heimsuchung, die Beschwerden der Ehe an der Flucht nach Ägypten (Abb. 37), wobei Ehe in der Nachfolge Christi noch immer als ein Mittel zur Überwindung des Sündenfalls vorgestellt wird, und schließlich sind auch schon die kleinen Kinder durch ihre Beschäftigungen auf die Leitbilder Maria und Joseph bezogen.199 Der hier gegebene Überblick mag hinreichend gezeigt haben, in welchem Ausmaß und mit welcher Konstanz die christliche Gesellschaft ihre Mitglieder auf immer dieselben christlichen Leitbilder verpflichtet hat. Die Frau, sittig und keusch als Mutter im Hause wirkend, besaß in Maria ihr Vorbild. Der Mann hingegen war unter dem Aspekt redlicher Arbeit wie eines idyllischen Familienlebens dem Muster Josephs verpflichtet. Im gemeinsamen Ertragen der Ehesorgen konnte jedoch über das Leitbild Josephs hinaus eine weitergehende Angleichung des Mannes an Christus und seine Passion stattfinden. Die Konstanz der Motive über Jahrhunderte hinweg kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die frühbürgerlichen Leitbilder im 19. Jahrhundert den Charakter rückwärtsgewandter Wunschbilder angenommen haben, entspricht ihnen doch keinerlei Wirklichkeit mehr. Sowohl der von Joseph repräsentierte Handwerkerstand und dessen Ideale waren im Zeitalter der Industrialisierung immer mehr zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Und ebenso war ja die Institution der Ehe selber, am deutlichsten schließlich mit dem Inkrafttreten der Zivilehe, immer mehr ihres christlichen Hintergrundes entkleidet worden.200 Wunschbilder sind die Darstellungen des 19. Jahrhunderts schließlich auch, indem sie die tatsächliche Machtfülle des Mannes in der streng patriarchalisch geordneten Familie ins Idyllische harmonisieren. Der Mann besaß - wie noch die entsprechenden Stichworte in Meyers Konversations-Lexikon von 1890 in aller wünschens199

200

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Ludwig Richter, Der Brautzug, 1 8 5 9 ; Die Schmerzensreiche, 1 8 5 3 ; J e größer das Kreuz, je näher der Himmel, 1 8 5 5 ; vgl. Das Ludwig Richter Album, I, N r . 37, 1 7 3 ; II, N r . 1 3 3 9 . Zum Mutterglück nach dem Madonnenvorbild und zur Idylle Bethlehems als Vorbild des Familienlebens s. u. a. I, N r . 27, i j i , 1 7 5 , 190, 1 9 J , 240, 266, 639, 663. Zum Vorbild der Heimsuchung und zur Kindererziehung nach christlichen Vorbildern s. I, N r . 2 1 5 ; II, N r . 1687. Vgl. hierzu den informativen Überblick bei Walter Müller-Seidel, Theodor Fontane. Soziale Romankunst in Deutschland, Stuttgart ( 1 9 7 $ ) , pp. 3 3 2 sqq.: (Die Säkularisierung der Ehe).

werten Deutlichkeit darlegen801 - die alleinige Verfügungsgewalt über das gesamte Vermögen, auch das seiner Frau. Er besaß eine uneingeschränkte Erziehungsgewalt im Haus, er allein konnte aber auch durch seinen Beruf den engen Kreis der Familie überschreiten und im ö f f e n t lichen wirken. Der ins Haus gebannten Frau blieben als weitere Wirkungsmöglichkeiten nur die Bereiche des Mitgefühls und des Schönen, die als Privilegien des Weiblichen galten.202 Bildung und Ausbildung waren dagegen überwiegend ein männliches Vorrecht. In der von patriarchalischer Autorität bestimmten bürgerlichen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte so der Mann »die Rolle des gottväterlich-absoluten Herrn mit rigoroser Gehorsamsforderung« inne.203 Bestärkt wurde dies nicht zuletzt durch die Monarchie, deren Gottgnadentum die herrschende Staatslehre gerade von den Herrschaftsverhältnissen in der Familie ableitete. So heißt es 1820 in der für Preußen vorbildlich gewordenen »Restauration der Staatswissenschaft« des Carl Ludwig von Haller: »In einer jeglichen solchen Familie findet man ( . . . ) bereits das vollkommene Ebenbild eines monarchistischen Staates. Der Hausvater oder Hausherr ist in seinem Hause unabhängig, von allen Bewohnern desselben hat ihm niemand zu befehlen, selbst die ganze Gesamtheit desselben ist nicht über ihn gesetzt.«204 Das Zurückweichen der Kirchen und die fortschreitende Zuständigkeit des Staates für die Ehe im 19. Jahrhundert bedeutet also keineswegs eine Zunahme an Toleranz. Von Staats wegen zur Legitimierung der bestehenden sozialen Hierarchie in Anspruch genommen, blieb der Vorstoß auch gegen die >säkularisierte< Ehe im offiziellen Verständnis der Zeit noch immer ein Verstoß gegen eine gottgefügte Ordnung. Die dem Mann damit verbürgte Rolle des »gottväterlich-absoluten Herrn« wird kokett einzig angedeutet in jenen Brautbildnissen, die auf die Verkündigung anspielen. Ansonsten geben die Wunschbilder der Zeit von 201 Meyers Konversations-Lexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens, Leipzig/Wien 1890 4 , V , p. 340, Stichwort » E h e « ; V I , p. 24 sq. »Familie«, p. 624 sq. »Frauenfrage«; X I I , p. 7 7 9 »Patriarchat«; X V I , p. 4 7 7 »Weib«. 202 v g l . Sternberger, Panorama, pp. 83 sqq. 203 204

Weber-Kellermann, Die deutsche Familie, p. 1 1 7 sq. Carl Ludwig von Haller, Restauration der Staatswissenschaft, oder Theorie des künstlich-bürgerlichen entgegengesetzt, Winterthur 1 8 2 0 2 , II, p. 2 $ . Zur Tradition vgl. Julius H o f f m a n n , Die »Hausväterliteratur« und die »Predigten über den christlichen Hausstand«. Lehre vom Hause und Bildung für das häusliche Leben im 16., 1 7 . und 18. Jahrhundert, Weinheim/Berlin 1959. V g l . ferner Levin L . Schücking, Die Familie im Protestantismus, Bern/ Leipzig 1929, Heide Rosenbaum, Familie und Gesellschaftsstruktur, Frankf u r t / M . 1 9 7 4 u. Weber-Kellermann, Die deutsche Familie, op. cit.

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der christlichen Familie nur stilisierte Bilder einer konfliktfreien Idylle. Kraß deutlich wird dies nicht zuletzt daran, daß Karl Marx und Friedrich Engels ihrer Kritik an einer spekulativen bürgerlichen Philosophie gegen Mitte des Jahrhunderts den Titel »Die Heilige Familie« gaben.805 Es bedurfte durchaus des gesellschaftskritischen Betrachters, um vom Wunschbildcharakter dieser christlichen Leitbilder, von dem, was sein sollte, auf jenes zu schließen, was einerseits war und andererseits nicht sein durfte und was zur unnachsichtigen Bestrafung in dieser Gesellschaft führen mußte: d. h. im Falle der Frau eine Abweichung von der ihr gesellschaftlich vorgeschriebenen Marienrolle. Bilder der Kunst als Vorbilder

des Lebens bei Fontane

Daß Fontane für das Determiniertsein der Gesellschaft durch solche Leitbilder sensibel war, ist gewiß. Ist doch das sorgfältige Registrieren von Bildern, nach denen gesellschaftliches Leben noch bis ins geringste Detail sich ausrichtet, ein wesentliches Kennzeichen seiner Romankunst. Die Fontaneliteratur hat dies früh schon bemerkt. So hat bereits Max Tau20® festgestellt, daß bei Fontane an die Stelle wirklicher Landschaften vorgeprägte Landschaftsbilder treten. Beispielhaft etwa, wenn E f f i im Anblick der Rügener Bucht ausruft: »Ach, Geert, das ist ja Capri, das ist ja Sorrent.« (350) Tau sah hierin noch negativ Fontanes Unfähigkeit zur Gestaltung einer individuellen Landschaft. Hubert Ohl hat dem mit Recht widersprochen und erkannt, daß die »gestellten Landschaften« ebenso wie die »gestellten Situationen« bei Fontane nicht über Faktisches Auskunft geben wollen, sondern allein im Dienste seiner »Menschendarstellung« stehen.207 Und zwar, so wird man hinzufügen dürfen, dienen sie Fontane zur Kennzeichnung seiner Romanpersonen als Mitglieder einer bestimmten Gesellschaft, mit deren gängigen Klischees und Verabredungszeichen sie sich >Wirklichkeit« aneignen. Noch zu wenig beachtet - und nicht uninteressant im Hinblick auf den hier unternommenen Argumentationsgang - ist dabei, daß es immer wieder Werke der bildenden Kunst sind, die bei Fontane für das Leben und die Erfassung seiner Phänomene vorbildlich werden. »Wer war das entzückende Geschöpf? Wie ein Bild von Knaus. Halb Prinzeß, halb Rotkäppchen«, sagte etwa Superintendent Koseleger im »Stechlin« über 205

205 207

66

K a r l M a r x und Friedrich Engels, Die Heilige Familie und andere philosophische Frühschriften, Berlin 1 9 5 3 , pp. 99 sqq., geschrieben 1 8 4 4 / 4 5 . Tau, Landschafts- und Ortsdarstellung Th. Fontanes, pp. 1 2 sqq. Hubert Ohl, Bild und Wirklichkeit, Studien zur Romankunst Raabes und Fontanes, Heidelberg (1968), pp. 200 sqq.

die Nichte von Lorenzens Haushälterin.208 »Ich würde sie Rubensch nennen, wenn nicht alles Rubensche doch aus gröberem Stoff geschaffen wäre«, lautet Holks Beschreibung der Frau Kapitän Hansen in »Unwiederbringlich«.209 »Es war, als sähe man eine der weitgedehnten Veduten Claude Lorrains«, heißt es in »Kriegsgefangen« von einer Landschaft. Über eine andere Landschaft bemerkt Fontane dort: »Dazu hatte alles einen satten braungrünen Ton, der mich mehr als einmal an Ruysdael erinnerte, von dem ich noch vier Wochen vorher einiges Treffliches in Nancy gesehen hatte.«210 Mit welcher Macht bei Fontane Bilder der Kunst ins Leben treten können, zeigt deutlich auch eine Episode seines Buches »Aus den Tagen der Okkupation«. In seinem Zimmer in Amiens kann Fontane keinen Schlaf finden. Schuld daran sind zwei über dem Bett befindliche Stahlstiche nach Gemälden von Paul Delaroche: »Jane Gray auf dem Schaffot« und »Die Söhne Eduards«. Dies letztere Bild, so bemerkt Fontane, »ist ganz besonders schlimm. Man liegt a u c h in einem Bette mit vier Säulen und zurückgeschlagenen Gardinen, es ist a u c h Abend, man sieht a u c h einen Lichtschimmer vom Korridor aus durch die Türklinke fallen, man ist (Das Günstigste zu sagen) n i c h t unschuldiger als die Söhne Eduards, und der Gedanke darf einen wohl beschleichen: welchen Anspruch hast du darauf, nicht auch mit einem großen Bettkissen erstickt zu werden?« 211 Eine vergleichbare Situation bietet jene, bereits erwähnte Stelle in »Effi Briest«, als die von Schuldgefühlen geplagte E f f i bei einem neuerlichen Besuch in ihrem Elternhause sich unter den Bildern preußischer Siege wenig wohl fühlt: »Wenn ich wieder hier bin, bitt ich mir andere Bilder aus; ich kann so was Kriegerisches nicht leiden.« (358) Solche Apprehension ist um so verständlicher, als E f f i ja früher schon erlebt hat, wie erscheckend Bilder der Kunst ins Leben treten können. Zuerst war es in Innstettens Reisehandbuch, in dem E f f i über die Bayreuther Eremitage und deren Gemälde einer >Weißen Frau< gelesen hatte, »daß, als Napoleon hier übernachtete, die »Weiße Frau< aus dem Rahmen herausgetreten und auf sein Bett zugeschritten sei« (227). Und wenige Stunden später war es dann der »Chinese«, eigentlich bloß ein Bildchen, das im Obergeschoß an der Stuhllehne festgeklebt war, der nun leibhaftig an Effis Bett vorbeistrich und sie zu Tode erschreckte (232). 208 209 210 211

NFA, NFA, NFA, NFA,

VII, p. 159. V, p. 98. XVI, pp. 55 u. 64. XVI, p. 267 sq.

67

Es handelt sich hierbei keineswegs nur um pittoreske Romanmotive in romantischer Tradition, sondern zugleich ist hier von Fontane auf die Möglichkeit eines geradezu zerstörerischen Einflusses der Kunst auf das Leben hingewiesen. Er resultiert aus jener Überlegenheit der Kunst, die wenig später im Gespräch Effis mit der Sängerin Trippelli deutlich ausgesprochen wird. E f f i gesteht der Trippelli, daß sie deren Sicherheit im öffentlichen Vortrag auch gerade romantisch-schauerlicher Themen überaus bewundere. Sie selber dagegen sei tagelang beunruhigt, wenn jemand an ihrem Bett vorbeischleiche. Hierauf entgegnet die Trippelli: »Ein Gespenst, das durch die Ballade geht, da graule ich mich gar nicht, aber ein Gespenst, das durch meine Stube geht, ist mir gerade so wie anderen, sehr unangenehm.« (247 sq.) Ins Witzige gekleidet, ist dies Fontanes Überzeugung von der Kunst als dem gereinigten Leben. Die Kunst ist keineswegs ein bloßes Abbild des Lebens, sondern »zwischen dem Bilde, das das Leben stellt, und dem Bilde, das die Kunst stellt«, liegt für Fontane ein wesentlicher Unterschied darin, daß sich das Bild der Kunst durch größere »Intensität, Klarheit, Übersichtlichkeit und Abrundung« auszeichnet.212 Fontane ist hier nicht wesentlich von der idealistischen Ästhetik und ihrer Vollendung des Lebens im Bereich der Kunst entfernt. Die solcher Gesinnung immanente Dialektik, wie sie bereits am Beispiel Goethes und seiner Wertschätzung der bildenden Kunst deutlich wurde, daß nämlich die um so vieles vollkommenere Kunst dem Leben leitbildhaft die vorbildlichen Formen zu seiner individuellen Verwirklichung leiht, dieser Gedanke hat jedoch in den Romanen Fontanes eine über die idealistische Ästhetik hinausgehende Schärfe gewonnen. Am Ende des Jahrhunderts stehend, hat Fontane in der Figur der Kommerzienrätin Treibel illusionslos konstatiert, wie diese idealistische Ästhetik von der wilhelminischen Bourgeoisie zu einem Reich des schönen Scheins korrumpiert wurde, um so den Blick von den weit weniger idealen Interessen im Bereich des wirklichen Lebens abzuziehen. Diese Erfahrungen ließen sich nicht mehr zurücknehmen, und Fontane hat sie dem Konzept der Leitbilder einverleibt. Jener Doppeldeutigkeit entsprechend, wie sie hier im Verfolg der Entwicklung christlicher Leitbilder offensichtlich wurde, sind auch bei Fontane die Bilder der Kunst - und zwar immer wieder der bildenden Kunst — als solche Leitbilder aufgefaßt, in denen das Leben und seine Möglichkeiten in bono ihre Steigerung und ihre gültige Entsprechung finden können, durch die aber ebenso in malo das Leben ver218

68

Th. Fontane, Schriften zur Berlin i960, pp. 2 1 $ u. 109.

Literatur,

Hrsg.

von

Hans-Heinrich

Reuter,

engend auf vorgegebene Rollen fixiert werden kann. Im Leben nach den Bildern der Kunst gründet bei Fontane nicht mehr ausschließlich die Vollendung, sondern ebenso das Verhängnis dieses Lebens. Dieser Doppelaspekt begegnet bereits in Fontanes erstem Roman »Vor dem Sturm«. Mit dem von ihm gestifteten Bild des »Verlorenen Sohnes« hat der vom Brudermord belastete und in der Welt umhergetriebene Matthias von Vitzewitz sich das Muster seines späteren bußfertigen Lebens erwählt und in der Angleichung an das Vorbild seinem Erlösungshoffen Ausdruck verliehen.213 Präfigurationen eines zukünftigen Verhängnisses sind dagegen im Hause des Geheimrat von Ladalinski die Deckengemälde nach Originalen Guilio Romanos: »Nacht und Morgen« und ein »Sturz des Phaeton«. 214 Die in der Verbindung dieser Bilder deutlich angezeigte Bestrafung menschlicher Hybris, die gegen eine naturhafte Ordnung verstößt, wird Ladalinski später an sich selbst erfahren. Mit dem forcierten Versuch, seine polnische Herkunft durch ein angenommenes Preußentum zu unterdrücken, stürzt er sich und seine Familie ins Unglück. »Bilder« für die Zukunft seiner Ziehtochter entwirft auch Schulze Kniehase.215 Und tatsächlich ist es ein Bild, eine Nachbildung des »Lübecker Totentanzes«, dessen »Predigt von einer letzten Gleichheit aller irdischen Dinge« für Marie Kniehase deutlich ausspricht, »was dunkel in ihr selbst lebte«.218 Solche Gleichheit wird schließlich durch ihre alle Geburts- und Standesunterschiede überwindende Heirat mit Lewin von Vitzewitz für sie bereits im Leben Wirklichkeit. Als ein Leben nach Bildern ließe sich auch das Geschehen in Fontanes Roman »L'Adultera« bezeichnen. Mit der am Romananfang von Kommerzienrat van der Straaten seiner Frau gezeigten Kopie nach Tintorettos Gemälde »Die Ehebrecherin vor Christus« sind die zukünftigen Rollen bereits verteilt. Man lebt nur noch, was im Bilde vorgegeben ist. Und die Protagonisten sind diesbezüglich nicht ohne Ahnung. So bemerkt Melanie van der Straaten über den Tintoretto zu ihrem Mann: »Aber daß du gerade d a s wählen mußtest! Es ist eigentlich ein gefährliches Bild, (...). Und ich kann mir nicht helfen, es liegt so was Ermutigendes darin.«217 »Als Memento mori« will dagegen van der Straaten das Bild ständig »vor Augen haben«.218 Veroneses »Hochzeit zu 213 214 215 218 217

218

N F A , I, p. 27. N F A , I, p. 286. N F A , I, p. 7 1 . N F A , I, p. 7 1 . N F A , IV, p. 1 2 ; zur Bedeutung des Tintorettogemäldes für den Roman vgl. besonders Müller-Seidel, Fontane, pp. 166 sqq. N F A , IV, p. 14.

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Cana« - thematisch noch bei Overbeck (Abb. 19) das Vorbild eines wohlbestellten Hauses, dessen Ehebund in Christo besiegelt ist - hängt dagegen pointiert im Speisesaal der van der Straatens. Der Ehethematik entsprechend, wird auch sonst stets auf Christliches und aus christlichen Bildern Bekanntes angespielt: auf Eva, auf das weiße Lämmchen, weiß wie der Schnee und den Regenbogen der Versöhnung.219 Wie das Tintorettogemälde am Romanbeginn fordert, ist van der Straaten zu solcher Versöhnung durchaus bereit. Melanie jedoch lehnt ab. Im Schuldbekenntnis ihres Ehebruchs wird die eigene Haltung abermals auf ein aus der christlichen Kunst geläufiges Vorbild bezogen: »(...) es muß beinahe klingen, als sehnt ich mich danach, eine büßende Magdalena zu sein.«220 Deutlich wird durch solche Bild- und Bildungszitate, wie in dieser kommerzienrätlichen Welt, die die Weltkunst in Kopien um sich versammelt, das Leben selber zur Kopie von Klischees wird und dem Individuellen seine Besonderheit versagt. In einem Bilde der Kunst als einem klareren Bild des Lebens, denn das steht ja in bono hinter van der Straatens Bildermanie, ist auch Holk von Holkenäs in »Unwiederbringlich« sein zukünftiges Schicksal vorgezeichnet. Ein Gemälde, das zeigt, wie das Schiff »Makellos« in die Luft fliegt, wird Holk zum Gegenstand eines Traumes, bei dem er zunächst unter den Überlebenden der Schiffskatastrophe, dann aber von Ebba in die verderbliche Flut zurückgerissen wird. 221 Darüber erwacht, sagt Holk: »Sie wär es imstande.« Und die folgenden Ereignisse bestätigen es. Aber auch der schließlich versuchte Neubeginn seiner Ehe mit Christine findet für Holk seinen sprechenden Ausdruck in einem bedeutsamen Bild: »Aller Streit ist aus der Welt und wenn ich mit Christine durch den Park gehe, ( . . . ) so fällt mir immer ein Bild ein, auf dem ich mal das Paradies abgebildet gesehen habe; alles auf dem Bilde schritt in Frieden einher, der Löwe neben dem Lamm und der liebe Gott kam des Weges und sprach mit Adam und Eva. Ja, liebe Dobschütz, daran erinnert mich jetzt mein Leben und ich könnte zufrieden sein und sollt es viel-

219 220

221

70

N F A IV, pp. 76, 89, 106. N F A , I V , p. 91. Vgl. auch die bedeutsame Placierung einer »Büßenden Magdalena« nach Correggio in Fontanes »Schach von Wuthenow«, N F A , II, p. 369. Die Angleichung der reuigen Frau an die büßende Magdalena ist in der Trivialkunst des 19. Jhs. im Anschluß an ältere Traditionen überaus beliebt, vgl. Françoise Bardon, Le thème de la Madeleine Pénitente au X V I I e siècle en France, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, X X X I , 1968, pp. 302 sqq. u. Busch, Über einige Darstellungen des Gebets, pp. 140 sqq. N F A , V, p. 138.

leicht.«222 Mit diesem Bild ist aber bereits das zukünftige Scheitern dieses Eheneubeginns zwanghaft festgelegt, denn das Paradies ist nach dem Sündenfall »Unwiederbringlich«. Ein solcher »Sündenfall« aber war Holks Liaison mit Ebba, denn »Ebba ist Eva, wie Sie wissen und bekanntlich gibt es nichts Romantisches ohne den Apfel.« 223 Wie wenig Bilder in Fontanes Romanen ein bloßes Mittel des Vorausdeutens sind, wie sehr sie vielmehr — in Übereinstimmung mit Fontanes eigener Auffassung von der Kunst als historischem Zeugnis - ins Anschauliche gewendet gesellschaftliche Konventionen sind, die dem Leben die Rollen vorschreiben, wird deutlich auch in »Cécile«. Denn was die Bildergalerie von Fürstäbtissinnen in Gordon evoziert,224 sind genau jene allgemeinen Vorurteile, die nicht nur das bisherige Leben Céciles bestimmt haben, sondern die auch Gordons künftiges Handeln leiten werden und schließlich dazu führen, daß jenes hier bereits zitierte Bild schlimmer Vorahnung in Cécile zur erschreckenden Wirklichkeit wird. Aber auch Gordon werden durch ein Bild, ein Portrait der Queen Mary, das er früher in England gesehen hatte, die Rollen aller Beteiligten bereits einsichtig vorgegeben.225 »Sowie wir aus unserer Stube heraus sind, sind wir in der Öffentlichkeit und spielen unsere Rollen«, resümiert in den »Poggenpuhls« die malende Sophie die Quintessenz ihrer Lebensweisheit.22® Und wiederum ist es ein Bild, der immer wieder von der Wand fallende >Hochkirchner< über dem Sofa in der »guten Stube« der Poggenpuhls, wodurch auch hier bereits am Beginn des Romans die überaus bescheidene Rolle angezeigt ist, die dem armen Adel in Preußen noch verbleibt.227 Nach dem Eigengesetz ihres Familienkultbildes scheint im folgenden das Leben aller Poggenpuhls gemodelt. Am Ende ist es jedoch abermals ein Bild der Kunst, — das schon erwähnte Grabbild des Onkels —, das selbst einem solch bescheidenen Leben noch einen tröstlichen Abschluß gewährt. Wobei die Vorbildlichkeit der Kunst nun ausdrücklich in ihrer Konventionalität begründet wird: »(...) aber was Jahrhunderte mit Ernst und Achtung angeschaut haben, darin seh ich immer etwas, was man respek222 223 224 225 224 227

N F A , V, p. 2 1 7 . N F A , V, p. 87. N F A , IV, p. 165. N F A , IV, p . 2 1 9 . N F A , IV, p. 334. N F A , IV, p. 294. Zur Bedeutung dieses Bildes für den Roman vgl. Wolfgang Preisendanz, Die verklärende Macht des Humors im Zeitroman Theodor Fontanes, in: Th. Fontane, hrsg. von W. Preisendanz, Darmstadt 1973, pp. 298 sqq. 71

tieren muß.«228 Von Therese, die sich noch am meisten der bescheidenen Rolle der Poggenpuhlschen Familie widersetzt, wird jedoch ebenfalls am Schluß des Romans gerade diese gesellschaftsprägende und damit öffentliche Funktion der Kunst negativ akzentuiert. Als zynisch bezeichnet sie wegen deren Vorliebe für das Natürliche nicht nur die Statuen und Reliefs im Berliner Tiergarten, sondern ebenso die »lebenden Bilder und Szenen«, die zu Füßen dieser Kunstwerke von den Menschen gestellt werden. 22 ' Die Möglichkeiten der Bilder der Kunst als prägende Vorbilder des Lebens in bono und in malo sind damit - wenn auch in ungleichwertigen Urteilen - am Ende des Romans, dessen Figuren sich ihres Rollenlebens in hohem Maße bewußt sind, nochmals pointiert gegenübergestellt. »Bilder und immer wieder Bilder«, mit dieser Wendung aus »Cécile«230 ist Zutreffendes wohl auch für die Romanwelt Fontanes insgesamt gesagt. Die hier bemerkte Ausrichtung der Anfangsszenen von »Effi Briest« am Bild der Verkündigung und damit verbunden, die Fixierung Effis aufs weibliche Leitbild der Maria ist also kein Einzelfall. Fontane, der »Augenmensch«,231 bezieht vieles auf Bilder. Nicht zuletzt, weil das Leben selber sich nach dem Vorbild der Kunst als dem anschaulichen Wertsystem einer Gesellschaft orientiert. Nicht von selber freilich, sondern durch den Zwang eben jener in den Bildern der Kunst, in ihren ikonographischen Mustern und Typen hervorragend herauspräparierten und wohlkonservierten gesellschaftlichen Normen. Gleiches gilt aber auch für die stilistischen Phänomene, »denn mit den richtigen Linien in der Kunst«, so urteilt streng der Malerprofessor Cujacius im »Stechlin«, »sind auch die richtigen Formen in der Gesellschaft verloren gegangen«.232 Es ist von daher nicht zufällig, daß der prinzipienstrenge Innstetten nach den Worten Briests ein ausgesprochener »Kunstfex« ist. E f f i dagegen - so Briest - , »Gott, unsere arme E f f i , ist ein Naturkind. Ich fürchte, daß er sie mit seinem Kunstenthusiasmus etwas quälen wird.« (197) »Ich habe noch immer das Ziehen in den Füßen«, schreibt E f f i von der Hochzeitsreise aus Italien, »und das Nachschlagen und das lange Stehen vor den Bildern strengt mich an. Aber es muß ja sein.« (201)

228 229 230 231 232

72

N F A , IV, p. 36$. N F A , IV, p. 364. N F A , IV, p. 166. Reuter, Fontane, I, p. 329. N F A , VIII, p. 221.

Rollenkritik und Rollenerneuerung ry. Jahrhundert

in der Malerei

der 2. Hälfte

des

Wenn solche Fixierung auf christliche Leitbilder bei Fontane nicht nur Widerspiegelung gesellschaftlicher Rollen, sondern deren Kritik meinen soll, so wird man sich schließlich auch hier um Vorläufer zu bemühen haben, die eine solche Vermutung rechtfertigen könnten. Im Bereich der Literatur ist dabei auf Jean Paul und seine Betrachtungen in der »Geschichte meiner Vorrede zur zweiten Auflage des Quintus Fixlein« hinzuweisen. Jean Paul gibt hier eine Kritik an der Rolle der Frau in der Ehe mittels christlicher Bilder. Die gänzlich ohne eigenes Zutun zustandegekommene Gattenwahl bezeichnet Jean Paul als die Opferung des Mädchens »an die erste beste Erscheinung von Maschinengott«.233 Den Brautstand selber vergleicht er mit jenem »schlafenden Kinde (...), das Garofalo mit einem Engel, der eine Dornenkrone darüberhält, gemalet, auf das aber, wenn es die Ehe weckt, der Engel die Krone herunterdrückt«.234 Die Auffassung der Ehe als Passion dient hier also nicht länger zur Nobilitierung dieser Institution, sondern ist Kritik an der Rolle, die der Frau in ihr zugewiesen ist. Diese Rolle ist schlechthin deprimierend. Alles Großangelegte, alle Träume des jungen Mädchens verkümmern nach Jean Paul in einem kleindimensionierten Ehealltag: »Dieses ganze weite Sprachgewölbe

des Ewigen, die blaue Rotunda

des

Universums verschrumpft zu deinem Wirtschaftsgebäude, zur Speck- und Holzkammer und zum Spinnhaus, und an glücklicheren Tagen zur Visitenstube -

die Sonne wird für dich ein herunterhängender Ballonofen und

Stubenheizer der Welt, und der Mond eine Schusters-Nachtkugel auf dem Lichthalter einer Wolke -

der Rhein trocknet in dir zur Schwemme und

zum Schwenkkessel deines Weißzeugs ein und der Ozean zum Teich -

Herings-

du hältst in der großen Lese-Gesellschaft aller Zeitschriften den

jährlichen Kalender mit und kannst wegen deines kosmologischen

Nexus

kaum vor Neugier die politische Zeitung erwarten, um in ihrem angebognen Intelligenzblatt den Torzettel unbekannter Herren nachzulesen, die in den drei Perücken logieret haben, und ein Universalgenie stellest du dir um nicht viel, aber um etwas gescheuter vor als deinen Eheherrn.

D u bist zu

etwas Besserem geschaffen, aber du wirst es nicht werden (wofür dein armer Weyermann nichts kann, dem es der Staat selber nicht besser macht).« 2 3 5

Ehe als Desillusion der empfindsamen Frau, jenes Thema, das durch Flauberts »Madame Bovary«, aber auch durch Fontanes »Effi Briest« zu 233

Jean Paul Werke in zwölf Bänden. Hrsg. von Norbert Miller, 1 9 / 5 . V I I , p. 33.

234

Op. cit., p. 33. Op. cit., p. 33.

235

München

73

einem der bedeutsamsten Themen des Eheromans im 19. Jahrhundert wurde, 236 ist hier bereits in nuce vorgegeben und ist hier schon im weiteren Zusammenhang ganz allgemeiner gesellschaftlicher Zwänge gesehen. Jean Paul schließt dieses Ehebild mit einer abermaligen Anspielung auf die Passion: »Wahrlich ihr Eltern und Männer, ich stelle dieses quälende Gemälde nicht auf, damit es der wunden Seele, der es gleiche, eine Träne mehr abpresse, sondern euch zeig ich die gemalten Wunden, damit ihr die wahren heilt und eure Marterinstrumente wegwerft.« 2 3 7 Fontane w a r kein enthusiastischer, aber doch auch kein ganz unkundiger Leser Jean Pauls. 238 Dessen erstaunliche Ehekritik in christlichen Bildern könnte ihm bekannt gewesen sein. Solche Kritik an der Rolle der Frau durch eine Neuakzentuierung der alten christlichen Leitbilder war Fontane jedoch nachweislich durch die Malerei der Präraffaeliten bekannt. Schon deren Darstellung der H l . Familie bedeutete ja durch ihren extremen Realismus eine Kritik an den geläufigen Klischees. Und auch ihre bereits genannten Darstellungen der am Marienvorbild orientierten Mädchenschicksale waren nicht unkritisch gegenüber der gesellschaftlichen Rollenerwartung.· Wie sehr dabei von den Präraffaeliten gerade auf diese allgemeine Rollenerwartung abgehoben wurde, wird deutlich an jener Wendung, die das nazarenische Motiv des Joseph im hortus conclusus bei der Verkündigung auf Rossettis »The girlhood of M a r y Virgin« (Abb. 1 3 ) erfährt. Aus dem Joseph ist inschriftlich ein Joachim geworden. Maria ist damit erstmals nicht mehr in jenen merkwürdigen Verhältnissen der Bibel bzw. der Apokryphen gegeben, nach denen sie vor ihrer Eheschließung bereits im Hause ihres zukünftigen Mannes weilt, der zudem — wie Fontane anläßlich der »Sposalizio« R a f f a e l s spöttisch anmerkt 238 - letztlich doch bloß die Rolle des »Vicemannes« innehat. Die Maria der Verkündigung ist bei Rossetti dagegen erstmals, und hieraus ergibt sich eine weitere Übereinstimmung zu Fontanes motivisch so verwandter Anfangsszene in » E f f i Briest«, im familiären Kreise ihres eigenen Elternhauses gegeben, wodurch die Situation gänzlich auf die gesellschaftlichen Normen der Zeit hin orientiert ist. Dieser Maria, mit der nun jedes Mädchen identifiziert werden kann, wird jedoch in der Gartenidylle ihres Elternhauses ihr 23β V g l . Walter Müller-Seidel, Fontanes » E f f i Briest«. Zur Tradition des Eheromans, in: Wissenschaft als Dialog. Wolfdietrich Rasch zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1969, pp. 30 sqq. 237

O p . cit., p. 35. 238 V g l . K u r t Schreinert, Fontane und Jean Paul, in: Festgabe für Eduard Berend, Weimar 1 9 5 9 , pp. 160 sqq. u. Helmuth Nürnberger, Theodor Fontane in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1969, p. 96. 239 N F A , X X I I I , 2 , p. 83.

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zukünftiges, beispielhaftes Schicksal in höchst merkwürdiger Weise vor Augen gestellt. In der rigiden Anhäufung der Bücher, die inschriftlich die Namen der christlichen Tugenden tragen, gewinnt das Vorbildliche gegenüber dem jungen Mädchen, dem solches zugemutet wird, den Charakter des Bedrückenden. Und so meint man denn auch* den Gesichtsausdruck Mariens angesichts ihres zukünftigen Auftrages als unfroh auffassen zu dürfen. Weitergehender Bewertung wird man sich jedoch zu enthalten haben, denn Rossetti hat in dem am Rahmen angebrachten Sonett ausdrücklich festgehalten, daß Maria keine Furcht empfinde. Doch fügt er hinzu »yet wept till sunshine and felt awed; because the fulness of the time was come«. 240 Als recht offenkundige Kritik an der ihr zugemuteten Marienrolle haben dagegen bereits die Zeitgenossen Millais' »Mariana« (Abb. 1 5 ) erkannt. So schrieb Ruskin in seinen Briefen an die »Times«, daß Mariana augenfällig wenig Interesse an den frommen Glasgemälden vor ihr zeige. 241 Unbeachtet bleibt auch das Glasfenster rechts, das über einer Lilie als weiterem Sinnbild marianischer Unschuld die Inschrift gibt »in caelo vivies«. Im gänzlichen Gegensatz hierzu hat jedoch Mariana in ihrer betonten Hinwendung zu Licht, L u f t und Sonne als Befreiung von all dem, was sie umgibt, deutlich den Anspruch auf E r füllung ihrer Wünsche bereits in diesem Erdenleben angezeigt. Die erotischen Implikationen dieses Wünschens sind offensichtlich in der »Heilund Zimmergymnastik«, mit der auch Mariana wie E f f i sich von ihrer Teppichstickerei abgewandt hat und damit ihre am Marienvorbild ausgerichtete standesbewußte, auf Sitte und Anstand wertlegende Erziehung desavouiert. M a n vergleiche nur den Unterschied zu Richters »Braut« (Abb. 34) als dem gesitteten Gegenstück. Solcher Sinnlichkeit des jungen Mädchens - auch E f f i s turnerische Betätigung hat ja am auffälligsten in der Vorliebe f ü r die Schaukel erotische Bedeutung — korrespondiert bei Millais wie in den Anfangsszenen von » E f f i Briest« eine lebensfrische Natur, die hier wie dort durch den wilden Wein ins Zimmer selbst hineinreicht und so die Stickluft des vornehmen Hauses um so deutlicher spüren läßt. Dessen Interieur ist zwar im mittelalterlichen Stil eingerichtet, im England des >gothic revival· ist damit jedoch eine Gegenwart von 240

Z u m T e x t des Sonetts s. Surtees, Rossetti, N r . 40. Dort auch die durchweg positiven zeitgenössischen Kritiken, die an Rossettis Maria nichts Befremdliches fanden. Entrüstung erregte dagegen Rossettis wenig spätere Verkündigungsdarstellung »Ecce Ancilla Domini« mit einer gänzlich vom Versagen geängstigten Maria, vgl. Gerd Schiff, Zeitflucht und Zeitkritik in der Malerei der Präraffaeliten, in: Beiträge zur Motivkunde des 19. Jahrhunderts, München (1970), p. 1 7 4 u. A b b . 3.

241

The Works of Ruskin, X I I , p. 320.

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vergleichbarer sozialer Höhe angezeigt, wie sie Effis Elternhaus repräsentiert. In denselben Motiven wie E f f i auf das Marienvorbild orientiert, ist hier in der erotischen Disponiertheit, mit der das junge Mädchen dem Verkündigungsbild und seiner entsagenden Auslegung gegenübersteht, aber nicht nur das christliche Leitbild weiblicher Tugend seiner Lebensfremdheit überführt. Daß diese neue Maria in ihrem Gegensatz zur frommen Gesinnung der Heilsgeschichte vielmehr unweigerlich das Verdikt treffen wird, die alte Eva zu sein, das hat Millais in der Maus, die unbemerkt hinter Mariana ihr Wesen treibt, unmißverständlich angezeigt. Ist diese doch das traditionelle, bereits auf dem MerodeAltar angespielte Sinnbild des Teufels.242 Diese Eigentümlichkeit der Gesellschaftskritik auf präraffaelitischen Bildern, einerseits die Rollenfixierung zu problematisieren, andererseits den Verstoß gegen die Rollenerwartung weiterhin als moralische Verfehlung zu akzentuieren, dies zeigt auch Hunts »Awakening conscience« (Abb. 16). Man hat dieses Bild geradezu als Apologie einer besonders engherzigen puritanischen Moral bewertet. Man tut Hunt damit wohl Unrecht. Denn seine gleichzeitig entstandene und im Motiv der gefallenen Frau< thematisch eng verwandte Illustration zu Tennysons Ballade »The Lady of Shalott« läßt das gänzlich Unnatürliche dieser victorianischen Moral nur allzu offensichtlich werden. Diese Illustration (Abb. 38), die gerade während Fontanes Englandaufenthalt in einer Ausgabe der auch von Fontane sehr geschätzten Dichtungen Tennysons erschien und die Hunt als Vorbild für sein späteres Gemälde (Abb. 39) diente, zeigt abermals die Frau nach dem Vorbild der Tempeljungfrau Maria - auf der Gemäldefassung das Marienvorbild auch unmittelbar vor Augen habend - bei der tugendhaften Handarbeit.243 Nun jedoch nicht im hortus conclusus, sondern in einem abgeschlossenen Raum. Dieser verrät in einzelnen Motiven, wie den abZur Maus als Sinnbild des Teufels s. außer der in Anm. 31 genannten Arbeit von Meyer Schapiro ferner Erwin Panofsky, The mouse that Michelangelo failed to carve, in: Essays in memory of Karl Lehmann, New York 1964, pp. 242 sqq. Besonders fürs 19. Jh. s. Friedreich, Symbolik der Natur, pp. 428 sqq. 243 William Holman Hunt, The Lady of Shalott, Radierung 1857, Illustration aus der Moxon-Ausgabe von Tennyson. William Holman Hunt, The Lady of Shalott, 1886-1905, Wadsworth Atheneum, Hartford, Conn.; vgl. Kat. Hunt, Liverpool 1969, Nr. 58 u. Samuel J. Wagstaff, Some notes on Holman Hunt and the Lady of Shalott, in: Wadsworth Atheneum Bulletin, Summer 1962, pp. 1 sqq., dort p. 14, auch zur engen thematischen Beziehung mit »The awakening conscience«. Zu Fontane und Tennyson s. Reuter, Fontane, I, p. 327.

242

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gestellten Holzschuhen und dem Konvexspiegel, deutlich den Einfluß des seit 1842 in der National Gallery in London befindlichen ArnolfiniEhebildnisses Jan van Eycks (Abb. 22).244 Dieses Gemälde, das Fontane bei seinem Besuch in der National Gallery natürlich ebenfalls gesehen hat, ist also in seinem »disguised symbolism«, in seiner Fixierung der Frau auf das Marienvorbild, im 19. Jahrhundert noch sehr wohl erkannt und zugleich ist diese noch radikal verschärft worden. Denn während bei van Eyck mittels des Konvexspiegels weitere Personen von außen als Zeugen des Ehegelöbnisses hinzutreten und dieses so vor aller Welt bekräftigen, bilden bei Hunt die im Spiegel erscheinenden Bilder die einzig erlaubte Form einer Kommunikation der keuschen Frau mit der Außenwelt. In dem Moment, als die Lady of Shalott direkt aus dem Fenster nach draußen blickt, in einen unmittelbaren Kontakt mit der Welt tritt, um den singenden Ritter Lancelot mit seinem Gefolge vorbeireiten zu sehen, ist sie an ihrer Tugendaufgabe gescheitert, hat sie gegenüber ihrem Marienvorbild versagt. Unmittelbar anschaulich wird dies im Teppich, der sich aus dem Rahmen löst und in dessen Webfäden sich die Frau nun wie ein gewürgtes Opfer verstrickt. Die Teppichstickerei im abgeschlossenen Bezirk, jenes am Anfang von »Effi Briest« begegnende Motiv, das für das 19. Jahrhundert und seine Ausrichtung der Frau aufs Marienvorbild so bedeutsam ist, hat hier bei Hunt seine Monumentalisierung gefunden. Obschon möglicherweise vom Standpunkt offizieller Moral aus gemeint, gilt doch für Hunts Darstellung jene hellsichtige Bemerkung von Gert Schiff, daß präraffaelitische Bilder eine von ihnen propagierte victorianische Moral zugleich denunzieren.245 Im Verstoß gegen diese Moral wird bei Hunt deutlich, was die Frau auch im Gehorsam gegenüber dieser Moral immer schon war: eine Gefangene. Mag man für Hunts »Lady of Shalott« noch im Zweifel sein, ob solche Kritik absichtlich oder unabsichtlich erfolgt, für Hunts »The awakening conscience« (Abb. 16) gilt dies nicht. Im Scheitern an den christlichen Leitbildern wird hier nachweislich nicht nur von victorianischer Moral, sondern auch über victorianische Moral gehandelt und damit ganz explizit Gesellschaftskritik geübt. Ausweis solcher Kritik ist bereits das victorianische Interieur. Dessen so stupend und aufdringlich gemalte Gegenstände stellen nach Ruskin eine peinigende Scheinwelt vor Augen. Nichts trage die Spuren wirklichen Gebrauches, alles sei nur Draperie im vulgären Geschmack der Zeit.24® Enthüllend im Sinne einer Zeitkritik ist nun, daß eben dieses so gesellschaftskonforme Interieur zum 244 Vgl. Wagstaff, Some notes on Holman Hunt, p. 13 sq. 245 Schiff, Zeitkritik und Zeitflucht, p. 178. 249 The Works of Ruskin, XII, p. 334. 77

Ort des Lasters geworden ist. Entsprechend ist hier auch die Wendung des Mädchens aus dem Zimmer nach dem hellen Draußen positiv, als Abkehr vom Laster und als Hinwendung zum göttlichen Licht gegeben. Solch tugendhafte Umkehr wird die Gesellschaft gleichwohl kaum lohnen. Sie wird, wie rechts oben im Stich »Christus und die Ehebrecherin« angedeutet, im Gegensatz zu Christus den einmal begangenen Fall schwerlich verzeihen. In diesem Sinne hat auch Ruskin das Bild in seinen Briefen an die »Times« interpretiert. Noch sei das Kleid des Mädchens weiß, doch allzu bald nur werde sie als Ausgestoßene der Gesellschaft verlassen in den Straßen umherirren, in Schmutz und Regen.247 Tatsächlich hat der victorianische Genremaler August Leopold Egg, Fontane erwähnt ihn in seinen »Briefen aus Manchester« als bedeutenden Vertreter seines Faches, diesen Aspekt des Huntschen Bildes zum Thema eines Gemäldezyklus gemacht. Mit Hunt eng befreundet, der ihm den Entwurf zu »The awakening conscience« gezeigt hatte und dem er einen Auftraggeber für dieses Bild vermittelte, hat Egg in seinem Zyklus Ruskins Ausführungen über Hunts Bild in allen Konsequenzen illustriert. 1857 in der Royal Academy ausgestellt, wo Fontane als regelmäßiger Besucher der dortigen Ausstellungen den Zyklus hat sehen können, zeigt das erste Bild die untreue Frau am Boden zu Füßen des Mannes liegend (Abb. 40).248 Ihr Ehebruch ist durch den Apfel wie durch das linke Bild im Bild als Sündenfall Evas interpretiert. Der Mann, der durch die Briefe in seiner Hand Kenntnis von der Verfehlung seiner Frau erhalten hat, ist aufs äußerste betroffen. Die nichtsahnenden Kinder bauen ein Kartenhaus, Sinnbild für des bevorstehende Ende ihres häuslichen Glücks. Im gleichen anspielungsreichen Realismus, den Fontane als so typisch für die englische Genremalerei erkannt hat, zeigen die folgenden Bilder den weiteren Niedergang der Familie, die >verwaisten< Kinder und schließlich die Einsamkeit und das Ausgestoßensein der gefallenen Frau (Abb. 41). Allein das Wort R E T U R N , das mit anderen Inschriften bedeutsam auf der Plakatwand hinter ihr erscheint, läßt noch auf einen glücklichen Ausgang hoffen. Wurde Hunts »The awakening conscience« für Ruskin ebenso wie für Egg zum Anlaß, das Thema der gefallenen Frau zu einem Roman auszuspinnen, wie ihn Fontane dann literarisch gestaltet hat, und hat Fontane hiervon im Falle Ruskin nachweislich Kenntnis genommen, im 247 248

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The Works of Ruskin, X I I , p. 335. August Leopold Egg, Past and Present, 1858, London, Tate Gallery. Zu Egg und Hunt s. Hunt, Pre-Rapheaelitism, I, p. 347 sq., II, p. 430. Zur Erwähnung Eggs bei Fontane s. N F A , X X I I I , 1 , p. 124. Zu Egg allg. s. Reynolds, Victorian Painting, pp. 30 u. 95.

Falle Eggs zumindest Kenntnis nehmen können, so scheint auch Hunts Gemälde selber, das Fontane in Manchester gesehen hat, nicht ohne Wirkung auf »Effi Briest« geblieben zu sein. Bereits in der Anfangsszene sagt E f f i im Ubermut, beim nächsten Besuch der Rathenower werde sie sich auf »Oberst Goetzes Schoß« setzen, denn »drei Viertel ist er Onkel und nur ein Viertel Courmacher.« (172) Dieses Motiv des Sichauf-den-Schoß-setzens als Ausweis erotischer Disponiertheit begegnet wieder in jener Szene, die durch das Gottesmauergedicht leitmotivisch auf die Anfangsszene bezogen ist, während der so verhängnisvollen Schlittenpartie zu Oberförster Ring am dritten Weihnachtstag. Hier ist es die gerade vierzehnjährige kokette Cora, die nun bei »Onkel Crampas«, dem künftigen Verführer Effis, auf dem Schloß sitzt (301). Die »bildschöne« Cora mit »rotem Wellenhaar«, von der es schon vorher hieß, daß sie Bilder stellt (298), und die durch ihre Koketterie wie durch die Altarteppichstickerei (304) ebenso wie die junge Frau bei Hunt und wie E f f i auf die Eva/Maria-Typologie bezogen ist, sie bietet auf dem Schoß des Damenmannes Crampas E f f i einen gleichen Anblick wie das Huntsche Bild. Und in weiterer Übereinstimmung mit dem Huntschen Gemälde wird Cora zugleich zum Anlaß, daß nun auch E f f i im Sinne ihres »Erwachenden Gewissens« einerseits an die Unschuld ihres vergangenen Kindheitsparadieses zurückdenken muß und andererseits aus dem Munde Sidonie von Grasenabbs unmißverständlich die Prophezeiung einer schlimmen Zukunft für solche Koketterie ihres Ebenbildes erfährt (301). Wenige Stunden vor Effis Fehltritt werden also von Fontane Motive des Huntschen Gemäldes wie ein lebendes Bild nachgestellt und damit bei seiner Titelheldin eben jene Reflexionen in Gang gebracht, die auch das Huntsche Bild illustriert. Hunts Gemälde ist jedoch über die vergleichbaren Motive und das gemeinsame Thema der gefallenen Frau hinaus für »Effi Briest« interessant. Denn auch die Lösung, die Hunt für den von ihm dargestellten Konflikt propagiert, erscheint bedeutsam im Hinblick auf Fontane. Im Hinweis auf »Christus und die Ehebrecherin« fordert Hunt von der Gesellschaft zu verzeihen. Hierauf bezieht sich auch das Bibelzitat, mit dem Hunt das Bild erstmals ausstellte: »Strengthen ye the feeble hands, and confirm ye the tottering knees; say to the faint-hearted: be ye strong; fear ye not; behold your God.« 24 ' Ohne das christliche Vokabular, doch in gleichem Sinne hat auch Ruskin in seinen Briefen an die »Times« den Appell des Bildes zusammengefaßt: »To waken into mercy the cruel thoughtlessness of youth, and subdue the severities of judgement into the 249

Vgl. Kat. Hunt, Liverpool 1969, Nr. 27. 79

sanctity of compassion.« 250 Mitleid und Verzeihen werden also für die Verfehlung der jungen Frau gefordert anstelle strenger Bestrafung und ihres Ausstoßes aus der Gesellschaft. Daß Ruskin sich wie Hunt zu einem solchen Urteil versteht, hat um so mehr Gewicht, als Ruskin selber gerade in eine Ehebruchgeschichte verwickelt war. Seine Frau hatte ein Verhältnis mit dem Maler Millais, den sie nach ihrer Scheidung auch heiratete. Diese Vorgänge haben auf Grund der Berühmtheit der beteiligten Personen einen der beachtetsten Gesellschaftsskandale während Fontanes Englandaufenthalt hervorgerufen. Der Name der Frau war Effi. 251 Man wird solch erstaunliche Übereinstimmung mit »Effi Briest« nicht überbewerten dürfen. Fontanes Romanvorlage war eine Ehegeschichte, die sich im rheinischen Preußen und dann in Berlin zugetragen hat. Die betroffene Frau hieß Elisabeth, bzw. Else. 252 Daß Fontane jedoch außer dieser Ehegeschichte noch weitere Anregungen verwertete, hat er selber bekanntgemacht. So auch, daß für die äußere Erscheinung Effis tatsächlich eine junge Engländerin sein Vorbild gewesen ist. 253 Bereits diese trug jenes Hängerkleid, das dann auch Effi in Hohen-Cremmen trägt, eine Art Kleidung, die erstmals die Präraffaeliten mit ihrer Opposition gegen die victorianische Stickluft und ihre Schnürtoiletten in Mode brachten. 254 Dem entspricht, daß das Vorbild für Effis Äußeres aus Dissenterkreisen stammte, deren Vorliebe für die Kunst der Präraffaeliten Fontane selber angemerkt hat. Den Präraffaeliten und ihrer von ihm ebenfalls so geschätzten Malerei verdankt Fontane für »Effi Briest« weiterhin - wie die zahlreichen motivischen Ubereinstimmungen der Anfangsszene seines Romans mit präraffaelitischen Bildern zeigen - die diskrete, den realistischen Kontext nicht verletzende Ausrichtung seiner weiblichen Heldin auf Maria — und komplementär damit zugleich auf Eva als den verbindlichen Tugend-Lastervorbildern der herrschenden Gesell250

The Works of Ruskin, X I I , p. 3 3 $ . 251 V g l . hierzu ausführlich Sir William Milburne James (ed.), John Ruskin and E f f i G r a y : The story of John Ruskin, E f f i G r a y and John Everett Millais, told for the first time in their unpublished letters, N e w Y o r k 1 9 4 7 u. M a r y Lutyens, Millais and the Ruskins, London 1967. Die A f f a i r e ereignete sich 1854-55V g l . außer der in A n m . 1 3 genannten Arbeit von Seiffert ferner MüllerSeidel, Fontane, pp. 3 5 2 sqq. 253 Vgl. Anm. 13. 251 V g l . hierzu Elisabeth Aslin, The aesthetic movement. Preludes to A r t Nouveau, London (1969), p. 1 4 6 sq., J a n Thompson, The role of woman in the iconography of art nouveau, in: A r t Journal, X X X I , 1 9 7 1 / 2 , p. 1 5 8 sq. u. Martha Kingsbury, The femme fatale and her sisters, in: A r t N e w s Annual, X X X V I I I , 1 9 7 2 , p. 1 9 3 . 252

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schaft. Bereits bei den Präraffaeliten war Fontane so vorgegeben, wie durch solche Rollenfixierung eine Alltagsgeschichte repräsentativ wird für allgemein Gesellschaftliches. Aber auch das Scheitern des jungen Mädchens an solcher Rollenfixierung als Moment der Gesellschaftskritik und weitergehend die Forderung nach Nachsicht und Verzeihen hat für Fontane Vorläufer in der ihm bekannten Malerei der Präraffaeliten. Und schließlich mag es auch sein, daß Ruskin nicht nur als Verteidiger der Präraffaeliten für Fontane vorbildlich geworden ist, sondern durch seine Eheaffäre auch Effi, den Namen für Fontanes Romanheldin, beigesteuert hat. H a t doch Fontane immer wieder aus seinem Englanderlebnis Stoff für seine Romane entnommen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die fortentwickelte bürgerliche Gesellschaft Englands bereits eine Vielzahl jener Probleme zeigte, die mit Verzögerung dann auch in Preußen Aktualität gewannen. 255 So sieht sich Fontane während seines Englandaufenthaltes, und zwar noch vor seiner Kenntnisnahme der Präraffaeliten, mit der Frauenfrage konfrontiert, ein nicht ganz unwichtiges Thema für seine späteren Romane. 258 Bedeutsam ist Englisches ja noch im »Stechlin« in vielem wirksam geworden, und auch die Präraffaeliten begegnen dort wieder als Gegenstand eines Kunstgespräches zwischen Woldemar und Cujacius. Letzterer urteilt vom Standpunkt der Nazarener, daß die Präraffaeliten und insbesondere Millais zu Beginn sehr vielversprechend gewesen, dann aber ganz von ihrer ursprünglichen Bahn abgewichen seien.257 Fontane hat also die spätere Entwicklung der Präraffaeliten durchaus mitverfolgt, er blieb informiert. Noch in späten Briefen an seinen englischen Korrespondenten James Morris kommt er mehrfach und stets lobend auf die Präraffaeliten zu sprechen.258 Aber nicht nur Fontanes Englandaufenthalt, England als »das bestimmende Bildungserlebnis« Fontanes, 259 macht den Rückgriff des späteren Romans auf präraffaelitische Bilder verständlich. Vielmehr 255 Vgl. Charlotte Jolies, Und an der Themse wächst man sich anders aus als am »Stechlin«. Zum Englandmotiv in Fontanes Erzähl werk, in: Fontane Blätter, I, H . j , 1967, pp. 173 sqq.; Jolies, Fontanes Studien über England, pp. 95 sqq.; Nürnberger, Der frühe Fontane, u. Reuter, Fontane, I, pp. 295 sqq. Reuter, Fontane, II, p. 643; Müller-Seidel, Fontane, p. 162 sq. 257 N F A , VII, pp. 220 sqq. Zu Cujacius und den Präraffaeliten vgl. auch Anm. 106 u. 108. Zum Englandmotiv im »Stechlin« s. die Arbeiten von Jolies in Anm. 25 j. 258 Vgl. Briefe Th. Fontanes (ed. Pniower/Schlenther), ΙΓ, pp. 379, 396, 422 u. 427. 25» Nürnberger, Der frühe Fontane, p. 47. 256

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darf ganz allgemein gelten, daß die Kunst der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in ihren symbolistischen Tendenzen und dann im Jugendstil, wesentlich von den Präraffaeliten und ihrem Frauenbild beeinflußt worden ist.260 Vorbildlich wurde insbesondere jene Erneuerung der alten Eva-Maria-Typologie, in die die Präraffaeliten seit den späten fünfziger Jahren unter dem bestimmenden Einfluß Dante Gabriel Rossettis angesichts der unverändert rigiden Moralforderungen von Seiten der bürgerlichen Gesellschaft auswichen. So schufen die Präraffaeliten aus Eskapismus gegenüber den gesellschaftlichen Zwängen und den durch sie erzeugten Yersündigungsängsten nach dem Vorbild der Maria den Typus der idealen Geliebten, wie ihn beispielhaft Rossettis »The blessed Damozel« (Abb. 42) zeigt. 2 " Mit der Lilie, dem traditionellen Mariensinnbild der Keuschheit ausgezeichnet und in einem überirdischen hortus conclusus entrückt, ist die Frau so als neue Maria aller Begehrlichkeit des Mannes entzogen. Dieses Ideal der weltabgeschiedenen reinen Frau in Angleichung an Maria, wie es ja auch schon die von Fontane gesehenen »Convent thoughts« (Abb. 14) von Collins vorstellten, hat im Gefolge der Präraffaeliten zu einer labyrinthischen Vielfalt von Klostergärten, Kirchhöfen, Pfarrhausgärten, abgeschlossenen Ziergärten und Lauben geführt. In diesen wurde - gleichsam als Neuauflage jener im »Frankfurter Paradiesgärtlein« (Abb. 3) gegebenen Bildvorstellung - das noch unschuldige Mädchen allein oder im Kreis ihrer Gespielinnen vor den Gefahren der Sinnlichkeit bewahrt.292 Als deren weibliche Repräsentantin erscheint stets wieder die sündhafte Eva, jenes Urbild der männerverderbenden femme fatale, deren Typus mit lang wallendem Haar und lockenden Augen ebenfalls von den Präraffaeliten für die Kunst der Folgezeit verbindlich konzipiert wurde. Unterschiedlich als Eva, Lilith, 2βο V g l . hierzu grundlegend Hönnighausen, Präraphaeliten und Fin de Siècle, dort, pp. 263 sqq., auch zum Frauenbild der Präraffaeliten. V g l . hierzu ferner John Dixon Hunt, The Pre-Raphaelite imagination 1 8 4 8 - 1 9 0 0 , L o n don 1969 2 , pp. 1 7 7 sqq. Zur Rezeption s. Robert Schmutzler, A r t N o u v e a u Jugendstil, Stuttgart 1962, pp. 62 sqq., Hans H . Hofstätter, Geschichte der europäischen Jugendstilmalerei, Köln ( 1 9 6 3 ) , pp. 1 1 8 sqq. u. Hans H . H o f stätter, Symbolismus und die Kunst der Jahrhundertwende, Köln ( 1 9 6 $ ) . 2,1 Dante Gabriel Rossetti, The Blessed Damonzel, 1 8 7 5 - 1 8 7 9 , Port Sunlight, L a d y Lever A r t Gallery; Surtees, Rossetti, N r . 244. Zum T y p u s der idealen Geliebten nach Rossetti s. D a v i d Sonstroem, Rossetti and the Fair L a d y , Middletown ( 1 9 7 0 ) , pp. 52 sqq., Hönnighausen, Präraphaeliten, pp. 263 sqq. Bettina Polak, Het Fin-De-Siècle in de Nederlandse Schilderkunst, Den H a a g 1 9 5 5 , pp. 49 sqq. u. Ariane Thomalla, Die »femme fragile«. Ein literarischer Frauentypus der Jahrhundertwende, Düsseldorf 1972, bes. pp. 20 sqq. 2β2 V g l . hierzu Hönnighausen, Präraphaeliten, pp. 2 1 0 sqq.

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Salome oder Pandora bezeichnet oder wie bei Rossetti als »Venus Verticordia« (Abb. 43), deren verderbliches Evanaturell wieder durch den Apfel angezeigt ist, bildet dieser Typus ganz offensichtlich das gesuchte Pendant zum keuschen Marienideal.283 Eva und Maria, das diabolisch Sündhafte und die anbetungswürdige Reinheit, als die polaren Seiten im Wesen der Frau zeigen in der Nachfolge der Präraffaeliten unverändert noch am Jahrhundertende Toorops »Drei Bräute« (Abb. 44). 2M Vielfach reproduziert, 1893 in München mit großem Aufsehen ausgestellt, gibt das Bild die irdische Braut in der Mitte vor der Wahl zwischen entsagender Keuschheit und verworfener Begierde, dargestellt im Gegensatz zwischen himmlischer Braut links und teuflischer Braut rechts. Wie sehr damit auf die geläufigen Klischees der Zeit Bezug genommen ist, bestätigt ein weitverbreitetes Blatt der Trivialkunst, das, um i860 entstanden, unter dem Titel »Die beiden Bräute« (Abb. 45 )265 bereits das nämliche Thema wie Toorop gibt. Denn was die irdische Braut in den Armen der Nonne als der himmlischen Braut so bedenklich macht, ist die Besorgnis vor den bevorstehenden Gefahren des Lebens außerhalb des schützenden Kircheninnern und damit die Angst vor der dritten, hier gerade nicht dargestellten Brautschaft der Eva mit der Sünde. Auf die Eva-Maria-Typologie als der geläufigen, durch die Kunst seiner Zeit erneut bekräftigten Anschauungsform der Gesellschaft vom Weiblichen hat auch Fontane vielfach Bezug genommen. So formuliert Fontane in einem Brief von 1894, also gleichzeitig mit »Effi Briest«: »Wenn es einen Menschen gibt, der für Frauen schwärmt und sie beinahe doppelt liebt, wenn er ihre Schwächen und Verirrungen, dem ganzen Zauber des Evatums, bis zum infernal Angeflogenen hin, begegnet, so bin

283

Dante Gabriel Rossetti, Venus Verticordia, 1 8 6 4 - 1 8 6 8 , Bournemouth, Russel-Cotes A r t G a l l y e r y ; vgl. Surtees, Rossetti, N r . 1 7 3 . Z u r femme fatale vgl. auch außer den in A n m . 254, 260 u. 2 6 1 genannten Arbeiten grundsätzlich Mario Praz, Liebe, T o d und Teufel. Die schwarze Romantik, München 1 9 6 3 , ferner Werner Hofmann, Das irdische Paradies, München i960, pp. 283 sqq. u. Werner Hofmann, N a n a , Köln ( 1 9 7 3 ) , ferner die Kataloge: The sacred and profane in symbolist art, Toronto, A r t Gallery of Ontario 1 9 6 9 ; Halbe Unschuld, Weiblichkeit um 1900, Köln, Wallraf-RichartzMuseum 1 9 7 1 / 7 2 ; Symbolismus in Europa, Baden-Baden, Kunsthalle 1 9 7 6 .

264

J a n Toorop, Die drei Bräute, 1 8 9 3 , Zeichnung, Otterlo, Rijksmuseum Kröller-Müller; vgl. Polak, H e t Fin-De-Siècle, pp. 1 1 9 sq., K a t . Symbolismus, Baden-Baden 1976, N r . 246. Auguste Jouanin nach C a r l Wilhelm Oesterley, Die beiden Bräute, um i860, Aquatinta, Lübeck, Slg. Pieske; vgl. K a t . Bürgerliches Wandbild. Nr. i n .

265

83

ich es.«2"8 Die Diabolisierung des Erotischen spielt in der Bezeichnung der Victoire von Carayon als einer »beauté du diable« bereits eine verhängnisvolle Rolle in »Schach von Wuthenow«. 267 In »Unwiederbringlich« stehen sich nach dem Vorbild der Eva-Maria-Typologie die verführerische Ebba/Eva und die tugendreine Christine gegenüber. Und dasselbe Klischee von den zwei Seiten der Frau, der männerbedrohenden femme fatale einerseits und der frommen Tugendhaften andererseits, hat Fontane auch im »Stechlin« wiederaufgenommen im Gegensatz der Barbyschen Töchter. Während die eine für die Meerweiber Böcklins schwärmt, strebt die andere dem christlichen Ideal der Hl. Elisabeth nach. Woldemar, gleichsam in der Rolle des Herkules am Scheideweg, räsoniert hierüber in seinem Tagebuch: »Es bleibt mit den Namen doch eine eigene Sache, die Gräfin ist ganz Melusine und die Komtesse ganz Armgard.« 268 Daß Fontane im »Stechlin« ebenso wie in »Effi Briest« dieses typologisch begründete Klischee von den beiden Seiten im Wesen der Frau ad absurdum führt, indem gerade die von ihrem Namen und ihren Vorlieben her gemeinhin als negativ belastete Figur bei Fontane als die eigentlich menschlich liebenswürdige erscheint, dieses Aufheben der Gegensätze begegnet ebenfalls schon bei den Präraffaeliten. Dort freilich in einem ganz anderen Sinne, mit ausgesprochen erotischer Pointierung. Die Präraffaeliten haben nämlich nicht nur im Widerspruch zur Kritik ihrer früheren Bilder seit den späten fünfziger Jahren durch eine eigentümliche Parfümierung der alten Eva-Maria-Typologie die offiziellen Normen bekräftigt. Sie haben durch ihre Stilisierung der alten EvaMaria-Typologie zu Verdrängungsformen des Sinnlichen nicht nur den bereits angemerkten Wunschbildcharakter dieser traditionellen christlichen Leitbilder gesteigert und diese Leitbilder zu geheimnisvollen Idolen erhoben. Die Präraffaeliten haben vielmehr auch jenes Frauenideal geschaffen, in dem sich die geheimen Sehnsüchte dieser Gesellschaft erfüllten und das ebenfalls nachhaltig die Kunst des Fin de siècle beeinflußt hat. Gemeint ist - nicht unwichtig für »Effi Briest« - der Typus der Kindfrau. 269 Dieser Frauentypus vereint das Ideal der Unschuld mit Brief an Paul und Paula Schienther vom 6. Dezember 1894; zit. nach Müller-Seidel, Fontane, p. 162. 267 N F A , II, p. 319 sq. 208 N F A , V I I , p. 107. Dort auch zu Melusines Vorliebe für Böcklins »Meerfrau mit dem Fischleib« an Stelle des Tubabläsers von Cornelius. Zum Melusinenmotiv bei Fontane allg. s. Anm. 421. 269 Zur Kindfrau s. bes. Hofstätter, Symbolismus, pp. 190 sqq. u. Hönnighausen, Präraphaeliten und Fin die Siècle, pp. 278 sqq. 2ββ

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dem Reiz des Verführerischen und gibt damit ein pikantes Changieren zwischen den Polen der alten Eva-Maria-Typologie. Fontane hat eine der präraffaelitischen Inkunabeln dieses Frauentypus, Arthur Hughes »April love« (Abb. 46), in Manchester gesehen.270 Als Szene wieder im abgeschlossenen Gartenbereich angesiedelt, vereint das Mädchen Züge kindlicher Unschuld und verführerischen Evatums offensichtlich auch hier zum Schaden des Mannes. Den Typus der Kindfrau als der unschuldigen Verführerin zeigt ebenfalls Hughes wenig früher entstandenes Gemälde »Fair Rosamund« (Abb. 47), eine Darstellung nach einem Balladenstoff, der auch schon den jungen Fontane beschäftigt hat.271 Schön Rosamund, die Geliebte Heinrich II. von England, ist von Hughes wieder nach dem Vorbild der Maria im abgeschlossenen Garten mit der Teppichstickerei beschäftigt. Auch die Taube und die Liliengewächse verweisen auf die keusche Maria und die Verkündigung im hortus conclusus. Ein Vorgang, der hier auch offensichtlich angespielt und zugleich travestiert wird im Motv der Königin, die Rosamund in ihrem Versteck aufgestört hat, um sie zu töten. Solche als reizvoll empfundene Verwendung der frommen Muster für weit weniger Frommes, dieses sublime Schwanken zwischen Eva und Maria, wird unter dem Einfluß der Präraffaeliten am Ende des Jahrhunderts ins provokant Blasphemische gesteigert auf Münchs Darstellung der »Madonna« (Abb. 48).272 Als ein »Andachtsbild des Eros der Décadence« bezeichnet,273 wird hier nun die sinnliche Frau als Madonna verehrt. Daß damit via negationis noch immer die überkommenen Denkkategorien der Gesellschaft, die Fixierung der Frau auf christliche Präfigurationen fortlebt, wird offensichtlich auf Münchs »Eifersucht« (Abb. 49), wo die Untreue der Frau unverändert als Sündenfall gegeben ist.274 Beide Lithographien gehen auf Gemälde zurück, die Munch während seines Aufenthaltes von 1892 bis 1896 in Berlin gemalt hat, oder die er - wie die »Madonna« - 1892 in Berlin ausgestellt hat.275 Diese Ausstel270

Arthur

Hughes,

April

love,

1856,

London,

Tate

Gallery.

Vgl.

Fontane,

Briefe aus Manchester, N F A , X X I I I , 1 , p. 1 4 2 . 271

Arthur

Hughes,

Fair

Rosamund,

1854,

Melbourne,

V i c t o r i a ; vgl. K a t . Präraffaeliten Baden-Baden

National

Gallery

1 9 7 4 , N r . 80. Z u

of

Fontanes

Ballade » V o n der Schönen Rosamunde« s. Nürnberger, D e r frühe Fontane, pp. 1 2 7 sqq. 272

E d v a r d Munch, M a d o n n a ,

189J-1902,

Farblithographie;

vgl. G . Schiefler,

E . Munch, das graphische W e r k , Berlin 1 9 7 4 , N r . 3 3 . 273

H o f m a n n , D a s irdische Paradies, p. 3 1 8 .

274

E d v a r d Munch, Eifersucht, 1 8 9 6 , Lithographie; Schiefler, Munch, N r . 58.

275

Hofstätter, Jugendstilmalerei,

pp. 1 6 3 sqq. u. Wolfdietrich

Rasch,

Edvard

M u n c h und das literarische Berlin der neunziger Jahre, in: E d v a r d Munch, Probleme-Forschungen-Thesen, München ( 1 9 7 3 ) , pp. 1 4 sqq.

»i

lung, ursprünglich im Verein Berliner Künstler im Architektenhaus, mußte auf Betreiben Anton von Werners vorzeitig geschlossen werden, wurde dann aber verkleinert in gemieteten Räumen des EquitablePalastes in der Friedrichstraße wieder geöffnet. Die Presse, darunter auch der mit Fontane gut bekannte Ludwig Pietsch, äußerte sich entrüstet. Dieser Berliner Ausstellungsskandal hat Munch weithin bekannt gemacht und ihm eine lebhafte Zustimmung für seine Kunst besonders von seiten junger Berliner Autoren eingetragen. Darunter auch jene, deren Werk wiederum Fontane förderte und mit denen er persönlich gut bekannt war, so etwa Gerhart Hauptmann. Ob Fontane selber Münchs Ausstellung gesehen hat, ist nicht nachzuweisen. Jedenfalls wird ihm der Skandal kaum verborgen geblieben sein. Nachweislich besucht hat Fontane jedoch die 1891 in Berlin gezeigte Ausstellung von Franz von Stuck. Durch dessen Werk gelangte das Frauenbild der Präraffaeliten, die von ihm propagierte Eva-MariaTypologie, in der deutschen Kunst am Ende des 19. Jahrhunderts zu größter Popularität. Den Typus der präraffaelitischen Kindfrau gibt Stucks 1889 gemaltes Erfolgsbild »Innocentia« (Abb. 5ο).276 Wieder ist die >noch Unschuldige< durch das Keuschheitssinnbild der Lilie auf das Marienvorbild bezogen. Und wieder ist, als Pendant hierzu, die Repräsentantin der bedrohlich verführerischen »Sinnlichkeit« (Abb. 51), auf anderen Fassungen auch als die »Sünde« bezeichnet, durch ihre Schlange offensichtlich als die lasterhafte Eva vorgestellt.277 Im Gegensatz zur allgemeinen Ablehnung dieser Bilder in Berlin, wie sie auch von Menzel bezeugt ist,278 haben Stucks Gemälde auf Fontane nach dessen eigenem Bekunden »einen großen Eindruck« gemacht. Trotz der allgemeinen Kritik beharrt Fontane: »Ich bleibe aber bei meiner Bewunderung.«279 Uber Stucks ebenfalls thematisch von den Präraffaeliten beeinflußten »Wächter des Paradieses« (Abb. 52) schrieb Fontane an Heyse nach München: »Einige sagen, es seien Schmierereien und der Engel mit seinem 276

277

278

279

86

Franz von Stuck, Innocentia, 1889, Paris, Slg. N . Manoukian; vgl. Heinrich Voss, Franz von Stuck 1 8 6 3 - 1 9 2 8 , München 1 9 7 3 , N r . 9 / 1 0 1 u. pp. 23 sqq., dort auch über den Einfluß der Präraffaeliten. Franz von Stuck, Die Sinnlichkeit, um 1 8 8 9 ; Voss, Stuck, N r . 6 / 1 4 8 , dort auch die zahlreichen Variationen. So äußerte Menzel zu Stuck über den von Fontane so geschätzten »Wächter des Paradies«: »Junger Mann, das ist doch gewiß nicht Ihr bestes Bild« (zit. in: Das lachende Atelier, Künstleranekdoten des 19. Jahrhunderts, hrsg. von K a r l Scheffler, Zürich o. J., p. 16). Fontane, Brief an Heyse vom 2 3 . April 1 8 9 1 ; Der Briefwechsel zwischen Theodor Fontane und Paul Heyse, ed. Gotthard Erler, Berlin/Weimar 1 9 7 2 , p. 2 1 8 ; Fontane, Brief an die Tochter Mete vom 24. April 1 8 9 1 , Briefe (ed. Schreinert/Jolles), II, p. 108 sq.

Flammenschwert ein Hausknecht. Ja, jeder, der einen rausschmeißt, muß immer ein bißchen von einem Hausknecht haben, sonst hat er noch Schlimmeres.«280 Diese Mischung von Christlichem und Profanem erinnert an die Reflexion Effis nach ihrem Ehebruch über ihr HohenCremmer Elternhaus: »All das unschuldige Glück ihrer Kinderjahre stand mit einem Male wieder vor ihrer Seele, und im Augenblick war es ihr, als ob rote Husaren - denn es waren auch rote wie daheim in Hohen-Cremmen - so recht eigentlich die Hüter von Paradies und Unschuld seien« (314) Solch spielerisch witziger Umgang mit den Klischees der Zeit zeigt aber nur die eine, die anscheinend harmlos liebenswürdige Seite Fontanes. Daß Fontane in »Effi Briest« aus einer Vielzahl solch christlicher Klischees zugleich den Zwangscharakter einer gesellschaftlichen Wirklichkeit bis ins entlegen Nebensächliche hinein reproduziert hat, wird zu zeigen sein.

880

Franz von Stuck, Der Wächter des Paradieses, 1889, Privatbesitz; Voss, Stuck, N r . 10/90. Fontane, Brief an Heyse vom 2 3 . April 1 8 9 1 ; Briefwechsel zwischen Fontane und Heyse, p. 2 1 8 .

87

I V Rollenfixierung in » E f f i Briest« als Gesellschaftskritik

Bethlehem Der Exkurs zu Fontanes Voraussetzungen hat erbracht, daß das in der Anfangsszene von »Effi Briest« aufgefundene Phänomen des »disguised symbolism«, die Kaschierung des Bedeutenden im Beiläufigen zur Wahrung des realistischen Kontextes, im 19. Jahrhundert durchaus üblich war und von Fontane in der bildenden Kunst nachweislich geschätzt wurde. Ebenso geläufig und Fontane nachweislich bekannt war im 19. Jahrhundert die Verwendung dieses »disguised symbolism« zur Fixierung der jeweiligen Protagonisten auf jene christlichen Leitbilder der Gesellschaft, die in der Hoch- wie in der Trivialkunst, in der offiziellen Kunst ebenso wie in der des Fin de siècle als ihrer Kehrseite immer wieder propagiert wurden. Auch Fontane hat, wie gezeigt, auf diese christlichen Leitbilder der Gesellschaft seiner Zeit zur Charakterisierung insbesondere seiner weiblichen Romanfiguren immer wieder Bezug genommen. Solchermaßen bestätigt, darf unsere Interpretation fortfahren, auch die folgenden Romanszenen auf solche konventionellen Bilder - auf Klischees - zurückzuführen. Ist solche Ausrichtung doch, wie der Exkurs ebenfalls hat zeigen können, geradezu ein Wesensmerkmal der Fontaneschen Romankunst als Gesellschaftskunst. Dabei sind es immer wieder Bilder des christlichen Vorstellungsbereiches, die auch sonst bei Fontane und seinen mannigfachen Behandlungen der Eheproblematik den Konventionen entsprephend aufgerufen werden. In »Effi Briest« als dem Beispiel einer »Musterehe« kann deshalb solcher Bezug auf die christlichen Vorbilder um so weniger fehlen. Fontanes Verweise auf Bilder als prägende Muster des Geschehens sind jedoch, wie schon an der Anfangsszene von »Effi Briest« merklich wurde, von durchaus unterschiedlicher Deutlichkeit. Neben den enthüllenden Hinweis auf den Verkündigungsengel Gabriel treten verschwiegenere Andeutungen, so etwa wenn durch Kandidat Holzapfel auf das Paradies hingewiesen ist. Unsere Rekonstruktion der dem Geschehen zugrundeliegenden Musterbilder wird sich also zunächst von den deutlicheren Verweisen wie Bibelzitaten und ähnlichem leiten lassen müssen. Von den hierdurch meist mit großer 88

Eindeutigkeit aufgerufenen Bildkomplexen aus wird sie dann jene Vielfalt subtiler und diskreter Anspielungen zu berücksichtigen haben, die für sich allein genommen kaum eindeutig signifikant sind, die aber im Zusammenhang mit den anderen den bloßen Bildrahmen erst in ein tatsächliches Bild verwandeln. Daß ein solches Verfahren mit mehr oder weniger gravierenden A b weichungen Fontanes gegenüber dem zitierten Vorbild rechnen muß, ja daß in solchen Abweichungen häufig gerade der Reiz der Anspielung besteht, liegt auf der Hand. Welches Maß an Toleranz und Unschärfen dabei statthaft ist, ohne daß damit schon das ganze Verfahren an sich diskreditiert wäre, wird in » E f f i Briest« bereits am Beginn des Romans deutlich. Dort urteilt die Ritterschaftsrätin über Briests Vergleich, Pastor Niemeyer sähe aus wie Lot: »Unerhört. Und was soll es nur heißen? Erstlich weiß er nicht, wie Lot ausgesehen hat, und zweitens ist es eine grenzenlose Rücksichtslosigkeit gegen Hulda. Ein Glück, daß Niemeyer nur eine Tochter hat, dadurch fällt es eigentlich in sich zusammen.« (190) Aber doch nicht so ganz, denn selbst f ü r die Ritterschaftsrätin ist an diesem ganz und gar schiefen und in allen Einzelheiten unpassenden Bibelvergleich letztlich doch etwas dran, fährt sie doch fort: »In einem freilich hat er nur zu recht gehabt, in allem und jedem, was er über »Lots Frau«, unsere gute Frau Pastorin, sagte, die uns denn auch wirklich mit ihrer Torheit und Anmaßung den ganzen Sedanstag ruinierte.« (190) Auch für Fontanes Ausrichtung seines Romangeschehens und deren Personen auf biblische Vorbilder gilt also, was in anderem Zusammenhang Albrecht Schöne vom gleichen Phänomen bemerkte: »Eine besondere Schwierigkeit liegt dabei in dem höchst unterschiedlichen Deutlichkeitsgrad, der vom massiven, wörtlichen Zitat über jene Andeutung, deren Säkularisationscharakter im einzelnen oft nur hypothetisch ist und der wechselseitigen Bestätigung gehäufter Fälle innerhalb des gleichen Werkes bedarf, bis zur Anspielung von so leiser und verborgener A r t reicht, daß schon die bloße Benennung ihrer Verweisfunktion das zarte Gewebe der Bezüge überdehnt und den Sachverhalt verzeichnet.« 281 V o r solchen Verzeichnungen wird man sich zu hüten haben. Gleichwohl kann um der Deutlichkeit willen am A n f a n g dieses Interpretationsganges nicht strikt genug herausgestellt werden, was die Ehestiftung zwischen E f f i und Innstetten nach dem Muster der Verkündigung als dem Vorbild einer »Musterehe« am Beginn des Romans f ü r dessen Fortgang und seine Protagonisten bedeutet. E f f i und ihr reich beanlagtes, höchst ambivalentes 281

Schöne, Säkularisation als sprachbildende K r a f t , p. 26.

89

Naturell, in dem sich nach Fontane »Übermut« und »Grazie«, »große, natürliche Klugheit und viel Lebenslust und Herzensgüte« paarten (172), kann nach den im Verkündigungsbild verbindlich gewordenen Normen der Gesellschaft von dieser nicht anders denn in den überlieferten Denkkategorien der Eva-Maria-Typologie rezipiert werden. Was vom einen abweicht, ist das andere. Gleiches gilt aber auch f ü r Innstetten. Von E f f i und der ihr von der Gesellschaft beigebrachten Weisheit über das Männliche - »er ist Landrat, gute Figur und sehr männlich. ( . . . ) Freilich ist das die Hauptsache, >Weiber weiblich, Männer männlich< « ( 1 7 3 sq.) wird Innstetten sogleich auf jene im Verkündigungsbild fixierte Rolle des Mannes in einer Musterehe festgelegt. Der Mann hat, gleichsam hinter der idyllischen Fassade eines häuslich obsorgenden und beschützenden Josephs, die Stellvertreterschaft Gottes in der Familie als der kleinsten Zelle einer gottgefügten Ordnung zu figurieren. Fontanes Bemerkung über Romananfänge, »an den ersten drei Seiten hängt immer die ganze Geschichte«, 282 ist für » E f f i Briest« in besonderer Weise wahr. Mit der Verkündigung am A n f a n g des Romans ist der weitere Gang der Handlung bereits festgelegt. Es kommt, wie es kommen muß. Kessin, die nächste Station in E f f i s Leben, ist Bethlehem. Christlich wird die Topographie bereits, wenn die Mutter ihrer Tochter den Wunsch nach einem Pelz ausredet mit der Begründung, Kessin sei ja schließlich noch nicht Petersburg oder Archangel [= Erzengel]. Und E f f i antwortet: »Nein; aber ich bin doch auf dem Weg dahin . . . « (198) Wird damit von Fontane bereits auf das Ende der Geschichte vorausgewiesen, so hat doch Kessin in Hinterpommern zunächst das Gesicht von Bethlehem. »Eng und klein ist meine Hütte«, sagt Innstetten von dem einfachen Fachwerkhause (210). Für Besuche ist dieses nicht geeignet, weil es, wie E f f i ihrer Mutter schreibt, »doch eigentlich gar kein richtiges Haus ist, sondern nur eine Wohnung für zwei Menschen und auch das nur kaum«. (253) »Sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge«, heißt es bei Lukas 1 1 , 7 . Nicht Ochs und Esel, wohl aber ein Krokodil, ein Haifisch und ein schwarzes Huhn befinden sich ebenfalls im Haus. Bald ist Weihnachten. Eine kleine Krippe wird unter dem Baum aufgestellt, denn - so erzählt Fontane just am Heiligabend - das junge Paar erwartet selbst ein Kind. Und wenn dann, nach altpommerschem Weihnachtsbrauch ein Julklapp in den Hausflur fliegt, ist es natürlich ein Geschenk von den Heiligen Drei Königen. So heißt es auf dem vom Absender des Pakets, Alonzo Gieshübler, Besitzer der Mohrenapotheke in Kessin, beigegebenen Zettel : 282

90

Fontane, Briefe an Georg Friedländer, p. 260.

»Drei Könige kamen zum Heiligenchrist, Mohrenkönig einer gewesen ist ; Ein Mohrenapothekerlein Erscheinet heut mit Spezereien, Doch statt Weihrauch und Myrrhen, die nicht zur Stelle, Bringt er Pistazien- und Mandel-Morselle.« ( 2 j i )

D e m hier sehr deutlich angespielten christlichen Vorstellungsbereich durchaus entsprechend heißt denn auch das Personal im Kessiner Landratshaus Johanna, Christel und Friedrich. Das Glück des jungen Ehepaares könnte ungetrübt sein, allein so ist es nicht. V o n Gieshübler abgesehen zeigt sich Kessin als ein langweiliges Nest, und der umliegende Landadel ist nicht nur borniert, er ist bigott. Bei ihren dortigen Besuchen wird die noch kindlich unbekümmerte E f f i als leichtfertig, äußerlich, moralisch unentschieden und schließlich rundweg als Atheistin bezeichnet. Ausgewählt für eine Marienrolle ist E f f i damit erstmals und endgültig von der Gesellschaft auf ihre Evanatur hin festgelegt worden.

Daß

es dabei

eine Sidonie

von

Grasenabb

am

schlimmsten treibt - »einfach Atheistin, kein Zoll breit weniger, und dabei bleibt es« (223) - , hat eine besondere Pointe darin, daß 1870 König Johann von Sachsen einen Sidonienorden, einen Frauenorden für Verdienste auf dem Gebiet freiwillig helfender Liebe in Krieg und Frieden, gestiftet hatte. 283 Innstetten ist als Landrat aber selbst zu sehr Mitglied dieser Gesellschaft, ein Gott, der seine »Blicke ständig nach oben richten« (183) muß, um selber wieder höheren Göttern zu dienen, etwa wenn er von Bismarck nach V a r z i n gerufen wird, so daß E f f i sich inmitten ihrer neuen Umgebung schutzlos und einsam fühlt. Während einer solchen Visite Innstettens bei Bismarck erkennt denn auch die allein zu Hause gebliebene E f f i nach wenigen Ehemonaten, daß sie, anders als ihre Mama, der ihr zugedachten gesellschaftlichen Rolle nicht gewachsen ist. U n d während dieser Zweifel wird E f f i erstmals von dem Chinesen erschreckt (231), ein Spuk im landrätlichen Hause. Heimsuchung N i c h t glücklich waren für E f f i die bisherigen Stationen ihres Marienlebens. »Himmlische Tage« hatte sie nach der Verkündigung nur ohne Innstetten mit ihrem Vetter in Berlin erlebt (185). U n d Bethlehem, die Geburtsstätte ihres zukünftigen Kindes, erwies sich als Spukhaus, vollgestopft mit Tieren böser Vorbedeutung 284 und von einem merkwürdigen 283 Meyers Konversations-Lexikon, X I V , p. 940. 284

Nach Friedreich, Symbolik der Natur, p. 596, gilt das Krokodil als teuflisch, ebenso die schwarze Henne, p. 570.

91

Gespenst bewohnt. Merkwürdig fällt auch die »Heimsuchung« Mariens aus. Bei Lukas 1,39 wird hierüber mitgeteilt: «Maria aber stand auf in den Tagen und ging auf das Gebirge eilends zu einer Stadt in Juda und kam in das Haus des Zacharias und grüßte Elisabeth.« Auf dieses Geschehen der »Heimsuchung« ist bei Fontane deutlich Bezug genommen, wenn E f f i unmittelbar vor der Geburt ihres Kinde ausgerechnet am Johannistag, am Geburtstag also des Sohnes der Elisabeth, »einen weiteren Spaziergang« (261) in Kessin unternimmt, und zwar ganz allein. Dies ist deshalb so ungewöhnlich, weil zuvor ausdrücklich mitgeteilt wird, daß E f f i wegen des ständig verhinderten Innstetten auf Spaziergänge gänzlich verzichtet habe (259). Nicht ins Gebirge, wie bei Lukas, führt nun dieser weite Spaziergang der Schwangeren, aber doch immerhin aus der Stadt hinaus bis zum Strandhotel, wo E f f i »bei einem Glas Sherry und einer Flasche Biliner Wasser« sich träumend in weiteren Reisen nach Bornholm, Wisby und Stockholm ergeht (262). Erschrocken über diese Wünsche, die sie im Hinblick auf die bevorstehende Geburt ihres Kindes als eine mit dem Tode zu bestrafende Sünde empfindet, macht sie sich auf den Heimweg, der sie zufällig auf den Dünenkirchhof führt. Dort trifft E f f i nun nicht Elisabeth, aber merkwürdig genug die »kattolsche« Roswitha. Dieser war am heutigen Tage nun tatsächlich eine Heimsuchung im heutigen Wortsinn widerfahren. Gänzlich verlassen sitzt sie zum Sterben bereit neben dem Grab ihrer soeben beerdigten Herrschaft. Von dieser Roswitha, einer »guten, robusten Person« (262), glaubt E f f i , daß sie ihr angesichts ihrer Kindsnöte von Gott geschickt worden sei und bittet sie, als Kindespflegerin bei ihr zu bleiben. Das religiöse Pathos in der Begegnung von E f f i und Roswitha, die unter solch merkwürdigen Umständen zustande gekommen ist, wird in einem abschließenden Dialog offensichtlich. Nicht nur E f f i spricht von Gott und Gottes Hilfe, sondern »Roswitha war aufgesprungen und hatte die Hand der jungen Frau ergriffen und küßte sie mit Ungestüm« (265), und freute sich: »Ach, es ist doch ein Gott im Himmel, und wenn die N o t am größten ist, ist die Hilfe am nächsten«. (26$) Und kurz darauf nochmals: »O du lieber Gott, o du heil'ge Jungfrau Maria.« Geburt, Taufe, Marientod In der übernächsten Woche wird das Kind geboren, bloß ein Mädchen. Annie wird es zur allgemeinen Verwunderung von Roswitha genannt, die damit Neugeborenen ebenso orakelhaft Namen dekretiert wie Elisabeth (Lukas I,6o sqq.). Annie, mit diesem Namen hat Fontane das von

92

Anfang an Verfahrene der ganzen Ehe Effis kenntlich gemacht. Denn dieses Kind, das ebenso ernst werden wird wie Innstetten und ebenso schön wie die Ritterschaftsrätin Briest (362, 403), aber doch nicht deren beider Kind ist, obwohl die Mama viel besser in diese Ehe gepaßt hätte, dies Kind verrät durch seine Ähnlichkeit und Namensgebung die Großmutter als Anna und deren Tochter als Eva in einer ihr aufgetragenen Marienrolle. Annie, mit gleicher Vokaländerung wie E f f i gegenüber dem biblischen Vorbild, fixiert aber nicht nur erneut die dem christlichen Heilsgeschehen entnommenen Rollen aller Beteiligten, - sie wird in der Schule ihre beste Zensur in der Religion haben (407) - , sondern im Anagramm verweist ihr Name auch auf jene sündhaften Frauengestalten, die im Leben ihrer Mutter eine nicht unwichtige Rolle spielen werden, auf Nina, die unglückliche Geliebte des spukenden Chinesen, und auf Nana, die Titelfigur des >anstößigen< Zola-Romans. Annies Taufe wird auf den 15. August festgelegt, »trotzdem es der Napoleonstag war (was denn auch von Seiten einiger Familien beanstandet wurde) (...).« (267) Im kirchlichen Kalender aber ist der 15. August Maria Tod, der Tag des Endes ihres Erdenlebens und zugleich ihrer Aufnahme in den Himmel. Am Schluß des Tauffestes spricht E f f i erstmals im Roman einige wenige Sätze mit Crampas. Sündenfall

Am Tag nach der Taufe fährt E f f i mit Annie und Roswitha nach Hohen-Cremmen. Ende September wird sie nicht mehr als dieselbe nach Kessin zurückkehren. Zu Ende ist nach Maria Tod ihre bisher so duldsam übernommene Marienrolle. Vom hinterpommerschen Landadel hierin ohnehin stets angezweifelt und in ihrer Unbekümmertheit auch zusätzlich von Innstetten durch den spukenden Chinesen gemaßregelt, wird E f f i genau in jener Evarolle aus ihrem Jugendparadies nach Kessin zurückkehren, die ihr bereits ständig unterstellt wurde. Denn nicht anders kann diese Gesellschaft mit ihren überkommenen christlichen Denkkategorien eine leichtere Lebensart begreifen, - kokett und verführerisch nennt Innstetten E f f i am Tag nach ihrer Rückkehr (273) - , als im Bild der sündigen Eva. Innstetten, überrascht und erfreut über die Wandlung Effis und hierin - wie im Abschnitt über Fontanes Voraussetzungen gezeigt - durchaus im Einklang mit der offiziellen Gesellschaft und ihren geheimen Sehnsüchten und Wunschbildern, wird jedoch zugleich in seinen bisherigen Befürchtungen über seine sehr viel jüngere Frau bestärkt. Bei ihrem jetzt noch merklicher zutagetretenden naivbewußt liebenswürdigem Wesen, da hat der Teufel natürlich leichtes 93

Spiel, der auch im selben Moment, als E f f i Hohen-Cremmen und das Tugendsinnbild der »Gottesmauer« verspottet, in Gestalt von Crampas auftritt. Major von Crampas ist Landwehrbezirkskommandeur in Innstettens Landkreis. Beide, Crampas und Innstetten, kennen sich aus Paris, eine Bekanntschaft, die mythische Züge annimmt im Kontext mit dem vom alten Güldenklee zuvor (223) ausgesprochenen Vergleich von Paris und Babel. Die Mythologie - Neptun und Pluto, der Gott der Unterwelt wird auch bemüht, wenn Crampas an diesem Septembermorgen E f f i und Innstetten von seinem Bad im Meer berichtet, das Innstetten als »reine Renommisterei« bezeichnet (274). Daß Crampas bei einer solchen Vorliebe für das Ungewöhnliche, bei seinem Charme, seinem guten Aussehen und seiner Neigung zu Geselligkeit und Theater natürlich der Teufel sein muß, hat Fontane ihm auch bereits im Namen zudiktiert. Crampas, ein Ort an der Ostküste von Rügen, ist nachweislich das Vorbild für diesen Personennamen.885 Diese Erklärung darf jedoch nicht den Blick verstellen für den immer wieder angemerkten Anspielungsreichtum Fontanescher Namensgebung.286 Crampas alludiert nämlich offensichtlich auf Krampus, die Bezeichnung für einen Wadenkrampf, wie sie auch Kehreins »Fremdwörterbuch« von 1876 vermerkt. 287 Man muß nun nicht in Menzels »Christlicher Symbolik« noch die Bestätigung suchen, daß der Teufel immer dann, wenn er besonders adrett anzusehen ist wie Crampas, sich durch seine Gehbehinderung, einen Pferdefuß, verrät.288 Im Falle Crampas/Wadenkrampf darf man vielmehr als Vorbild direkt auf Mephisto aus Goethes Faust zurückgreifen. Dieser wird nämlich bezeichnenderweise von Innstetten auf der Hochzeitsreise wiederholt zitiert, als das junge Paar in Padua eintrifft, - »Er liegt in Padua begraben« - , und Innstetten wunderte sich, wie E f f i in einem Brief an ihre Eltern mitteilt, daß sie »diese Worte noch nie gehört habe. Schließlich aber sagte er, es sei eigentlich ganz gut und ein Vorzug, daß ich nichts 285

Theodor Fontane, Sämtliche Werke (Hanser), I V , p. 696. se« V g l . hierzu ausführlich Demetz, Fontane, pp. 169 sqq. 287 Joseph Kehrein, Fremdwörterbuch, Wiesbaden 1 8 6 7 (unveränderter N e u druck 1969), p. 369. Explizit als bocksbeiniger Teufel ist Krampus seit alters im Alpenländischen bekannt. Krampus gilt als Begleiter und böser Widerpart des H l . Nikolaus und dient vorzüglich als »Furchtmittel bei der E r ziehung«, vgl. Friedrich Haider, Tiroler Volksbrauch im Jahresablauf, Innsbruck/Wien/München 1968, pp. 446 u. 4 J 0 sqq. Z u m Krampus als teuflisch schreckhaftem Nikolausbegleiter s. ferner Artikel »Nikolaus« in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, hrsg. von Hanns BächtoldStäubli, V , Berlin/Leipzig 1 9 3 4 / 3 J , col. 1097. 288

94

Menzel, Christliche Symbolik, II, p. 4 7 3 .

davon wüßte.« (201) Spätestens jetzt, an diesem Septembermorgen, ist aber Mephisto, der Teufel, oder richtiger das, was eine christliche Gesellschaft dafür hält, in Gestalt von Crampas, der denn auch von Fontane tatsächlich mit einer kleinen Körperbehinderung ausgestattet wurde, - ein zerschmetterter Arm, Folge eines Liebesverhältnisses mit Duellausgang - , an E f f i herangetreten. »Ach Betty, daß wir uns eher gesehen hätten, daß dies alles anders wäre«, sagt Crampas im Entwurf 289 zum Roman zu E f f i , die dort noch Betty heißt. Und diese antwortet übermütig mit einem Heinezitat: »Doktor, sind Sie des Teufels«, aber ihre Stimme zitterte. Der Hauptmann hörte das. »Sie entrinnen mir nicht, Betty, (...).« Der Elegant als Teufel bzw. umgekehrt, der Teufel als Elegant und allgemeiner noch, Courtoisie als etwas Infernalisches, war der Fontanezeit eine durchaus geläufige Vorstellung. So heißt es 1890 in Meyers Konversations-Lexikon bezeichnenderweise von der Galanterie der Franzosen, durch sie sei »das Weib ( . . . ) fast unsittlich vergöttert« worden. Und man fährt fort, daß dieser »chevalreske Minnedienst, der nur zu oft die Grenzen des Erlaubten überschritt«, in Deutschland und England nur »einen wenig empfänglichen Boden« gefunden habe.290 Kein Wunder also, daß auf Hunts »Awakening conscience« (Abb. 16) ein wie Crampas künstlerisch dilettierender, eleganter Frackmann am Klavier als Antipode Christi im Kampf um die Seele des Mädchens das Prinzip des Diabolischen verkörpert. Den weltmännischen Verführer als Lebemann, den Frack- und Zylindermann, wie er dann besonders in der französischen Malerei bei Manet und den Impressionisten begegnet, hat gleichzeitig mit Hunt auch Rosenkranz in seiner »Ästhetik des Häßlichen« als Abkömmling des Teufels verurteilt: »Aber diese Noblesse ist nichts anderes als die jüngste Form der anthropologischen Erscheinung des satanischen Prinzips.« 291 Der Teufel im Frack findet sich dann auch mehrfach in der Kunst des Fin de siècle.292 Fontane war über die Er289

Zit. nach Fontane, Sämtliche Werke (Hanser), I V , p. 7 1 6 . 290 Meyers Konversations-Lexikon, X V I , p. 4 7 7 .

291

292

K a r l Rosenkranz, Ästhetik des Häßlichen, Königsberg 1 8 5 3 , p. 2 8 1 ; vgl. hierzu Hofmann, N a n a , pp. 52 sqq. V g l . etwa Félicien Rops, Titelblatt für »Les Diaboliques« (Hofstätter, Symbolismus, p. 188 u. A b b . 69) u. Alberto Martini, Agathe (Hofstätter, Jugendstil, A b b . 47). Der Galan im schwarzen A n z u g als den diabolischen Verführer kennt ebenso die Salonmalerei, vgl. Perrows »Dorfpredigt«, um i 8 6 0 (Richard Muther, Geschichte der Malerei im 19. Jahrhundert, München 1894, III, Abb. p. 346). Und auch auf der populären Chromolithographie (Abb. 18) eignen ja dem gepflegten lüsternen Geistlichen Züge des Diabolischen, vgl. p. 42. Den Teufel im Frack zeigt im 20. J h . u. a. noch 95

scheinungsformen des Teufels in der zeitgenössischen Kunst recht gut informiert, hat er doch Blombergs ikonographische Studie »Der Teufel und seine Gesellen in der bildenden Kunst« rezensiert. Sie verfolgt diesen »heiklen und schwierigen Gegenstand« - so Fontane Zeit an« bis zu »Grandville und Gustave Doré«.

293

»von frühester

Frankreich und ins-

besondere Paris als Inbegriff einer kultivierten Lebensart gilt denn auch dem hinterpommerschen Landadel in » E f f i Briest« als das Reich des Satanischen schlechthin. »Und wenn die Stadt, in der sie lebte, das Babel war«, so urteilt der alten Güldenklee über die französische Kaiserin Eugenie, »so war sie das Weib von Babel. Ich mag mich nicht deutlicher ausdrücken, denn ich weiß«, und er verneigte sich gegen E f f i , »was ich deutschen Frauen schuldig bin.« (224) N a c h diesem Ausblick über die zeitgenössische Vorstellung vom Elegant als Teufel kehre ich zum Ausgangspunkt, dem ersten Zusammentreffen von E f f i , Instetten und Crampas bei Fontane zurück. A n diesem Septembermorgen, am T a g nach der Rückkehr einer verwandelten E f f i aus Hohen-Cremmen, läßt Fontane mit E f f i , Instetten und Crampas also nicht

drei unterschiedliche

Charaktere

zusammentreffen,

deren

Handlungen zusammen eine Geschichte, wohl eine Liebesgeschichte ergäben. Sondern die Repräsentanten verschiedener Rollen stehen sich gegenüber. Rollen, die sie sich nicht ausgesucht haben, sondern die ihnen von

der Gesellschaft aufgezwungen worden sind, -

E v a , Gott

und

Teufel - , und ereignen muß sich nun der Sündenfall einer vom Teufel verführten E v a . Ein Vorspiel hierzu, gleichsam das Abstecken des Spielraumes, ist die Konfrontation der Antipoden Innstetten und Crampas, während eines der zahlreichen gemeinsamen Spazierritte mit E f f i . »Muß denn alles so furchtbar gesetzlich sein?« fragt Crampas und fügt unter Beifall von E f f i hinzu: »Alle Gesetzlichkeiten sind langweilig.« (278) Die Antwort Instettens ist seiner Rolle würdig. Ein Mann wie Sie, Crampas, der »recht gut weiß, daß es ohne Zucht und Ordnung nicht geht, ( . . . ) , der sollte doch eigentlich sowas nicht reden, auch nicht einmal im Spaß. Indessen, ich weiß schon, sie haben ein himmlisches Kehrmich-nicht-dran und denken, der Himmel wird nicht gleich einstürzen. Nein, gleich nicht. Aber mal kommt es.« (279) Auf

dieses Strafgericht Gottes hat Innstetten in seinem

eigenen

Hause bereits seit langem zugerüstet. E r hat E f f i als erster von dem

293

96

Georg Grosz, Illustation zu Heinrich Mann, Kobes, Berlin: Propyläen 1925 (neue Ausgabe: Berlin/Weimar: Aufbau Verlag 1969), p. 39. Fontane, Renzension zu »Der Teufel und seine Gesellen in der bildenden Kunst. Von Hugo Frhn. v. Blomberg, Berlin 1886«, N F A , X X I I I , 1, p. 562 sq.

Chinesen erzählt, der auf einer Hochzeit im landrätlichen Hause als letzter mit der Braut tanzte, die dann spurlos verschwindet, während er selber vierzehn Tage nach diesem rätselhaften >Ehebruch< stirbt und seitdem ruhelos durchs Landratshaus spukt (240 sq.). Innstetten ist es auch, der E f f i als erster das von ihm als »schön und schauerlich« bezeichnete Grab des Chinesen in den Dünen zeigt (205). Und Innstetten ist es auch, der alles für eine Spielerei erklärte und es doch seinem Hauspersonal durchaus nicht verbot, in dem leerstehenden Obergeschoß das Bildchen eines Chinesen anzubringen, und der immer dann, wenn er E f f i wegen Dienstgeschäften allein läßt, sie scherzhaft-ernsthaft beruhigt, der Chinese werde ja heute nicht wiederkommen, nachdem er schon einmal die allein zu Hause gebliebene E f f i zu Tode erschreckt hat. Mit dieser Geschichte des Chinesen etabliert also Innstetten gegenüber E f f i , ähnlich wie Gott gegenüber dem ersten Menschenpaar im Baum der Erkenntnis, ein Geheimnis, über das nur er beliebig zu verfügen scheint und das er jederzeit als Strafdrohung einzusetzen vermag; letzteres spätestens seitdem Innstetten sich trotz Effis Bitten geweigert hat, aus dem Spukhaus auszuziehen. Der Sinn der Chinesengeschichte als Erziehungsmittel Instettens zur Beschränkung ihrer Freiheit, als »eine Art Angstapparat aus Kalkül«, um sie »in Ordnung zu halten« (283 sq.), dies wird E f f i von Crampas auf einem von beiden allein unternommenen Spazierritt erklärt. Innstetten habe so eine mystische Richtung (280), sagte Crampas, er sei der geborene Pädagoge, der kirchlicher noch als Basedow und Pestalozzi eigentlich nach Schnepfenthal oder Bunzlau hingepaßt hätte (282). Dieser Verspottung Gottes durch den Teufel folgt die Aufklärung seines Geheimnisses. Erziehung durch Spuk sei nicht das richtige Wort. Aber erziehen auf einem Umweg, das will Instetten, und Crampas erläutert das: »Eine junge Frau ist eine junge Frau, und ein Landrat ist ein Landrat. Er kutschiert oft im Kreise umher, und dann ist das Haus allein und unbewohnt. Aber solch ein Spuk ist wie ein Cherub mit dem Schwert.« (283) Mit diesem Hinweis auf den »Cherub mit dem Schwert« hat sich Effis Befürchtung am Anfang ihrer Ehe erfüllt. Kessin ist nun tatsächlich Archangel, und der zugehörige Baum der Erkenntnis erscheint auch sogleich in Gestalt der Tanne auf dem Grab des Chinesen, auf das E f f i in unmittelbarem Anschluß an die Unterhaltung mit Crampas hinüberblickt (283) und dessen wirkliches Geheimnis ihr soeben enthüllt wurde. »Tannenäpfel« sind es bezeichnenderweise denn auch, die E f f i während eines Spazierganges mit Innstetten im Berliner Tiergarten aufsammelt, um dabei gleichzeitig mit Schrecken zu erfahren, daß Johanna das 97

Chinesenbildchen im Geldbeutel von Kessin nach Berlin mitgenommen habe (349). Effis Aufheben des Apfels von einem Baum, der mit dem Baum der Erkenntnis nach geläufiger Vorstellung den eindeutigen Hinweis auf den Tod gemeinsam hat,894 ist nur noch die nachgereichte explizite Symbolhandlung für ihre mit Crampas begangene Übertretung in Kessin. Eine Übertretung, die nach den Konventionen dieser Gesellschaft - wie im Abschnitt über Fontanes Voraussetzungen gezeigt - stets als >der Sündenfall· gilt. Zu dieser Übertretung war E f f i durch ihre Rolle ebenso gezwungen wie Innstetten zu ihrer Bestrafung. Einer christlichen oder sich doch zumindest christlich nennenden Gesellschaft, die am Tag von Effis Sündenfall während der Schlittenpartie zu Oberförster Ring durch Sidonie von Grasenabb nochmals ihre ganze Engherzigkeit und Selbstgefälligkeit zur Schau stellte, galt E f f i ihrem Naturell nach immer schon als das, was sie schließlich wurde. E f f i war schon verurteilt, bevor sie gefehlt hatte. Weder ihre Distanzierung von den gestellten Bildern der geziert-koketten Cora, - »Nein, so bin ich doch nicht gewesen« (298) —, noch das von ihr im Ringschen Hause gesehene Weltgerichtsbild von Memling (Abb. 53), - nach den Worten Lübkes »eine der ausführlichsten und gedankenvollsten Darstellungen, welche die Kunst des Nordens vom jüngsten Gericht, dem Paradies und der Hölle gegeben hat«295 - , noch die von Innstetten prophezeite Apokalypse »wenn der Himmel einstürzt«, die nun im Zusammentreffen von Nordlicht und Schloon wirklich wurde, noch das dreimal von ihr gesprochene Gebet der »Gottesmauer«, all das hat E f f i nicht helfen können. Daß der Sündenfall ausgerechnet am Weihnachsfest stattfindet, an dem Tag also, an dem Maria ihre Aufgabe als Gottesmutter erfüllt hat, ist eine geradezu peinigende Umkehr der Eva/Maria-Typologie durch Fontane. An jenem Fest, das nach christlichem Dogma der Geburt des Gottessohnes gilt, der den Menschen von der Schuld des Sündenfalles durch seine - Christi - Passion erlösen wird, an jenem Fest datiert bei Fontane der Sündenfall Effis und der Anfang ihrer bis zum Tode führenden Passion.

294 Vgl. Friedreich, Symbolik der Natur, p. 362 sq. Auch eine von Stucks Darstellungen des »Wächters des Paradieses«, die Fontane in Berlin gesehen hatte, verbindet Tannen und Sündenfall. Gerade dieses Bild findet Fontane »am poetischsten« von allen 3 Fassungen dieses Themas (Briefe, ed. Schreinert/Jolles, II, p. 108; Voss, Stuck, Abb. 1 7 / 1 4 3 ) . 2 9 5 Hans Memling, Das jüngste Gericht, um 1 4 7 1 , Danzig, Muzeum Pomorskie, früher Marienkirche. Lübke, Grundriß der Kunstgeschichte, p. 633. Zur weiteren Lit. auch gerade des 19. Jhs. s. Jan Bialostocki, Les musées de Pologne, Brüssel 1966 (= Les primitifs flamands, 1,9), pp. 5 ; sqq. 98

Passion Seine biblischen Wirkungen zeitigt der Sündenfall sogleich auch bei Effi. Sie altert, - »(...), das halb rührend, halb schelmisch Kindliche, was sie noch als Frau gehabt hatte, war hin« (318) - , und sie wird von Schuldgefühlen gequält. Der Chinese erscheint ihr nicht mehr als Spuk, sondern als ihr Gewissen, und sie erkennt, »Effi, du bist verloren«. (315) Zunächst aber kommt es anders. Innstetten wird nach Berlin ans Ministerium berufen. Effi, als sie dies erfährt, sinkt auf den Boden, umklammert Innstettens Knie und sagt in einem Tone, wie wenn sie betete, »Gott sei Dank«. (326) In Berlin sollst du es besser haben, verspricht Innstetten und denkt dabei an einen christlichen Haushalt mit hohen, bunten Glasfenstern, »Kaiser Wilhelm mit Szepter und Krone oder auch was Kirchliches, heilige Elisabeth oder Jungfrau Maria. Sagen wir Jungfrau Maria, das sind wir Roswitha schuldig«. (328) Wenn E f f i hierauf lachend antwortet, »So soll es sein«, so ist dies nicht zuletzt in der Hoffnung gesprochen, der Ortswechsel könne auch einen Rollenwechsel herbeiführen. Solche Hoffnung äußert sich bereits in der religiös gestimmten Diktion ihres Abschiedsbriefes an Crampas: »Daß wir hier abberufen wurden, ist mir wie ein Zeichen, daß ich noch zu Gnaden angenommen werden kann.« (333) Von solcher Hoffnung ist auch das folgende bestimmt. Entschlossen, nie wieder an den Ort ihres Ehebruchs zurückzukehren, reist E f f i mit Annie und Roswitha sogleich voraus, um in Berlin die Wohnung zu suchen. Nachdem sie gefunden ist, simuliert E f f i eine Krankheit. Am 24. März schreibt sie an Innstetten, eine Rückreise würde sich nicht mehr lohnen, da er ja in wenigen Tagen selbst nach Berlin nachkommen wolle. Am nächsten Tag trifft das erbetene Telegramm von Innstetten ein: »Einverstanden mit allem.« (334) Effis »Herz jubelte«, sie tritt in ihrer neuen Wohnung auf den »breiten, aufgemauerten Balkon« hinaus, jenseits der Kanalbrücke lag »der Tiergarten vor ihr, dessen Bäume schon überall einen grünen Schimmer zeigten, darüber aber ein klarer, blauer Himmel und eine lachende Sonne«. (344) Deutlich wird die Rückwendung der Romanhandlung auf ihren Beginn. Es ist alles nochmals wie am Anfang, wie in HohenCremmen. Auch hier ein ummauerter Bezirk im Freien, der ans Haus anschließt, Bäume, Wasser und ein strahlender Himmel. Der beschriebene Tag ist der 25. März. Es ist jener Tag — Fontane teilt es wiederum nicht mit —, an dem im Kirchenjahr Marien Verkündigung gefeiert wird. Effi, so schließt Fontane hier, »erhob den Blick und faltete die Hände. »Nun, mit Gott, ein neues Leben! Es soll anders werden.« (344) Alles scheint sich unter günstigeren Vorzeichen nochmals zu wieder99

holen, doch der Schein täuscht. Bereits die Wohnung, obwohl in der Stadt durch ihre Gartenlage - in unmittelbarer Nähe zum Tiergarten und zum »Zoologischen« - Hohen-Cremmen so vergleichbar, macht durch den Straßennamen - Keithstraße - deutlich, daß man dem Gesetz, unter dem man angetreten ist, nicht entkommt. Sind doch die Keiths dafür berühmt geworden, daß sie die Ansprüche Preußens auf dem Schlachtfeld bis zur Selbstaufgabe vertreten haben. Ein Keith jedoch - Peter Karl Christoph von Keith, der die Fluchtpläne des Kronprinzen Friedrich aus Preußen unterstützte - wurde wegen Verstoßes gegen die bestehende Ordnung »in effigie« gehängt.296 Gegenüber diesem im Straßennamen ihrer Wohnung in seiner ganzen Unbeugsamkeit sich manifestierenden Gesetz kann es auch für E f f i keine Ausnahme geben. Auf den Sündenfall, so fordert es eine christliche Gesellschaft nach der Lehre ihrer beiden christlichen Kirchen, die in Johanna und Roswitha ihre Repräsentanten auch in der neuen Berliner Wohnung haben, muß die Passion folgen. »Ein junges Lämmchen, weiß wie der Schnee«, habe ihm Frau von Papen beim Abschied in Kessin über E f f i gesagt, so erzählt Innstetten (346), und Effis Gesicht verfärbt sich und macht sie in ihrer Rolle als Opferlamm kenntlich. Die Passionsspiele in Oberammergau sind denn auch für den Urlaub - Pendant zur Hochzeitsreise - geplant (349), doch dann verhindert, entschließt man sich für einen Aufenthalt auf Rügen. Dort jedoch wird E f f i durch das Dorf Crampas und die Menschenopferstätten der Wenden so verängstigt, daß man nach Kopenhagen ausweicht. Uber Hohen-Cremmen fährt man nach Berlin zurück, Innstetten voran, E f f i bleibt mit Annie und Roswitha noch einige Tage. Am Abend vor ihrer Abreise, am Abend auch vor ihrem Hochzeitstag, reflektiert E f f i beim Anblick des Ziergartens nochmals ihr bisherigen Leben, die überraschende Verlobung mit Innstetten, die erste Begegnung mit Crampas, über die Macht dessen, »was man den Teufel nenne« und über die Barmherzigkeit Gottes. »Und sie legte den Kopf in ihre Arme und weinte bitterlich« (359), womit Fontane wörtlich an die Verleugnung Petri während der Passion anschließt (Matthäus 26,75; Lukas 22,65). Nach dieser Umkehrung des Paradieses zum Ort der Schuldmeditation läßt Fontane nach sieben Jahren auf einer Seite erzählt das offizielle Passionsgeschehen beginnen mit einem Ereignis, das man als pointierte Verkehrung einer Marienfreude bezeichnen könnte. Am »Johannistag«, bei Fontane bereits im >Kessiner< Teil des Romans der Tag der »Heimsuchung«, bricht E f f i abermals im Zusammenhang mit einer 299

Meyers Konversations-Lexikon, I X , p. 663 sq.

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Schwangerschaft zu einer ungleich längeren Reise nach Bad Schwalbach und Bad Ems auf, zusammen mit der Zwicker. Und wie bereits in Kessin, verbindet Fontane auch diesmal die Anspielung auf die Marienheimsuchung mit einer Heimsuchung im heute geläufigen Sprachgebrauch. So kommt durch einen unbedeutenden Zwischenfall - Annie stürzt unglücklich auf einem »Abkratzer« im Treppenhaus und blutet stark (367) - , durch diesen Zwischenfall, die anschließende Suche nach einer Binde und die damit aufgefundenen Briefe kommt in Effis Berliner Heim ihre lang zurückliegende Verfehlung ans Licht.297 Von dieser Heimsuchung, - Fontane nimmt hier das biblische Vorbild drastisch beim Wort - , der unmittelbar das Duell, der Tod Crampas und Effis Verstoßung folgen, erfährt E f f i durch ihre Mutter, und »aus ihrem Gesicht war alles Blut fort«. (390) Rot, blutfarben also, war auch das Bändchen, das um die Korrespondenz mit Crampas gewickelt war, und als eine »Briefschreibepassion« wurde die ganze fatale Sache auch von der Zwicker bezeichnet (394). Auf den Kreuzberg, - »Gott segne die »Stadtverwaltung«, sagt Rummschüttel von dessen bevorstehender Terrassierung (395) - , blickt E f f i nach ihrer Verstoßung aus der Gesellschaft vom Fenster ihrer kleinen Berliner Wohnung. Dabei ist für die nun zahlreich werdenden Meditationen Effis am Fenster zu berücksichtigen, daß die Flügelfenster der Fontanezeit in der Mitte noch durchweg ein — wie es Fontane nennt - »Kreuzholz« bilden und daß die Allusion dieses Balkenkreuzes im Fenster auf das Kreuz Christi dem 19. Jahrhundert durchaus noch geläufig war.298 Außer dem Kreuzberg kann E f f i vom Fenster ihrer Eremitage auch die Christuskirche und den Matthäikirchhof sehen, die ihr so wie einer reuigen und büß vollen Sünderin die ständige Kontemplation von Kreuz und Tod ermöglicht. Zum Gottesdienst in der Christuskirche, die ebenso wie die Kirchhofsmauer in HohenCremmen ganz in Efeu steht, ist E f f i jedoch nur selten gegangen, denn der Pfarrer in der Kirche des Erlösers spricht »immer so viel vom Alten Testament«. (401) Einen Höhepunkt erreicht Effis Passion durch das Wiedersehen mit Annie. Diese ist inzwischen ungefähr zwölf Jahre alt, so daß der Verdacht nicht ganz von der Hand zu weisen ist, Fontane habe hier aber2,7

N i c h t nur die enthüllenden Briefe sind, wie stets angemerkt, ein durchaus konventionelles Motiv der Ehebruchthematik, vgl. auch Eggs »Past and Present«, I (Abb. 40). Uberaus geläufig ist auch, daß durch eine Erkrankung des Kindes die Verfehlung der Mutter offenbar wird. V g l . hierzu mit zahlreichen Beispielen aus der französischen Literatur des 19. Jhs. Michel Mélot, » L a mauvaise mère«. Etude d'une thème romantique dans l'estampe et la littérature, in: Gazette des Beaux-Arts, L X X I X , 1 9 7 2 , pp. 1 6 7 sqq.

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mais die Verkehrung einer Marienfreude gegeben: die Wiederfindung des zwölfjährigen Jesu. Vom Wunsch erfüllt, das bei Innstetten lebende Kind wiederzusehen, erreicht E f f i dies durch Vermittlung der Ministerin. Was ihr aber Freude hätte sein sollen, wird ihr unerträglich, als sie sieht, welchen Einfluß Innstetten auf das Kind genommen hat. Nicht mehr ihr Kind, sondern in der dreimal wiederholten Antwort, »O gewiß, wenn ich darf«, ist Annie deutlich ein vom »Herrn« abgerichtetes Geschöpf. Nach dem von E f f i energisch abgekürzten Besuch, an den sich ein kniend vor geöffnetem Fenster gesprochenes Gebet Effis anschließt, bricht sie zusammen. Leblos, mit anbgewandtem Gesicht, liegt E f f i am Boden ihrer Wohnung in der Königgrätzer Straße (409). »Die Preußen haben viele Siegestage«, war E f f i am Geburtstag von Annie, dem Tag von Königgrätz, von Doktor Hannemann prophezeit worden (267). Erlösung

Daß E f f i die ihr von der Gesellschaft verhängte Strafe bis zu ihrem natürlichen Tode erträgt, ist keineswegs Rücksicht auf Konventionen. Fontanes Romane kennen durchaus den Selbstmord auch der weiblichen Titelfigur. Ertragen kann E f f i die ihr zugemutete Strafe bis zu ihrem Ende, weil sie in einer sich christlich nennenden Gesellschaft von deren Außenseitern dennoch Liebe und Zuneigung erfahren hat. So von der »kattolschen« Roswitha. Die evangelische Johanna ist dagegen beim »Herrn« geblieben. Bei Annies Besuch hat sie Effis Wohnung nicht betreten, sondern lieber bei der Christuskirche gewartet. Liebe empfing E f f i auch von ihren Eltern, dem Ritterschaftsrat, der abseits der Gesellschaft auf seinen Gütern lebt (183), und schließlich auch von ihrer Mutter. Von dem, was offiziell Gesellschaft heißen darf, hat E f f i außer von Rummschüttel, - »Er gilt ärztlich nicht ersten Ranges« (344) - , und der Ministerin keinerlei Wohltaten mehr empfangen. Rollo, ihr Hund, wurde dagegen Effis treuester Begleiter, was Briest bereits früher zu der Bemerkung Anlaß gab, »aber mitunter ist mir's doch, als ob die Kreatur besser wäre als der Mensch«. (271) Die ausführliche Erzählung der Elternliebe, der Fürsorge Roswithas und der Anhänglichkeit Rollos wollen nicht als versöhnliche Sentimentalitäten Fontanes verstanden werden. Sie sind vielmehr unterschiedliche Ausprägungen der Menschlichkeit, die Fontane stets als höchsten sittlichen Wert bezeichnet hat. »Das Menschliche steht nicht bloß höher, see N F A , Π Ι , ρ. 1 5 4 ; vgl. ferner hier pp. 1 3 u. 2 1 . Das Fensterkreuz als A l l u sion auf das Kreuz Christi begegnet in der Malerei des 19. Jhs. u. a. bei Caspar D a v i d Friedrich (vgl. H . Börsch-Supan, Deutsche Romantik, Mün-

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es ist das Einzige, was gilt«, heißt es gleichzeitig mit »Effi Briest« in einem Brief Fontanes.299 Daß sich ein Hund zu solcher Menschlichkeit besser versteht als die offizielle Gesellschaft, ist beißender Spott. Nicht bloß Ironie aber ist, daß im protestantischen Preußen ausgerechnet die katholische Roswitha bei Fontane zur hauptsächlichen Vertreterin christlicher Nächstenliebe wird. Denn deutlich wird am Ende des Romans von E f f i die Einsicht reflektiert, daß der christliche Gott und die sogenannte christliche Gesellschaft zwei verschiedene Dinge sind. E f f i spielt am Ende des Romans nicht bloß eine Rolle, sondern Fontane läßt sie sich der Rolle bewußt werden, die sie hat spielen müssen. Bereits bei ihren Meditationen in Hohen-Cremmen nach der Kopenhagener Reise bemerkt E f f i erstaunt, daß sie weniger Schuld für ihre Verfehlung als Schuld vor der Gesellschaft empfinde (358). Vor der Abreise nach Bad Ems erklärt ihr auch Roswitha, daß sie wegen ihres unehelichen Kindes wohl vor ihrem Vater, aber nicht vor Gott Angst gehabt habe: »Wenn man sich vor seinem Vater so fürchtet, wie ich mich gefürchtet habe, dann fürchtet man sich nicht so sehr vor Gott. Ich habe bloß immer gedacht, der liebe Gott sei gut und werde mir armen Wurm schon helfen.« (363 sq.) Und diesen Unterschied zwischen einer irdischen Strafinstanz und jener Transzendenz, auf die sie sich beruft und in deren Namen sie zu strafen vorgibt, erkennt dann auch E f f i nach dem Besuch Annies in der Königgrätzer Straße. In einem Zustand äußerster Erregung spricht sie nach Annies Abgang jenes bereits erwähnte Gebet, in dem sie sich für ihr Tun schuldig bekennt, aber schuldig nicht in dem Maße, wie sie von der Gesellschaft bestraft wird. Und im folgenden unterscheidet sie - bezeichnend genug - Innstetten und Gott: »Denn das hier, mit dem Kind, das bist nicht du, Gott, der mich strafen will, das ist er, bloß er! ( . . . ) Mich ekelt, was ich getan; aber was mich noch mehr ekelt, das ist eure Tugend. Weg mit euch. Ich muß leben, aber ewig wird es ja wohl nicht dauern.« (408 sq.) Das revolutionäre Pathos »Weg mit euch« wird E f f i am Ende des Romans nicht wiederholen. Denn es widerspricht völlig Fontanes in »Effi Briest« vorgetragener pessimistischer Gesellschaftsauffassung. Gesellschaft wird, wie im folgenden Abschnitt ausführlich noch darzulegen

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chen 1 9 7 2 , p. 54) u. Dante Gabriel Rossetti (vgl. K a t . Präraffaeliten, Baden-Baden 1974, Abb. p. 2 0 1 , N r . 120). Z u r bedeutsamen Meditation am Fenster bei Fontane allg. s. Diethelm Brüggemann, Fontanes Allegorien, in: Neue Rundschau, L X X X I I , 1 9 7 1 , pp. 291 u. 4 8 7 sqq. Z u r Fenstermeditation als einem überaus beliebten Bildthema auch in der gleichzeitigen Malerei vgl. J . A . Schmoll gen. Eisenwerth, Fensterbilder, in: Beiträge zur M o t i v kunde des 19. Jahrhunderts, München (1970), pp. 13 sqq. Fontane, Briefe an G . Friedländer, p. 2 7 3 .

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ist, von Fontane hier vorzüglich als Herrschaftsmittel vorgestellt zur Etablierung einer Ordnung, die allemal die Ordnung der Stärkeren ist. Schuldlos hieran, weil diesem Mechanismus von Gesellschaft ebenso ausgeliefert wie sie selber, kann E f f i deshalb vor ihrem Tod über Innstetten zu ihrer Mutter sagen: »(...) ich sterbe mit Gott und Menschen versöhnt, auch versöhnt mit ihm.« Und sie fährt fort mit Einsicht in die gesellschaftlichen Zwänge: »In der Geschichte mit dem armen Crampas - ja, was sollt er am Ende anders tun?« (42j) Nicht Gott hat sie verurteilt, sondern eine in seinem Namen richtende Gesellschaftsordnung, der auch Innstetten hilflos ausgeliefert ist. Diesen Mechanismus durchschaut zu haben und zugleich erfahren zu haben, daß Menschlichkeit diesen Mechanismus durchbrechen kann, das ist die versöhnliche Einsicht, die E f f i von ihrer Passion erlöst. »Wie schön dieser Sommer! Daß ich noch so glücklich sein könnte, liebe Mama, vor einem Jahre hätte ich's nicht gedacht.« (423) Bei ihrem letzten Gespräch mit E f f i wird ihrer Mutter klar, »daß es zu Ende sei.« (424) »Es war einen Monat später, und der September ging auf die Neige«, und dann erwähnt Fontane erstmals Effis Grab. Im August also ist E f f i gestorben. Am 1 j.August ist Mariä Tod und Himmelfahrt. »Mir war, als flog ich in den Himmel«, sagte die wieder in einem weißblauen Kittelkleid auf der Schaukel sitzende E f f i kurz vor ihrem Tode zu Niemeyer und fragt ihn: »Ob ich wohl hineinkomme?« »Ja, E f f i , du wirst«, antwortet Niemeyer (414), der als Pastor nach Ansicht der Ritterschaftsrätin Briest aber »doch eigentlich eine Null« ist. (427) In jenem Ziergarten liegt E f f i begraben, dem Fontane im »disguised symbolism« des Verkündigungstableaus am Anfang des Romans bereits alle Stationen ihres zukünftigen Lebens einbeschrieben hat: Sündenfall, Passion, Erlösung. Auf ihrem Grabstein »stand nichts als »Effi Briest< und darunter ein Kreuz«. (426) Der

Gesellschaftsgötze

Fontanes Rückgriff auf die Bibel als Muster für »Effi Briest« ist Kritik an der Gesellschaft seiner Zeit, die diese Religion zur Aufrechterhaltung ihrer sozialen Ordnung in Dienst nimmt. Denn, — so zeigt es Fontane durch die Ausrichtung seiner Romanpersonen auf christliche Vorbilder - , nicht anders sind in dieser Gesellschaft die Rollen unter den Geschlechtern verteilt, als daß dem Mann unabwendbar die Position Gottes zukommt, während die Frau wie Maria seinem Befehl Folge zu leisten hat. Nach christlicher Lehre ist zwar der freiwillige Gehorsam der Maria das 104

Entscheidende, in der Vorstellungswelt der christlichen Gesellschaft ist hiervon jedoch wenig übriggeblieben. Denn wo die Reproduktion dieses christlich archaischen Verhältnisses versagt, wo wie bei E f f i eigene Wünsche und Vorstellungen anstelle bloß passiver Demut treten, da setzt unvermeidlich die Reglementierung ein. Und kommt es weitergehend zur Verfehlung der Frau gegenüber der ihr vorgeschriebenen Rolle, so vollzieht sich unerbittlich an ihr die Strafe Gottes, ausgeführt durch seine irdischen Stellvertreter. Sich dieser Pflicht zu versagen, ist diesem im herrschenden System unmöglich. Nicht nur E f f i erkennt dies am Ende des Romans, - » In der Geschichte mit dem armen Crampas - ja, was sollt er am Ende anders tun?« (425) - , sondern auch Innstetten als ihr vermeintlicher Gegenspieler kommt zur nämlichen Einsicht in den ausweglosen Zwangscharakter eines gesellschaftlichen Daseins, das sich seine Begründung im Religiösen leiht. So sagt Geheimrat Wüllersdorf, von Innstetten als Sekundant gebeten, wenige Stunden vor dem Duell zu dem beistimmenden Innstetten: »Das mit dem >Gottesgerichtdas zu weite Feld< zwar so nicht unmittelbar unterschreiben will, worin aber letztlich auch er die Folgen dessen sieht, »was man sich verheiraten nennt« (271) - angesichts solch gesellschaftlich institutionalisierter Unterdrückung der Frau ist es durchaus kein Zufall, wenn es in »Effi Briest« gerade das Verhalten einer ganz einfachen Frau ist, wodurch von den hohen Beamten dieses sich christlich legitimierenden Staates das Unwahre der von ihnen repräsentierten Gesellschaftsordnung deutlich empfunden wird. Gemeint ist jene Szene am Ende des Romans, in der Innstetten und Willersdorf über Roswitha und ihre Bitte um Rollo für E f f i zu der Einsicht gelangen, »die ist uns über«. Und Innstetten fährt fort: »Diese schlichten Worte mit ihrer gewollten oder vielleicht auch nicht gewollten Anklage haben mich wieder vollends aus dem Häuschen gebracht.« (419) Wenn Lukács' Bemerkung zutreffend ist, daß Fontane in »Effi Briest« »seinem Bismarckschen-Preußen-Deutschland ein neues Jena« prophezeit habe,353 dann gilt dies insbesondere für diese Szene. Die natürliche Menschlichkeit einer ungebildeten Frau, die selber Opfer der gesellschaftlich vorgeschriebenen Rollen geworden ist, vermag das Selbstgefühl der offiziellen Garanten dieser Gesellschaftsordnung im höchsten Maße zu erschüttern. Dieser Kulminationspunkt Fontanescher Gesellschaftskritik in »Effi Briest« macht zugleich eindeutig, wie sehr Fontanes Attacken gegen die Gesellschaft seiner Zeit im Bezugssystem von Heliotrop und christlicher Gesellschaft artikuliert sind und ganz offensichtlich nicht als Ansprüche einer unterdrückten Klasse.354 Denn nicht als Repräsentantin des vierten 351 352 353 354

Hierzu ausführlich Müller-Seidel, Fontane, pp. 1 7 sq. u. 1 5 2 sqq. Hierauf hat erstmals Klotz, Muse und Helios, p. 3 5 sq., hingewiesen. Lukács, D e r alte Fontane, p. 306. Vgl. auch Lübbe, Fontane und die Gesellschaft, p. 400: »Fontanes Gesellschaftskritik fehlt ( . . . ) jeder klassenkämpferische Sinn. Ihre Basis ist nicht die Uberzeugung von der geschichtlichen Notwendigkeit einer die Eigentumsverhältnisse betreffenden sozialen Revolution, sondern die Frage nach den Möglichkeiten innerhalb der modernen Gesellschaft, eine im Herzen gründende Menschlichkeit zu bewahren.« D a ß der Unterdrückung durch die Gesellschaft, wie sie sich beispielhaft im Verhältnis des Mannes gegenüber der Frau zeigt, überhaupt etwas im Bereich des ökonomischen korresponI2

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Standes wird Roswitha hier zur Gegenfigur der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung. Vielmehr dadurch, daß die »ganz selbstsuchtslose und unendlich gutmütige« Roswitha (347) die vorgeblich christlichen Ideale dieser Gesellschaft tatsächlich lebt. Erst von diesem christlichen Hintergrund aus, von den christlich begründeten Ansprüchen dieser Gesellschaft und deren Verwirklichung im Leben, wird Fontanes Kritik an der Gesellschaft seiner Zeit überhaupt in ihren so peinigenden Malicen einsichtig. Ohne diesen christlichen Hintergrund kann »Effi Briest« in der ganzen Fülle Fontanescher Ironie und ihren überaus komischen, ja oft geradezu parodistischen Auslassung und Freizügigkeiten gar nicht zureichend verstanden werden. Roswitha ist hierfür ein gutes Beispiel. Peinigend und peinlich für diese staatliche Ordnung von durchaus evangelischem Bekenntnis ist bereits, daß die so menschliche Roswitha katholisch ist. »Die Katholiken, unsere Brüder, die wir, auch wenn wir sie bekämpfen, achten müssen«, läßt Fontane in schöner Ironisierung christlicher Gesittung den alten Herrn von Borcke bei Annies Tauffest sagen (268). Das Katholische, das einem nach Roswithas Äußerung in Preußen das Leben »immer noch schwerer und saurer« macht (264), wird jedoch von Roswitha keineswegs so repräsentiert, wie es sein sollte. Roswitha geht weder zum Gottesdienst noch zur Beichte (265, 363). Sie figuriert somit das ganze Gegenteil eines offiziellen Kirchenglaubens, und sei es auch nur den der Minorität. Ausgerechnet sie ist es aber, die den christlichen Haupttugenden der Liebe und der Barmherzigkeit zu einem Sitz im Leben verhilft. Die evangelische Johanna dagegen hat, statt die verstoßene E f f i zu besuchen, lieber bei der Christuskirche gewartet (406 sq.). Bei jener Kirche, deren Pfarrer gerade nicht vom Erlöser predigt, sondern nur vom strafenden Gott des Alten Testamentes (401). Johanna hat auch, wie Innstetten verdrossen feststellt, »dieses Sich-in-Szene-Setzen« (418 sq.) der Selbstgerechten, wie es ebenso dem hinterpommerschen Landadel und seinen Pastoren eignete, von denen E f f i fand, daß sie »wie kleine Päpste behandelt wurden« (255). Die sich so viel besser dünkenden Evangelischen betragen sich aber nicht nur ebenso wie die von ihnen verachteten Katholischen, sondern durch die Art ihres christlichen Handelns stehen sie für Fontane schließlich sogar auf einer Stufe mit den Heiden. So kann Instetten in seiner offiziellen Rolle als Garant einer unnachsichtigen, vermeintlich göttlichen Ordnung einerseits mit dem diert, ist bei Fontane nur angedeutet in einer Bemerkung der Trippeli. Fürst Kotschukoff, berichtet die Tripelli, besaß tausend Seelen, d. i. Leibeigene, und sie verspüre keine Neigung, »seine tausend und einste Seele zu sein.«

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»Cochon« genannten Erzbischof von Beauvais in Bezug gebracht werden, der die Jungfrau von Orléans zum Feuertod verurteilte (281). Andererseits aber auch mit jenen waffenstarrenden asiatischen Potentaten, die ihre Frauen als ihr Eigentum mit ins Grab nehmen (214). Durch solch maliziöse Analogien hat Fontane in »Effi Briest« den Anspruch des Christentums und nun gar den Spezialanspruch der Evangelischen auf eine besonders gottgefällige Menschlichkeit deutlich ins Lächerliche gezogen. Nichts, so äußert Fontane bereits bei früherer Gelegenheit, habe so abgewirtschaftet wie das Luthertum: »Alles Blech, alles ödeste Phrase, keine Spur von Natur, von Herz. ( . . . ) Ich kenne keinen Menschen, zu dessen Glaubensbekenntniß, wenn es sich mit dem lutherischen deckt, ich das geringste Vertrauen hätte; nur offener Unglauben, Redensartlichkeit und Heuchelei treten mir entgegen.«355 Und als ein Äußerstes an christlicher Dekadenz gibt Fontane auch den Gebrauch christlicher Leitbilder in diesem deutschen Staat preußischer Prägung der Lächerlichkeit preis. Wieder ist es die Gestalt der Roswitha, an der Fontanes Polemik in ihrer ganzen Drastik erkenntlich wird. Schon durch ihren auch von E f f i sogleich als katholisch erkannten Namen verweist Roswitha auf die jeder Frau zugemutete Marienrolle. Ist doch die Rose das traditionelle Sinnbild Mariens als der Mutter der Liebe und des Erbarmens. 35 ' Maria wird denn auch stets von Roswitha angerufen. So auch bei ihrem Wunsch, daß das ihr im Namen der Moral angetane Schicksal E f f i erspart bleiben möge: »Ach, gnädigste Frau, die Heil'ge Mutter Gottes bewahre Sie vor solchem Elend.« (322) Gerade ihre Marienrolle ist es aber, aus der dann auch für E f f i ein gleiches Elend, die Verstoßung aus der Gesellschaft und die Wegnahme des Kindes erwächst. Die hier sichtbar werdenden Paradoxien der christlichen Gesellschaft werden von Fontane in peinigender Ironie noch weiter ins Absurde getrieben. So wenn Roswitha die ihr von seiten dieser christlichen Gesellschaft zugefügten Schrecknisse auf die christliche Märtyrervorstellung bezieht: »Ach, gnäd'ge Frau, Gott und seine Heiligen führen uns wunderbar, und das Unglück, das uns trifft, das hat auch sein Glück.« (322) Und Fontane zögert nicht, wie schon im Abschnitt >Erlösung< gezeigt, auch E f f i an den Verheißungen des christlichen Martyriums teilhaben zu lassen. Daß Niederlagen die eigentlichen Siege sind, diese Uberzeugung 355

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Fontane, Briefe an Georg Friedländer, p. 2 2 7 . V g l . pp. ι j 6 sqq. u. Attwood, Fontane und das Preußentum, V g l . etwa Menzel, Christliche Symbolik, II, p. 2 7 9 u. und Mythologie der N a t u r , pp. 2 2 0 sqq. Ferner M . J . Geschichte eines Symbols, Leipzig 1 8 7 3 .

Brinkmann, Fontane, p. 230. Friedreich, Symbolik Schleiden, Die Rose.

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christlichen Märtyrertums, hat Fontane jedoch schon mit dem Beginn von Effis Ehe ironisch verknüpft. In deutlicher Allusion auf das konstantinische »in hoc signo vinces« läßt er einige »feine Kenner« über die Darbietungen von Bertha und Hertha bei Effis Polterabend sagen: »(...) Steckenbleiben und Schluchzen und Unverständlichkeit - in diesem Zeichen ( . . . ) werde immer am entschiedensten gesiegt.« (196) Eben hieran erinnert sich später E f f i , als sie über den Spuk in Innstettens Reisehandbuch erschrocken, sich lieber wieder ihren Polterabend und die Zwillinge vergegenwärtigt: wie diese »vor Tränen nicht weiterkonnten« und dazu Vetter Briest, der »mit erstaunlicher Würde behauptete, solche Tränen öffneten einem das Paradies« (228). Die ihr von der Gesellschaft zugefügten Leiden haben schließlich für E f f i wieder die Tore ihres Hohen-Cremmener Jugendparadieses geöffnet. Dort darf E f f i - Fontane teilt es erst auf den allerletzten Seiten mit - einen Apfel vom Baum pflücken und »tapfer« hineinbeißen (423), um gleich anschließend im Text zu sagen: »Ich war immer eine schlechte Christin.« (423) Und trotz dieses wiederholten >Sündenfalles< ziert Fontane das Grab Effis, die im gleichen Monat wie Maria gestorben ist, gleichwohl mit einem Kreuz, dem Zeichen der Erlösung für ein gottgefälliges Leben. Und weiterhin schmückt das Grab der Heliotrop, jenes Sinnbild eines ständig auf Gott hin ausgerichteten und damit - wie schon Drexels »Heliotropium« (Abb. 54) zeigte — eines in der imitatio Christi geführten Lebens. Mit diesem Romanschluß hat Fontane die christlichen Ideale der Gesellschaft seiner Zeit im höchsten Maße ironisiert und zugleich ernst genommen. Ironisiert, indem er die traditionellen Rollen von Maria und Eva, von Tugend und Laster, nun gerade parodistisch vertauschte und in eins gehen ließ. Ernst genommen, weil er die Segnungen jener Religion, nach der diese Gesellschaft sich auszurichten vorgibt, dem Opfer dieser Gesellschaft zukommen ließ. Daß der Nachvollzug der Leidensgeschichte zur Heilsgeschichte wird, diesen Grundgedanken christlicher Lehre, hat Fontane in Kritik an dieser christlichen Gesellschaft für deren Opfer in Anspruch genommen. »Je größer das Kreuz, je näher der Himmel«, diese noch von Richter illustrierte Devise christlichen Ehelebens (Abb. 37), wird bei Fontane zum tröstlichen Versprechen für E f f i , die an eben dieser christlichen Ehe gescheitert ist. In den christlichen Kategorien dieser Gesellschaft hat Fontane E f f i vor dieser Gesellschaft gerechtfertigt. Den hier im Bezugsfeld von Heliotrop und Rollenfixierung deutlich gewordenen Invektiven, die Fontane in »Effi Briest« mit subtiler Bosheit und allen Brechungen der Ironie bis hin zur Travestie gegen die christliche Gesellschaft seiner Zeit gerichtet hat, ihnen entspricht bei Fontane 130

ein gleichzeitiges Interesse für Oskar Panizzas Drama »Das Liebeskonzil. Eine Himmelstragödie in 5 Aufzügen«. Diese 1895 erschienene Dichtung hatte dem Autor Gefängnis eingebracht, weil er in einer an Heine erinnernden Weise den christlichen Dogmenglauben verspottet hatte. Fontane nannte Panizzas Drama »Ein ganz bedeutendes Buch«, und weiterhin: »Panizzas Buch hat seine Berechtigung in der zum unerbittlichen Dogma erhobenen Legende. Wer mir zumutet, daß ich die Zeugungsgeschichte Christi glauben soll, wer von mir verlangt, daß ich mir den Himmel in Übereinstimmung mit den präraffaelitischen Malern ausgestalten soll: Gott in der Mitte, links Maria, rechts Christus, Heiliger Geist im Hintergrund als Strahlensonne, zu Füßen ein Apostelkranz, dann ein Kranz von Propheten, dann eine Girlande von Heiligen - wer mir das zumutet, der zwingt mich zu Panizza hinüber.«357 Gerade dieses aber, wogegen Fontane sich hier so entschieden verwahrt, hatte man E f f i zugemutet: ein Leben nach präraffaelitischen, nach frommen mittelalterlichen Bildern. Diese haben - wie gezeigt - mit ihrer Vorstellung von der Eva/Maria-Typologie und der Heiligen Familie noch für das ganze 19. Jahrhundert von den Nazarenern bis hin zum Fin de siècle die gesellschaftlichen Leitbilder für die Auffassung von der Frau, der Ehe und der Familie geprägt. Was einst frommes Wunschbild war, wurde nun aber zu Domestikationsveranstaltungen. Eben dies attackiert Fontane in »Effi Briest« durch seine Ironisierung der biblischen Urbilder. Er macht aber zugleich auch eindeutig, daß die anstehenden Probleme durch solch religionsmythologische Perspektiven nicht nur nicht gelöst werden können, sondern gerade in diesen ihren Ursprung haben. Darin liegt nun aber die Nähe Fontanes zu jenen Malern begründet, die er als nicht-präraffaelitisch bezeichnet hat und die wir heute »die Präraffaeliten« nennen. Diese haben auf ihren frühen, von Fontane gesehenen Bildern die Rollenfixierung zwar nicht in gleicher Weise wie Fontane verspottet und ad absurdum getrieben; wiewohl Millais' »Mariana« (Abb. 15) ja schon sehr in diese Richtung geht. Aber sie haben doch bereits — wie dann auch Fontane - die Fixierung auf christliche Rollen zum Ausgangspunkt ihrer Gesellschaftskritik gewählt. Sie haben das gänzlich Unnatürliche dieser christlichen Rollen betont, sie haben auf den Gefängnischarakter solcher Rollenfixierung hingewiesen und haben dies wie auch Fontane weniger im Sinne eines Plädoyers für eine Frauenemanzipation getan denn als eine ganz allgemeine Kritik an der Gesellschaft von ihren sozial unterdrücktesten Mitgliedern aus. Wie 357

F o n t a n e an Maximilian Harden vom 8. A u g u s t F o n t a n e , p. 1 5 8 sq. u. Reuter, Fontane, II, p. 805.

1895;

vgl.

Brinkmann,

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Fontane haben sie dabei die ökonomische Komponente nahezu völlig ausgeklammert. Auch bei den Präraffaeliten ist es vielmehr die moralische Korruptheit, das Heuchlerische der christlichen Gesinnung dieser zeitgenössischen Gesellschaft, das zum Movens ihrer Kritik wird. 358 Und wie Fontane fordern auch sie bereits von dieser Gesellschaft nach deren eigenen Prinzipien Nachsicht und Verzeihung für jene, die vor den Ansprüchen dieser Gesellschaft gefehlt haben. Dies um so mehr, wenn sich die >Sünderinnen< wie schon die junge Frau in Hunts »Awakening conscience« (Abb. 16) und später dann auch E f f i wie ein Heliotrop von selber wieder dem Licht, dem Hellen und Guten zuwenden. Daß jedoch diese nur noch ihrem Namen nach christliche Gesellschaft in ihren Befürchtungen vor dem Natürlichen und in ihrem Bemühen um die Aufrechterhaltung ihrer überkommenen Ordnung zu solchem Verzeihen nicht bereit ist, diese pessimistische Einsicht stellt Fontanes »Effi Briest« in die Nachfolge von Hunts »Awakening conscience« und der Ruskinschen Interpretation dieses präraffaelitischen Bildes. Keineswegs um eine Kritik des Gesellschaftlichen schlechthin, noch um eine Kritik christlicher Glaubenssätze oder gar um ein Verdikt gegenüber der mittelalterlichen religiösen Malerei ist es also Fontane in »Effi Briest« zu tun. Ganz im Gegenteil, gerade die spätmittelalterliche Kunst hat Fontane - wie gezeigt - im höchsten Maße als echt und wahr geschätzt. Und auch die von ihr dargestellte christliche Religion galt ihm, aufgefaßt als tätige Nächstenliebe, neben Schopenhauers Philosophie des Mitleids als die eigentlich humane Verhaltensweise.359 Nicht also gegen das Christentum als Religion, sondern gegen die Gesellschaft, die diese Religion in Dienst nimmt, gegen die von ihr als Ordnungsinstanzen aufgerichteten biblischen Mythologeme, gegen ihre zum unverrückbaren Dogma erhobenen frommen mittelalterlichen Leitbilder und deren andauernde blindmachende Wirksamkeit im Alltag, hiergegen hat Fontane in »Effi Briest« Stellung bezogen. »Effi Briest« ist als Abfolge gestellter biblischer Bilder - überspitzt, aber doch nicht ganz unberechtigt formuliert — Fontanes Nacherzählung der Bibel in der Auslegung einer sich christlich nennenden und sich christlich legitimierenden Gesellschaft. Eine Lösungsmöglichkeit der dargestellten Konflikte eröffnet nach Fontane einzig die von ihm im Sinnbild des Heliotrop angezeigte Apologie des Humanen. Denn menschlich wäre diese Gesellschaft erst, wenn sie sich auf diesen Heliotropismus, auf diese innere Gesetzlichkeit des 359

Schiff, Zeitkritik und Zeitflucht in der Malerei der Präraffaeliten, p. 169. 359 V g l . Brinkmann, Fontane, p. 1 1 4 sq.

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Menschen begründen würde. In ihr wäre Gehorsam nicht mehr Zwang, sondern, in der Metaphorik des Heliotrops gesprochen, liebende Hinwendung zu dem Liebenden. Historisch möglich war eine solche gesellschaftliche Ordnung spätestens seit dem Christentum. Darin liegt das ungeheuer Anstößige der christlichen Gesellschaft für Fontane, daß diese all das wieder zurücknimmt, was gerade ihr Gottesbild mit seinen Zügen der Gnade und der Liebe von anderen Religionen unterscheidet. Ante oder post Christum natum, das macht so keinen Unterschied mehr. Die Unterdrückung des Natürlichen, des Menschlichen, durch das »tyrannisierende Gesellschafts-Etwas« im Namen einer Religion bleibt ungebrochen. Das Kultopfer, der Götzendienst, so zeigt es Fontane in »Effi Briest«, hält unverändert an. Resignation also am Ende bei Fontane in »Effi Briest«? J a und nein. »Einfach hier bleiben und Resignation üben«, wird tatsächlich Innstetten angesichts seiner Einsicht in den Zwangscharakter dieser Gesellschaft von seinem Kollegen, Geheimrat von Willersdorf, angeraten (420). »Resignieren können«, so brieflich Fontane 1891, »ist ein Glück und beinahe eine Tugend.«360 Der Grund hierfür ist Fontanes differenzierter Gesellschaftskritik in »Effi Briest« leicht zu entnehmen. Denn jede Gesellschaft, so zeigt es der Abschnitt >Der Gesellschaftsgötze