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German Pages [182] Year 2021
lustrum Internationale Forschungsberichte aus dem Bereich des klassischen Altertums Herausgegeben von Marcus Deufert und Irmgard Männlein-Robert
band 61 2019
LUSTRUM INTERNATIONALE FORSCHUNGSBERICHTE AUS DEM BEREICH DES KLASSISCHEN ALTERTUMS
herausgegeben von MARCUS DEUFERT und IRMGARD MÄNNLEIN-ROBERT
Band 61 · 2019
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Daniela Weiland, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-80236-2 ISSN 2197-3849
Homer 1977–2000 (3)
von Edzard Visser (Basel) (Fortsetzung von: Lustrum 54, 2012, 209–343; Lustrum 56, 2014, 109–284)
Arbogast Schmitt praeceptori et adiutori
Inhalt VII. Metrik, Prosodie und Intonation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Allgemeines; Forschungsberichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 2. Die Entstehungsgeschichte des Hexameters . . . . . . . . . . . . . . . 14 3. Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 a. Vers und Satz, Enjambement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 b. Versstruktur und Kolon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 4. Prosodische und metrische Anomalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 a. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 b. Plosiv + Liquida . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 c. Synizese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 d. Hiat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 e. versus spondiaci . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 f. correptio epica . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 5. Intonation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 6. Das Verhältnis der homerischen zu den nachhomerischen Hexametern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 7. Sonstiges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 VIII. Homer und oral poetry . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2. Überblicksdarstellungen und Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . 56 3. Der äußere Rahmen oraler Epik: Vortrag, Sänger, Publikum . . . . . 66 4. Die Technik der Versbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 a. Epitheton und Nomen-Epitheton-Formel . . . . . . . . . . . . . . 74 b. Formel und Verb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 c. doublets und clustering . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 d. Kompositionstechnik auf Versebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 e. Typische Szenen und ihr Einfluß auf die Komposition . . . . . . . 101 f. Komposition auf Werksebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 5. Weiterentwicklungen des Parry-Lord-Modells von 1977 bis 2000: A. B. Lord, G. Nagy und J. M. Foley . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 6. Orale und homerische Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 a. Terminologisches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 b. Vergleiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 c. Sprachliche Befunde aus dem Homertext . . . . . . . . . . . . . . . 137 d. ›Neue Poetik‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 e. Soziologie und Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 f. Parallelstellen und Statistiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 7. Oral-poetry-Theorie versus schriftliche Komposition . . . . . . . . . . 151
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Inhalt
8. Orale Tradition konkret im Homertext . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 a. Grammatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 b. Begriffe, Verse, Szenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 9. Die oral-poetry-Theorie und die Fixierung des Homertexts . . . . . . 175
VII. Metrik, Prosodie und Intonation 1207. L. A u g e n t i , La ninna nanna per Ettore e il pianto di Penelope, Maia 52, 2000, 453–454 1208. H. R. B a r n e s , Enjambement and Oral Composition, TAPhA 109, 1979, 1–10 1209. –, The Colometric Structure of Homeric Hexameter, GRBS 27, 1986, 125–150 1210. –, The Structure of the Elegiac Hexameter: A Comparison of the Structure of Elegiac and Stichic Hexameter Verse, in: M. F a n t u z z i / R. P r e t a g o s t i n i (1223), vol. 1, 135–161 1211. N. B e r g , Parergon metricum: Der Ursprung des griechischen Hexa meters, MSS 37, 1978, 11–36 1212. N. B e r g / D. T. H a u g , Dividing Homer (continued): Innovation versus Tradition in Homer: An Overlooked Piece of Evidence, SO 75, 2000, 5–23 1213. Ph. B r u n e t , Les dactyles lyriques de la tragédie, REG 112, 1999, 127–140 1214. M. C a n t i l e n a , Enjambement e poesia esametrica orale: una verifica, Ferrara 1980 1215. –, Il ponte di Nicanore, in: M. F a n t u z z i / R. P r e t a g o s t i n i (1222), vol. 1, 9–67 1216. D. L. C l a y m a n , Sentence Length in Greek Hexameter Poetry, in: R. G r o t j a h n (1233), 107–136 1217. D. L. C l a y m a n / Th. V a n N o r t w i c k , Enjambement in Greek Hexameter Poetry, TAPhA 107, 1977, 85–92 1218. E. C r e s p o , Elementos antiguos y modernos en la prosodia homérica, Salamanca 1977 1219. S. G. D a i t z , On Reading Homer Aloud: To Pause or not to Pause, AJPh 112, 1991, 149–160 1220. G. D a n e k , ›Singing Homer‹. Überlegungen zu Sprechintonation und Epengesang, WHB 31, 1989, 1–15 1221. G. D a n e k / S. H a g e l , Homer-Singen, WHB 37, 1995, 5–20 1222. M. F a n t u z z i / R. P r e t a g o s t i n i (Hrsgg.), Struttura e storia dell’ esametro greco, 2 vol., Rom 1995–1996 1223. M. F i n k e l b e r g , A Note on some Metrical Irregularities in Homer, CPh 83, 1988, 206–211 1224. J. M. F o l e y , The Scansion of Beowulf in Its Indo-European Context, in: A. R e n o i r / A. H e r n a n d e z (Hrsgg.), Approaches to Beowulfian Scansion, Berkeley 1982, 7–17 1225. A. F o r e s t i n , Le vers de l’Iliade, sa musique, toute sa musique, 2 vol., Reims 1989, 1990
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1226. P. F o r t a s s i e r , L’hiatus expressif dans l’Iliade et dans l’Odyssée, Louvain 1989 1227. –, Le spondaïque expressif dans l’Iliade et dans l’Odyssée. Louvain / Paris, 1995 1228. H. F r ä n k e l , L’esametro di Omero e di Callimaco, in: M. F a n t u z z i / R. P r e t a g o s t i n i (1222), vol. 2, 173–269 (italienische Übersetzung des Aufsatzes ›Der kallimachische und homerische Hexameter‹ [in: Wege und Formen frühgriechischen Denkens, München 1962, 100–156]) 1229. F. A. G a r c í a R o m e r o , La cesura media en el hexámetro homérico, CFC 18, 983–1984, 361–381 1230. B. G e n t i l i , Preistoria e formazione dell’esametro, in: C. B r i l l a n t e / M. C a n t i l e n a / C. O. P a v e s e (Hrsgg.), Poemi epici rapsodici non omerici e la tradizione orale, Atti del convegno di Venezia 28–30 settembre 1977, Padua 1981, 75–106 1231. B. G e n t i l i / P. G i a n n i n i , Preistoria e formazione dell’esametro, QUCC 26, 1977, 7–51; wiederabgedruckt in: M. F a n t u z z i / R. P r e t a g o s t i n i (1222), vol. 2, 11–62 1232. N. A. G r e e n b e r g , A Statistical Comparison of the Hexameter Verse in Iliad, i, Theognis, and Solon, QUCC 49, 1985, 63–75 1233. R. G r o t j a h n (Hrsg.), Hexameterstudien, Bochum 1981 1234. C. H i g b i e , Measure and Music, Enjambement and Sentence Structure in the Iliad, Oxford 1990 1235. –, Archaic Hexameter: the Iliad, Theogony, and Erga, in: M. F a n t u z z i / R. P r e t a g o s t i n i (1222), vol. 1, 69–119 1236. A. H o e k s t r a , Epic Verse before Homer. Three studies, Amsterdam 1981 1237. H. M. H o e n i g s w a l d , The Prosody of the Epic Adonius and its Prehistory, ICS 16, 1991, 1–15 1238. –, Lipous’ androteta, elision, and prosody, in: R. M. R o s e / J. F a r r e l l (Hrsgg.), Nomodeiktes: Greek studies in Honor of Martin Ostwald, Ann Arbor 1993, 459–465 1239. N. H o p k i n s o n , Juxtaposed Prosodic Variants in Greek and Latin poetry, Glotta 60, 1982, 162–177 1240. U. J o b , Annotated Bibliography on the Statistical Study of Hexameter Verse, in: R. G r o t j a h n (1233), 226–262 1241. S. T. K e l l y , Homeric Correption and the Metrical Distinctions between Speeches and Narrative, Diss. Harvard, New York 1991 1242. E. M a g n e l l i , Studi recente sull’origine dell’esametro, in: M. F a n t u z z i / R. P r e t a g o s t i n i (1222), 2, 111–137 1243. M. Ch. M a r t i n e l l i , Da Fränkel a Kahane: considerazioni sulla divisione in ›cola‹ dell’esametro omerico, Gaia 5, 2001, 119–129
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1244. S. M i c h a e l s o n / A. Q. M o r t o n / W. C. W a k e , Sentence Length Distributions in Greek Hexameter Verse and Homer, Association for Literary and Linguistic Computing Bulletin 6, 1978, 254–267 1245. F. M i c h e l a z z o , Per una rilettura dell’esametro di Hermann Fränkel, in: M. F a n t u z z i / R. P r e t a g o s t i n i (1222), 2, 139–172 1246. F. M o n t a n a r i , I versi ›sbagliati‹ di Omero e la filologia antica, in: M. F a n t u z z i / R. P r e t a g o s t i n i (1222), vol. 1, 265–287 1247. G. N a g y , On the Origins of the Greek Hexameter: Synchronic and Diachronic Perspectives, in: B. B r o g y a n y i (Hrsg.), Studies in Diachronic, Synchronic, and Typological Linguistics. Festschrift for Oswald Szemerényi on the Occasion of his 65th Birthday, Amsterdam 1979, 611–631 1248. –, Metrical Convergences and Divergences in Early Greek Poetry and Song, in: B. B r o g y a n y i / R. L i p p (Hrsgg.), Historical philology: Greek, Latin, and Romance; Papers in Honor of Oswald Szemerényi, Amsterdam / Philadelphia 1992, 151–185; mit geringfügigen Korrekturen wiederabgedruckt in: M. F a n t u z z i / R. P r e t a g o s t i n i [1222], vol. 2, 63–110) 1249. –, Is there an Etymology for the Dactylic Hexameter? in: J. H. J a s a n o f f / H. C. M e l c h e r t / L. O l i v e r (Hrsgg.), Mír curad: Studies in Honor of Calvert Watkins, Innsbruck 1998, 495–508 1250. Z. R i t o ó k , Vermutungen zum Ursprung des griechischen Hexameters, Philologus 131, 1987, 2–18 1251. J. R o b a e y , La sentenza e la chiusa epica (Virgilio e Omero). Prove per l’enjambement, QUCC N. S. 14, 1983, 113–128 1252. H. B. R o s é n , La structure de l’énoncé poétique d’Homère: rythme tonique et rythme syntaxique, in: LALIES. Actes des sessions de linguistique et de littérature, 10, Paris 1992, 329–343 1253. L. E. R o s s i , Estensione e valore del colon nell’ esametro omerico, StudUrb 39, 1965, 239–273; mit Zusätzen von M. Fantuzzi wiederabgedruckt in: M. F a n t u z z i / R. P r e t a g o s t i n i (1222), 271–320 1254. R. S c h m i e l , Rhythm and Accent. Texture in Greek epic poetry, in: R. G r o t j a h n (1233), 1–32 1255. M. S t e i n r ü c k , Hexameter und ihre Rhythmen, Lexis 16, 1998, 9–28 1256. E. T i c h y , Hom. ἀνδροτῆτα und die Vorgeschichte des daktylischen Hexa meters, Glotta 59, 1981, 28–67 1257. –, Beobachtungen zur homerischen Synizese, MSS 40, 1981, 187–222 1258. G. N. V a s i l a r o s , Fränkels metrisches Schema bei Apollonios Rhodios: Untersuchungen zum Zusammenfallen der metrischen Grenzen einer absoluten Partizipialkonstruktion mit den Zäsuren und Dihäresen des Hexameters, Athena 81, 1993, 149–171 1259. P. V i v a n t e , Homeric Rhythm: A Philosophical Study, Westport / London 1997
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1260. C. W e f e l m e i e r , Anmerkungen zum Rhythmus des homerischen Verses, Hermes 122, 1994, 1–12 1261. M. L. W e s t , The Singing of Homer and the Modes of Early Greek Music, JHS 101, 1981, 113–129 1262. –, Homer’s Meter, in: I. M o r r i s / B. B. P o w e l l (262 [= New Companion; s. Kap. I, Lustrum 54, 2012, 226]), 218–237 1263. W. F. W y a t t , Homeric Hiatus, Glotta 70, 1992, 20–30
1. Allgemeines; Forschungsberichte Arbeiten zur homerischen Prosodie und Metrik sind im Verhältnis zu den meisten anderen Forschungsbereichen eher wenige zu verzeichnen. Die meisten der im folgenden behandelten Publikationen haben den griechischen Hexameter allgemein zum Thema, insbesondere die Geschichte seiner Entstehung. Da aber der Hexameter die formale Basis der homerischen Epen ist, wird in diesen Untersuchungen auf deren Wortlaut sehr häufig Bezug genommen, was eine Aufnahme auch in diesem Zusammenhang als angemessen erscheinen läßt. Zudem ist eine Berücksichtigung dieses Themenbereichs über den Einfluß der Metrik auf den homerischen Stil zu begründen. Konkret ist dies im folgenden Kapitel VIII zur oral poetry ausgeführt. An Forschungsübersichten gibt es für den Berichtszeitraum ebenfalls nur wenige, was dadurch erklärt werden kann, daß die Ergebnisse der Forschung sich primär in den jeweils neu entstandenen Metriken niederschlagen. Die einzige Arbeit, in welcher es um die Forschungsgeschichte ausschließlich zum Hexameter geht, ist die kommentierte Bibliographie zu statistischen Studien zum Hexameter von U. J o b (1240), aber auch diese bezieht sich nicht spezifisch auf den homerischen Hexameter. Die Bibliographie umfaßt den Zeitraum von 1866 bis 1981 und berücksichtigt 249 Arbeiten. Die Kommentare sind häufig sehr knapp und erfassen bei den neueren Arbeiten nur die Ergebnisse; von den hier angeführten Arbeiten sind für den Berichtszeitraum nur zwei einschlägig zum Thema ›Homerischer Hexameter‹; in der Literaturliste sind dies die Nummern 1216 und 1254. Der wichtigste Überblick zur homerischen Metrik stammt von M. L. W e s t und wurde für den 1997 erschienenen New Companion to Homer (282 [= New Companion; s. Bericht, Kap. I, Lustrum 54, 2012, 226]) neu erstellt (1262). Der Text, der auf wenigen Seiten alles Wesentliche darbietet, hat das typische Gepräge eines Handbuchartikels: In knapper, definitorischer Sprache und präzise aufbauender Struktur werden die Grunddaten zum homerischen Hexameter dargestellt. Diese sind: Prosodie, das Schema, Zäsuren und Pausen, Wortgestalt und Plazierung – hier werden die Meyer’schen Gesetze und die Hermann’sche Brücke zutreffend als Resultat aus den Plazierungspräferenzen bestimmter prosodischer Strukturen abgeleitet, die wichtigen Aufsätze von E. G. O’Neill jr. und H. N. Porter zu den Plazierungen
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der Schemata jedoch nicht erwähnt1 –, in einigem Umfang prosodische Lizenzen und Anomalien. Ungewöhnlich ist das Kapitel zur mimetischen Verwendung des Metrums (etwa in H 238), über den Homertext hinaus weist der Abschnitt über die Genese des Hexameters. Die gesamte Darstellung verrät eine souveräne Kenntnis der Materie; auf eine diachronische Dimension, also zumindest kurze Hinweise auf die Forschungsentwicklung, hat W e s t verzichtet. Sehr instruktiv ist der Überblick von E. M a g n e l l i zur Hexameterforschung zwischen 1974 und 1990 (1242). Er bespricht hier im wesentlichen zustimmend neben Arbeiten zur Entstehung des Hexameters wie die von J. P. Vigorita (s. Anm. 12), N. Berg (1211) oder E. Tichy (1256), geht aber auch auf Arbeiten in Verbindung mit der oral-poetry-Theorie ein, in denen es nicht um den diachronischen Aspekt geht, sondern um den Einfluß der metrischen Form auf den Wortlaut der homerischen Hexameter, hier vor allem auf Th. Jahn2 und E. Visser (1529; s. hier S. 95–97). An Neuauflagen oder Übersetzungen wichtiger Arbeiten zur homerischen Metrik sind zwei zu verzeichnen. Die erste ist die italienische Übersetzung von H. F r ä n k e l s Arbeit in der zweiten, maßgebenden Fassung von 1962 (die erste Fassung ist von 1955; die Ursprungsfassung stammt von 1926) zum homerischen und kallimachischen Hexameter (1228; s. auch Anm. 14). Die zweite ist der Wiederabdruck die Untersuchung von L. E. R o s s i zum Kolon (mit Ergänzungen des Herausgebers M. F a n t u z z i ; 1253). Beide sind in dem umfangreichen 1995 und 1996 erschienenen Sammelwerk Struttura e storia dell’esametro greco (1222) erschienen. Zu Fränkels Arbeiten von 1926 (1) und von 1962 (2) hat F. M i c h e l a z z o eine sorgfältige Analyse erstellt (1245). Zunächst zeichnet er die argumentative Struktur von (1) nach, wo der Versbau des Kallimachos im Vordergrund steht, während in (2) ein generell gültiges System über den rhythmischen Aufbau des griechischen Hexameters vorgestellt werden soll. Danach gibt M i c h e l a z z o eine lettura guidata durch (2), in der er vor allem darauf hinweist, daß Fränkel die ältere, gleichsam negative Funktion der Zäsuren (›hier darf kein Wortende sein‹) durch eine positive ersetzt hat (›dieses oder jenes Wort führt in diesem oder jenem Kolon geradezu automatisch zu einem Einschnitt‹). So bleibt als sein Fazit in der Frage danach, was den Begriff des Kolons ausmacht, das Kriterium des Sinnes das entscheidende. M i c h e l a z z o betont zudem, daß Fränkels Modell genügend Raum für Flexibilität lasse, um die Aussageintention des Dichters nicht als zu sehr vom Metrum determiniert auffassen zu müssen. Die Arbeit von R o s s i erneut abzudrucken, ist insofern sinnvoll, als hier noch einmal die enorme Flexibilität hinsichtlich der möglichen Ausdehnung eines jeden Kolons durch eine Fülle von Belegen unmittelbar evident wird. So zeigt der Autor, daß etwa der Begriff βῆ (er / sie ging) in seiner minimalen Ausdehnung nur ein Longum 1 E. G. O’Neill Jr., The Localization of Metrical Word-types in the Greek Hexameter, YCS 8, 1942, 105–178; H. N. Porter, The Early Greek Hexameter, YCS 12, 1950, 3–63. 2 Th. Jahn, Das Wortfeld ›Seele – Geist‹ in der Sprache Homers, München 1987. Auf diese Arbeit wird wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung in dem Kapitel eingegangen, in dem die homerische Konzeption von Seele und Geist behandelt wird.
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(dreimal belegt) umfaßt, in anderer Form aber bis zu acht Moren lang sein kann. Der letztgenannte Fall liegt vor in Χ 137 mit dem Wortlaut βῆ δὲ φοβηθείς. Hier ist der Aussagekern ὀπίσω δὲ λίπε πύλας (2. und 3. Kolon), das 4. Kolon mit der ›essential idea‹ βῆ wird um ein inhaltlich sekundäres φοβηθείς – es wurde bereits unmittelbar zuvor gesagt, daß Hektor bei Achilleus’ Ansturm gegen ihn voller Furcht ist – auf Kolonlänge (in der Form eines Adoneus) ausgedehnt.3 R o s s i kann so für ein Kolon mit der Aussageintention βῆ 27 Varianten angeben. Aus diesen Angaben ergibt sich für die Wesensbestimmung des Kolons ein permanentes Wechselspiel zwischen der metrisch-rhythmischen und der inhaltlichen Dimension: Ein Kolon entsteht auf Grund der Zäsurpunkte in dem Umfang, wie die inhaltlich dominierenden Elemente auf Grund ihrer Plazierungspräferenzen ihn festlegen. 2. Die Entstehungsgeschichte des Hexameters Die Entstehungsgeschichte des Hexameters ist seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem wesentlichen Gegenstand der metrischen Forschung allgemein geworden. In ihr wurde vor allem die These einer Entstehung aus indogermanischen lyrischen Maßen vertreten, bis 1977 vor allem von Th. Bergk4, R. Westphal5, H. Usener6, R. Jakobson7, C. Watkins8, A. T. Cole9, M. L. West10, G. Nagy11, J. P. Vigorita12. Demgegenüber hat K. Marót13 die Genese aus der Zusammenfügung bestimmter Phrasen oder Formeln abgeleitet; dieses Modell nimmt so Bezug auf die Arbeiten von H. Fränkel von 192614 und von M. Parry zwischen 1928–193315, bei denen allerdings die hexametrische Form nicht primär auf ihre Genese hin, sondern auf ihre Struktur hin betrachtet wird. 3 Genaueres zu einer solchen Rekonstruktion der Versgenese s. in Kapitel VIII das Modell von Visser (1529; dort S. 95–97). 4 Über das älteste Versmaß der Griechen, Progr. Freiburg i. Br. 1854 (wiederabgedruckt in: Kleine philologische Schriften, II, Halle 1886, 392–408). 5 Zur vergleichenden metrik der indogermanischen völker, ZVS 9, 1860, 437–458. 6 Altgriechischer Versbau. Ein Versuch vergleichender Metrik, Bonn 1887. 7 Studies in Comparative Slavic Metrics, Oxford Slavonic Papers 3, 1952, 21–66 (wieder abgedruckt in: Selected Writings, Den Haag 1966, 414–463). 8 Indo-European Metrics and Archaic Irish Verse, Celtica 6, 1963, 194–249. 9 The Saturnian Verse, YCS 21, 1969, 3–73. 10 Indo-European Metre, Glotta 51, 1973, 161–187; Greek meter, Oxford 1982, 35. 11 Comparative Studies in Greek and Indic Meter, Cambridge / Mass. 1974. 12 The Indo-European origins of the Greek hexameter and distichs, IF 91, 1977, 288–299. 13 Der Hexameter, AAntHung 6, 1958, 1–65. 14 Ursprungsfassung: Der kallimachische und homerische Hexameter, GGA 1926, 197–229; umgearbeitet und variierter Überschrift (›Der homerische und kallimachische Hexameter‹) in: Wege und Formen frühgriechischen Denkens, München 21962, 100–156, kurz zusammengefaßt in: Geschichte und Philosophie des frühen Griechentums, München 1962, 32–37. 15 Gesammelt in: A. Parry (Hrsg.), The Making of Homeric Verse, The Collected Papers of Milman Parry, Oxford 1971 (hier und im folgenden Kapitel als MHV abgekürzt); der Zeitraum der Erstveröffentlichungen liegt zwischen 1928 und 1933. Wenn im folgenden der Name ›Parry‹ ohne weitere Zusätze genannt wird, ist immer Milman Parry gemeint.
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Innerhalb des Berichtszeitraums bilden zu dieser Frage zwei Aufsätze von B. G e n t i l i – einer davon in Verbindung mit P. G i a n n i n i (1230; 1231) – den Anfang. Ausgangspunkt ist für ihn ein daktylisches Grundmuster, das auch in nicht-homerischen, aber inschriftlich überlieferten daktylischen Texten sowie lyrischen Fragmenten – darunter auch die 1976 publizierten neue Funde von Stesichoros (Pap. Lille 76) – nachweisbar sei. Ähnlich wie schon von H. Fränkel entwickelt, werden hier die Zäsuren bzw. Dihäresen als Punkte gedeutet, an denen Einzelkola zusammentreffen. Damit ist die Zäsurenregelung des Hexameters nicht mehr die Ausgangsposition, an der sich der oral poet bei der Versgenese orientiert, sondern das Resultat aus dem Zusammenfügen einzelner Begriffe oder Junkturen. Hinsichtlich der Genese des Hexameters spricht für die Richtigkeit dieser These, daß sie den performatorischen Aspekt der oral poetry, also den Druck, den die improvisierte Versbildung auf den aoidos ausgeübt haben dürfte, ernst nimmt, doch wird man auf der Ebene der Performanz das Verhältnis für Homer eher umkehren müssen: Der Hexameter war als rhythmische Basis seiner Sprache vermutlich so prägend, daß schon dadurch die korrekte Plazierung von Junkturen im Vers weitgehend gewährleistet war und infolgedessen metrische Fehler, insbesondere Verletzungen der gewöhnlichen Zäsurpunkte, gemieden wurden. Näheres dazu wird in dem folgenden Kapitel VIII zur oral poetry ausgeführt. 1978 hat N. B e r g (1211) eine vielfach positiv rezipierte Theorie zur Entstehung des Hexameters vorgelegt16. Ursprungsmetrum ist hiernach ein 15-silbiges, äolisches Metrum mit dem Schema [ || – × – ∪ ∪ – ∪ – | – ∪ – × × | – ∪ || ], also ein Priapëus (Glykonëus + Pherekratëus); die inneren Ancipitia hätten sich dann zu einer Doppelkürze entwickelt. In der Folge seien daraus wieder die iambischen und trochäischen Sprechverse entstanden. Zustimmung hat diese Annahme unter anderem in einem Aufsatz von E. T i c h y von 1981 erfahren (1256), die hiermit die metrische Problematik in dem zweimal bei Homer belegten ἀνδροτῆτα (prosodisches Schema: ∪ ∪ – ∪ ) lösen will.17 In vier Aufsätzen hat sich G. N a g y mit der Entwicklungsgeschichte der epischen Sprache in ihrer Prägung durch das Metrum auseinandergesetzt. 1974 hatte er in seinem Buch Comparative Studies in Greek and Indic Meter den Hexameter aus einem um drei Daktylen erweiterten Pherekratëus abgeleitet, um von dieser Basis aus das Verhältnis ›Phraseologie‹ (d. h. bestimmte traditionelle Wendungen) und ›Metrum‹ genauer zu beleuchten; besonderes Augenmerk galt dabei der Parallele κλέος ἄφθιτον zum altindischen śráva(s) ákṣitam. Seit 1979 hat N a g y in zwei Aufsätzen diesen Gedanken theoretisch präzisiert und ausgebaut (1247, 1249). Thema ist jeweils das Verhältnis von Phrasen, Rhythmus und Metrum. N a g y sieht das gegenseitige Verhältnis folgendermaßen: Am Beginn steht die traditionelle Phrase, die eine bestimmte rhythmische Gestalt impliziert. Die Anwendung und die damit sich entwickelnde 16 R. S. P. Beekes, Rez. zu: A. Hoekstra (Epic Verse before Homer, Amsterdam 1981), Mnemosyne 37, 1984, 163; B. Powell, Homer and the Origin of the Greek Alphabet, Cambridge 1991, 222 Anm.; M. Meier-Brügger, Griechische Sprachwissenschaft I, Berlin 1992, 93. Zu E. Tichy s. S. 29. 17 S. dazu genauer den Abs. 4 zu den metrischen und prosodischen Anomalien.
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Tradition führt dazu, daß bestimmte Phrasen oder eine bestimmte Syntax und damit bestimmte Rhythmen bevorzugt werden; diese werden dann ein Regulativ für neu entstehende Phrasen, das sich diachronisch aus dem Thema entwickelt hat, während auf der synchronischen Ebene die Formel von der Metrik kontrolliert wird. Im zweiten Aufsatz tritt der Begriff der Phrase gegenüber der Syntax zurück; hier nimmt N a g y in expliziter Abgrenzung von M. L. West18 an, daß nur auf diachronischer Ebene von einer Beeinflussung der Syntax durch die Metrik gesprochen werden; auf synchronischer Ebene determiniere die Metrik die Syntax nicht. N a g y s argumentativer Ansatz ist hier an die Untersuchung von S. Daitz (1219; s. S. 34) angelehnt, der den Vers bei der Intonation als Einheit ansieht und eine reguläre Pause nur für das Versende ansetzt, so daß Zäsuren und Dihäresen die inhaltliche Gestaltung nicht beeinflussen. Vielmehr sieht N a g y den Einfluß des Metrums in einer rahmenden Funktion. Die gesamte Argumentationslinie steht und fällt freilich mit der Annahme einer Existenz von traditionellen Phrasen, die man auch als Formeln bezeichnen könnte. Problematisch ist auch die Annahme, daß die Metrik so stark regulierend gewirkt haben soll; wenn man sich vor Augen hält, wie sehr metrische Lizenzen und Varianten den homerischen Hexameter prägen, scheint der Inhalt der Form gegenüber doch eindeutig das größere Gewicht gehabt zu haben. In 1248 führt N a g y mit einer Fülle von metrischen Analysen in eine terminologische Differenzierung zwischen song (lyrische Form) und poetry (Hexameterdichtung) ein, wobei poetry wiederum als Derivat von song anzusehen sei. Z. R i t o ó k hat seinem 1987 erschienenen Aufsatz (1250) zum Ursprung des griechischen Hexameters sorgfältig die ältere Forschung diskutiert und den speziell von K. Marót 1958 eröffneten Ansatz (s. Anm. 13) miteinbezogen. Dieser hat den Hexameter als Produkt von Formeln in metrischen Schemata gedeutet, für die die metrische Forschung eine Fülle konkreter Bezeichnungen gefunden hat (Glykonëus, Pherekratëus, Reizianus, Hemiepes, Paroimiakos, Enoplios u. a.). Der Ansatz, im Hexameter ein Syntheseprodukt aus solchen prosodischen Strukturen zu sehen und kein von einem lyrischen Grundmaß sukzessiv erweitertes Produkt, hat einiges für sich. Man kann dann zum Beispiel annehmen, daß glykoneïsch geprägte festgelegte Junkturen wie ἄμβροτος καὶ ἀγήραος oder Pherekratëen wie κλέος ἄφθιτον ἔσται so häufig waren, daß sie das Rhythmusgefühl der epischen Dichter bei der Bildung hexametrischer Langverse zu prägen begannen, bis dann zu einem bestimmten Zeitpunkt der ganze Vers die vorausgesetzte Größe darstellte, die bei der Versifikation zugrunde gelegt wurde. Ein solches Modell scheint für die Entstehung des Hexameters durchaus plausibel zu sein, weil es den Vers als Mikrostrophe deutet, freilich bedarf es eines Verständnisses der jeweiligen Abschnitte (Kola) eher als eines rhythmischen Konzepts als eines determinierenden Versmaßes; R i t o ó k ist in diesem Punkt nicht eindeutig. Improvisierte Genese von Versen ist bei einem solchen Modell nur vorstellbar, wenn die Regeln zur Prosodie oder Zäsuren zwar als Standard angewandt werden, Abwei-
18 Greek metre, Oxford 1982.
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chungen von diesem Standard aber durchaus möglich sind. Daß der Umfang dieser Abweichungen beträchtlich ist, zeigt die Arbeit von A. G. Tsopanakis19. Gegen die These einer Entstehung des Hexameters aus dem Zusammenwachsen von zwei kürzeren Versmaßen, hat sich A. H o e k s t r a in seinem Buch Epic Verse before Homer von 1981 ausgesprochen (1236). Er wendet sich dabei vor allem gegen die Argumentation, daß bestimmte metrische Irregularitäten (wie die Gestattung eines Hiats an der Zäsur B 120) die ursprünglichen Verbindungspunkte der beiden Verse sichtbar machten, und verweist zu Recht darauf, daß die Zahl der Belege für die Schlußfolgerung zu gering sei. Zuvor hat er bei Analyse von κ 295 gezeigt, daß der hier belegte Hiat (ἐπαΐξαι ὡς, vor B 1) wohl eher durch Kombination formelhaften Materials zustande gekommen sei als durch eine altererbte Hiatlizenz. Auch spreche der Umfang bestimmter Formeln nicht für eine solche These. Schließlich wird im dritten Teil durch eine intensive Diskussion von Formeln wie βοῶπις πότνια Ἥρη überzeugend der Gedanke nahegelegt, daß die ihrem Wesen nach ornamentale Formelsprache des daktylischen Hexameters – H o e k s t r a charakterisiert sie als Homeric amplitudo – aus inhaltlichen wie formalen Gründen eher in die minoisch-mykenische Zeit als in die dark ages zurückreiche. Eine in Argumentation und Formulierung sehr dezidierte Darstellung zur Entstehung des Hexameters und der Frage nach der dialektalen Einordnung des Homerischen haben N. B e r g und D. T. H a u g im Anschluß an die Darstellung von M. Skafte Jensen zur Aufteilung der homerischen Epen in einzelne Gesänge (174; s. Kap. I, Lustrum 54, 2012, 221) in den Symbolae Osloenses von 2000 vorgelegt (1212). Nach einem prägnanten Blick auf die verschiedenen ›Schulen‹ der Homerdeutung (Analytiker, Unitarier, Oralisten, Neo-Analytiker) gehen die Autoren auf B e r g s Hypothese der Entstehung des Hexameters aus einer Verbindung von Glykonëus und Pherekratëus ein (s. oben zu 1211). Diese später in der aiolischen Dichtung verwendeten Maße seien auf Grund von Parallelen im Sanskrit und Slawischen bereits für die mykenische Epoche anzunehmen, das für den Wechsel von einer silbenzählenden zu einer quantitativen Metrik entscheidende Ereignis sei die Übernahme des epischen Gesangs aus dem aiolischen in den ionischen Dialekt gewesen, nach B e r g / H a u g im 8. Jahrhundert. Diese These wird an mehreren Beispielen (Verwendung von ἀνήρ; die Formel des Inhalts ›Tränen vergießend‹, fehlende Berücksichtigung der quantitativen Metathese) zu belegen versucht. So stringent der Argumentationszusammenhang in diesem Aufsatz aber ist, es fehlt – was häufig bei den Arbeiten zur homerischen Metrik zu beobachten ist – der Aspekt der Performanz, also die Verbindung metrischer Aspekte mit denen der mündlichen Versimprovisation. Zudem ist, wie im vorangegangenen Kapitel VI zur Sprache immer wieder deutlich wurde, die Annahme einer aiolischen Schicht für das homerische Epos nicht unumstritten.
19 Homeric researches. From the prosodic irregularity to the construction of the verse, Thessaloniki 1983 (1524; s. dazu die Anmerkungen in Kapitel VIII, S. 95). 20 So die inzwischen in der metrischen Forschung – der Fränkel’schen Terminologie folgend – üblich gewordene Bezeichnung für die Penthemimeres.
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Faßt man die im Berichtszeitraum gewonnenen Ergebnisse zur Metrik zusammen, so ist in der Regel der Ansatz zu erkennen, die πάθη τοῦ ἑξαμέτρου, die Abweichungen von der metrischen Norm, als Relikte von Vorgängerversmaßen zu deuten. Es ist aber nicht auszuschließen, daß diese Abweichungen den Produktionsbedingungen des Epos geschuldet sind und erst in der unmittelbaren Verbalisierung der jeweiligen Verse von Ilias und Odyssee entstanden sind. Das entscheidende Erklärungsproblem könnte möglicherweise eher in der strukturell fest vorgegebenen Möglichkeit der Substitution eines Longums durch zwei Ancipitia liegen, die weder bei den aiolischen Maßen noch beim iambischen Trimeter so gegeben ist; hier ist diese Auflösung eher die Ausnahme. Es ist wohl doch ein kategorialer Unterschied zwischen den lyrischen Grundelementen wie Glykonëus, Pherekratëus oder Telesilleus mit ihrer festgelegten Silbenzahl und dem Hexameter mit der in seiner inneren Systematik festgelegten numerischen Varianz. Zumindest haben bei den homerischen Epen Metriker und Linguisten die Fragestellungen und Ergebnisse der oral poetry-Forschung nur begrenzt in ihren Erklärungsmodellen berücksichtigt. 3. Strukturen a. Vers und Satz, Enjambement Milman Parry zufolge ist das seltene Vorkommen eines notwendigen Enjambements, also der syntaktisch gebotenen Fortsetzung eines Satzes über das Versende hinaus, eines der zentralen Merkmale oraler Dichtung; der Regelfall sei die formale Einheit von Vers und Satz. In einem Aufsatz von 1929 hatte er dazu die Ergebnisse einer ausführlichen Vergleichsanalyse präsentiert21; diese stützte sich auf die jeweils ersten 100 Verse aus Α, Ε, Ι, Ν, Ρ, Φ, α, ε, ι, ν, ρ, φ; aus Apollonios’ Argonautika jeweils die ersten 100 Verse aus allen vier Büchern (+ 1.681–780 und IV 899–98822) sowie aus Vergils Aeneis die ersten 100 Verse aus I, II, V, VII, IX, XI). Zu dieser These ist unmittelbar am Beginn des Berichtszeitraums ein Aufsatz von D. L. C l a y m a n und Th. V a n N o r t w i c k erschienen (1217), in welchem die Autoren Parrys These kritisch überprüfen. Zunächst beanstanden sie seine aus zusammenhängenden Textblöcken bestehende Textauswahl: Methodisch korrekt wären hierfür zufällig generierte Zahlenlisten gewesen. Dieser Einwand mag für einen Statistiker grundlegende Bedeutung haben, für einen Philologen ist er schwerlich zwingend, wenn man sich vor Augen hält, daß Parry immerhin 2400 Verse und damit auch eine Fülle verschiedener Kontexte in den Blick genommen hat. Wichtiger ist der zweite Vorbehalt, nämlich die Beschränkung auf Apollonios und Vergil als alternative Texte. Es ist in der Tat richtig, daß Parrys Aufsatz nicht induktiv angelegt ist, sondern die These belegen soll, daß die Verskomposition Homers kategorial von der späterer Epiker verschieden ist; dennoch muß das nicht zwangsläufig bedeuten, daß Parrys Ergebnisse unzutreffend sind. C l a y m a n / V a n N o r t w i c k stellen 21 The Distinctive Character of Enjambement in Homeric Verse, TAPhA 60, 1929, 200–220. 22 MHV 253.
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dann ihre Ergebnisse, für die sie knapp 12 200 Verse herangezogen haben (neben Homer und Apollonios den gesamten Hesiod abgesehen von den Fragmenten, die vier großen Hymnen, Arats Phainomena, Kallimachos’ Hymnen und Theokrits Eidyllia) mit dem Ergebnis vor, daß sich vor allem beim notwendigen Enjambement signifikant andere Daten als die von Parry zu Homer ermittelten ergäben; die Anzahl dieses Enjambement-Typus sei bei Homer sogar häufiger als in den übrigen Hexametertexten abgesehen von Apollonios. Insofern habe Parry mit diesem Autor eine für seine Argumentation ungünstige Textauswahl getroffen. Weiterhin wird von C l a y m a n / V a n N o r t w i c k festgestellt, daß eine Chronologie auf Grund der Häufigkeit des Enjambements (›je älter, desto seltener‹) nicht etabliert werden könne, sonst ginge Theokrit der Odyssee voraus und Kallimachos der Ilias. Man kann all dem, was die Autoren ausführen, zustimmen, und doch gibt es einen Punkt, der für Parrys Daten spricht: Parry hat sich bei der Identifizierung der Enjambements nicht wie C l a y m a n / V a n N o r t w i c k an formalen Kriterien orientiert (›Enjambement liegt dort vor, wo ein Satz nicht vollständig in einem Vers abgeschlossen ist‹), sondern am Inhalt (›ein Vers präsentiert einen Gedanken in syntaktisch vollständig abgeschlossener Form‹). Bei der letztgenannten Annahme gibt es doch eine spürbare Verschiedenheit zwischen Homer und späteren Autoren epischer Texte. Auf Claymans / van Nortwicks Aufsatz hat H. R. B a r n e s (1208) unmittelbar geantwortet und deren Kritik an Parry in Zweifel gezogen. Auch er verweist auf die verschiedenen Ansätze für die Festlegung der Stellen, wo ein Enjambement vorliegt, darüber hinaus stellt er bei den angegebenen Daten zum Teil falsche (bei den Phainomena) und nicht nachvollziehbare (notwendiges Enjambement in der Ilias: 37,7 %) Angaben fest. Weiterhin verweist B a r n e s z. B. bei Theokrit auch auf die Gattungsunterschiede, die bei Clayman / Van Nortwick nicht berücksichtigt sind. Mit Hinweis auf die unveröffentlichte Doktorarbeit von E. Lyding23, in der beide homerische Epen vollständig auf Enjambements untersucht worden sind, gibt B a r n e s dann Zahlen an, die den von Parry ermittelten sehr nahekommen und sich von denen bei Clayman / Van Nortwick deutlich unterscheiden. Ein weiterer Beitrag zum Enjambement, also zum Verhältnis von Satz und Vers in der griechischen Epik, erschien ein Jahr später, hier auch verbunden mit dem Thema der Satzlänge; Autoren sind S. M i c h a e l s o n , A. Q. M o r t o n und W. C. W a k e (1244). Der heuristische Ansatzpunkt basiert auf der Auswertung computergestützter Statistikanalysen, Ziel ihrer Arbeit möglichst exakte Aufschlüsse darüber, ob sich für Homer wirklich ein signifikanter Unterschied zu den späteren Dichtern erkennen läßt. Als Textbasis zugrunde gelegt und in entsprechenden Tabellen aufgeschlüsselt wurden – in dieser Reihenfolge –: je sieben Bücher aus Odyssee und Ilias, Apollonios’ Argonautika, Arats Phainomena, Hesiods Theogonie, Erga und Aspis. Für die Frage nach dem Zusammenfall von Satz- und Versende kommen die Autoren zu dem Ergebnis, daß dieses bei Apollonios in mehr als der Hälfte aller Fälle nicht zu beobachten sei (55 %), in der Odyssee dagegen nur in 23,5 %, in der Ilias in 31,2 %, bei Arat in 45,4 % und bei Hesiod in 35,4 %. Die Autoren führen diesen Unterschied darauf zurück, daß 23 Homeric enjambement, Bryn Mawr 1949.
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»the primitive structure is to be identified with oral structure.« (S. 258). Daß damit aber wirklich sichere Aufschlüsse über die Frage eines kategorialen Unterschiedes zwischen Homer und späteren Dichtern gewonnen seien, wird von den Autoren allerdings negiert, unter anderem auch deswegen, weil es auch innerhalb der homerischen Bücher zum Teil sehr deutliche Abweichungen bei den Werten gibt. In der Tat zeigt das γ nur in 11,4 % der Fälle ein Satzende innerhalb eines Verses, das τ dagegen in 29,6 %. Für das M ergebe sich sogar ein Wert, der den von Theogonie und Erga deutlich übertrifft, nämlich 39,2 % gegenüber 32,8 bzw. 30,1 %. 1980 hat M. C a n t i l e n a eine fast 100 Seiten umfassende Untersuchung zum Verhältnis von Enjambement und mündlicher Hexameterdichtung vorgelegt und ihr den Untertitel ›Eine Verifizierung‹ gegeben (1214). Anders als Clayman / Van Nortwick übernimmt er Parrys Einteilung der drei Enjambementformen nicht, sondern klassifiziert hier das Enjambement ähnlich wie G. S. Kirk24. Der Hauptteil seines Buches besteht infolgedessen durch statistische Analysen je eines Buches aus Ilias und Odyssee (I und μ), der homerischen Hymnen, der Batrachomyomachie und der Hymnen des Kallimachos; hier wird jedes einzelne Enjambement in die Typologie eingeordnet. Als Ergebnis kann C a n t i l e n a einen signifikant geringeren Grad des Enjambements bei Homer gegenüber Kallimachos zeigen. Besonders gilt dies für das weitgehenden Fehlen des ›gewaltsamen‹ (violent) Enjambements, bei dem von der Satzsyntax her notwendige Elemente in mehr als einem Vers angeordnet sind, der Vers als solcher also nicht der Rahmen ist, in dem Homer die syntaktischen Kerninformationen angeordnet hat. Wo diese Formen des Enjambements auftreten, sei eine stark von Formelhaftigkeit geprägte Sprache zu erkennen. Damit hat C a n t i l e n a die berechtigte Forderung erhoben, die Enjambements nicht nur von grammatikalischen Befunden her zu betrachten, sondern auch inhaltliche Aspekte einzubeziehen. Die Frage nach dem Enjambement hat wiederum ein Jahr später D. L. C l a y m a n für den Sammelband ›Hexameterstudien‹ in den Blick genommen (1216), diesmal jedoch mit einem anderen Ansatz als seine Vorgänger. C l a y m a n vertritt hier die Ansicht, daß es gerade im Epos keine Vorstellung von der grammatikalischen Vollständigkeit dessen gab, was wir heute als Satz (sentence) bezeichnen, die syntaktische Grundgröße sei das Kolon gewesen. Gegen eine solche Annahme spricht allerdings die Tatsache, daß bei Homer eine Partikel (im Regelfall δέ) am Beginn eines Satzes oder Satzgefüges verpflichtend verwendet wird.25 Dennoch ist C l a y m a n der Meinung, daß die modernen Textherausgeber mit ihrer Interpunktion in der Regel doch die richtigen syntaktischen Grenzen gezogen haben, so daß diese Grenzen einen richtigen Ausgangspunkt für das Verstehen von Homers syntaktischen Anordnungen bilden. Das Ergebnis seiner akribischen statistischen Untersuchungen, in denen neben Homer, Hesiod, die großen Hymnen sowie die hellenistische Hexameterdichtung erfaßt sind, besteht darin, daß die Satzlänge in diesem poetischen Genus nicht signifikant 24 Studies in Some Technical Aspects of Homeric Style: (i) The Structure of Homeric Hexameter; (ii) Verse-Structure and Sentence-Structure in Homer, YCS 20, 1966, 75–152 (wiederabgedruckt mit Überarbeitungen zu Kap. 6 und 7 in: Homer and the Oral Tradition, Cambridge 1976). 25 S. dazu Visser (1529 [s. hier S. 95–97).
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von der der Prosa differiert. Weiterhin bestätigten die von C l a y m a n erhobenen Daten die Annahme von Milman Parry, wonach in den homerischen Epen häufiger als in späterer Dichtung Satz- und Versende zusammenfallen, dennoch könne dieser Aspekt nicht zur Deutung von Hexametergedichten genutzt werden. Dagegen eröffne die Anzahl der Phänomene immerhin die Möglichkeit, spezielle stilistische Profile bei der Darstellung bestimmter Themen deutlich zu machen, doch auch hier sollten Datierungs- oder Autorfragen daraus nicht abgeleitet werden. Ausgehend von Versen aus Vergils Bucolica hat sich J. R o b a e y (1251) mit dem im Französischen als rejet bezeichneten Teil eines Enjambements beschäftigt, nämlich dem Wort oder den Worten, die aus dem semantischen Kernbestand des vorausgehenden Verses herausgenommen und an den Anfang des folgenden Verses gesetzt sind und dadurch besondere semantische Markierung erfahren. Auf den rejet folge dann ein contre-rejet. Hiermit werde die durch das Enjambement entstandene formale ›Unruhe‹ gleichsam beigelegt und zugleich die semantische Intensität des rejet entweder abgeschwächt oder gesteigert; R o b a e y bezeichnet diesen anschließenden Satz als chiusa. Bei Homer als Epiker sei eine solche Abfolge im Enjambement, also rejet und contre-rejet, weniger gegeben; dort führe die chiusa im zweiten Vers des Enjambements zu einem deutlichen Abschluß einer Handlung (chiusa epica), bewege sich inhaltlich also noch auf der Ebene des Faktischen. So knapp die gesamte Argumentation von R o b a e y zu Homer ist, so deutet sie doch auf eine unterschiedliche inhaltliche Verwendung des Enjambements hin und könnte damit einen Bezug zu unterschiedlichen Produktionstechniken eröffnen; diesen Aspekt verfolgt R o b a e y allerdings nicht. Die umfangreichste Arbeit zum Enjambement innerhalb des Berichtszeitraums ist die Untersuchung von C. H i g b i e von 1990, eine Monographie mit 230 Seiten Umfang, ursprünglich eine 1987 an der Universität Princeton entstandene Dissertation (1234; in gekürzter Form wiederholt in 1235, s. u.). Der Titel Measure and Music läßt eher eine ästhetische Thematik erwarten, doch zeigt der Untertitel Enjambement and Sentence Structure in the Iliad, worum es in diesem Buch geht. H i g b i e s ursprüngliches Ziel war eine vollständige Untersuchung der gesamten Ilias im Hinblick auf das Enjambement, doch hat sie auf Grund der Beobachtung, daß es vielfältige Satzgrenzen im Versinneren gebe, zunächst das Verhältnis von Satz und Vers beschrieben. Nach dem Forschungsüberblick, bei dem übrigens Cantilenas Arbeit (1214; s. o.) fehlt, befaßt sich H i g b i e am Schluß des ersten Kapitels mit der Formel, einem Begriff, der mit Parry für die Charakterisierung des homerischen Stils so wichtig geworden ist. Sie schließt sich hier J. B. Hainsworths Definition einer in ihren metrischen Schemata lexikalisch oder durch Zusätze flexiblen repeated word-group26 an. Im zweiten Kapitel folgt eine Typologie der verschiedenen Enjambements. In der Terminologie folgt H i g b i e hier nicht Parry, sondern G. S. Kirk27, erweitert diese aber um die Kategorien ›intern‹ (= innerhalb der für einen Satz notwendigen syntaktischen 26 The Flexibility of the Homeric Formula, Oxford 1968. 27 S. Anm. 24. Dagegen distanziert sie sich von dem Ansatz, den M. W. Edwards in einem wichtigen Aufsatz von 1966 (Some Features of Homeric Craftsmanship, TAPhA 107, 1966, 115–179) entwickelt hat.
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Bestandteile) und ›extern‹ (= im Anschluß an diese Bestandteile) und variiert sie terminologisch. Dieser wohl wichtigste Abschnitt des Buches macht deutlich, welche enormen Variationsmöglichkeiten sich für ein Enjambement ergeben, wenn man sich nicht einer Gleichung ›Vers = grammatikalisch vollständig abgeschlossene Sinneinheit‹ orientiert.28 Auffällig an H i g b i e s Klassifizierung ist die sehr formale Vorgehensweise bei der Festlegung dessen, wann eigentlich von einem Enjambement zu sprechen ist: Sie sieht hier die grammatikalische Kategorie des Satzes – wobei sie zwischen sentence und clause nicht exakt differenziert – und weniger den inhaltlichen Bereich als Kriterium an. Die inhaltliche Dimension tritt folglich sehr stark zurück, doch folgt H i g b i e auch der grammatikalischen Ausrichtung nicht strikt. Nach der Klassifizierung erfolgt die Umsetzung auf die Beziehung zwischen Enjambement und oraler Komposition. Auf Grund der Fülle der von ihr gefundenen Enjambements ergeben sich bei ihr andere Zahlen als bei Parry, wobei die Differenzen nicht kategorial sind. Sie gesteht dem Dichter, der in der Komposition des einzelnen Verses eine bestimmte, in der oralen Tradition gründende Technik anwendet, ebenfalls die Möglichkeit zu, strukturell komplex über das Versende hinaus zu arbeiten. Im nächsten Abschnitt nimmt sie dann die Satzgrenzen innerhalb eines Verses in den Blick und hierbei speziell die Sätze, die weniger als ein Versganzes füllen, um schließlich sich mit der Formel zu befassen; hier nimmt sie auch den Bereich der Verben in den Blick.29 Wirklich neue Aufschlüsse zum Thema ›Enjambement‹ liefert H i g b i e s Untersuchung nicht, zumal die Frage der Kompositionstechnik nicht berührt wird. Auch nach dieser Untersuchung spricht immer noch alles dafür, daß der einzelne Hexameter und – unterhalb des Verses – das Kolon die Einheiten sind, nach denen Homer seine Gedanken strukturiert hat.30 1995 hat H i g b i e die wesentlichen Ergebnisse dieser Untersuchung in einem Aufsatz wiederholt, hier mit dem Ziel, die hesiodeischen Hexameterstrukturen mit denen der Ilias zu vergleichen (1235). Sie kommt hier – wiederum mit Hilfe der Er 28 Als Beispiel hier die Verse E 144 f.: ἔνθ' ἕλεν Ἀστύνοον καὶ Ὑπείρονα, ποιμένα λαῶν, ∥ τὸν μὲν ὑπὲρ μαζοῖο βαλὼν χαλκήρεϊ δουρί ∥ τὸν δ' …). H i g b i e klassifiziert sie als adding internal, doch liegt wohl kein Enjambement im strengen Sinne vor, da 145 inhaltlich und syntaktisch abgeschlossenen ist und 146 ebenso aufzufassen ist, da βαλών nur ein βάλεν syntaktisch variiert. Am Ende von 145 (›essentielle Idee: A tötete B und C‹) hatte der Ilias-Dichter die Wahl, parataktisch oder hypotaktisch fortzusetzen, wichtiger war aber wohl ein weiteres Eingehen auf B und C durch τὸν μὲν … τὸν δ'. Diese Wiederaufnahmen beginnen beide am Satzanfang und decken einen ganzen Vers ab. Parry hat hier mit seiner Sicht der Dinge die homerischen Gestaltungsprinzipien wohl besser verstanden, da er in seinen Enjambementkriterien Inhalt und Form umsichtig miteinander verbunden hat. Generell ist es ein deutliches Charakteristikum der Auseinandersetzung mit Parry, daß die Untersuchung der formalen Aspekte die der konkreten Inhalte weitgehend in den Hintergrund gedrängt hat. 29 S. dazu unten Kap. VIII 4b. 30 Damit nimmt sich die Terminologie im Bereich des Enjambements so aus: Parry / Lord Edwards (s. Anm. 27) Kirk (s. Anm. 24) Higbie adding / unperiodic adding progressive adding necessary / periodic necessary periodic clausal prosaic prosaic integral necessary prosaic harsh violent violent
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stellung von Statistiken – zu dem Resultat, daß im Bereich des Enjambements bzw. der Satzenden innerhalb der Verse die Erga weitgehend der Ilias entsprechen, während die der Theogonie etwas davon differieren; freilich seien die Unterschiede gering. Sie führt dieses Ergebnis zutreffend auf die verschiedenen thematischen Schwerpunkte dieser Epen zurück: diese liege in der Theogonie stärker im Bereich der Präsentation von Fakten, also Listen von Namen, als dies in der Ilias und den Erga der Fall ist.31 Der am Ende des Berichtszeitraums erschienene Aufsatz von R. Friedrich zum Enjambement und der Bedeutung dieses Phänomens für die Frage des oralen Stils32 wird im folgenden Kapitel mit dem Thema ›Homer und oral poetry‹ behandelt (s. S. 144) b. Versstruktur und Kolon Die Länge und strukturelle Komplexität des Hexameters übertrifft im Bereich der oral poetry die anderer Versarten erheblich; C. M. Bowra hat dies in seinem Buch Heroic poetry so ausgedrückt: »The heroic hexameter, based on the quantity of syllables and formed on a ›falling‹ rhythm of six dactyls, of which the last is truncated, is a much stricter and more exacting meter than those of the Russians, Jugoslavs, or Asiatic Tatars. It has indeed its licenses, notably in its artificial lengthening of short syllables and its occasional tolerance of hiatus between vowels, but this only emphasizes how rigorous it is in other ways, and how difficult it is to fit the Greek language into this demanding and exacting form.«33. Diese Tatsache hat die Forschung immer wieder die Frage nach dem inneren Aufbau dieses Verses behandeln lassen. Seit der bahnbrechenden Darstellung von H. Fränkel aus dem Jahr 1926 spielt im Zusammenhang mit dieser Struktur der Begriff des Kolons, definiert als Sinneinheit34, eine zentrale Rolle. Fränkel erklärt hier die Zäsuren als Einschnitte, an denen im Regelfall – der bei Homer weniger strikt zu beobachten sei als bei Kallimachos – ein Kolon endet und ein neues beginnt. Anhand der bevorzugten Einschnitte im Vers ergäben sich so der Bereich ›Versanfang bis Zäsurbereich A‹ (am häufigsten die sog. Trithemimeres [= A 4]), der Bereich ›A bis B (Penthemimeres [= B 1]oder kata ton triton trochaion [B 2])‹, der Bereich B bis C (Hephthemimeres [= C 1] oder bukolische Dihärese [= C 2]) und der Bereich ›C bis Versende‹35. So entstünden – bei Homer weniger strikt eingehalten als bei Kallimachos – vier Kola mit verschiedenen Zäsurpunkten, 31 Zum Aufsatz von H. R. Barnes von 1995 mit einer Analyse der Enjambementhäufigkeit in stichischen und elegischen Hexametern s. die entsprechenden Anmerkungen in Abs. 6. 32 Homeric enjambement and orality, Hermes 128, 2000, 1–19 (1364). 33 C. M. Bowra, Heroic Poetry, London 1952, 236. Ähnlich auch B. B. Powell (1467 [s. hier S. 176 f.], 222: »The rhythm of the Greek dactylic hexameter is oddly complicated when compared with the rhythms of other known oral poetries«. 34 In der Fassung von 1962, S. 111: »Jeder Hexameter gliedert sich in vier Kola. … Die zur Binnengliederung des Verses benutzten Sinnesfugen (je drei in jedem Hexameter) nennen wir Zäsuren.« 35 Mit bestimmten Modifikationen im Bereich der Zäsuren, aber im ganzen ebenfalls zugunsten einer Vier-Kolon-Struktur spricht sich auch H. N. Porter (s. Anm. 1) aus.
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die eine rhythmisch-ästhetische Varianz ermöglichten. Alternativ zu dieser Vierergliederung hat G. S. Kirk 1966 an der älteren Zwei-Kolon-Theorie für den homerischen Hexameter festgehalten und damit am Trennpunkt im Bereich B36. Innerhalb des Berichtszeitraums hat sich zuerst H. R. B a r n e s 1979 mit der möglichen Einteilung des Hexameters beschäftigt (1209; die Ursprungsfassungen der Arbeiten von Fränkel [1228] und Rossi [1253] stammen aus der Zeit vor 1979), und zwar konkret mit der Frage, ob die Zwei- oder Vier-Kolontheorie die richtige sei. Hierzu stellt er zunächst beide Theorien ausführlich vor und kommt dann auf Grund der statistischen Daten zu dem Schluß, daß die Zäsur innerhalb des dritten Metrums, also des Bereichs B, als die Hauptzäsur (primary) angesehen werden muss, während A und C Nebenzäsuren (secondary) darstellen. Das Ergebnis ist überzeugend. Im zweiten Teil behandelt B a r n e s die Brücken innerhalb des homerischen Hexameters, also das Meiden von Wortenden; diese seien durch die jeweilige Struktur der Kola determiniert. Daß eine Zäsur genau in der Versmitte, also nach dem dritten Metrum, bei Homer relativ strikt gemieden wird, ergibt sich bereits aus der Dominanz von Penthemimeres und Hephthemimeres. F. A. G a r c í a R o m e r o hat dies durch eine statistische Analyse zu beiden homerischen Epen erneut bestätigt (1229). Hiernach ist eine solche vershalbierende Zäsur nur in 7,4 % aller Verse anzutreffen. Mit dem Ansatz von A. Kahane zur Kolongliederung des homerischen Hexameters hat sich schließlich noch M. Ch. M a r t i n e l l i befaßt (1243). Kahane hatte in Zusammenhang mit dem Thema ›Wortstellung‹ in dem Buch The Interpretation of Order von 199437 (s. dazu genauer in Kap. IX zur Erzähltechnik) eine andere Erklärung angeboten, nämlich den Zuhörer einzubeziehen, der bei der Wortstellung im Vers eine bestimmte Kolongliederung erwarte; dem folgend habe der Sänger mehr oder wenig zufällig die Kola gesetzt. Dem stimmt M a r t i n e l l i im Grundsatz zu, doch bleiben bei diesem Ansatz bestimmte Fragen. Zum einen wird nicht klar, wie die Erwartungen des Publikums dem Sänger vermittelt wurden, vor allem aber wird nicht darauf eingegangen, daß bei Homer für bestimmte prosodische Schemata deutlich nachweisbare Präferenzen bei der Versposition nachzuweisen sind; das hat vor allem E. G. O’Neill jr. in einem grundlegenden Aufsatz von 1940 nachgewiesen.38 So findet sich der Choriambus – z. B. die Namen Idomeneus oder Antilochos – in weit überwiegender Zahl im ersten Viertel des Verses, zwischen Versanfang und Zäsur A 4, oder im zweiten Versviertel, also zwischen A 4 und B 1. Die prosodische Struktur einsilbiger Wörter am Ende des homerischen Hexa meters ist Thema einer 1991 erschienen Untersuchung von H. M. H o e n i g s w a l d (1237). Er stellt nach einer Auflistung sämtlicher Belege fest, daß diesen Monosyllaba in der sechsten Thesis so gut wie nie eine Überlänge vorausgeht, also immer die Struktur ›offene kurzvokalische Silbe + Doppelkonsonanz, darunter 36 S. Anm. 24. 37 The Interpretation of Order: A Study in the Poetics of Homeric Repetition, Oxford 1994. 38 S. Anm. 1. Vgl. dazu auch Visser (1529), 373–343.
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auch ζ, ξ ψ, δ(ϝ)‹ oder ›geschlossene kurzvokalische Silbe + Einfachkonsonanz oder Plosiv + Liquida (also Fehlen der correptio attica)‹ anzutreffen ist. Von dieser Regel gibt es bei Homer und Hesiod nur sechs Ausnahmen (Ξ 414, X 256; γ 408, δ 707, χ 91; op. 416), dagegen an anderen Verspositionen eine Fülle von doppelkonsonantisch anlautenden Monosyllaba mit vorausgehendem Langvokal oder Diphthong. In Verbindung mit der Meidung von Überlängen im Indogermanischen erklärt sich für H o e n i g s w a l d dieses Bild als Ergebnis sprachlicher Tradition, die freilich durch die neuere Entwicklung des Griechischen, speziell die Entwicklungen durch die Kontraktion, überlagert worden sei. Während diese neuere Entwicklung im versschließenden Adoneus sehr wenige Spuren hinterlassen habe, hätten sich in den ersten vier Metra die Wortgrenzen prosodisch stärker ausgewirkt. In zwei Arbeiten hat sich G. N. V a s i l a r o s mit dem Genetivus absolutus bei Homer und Apollonios Rhodios beschäftigt, in der zweiten speziell den metrischen Aspekt in den Vordergrund gerückt. Auf die erste Arbeit wurde bereits in 1176 (in: Kap. VI, Lustrum 56, 2014, 274) eingegangen; in ihr wurde unter anderem festgestellt, daß das Partizip bei Homer generell am Ende der Konstruktion plaziert wird, bei Apollonios dagegen auch davor. Bei der Plazierung der gesamten Konstruktion zeigt sich, daß bei Homer die Schlußstellung die weitaus häufigste ist, bei Apollonios dagegen die in der Versmitte. In einem Aufsatz von 1993 (1258) hat V a s i l a r o s die Positionsfrage noch genauer in den Blick genommen. Hier zeige sich, wie die Zäsur- und Versgrenzen gerade bei Homer die Positionierung des Genetivus absolutus bestimmten. Dagegen variiere Apollonios sehr viel stärker in diesem Bereich und sein Wortlaut sei von metrischen Vorgaben offenbar weniger geprägt. Ausgehend von dem Befund, daß die Thesis39 im Hexameter nie disyllabisch auftreten kann, ist schon in der Antike von Dionysios von Halikarnassos die Annahme geäußert worden, ein Longum in der Thesis sei kürzer zu messen als eines in der Arsis. Diesen Gedanken fortsetzend hat C. W e f e l m e i e r (1260) in einem Aufsatz von 1994 postuliert, daß im Hexameter von drei Silbenquantitäten auszugehen sei; daher seien mit Berücksichtigung der Hiatkürzung drei Möglichkeiten der »Stilisierung« (S. 1) eines Langvokals gegeben: die volle Länge in einer spondëischen Arsis, die mittlere Quantität in der Thesis und das Breve in der Arsis. Davon ausgehend will W e f e l m e i e r feststellen, wie in frühgriechischer hexametrischer Dichtung diese verschiedenen Silbenlängen einzelnen Verspositionen zugeordnet wurden. Hierzu werden A, Z, ι und φ sowie der Demeter-Hymnus herangezogen. Der Befund ist freilich nicht eindeutig, wie aus der folgenden Formulierung auf S. 8 hervorgeht: »in der Tendenz [Hervorhebung d. Berichterstatters] … wurde eine Silbe, je kürzer sie war (oder empfunden wurde), desto seltener in der ASp [Anm. d. Berichterstatters: = Spondëus in der Arsis] verwendet. Umgekehrt waren volle Längen (Silben mit Langvokal oder Diphthong) für die TH [Anm. d. Berichterstatters: = Thesis] nicht so gut geeignet wie für die ASp.« W e f e l m e i e r geht dabei in seiner Darlegung 39 Der antiken Terminologie entsprechend (Grammatici Latini, ed. H. Keil VI 40, 14) wird hier unter Thesis die betonte Stelle im Daktylus verstanden (= Setzung, d. h. Aufsetzen des Fußes), unter Arsis (= Hebung, d. h. Heben des Fußes durch den Vortragenden) die unbetonte.
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nirgendwo auf Aspekte der oral poetry ein, sondern nimmt stilistische Kriterien für die metrische Gestaltung an. Damit wirkt diese Arbeit für 1994 auffällig unzeitgemäß, aber auch die daraus abgeleiteten Konsequenzen zu Dehnung und Zerdehnung sind nicht besonders überzeugend. Die metrische Regel, ein im ersten Metrum beginnendes Wort nicht in oder nach der Arsis des zweiten Metrums enden zu lassen, von W. Meyer als das sog. 1. Meyer’sche Gesetz für die hellenistische Epik formuliert, aber auch auf Homer übertragen40, wurde von M. C a n t i l e n a im Detail noch einmal für die archaische Epik einer Prüfung unterzogen (1215). Hierbei hat er auch die Befunde zu Hesiod untersucht, die zuvor in der Forschung nicht berücksichtigt wurden. Diese statistischen Daten werden dabei mit den Erkenntnissen von Fränkel (1228) und Rossi (1253) verbunden, nach denen die Zäsurenregelung des Hexameters kein gleichsam vorgegebenes rigides Schema, sondern eine Konsequenz aus der Zusammenfügung von metrisch geformten Sinn-Einheiten darstellt. Im ersten Teil befaßt sich C a n t i l e n a mit der Beziehung zwischen Metrik und Sprache in der archaischen Epik, im zweiten konzentriert er sich dann auf die nach dem sog. 1. Meyer’schen Gesetz postulierten Wortenden – C a n t i l e n a bringt diese Erkenntnis mit dem antiken Homerkommentator Nikanor in Verbindung – und zeigt, daß diese für Homer rein von der Metrik her gesehen nur in geringem Maße Gültigkeit haben. Mithin sei eine rein an der Prosodie bzw. Metrik orientierte Definition als Festlegung für das, was ein Kolon ausmacht, nicht ausreichend, vielmehr sei – auf der Basis von Fränkels Definition von Sinneinheiten – die Konstituierung der jeweiligen Kola im Vers auch mit der Syntax zu verbinden. Dann freilich erweise sich das 1. Meyer’sche Gesetz für die Zäsuren A 1 (= Zäsur nach der zweiten Thesis) bis A 4 (= Trithemimeres) doch wieder als durchaus aussagekräftig: Die erste Hälfte des Hexameters ist auf der inhaltlichen Ebene, wie C a n t i l e n a richtig feststellt, in erheblichem Maße geringer formalisiert als die zweite. Entscheidend neu an C a n t i l e n a s Arbeit ist damit die Einbeziehung der Syntax und damit der inhaltlichen Vorgaben in der Festlegung der Kola. Im Berichtszeitraum wurde in einem Fall eine Textinterpretation auf der Basis der metrischen Versstrukturen unternommen, nämlich von L. A u g e n t i (1207). Zunächst macht sie für die archaische griechische Epik 23 Verse aus, in denen sich unmittelbar vor der Mittelzäsur und vor dem Versende die Endung -οισι findet. Unter diesen gebe es sechs mit einer besonders engen strukturellen Verwandtschaft, nämlich Ω 796 und 798, γ 186, δ 101, τ 520 und υ 58; hier enthält das dritte Kolon immer eine Verbform. Zu den beiden Versen im Ω hat V. Di Benedetto eine Deutung vorgeschlagen, wonach dieser spezifische Rhythmus ein Art Wiegenlied für den toten Hektor andeute.41 A u g e n t i überträgt diese Deutung auf τ 520 und υ 58: Auch diese Verse bildeten ein Paar und zitierten zudem die genannten Ilias-Verse, um der Klage der Penelope eine besondere inhaltliche Tiefe zu geben. Mit einem solchen 40 Zur Geschichte des griechischen und des lateinischen Hexameters, Sitz.-Ber. d. Bay. Akad. d. Wiss., München 1884, 979–1087, bes. S. 980 f. 41 Nell’laboratorio di Omero I, (1311), cap. XI.
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Interpretationsansatz, die auf d i B e n e d e t t o s Modell der formularità interna beruht42, gerät der Umgang mit dem Homertext freilich wieder zurück in die Phase vor der Einbeziehung traditionell-oraler Produktionsbedingungen in die Textdeutung. 4. Prosodische und metrische Anomalien a. Allgemeines In seiner Dissertation hat M. Parry auch die Frage nach metrischen Irregularitäten im Homertext aufgeworfen und sie dergestalt beantwortet, daß ein von der Formelsprache geprägter Dichter auch dann seine Formelsprache beibehalte, wenn er bestimmte, nicht von der Tradition schon geprägte Sachverhalte darstellen wolle. Dem ist M. F i n k e l b e r g in einem Aufsatz von 1988 entgegengetreten (1223). Sie bezieht sich hier auf drei von Parry angeführte Stellen (γ 64, gleichgelagert auch π 48; B 571; Σ 4) und zeigt anhand von Substitutionsmöglichkeiten, daß die Formelsprache diese Irregularitäten durchaus nicht zwangsläufig generieren mußte; metrische Varianten hätten für den jeweiligen Inhalt durchaus zur Verfügung gestanden. Insofern habe es für Homer nicht die Alternative ›Verwendung einer Formel oder metrische Korrektheit‹ gegeben, vielmehr habe er für eine Verwendung einer bestimmten Formel auch metrische Fehler gleichsam in Kauf genommen. Es ließe sich daraus sogar folgern, daß Formeln mit rein formal gesehen metrischen Fehlern in der Tradition des epischen Dichters nicht als irregulär oder gar falsch angesehen wurden, sondern ohne weiteres verwendbar waren; F i n k e l b e r g nennt hier Junkturen wie τετελεσμένα ἦεν oder ἔγχεα ὀξυόεντα. Im ganzen erweisen sich so die Vorgaben durch die Tradition nicht als das einzig bestimmende Element in der Versbildung. In der sprachgeschichtlichen Betrachtung von Umfang und Bedeutung der Anomalien in der homerischen Prosodie nimmt die 1977 erschienene Untersuchung von E. C r e s p o (1218) die erste Stelle ein43. Speziell werden hier vier Anomalien in den Blick genommen, nämlich das Fehlen der Elision bei kurzem Vokal am Wortende, die Messung kurzer geschlossener Endsilben vor folgendem vokalischem Anlaut als lang, Messung kurzer vokalischer Endsilben vor konsonantischem Anlaut als lang und das Nichteintreten der Hiatkürzung. Als Beispiel für C r e s p o s Erklärungsansatz kann die Form θείω gelten44: In ihrer prosodischen Form bewahre sie die sprachgeschichtlich ältere und dem epischen Sänger vertraute Form θήω, schließe sich lautlich aber an das für das Ende des 8. Jahrhundert im Ionischen anzusetzende θέω an. Dieser wohl zutreffenden Annahme folgend erklärt C r e s p o die sprachliche Weiterentwicklung innerhalb des Epischen als Grund für die Anomalien, wobei quantitative Metathese 42 Zusammenfassend dargestellt hier S. 155–158. 43 Noch umfassender ist mit 315 Seiten Umfang die Untersuchung von A. Tsopanakis, Homeric Researches (s. Anm. 19). Wegen ihres weiter gesteckten Zieles, die homerische Versbildung anhand der prosodischen Anomalien zu rekonstruieren, wird auf diese Arbeit erst in Kap. VIII im Abschnitt 4d eingegangen. 44 Das Beispiel findet sich in A. Heubecks Rezension zu Crespos Untersuchung (IF 85, 1980, 342–344).
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und Kontraktion eine wichtige Rolle spielten. So könne etwa die spondëische Verwendung von ›λαόν + V‹ als Reflex der jüngeren Form λεών interpretiert werden. Diese sprachgeschichtliche Erklärung der Anomalien sollte freilich, wie C r e s p o auch selbst betont, nicht der einzige Deutungsansatz sein, aber in der Erklärung doch mitberücksichtigt werden. Zum Aspekt der metrischen Flexibilität hat sich N. H o p k i n s o n mit einem Blick auf die Verwendung prosodischer Varianten bei gleichen Wörtern entweder im selben Vers oder in eng aufeinanderfolgenden Versen geäußert (1239). Der Textbereich ist weit gefaßt, nämlich die gesamte griechische und lateinische Dichtung. Nach kurzer Klassifizierung der Arten, wie die jeweiligen Wörter prosodisch verändert sein können (Längung kurzer Vokale, quantitative Variation des Ablauts, alternative Dialektformen) gibt der Autor eine Liste dieser Varianten; wegen der umfangreichen Textbasis wird freilich auf eine interpretatorische Ausdeutung dieses Phänomens verzichtet. Da diese Stellen aber ein besonderes Schlaglicht auf die sprachlichen Gestaltungsmöglichkeiten werfen, die auch Homer zur Verfügung gestanden haben, seien die für Ilias und Odyssee genannten Stellen hier aufgeführt: Γ 357 f.: διὰ als Trochäus und als Pyrrhichius; E 31 (= 455): Ἆρες Ἄρες als Trochäus und als Iambus; Z 236: χρυσέα χαλκείων (Suffixvariation: -έος und -εῖος); Λ 547: γόνυ γουνός; Λ 678 f.: τόσα / τόσσα / τόσ'; N 130: δόρυ δουρί; Ξ 454, 456: ὀίω als Spondëus oder als Bakchëus; O 110, 112: Ἄρης als Spondëus und als Iambus; P 461 f.: ῥέα / ῥεῖα; Ψ 598, 600: ἰάνθη als Molossus und als Bakchëus; Ψ 703, 705: τῖον / τίον; ι 74: δύω / δύο; λ 110, 112: ἀσινέας / σ ίνηαι mit kurzer und mit gedehnter Stammsilbe; μ 104 f.: ἀναρρυβδεῖ / ἀναρυβδεῖ; μ 349 f.: ὀλέσαι / ὀλέσσαι; ρ 519 f.: ἀείδῃ als Molossus und als Bakchëus; ρ 538 f.: Ὀδυσσεὺς / Ὀδυσεὺς als Molossus und als Anapäst; τ 432, 435: ἵκανον als Molossus und als Amphibrachys; χ 374: κακοεργίης εὐεργεσίης (Suffixvariation -ίη- und -εσίη-). Wie die alexandrinische Homerexegese mit ›falschen‹ Homerversen umgegangen ist, hat F. M o n t a n a r i in dem italienischen Sammelwerk von 1995 zum griechischen Hexameter beleuchtet (1246). Anhand einer Fülle von Erklärungen zu den metrischen Fehlern – Ausgangspunkt ist X 379, in dem das anlautende ἐπεί in seiner ersten Silbe lang zu messen ist – zeigt M o n t a n a r i , wie sich das Methodenbewußtsein zwischen Zenodot und Aristarch zusehends verbesserte; wesentliches heuristisches Mittel dafür waren die Parallelstellen. So sei schließlich ein differenziertes Erklärungssystem etabliert worden. Leitlinie war der Gedanke, die metrische Richtigkeit des Verses über die prosodische zu stellen. Bei der κρίσις ποιητῶν – dem Aristarch-
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schüler Dionysios Thrax zufolge der Gipfelpunkt der γραμματική – konnte so Homer der höchste Rang zuerkannt werden. b. Plosiv + Liquida In einem umfangreichen Aufsatz ist E. T i c h y (1256) auf die metrische Irregularität bei Wörtern mit der Verbindung ›Plosiv + Liquida‹ eingegangen; Ausgangspunkt ist die prosodische Anomalie des Wortes ἀνδροτῆτα, in der ersten Silbe als Breve zu messen. Nach einer kurzen Zusammenfassung zur metrischen Funktion dieser Lautgruppe befaßt sie sich mit den gleichen Kurzmessungen in ἀβρότη und ἀ(μ)βροτάξομεν. Hier kommt T i c h y zu dem Schluß, daß die Konsonantengruppen -νδρ- und -μβρ- nicht generell als Archaismen angesehen werden können, wohl aber das Breve in der ersten Silbe von ἀνδροτῆτ(α). Sie deutet diesen Befund aus neoana lytischer Perspektive: Die identischen Verse, in denen dieses Wort vorkommt (Π 856 f. = Χ 362 f.), seien im inhaltlichen Zusammenhang mit Achilleus’ Tod entstanden und dann mit Bezug auf Patroklos und Hektor an die Ilias-Handlung adaptiert worden. Um die Irregularität in ἀνδροτῆτα zu erklären, zieht sie die These von N. Berg zur Entstehung des Hexameters (1211; s. o.) heran, der ja diesen Vers als Zusammenfügung von Glykonëus und Pherekratëus gedeutet hat. So sei das Longum in der ersten Silbe von ἀνδροτῆτα deshalb gewissermaßen ›zulässig‹ gewesen, weil die erste Silbe des mit ἀνδροτῆτα καὶ ἥβην gegebenen Pherekratëus anceps ist. T i c h y s gesamte Arbeit zeugt von großer fachlicher Kompetenz und ist insofern wichtig, als in ihr die verschiedensten Deutungen vorgestellt und sprachwissenschaftlich diskutiert werden. Problematisch ist freilich der neoanalytische Ansatz, den T i c h y hier auf den Wortlaut und nicht die poetischen Motive anwendet und damit die Möglichkeiten, die die oral-poetry-Theorie eröffnet hat, außer acht läßt. Zudem ist die Belegdichte angesichts dieser weitreichenden Theorie gering. Dagegen hat H. H o e n i g s w a l d in seinem Aufsatz in der Festschrift Ostwald (1238) zur Klärung der prosodischen Gestalt von ἀνδροτῆτα eine phonologische Betrachtung des / -ṛ- / in die Debatte eingeführt, und zwar mit dem Hinweis auf das Rix’sche Gesetz, wonach / -ṛ- / vor seiner Weiterentwicklung zu -ορ- am Wortanfang noch als kurz anzusetzen ist45. c. Synizese Eine in den nachgelassenen Schriften von F. Sommer angerissene Diskussion zum Problem der Synizese bei Homer46, ob nämlich diese Erscheinung, ein Resultat der sprachlich späten Erscheinung der quantitativen Metathese, unter gleichen oder ähnlichen phonetischen Voraussetzungen auch in gleichartiger Weise im homerischen Vers auftritt, hat E. T i c h y wieder aufgegriffen (1256). Im ersten Abschnitt geht 45 H. Rix, Anlautender Laryngal vor Liquida oder Nasalis sonans im Griechischen, MSS 27, 1969, 79–110. 46 Schriften aus dem Nachlaß, hrsg. v. B. Forssman, München 1977.
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es um die Form ἕως / τέως, welche neben dem spondëischen und trochäischen εἵως bzw. εἷος verwendet wird, und zwar monosyllabisch als Longum oder als Iambus. Hier widerlegt zunächst T i c h y die Annahme, die Verbindung ›ἕως mit Synizese + monosyllabische Partikel‹, also ἕως in der Form eines Trochäus, könne als Substitut für εἷος angesehen werden. Für die nebeneinander existierende Verwendung macht T i c h y dann metrische Konvenienz verantwortlich, allerdings ist die Vorstellung der homerischen Versbildung etwas ungewöhnlich, wenn etwa auf S. 191 formuliert wird: »Meist wird der (sc. durch die Verwendung der monosyllabischen Form) freiwerdende Platz jedoch zur Einfügung weiterer Partikeln genutzt«. Das könnte man so deuten, daß der Dichter sich zuerst für die Form ἕως entschieden und die Partikeln als Raumfüller benutzt hätte; dann stünde freilich die Technik der Versifikation über der Semantik. Eher ist doch anzunehmen, daß für Homer die essential idea des Inhalts ›solange als‹ oder ›während‹ in vier prosodischen Varianten (Trochäus, Longum, Iambus, Spondëus) verfügbar war und die jeweilige Form von der weiteren inhaltlichen Gestaltung des Verses determiniert wurde. Daß T i c h y im Grunde auch diese Ansicht vertritt, wird in ihrem Fazit zu diesem Abschnitt deutlich, wo sie annimmt, daß die epischen Sänger die durch die Sprachentwicklung des Griechischen neu zur Verfügung stehenden Formen in ihr Versifikationssystem eingebettet hätten. Gleiches stellt sie auch zur Verwendung von χρεώ im Wechsel mit χρή fest. Die geringe Häufigkeit von Formen mit quantitativer Metathese allgemein erklärt T i c h y schließlich zutreffend mit der kategorialen metrischen Problematik beim Tausch der Quantitäten: Wenn etwa die Endung des Genetiv Plural der a-Deklination nicht mehr als Spondëus (-άων), sondern als Jambus (-έων) verwendet würde, wäre das gesamte System, auf dem die Versifikation aufbaut – T i c h y sieht dieses System vor allem in einem spezifischen traditionsdeterminierten Rhythmusgefühl –, nicht mehr brauchbar. d. Hiat In einem sehr grundsätzlichen, ja radikalen Zugriff hat sich P. F o r t a s s i e r der Problematik des homerischen Hiats in einer Monographie von 1989 angenommen (1226). Die Grundsätzlichkeit liegt zum einen im Umfang der Arbeit (390 S.), die darauf zurückzuführen ist, daß der Autor sämtliche Hiate erfassen will, vor allem aber in dem Ansatz, allen Hiaten semantische Funktionalität zuzusprechen. F o r t a s s i e r kommt dabei auf eine Anzahl von 1075 (Ilias: 608; Odyssee: 467), die er alle auch aufzählt. Allerdings ist die zur Interpretation herangezogene Zahl nicht so hoch, wie es zunächst den Anschein haben mag. So zählt der Autor nur die Hiate in oder nach der Arsis, also dem unbetonten Teil, er setzt überall die Existenz des Digamma als Hiatverhinderung an, ignoriert zugleich Phänomene wie die fehlende Elisionsmöglichkeit nach πρό oder περί, die für Homer als Regeln zu betrachten sind, so daß ein Hiat nach diesen Wörtern nicht ohne weiteres als metrische Irregularität gewertet werden sollte. Insofern zeigt sich bereits hierin eine eindeutige Fokussierung auf der interpretatorischen Ausdeutung der Hiate, während die sprachliche Ebene mit der Festlegung auf die eben genannten Regeln für den Autor keine weitere Rolle mehr
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spielt. Die Ausdeutung hat als inhaltlichen Kernaspekt den der Trennung (action de separation, état de separation und distance) – was bei einem Hiat naheliegt. Allerdings sei eine solche Trennung nur ein Marker, der die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf diese Stelle fokussiert, so daß dahinter die Frage aufscheint, warum gerade an dieser Stelle eine solche Markierung gesetzt werden sollte. Damit gewinnt F o r t a s s i e r die Möglichkeit, eine Fülle von möglichen Gründen anzuführen; diese sind etwa Abstammung, Geschwindigkeit, Flucht, Einsamkeit, Innerlichkeit, Abwesenheit oder Zukunft, also eine Fülle von Phänomenen, die so allgemein sind, daß ein Rezipient die Betonungen schwerlich noch wahrnehmen kann. Es gibt zwar einzelne Stellen, an denen ein Hiat semantisch besonders auffällig ist (gleichsam als Kronzeugen für seine Methodik nimmt F o r t a s s i e r die Verse ζ 150–152, genauer: den Hiat bei σε ἐγώ), aber die Möglichkeit, daß auf Grund einer besonderen Aussageintention der Hiat erst sekundär entsteht und nicht als Marker (also erst die Intention des Hiats, dann die konkrete Verbalisierung) gesetzt ist, scheint doch eher denkbar zu sein; ansonsten könnte die inhaltliche Qualität Homers schwerlich erklärt werden. Problematisch bei F o r t a s s i e r s Argumentation ist zudem die fehlende Berücksichtigung der spezifischen homerischen Produktionsbedingungen. Von anderem Zuschnitt ist der Aufsatz von W. F. W y a t t , der 1992 in der ›Glotta‹ zum Thema ›Hiat‹ erschienen ist (1263). Er stellt zunächst fest, daß es bei Homer durchaus zwei Vokale in Kontakt gibt (z. B. ἄλγε’ ἔθηκε) und daß auch manche Monosyllaba wie σύ oder πρό keine Elision zulassen. Dann verweist er darauf, daß Hiate beim Vokativ und bei Imperativformen, die offenbar beide als außerhalb der gewöhnlichen grammatikalischen Strukturen stehend empfunden wurden, generell zulässig waren und daher auch Hiatkürzung gemieden werden konnte. Andererseits gab es, wie andere Belege zeigen, jedoch nicht den Zwang zum Hiat. Diese metrische Flexibilität sei auch im Bereich der Tmesis gegeben: Wie W y a t t an einer Fülle von Beispielen belegt, etwa in der Zusammenfügung von Präfix und Verbstamm, seien auch Formen mit Hiat von den Sängern als mögliche prosodische Alternativen eingesetzt worden. Abschließend geht der Autor auf die phonetische Realisierung von Verbformen mit Hiat und die Frage ein, ob Hiate an gewissen Stellen von H omer sogar gesucht wurden. Der von W y a t t dafür genannte Beleg in Ψ 224 spricht jedenfalls dafür. e. versus spondiaci Mit einer ähnlichen Vorgehensweise wie in seiner Untersuchung zum Hiat hat P. F o r t a s s i e r auch die versus spondiaci in einer umfangreichen Monographie zu deuten versucht (1227); im Vorwort betont er, daß beide Arbeiten als Einheit in einer bestimmten Methodik der Homererklärung zu verstehen seien. Als Ausgangspunkt für die mit diesen Versen verbundene Fragestellung verweist F o r t a s s i e r auf A. Ludwichs Arbeit De hexametris poetarum Graecorum spondiacis (Halle 1886), wonach eine inhaltliche Ausdeutung der versus spondiaci generell zwar abzulehnen sei, aber doch in bestimmten Einzelfällen (»rarissime«; Ludwich führt 21 Belege an) zugelassen werden könne. F o r t a s s i e r leitet daraus folgenden Syllogismus
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ab (S. 14): »Si quelque spondaïque est expressif, tout spondaïque est expressif. Or … quelque spondaïque est expressif. Donc … tout spondaïque est expressif« (expressif meint: durch den Spondëus im 5. Metrum nachdrücklich den Inhalt des jeweiligen Verses betonend). Auf dieser methodischen Grundlage baut das weitere Werk der Klassifizierung und der kontextbezogenen Ausdeutung sämtlicher in den homerischen Epen vertretener versus spondiaci auf; eine Auseinandersetzung mit der oral poetry-Forschung fehlt gänzlich. Zwar könnte das Ergebnis von F o r t a s s i e r s Analysen ein so eindeutiges Ergebnis zeitigen, daß sich seine Annahme ex eventu bestätigt, doch sind seine Klassifizierungskriterien zu weit gefaßt, um von einer solchen Eindeutigkeit sprechen zu können. So teilt Fortassier die versus spondiaci in insgesamt acht Hauptkapitel so unterschiedlichen Inhalts ein wie ›Götter und Dinge, in denen sich Göttliches manifestiert‹ (worunter neben dem Meer auch Erde, Sterne oder Feuer erfaßt sind, zudem Könige, Ärzte, der Tanz, das Megaron des Menelaos oder der Mischtrank der Hekamede), ›Menschen in der Gemeinschaft‹, ›Gewicht, Größe, Menge, Solidität‹, ›Unterdrückung von Furcht‹, ›Gegenwart des Todes‹ oder ›Begegnungen‹. Somit umfassen die Inhalte der versus spondiaci keine anderen Themen als die metrisch regulären Verse des homerischen Epos, eben die Welt des Heroenmythos; eine spezifische Differenz im Sinne einer besonderen inhaltlichen Funktion der versus spondiaci ergibt sich nicht. f. correptio epica Eine für den Hexameter besonders charakteristisches Element ist die Kürzung (correptio), die in den Formen der Hiatkürzung (correptio epica) und in der fehlenden Generierung einer Positionslänge bei Plosiv + Liquida (correptio attica) vorkommt. Mit der correptio epica hat sich S. T. K e l l y in einer von C. Whitman und G. Nagy betreuten Dissertation befaßt (1241). Er stellt hier anhand statistischer Daten einen signifikant höheren Anteil der Hiatkürzung in den Reden gegenüber den erzählenden Teilen fest und postuliert darauf aufbauend einen grundsätzlichen Unterschied zwischen diesen beiden Erzählformen; hierbei schließt er sich explizit an die Arbeiten von J. A. J. Drewitt an.47 Da er den Formeln einen entscheidenden Anteil an der Entstehung des homerischen Texts zuweist, kommt er zu dem Ergebnis, daß die Formeln in Redeabschnitten älter seien und die ursprüngliche, indogermanisch ererbte Form des Epos die Rede gewesen sei (proto-epic). Diese habe dann durch das Zitieren von Reden den erzählerischen Bereich hinzugewonnen. K e l l y entwickelt diese These nur am Rande mit Bezügen zur oral-poetry-Theorie, nach der man ebensogut die statistischen Befunde daraus erklären könnte, daß die Reden weniger typische und damit traditionsgeprägte Inhalte aufweisen und daher die Einbettung in traditionelle Sprachformen weniger ausgeprägt war. K e l l y ist in seiner Arbeit sehr selektiv, was die Berücksichtigung der Sekundärliteratur angeht, und ein Literaturverzeichnis 47 Some Differences between Speech-Scansion and Narrative-Scansion in Homeric Verse, CQ 2, 1908, 94–109; The Augment in Homer, CQ 6, 1912, 44–59, 104–120; The Genetives in -ου and -οιο in Homer, AJP 34, 1913; The -σσ- Forms in Homer, AJP 36, 1915, 280–297.
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fehlt. Im ganzen macht die Arbeit einen recht subjektivistischen Eindruck und kann damit für eine so weitreichende These schwerlich überzeugen. Der statistische Befund ist dagegen durchaus wertvoll. 5. Intonation Mit der Frage, was unter dem Begriff des ἀείδειν / ᾄδειν eines epischen Sängers genau zu verstehen sei und was unter der antiken Bezeichnung Homers als eines ῥαψῳδός zu verstehen sei, hat sich M. L. W e s t in einem Aufsatz von 1981 auseinandergesetzt (1261). Im ersten Teil kommt er nach gründlichster Auswertung der antiken Quellen und indogermanischer Parallelen, vor allem des Singens des Rigveda, zu dem Schluß, daß unter ἀείδειν kein rezitatives Sprechen, sondern ein wirkliches Singen mit Noten und Intervallen zu verstehen ist48, wobei aber die Hebung und Senkung der Stimme durch die Wortakzente bestimmt war; dies lasse sich speziell in der Odyssee zeigen. Der Begriff ῥαψῳδός verweise dagegen weniger auf musikalische als auf schauspielerische Ausgestaltung des Texts. Im zweiten Teil des Aufsatzes versucht W e s t den Klang des homerischen Singens zu rekonstruieren: Zur Phorminx mit der Stimmung der Saiten auf e, f, a, d‹ wurde vermutlich in der ionischen Tonart gesungen; die Ergebnisse werden in einem Notenbild zu den ersten fünf Ilias-Versen zusammengefaßt. Der dritte Teil von W e s t s Aufsatz enthält schließlich eine Diskussion, wie sich die Tonhöhen der antiken Tonleitern zueinander verhalten. Als Fachmann für homerische oral poetry und für südslawische Epik ist G. D a n e k in den Wiener Humanistischen Blättern der Sprechintonation und dem möglichen Klang des epischen Verses zweimal nachgegangen, davon einmal in Verbindung mit S. H a g e l (1220; 1221). Im ersten Aufsatz wird – ausgehend von M. L. Wests Arbeit von 1981 – anhand von θ 285–299 und 333–343 eine konkrete Rekonstruktion der Intonation homerischer Verse unternommen. Hiernach basierte die Melodie des Hexameters auf vier Noten, sei aber für jeden Vers nach dem jeweiligen Wortakzent neu generiert worden. Ein Tonbeispiel für D a n e k s Rekonstruktion (θ 267–299) ist auf der Internetseite https://www.oeaw.ac.at/kal/sh/demodokos.mp3 frei zugänglich (letzter Aufruf: 20.08.2020). Im zweiten Aufsatz hat sich G. D a n e k zusammen mit S. H a g e l zu dieser Thematik stärker theoretisch geäußert. Die Autoren stellen hier zunächst die Regeln zur Aussprache der Laute, der Wortakzente und der Zäsuren dar und sehen hier den metrischen Rhythmus des gesamten Hexameters gegenüber der Semantik als determinierend an49. Anschließend geht es um die Frage, ob homerische Verse als gesungen vorzustellen seien. Zur Beantwortung dieser Frage wird von den Autoren zwischen dem Vortrag eines aoidos (improvisierender Dichter) und Rhapsoden (Rezitator) unterschieden und für Homer ein melodiegestütztes aiodisches Singen angenommen, wobei die Melodie an den Wortakzenten orientiert ist. 48 Anders M. Meier-Brügger, der ἀείδειν dem lyrischen Singen, λέγειν dem epischen Sprechen zuweist (s. dazu 1014 (Bericht, Kap. VI, Lustrum 56, 2014, 185). 49 Wichtige Grundlagen dazu bei S. Hagel in dem Aufsatz ›Zu den Konstituenten des griechischen Hexameters‹ (WSt 107/108, 1994, 77–108).
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Ein konkreter Teilaspekt beim Vortrag homerischer Verse wurde von S. G. D a i t z (1219) untersucht, nämlich die Frage, wie die Intonation von Pausen im Vortrag des Sängers vorzustellen ist. Er nimmt mit guten Gründen an, daß am Versende immer eine Pause gesetzt wurde, die Einschnitte im Versinnern aber mit der modernen Interpunktion zum großen Teil nicht richtig wiedergegeben sind, wenn man als Kriterium sowohl die antike Diskussion (Dionysios von Halikarnassos, Cicero, Quintilian) als auch die heutzutage beobachtbaren Pausen beim Sprechen zugrunde legt. Fälle für eine deutlich erkennbare Pause innerhalb eines Verses seien vielmehr selten (D a i t z nimmt als Beispiel Π 269), in der Regel stelle der Vers eine Einheit (S. 159: »an integrated unit«) dar. D a i t z ’ Argumentation darf man als überzeugend ansehen. Dem Wesen der homerischen Betonung hat sich H. B. R o s é n vom Begriff des Kolons aus genähert (1252). Auf der Basis des Vergleichs mit dem Indogermanischen, vor allem mit dem Vedischen, schließt er, daß es keine Diskrepanz zwischen dem Wortakzent und der metrischen Betonung gegeben habe; diese sei erst später, als der Tonhöhenakzent im Griechischen nicht mehr existierte, von den hellenistischen Grammatikern postuliert worden. Vielmehr könne diese Diskrepanz durch die Annahme einer akustischen Hervorhebung innerhalb eines Kolons – von R o s é n als primär syntaktisch definierter Textabschnitt zwischen zwei Zäsuren definiert – aufgelöst werden; diese Hervorhebung werde von dem innerhalb dieses Kolons wichtigsten (privilegié) Wort getragen. Mit dieser Art der Betonung, eine Aneinanderreihung von Bedeutungsträgern, werde auch die Aufmerksamkeit des Hörers gesteuert. Die Argumentation ist schlüssig. Mit diesem Ansatz wird so eine Grenze zwischen Homer und der nachhomerischen Dichtung gezogen, wo dieser Konflikt zwischen Wortakzent und metrischem Akzent wohl erst auftreten konnte, als eine Rezeption mündlich improvisierter Vorträge nicht mehr gegeben war. Insofern läßt sich R o s é n s Deutung gut mit dem Ansatz von Danek und Hagel verbinden. In A. F o r e s t i n s Monographie von 1990 mit dem Titel Le vers de l’Iliade: sa musique, toute sa musique steht die Ästhetik des Homerverses im Vordergrund (1225). Er sieht als konstitutive Elemente musikalische Prinzipien am Werk, mit denen sich Homer von anderen Hexameterdichtern absetzt. Diese ästhetische Prägung, konkretisiert in 12 verschiedenen Versmelodien, diene dazu, die Ilias als Werk kenntlich zu machen, das vor allem die Brutalität der Welt zum Thema hat: Zeus als Rudelführer (chef de meute), die Götter als wilde Tiere und die Gesamtkomposition als Ausgestaltung von nazisme. Man mag in der Tat so etwas wie Brutalität an einzelnen Stellen der Ilias ausmachen, aber die Frage ist doch zu stellen, ob die metrische Struktur wirklich so etwas abbilden kann. M. S t e i n r ü c k (1255) hat sich schließlich der Frage des Rhythmus innerhalb des Hexameters insbesondere im Homertext angenommen, also der Frage, auf welchem Rhythmusempfinden die Setzung von Längen und Kürzen möglicherweise basiert. Als Gegenstand, anhand dessen dieses Empfinden ermittelt werden soll, nimmt Steinrück das Echo, also den Nachklang einer bestimmten Lautfolge wie cvc (= Konsonant – Vokal – Konsonant), als Beispiel wählt er das angebliche Echo von α 8] νήπ[ιοι in α 9 »τοῖσι]ν ἀφ[είλετο«, also die Variation von nēp zu nāph; hieraus werden dann Ansätze zu einer bestimmten Rhythmustypologie – je nach Position der
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Echos im Vers – entwickelt. Aufschlüsse zum besseren Verständnis des Homertexts liefert dieser Aufsatz nicht, da das Verhältnis von Rhythmus zum Inhalt der Verse bzw. einzelner Wörter oder Wortgruppen nicht thematisiert wird. 6. Das Verhältnis der homerischen zu den nachhomerischen Hexametern Der Annahme, die homerischen Hexameter entsprächen in ihrer Struktur weitgehend denen, wie sie in anderer archaischer Dichtung anzutreffen sind, ist von N. A. G r e e n b e r g näher untersucht worden (1232). Die Textbasis wird gebildet vom A, dem Corpus Theognideum (719 Verse) und den Hexametern in Solons Elegien (110 Verse). In insgesamt zehn Listen untersucht der Autor die Prozentzahlen von daktylischen Metren gegenüber spondëischen, und wichtiger: der Abfolge von Daktylen oder Spondëen, die Wortenden (auch die durch Elision geschaffenen), die Positionen von δ(έ), ἀλλ(ά) und καί und die Position bestimmter prosodischer Schemata. Auch wenn die Textbasis schmal ist – speziell bei Solon – und inhaltliche Kriterien fehlen, zeigt sich doch, daß die Hexameter verschiedene Profile aufweisen. Man kann vermuten, daß die nachhomerischen Hexameter stärker von weniger stark traditionsgebundenen formalen Intentionen ihrer Autoren geprägt sind. Das metrische Profil der homerischen Hexameter hat 1995 H. R. B a r n e s anhand des Themas ›Enjambement‹ konkretisiert (1210). Hier zeigt der Autor durch den Vergleich der stichischen Hexameter bei Homer und Hesiod mit dem elegischen Hexameter, daß bei letzterem der Zusammenfall von Vers- und Satzende signifikant seltener festzustellen sei, da die elegischen Dichter das Distichon als grundsätzliche kompositorische Einheit nähmen; daher sollte das Versende des Hexameters nach Möglichkeit nicht zu deutlich in den Vordergrund treten. Darüber hinaus nimmt Barnes im abschließenden Teil die sog. inner-metrics in den Blick, also die Frage, wie sich diese gleichsam neue Enjambementpraxis innerhalb der lyrischen Dichtung auf die Positionierung bestimmter prosodischer Schemata auswirkte. Ph. B r u n e t hat sich mit den daktylischen Versen in den lyrischen Partien tragischer Dichtung befaßt und als Kontrastanalyse auch das Profil epischer daktylischer Verse einbezogen (1213). Auch hier sind Unterschiede feststellbar, zum einen die Varianz epischer Daktylusverse im Hinblick auf den Wechsel auf Daktylen und Spondëen – nicht-epische Verse sind in weitaus höherem Maße holodaktylisch –, vor allem in der geringeren Anpassung des Wortmaterials an das Metrum bei den lyrischen Versen; diesen Aspekt belegt B r u n e t mit einer Fülle von Belegen. Auch bezüglich der Hiatkürzung und der correptio epica sei bei den Tragikern eine größere Festlegung feststellbar; auch würden dort Hiate gemieden, und bei Versübergängen dominiere Synaphie. 7. Sonstiges Der amerikanische Komparatist J. M. F o l e y , der im Berichtszeitraum eine enorme Fülle von Arbeiten zum Vergleich von Homer vor allem mit dem altenglischen Epos Beowulf und den von M. Parry aufgezeichneten improvisierten südslawischen Hel-
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denliedern veröffentlich hat (s. dazu ausführlich das folgende Kapitel VIII 5) hat auch im Bereich der Metrik eine solche vergleichende Untersuchung publiziert (1224). Ausgangspunkt ist der Beowulf, der in seiner neun- bis elfsilbigen Langzeile mit deut licher Mittelzäsur gewisse Ähnlichkeiten mit dem homerischen Hexameter und dem serbokroatischen Zehnsilbler (deseterac) zeigt. Allerdings betont F o l e y , daß das Betonungssystem im Beowulf nicht quantitierend, sondern dynamisch ist; auch sei dort eine Kolonstruktur nicht zu erkennen. Dennoch deuteten einige Aspekte für alle drei Sprachbereiche auf indogermanisches Erbe hin, nicht zuletzt auch die Tatsache einer zum Versende hin zunehmend konservativen, also eher formelhaften metrischen Gestaltung. Einen neuen Weg zur Interpretation von Hexameterversen hat W. Jackson Knight 1939 mit seinem Buch Accentual Symmetry in Vergil vorgeschlagen, der besonders im anglo-amerikanischen Raum weiterverfolgt wurde, nämlich die Auswertung numerischer Verhältnisse beim Zusammentreffen von Wort- und Versakzent (Homo dynie) bzw. fehlenden Zusammentreffen zwischen beiden (Heterodynie). Diese Richtung hat speziell in der Vergilforschung in den darauffolgenden Jahrzehnten eine gewisse Blüte erlebt, wurde aber im Hinblick auf ihre methodischen Voraussetzungen auch deutlich kritisiert50. R. S c h m i e l hat diesen Ansatz in seiner Dissertation an der University of Washington auf das Griechische übertragen und seine Resultate in einem Beitrag des 1981 erschienenen Sammelbands ›Hexameterstudien‹ zusammengefaßt (1254). Nach einer Einführung in die Thematik stellt er seine These vor, wonach Homodynie in Reden häufiger anzutreffen ist als in den erzählenden Abschnitten; als homodyn werden die Verse bezeichnet, in denen 60 % oder mehr Übereinstimmung von Wortbetonungen, die durch Akut und Zirkumflex besonders hervorgehoben, also ›markiert‹ sind51, und metrischer Betonung feststellbar ist. S c h m i e l nennt hier nach einer Auswertung von zwölf Büchern die Werte 29,1 % in Reden und 25,8 % in der Erzählung. Daraus ergebe sich ein Hinweis auf eine jeweils verschiedene Struktur (texture) in diesen beiden Formen, die dann nach ›lebhaft‹, ›durchschnittlich‹ und ›ruhig‹ differenziert werden. Anschließend werden die statistischen Zahlen in großer Ausführlichkeit angegeben und das Ergebnis mit dem bei späteren Dichtern verglichen. Die Frage, die sich bei dieser ganzen Methode stellt, ist, ob Homer diese Effekte – wenn sie denn überhaupt wirklich so vorhanden sind – bewußt gesetzt hat; das erscheint doch angesichts der improvisierenden Versifikationsproblematik, mit der sich ein oral poet ja immer konfrontiert sah, unwahrscheinlich. Abschließend zum Themenbereich ›Metrik‹ ist auf eine Monographie einzugehen, die P. V i v a n t e zum homerischen Vers veröffentlicht hat (1259). Zu Beginn geht er auf M. Parrys Theorie ein, dessen Ergebnisse er mit dem Argument verwirft, daß damit kein poetischer Zweck erfüllt werde; etwas positiver fällt seine Einschätzung 50 So z. B. von K. Thraede, Der Hexameter in Rom. Verstheorie und Statistik, München 1978, S. 19. 51 Der Terminus, von R. Jakobson in seiner Abhandlung ›Zur Struktur des russischen Verbums‹ (Prag 1932) eingeführt, hat vor allem in den neueren Arbeiten zur homerischen Poetik breite Anwendung gefunden.
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von Fränkels Analyse des Hexameters aus. Dagegen setzt V i v a n t e vor allem mit Blick auf die Anordnung der Wörter und das Enjambement eine in hohem Maße ästhetisierende Betrachtung, die sich als sehr subjektiv erweist, insofern mit wissenschaftlicher Arbeit schwerlich in Verbindung zu bringen ist. C. Higbie hat in ihrer Rezension wohl das Richtige getroffen, wenn sie dort feststellt, daß »V’s discussions border on the mystical rather than the philosophical«52.
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Es sei darauf hingewiesen, daß die jeweilige Einordnung eines Aufsatzes oder Buches zu dem Abs. VIII 6 (›Orale und homerische Poetik‹) oder zu dem folgenden Kap. IX, welches die narrative Prägung der homerischen Epen zum Gegenstand hat, nicht gänzlich trennscharf vorzunehmen war. Da der Hexameter als Medium der homerischen Sprache immer auch die stilistische Formung prägt, fließen Deutungen zu den ›technischen‹ Grundlagen der oral poetry oder zur homerischen Art des Erzählens ineinander. Leitgedanke bei der jeweiligen Zuweisung war das Beweisziel des jeweiligen Beitrags: Ging es primär darum zu zeigen, welchen Anteil die orale Tradition an der Ausformung des Homertexts hat, so wurde der Beitrag hier in diesem Kapitel berücksichtigt; wurde hingegen die orale Tradition dazu herangezogen, um narrative Aspekte der Homertexte zu beschreiben, ist eine Zuweisung zum nächsten vorgenommen worden. Daher werden zum Beispiel zwei Aufsätze von A. Kahane (1389, 1390)54, die von etwa gleichen Fragestellungen bzw. Interpretationsansätzen auszugehen scheinen wie seine Monographie zur Poetik der homerischen Wortstellung, hier verhandelt, weil die Gegenstände dieser Aufsätze der Einfluß der oral poetry auf die Plazierung des Vokativs oder die Funktion des Hexameters bei der performance eines mündlichen Sängers sind. Die Monographie von Kahane ist daher erst in Kapitel IX zur Darstellungstechnik berücksichtigt. Die Erkenntnis einer tiefen Verwurzelung des homerischen Stils in der Tradition und weitergehend in der Oralität ist mit besonderer methodischer Stringenz in Milman Parrys Pariser Dissertation von 1928 angebahnt worden und von Parry selbst in mehreren weiteren Arbeiten ausgebaut wurden. Die auf Grund seines frühen Todes im Jahr 1935 für Parry nicht mehr möglich gewordene Analyse von moderner oral poetry zum besseren Verständnis des homerischen Wortlauts und seiner besonderen Stilistik hat dann sein Schüler und Mitarbeit Albert B. Lord – der einen Abschluß in Klassischer Philologie hatte, aber ab 1950 an der Harvard University slawische Sprachen und Literatur lehrte, so daß er in der Regel als Slawist bezeichnet wurde – anhand der Aufzeichnungen von südslawischen, mündlich entstandenen Epen in dem 1960 erschienenen Werk The Singer of Tales geleistet. Eine Würdigung der Wirkung, die dieses Werk speziell durch die Heranziehung der komparatistischen Forschung und der Folklore-Forschung hatte, wurde von S. M i t c h e l l und G. N a g y in der Neuauflage aus dem Jahr 2000 unternommen (1426, vii-xxix). Dieser Neuherausgabe wurde als Ergänzung eine CD mit den originalen Tonaufzeichnungen aller Abschnitte, die in diesem Buch zitiert werden, sowie einer Videoaufzeichnung zu den südslawischen Sängern, die Parry und Lord vorgetragen hatten und als die bedeutendsten galten, beigefügt.55 1971 erfolgte dann die Ausgabe von Milman Parrys sämtlichen Arbeiten in dem Buch The Making of Homeric Verse56 (= MHV) durch seinen Sohn Adam Parry, in der auch eine englische Übersetzung der französischsprachigen Dissertation abgedruckt 54 S. hier S. 169–171. 55 Das gesamte Corpus der von Parry und Lord aufgezeichneten Texte beläuft sich auf mehr als 700.000 zehn-silbige Verse. 56 S. Kap. VII, Anm. 15.
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wurde. Mit dem Erscheinen dieses Buchs fand Parrys Werk eine erheblich intensivere Rezeption als in den Jahren zuvor. Generell war zwischen 1977 und 2000 die Frage der oral poetry in der Homerforschung immer noch von einer intensiven Aneignung und Erweiterung, aber auch kritischen Auseinandersetzung mit dem Parry-Lord-Modell geprägt. So wurde der bis etwa 1980 dominierende Interpretationsbereich, nämlich die Diskussion zu Wesen und Begriff der Formel, weiter fortgesetzt. Für die Entwicklung bestimmend war, daß der Inhalt dessen, was eine Formel sei, zusehends erweitert wurde, ohne daß jedoch die Vorgehensweise der homerischen Versbildung und damit auch bestimmte stilistische Eigenheiten dadurch auch nur halbwegs zufriedenstellend erklärt werden konnten. Dieser Entwicklung hatte zur Folge, daß die kontextbezogene literarische Interpretation des homerischen Wortlauts zurückging, da die Deutungsarbeit an zusammenhängenden Szenen und Kontexten ohne Einbeziehung des Aspekts der Formelhaftigkeit und damit der Tradition nicht mehr ohne weiteres möglich war. Ein Spiegelbild dieser Entwicklung bietet der 1997 erschienene, von I. Morris und B. B. Powell herausgegebene New Companion to Homer, in dem allein vier Kapitel diesen formalen Aspekten gewidmet sind (The Formula; Homer and Writing; Homeric Style and Oral Poetics; Quantifying Epics). Zwar wurden in diesen Arbeiten durch den Blick auf die Formelhaftigkeit auch einzelne Textstellen, insbesondere bestimmte Auffälligkeiten, besser verständlich, doch ist die Anzahl der Versuche, in einzelnen Abschnitten oder Episoden den Inhalt mit den Erkenntnissen zur Nomen-EpithetonFormel oder zu metrischen oder syntaktischen Strukturen zu verbinden, gering. Die vor allem in Kap. VIII 6–8 besprochenen Arbeiten zeigen freilich, in welche Richtung die literarische Homerinterpretation gehen könnte. Was sich im Berichtszeitraum deutlich in den Vordergrund schob, war die Literatursoziologie, die besonders in der amerikanischen Forschung die Homertexte als völlig aus der Oralität heraus zu erklärende Texte deutete und dabei in der Interpretation grundsätzlich von einer mündlichen Vortragssituation ausging. Die Frage nach der Schriftlichkeit und ihrem Einfluß auf den Homertext ist in der Forschung seit Wolfs Prolegomena immer wieder gestellt worden. Damit ist untrennbar die Frage verbunden, was die Verwendung dieses Mediums bei der Entstehung literarischer Kunstwerke eigentlich leistet. Ganz allgemein gesprochen, geht es darum, daß sie dem Autor die Möglichkeit bietet, weite strukturelle Bögen zu spannen und Unstimmigkeiten zu vermeiden. Man muß sich einmal klarmachen, wie komplex der Aufbau der Ilias und der Odyssee jeweils ist und wie umfangreich ihr Personal. Und doch wird – von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen – das Reden und Handeln der einzelnen Figuren kohärent und auch sachlich stimmig präsentiert. Vorausgesetzt, Ilias oder Odyssee seien das Ergebnis eines vollständig oral, also aus einer Improvisationssituation heraus geschaffenen Texts: Kann man wirklich annehmen, daß sich ein mündlicher Dichter in dem Riesenwerk der Ilias immer wieder erinnern konnte, wo zuvor eine handelnde Figur, sei es ein Gott oder ein Mensch, zurückgelassen worden war, um sie von dort wieder stimmig in die Handlung zu integrieren? Ist anzunehmen, daß er sich beim Vortrag an einen Wortlaut erinnerte, den er einer seiner Figuren einige 1000 Verse zuvor in den Mund gelegt hatte und auf den er jetzt wieder explizit
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verweisen will? Die oral-poetry-Forschung ist zwar nicht müde geworden, dem mündlichen Sänger geradezu übermenschliche intellektuelle, vor allem mnemotechnische Fähigkeiten zuzugestehen – wobei unbestritten ist, daß die geistigen Leistungen dieser Sänger in höchstem Maße erstaunlich sind –, aber hier dürfte manches auch Wunschdenken sein, um die These strikter oraler Genese der homerischen Epen beibehalten zu können. Die Benutzung der Schrift hingegen kann durch Festhalten des bereits Formulierten sowohl im makroskopischen wie im mikroskopischen Bereich ein semantisches Netz entstehen lassen, welches die Möglichkeit bietet, die Bedeutung des Gesagten auf einer höheren Ebene als nur der Nacherzählung des Mythos zu verstehen. Schrift ermöglicht also dem Verfasser gerade umfangreicher Literaturwerke eine Retraktation. Was unter diesem Begriff zu verstehen ist, macht die Vergil-Vita des Donat deutlich. Es heißt dort in cap. 22 zu Vergils Arbeitstechnik: Cum Georgica scriberet (sc. Vergilius), traditur cotidie meditatos mane plurimos versus dictare solitus ac per totum diem retractando ad paucissimos redigere, non absurde carmen se ursae more parere dicens et lambendo demum effingere. Hiernach besteht die Komposition einer oder mehrerer Szenen im Anschluß an eine nur vorläufig verbalisierte Festlegung in einem permanenten Verdichtungsprozeß des Wortlauts auf den jeweiligen Kontext hin57, ein Prozeß, der ohne die Verwendung von Schrift nicht vorstellbar ist58. Diese Art der Komposition dürfen wir für die nachhomerische Epik als gegeben ansehen; sie ermöglicht es dem Autor, auch über weite Distanzen innerhalb eines Epos Bezüge bei der Wahl der jeweiligen Formulierung im Detail herzustellen. Bei Homer ist eine solche Kohärenz, wie wir sie aus der schriftlichen Literatur kennen, in hohem Maße nachweisbar; sie sind vor allem in den Arbeiten, die in Kap. VIII, Abs. 8 aufgeführt sind, besprochen. Es gibt aber auch eine stilistische Prägung in den homerischen Epen, die in schriftlich konzipierter Epik nicht zu beobachten sind, und die läßt auf das Fehlen konsequent retraktativen Arbeitens schließen. So bleiben im homerischen Epos etwa Formulierungen, die einen identischen Sachverhalt ausdrücken, in der Regel auch in identischer Form stehen, und Epitheta passen oft genug in ihrer Verbindung mit dem zugehörigen Nomen nicht gut zum Kontext. Es scheint also die Phase der Modifikation einer ersten, vermutlich traditionsgeprägt verbalisierten gedanklichen
57 Eine ähnliche Arbeitsweise ist auch bei Goethe zu erkennen; s. dazu die Bemerkung von H. G. Bretschneider an F. Nicolai vom Herbst 1775 (»[Goethe] hat ein poetisches Genie, das alsdann wirkt, wenn er, nachdem er lange Zeit einen Stoff herumgetragen und in sich bearbeitet und alles gesammelt hat, was zu seiner Sache dienen kann, sich an seinen Schreibtisch setzt«), F. Schiller an C. G. Körner vom 7. September 1788 (»jetzt arbeitet er [sc. Goethe] an Feilung seiner Gedichte«), vgl. auch: N. A. Kirchberger vom 17. Oktober 1779; F. von Müller vom 30. November 1816. Aus anderen Gesprächen ist zu erkennen, daß Goethe auch improvisierend diktierte, aber auch hier blieb die erste Fassung nicht einfach stehen, sondern der Dichter benötigte danach eine bestimmte Zeit zur Fertigstellung. Zum allmählichen Fertigstellen eines literarischen Texts vgl. auch Cic. Balb. 7, Ovid. trist. 1.7.30. 58 Vgl. L. E. Rossi (1481) 113, der die letteratura scritta mit einer silenziosa composizione del libro gleichsetzt.
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Fassung auf den jeweiligen engeren Kontext hin häufig nicht erfolgt zu sein.59 Das legt den Schluß nahe, daß die homerischen Epen zwar ihre stilistische Basis in einer traditionellen oralen Epik haben, daß aber auch immer wieder ganz individuelle Aussagen gesucht wurden. Manifestes Erbe der Oralität scheint hingegen die Gleichung ›gleicher Sachverhalt, d. h. typische Szene ~ gleiche sprachliche Form‹ zu sein, das Erbe der Schrift dagegen das, was die literarische Interpretation herausgefunden hat. Wie bereits gesagt, hatte man sich in der amerikanischen Philologie von der kontextbezogenen literarischen Interpretation zusehends entfernt und der Epenkomparatistik und den literartursoziologischen Besonderheiten oraler Epik allgemein zugewandt. Dadurch traten hier der homerische Wortlaut und die ursprüngliche Frage nach den Besonderheiten gerade des homerischen Stils in den Hintergrund. Homer wurde hier einer von ungezählten mündlichen Sängern; was für südslawische guslari oder den Schöpfer des altenglischen Beowulf galt, wurde nun auch für Homer angenommen. Abschließend sei angemerkt, daß in der im folgenden besprochenen Sekundärliteratur allgemein kulturkundliche Arbeiten, die den Wechsel von der Oralität zur Schriftlichkeit komparatistisch beschreiben, nicht erfaßt sind, auch wenn in ihnen Homer eine wichtige Rolle spielt. Zu verstehen sind darunter etwa die Arbeiten von E. Havelock, W. Ong, R. Finnegan oder J. Goody60. Gegenstände des hier vorgelegten Berichts sind die Arbeiten, die sich zum Ziel gesetzt haben, die homerischen Werke in ihrer spezifischen Prägung besser verständlich zu machen, und das verbietet die Aufnahme der Forschungsliteratur, die Homer ganz allgemein unter dem Stichwort ›Oralität‹ verbucht und den Wortlaut von Ilias und Odyssee im wesentlichen dazu heranzieht, den kulturhistorischen und kultursoziologischen Wechsel hin zur griechischen Literatur der Archaik, z. T. auch Klassik, zu beschreiben.
59 R. Janko hat in seinem Aufsatz von 1998 zur oralen Genese der homerischen Epen (1386) die inhaltlichen und formalen Irregularitäten im Homertext mit dem Satz erklärt: »poets composing orally cannot go back and alter what they have composed« (S. 7). Diese Irregularitäten schließen jedoch nicht notwendigerweise eine Komposition von Ilias und Odyssee mit Hilfe der Schrift aus. Die Schrift kann ja durchaus dazu verwendet worden sein, bei der Komposition immer wieder einmal zurückzugehen, um frühere Formulierungen mit dem, was gerade entstehen soll, abzugleichen. Damit könnten die erstaunlichen Fernbezüge in den beiden Epen erklärt werden, und hier ist trotz der Arbeit von M. Reichel (Fernbeziehungen in der Ilias, Tübingen 1994) sicherlich vieles von der Forschung noch gar nicht gesehen worden. Die gelegentlichen Unstimmigkeiten im Homertext, auf die speziell Hainsworth (1370) und Nagy (1441) hingewiesen haben, sind höchstwahrscheinlich auf die orale Tradition, d. h. die improvisierte Entstehung auf Versebene zurückzuführen. Für Homer wäre dann der detaillierte Wortlaut weniger wichtig gewesen als das, was in seinen Epen zum Aufbau der Handlung oder zum Menschenbild sichtbar werden sollte. 60 Speziell die Arbeiten von E. A. Havelock haben eine intensive Rezeption erfahren. Zu seinen – in mancherlei Hinsicht für die homerische Epik durchaus fraglichen – Thesen s. J. Halverson, Havelock on Greek Orality and Literacy, JHI 53, 1992, 148–163.
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2. Überblicksdarstellungen und Forschungsgeschichte In der deutschsprachigen Homerforschung, die bis etwa 1940 immer wieder entscheidende Impulse auf die Entwicklung in der Homerbetrachtung gegeben hatte, stand man bis auf wenige Ausnahmen dem Parry-Lord-Modell der oral-formulaic composition sehr ablehnend gegenüber. Es waren nur wenige Gelehrte – namentlich A. Lesky, A. Dihle, H. Patzer, A. Heubeck, W. Kullmann, T. Krischer, J. Latacz –, die die Tragweite und die Möglichkeiten dieser Theorie erkannten. Zwar kann man die Vorbehalte gegenüber einer Homerforschung, die sich wesentlich technischen Aspekten und damit auch der Relativierung der poetischen Sonderstellung Homers widmet61, durchaus als gerechtfertigt ansehen, aber durch eine doch grundsätzliche Verweigerungshaltung war es hier unmöglich, in der Homerforschung weiterhin die zuvor innegehabte Bedeutung aufrecht zu erhalten. So ist dieser vor dem zweiten Weltkrieg noch blühende Forschungszweig in Deutschland und der Schweiz danach weitgehend verdorrt62. Man war sich offenbar bewußt, durch den Verzicht auf die Auseinandersetzung mit der oral-poetry-Theorie das close reading, also die mikroskopische Beschäftigung mit Ilias und Odyssee (Begriff, Junktur, Vers, Szene), nicht mehr leisten zu können und befaßte sich daher stärker mit allgemein strukturellen Fragen; prägend war in diesem Zusammenhang der neoanalytische Deutungsansatz für die Ilias. Es ist bezeichnend für die Einstellung vieler deutscher Gräzisten selbst im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts, wenn ein so profunder und renommierter Homerkenner wie H. E r b s e in einem Aufsatz von 1994 Parrys Deutungsansatz als methodisch vollständig falsch und folglich in der Sache unzutreffend bezeichnet (1322). Ohne auf die Entwicklung in Parrys Argumentation einzugehen, die zwischen seiner Dissertation und seinen Aufsätzen in den Harvard Studies von 1930 und 1932 lag, und ohne dem exorbitanten Ausmaß an Wiederholungen im Homertext Rechnung zu 61 Besonders aufschlußreich ist der Satz von K. Reinhardt, einem der feinsinnigsten deutschsprachigen Homerexegeten, in der Einleitung zu seinem – postum erschienenen – Werk ›Die Ilias und ihr Dichter‹ (Göttingen 1961, S. 16): »Ich kann dieses Buch nicht beginnen, ohne zuvor darauf hinzuweisen, daß jene Auffassung (scil.: einer Versgenese auf der Basis einer formelhaften Tradition) darin nicht geteilt wird. Besteht sie zurecht, so wäre diesem Buche besser, daß es nie geschrieben worden wäre.« Unabhängig von dieser etwas resignativen Grundhaltung wird aus Reinhardts Worten aber auch erkennbar, daß er die Parry-Lord-Theorie in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts bereits zur Kenntnis genommen und auch in ihrer Tragweite richtig eingeschätzt hatte. Seine Furcht davor, ein so wichtiges hermeneutisches Element wie das der Parallelverse zu verlieren, war in der Tat berechtigt. Immerhin hatte Parry ja einer kontextbezogenen interpretatorischen Ausdeutung jedes einzelnen Wortes in der Tat eine Absage erteilt, am deutlichsten in seinem Aufsatz Studies in the epic technique of oral verse-making. I. Homer and Homeric Style (HSCPh 41, 1930, 146), wo er ausführt: »the poet is thinking in formulas. Unlike the poets who wrote, he can put into verse only those ideas which are to be found in the phrases which are on his tongue, or at the most he will express ideas so like those of the traditional formulas that he himself would not know apart. At no time he is seeking words for an idea which has never before found expression, so that the question of originality in style means nothing to him«. 62 In Österreich war man vor allem durch den Einfluß des Wiener Gräzisten A. Lesky gegenüber dieser Forschungsrichtung erheblich aufgeschlossener.
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tragen – schon 1885 in C. E. Schmitts Parallel-Homer63 sinnfällig geworden –, zieht E r b s e Einzelbeobachtungen heran, um hieran den Beweis eindeutiger schriftlicher Abfassung und strikter Kontextfunktionalität aller Formulierungen zu führen. Möglichkeiten, dem homerischen Stil gerecht zu werden – was eine Schriftlichkeitshypothese nicht ausschließt –, bestehen bei einer solchen Betrachtungsweise nicht mehr. Daß man diese Defizite der deutschsprachigen Homerforschung speziell im amerikanischen Raum auch wahrnahm, zeigt der Beitrag der amerikanischen Historikerin D. B o e d e k e r , in dem sie anläßlich des 1. Colloquium Rauricum von 1988 zum Thema ›Vergangenheit in mündlicher Überlieferung‹ ihren Beitrag als Einführung in die amerikanische oral-poetry-Forschung charakterisiert (1280). Entsprechend beginnt sie in grundsätzlicher Form mit der Frage nach Verhältnis von Oralität, Tradition und Wissensvermittlung, um dann die elementaren Fakten zu Parrys und Lords Werk darzustellen. Anschließend geht sie vor allem auf die Arbeiten von J. Notopoulos, M. Nagler64 und G. Nagy ein und betont zum Abschluß den Wert komparatistischer Forschung auch für Homer, die davor schützen könne, »daß wir Altertumswissenschaftler uns selber davor hüten müssen, die antiken Kulturen als allzu ›klassisch‹ überzubewerten.« (S. 51). Gegen Ende der 70er Jahre bestand auch für die deutschsprachige Forschung eine besonders gute Möglichkeit, sich mit der oral-poetry-Theorie vertraut zu machen, da gerade in dieser Zeit einige sehr gut einführende Werke hierzu erschienen sind, teilweise auch in deutscher Sprache. Diese Werke hatten zum einen die Welt der mündlichen Dichtung generell, zum anderen das Parry-Lord-Modell in seiner Genese und seinen Kernpunkten zum Thema. Für den ersten Bereich ist zunächst das Buch von E. R. H a y m e s ›Das mündliche Epos‹ von 1977 (1375) zu nennen. Trotz seines geringen Umfangs (49 Seiten) zeigt gerade diese konzise Darstellung die allgemeine Bedeutung des Parry-Lord-Modells als Eröffnung eines neuen Forschungsbereichs in der Literaturwissenschaft. Das wird bereits in der Inhaltsübersicht deutlich: Im ersten Kapitel werden die formalen Kriterien mündlicher Dichtung entsprechend dieser Theorie beschrieben, im zweiten mit dem Thema ›Lied‹ die inhaltliche Dimension umrissen, bevor im dritten mit der Überschrift ›Die Anwendung des Parry-Lord-Modells auf Einzeltraditionen‹ – im konkreten Fall die altgermanistische, altfranzösische und altspanische Epik – der Einfluß auf die außergräzistische Forschung dargestellt wird. Im ganzen ist H a y m e s ’ Darstellung in ihrer prägnanten Sprache und klaren Fokussierung angesichts der weiteren Forschungsentwicklung hin zu immer diffuseren Theorien immer noch in hohem Maße lesenswert. Eine umfassende Einführung in die Entstehung und die wesentlichen Aspekte der oral-poetry-Theorie bis 1978, die speziell abgefaßt wurde, um die deutschsprachige Homerforschung mit diesem Forschungsansatz vertraut zu machen – alle nicht-
63 Parallel-Homer, oder, Index aller homerischen Iterati in lexikalischer Anordnung, Göttingen 1885. 64 S. Anm. 89 und S. 85.
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deutschsprachigen Beiträge wurden übersetzt –, stellt der Wege-der-Forschung-Band von J. L a t a c z dar; er ist 1979 unter dem Titel ›Tradition und Neuerung‹ erschienen. Auf ihn wurde bereits im ersten Teil des Berichts zum Thema ›Hilfsmittel‹ eingegangen (585 [s. Bericht, Kap. III, Lustrum 54, 2012, 301; Ausführungen dazu auf S. 305]). L a t a c z s höchst instruktives Werk hat die oral-poetry-Forschung in der deutschsprachigen Gräzistik leider nicht wesentlich anzuregen vermocht. Eine besonders hervorzuhebende Übersicht zu den homerischen Gedichten als Zeugnisse oraler Poesie hat L. E. R o s s i (1481) 1978 vorgelegt. Schon die Kapitelüberschriften zeigen an, in welchem Umfang dieses Thema behandelt wird: nach einer allgemeinen Einführung zur oral-poetry-Theorie besonders im Zusammenhang mit Homer und einer inhaltlichen Zusammenfassung von Ilias und Odyssee sowie Anmerkungen zu ihrem enzyklopädischen Wert geht der Verfasser auf die Themen ›Schrift‹, ›Archäologie‹ und die Anstöße der Homeranalyse (scandali) ein; es schließen sich Bemerkungen zu Sprache und Metrik an. Zum Kernthema kommt R o s s i in den Kapiteln formularità, economia formulare, mistione di oralità e scrittura sowie einer sinossi degli indizi di oralità (S. 107–126). Darstellungen zu Homer und späterer Dichtung, zur antiken Sensibilität gegenüber dem Formelhaften im Homer, zur ästhetischen Funktion von Ilias und Odyssee schließen sich an; den Abschluß bilden eine Zusammenfassung und knappe Bibliographie. Im ersten dieser vier Kapitel gibt R o s s i eine kurze Zusammenfassung von Parrys Ergebnissen vor allem im Bereich der Nomen-Epitheton-Formeln, um dann auf einen wichtigen Punkt einzugehen, daß nämlich bei Homer eine andere Form der Kreativität anzusetzen ist, die auf einer speziellen langue basiert, wie schon K. Witte65 und K. Meister66 klar nachgewiesen hätten. Es folgen gut zusammenfassende Anmerkungen zur Formelsprache und ihrer Geschichte, hier vor allem mit Blick auf die wichtige Arbeit von A. Hoekstra67. Was die Gleichung ›formalhaft = oral‹ angeht, so äußert sich R o s s i zu Recht skeptisch; Formelhaftigkeit könne lediglich als Indiz für Oralität gesehen werden. Auf jeden Fall bilde die homerische Epik einen klaren Kontrast zu der nachfolgenden griechischen Literatur. Auch im Abschnitt zur Formelökonomie argumentiert Rossi zum Thema ›prosodische Dubletten bei den Epitheta‹ (doublets) anhand charakteristischer Stellen zutreffend (z. B. die Verwendung von στεροπηγερέτα in Π 298 anstelle des üblichen νεφεληγερέτα, um dort eine Verbindung νεφέλην νεφεληγερέτα zu vermeiden) und schließt in diesem Zusammenhang auch inhaltliche Gründe und Retraktation nicht aus. Was den Vorgang der Versbildung angeht, so spricht R o s s i von einer bricolage von »elementi primari« (S. 116), die es zu kombinieren gelte. Damit betont R o s s i als einer von wenigen das Postulat einer »elasticità« (S. 117) bei der Versifikation, die kontextbezogene Deutung und Impro 65 Die Fülle seiner Arbeiten, die einen bedeutenden Einfluß auf Parry hatten, ist in seinem Beitrag zur RE unter dem Lemma ›Homerische Sprache‹ (RE 8.2, 1913, 2213–2247) und dem Band ›Zur homerischen Sprache‹ (Darmstadt 1972) zusammengefaßt. 66 Die homerische Kunstsprache, Leipzig 1921. 67 Homeric Modifications of Formulaic Prototypes. Studies in the Development of Greek Epic Diction, Amsterdam 1965.
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visationstechnik miteinander verbinden kann. Diese Befunde veranlassen R o s s i zur Schlußfolgerung, daß die homerischen Epen zwar in der Oralität wurzeln, aber das Medium der Schrift bei der Komposition und der Überlieferung Anwendung gefunden haben dürfte. Im letzten hier besprochenen Abschnitt geht R o s s i auf die Zeichen der Oralität im Homertext ein. Bei der Behandlung dieses Themas geht es ihm vor allem um den Aspekt der Empathie zwischen Sänger und Publikum: es sei für den Sänger bei einer performance wichtig, sich in das ja real anwesende Publikum einzufühlen. Den heuristischen Wert der Epenkomparatistik beurteilt er skeptisch, da die südslawischen Heldenlieder zwar orale Schöpfungen seien, deren Sänger aber immer in engem Kontakt mit einer gut entwickelten schriftlichen Gesellschaft lebten. Zusammenfassend hat R o s s i mit dieser Darstellung eine exzellente Einführung in die oral-poetryThematik geliefert; besonders bemerkenswert ist dabei, wie er auch sprachlich souverän die verschiedenen Forschungsrichtungen kommentiert, und seine umsichtige, zugleich aber sehr klare Diktion. An erster Stelle der englischsprachigen Berichte ist ein Werk zu nennen, das mit dem Titel Oral-formulaic Theory and Research. An Introduction and Annotated Biblio graphy zwar beansprucht, in umfassender Form über die Forschungsergebnisse zur oral poetry allgemein zu informieren, im besonderen aber doch auf das Parry-Lord-Modell der Komposition und hier besonders den Begriff der Formel fokussiert ist; dieses Werk hat J. M. F o l e y , ein Schüler von A. B. Lord und von seinem wissenschaftlichen Hintergrund her Anglist, 1985 herausgegeben (1343). Auf mehr als 700 Seiten zeichnet er hier die Entstehung und Geschichte dieses Forschungsgebiets von ihren Anfängen bis zum Beginn der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts nach. Neben der Diskussion des Parry-Lord-Modells und des Begriffs der Formel, die geschätzt die Hälfte der erfaßten Literatur ausmacht und damit einen recht hohen Grad der Vollständigkeit erreicht, sind die anderen ca. 900 Titel thematisch breit gestreut. Neben der südslawischen oral poetry wird auch die altenglische, altspanische und altfranzösische berücksichtigt, darüber hinaus auch der chinesische oder altorientalische Bereich gestreift. Damit ist eine gewisse Beliebigkeit in der Auswahl der Literatur unvermeidbar. Die Bibliographie ist alphabetisch angeordnet, so daß es einige Schwierigkeiten macht, sich hier zu spezifischen Aspekten zu informieren; Hilfe bietet allerdings der Index, der an den jeweils erfaßten Sprachen orientiert ist. Darüber hinaus gibt F o l e y methodologische Hinweise dazu, wie in der komparatistischen Epenforschung vorzugehen sei, daß nämlich zunächst die in einer bestimmten spezifischen oralen Dichtung vorfindbaren Charakteristika herauszuarbeiten und danach im Vergleich mit schriftlich verfaßten Texten Unterschiede und Gemeinsamkeiten festzustellen seien. Bei dieser Vorgehensweise würden sowohl die individuelle als auch die gemeinsame Prägung dieser Art von Dichtung sichtbar. Mit einem ähnlichen Titel, nämlich The Theory of Oral Composition, hat F o l e y drei Jahre später eine weitere Darstellung veröffentlicht, wobei auch der Untertitel History and methodology auf ähnliche Inhalte verweist (1345). Auf dieses Buch wird im Zusammenhang mit den anderen komparatistischen Arbeiten F o l e y s in Kap. VIII, Abs. 5 eingegangen.
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M. W. E d w a r d s , einer der besten Kenner der oral-poetry-Theorie in ihrer Verbindung mit den homerischen Epen, hat 1986 einen ausführlichen Bericht zum Forschungsstand speziell der technischen Aspekte dieser Theorie ebenfalls in Form einer annotierten Bibliographie geliefert (1317). Für den Bericht sind im Inhaltsverzeichnis folgende Abschnitte vorgesehen: (1) Bibliographien und Überblicke, (2) die Struktur des homerischen Hexameters, (3) die Formel und der Hexameter, (4) die Geschichte der homerischen Formel (auch mit Bezug auf Hesiod und die Hymnen, damit vor allem auf die Arbeit von R. Janko (673 [s. Bericht, Kap. II, Lustrum 54, 2012, 333]), (5) das Enjambement, (6) spezielle Formeln, (7) das Verhältnis der Formel zu ihrem semantischen Gehalt (meaning), (8) Formelanalysen und Tests zur homerischen Oralität, (9) Homer und die Kritik an der oral-poetry-Theorie, (10) Perspektiven. Allerdings sind die Kapitel 6 bis 10, also der zweite Teil, nicht mehr in dieser ausführlichen Form erschienen, doch kann E d w a r d s Beitrag im New Companion zum Thema Homeric style and oral poetry (1318) vor allem als Ersatz für das Kapitel 9 dienen, wie E d w a r d s dort in Fußnote 1 selbst sagt. Die im ersten Teil von 1317 erfaßte und kommentierte Literatur besteht weitgehend aus Arbeiten ab den 60er Jahren, reicht aber zum Teil bis zum Anfang der 20. Jahrhunderts zurück; schon dies zeigt den weiten Rahmen, in dem E d w a r d s hier arbeitet. Die gesamte Darstellung verrät common sense und erfreuliche Nähe zum homerischen Wortlaut. Betrachtet man dabei die Erscheinungsdaten der von E d w a r d s herangezogenen Aufsätze und Bücher genauer, erkennt man einen merklichen Abschwung in der Publikationsdichte etwa ab der Mitte der 70er Jahre. Offenbar waren zu diesem Zeitpunkt die wesentlichen Fragen gestellt und die entsprechenden Argumente gefunden, wenn auch ein allgemeiner Konsens zum Wesen der Formel und zur Frage der Entstehung der Epen in mündlicher oder schriftlicher Form daraus nicht resultierte. Daher wandte man sich anderen Forschungsbereichen zu, vor allem der interpretatorischen Ausdeutung Homers mit Bezug auf das Epische generell, also der Epenkomparatistik; die Narratologie sollte bald hinzukommen. Der zweite Teil von E d w a r d s ’ Bericht im New Companion ist dagegen ein traditioneller Handbuchartikel, der den Bogen von Parrys Werk über Fränkels Hexameterstudien, Arbeiten zur Formel, speziell den Epitheta, zum Ausmaß der Formelhaftigkeit bei Homer spannt, um am Schluß die Frage, ob eine Poetik der Mündlichkeit für Homer der richtige Deutungsansatz sein kann, mit vorsichtigen Bedenken zu erörtern. Annähernd 100 Seiten umfaßt der Überblick über die oral-poetry-Theorie, den J. M. F o l e y in der Festschrift für A. B. Lord 1981 gegeben hat (1339). Entsprechend seiner wissenschaftlichen Provenienz stehen hier nicht die Erklärungsmöglichkeiten, die diese Theorie für die Deutung der Homertexte eröffnet hat, in Zentrum, sondern es geht primär um den Vergleich zwischen Homer und der oral poetry anderer Kulturen, insbesondere den südslawischen Heldenliedern und dem Beowulf. Das erste Kapitel enthält eine Beschreibung von Parrys Werken und ihrer Wirkung (»Parry, together with Albert Lord, now turned what was once a Homeric question into an Oral Traditional Question« [(S. 32]). Lords Arbeiten sind dann das Thema des zweiten Kapitels, und da Lord ab 1950 wissenschaftlich primär als Komparatist und Slawist lehrte und forschte, ist hier vom Homertext eigentlich nur am Rande die Rede; es
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geht vor allem um die Welt der südslawischen oral poetry. Kapitel drei ist dem Beowulf gewidmet. Ähnlich dominant ist die altenglische Dichtung in Kapitel vier zum Thema ›Formel‹ und ›typische Szenen‹ (theme). F o l e y sieht Ilias und Odyssee als Texte an, die im Grundsatz auf derselben Stufe wie die oral literature der südslawischen oder altenglischen Kultur stehen. Eine gemessen an den üblichen wissenschaftlichen Darstellungsweisungen ungewöhnliche Arbeit ist die Monographie von D. G. M i l l e r von 1982, in der er die gesamte oral-poetry-Theorie auf den forschungsgeschichtlichen Prüfstand gestellt hat (1423). Seine Methode mutet in ihrer Art, klar formulierte Thesen schlagwortartig an den Beginn eines jeden Kapitels zu setzen und diese dann in Auseinandersetzung mit der Literatur zu belegen, nahezu scholastisch an, und auch in den einzelnen Punkten verfährt M i l l e r recht apodiktisch68. Im wesentlichen läuft seine Argumentation darauf hinaus, die Positionen, die vor allem Lord in The Singer of Tales vertreten hat, gegen spätere Kritik zu verteidigen, zum Teil mit Qualifizierungen wie gross misunderstanding. Dementsprechend wendet er sich auch sehr dezidiert gegen die Annahme, die homerischen Epen könnten mit Hilfe der Schrift entstanden sein. Neu ist in seiner Argumentation die Einbeziehung von interpretatorischen Aspekten speziell an der Behandlung der Struktur der Apologe, in der er – zu Recht, aber in der Forschung schon vor M i l l e r längst gesehen – die um die Nekyia gebaute symmetrische Spiegelstruktur darstellt. Besonders ungewöhnlich in dieser Darstellung ist die von M i l l e r selbst improvisierend verfaßte Saga of Björn Borg im Umfang von 32 Versen anläßlich dessen Sieges beim Tennisturnier von Wimbledon im Juli 1979. Die Analyse des Texts, in dem sich M i l l e r in englischer Sprache als eine Art von oral poet versucht hat, zeigt ihm, daß sein Produkt den Kriterien für oral poetry genüge; allerdings wird dieser Beweis nur über den Grad der Formelhaftigkeit geführt, und hier kann man zweifeln, ob Formulierungen wie never lets up oder came from behind spezifisch auf Improvisation hinweisen. Weiterhin bemerkenswert ist M i l l e r s Versuch, an dem Beatles-Song The long and winding road zu zeigen, daß jede Art von Literatur formelhaft sei; allerdings sind Lieder schon wegen ihres strophischen Aufbaus deutlich vom Genus der Epik getrennt. Im ganzen ist eine Lektüre von M i l l e r s Buch recht anregend, seine Folgerungen eröffnen aber keine neuen Perspektiven.69 Wissenschaftsgeschichtlich orientiert sind die Betrachtungen von S. D. d u To i t zu Parrys Œuvre und seinen Auswirkungen (1516). Er hat hier Th. Kuhns Beschreibung wissenschaftlicher Entwicklungen in Phasen der Paradigmen und Paradigmenwechsel sowie der Inkommensurabilität der alten und neuen Paradigmen auf die Entwicklung der Homerforschung umgesetzt. So sieht er in der höheren Kritik des 68 Besonders signifikant ist der Satz in Millers Einführung, in dem M. Parry einen fast schon entrückten Status erreicht: »In the midst of this heated controversy (sc. zwischen Analytikern und Unitariern), there emerged a classicist by the name of Milman Parry who dared to defend a radically different hypothesis« (S. xiii). 69 Mit ähnlichem Fazit auch M. Cantilena in seiner Besprechung (A proposito di un contributo agli studi omerici, QUCC 56, 1987, 131–138).
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19. und beginnenden 20. Jahrhunderts das alte Paradigma, zu dem sich das durch Parry geschaffene neue der oral poetry inkommensurabel verhalte. Allerdings sei dieses neue von Parry inaugurierte Paradigma weitgehend auf den amerikanischen Bereich beschränkt, während speziell der deutschsprachige Bereich seit den 40er Jahren eher dem neoanalytischen Ansatz gefolgt sei. Es habe nun den Anschein, als seien diese beiden neuen Paradigmen ihrerseits inkommensurabel, da die oral-poetry-Theorie, wie sie vor allem A. B. Lord aufgefaßt habe, eine grundsätzliche Unverträglichkeit zu schriftlicher Epenproduktion impliziere. Diese dezidierte Trennung habe dazu beigetragen, daß sich oral-poetry-Theorie und Neo-Analyse nicht aufeinander zubewegen konnten. Demgegenüber sei sich die ›alte Analyse‹ der oralen Wurzeln des Homertexts durchaus bewußt gewesen. Im ganzen kann man d u To i t sicherlich beipflichten, dennoch fehlt bei seiner Betrachtung eine Differenzierung nach ›Großstruktur‹, ›Thema‹ und ›individueller Wortlaut‹. Sicherlich hat die alte Analyse nicht als anders die Neo-Analyse den Aspekt des traditionellen Stils durchaus in ihre Betrachtungen einbezogen, aber Erklärungen der jeweiligen konkreten Formulierungen auf dieser Basis nicht gesucht. Mithin wäre wohl eher das Fazit zu ziehen, daß die oral-poetryTheorie in der Tat ein neues Paradigma in der Homerforschung bildet, sie aber zu großen Teilen andere Gegenstände als die alte Analyse und Neo-Analyse thematisiert. Allerdings sind oral-poetry-Theorie und Neo-Analyse bei der Betrachtung des ›Themas‹ oder ›Motivs‹ durchaus nahe beieinander, da hier der Einfluß der Tradition als entscheidend angesehen wird. Auf den konkreten homerischen Wortlaut bezogen ist dagegen E. B a k k e r s niederländisch abgefaßte Überblicksdarstellung von 1990 (1266). Hier bezieht er sich auch auf die neue Entwicklung in der Formelforschung vom Ende der 1980er Jahre, in der zwischen situationsspezifischen, also auf den engeren Kontext bezogenen, und generischen Bestandteilen unterschieden wird (s. dazu genauer unter Abs. 4d). Seine Betrachtungen zeigen, daß in der oral poetry nicht-kontextbezogenes Wortmaterial (peripheral material) anders als in der schriftlich konzipierten Dichtung mit einer klar erkennbaren Systematik verwendet wird. Zur Forschungsgeschichte der oral poetry-Theorie hat sich auch der italienische Homerforscher M. C a n t i l e n a geäußert (1285 [s. o.], 1287) geäußert. Die Veränderung der Forschungssituation 70 Jahre nach dem Erscheinen von Parrys Arbeiten hat er dabei in 1287 in den folgenden Gegenüberstellungen beschrieben: (1) technische gegen ästhetische Funktion der Epitheta, (2) regelbedingte gegen intentionale Wiederholung, (3) Komposition auf der Basis von Formeln gegen Komposition auf der Basis von Einzelwörtern, (4) Ästhetik der Oralität gegen die der Literarität, (5) Tradition gegen Individualität. Für die spanisch-sprachige Forschung hat F. J. G o n z á l e z G a r c í a 1991 in einer Monographie von knapp 190 Seiten eine Überblicksdarstellung zur Forschung an Homer und seiner Einbettung in die Welt der Oralität gegeben (1364). Im ersten Abschnitt zeichnet der Autor knapp die Grundlagen der Oralitätsforschung nach, bei denen er sich für die Zeit nach Parry an den Arbeiten von Lévi-Strauss, McLuhan, Ong und Havelock orientiert und den homerischen Wortlaut weitgehend unberücksichtigt läßt. Besonders nützlich ist der zweite Teil, der fast die Hälfte des
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Buches einnimmt und einen lesenswerten Forschungsabriß von Wolfs Prolegomena bis etwa 1990 bildet, wenn auch die deutschsprachige Arbeit am Homer so gut wie keine Berücksichtigung findet. Abschließend wird auch die antike Homerforschung beleuchtet. Einen sehr gut lesbaren Überblick zur Frage des Spannungsverhältnisses zwischen Homers traditionellem, oralen Stil und der exzeptionellen literarischen Qualität seiner Epen hat R. T h o m a s (1515) 1992 im dritten Kapitel ihres Buches Literacy and Orality in Ancient Greece geliefert. Hier benennt die Autorin die Problematik der Homerinterpretation zwischen Tradition und Neuschöpfung sehr genau. Die Diskrepanz zwischen literarischer Qualität der Ilias und Odyssee und der von Parry und Lord postulierten Produktionstechnik versucht sie dahingehend aufzulösen, daß die Fähigkeiten eines oral poet, auch mit individueller Gestaltung und in einem großen Rahmen zu komponieren – sie verweist zurecht darauf, daß der Vergleich mit südslawischer oral poetry hier nicht ausreiche –, zu erweitern seien. T h o m a s löst dabei die Anbindung der Komposition von Ilias und Odyssee aus einer konkreten Vortragssituation heraus und hält eine Art retraktativer Genese dieser Epen auch in der Oralität durchaus für denkbar, und zwar in der Form, daß dieselben Stoffe im Vortrag immer wieder neu präsentiert und durch die Wiederholung gewissermaßen optimiert worden, Retraktation also nicht durch Schrift, sondern durch erinnernde Wiederholung (memorization) stattfand. Die Annahme, vor allem das Formelhafte konstituiere den homerischen Stil und kennzeichne ihn als traditionell und oral, zieht sie mit Verweis auf die orale Dichtung anderer Kulturen in Zweifel. In der Frage, ob Homer seine Epen mit Hilfe von Schrift oder durch memorization in ihre uns vorliegende Form gebracht habe, bleibt sie letztlich unentschieden. Mit der Forschungsentwicklung im Zusammenhang mit Parrys Theorie hat auch W. M e r r i t t S a l e sehr ausführlich auseinandergesetzt (1422); bereits der Titel In defense of Milman Parry zeigt die Richtung der Argumentation. Er wendet sich vor allem gegen die These, daß Parrys Theorie traditionell-oral determinierter Verskomposition durch die neuere Forschung generell widerlegt, gewissermaßen ein myth70 sei. Dabei verkennt er nicht, daß Parrys Rigorismus, demzufolge im Homer alles Tradition sei, zu modifizieren sei, sieht aber doch in der komparatistischen Herangehensweise und im Verwerfen der Annahme, der Text von Ilias und Odyssee sei auch mit der Einbeziehung oraler Elemente spezifisch zu deuten, einen Fehler. Er führt dazu im ganzen zehn Argumente an, mit denen er zeigen will, daß die oral theory doch kein Mythos sei: 1. die Quantität der Formeln und formelhafter Verwendung allgemein, 2. die sehr häufige Verwendung regulärer Formeln, 3. die Art (qualitative nature) von regulären Formeln, die in der Regel mit vertrauten Namen oder Sachbezeichnungen verbunden und metrisch vorteilhaft sind (multipurpose-formula); darüber hinaus evozierten sie Assoziationen mit der Tradition, 70 So R. Bellamy (1277), 307.
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4. die Ausdehnung, also die überaus häufige Erweiterung von Namen oder Sachen durch Epitheta, 5. das Vorkommen seltener Formeln als Resultat von Analogien (z. B. ἱππότα Τυδεύς nach ἱππότα Νέστωρ), 6. die Ökonomie, also das Fehlen metrischer Dubletten als Regelfall, 7. die Lokalisierung, also die Präferenz bestimmter Formeln an bestimmten Stellen im Vers; 8. die metrischen Irregularitäten als Beleg für eine improvisierte Verskomposition, 9. die Vergleichbarkeit in der Verwendung von Formeln bei Homer und den südslawischen Heldenliedern, 10. der stilistische Unterschied der homerischen Gedichte zu späterer griechischer Literatur, vor allem zum Homerimitator Quintus von Smyrna. Für M e r r i t t S a l e s umfangreichen Aufsatz ergibt sich folgendes Fazit: Da sich die Forschung gerade im Berichtszeitraum zusehends von Parry (die empirische Basis ist weitestgehend der homerische Wortlaut) entfernt und auf Lord (die empirische Basis ist erheblichem Maße der Vergleich mit südslawischen Heldenliedern) zubewegt hat, war es wichtig, daß M e r r i t t S a l e noch einmal all in methodischer Prägnanz das zusammengefaßt hat, was für einen spezifischen – und das heißt: aus der oralen Tradition abgeleiteten – Stil Homers spricht. M. L a c o r e s Bericht von 1993 (1401) umfaßt nur wenige Seiten, weshalb er von der Autorin als aperçu bezeichnet wird. Er trägt zwar den Titel Recherches homériques actuelles, ist aber im wesentlichen auf die oral-poetry-Theorie bezogen.71 L a c o r e stellt nach kurzer Vorstellung von neueren Arbeitsmitteln in Kapitel 1 die Grundthese Parrys dar und sagt dann zu Recht, daß damit nicht die Fragestellung aufgeworfen ist, ob die Formel aus der Oralität abzuleiten sei, sondern ob die Komposition von Ilias und Odyssee oral oder literal abgelaufen ist. Daraus leitet sie als konkrete Aufgabe der Homerforschung eine Abgrenzung der Tradition von (individueller) Invention ab. Anschließend werden die verschiedenen Modelle der Entstehung der Ilias besprochen: mit Hilfe der Schrift, als diktierter Text oder in dem von G. Nagy vertretenen Modell einer allmählichen Verfestigung vieler performances (s. Kap. VIII, Abs. 9). Die letzte Annahme lehnt L a c o r e offenbar ab, da sie die literarische Interpretation der homerischen Epen generell delegitimiere. Kapitel 2 ihrer Übersicht enthält dann Hinweise auf die genauere Durchdringung der homerischen Formelhaftigkeit (vor allem durch die Arbeiten von Hainsworth) und der typischen Szenen. Die Anmerkungen von P. W a t h e l e t am Parry-Kongreß in Grenoble unter dem Titel L’œuvre de Milman Parry et l’analyse de la langue épique (1538) bieten trotz des Titels keine Darstellung dessen, wie sich Parrys Oralitätshypothese auf die Erforschung der homerischen Sprache ausgewirkt hat. Vielmehr wiederholt er hier seine 71 Die Verfasserin ist offenbar durch die Teilnahme am Grenobler Parry-Kongreß von 1993 zu ihrem Überblick veranlaßt worden, da sie immer wieder konkret auf hier gehaltene Vorträge Bezug nimmt. Diese Annahme erklärt auch die Tatsache, daß sie nicht von einer bestimmten Position aus argumentiert, sondern eher den jeweiligen Sachstand referiert.
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These, die er bereits zuvor zur Entwicklung der homerischen Sprache dargestellt hat (1183; s. Bericht, Kap. VI, Lustrum 56, 2014, 137), nämlich: mykenisches Substrat, aiolische Phase, ostionische Phase, westionisch-euböische Endphase. Außer im ersten Satz fällt in diesem Aufsatz der Name Parry nicht mehr, und auch auf dessen Theorie wird sonst nicht mehr eingegangen. Zwischen 1997 und 1999 hat D. P r a l o n in drei Teilen einen bündigen und nützlichen Forschungsüberblick zur griechischen Oralität und den homerischen Epen gegeben, auch mit expliziter Berücksichtigung spezieller Standardwerke (1471–1473). Er beginnt mit der Beschreibung der Literatur in einer oralen Gesellschaft, bei er sich besonders auf M. McLuhans Werk The Gutenberg Galaxy: The Making of the Typographic Man (1962) bezieht, und geht von dort zur Funktion eines Sängers in dieser Gesellschaft über. Es folgen Anmerkungen zum Vortrag des Sängers und zur Formeltechnik, besonders das Epitheton betreffend (hier mit enger Anlehnung an die Arbeiten von M. Parry und Lord) und zur Metrik (vor allem mit Bezug auf Fränkels Aufsatz von 1926 sowie dessen eigene Überarbeitungen von 1955 und 1960, die vor allem auf die Kolonstruktur des Verses bezogen sind). Zusammenfassungen zur Funktion der oralen Epik (mit Orientierung an M. Bakhtin72) und eine Charakterisierung des oralen Stils (nach E. Havelocks 1982 erschienenem Buch The Literate Revolution in Greece and its Cultural Consequences) umfassen das nächste Thema. Den Abschluß bilden eine Zusammenfassung zur Konstituierung des geschriebenen Homertexts und die Beschreibung von Sängeraufführungen anhand der hierzu einschlägigen Odyssee-Passagen θ 261–369 und 471–543). Für das Ende des Berichtszeitraums ist noch auf eine umfangreiche Übersichts darstellung von L. H o n k o aus dem Jahr 2000 zu verweisen (1379); er bildet die Einleitung zu dem von H o n k o selbst herausgegebenen Sammelband The textualization of oral epics (1378). In ihr finden sich gute Zusammenfassungen speziell zur Problematik einer strikten Trennung von Oralität und Literalität in der Literatur, zu verschiedenen Interpretationsansätzen oral entstandener Texte in Europa und Nordamerika, zur Entstehung oraler Texte als Prozeß und Praxis und zur Paradoxie eines geschriebenen mündlich generierten Texts. Zwar sind kaum konkrete Aussagen zu Homer zu finden, aber die Forschungsentwicklung zur oral poetry, die ja auch die Interpretation der Homertexte betrifft, wird doch umfassend deutlich. Besonders nützlich ist das 17seitige Glossar zum Thema ›Textualisierungsprozeß‹ mit Schlüsselbegriffen wie epic register, multiforms oder performative style. Eine Untersuchung von primär wissenschaftsgeschichtlichem Interesse bilden P. H u m m e l s Anmerkungen von 1988, in denen er die Vorgeschichte von Parrys Theorie zur Funktion der Epitheta – H u m m e l nennt sie eine Archäologie – darstellt (1380). Es geht dabei zunächst nicht um die Arbeiten, auf die sich Parry in seinen Arbeiten selbst bezieht, sondern um Arbeiten, die erheblich früher entstanden sind und bis in die Renaissance zurückreichen. So hat schon K. Dinner 1589 ein Epi thetorum Graecorum farrago veröffentlicht und fünf Jahre später N. Prustus den Bezug 72 Epos und Roman, in: Konturen und Perspektiven, Berlin 1969, 191–222; nahezu identisch wiederabgedruckt in: Sowjetwissenschaft. Kunst und Literatur 18, 1970, 918–942.
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zu Homer explizit hergestellt (Homeri epitheta omnia ex Iliade et Odyssea). Dies waren lexikographische Arbeiten; in ihnen ging es noch nicht um die genaue Bedeutung des jeweiligen Epithetons, sondern um eine Einordnung unter bestimmte Obergriffe wie Schönheit oder Großzügigkeit. Für die Übersetzer der homerischen Epen haftete in dieser Zeit den Epitheta etwas Fremdes und nicht recht zur inhaltlichen Darstellung Passendes an, eine condemnable luxuriance73; sie wurden daher in den Übersetzungen immer wieder ignoriert. Auch im 17. und 18. Jahrhundert habe sich die Bewertung kaum verändert. Noch 1713 brachte H. de la Motte im Nachgang zu der Querelle des Anciens et des Modernes eine deutliche gekürzte Ilias heraus, in der vor allem die Epitheta ausgelassen waren, und begründete diesen Schritt mit deren Konventionalität. Das 19. Jahrhundert habe dann durch die Entstehung einer wissenschaftlichen Homerforschung vor allem im britischen Raum eine Änderung in der Bewertung der Epitheta gebracht. Ein besonders bemerkenswertes Resultat der Epithetonforschung sei schließlich in der 1861 in Paris erschienenen Schrift Idées Nouvelles sur Homère von A. Grenier zu beobachten. Dieser kommt, wie H u m m e l überzeugend darlegt, in seiner Funktionsanalyse der Epitheta zu den gleichen Resultaten wie Parry: er verbindet ihre Verwendung bereits mit der Erklärung, daß ihre Funktion auf Improvisation zurückzuführen und in ihr begründbar sei. Parry hat Grenier allerdings nicht erwähnt, obwohl er in seiner Dissertation sehr viel Sekundärliteratur berücksichtigt hat. Abschließend zum Thema dieses Abschnitts sei noch auf den Aufsatz von Y. L e n o i r zur Verbindung zwischen den von Parry aufzeichneten südslawischen Heldenliedern und dem ungarischen Komponisten Béla Bartók hingewiesen (1404). Bartók mußte 1940 als entschiedener Gegner des Nationalsozialismus, der in dieser Zeit auch in Ungarn massiv an Bedeutung gewonnen hatte, seine Heimat verlassen und emigrierte in die USA. Dort kam er an der Harvard-Universität auch in Kontakt mit A. B. Lord und der Milman-Parry-Collection, der er, wie er immer wieder in Briefen geäußert hat, eine unschätzbare kulturelle Bedeutung beimaß. Daher beteiligte sich Bartók maßgeblich an der schriftlichen Aufzeichnung der darin von den guslari zu hörenden Lieder. L e n o i r beschreibt in Zeugnissen von und über Bártok, wie intensiv er sich bei der Bewahrung und Ausdeutung dieser Lieder, speziell ihrer Melodien, engagiert hat. Als Ergebnis seiner Arbeit hat Bartók zusammen mit Lord ein Buch mit dem Titel Serbo-Croation Folk Songs. Text and Transcriptions of 75 Folk-Songs from the Milman-Parry-Collection and a Morphology of Serbo-Croation Folk Melodies vorgelegt, das 1951 erschienen ist. 3. Der äußere Rahmen oraler Epik: Vortrag, Sänger, Publikum J. M. F o l e y , der im Berichtszeitraum wohl produktivste Homerforscher im Bereich der Epenkomparatistik, hat sich unmittelbar zu Beginn des Berichtszeitraums auch zur Figur des Sängers in der oral poetry am Beispiel des Halil Bajgorić geäußert und dieses Thema in einem Aufsatz von 1990 wiederaufgegriffen und erweitert (1336, 73 Der Begriff findet sich in dem Aufsatz von N. Hepp, Homère en France, AAT 96, 1961– 1962, 389–508.
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1355). Methodischer Ansatz ist wie auch sonst in seinen Arbeiten der Vergleich zwischen den homerischen Epen und der südslawischen mündlichen Epik. Er kommt in der Summe zu folgenden Resultaten: 1. Die Darstellung des legendären Sängers, also auch Homers, müsse nicht notwendigerweise ihren Kern in einer realen Person gehabt haben, sondern könne auch eine poetische Tradition repräsentieren; durch den legendären Sänger werde so die Tradition anthropomorphisiert. Mit dieser These werde die Fragestellung nach dem kreativen Dichter und seinem Verhältnis zur Tradition obsolet. 2. Der Hinweis auf den legendären Sänger als Repräsentanten der Dichtungstradition führt zu einem grundlegenden Kompositionsprinzip, nämlich der ›Variation innerhalb von Grenzen‹, da der Bezug auf eine nicht konkret faßbare, gleichwohl personale Instanz es ermögliche, nicht sklavisch der Tradition zu folgen, sondern auch individuelle Gestaltungswege zu begehen, ohne die Tradition damit zu verraten. Immerhin habe ja auch der legendäre Sänger in den vielfältigsten Variationen erzählt. 3. Hinter der schwankenden Oberfläche des jeweiligen Vortrags stehe eine über den Prozeß der traditional referentiality (zu diesem Begriff s. unten S. 121) hier S. 76 verbürgte Einheit der Tradition, so daß in Konzeption und Deutung der Texte Tradition und Neuerung eine Art von Einheit bildeten. Die Konsequenz aus F o l e y s Thesenfolge, die angebliche Überwindung der Fragestellung von Tradition und Neuerung, ist freilich keineswegs zwingend. Es geht ja in der Homerexegese letztlich nicht um die Person Homers, sondern um die Ilias bzw. die Odyssee, also um die Frage, wie sich diese Epen zur im 8. Jh. v. Chr. noch lebendigen Dichtungstradition verhalten. Es ist doch einigermaßen unwahrscheinlich, daß in der im 8. Jahrhundert bestehenden Dichtungstradition Epen mit knapp 15 700 oder etwas mehr als 12 000 Versen existierten. Somit ist der Ilias- oder Odyssee-Dichter keine Ableitung aus der Tradition, sondern eine Denknotwendigkeit, um zu erklären, wie es möglich wurde, die Tradition so weit zu transzendieren. Ausgehend von den Aussagen im homerischen Epos und hier speziell von den Versen α 351 f. hat T. K r i s c h e r ebenfalls 1990 die Beziehung zwischen dem mündlichen Sänger und der Entwicklung der Epik untersucht (1398). Zunächst verweist er, explizit W. Schadewaldt folgend74, auf die Irrealität des Sängerbildes, das in der Odyssee anhand von Demodokos und Phemios gezeichnet wird. Der folgende Abschnitt macht deutlich, daß speziell Demodokos’ Rolle durch das Auftreten des Odysseus, der in seinen Apologen ja ebenfalls als Sänger auftritt, verändert werde. Man dürfe annehmen, daß vor der Odyssee dem ἀοιδός, der in seinen Liedern von den κλέα ἀνδρῶν, von ›verkündeten Taten der Männer‹ singt, auch das Künden von so etwas wie historischer Wahrheit, zumindest das Vermitteln eines recht verläßlichen Abbilds heroischer Taten zugestanden wird. Das gelte nun, da die Darstellung von Odysseus’ Taten durch einen Augenzeugen – eben Odysseus selbst – verbürgt wird, 74 Die Gestalt des homerischen Sängers, in: Von Homers Welt und Werk, Stuttgart 31959, 54–86.
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beim aoidos nicht mehr ohne weiteres. Κλέος beginne damit das zu bezeichnen, was man hört, dem aber das Kriterium, ob dieses Gehörte auch wahr ist, nicht mehr unbedingt innewohnt. Damit nähere es sich in seiner Bedeutung dem semantisch verwandten Begriff ἀκοή an. Die These K r i s c h e r s hat einiges für sich, zumal sie gut zu der Tatsache paßt, daß in der Odyssee viele der iliadischen Werte neu verhandelt und nicht selten auch neu definiert werden; man denke etwa an die Frage ›langes Leben oder Ruhm um den Preis eines frühen Todes‹. Auch M. L. W e s t hat sich 1990 zur Arbeitsweise des Sängers, speziell der südslawischen Guslare, geäußert (1540) und damit seine Hypothese über die Entstehung der homerischen Epen, nämlich A. B. Lord folgend als diktierte Texte, abzusichern versucht. Sein Ausgangspunkt sind die antiken Nachrichten zur Person Homers; diese und der Vergleich mit den Guslaren lege es nahe, als Motiv für die Komposition von Texten mit dem enormen Umfang, wie ihn Ilias und Odyssee haben, nicht die Intention des Sängers selbst anzunehmen, sondern die Anregung durch einen vermögenden Auftraggeber. Mit der ihm eigenen argumentativen Präzision kommt W e s t hier so weit, wie man in dieser Frage kommen kann, aber natürlich sind andere Annahmen damit nicht zwingend widerlegt. Ch. S e g a l hat sich, wie er zu Beginn seines Beitrags (1501) im 1992 erschienenen Sammelband Homer’s ancient readers (183; s. Bericht, Kap. 1, Lustrum 54, 2012, 222) anmerkt, nicht mit dessen Lesern, sondern mit dessen Hörern befaßt, also die Rezeptionssituation beim mündlichen Vortrag eines Aoiden zu rekonstruieren versucht. Zu diesem Zweck zieht er vor allem die Szenen am Phäakenhof heran, in denen das Wirken des Demodokos geschildert wird. S e g a l findet viele gesellschaftliche Funktionen aus der Gegenwart des Sängers in diesen Darstellungen wieder (Rückbesinnung auf alte ruhmvolle Zeiten, Wertebewahrung und -vermittlung, die Erzeugung einer Diskrepanz zwischen der inhaltlichen Dimension großen Leidens und der τέρψις über die ästhetische Schönheit in ihrer Darbietung). Zudem dienten sie auch der Charakterisierung des Publikums, insbesondere der Phaiaken oder – beim Vortrag des Phemios – der Freier am Königshof in Ithaka. Zugleich verweist S e g a l darauf, daß der Stimme des Sängers gleichsam eine materielle Dimension zugestanden werde. Im ganzen sehe sich der Sänger in einer privilegierten Position, da er sein Können nicht nur sich selbst, sondern auch den Göttern verdanke; dementsprechend sei sein Augenmerk auf das Erzielen möglichst großer Wirkung beim Publikum gerichtet. In S e g a l s Darstellung ist sehr vieles richtig beschrieben, allerdings muß, wie S e g a l es auch tut, wenn immer vom Homeric bard die Rede ist, bedacht werden, daß auch Demodokos und Phemios Produkte einer poetischen Phantasie sind: die beiden Sänger entsprechen vielleicht dem, was ein aoidos des 8. Jahrhunderts als seiner Tätigkeit angemessen angesehen haben dürfte, aber wohl kaum der historischen Realität der geometrischen Zeit. Darauf verweist allein schon die Tatsache, daß es solche Königspaläste, wie sie in den homerischen Epen beschrieben werden, im 8. Jahrhundert nicht gegeben hat. Insofern geben die Vergleiche mit sicher dokumentierter oral poetry anderer Kulturen wohl bessere Aufschlüsse über Intentionen und Stellung des epischen Sängers. Auch A. F o r d hat die Frage, wie man sich eine improvisiert-orale Darbietung (performance) der Ilias vor Publikum vorzustellen habe, einer konsequenten Prüfung
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unterzogen (1358); der zunächst unverständlich erscheinende Teil des Titels, nämlich The Inland Ship, geht zurück auf einen Vergleich, den F. A. Wolf in seinen Prolegomena ad Homerum angestellt hat, in dem er die Monumentalität der homerischen Epen mit einem gewaltigen Schiff vergleicht. In einem ersten Teil macht F o r d wahrscheinlich, daß eine vollständige Darbietung von Ilias und Odyssee in der archaischen Zeit schwer vorstellbar ist und daß die homerischen Epen frühestens bei Herodot überhaupt erst als wirkliche Einheit wahrgenommen wurden. Auch sei die Frage nach ihrer poetischen Qualität, deren Erweis das wohl wichtigste Thema der modernen Homerinterpretation darstellt, erst ab dem 5. Jahrhundert v. Chr. wichtig geworden. Für die in dieser Zeit entstehende neue Sicht auf Homer führt F o r d Antisthenes’ Interpretation des Epithetons πολύτροπος als Beleg an (X. smp. 3.6). Für die Zeit davor, in der die Deutungshoheit über Homer bei den Rhapsoden lag, zeigen die antiken Quellen eher eine Rezeption Homers als eines Aphoristikers, dessen Sentenzen wortgenau zitiert werden. F o r d zieht folgendes Fazit: »the function of such a long, well-designed text as the Iliad remains enigmatic in a society accustomed to hearing epic in oral performance« (S. 108). Der Aufsatz endet mit der Schlußfolgerung, daß eine schriftlich abgefaßte Ilias nur als eine Imitation einer mündlichen Darbietung angesehen werden kann. Das dürfte für den homerischen Stil im allgemeinen zutreffen, für die Frage des Umfangs, der Struktur und der Charakterisierung des epischen Personals wohl eher nicht. G. A. S a m o n à hat sich in einem Aufsatz von 1983 zur Bestimmung der sozialen Funktion eines mündlich improvisierenden Sängers (aoidos) geäußert und seine Erkenntnisse in einer Monographie von 1984 noch erweitert (1487, 1488); das erste Kapitel der Monographie entspricht dem ein Jahr zuvor veröffentlichten Aufsatz. S a m o n à s inhaltliche Ausgangsposition ist, daß im archaischen Griechenland und auch schon bei Homer der Sänger (aede) ein Mittler zwischen dem Heiligen und dem Profanen sei. Dementsprechend erstreckt sich seine Analyse weniger auf die literarische oder sozialhistorische als auf die religiöse Ebene. Vor allem der erste Teil der Monographie ist für die Homerforschung interessant, da S a m o n à hier die Stellen der Ilias bespricht, in denen jemand als Sänger (cantore) agiert. Er verbindet hierbei – insbesondere bei der Figur des Achilleus – die Tätigkeit des Sängers mit der des Kriegers und des Propheten und kommt auf Grund der Verse I 185–191 und der Schildbeschreibung im Σ – wo S a m o n à allerdings dem Krieg nicht den Gesang, sondern den Tanz gegenüberstellt – zu dem Schluß, daß Homer damit auf die Wirkungsfelder des Apollon hinweise: die des strafenden Rächers (Symbol: der Bogen) und des Gesanges (Symbol: die Kithara). Hinzu komme als drittes noch das divinatorische Wirkungsfeld des Apollon, und über den Gesang werde diese Wirkmöglichkeit auch an den Sänger vermittelt: Der Sänger werde so zum metieta (μητιέτα), zum Repräsentanten von μῆτις. In diesem letzten Punkt wirkt S a m o n à s Argumentation allerdings wenig überzeugend.75
75 Die Funktion der Sänger in Ilias und Odyssee wurde demgegenüber überzeugender von S. Grandolini dargestellt (569; s. Bericht, Kap. III, Lustrum 54, 2012, 300).
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Das zweite Kapitel des Buchs bezieht sich auf gefährliche zweideutige Gesänge, wie sie die Sirenen und die Sphinx vor Theben von sich geben. Halb Mensch und halb Tier stellen sie die gefährliche, ja todbringende Form der Metis dar. Kapitel drei und vier haben dann mit dem Homertext weniger zu tun: hier geht es um die Funktionsbestimmung der Rhapsoden, deren Stab (ῥάβδος) als Szepter zu verstehen sei und die Beziehung des Sängers zum Schamanen. Es ist allerdings anzumerken, daß der Begriff ›Rhapsode‹ nicht mit ῥάβδος (›Stab‹), sondern mit ῥάπτειν (›nähen‹) zu verbinden ist76. Auch B. O g u i b é n i n e hat die Funktion des homerischen aoidos innerhalb seines sozialen Umfelds untersucht und seine Erkenntnisse mit denen zur Funktion des vedischen Opferpriesters verglichen (1448). Bei der Rekonstruktion des sozialen Umfelds, in dem sich der homerische Sänger bewegte, unterscheidet er mit Bezug auf eine Arbeit von J. Svenbro77 vier Varianten: 1. Demodokos singt in einem sicheren und harmonischen Umfeld, nur den Musen verpflichtet, κατὰ μοῖραν von den ruhmreichen Taten der Helden (θ 73). 2. Phemios ist, in einem schwierigen Umfeld, nicht nur Objekt einer höheren Macht der Inspiration, sondern muß auch menschlichen Wünschen – denen der Freier – folgen. 3. Thamyris ist der Repräsentant einer dritten Konstellation. Dieser Sänger verweigert sich den höheren Mächten der Inspiration, also den Musen, da er zu sehr seinen eigenen Fähigkeiten vertraut (B 594–600). 4. Der aoidos Agamemnons, von dem in γ 267–271 die Rede ist, verweist auf eine vierte Konstellation. Obwohl vom Herrscher zum Beschützer seiner Gattin während seiner Abwesenheit bestimmt, kann er den sich verändernden Machtverhältnissen in Mykene – Usurpation der Herrschaft durch Aigisthos – nichts entgegensetzen und verliert als Vertreter der alten Ordnung sein Leben. Nach dieser Klassifizierung unterscheiden sich die homerischen Sänger in ihrer Position zur Sphäre des Göttlichen oder der menschlichen Macht, haben aber im Grundsatz durch ihre Verbindung mit dieser Sphäre eine bedeutende soziale Kontrolle über ihr menschliches Publikum. In diesem Punkt gleichen sie den vedischen Sängern beim Opfer, doch weichen diese von den homerischen in dem Punkt deutlich ab, daß sie durch ihre Texte, also durch das Wort, zwischen der menschlichen Welt, repräsentiert durch den patron du sacrifice und den Priestern, und der Sphäre des Göttlichen eine einzigartige innere Dynamik erzeugen. Daß diese sozial herausgehobene Stellung des Sängers indogermanisches Erbe ist, macht O g u i b é n i n e durch einen Blick auch auf die keltische Kultur wahrscheinlich. Daß Homer den Sänger Phemios sich selbst in seiner Kunstausübung als αὐτοδίδακτος bezeichnen läßt, deutet J. Th. K a k r i d i s in einem kurzen Aufsatz (1392) als besondere Ausnahme im Rahmen dichterischer Freiheit, ohne daß er
76 J. Latacz, DNP 10, 2001, 947, s. v. Rhapsoden. 77 La parole et le marbre. Aux origines de la poétique grecque. Lund 1976.
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freilich die Funktion dieser Ausnahme näher bestimmt. K a k r i d i s betont, daß die mündlich improvisierende Schöpfung von Epen zu komplex ist, als daß ein Sänger sie ohne gründliche Ausbildung sowohl in formaler als auch inhaltlicher Hinsicht erworben haben könnte. Wieder anders ist der Blickwinkel auf den aoidos bei E. S t e i n (1514), wenn sie die Entwicklung vom mündlich improvisierenden Sänger, der sich zu seiner Person nicht äußert, zum Autor mit ganz individuellem Stil- und Gestaltungswillen beschreibt. Parry und Lord zufolge war es dem mündlichen schaffenden Sänger genug, sich als Teil einer Tradition zu sehen; diese sieht S t e i n vor allem darin, die Tradition als Aufrechterhaltung der κλέα ἀνδρῶν zu bewahren. Das habe sich dann schon bei Hesiod verändert, da dieser sich als Tröster der Menschen und Verkünder der Wirklichkeit sehe. Archilochos sei es in seinen Gedichten um sein eigenes κλέος gegangen. Sappho habe dann das κλέος-Motiv wieder abgewandelt, weg vom Politisch-Militärischen und Gesellschaftlichen hin zum κλέος durch Poesie und der Zuwendung seitens der Musen. Mit dieser Entwicklung sieht S t e i n auch eine Abwendung vom Medium der Mündlichkeit: Schon Hesiods Selbstverständnis setze im Grunde das Medium der Schrift voraus. Auf die Funktion der Musenanrufe in der performance von Heldendichtung haben sich M. F i n k e l b e r g (1331) und E. M i n c h i n (1424) in Aufsätzen von 1990 bzw. 1995–96 bezogen. F i n k e l b e r g hat mit Blick auf Aussagen Homers und südslawischer Guslare, namentlich Avdo Međedović, darauf verwiesen, daß die mündlich schaffenden Epiker sich bezüglich der faktischen Vorgaben als Objekte bestimmter Instanzen empfinden: die südslawischen als Objekt der in der Tradition vorgegebenen Ereignisfolge, die es weiter zu bewahren gelte, die griechischen als Objekt der Muse, die ihnen Kreativität und Innovation erlaube. Daraus sei möglicherweise den griechischen Sängern die Möglichkeit erwachsen, größere Epen zu schaffen, da sich in den Handlungsfaden immer neue Episoden (themes) einflechten ließen. Bei den themes nimmt F i n k e l b e r g als Beispiel die Aristien, die mit Bezug auf ihren jeweiligen Ausgang mehrere Möglichkeiten der Ausgestaltung eröffneten. M i n c h i n nimmt bei ihrem Aufsatz zunächst die Wirkung der die Erzählung unterbrechenden Musenanrufe auf den Rezipienten zum Thema, um dann zur eigentlichen Frage zu kommen, warum die Musenanrufe gerade dort plaziert sind, wo sie stehen. Sie wendet sich dabei besonders gegen die These von W. W. Minton, wonach diese Anrufe besondere Höhepunkte im Geschehensablauf markieren, die Aufmerksamkeit also auf das Folgende lenken sollten78. Vielmehr versucht sie, diese Frage mit Bezug auf den mündlich improvisierten Vortrag zu klären: Der aoidos gebe mit dem Musenanruf den Hörern (von der Autorin immer als knowing audience bezeichnet) ein Signal, daß die Struktur der Geschichte sich ändere. So sei der Musenanruf vor dem Brand auf den Schiffen (Π 112–113) für das Publikum der Ilias ein Signal, daß nun – in aristotelischer Terminologie (poet. 1455 b 24) – die δέσις der Ilias-Handlung
78 Homer’s Invocations of the Muses: Traditional Patterns, TAPhA 91, 1960, 292–309; Invocation and Catalogue in Hesiod and Homer, TAPhA 93, 1962, 188–212.
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zu Ende sei und die λύσις beginne, so daß ein weiterer Musenanruf nicht mehr erfolge. Daher gebe es auch in der Odyssee außer dem Musenanruf im Proöm keinen weiteren, weil alles λύσις sei. Mithin seien die Musenrufe bei Homer nicht »content-based«, sondern »performance-based« (S. 29). Ob allerdings das Publikum der Ilias diese doch sehr spezielle Funktion wahrzunehmen vermochte, zumal es ja M i n c h i n zufolge einem kontinuierlichen Vortrag von knapp 16 000 Versen folgte, erscheint nicht recht plausibel. Daß ein Musenanruf eine Form des Gebets darstellt, wird von M i n c h i n zwar erwähnt (S. 26), aber zugunsten der rezeptionssteuernden Funktion nicht weiter ausgedeutet Die Beziehungen zwischen dem oral poet und der Gestalt des Nestor sind das Thema einer Monographie, die K. D i c k s o n 1995 veröffentlicht hat (1313). In der Tat kann man in den Reden und der Wesensart dieser Figur grundsätzliche Funktionen eines aoidos wiederfinden. So vertritt Nestor etwas, was man als Autorität der mündlichen Erzähltradition bezeichnen kann, und das läßt Homer ihn in H 128 selbst sagen: Auf die Frage des Peleus nach πάντων Ἀργείων … γενεήν τε τόκον τε sei er selbst der richtige Adressat gewesen. D i c k s o n geht bei seiner Argumentation von der Gestalt des Thamyris aus, eines Sängers, dem die Musen seine Fähigkeit zum Singen nahmen (B 594–600). Daß sich diese Begebenheit inmitten der geographischen Beschreibung von Nestors Herrschaftsbereich (›Pylos‹) findet, ist erstaunlich, denn eine vergleichbare Digression innerhalb einer Liste von mehreren Ortsnamen ist im Katalog sonst nicht belegt. D i c k s o n s Vermutung, daß hier ein kontrastierender Bezug zu Nestor über das Problem von Wahrheitsliebe und das Erzählen von Geschichten hergestellt werden soll, überzeugt nicht gänzlich, scheint aber gegenwärtig die einzige Deutung zu sein, die dieser Besonderheit kontextbezogen interpretatorisch gerecht werden kann. Im nächsten Kapitel des Buches mit der Überschrift ›Nestor und aoidos‹ werden die Verbindungen zwischen beiden auf vielfältigen Ebenen herausgearbeitet, insbesondere die Parallelen zwischen Nestor, dem aoidos und dem Propheten Kalchas. Mit diesem bringt D i c k s o n dann immer wieder auch den Erzähler als narrative authority in Verbindung. So sei etwa der aoidos über die Musen ebenso mit Apollon verbunden wie ein Seher. Zugleich betont D i c k s o n aber auch Unterschiede zwischen Nestor, Kalchas und dem aoidos und zieht zur Erklärung auch die Narratologie heran (z. B. S. 67: »embedded narration is far more characteristic of the speeches of Nestor« [sc. verglichen mit denen des Kalchas]79). Was Nestor und den aoidos besonders eng verbindet, ist das Aufrechterhalten des κλέος ἀνδρῶν, was freilich eine ambivalente Funktion habe: Einerseits geben sie durch Erzählungen Beispiele, andererseits nehmen sie selbst nicht mehr handelnd am Geschehen teil. In der zweiten Hälfte von D i c k s o n s Buch werden die Verbindungen zwischen Nestor und dem aoidos und damit auch der poetic memory, von der im Buchtitel die Rede ist, weitaus weniger deutlich betont; vielmehr wird hier eine generelle Charakterdeutung Nestors angestrebt. Da aber – wie in den Kapiteln 3 und 4 seines 79 Vgl. dazu K. Dickson, Kalkhas and Nestor: two narrative strategies in Iliad 1, Arethusa 25, 1992, 327–358.
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Buches umfassend gezeigt wird – Nestor auch als Vermittler und Gastgeber eine bedeutende Rolle spielt, so ist es auch hier die ›Erinnerungskompetenz‹, die sein Agieren im Epos bestimmt, und mit Blick auf den ersten Teil ist so der aoidos gleichsam verdeckt mitgedeutet. D i c k s o n s Untersuchung bietet für die Bewertung der Figur ›Nestor‹ auch über die Verbindung mit dem aoidos eine Fülle von guten Beobachtungen, die eine seiner ausgeprägtesten Eigenschaften, die »logorrhea« (S. 223), auf ihre Hintergründe untersucht und dabei das Bild des geschwätzigen Alten doch überzeugend zu modifizieren vermag. Zugleich ist hervorzuheben, mit welcher methodischen Präzision D i c k s o n argumentiert und wie er dabei die jüngeren Hilfsmittel der Homer philologie miteinbezieht. In einem Beitrag zum Grenobler Milman-Parry-Kongreß hat D. P r a l o n anhand der Figur des Demodokos und seiner drei Gesänge im θ zusammengestellt, was die Odyssee an Darstellungen zu Tätigkeit und Funktion des aoidos enthält (1470). P r a l o n zufolge entwirft Homer hier das Bild einer Person, die im Sozialgefüge an einem Herrschersitz einen bedeutenden Rang einnimmt. Wesentlich dafür sei die Tatsache, daß sie durch ihre Vortragskunst besonders befähigt sei, ganz verschiedenen Themengebieten gerecht zu werden und so alle möglichen Formen emotionaler Reaktion hervorzurufen. Bei der Auswahl seiner Themen erscheine der Sänger zunächst einmal ein Objekt der Muse, nicht des Auditoriums; damit erhalte seine Tätigkeit etwas Autonomes. Die von Homer immer wieder thematisierte Fähigkeit des Demodokos, sein Auditorium in seinen Bann zu ziehen, wird durch P r a l o n s mikroskopische Textanalyse seiner drei Gesänge – zwei als Paraphrasen wiedergegeben, eines als narrativer Gesang – sehr anschaulich. Er zieht abschließend das Fazit, wonach die Gesänge des Demodokos in ihrer Summe als eine Poetik des aoidos zu verstehen seien. Aber auch für die Deutung der Tradition komme dem aoidos eine wichtige Funktion zu: So werde durch das dritte Lied des Demodokos klar, daß nicht Achilleus, sondern Odysseus die bedeutendere Figur im Krieg im Troia gewesen sei. Mit ähnlichem Ergebnis, aber in ausführlicherer und weiter ausgreifender Form hat R. S c o d e l 1998 die Unterschiede in der Darstellungsabsicht eines nicht-oralen Erzählers und eines aoidos (in ihrer Terminologie: bard) zu beschreiben versucht (1498). Zunächst einmal geht sie davon aus, daß die homerischen Epen vollständig oral sind (S. 171: »As Homeric epics represent epic performance«), was angesichts der Ergebnisse der Homerforschung in dieser Eindeutigkeit so nicht haltbar ist. Allerdings hat diese Annahme keine Konsequenzen für den weiteren argumentativen Duktus, da es um das Thema geht, wie in den homerischen Epen das Wissen des Sängers und seine Darstellungsprinzipien präsentiert werden, und hier hat die Forschung zeigen können, daß Homer in dieser Hinsicht fest in der Tradition der Oralität verwurzelt ist. Von dieser Basis ausgehend, setzt S c o d e l an den Anfang ihrer Argumentation zwei Thesen: 1. Nicht-orale Erzählung erhält ihre Autorität aufgrund von persönlicher Erfahrung oder allgemeinen menschlichen Erkenntnissen, der Sänger hingegen von den Musen, und diese garantieren, daß der Sänger auch von den Taten der Götter erzählen kann;
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2. ein Sänger will das Publikum nicht manipulieren, nicht zuletzt deswegen, weil er das, was er weiß, als nicht von Menschen gelernt ansieht. Er kann diese Inhalte daher auch nicht für eigene Zwecke instrumentalisieren. S c o d e l belegt diese Thesen anhand von Stellen, in denen homerischen Helden ihre Unwissenheit darüber ausdrücken, ob das, was sie sagen, wenn es sich etwa um die Darstellung von Sachverhalten aus früherer Zeit handelt, auch wahr ist. Entscheidendes Wahrheitskriterium ist demnach die Augenzeugenschaft. So müssen für den Sänger die Musen oder auch Apollon die Zugänge zu grundlegendem menschlichen Wissen bilden. Aufgabe des Sängers sei es, aus diesem als vollständig vorzustellenden Wissen der Musen für seine performance das auszuwählen, was ihm passend erscheine. Die Sänger übernähmen so zwar die orale Tradition, fügten aber den Bereich des Göttlichen mit in ihre Darstellung ein; hierin unterlägen sie keiner Beschränkung. Aufgrund dieser Tatsache, daß der Sänger sein Wissen gleichsam von außen erhalte, biete er es S c o d e l zufolge so dar, daß es nicht funktionalisiert ist, also nicht manipulativ wirken soll. Das zeige sich im besonderen daran, wie die homerischen Charaktere selbst sprechen: Der Sänger stelle sie, wenn er sie Reden halten oder Lieder (songs) vortragen lasse, sehr sachlich dar, womit er bei seiner performance hinter den Charakteren gleichsam verschwinde. Das werde, wie S c o d e l richtig betont, vor allem in der Aussage des Telemach in α 347–349 erkennbar. Der Gesang der Sirenen sei demgegenüber gewissermaßen ein ›Anti-Song‹, da es ja hier Götter selbst seien, die sängen, und die sängen nun in der Tat manipulativ. Damit zeige sich also die Poetik der performance eines Sängers als vom Publikum unabhängig und unvoreingenommen. Das bedeute zugleich, daß das Publikum nicht damit zu rechnen hat, vom Sänger manipuliert zu werden. Im ganzen hat S c o d e l hier wesentliche Aspekte der homerischen Poetik dargestellt: Sie deutet die deskriptive Sachlichkeit des Epos als Erbe der Tradition, in der der Sänger wurzelt. Dafür spricht nach S c o d e l Aufsatz einiges. 4. Die Technik der Versbildung a. Epitheton und Nomen-Epitheton-Formel Seit Parry gilt die Formel, speziell die Nomen-Epitheton-Formel, im Sinne einer in der mündlichen Tradition vorgegebenen Wortverbindung als ein wesentliches Element des homerischen Stils, so daß es den Anschein hatte, als könnte das Auffinden von Formeln auch über die Nomen-Epitheton-Formeln hinaus zur Beschreibung des spezifisch homerischen Stils im Grundsatz ausreichen. Wie jedoch die folgenden Anmerkungen zeigen werden, ist das, was unter dem Begriff der Formel verstanden wird, so weit ausgedehnt worden, daß nahezu alle auch nur einmal wiederholten Wortverbindungen oder auch syntaktischen Strukturen vom Typus ἄλγεα πάσχων (als sog. analogische Formel) erfaßt werden konnten. Diese Entwicklung zeichnete sich bereits in den 1960er Jahren ab. Das stilistische Profil der homerischen Epen wurde seitdem immer stärker in Richtung einer Prägung durch orale Tradition gedeutet, zum einen anhand des Vergleichs mit unzweifelhaft schriftlich komponierter Dichtung, zum
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anderen anhand des Vergleichs mit eindeutig oral geschaffenen Epen aus dem südslawischen Raum, eben den Epen, die Parry und Lord aufgezeichnet hatten. Hierdurch trat die Methodik des Ὅμηρον ἐξ Ὁμήρου σαφηνίζειν deutlich in den Hintergrund, was vor allem bei der amerikanischen Homerforschung zu beobachten ist. Ein zentrales Ergebnis von Parrys Dissertation war die Klassifizierung in der Verwendung der Epitheta innerhalb von Nomen-Epitheton-Formeln. Im Grundsatz gebe es vier Deutungsmöglichkeiten, nämlich: 1. ›partikularisiert‹, also mit unmittelbarem Bezug auf den Kontext, 2. ›distinktiv‹, also nur in Verbindung mit dem Namen einer bestimmten Figur, mit konkretem Bezug auf den Kontext, 3. ›ornamental‹, also bei einer bestimmten Figur ohne Bezug auf den unmittelbaren Kontext, 4. ›generisch‹, also ohne konkreten Kontextbezug und in Verbindung mit mehreren Figuren. Nach diesem Modell hat sich die Verwendung von Epitheta unter den Zwängen der improvisierenden Versegenese auf der Basis von Formeln immer stärker in Richtung eines fehlenden Kontextbezugs entwickelt. Für den Berichtszeitraum ist im Rahmen der Funktionsbestimmung der Epitheta festzustellen, daß der von Parry postulierte Grundsatz eines fehlenden Kontextbezugs zusehends in die Kritik geraten ist; in etlichen Aufsätzen sind Ergebnisse formuliert wurden, die diese These als zu rigoros erweisen, wobei in der Regel der metrische Aspekt durchaus Berücksichtigung gefunden hat. Insofern darf man für den Stand des Jahres 2000 sagen, daß ein wirklicher hard-parryism von der Forschung weitgehend aufgegeben wurde, aber ein klares Bild vom Kontextbezug der Epitheta bzw. den Prinzipien ihrer Verwendung noch nicht vorliegt. M. C a n t i l e n a hat in einem am Urbinater Oralitätskongreß gehaltenen methodisch wichtigen Vortrag die Forschungssituation zum Wesen der Formel, besonders der Nomen-Epitheton-Formel, am Beginn der 1980er Jahre umrissen (1286). Er trennt hier, ausgehend von Parrys Formeldefinition, zwischen den Forschern, die die Formel generell eher semantisch definieren (Hainsworth, Kiparsky, Nagy), und denen, die sie als Produkt der Metrik auffassen (Ingalls, Pavese, Gentili). Nach sorgfältiger Beschreibung der jeweiligen Prämissen und Konsequenzen, wie sie in den Thesen der contenutisti bzw. metricisti enthalten sind, formuliert C a n t i l e n a seine Sicht der Dinge in der Form, daß diese Alternative zu kurz greife und postuliert die folgenden drei Funktionen der Formel: 1. Sie bringe die Erzählung voran (»porta avanti il racconto«, S. 289); speziell werde durch die Nomen-Epitheton-Formel mit dem Epitheton von der gegenwärtigen Formulierung auf eine bestimmte Folge von Handlungen zurückverwiesen; 2. Sie habe wie die Wiederholung eines musikalischen Motivs für den Hörer eine angenehme ästhetische Funktion; 3. Sie habe eine technische Funktion in der Versbildung.
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Gerade bei diesem letzten Punkt formuliert C a n t i l e n a sehr dezidiert und setzt sich damit von den contenutisti ab. Für den Inhalt einer Formel schlägt er, um eine Differenzierung zu markieren, den Begriff des traditionellen Ausdrucks ( frase tradizionale) vor, den er als eine sich in verschiedener metrischer Konkretisierung manifestierende Assoziation von Wörtern (»un’associazione di parole ripetuta in diverse condizioni metriche« [S. 290]) definiert. Die frase tradizionale seien ein Spezifikum oraler Dichtung, die mit ihnen sehr stark durchsetzt sei. Dagegen seien Formeln, die für die Versbildung genutzt würden, konkret in der Tradition vorhandene Einheiten, die sich über formelhafte Ausdrücke, strukturelle Formeln bis hin zu nicht-traditionellen Formeln entwickelt hätten. Eine allgemeine Übersicht über den Begriff der Formel hat auch K. O ’ N o l a n am Beginn des Berichtszeitraums gegeben. (1446). Bei ihm ist dieser Begriff sehr weit gefaßt, da er neben der epischen oral tradition auch die Prosa und die Folklore miteinbezieht. Er subsumiert unter diesem Begriff auch nicht nur Wortverbindungen, sondern im Grunde alles Wortmaterial, das sich durch Wiederholungen als traditionell erkennen läßt. Zum Thema der doublets in der oral tradition, die O ’ N o l a n ebenfalls abweichend vom terminologisch üblichen Sprachgebrauch verwendet und auf die er auch in diesem Aufsatz eingeht, sowie zu seiner Sichtweise auf die NomenEpitheton-Formeln sei auf die Anmerkungen zu 1445 (s. hier S. 88) verwiesen. Neu gegenüber diesem eben genannten Aufsatz ist hier die Frage nach der Entstehung sog. langer Formeln, also mehrere Verse mit stark formelhafter Prägung. O ’ N o l a n geht hierzu von dem Satz in der Poetik des Aristoteles aus, daß das Epos ἀόριστος τῷ χρόνῳ (1449 b 14) sei und deswegen für die Verdeutlichung des permanenten Fortschreitens der Handlung Einschnitte oder Unterbrechungen benötigt würden; O ’ N o l a n bezeichnet sie als points of punctuation. Er versteht darunter typische Szenen, von ihm als »recurrent scenes« (S. 28) bezeichnet. Hier seien sowohl in der griechischen wie auch irischen oral tradition eine Fülle formelhafter Wendungen feststellbar; bei Homer seien sie dann durch »the straitjacket of metre« (S. 30) fixiert worden. Die einzige Möglichkeit für einen oral poet darauf individuell zu reagieren bestehe in der Verkürzung (curtailment). Zum Abschluß verweist O ’ N o l a n auf die Gleichnisse, bei denen er ebenfalls eine Funktion der punctuation annimmt, die aber unter diesem Gesichtspunkt noch nicht untersucht worden seien. R. D u n k l e hat für Parrys Funktionsbestimmung der Achilleus-Epitheta, die vor allem auf die Fähigkeit zu schnellem Laufen verweisen – ein Fundament der gesamten Theorie von improvisierter Versbildung – eine neue Erklärung angeboten (1315). Er geht von einer Deutung J. M. Foleys aus, wonach diese Epitheta dazu dienten, dem Publikum (vermutlich dem einer performance) die Figur des Achilleus über die lange Erzählstrecke seiner Untätigkeit mit seiner sprachlich am deutlichsten hervortretenden Eigenschaft präsent zu halten80, nämlich der Geschwindigkeit. Um diese These zu konkretisieren, zieht D u n k l e das Gleichnis in X 159–164 heran, von ihm wie folgt paraphrasiert: Achilleus sei bei der Verfolgung des Hektor in seiner Geschwindigkeit 80 Immanent Art: From Structure to Meaning in Traditional Oral Epic, Bloomington/Indianapolis 1993, 41.
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so überlegen wie ein Streitwagen einer Person, die rennt. Damit verweise er außer auf Achilleus’ Schnelligkeit mit den Füßen auch auf seine herausragende Stellung im Wagenrennen. Weitere Belege dafür findet er im Ψ, aber auch schon zuvor im Vergleich mit Antilochos, Diomedes und Odysseus. Der Zuhörer, den D u n k l e imaginiert, hätte dadurch verstehen können, daß eine herausragende Fähigkeit als Wagenlenker ebenfalls ein wesentlicher Teil von Achilleus’ ἀρετή ist. Daß diese Hinweise auf Schnelligkeit nach dem X weitgehend fehlen, zeige laut D u n k l e einen anderen, nachdenklich gewordenen Achilleus. Überzeugende statistische Belege für diese These fehlen allerdings, und die wären bei einer so weitgehenden Schlußfolgerung wie der semantischen Refunktionalisierung der epitheta ornantia doch wünschenswert. Auch erscheint die Deutung des Gleichnisses im X problematisch, da die Pluralform θέον (161) neben Achilleus auch Hektor als handelnde Figur einbezieht. Deutlich ablehnend gegenüber dem hard-parryism, wonach die Nomen-EpithetonFormel generell den Kernbestandteil des homerischen Stils bildet und das darin enthaltene Epitheton nicht situationsbezogen verwendet wird, hat sich H. S c h w a b l in Aufsätzen von 1979 und 1986 geäußert (1495, 1496). Er sieht in der Formel nicht primär metrisch determinierte Textbausteine, sondern ihre Funktion vor allem darin, dem Rezipienten Deutungshilfen für den weiteren, aber auch unmittelbaren Kontext zu geben. So deutet er die Junktur νήσωι ἐν ἀμφιρύτηι in α 198 (nicht 189) als bewußte Anspielung auf α 50, wobei freilich ein interpretatorischer Gewinn dieser Beobachtung nicht dargestellt wird. Noch problematischer ist die Annahme einer Anspielung der Junktur ἐν θαλάμωι in Z 321 auf Γ 382 und 391. Zwar geht es an allen drei Stellen um die Figur des Paris, doch ist das Wort θάλαμος, also Schlafgemach, erst einmal nur die Bezeichnung des Ortes, wohin Aphrodite im Γ den Paris entrückt und wo er verbleibt, um nach dem Ausbruch der Schlacht seine Rüstung anzulegen; ein anderer Begriff für ›Schlafgemach‹ steht bei Homer nicht zur Verfügung. Natürlich ist die Tatsache, daß Paris aus der Schlacht an einen Ort der Liebe entrückt wird, in den dann auch wieder der Krieg vordringt, von interpretatorischer Relevanz, aber die Bezeichnung dieses Ortes als solche dürfte durch den Wortlaut nicht besonders ›markiert‹ sein. Es wirkt im Zusammenhang mit dem wissenschaftlichen Wendepunkt, den Parrys Arbeiten gerade zu den Epitheta herbeigeführt haben, irritierend, wenn P. V i v a n t e diese Ergebnisse am Beginn der 1980er Jahre in mehreren Arbeiten, speziell in der Monographie The Homeric epithets. A Study in poetic values (1537; Vorarbeiten: 1534–1536) weitestgehend ignoriert. Für ihn ist an den Epitheta vor allem ihre inhaltliche und nicht ihre versifikatorische Funktion wichtig; entsprechend seien sie bei der Textdeutung zu verstehen. Dieses Übergehen ist bezogen auf seine wissenschaftliche Methodik fragwürdig, weil mit einem solchen Ansatz philologische Forschung in Gefahr gerät, nur noch Thesen unverbunden nebeneinanderzustellen, wenn etwa aus der Verwendung der Formel vom fußschnellen Achilleus in einer Redeeinleitung eine Charakterisierung seiner Art zu reden abgeleitet wird. Zwar müssen so erzielte Resultate zum besseren Verständnis des Homertext im Grunde nicht von vornherein grundsätzlich beliebig oder gar falsch sein, doch entbehren V i v a n t e s Thesen neben ihrer forschungsgeschichtlichen Isolierung auch für sich selbst eines weiterführenden
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Ansatzes, weil er in ihnen nur von persönlichen Eindrücken ausgeht; es dominiert hier der konstruktivistische Subjektivismus eines ὡς ἐμοὶ δοκεῖ. Insbesondere diskutiert V i v a n t e nicht, ob seine Funktionsbestimmung der Epitheta produktions- oder rezeptionsorientiert ist. Vielmehr stellt er, speziell in seinen Aufsätzen von 1980 und 1982 (1535, 1536), so etwas wie eine poetische Syntax auf. Hier bestimmt er die Funktion von Namen mit begleitendem Epitheton generell als Medium, welches eine konkrete, gewissermaßen selbständige Präsenz ausdrückt, also einen starken visualisierenden Effekt hat (s. vor allem 1537, 172–174). Dagegen sei das Nomen ohne Epitheton Teil eines Ausdrucks in einem größeren erzählerischen Zusammenhang. Im ganzen eröffnen V i v a n t e s Arbeiten keinen Weg, die Diskrepanz zwischen dem ›oralen Techniker‹ Homer und dem Dichter Homer besser zu erklären.81 Anderseits ist sein Wunsch, das Künstlerische im Homer wieder stärker zur Geltung zu bringen, durchaus begrüßenswert, nur bringt nach Parry ein nahezu ausschließlich rezeptionsästhetischer Ansatz keinen hermeneutischen Fortschritt. Unter einem komparatistischen Gesichtspunkt hat J. M. F o l e y in der Festschrift für A. B. Lord von 1981 den Begriff der Formel betrachtet (1340). Für Homer geht er dabei von der Annahme aus, daß die Zäsuren die Kola determinieren (»cola formed by the caesurae« [S. 265]), obwohl damit kaum zu erklären ist, warum es vor allem im B- und C-Bereich des homerischen Hexameters verschiedene Einschnitte gibt. Nach F o l e y sei von folgender Abfolge in der Versgenese auszugehen: Der für den Vers vorgesehene Inhalt determiniert die Kola, deren metrische Struktur die Zäsuren. Anschließend geht er auf den serbokroatischen deseterac ein, bei dem er – allerdings ohne auf den kategorialen Unterschied zwischen quantitierender und dynamischer Metrik hinzuweisen – eine Verwandtschaft zum homerischen Hexameter konstatiert, während das, was im Beowulf als Formel definiert werden könne, davon abweiche. Daher sei die Formel kein »concept fully applicable in a single form from one tradition to another« (S. 275). In fünf Aufsätzen aus den Jahren 1983 bis 1990 (1297–1301) hat E. C o s s e t die Nomen-Epitheton-Formel in bestimmten Kontexten zum Thema genommen und ist jeweils zu dem Ergebnis gelangt, daß Homer durchaus differenziert und flexibel mit den Epitheta auch bei angeblich schematisch erscheinenden Formeln umgeht. Damit ist eine andere Flexibilität gemeint, als sie J. B. Hainsworth in seinem 1968 erschienenen Buch The Flexibility of the Homeric Formula82 dargestellt hat, nämlich eine Auswahl des jeweiligen Epithetons mit konkretem Bezug zum engeren Kontext. In allen fünf Arbeiten sind etliche gute Erkenntnisse zu finden, doch wird im ganzen der Metrik – und damit den Zwängen einer improvisierten Versproduktion – nicht der Stellenwert gegeben, wie er ihr zumindest seit Parry gegeben werden müßte. In ihrem ersten Aufsatz zu dieser Thematik von 1983 (1297) hat C o s s e t die Frage der Kontextsensitivität anhand der Epitheta überprüft, die mit μῆτις gebildet sind, ein Begriff, der sowohl in Verbindung mit Göttern als auch mit Menschen 81 In vergleichbarer Weise äußerst sich Vivante in seiner Arbeit zum homerischen Hexameter (s. Bericht, Kap. VII, 1259). 82 S. unten S. 86 f.
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verwendet wird. Diese sind πολύμητις, ἀγκυλομήτης und ποικιλόμητις; hinzu kommt noch das als Epitheton verwendete Substantiv μητιέτα. Im Ergebnis sieht C o s s e t bei allen Belegen von μητιέτα Ζεύς den expliziten Hinweis auf eine »présence active d’une intelligence« (S. 271). Gleiches findet sie dort vor, wo πολύμητις mit dem Namen des Odysseus verbunden ist, und auch hier nimmt sie Kontextsensitivität an, da dieses Epitheton immer dann Verwendung finde, wenn »savoir faire, qui s’exerce dans des domaines variés et grâce à des méthodes diverses« (S. 273) vonnöten sei. Freilich gilt diese Charakterisierung außerhalb von Schlachthandlungen eigentlich immer, wenn Odysseus agiert, ohne daß deshalb an jeder Stelle eine bewußte Setzung des Epithetons angenommen werden muss. C o s s e t s anschließende Deutung von ἀγκυλομήτης, das nur in Verbindung mit Zeus verwendet wird, und dem Bezug zu Odysseus ist ausgesprochen spekulativ. Mit dem gleichen methodischen Ansatz hat C o s s e t im selben Jahr die Betrachtung zu den Epitheta in Verbindung mit Odysseus auf πτολίπορθος, δουρικλυτός und τλήμων ausgedehnt (1298); auch hier hat sie einen Bezug zum Kontext festgestellt. Ein Kontextbezug der Epitheta im engeren oder weiteren Sinne (d. h. am unmittelbar gegebenen Punkt der Erzählung bzw. in Verbindung mit einer typischen Szene) bietet bei prosodischen Dubletten eine sehr bedenkenswerte Interpretation und sollte dementsprechend ausgewertet werden, bei metrischen Varianten (πολύμητις: πολύτλας δῖος) ist eine solche Erklärung dagegen problematisch. Im Fortgang ihres Aufsatzes sieht C o s s e t auch eine situationsspezifische Verwendung der Epitheta zu ἔγχος, nämlich χάλκεον oder μείλινον, und hier ist ihre Deutung durchaus plausibel, da es sich bei diesen Epitheta um doublets handelt, so daß metrische Konvenienz als Grund für die jeweilige Verwendung ausscheidet. Der Unterschied zwischen den Strukturen ›Appellativum + Epitheton‹ und ›Name + Epitheton‹, im konkreten Fall dem Namen Odysseus und dem Appellativum πόλεμος, ist Gegenstand von 1299. C o s s e t kommt zu dem Resultat, daß anders als beim Namen des Odysseus bei πόλεμος die Beifügung von Epitheta die Ausnahme darstellt und auch dort, wo das Epitheton gesetzt ist, ein überwiegend formelhafter Gebrauch nicht zu erkennen ist (in 31 von 54 Fällen). Auch sei die Verbindung von Epitheta mit Namen durchaus nicht fest, was insbesondere daran deutlich werde, daß Wörter zwischen beide Komponenten treten können. Thema in 1300 sind vor allem die Epitheta πτολίπορθος und ἀνδρόφονος, die zwar generisch anmuten, aber in spezifischen Kontexten wie etwa πτολίπορθος nicht in Verbindung mit Odysseus, sondern mit Achilleus, doch eine besondere Bedeutungsnuance tragen83. Im letzten Aufsatz dieser Reihe (1301) hat C o s s e t die Verbindung ›Zeus in der Vokativform + Epitheton‹ in der Ilias untersucht. Auch hier stellt sich ihr Fazit so dar, daß Zeus von seinem Gesprächspartner entsprechend seinem Wesen oder der jeweiligen Geistesverfassung angesprochen werde. Dem wird man bei metrischer Identität zustimmen können (Ζεῦ πάτερ ἀγρικέραυνε : Ζεῦ κύδιστε, μέγιστε), bei Ζεῦ πάτερ : Ζεῦ ἄνα hingegen Bedenken haben. 83 Zu ἀνδρόφονος vgl. auch die Anmerkungen zum Aufsatz von W. Whallon von 1979 (1541) auf S. 88 f.
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Wichtige Erkenntnisse zur Verwendung von Epitheta in Verbindung mit bestimmten Begriffen sind auch in drei z. T. sehr umfangreichen Aufsätzen von 1984, 1987 und 1989 zu finden, die W. M e r r i t t S a l e verfaßt hat (1419–1421). Nachdem Parry die Nomen-Epitheton-Formeln zu den Begriffen ›Gebietsbezeichnung‹, ›Schiff‹, ›Pferd‹, ›Mensch‹ und ›Schild‹ untersucht hat84 und von D. F. Grey Ergänzungen zum Schild und neu zum Helm85 sowie von D. Page zu Hektor, den Troern, Achaiern, zum Wein und Himmel86 folgten, hat M e r r i t t S a l e die Epitheta zum Olymp, zu Ortsbezeichnungen und erneut zu den Troern87 analysiert. Gemeinsam ist allen drei Aufsätzen das Thema einer diachronischen Betrachtung von Formelsystemen sowie ihrer interpretatorischen Ausdeutung, die auf einer reflektierten und präzisen Methodik beruht. Hierin beschränkt sich M e r r i t t S a l e für die Erstellung der statistischen Basis nicht auf die Verbindung ›Name bzw. Appellativum + Epitheton‹, sondern nimmt auch die Verbindung ›Name/Appellativum + Verb‹ mit hinzu, solange es sich um wiederholte Aussagen wie ›Zeus spricht‹, ›Zeus grollt‹, ›Zeus läßt es regnen‹ handelt. Damit gehören diese Arbeiten zu den wenigen, in denen über den Bereich der Nomen-Epitheton-Formel hinausgedacht wird, wenn sich auch das Resultat wieder auf eben diesen Bereich bezieht. Der erste dieser Aufsätze hat als Thema das Nomen-Epitheton-System des Olymp, dem M e r r i t t S a l e das System zum Begriff οὐρανός an die Seite stellt; zu beiden werden die Verben ›sich befinden‹, ›hinbewegen‹ und ›wegbewegen‹ hinzugenommen. Damit entsteht eine beträchtliche Anzahl an Belegen, aus denen M e r r i t t S a l e in einer zum Teil recht komplizierten Argumentation den Schluß ableitet, daß das System in Verbindung mit dem topographisch konkreten Begriff Ὄλυμπος (Olympus-group) älter sei als die Ouranos-group. Die Ouranos-group sei dann an die Olympus-group angepaßt worden. Daraus könne gefolgert werden, daß die Heimat der Götter in der epischen Tradition ursprünglich nicht mit dem Begriff οὐρανός bezeichnet worden sei. Vielmehr habe sich an den konkreten Begriff Ὄλυμπος die Vorstellung des Himmels angelagert, so daß bei Homer beide Begriffe synonym gewesen seien. Die statistischen Daten sprechen für diese Schlußfolgerung. Der formelhafte Gebrauch im Bereich der engeren Orts-/Raumbegriffe wie vor allem ›Stadt‹ dient in M e r r i t t S a l e s zweitem Aufsatz (1420) dazu, die Systematik in der Verwendung von Formeln weiter zu klären. Hier nimmt er erneut eine semantische Erweiterung dieses Begriffsfelds vor, wenn etwa die Umschreibung für das griechische Lager mit ἐν νηυσί miteinbezogen wird. In der Argumentation spielt die Terminologie eine bedeutende Rolle: der Begriff der Formel wird in mehrere Varianten gespalten: M e r r i t t S a l e führt dazu eine Abstufung nach den Begriffen 84 MHV 106–117. Am umfassendsten ist hier das System zum Begriff ›Schiff‹ aufgearbeitet. 85 Homeric epithets for things, CQ 61, 1947, 109–121; wiederabgedruckt in: G. S. Kirk (Hrsg.), Language and Background of Homer, Cambridge 1964, 55–67. 86 History and Homeric Iliad, Berkeley 1959, 225–253. 87 Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auf die Lexika zu den Epitheta in Verbindung mit Menschen und Göttern, die von J. Dee erstellt wurden (562, 563; s. Bericht, Kap. I, Lustrum 54, 2012, 300).
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full formulae, minimal formulae, semi formulae und formularity ein; die jeweiligen Definitionen im einzelnen wiederzugeben, ist hier aus Platzgründen nicht zweckmäßig. In der Umsetzung auf den Kontext der Ilias bezieht sich M e r r i t t S a l e dann auf den Ortsbegriff ›die Stadt Troia‹, sprachlich durch ἄστυ, π(τ)όλις, ῎Ιλιος, πύργοι, Τροίη und τεῖχος repräsentiert. Die Ergebnisse, von M e r r i t t S a l e vorsichtig formuliert, stellen sich so dar, daß ein Formelsystem ›in Troia‹ und ›von Troia‹ vorhomerisch offenbar nicht oder nur in Ansätzen existierte, so daß die Fokussierung auf den Ort Troia offenbar erst vom Ilias-Dichter selbst vorgenommen wurde. Umfangreiche Statistiken zu den formulaic sets beschließen den Aufsatz. Schließlich hat M e r r i t t S a l e 1989 den auffälligen Befund, daß die Namen der Trοer in Nomen-Epitheton-Formeln erheblich seltener wiederholt werden als die der Griechen (also Achaier oder Danaer), in einem einen fast 70-seitigen Aufsatz analysiert (1421). Der erhebliche Umfang ergibt sich erneut aus seiner präzisen Methodik und einer gründlichen Aufarbeitung der statistischen Daten; immerhin ist hier eine Fülle von Namen in den Blick zu nehmen. Die Ergebnisse von M e r r i t t S a l e s Analysen sind: 1. Die Namen der Troer werden nicht signifikant seltener genannt als die der Griechen. 2. Die Metrik ist nicht die Ursache für den unter 1. genannten Befund. 3. Viele Epitheta charakterisieren die Troer als gefühllos, arrogant oder unzivilisiert, womit das Epithetonmaterial in etwa dem entspricht, welches in der Odyssee in Verbindung mit den Freiern der Penelope zu erkennen ist. Da aber die Troer in der iliadischen Darstellung nicht generell als moralisch minderwertig beschrieben werden, sind diese Epitheta für die Troer in geringerem Maße nutzbar als bei den Griechen. Angesichts der relativen Deutlichkeit in den Zahlen und der intensiven Berücksichtigung der Semantik gibt es auch für diese Deutung eine sichere Basis. Gegen Ende des Berichtszeitraum hat I. d e J o n g noch einmal die Interpretationsgeschichte der Epitheta übersichtlich behandelt (1387), dabei aber auch zwei neue Interpretationsperspektiven eröffnet. Sie beginnt mit einer übersichtlichen Skizze des Forschungsverlaufs im Bereich, wie Epitheta bei Unitariern und Analytikern gedeutet wurden – einmal kontextneutral, einmal kontextspezifisch –, stellt anschließend Parrys dezidiert vertretene These strikter metrischer Funktionalität vor und beleuchtet dann die Strategien, mit denen die nachfolgende Homerphilologie auf diese Herausforderung geantwortet hat. Dies sind nach d e J o n g vier: 1. Fokussierung auf die particularized epithets. Direkter Kontextbezug sei anzunehmen bei metrisch äquivalenten Epitheta, den doublets, bei ›determinierenden‹ Epitheta, bei Epitheta, die von ihrem Nomen getrennt plaziert sind und bei Epitheta im Enjambement. 2. Annahme einer »ad-hoc-strategie« (S. 28) des Dichters. Vor einer solchen könne man dann sprechen, wenn unübersehbar sei, daß ein Epitheton kontextbezogen gesetzt werden sollte und der Dichter von der üblichen, metrischen definierten Verwendung abwich (z. B. bei der Formel φυσίζοος αἶα in Γ 243 im unmittelbaren
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Zusammenhang mit der Erwähnung, daß die Dioskuren durch ihren Tod von eben dieser Erde gedeckt werden). 3. Ausdehnung des Kontexts, auf den Epitheta zu beziehen seien. Als Beispiel nennt d e J o n g die Deutungen von P. Vivante (s. S. 77 f.). 4. Wortfeldanalyse. Hier würdigt d e J o n g speziell den Aufsatz von T. Eide (1320; s. S. 90), der das Bezugsfeld der Epitheta in Zusammenhang mit χείρ untersucht und die Verwendung nach interpretatorischen Kriterien differenzieren kann. Zu den neueren Entwicklungen verweist d e J o n g zunächst auf die Arbeiten von Visser (1529; s. S. 95–97) und Bakker/Fabbricotti (1273; s. S. 98), in denen zwischen Nukleus und Peripherie unterschieden wird. In einem letzten Abschnitt stellt d e J o n g ein eigenes Modell vor, das sie mit ›Distribution‹ und ›Präsentation‹ beschreibt. Unter Distribution versteht sie eine Analyse der numerischen Verteilung, womit das Thema des clustering angerissen ist (s. dazu Abs. 4c). D e J o n g kann anhand der Verteilung eine kontextsensitive Funktion der Epitheta ἑκήβολος und καλλιπάρηιος immerhin als denkbar erweisen. Mit dem Stichwort ›Präsentation‹ bezieht sich d e J o n g auf eine Methode, die sie selbst wesentlich in die Homerforschung eingebracht hat, die Narratologie. Sie stellt also die Frage, wer in welcher Erzählsituation und von welchem Sprecher welches Epitheton verwendet wird. Auch hier vermag sie Indizien dafür zu finden, daß damit der jeweilige Kontext ein hermeneutisch relevantes Kriterium für die Deutung der Epitheta darstellen kann. Ein wesentliches Element, in dem sich der spezifische Charakter des homerischen Stils zeigt, ist neben der Nomen-Epitheton-Formel auch die Synonymie. Um synonyme Begriffe zu finden, erfordert es Konkordanzen, über die die Homerforschung seit den 1990er Jahren dank J. R. Tebben verfügt (615–617; s. Bericht, Kap. I, Lustrum 54, 2012, 303), aber auch spezielle Arbeiten, in den die Belege nicht nur aufgeführt, sondern auch ausgewertet werden. Das Ausmaß der Synonymie im Bereich der Nomina hat H. A. P a r a s k e v a i d e s in einer 1984 erschienenen Arbeit sichtbar gemacht (1451). Hierzu hat er etwa 100 Appellativa ausgewählt und die möglichen Synonyme samt den damit verbundenen Epitheta überprüft, um die metrische Flexibilität dieser Appellativa zu demonstrieren. Man mag in einzelnen Fällen bestreiten, ob tatsächlich Synonymie vorliegt, doch zeigt diese Zusammenstellung durch das weitgehende Fehlen von doublets im ganzen eindeutig, welch großen Einfluß auf den homerischen Stil die durch Synonymie erzeugte metrische Konvenienz hat. Ein zentraler Punkt für die Verwendung von Formeln im Rahmen der Versbildung ist Parrys Gesetz der Ökonomie: im Regelfall gibt es eine Formel für ein bestimmtes metrisches Spatium im Vers. S h i v e hat in einer Monographie von 1987 die Richtigkeit dieses Gesetzes anhand der Nomen-Epitheton-Formeln zum Namen des Achilleus nachdrücklich erschüttert (1502); eine modifizierte Variante dieser Arbeit hat er 1990 im Rahmen des Freiburger Kongresses zum Übergang von Mündlichkeit zur Literatur veröffentlicht (1503). Anhand genauer Versanalysen zeigt S h i v e , daß von einem Gesetz ›ein typologisch geprägter Inhalt (im konkreten Fall: ein Name und je nach metrischer Situation ein Epitheton) = eine Form der sprachlichen Realisierung‹
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nicht die Rede sein kann, da sich immer wieder Varianten finden lassen. Ein Beispiel ist etwa der Befund, daß Achilleus’ Mutter Thetis im Zusammenhang mit seinem Namen nie das Patronymikon verwendet. Ebenso überzeugend ist der Befund beim Vokativ: Reden ihn Troer an, heißt er Πηλεΐδη, Freunde verwenden ὦ Ἀχιλλεῦ, seine Mutter τέκνον ἐμόν. Folglich müssten die Namenformen und Epitheta zumindest zum Teil als situationsspezifisch ausgewählt gedeutet werden. Davon ausgehend verwirft S h i v e auch die Analogie zwischen Homer und der mündlich generierten Epik generell. S h i v e s Bedenken sind, wenn man Parrys Rigorosität in seinem Aufsatz von 1932 betrachtet, sicherlich zutreffend (wenn auch z. B. δαίμονι ἶσος in Y 493 schwerlich mit δῖος Ἀχιλλεύς gleichgesetzt werden sollte), dennoch kann auch nach S h i v e eine bestimmte Technik, mit der Homer in seiner Versbildung gearbeitet hat, nicht bestritten werden, denn dafür ist der Anteil an wörtlichen Wiederholungen entschieden zu hoch. Man muß allerdings davon ausgehen, daß die Technik des griechischen aoidos weitaus mehr Flexibilität bot, als dies von den sog. hard-parryists eingeräumt wurde; sie erlaubte auch in formelhaften Kontexten eine beträchtliche Menge an Variationen. So zeigt auch die von S h i v e selbst generierte Liste von 20 Varianten zu A 1 in 1503 (dort S. 176 f.), daß in diesem Vers offensichtlich die semantischen Elemente ›Zorn‹, ›stelle dar‹, ›inspirierende Göttin‹ und ›Peleus-Sohn Achilleus‹ enthalten sein sollten. Mit diesen Befunden ist die Annahme einer ausschließlich formelbasierten Versifikationstechnik schwerlich haltbar. Während Shive in seiner Argumentation vor allem daran interessiert ist, die Parry’sche Annahme von der Nomen-Epitheton-Formel als festem, von versifikatorischer Ökonomie definiertem Baustein des Homerverses zu widerlegen, ist R. S a c k s zwei Jahre später ebenfalls in einer Monographie (1486) einen anderen Weg bei der Betrachtung der Epitheta gegangen. Sein Ergebnis formuliert er auf S. 226 folgendermaßen: »Parry’s notion of ornamental epithets and phrases must remain the norm except as proved otherwise in individual cases«. Ausgangspunkt für S a c k s Argumentation sind doublets wie Ἕκτορος ἀνδροφόνοιο und Ἕκτορος ἱπποδάμοιο; auf diese wird unter Abs. 4c noch genauer einzugehen sein. Methodisches Instrument ist die Heranziehung wörtlicher oder fast wörtlicher Parallelen entweder in nachhomerischer Literatur oder im Corpus Homericum selbst. Nach einleitender Aufarbeitung der Forschung zum Verhältnis von Traditionalität zu Individualität in der Verwendung der homerischen Epitheta diskutiert S a c k s zunächst die Frage, ob in A 350 die Lesart ἐπὶ οἴνοπα πόντον (so die Hss.) oder ἐπ' ἀπείρονα πόντον (so die Konjektur des Aristarch; bei Homer in den Hss. nirgendwo belegt) die vom Kontext her passendere – was nicht zwangsläufig bedeutet, die homerische – ist. S a c k s entscheidet sich hier für die zweite Möglichkeit, indem er V. 237 W. des Corpus Theognideum heranzieht. Dieser Vers enthält die Junktur ἐπ’ ἀπείρονα πόντον, und hier legt der Kontext eine Konnotation von Gefahr nahe, die auch zum Inhalt von A 350 gut passen könnte. Damit wird ἀπείρων hier zu einem ›markierten‹ (marked) Epitheton, das sich von den ›neutralen‹ Epitheta abhebt. Vergleichbar interpretiert S a c k s danach die Junktur φαίδιμος Ἕκτωρ (29x); hier soll das Epitheton die tragische Ironie Hektor betreffend zum Ausdruck bringen, da er ja am Schluß an seiner Aufgabe, Troia vor dem Untergang zu bewahren, scheitert.
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Ansatzpunkt hierfür sei die Verwendung von Formeln wie φαίδιμα γυῖα in Kontexten, in denen die Qualität der γυῖα eben keinen Erfolg verbürgt (Ζ 27, Π 805 u. ö.); dies versucht S a c k s durch eine Ausdeutung aller 29 Belege plausibel zu machen. Ähnlich aufwendig ist dann auch die Argumentation für eines der am häufigsten zitierten doublets, nämlich Ἕκτορος ἀνδροφόνοιο : Ἕκτορος ἱπποδάμοιο. (elfmal : fünfmal). Auch hier wird von S a c k s eine Differenzierung im Sinne von ›markiert: neutral‹ vorgenommen. Der Regelfall ist, trotz geringerer Frequenz ἱπποδάμοιο die markierte Variante ἀνδροφόνοιο. Man mag bei S a c k s ’ Deutung zu A 350 Bedenken haben, und auch bei φαίδιμος Ἕκτωρ lassen sowohl die von der Wortbedeutung her wahrscheinliche Kontextneutralität dieses Epithetons als auch die Fülle der Belege eine ›markierte‹ Verwendung unwahrscheinlich erscheinen. Dagegen sind S a c k s ’ Deutungen zu Ἕκτορος ἀνδροφόνοιο : Ἕκτορος ἱπποδάμοιο dahingehend überzeugend, daß die Verwendung von ἀνδροφόνοιο im Zusammenhang mit Hektors Namen dann gewählt wird, wenn es sich um einen militärischen Kontext handelt. Weitergehend dürfte es auch kein Zufall sein, daß Achilleus, wenn er über Hektor spricht, niemals ἱπποδάμοιο verwendet, und vielleicht ist von Homer auch ein tragischer Unterton damit intendiert, daß ausgerechnet der ›männertötende‹ Hektor in Verbindung mit Achilleus eben diese Eigenschaft nicht hat. Jedenfalls ist nach S a c k s ’ Darlegungen zu dem doublet ἱππόδαμος und ἀνδρόφονος die jeweilige Verwendung dieser Epitheta im Hinblick auf den jeweiligen Kontext wahrscheinlich, wenn es auch nicht der unmittelbare Kontext, d. h. die konkrete Erzählsituation, ist, sondern ein weiter gefaßter Kontext wie etwa das Verhältnis von Handlungsfiguren zueinander. Im New Companion hat J. R u s s o die Forschungsentwicklung zum Thema ›Formel‹ bis hin zum Jahr 1997 dargestellt (1484). Er macht hier gleich zu Beginn klar, daß er keinen Überblick zu all dem geben wird, was seit Parry im einzelnen über die Formel gesagt bzw. wie sie definiert wurde; vielmehr gehe es ihm um einen Überblick zu den Hauptthemen und Problemen in der Forschungsentwicklung zwischen Parry und dem Jahr 1997. Er beginnt seine Darstellung nach einer kurzen Einleitung über das Kolon mit dem Stichwort Finding the Formula: 1928–1980 mit dem Satz, daß die Tatsache eines fehlenden Konsenses bei der Definition des Kolons auf die Anwendung inadäquater Konzeptionen und methodischer Werkzeuge zurückzuführen sei. Seit Parry sei aber der Aspekt der analogischen Formel wichtig geworden, der über den konkreten Wortlaut hinaus die rhythmisch-syntaktische Struktur – zum Beispiel ›Nomen oder Adjektiv bzw. Partizip am Versanfang + Relativpronomen‹ wie οὐλομένην, ἣ … oder νήπιοι, οἳ … – als formelhaft bezeichnet. Dieses Konzept, mit dem der Anteil des Formelhaften im Homer sehr weit ausgedehnt werden konnte, spielte danach in den Arbeiten von Lord, J. Notopoulos88 und M. Nagler89 eine wichtige Rolle. Als weiteren wichtigen Punkt verweist R u s s o dann auf die Arbeiten von J. B. Hainsworth und A. Hoekstra (Anm. 67), in denen bei der Festlegung des For 88 J. Notopoulos, The Homeric Hymns as Oral Poetry: A Study of the Post-Homeric Oral Tradition, AJPh 83, 1962, 337–368. 89 Spontaneity and Tradition: A Study in the Oral Art of Homer, Berkeley 1974.
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melhaften nicht die Struktur der dominante Faktor war, sondern der Inhalt, der dann auch die jeweiligen Strukturen verändert habe. Zu Recht sagt R u s s o , daß mit diesen neuen Ansätzen, sowohl die homerischen Regularitäten als auch deren Variationen als Formeln anzusehen, die Definitionen unpräzise werden. Als letztes Werk bespricht er dann M. Naglers Buch Spontaneity and Tradition von 1974. Sein Fazit: So reizvoll man den Gedanken empfinden mag, die Formeln aus ›präverbaler Gestalt‹ abzuleiten, das Kriterium intersubjektiver Überprüfbarkeit werde damit aufgegeben. Den Schlußteil des Artikels bildet die Darstellung der neuen Entwicklungen. R u s s o geht spezieller hier auf drei Ansätze ein. Die erste ist der von P. Vivante zu den homerischen Epitheta (1534–1537; s. hier S. 77 f.), in dem die Funktion der Epitheta innerhalb der Formel als eine inhaltlich-ästhetische angesehen wird, was R u s s o begrüßt. Das zweite ist das generative Formelkonzept, das 1987 von E. Visser (1529; s. hier S. 95–97) und in vergleichbarer Form 1992 von E. Bakker und F. Fabbricotti (1273, s. hier S. 98) etwa zeitgleich vorgelegt wurde; hier zeigt R u s s o sich von der Auflösung der Formel in nucleus und periphery nicht überzeugt. Den Schluß bildet Bakkers discourse theory (1267, 1269–1271; s. dazu S. 142–144). Ausgehend von oraler Textproduktion allgemein wird hier die Funktion der Formel eher als eine ›Intonationseinheit‹ gesehen, die dazu beitrage, die dysfluencies und hesitations eines Vortrags in nicht-metrisch geformter Rede zu vermeiden. Für R u s s o ist dieser Ansatz ein »promissing beginning« (S. 258). b. Formel und Verb In drei Arbeiten wurde zur Rekonstruktion der homerischen Versifikationstechnik der Weg über die Nomen-Epitheton-Formel hinaus zu den Nomen-Verb-Formeln gesucht. In diesen nicht im Druck erschienenen Dissertationen sind vor allem Belege zusammengestellt; weitere Impulse auf die Forschung allgemein haben sie nicht gegeben. Diese Arbeiten sind: E. P e r r y , The Narrative Verb and Homeric Formulae (Dublin 1978/79, 1457), L. T. W o o d l o c k , Noun-verb Association and the Formula in Homer’s Iliad (Stanford University 1981, 1542; der untersuchte Bereich ist hier stark eingegrenzt, da nur das vierte Kolon [Zäsur C 1 oder C 2 bis Versende; Typus wie ἄλγεα πάσχων] berücksichtigt wird) und D. L. H e r s e y , ›To lead‹ in Greek Epic. Oral Versification Techniques Connected with the Verb ›ago‹, (Ann Arbor 1995, 1377). In diesen Arbeiten geht es darum, durch die Ausweitung vom Epitheton hin zum Verb Wege zu finden, die Formeldefinition auf eine sicherere Basis zu stellen, was allerdings in keiner der drei Arbeiten zu einem befriedigenden Ergebnis führt, da hier der semantische Aspekt nicht so einfach zu lösen ist wie bei den Epitheta. Letztlich wird aber deutlich, daß mit dem Parry’schen Formelbegriff der inhaltlichen Komplexität der jeweiligen Aussagen nicht beizukommen ist, was insbesondere bei P e r r y s Betrachtung des Unterschieds zwischen Imperfekt- und Aoristformen zu erkennen ist. 1989 hat M. F i n k e l b e r g (1330) in einem wichtigen Aufsatz auf die Problematik einer weitgehenden Fokussierung der Formelforschung auf Nomen und Epitheton hingewiesen, also auf Wortmaterial, bei dem sich die Möglichkeit traditioneller
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Vorgaben gut feststellen lasse. Aber selbst hier sei, wie J. B. Hainsworth schon 1962 formuliert hat, der Grad der einmaligen Ausdrücke »disturbingly high in a diction commonly supposed to be formulaic«90. Bei den Formulierungen außerhalb dieses Materials sei, wie F i n k e l b e r g einleitend betont, das Problem noch beträchtlich schwerer zu lösen: Einmalige oder sehr seltene Ausdrücke könnten ja entweder (a) grundsätzlich nicht formelhaft oder (b) nicht häufig genug belegt sein, um als formelhaft erkennbar zu werden (»underrepresented formula« [S. 180]). Um festzustellen, wie das von Parry postulierte formelgestützte Kompositionsprinzip über die Nomen-Epitheton-Formeln hinaus angewandt werden könne, schlägt F i n k e l b e r g eine Erweiterung des zu untersuchenden Materials auf den Bereich der Verben vor. Wie die Autorin zu Recht betont, sei eine solche Ausweitung auch inhaltlich begründet, da in den homerischen Epen, in denen ja Geschichten und damit Geschehensabläufe erzählt würden, die Verben die Träger der Kernaussage seien. Konkret analysiert werden dann drei Verben aus dem Wortfeld ›Freude‹, nämlich γηθέω, γαίνυμαι und χαίρω; ausgeschlossen sind die Partizipien und Stellen, an denen χαίρω die Bedeutung ›grüßen‹ hat. So ergeben sich genau 100 Belege; diese werden von F i n k e l b e r g nach ihrem generellen Kontext differenziert, nämlich Haupterzählung (main narrative), direkte Rede, Gleichnis und Rückerinnerung (reminiscence). Je nach Position im Vers findet sie hier neben den formelhaften Mustern auch Modifikationen und kommt so zu dem Ergebnis, daß in diesem Bereich etwa 60 % formelhaft seien oder Varianten zu nachweisbaren Formelstrukturen darstellten. Insofern sieht sie ihr erstes Beweisziel, daß Parrys Theorie der Versbildung auch auf verbale Aussagen anwendbar ist, als erreicht an. F i n k e l b e r g s zweites Beweisziel ist die Festlegung des Verhältnisses zwischen formelhafter und nicht-formelhafter Diktion. Hier zeigen ihre Befunde für die Haupterzählung einen sehr hohen, in den anderen Darstellungsformen einen niedrigen Prozentsatz formelhafter Gestaltung. Wichtig ist darüber hinaus ihr Ergebnis zu den sog. isolated expressions: sie sind offenbar nicht Varianten von formelhaften Strukturen und bei den Verbformen häufig in der 1. Person Singular in direkter Rede zu beobachten. Mithin sind isolierte Ausdrücke nicht unterrepräsentiert, sondern als nicht von Formelhaftigkeit geprägt anzusehen. Für das Methodenbewußtsein von F i n k e l b e r g spricht, daß sie auch die Fälle, in denen eine Entscheidung zwischen ›formelhaft‹ und ›isoliert‹ nicht zu treffen ist und die sie als unqualified bezeichnet, nicht übergeht, sondern deren durchaus erheblichen Anteil nicht verschweigt. Im ganzen ist dieser Aufsatz ein wesentlicher Schritt, P a r r y s Annahme einer formelgestützten Versbildung zu modifizieren, ohne daß sie zur Gänze aufgegeben werden müßte. Weiterhin ist in diesem Zusammenhang noch einmal auf die Arbeit von C. H i g b i e zum Thema ›Enjambement‹ von 1990 einzugehen (1234)91, in der als Teilbereich auch die Formelhaftigkeit im Bereich der Verben thematisiert wird, zwar nicht als Kernthema, aber doch mit neuen Erkenntnissen zu diesem Bereich. Von Hainsworths 90 The Homeric Formula and the Problem of Its Transmission, BICS 9, 1962, 66. 91 S. dazu die Anmerkungen in Kap. VII, S. 21–23.
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Definition der Formel als repeated word-group in seinem Buch The Flexibility of Homeric Formula (Oxford 1968) ausgehend nimmt sie Verbindungen wie ›ἐθέλω, φημί oder εὔχομαι + Infinitiv‹ in den Blick, womit freilich jede Verbindung von finitem Verb mit abhängigem Infinitiv als formelhaft erklärt wird. Eine solche Annahme erweitert den Begriff der Formel jedoch bis hin zur Unkenntlichkeit. Da in H i g b i e s Argumentation weitere semantische Kriterien keine Rolle spielen, sind ihre Erkenntnisse für die Textdeutung nicht weiterführend, und auch der Prozeß der oralen Versgenese wird damit nicht besser verständlich. Ausgehend von Higbies Ergebnissen hat sich S. V a n s é v e r e n kurz vor Ende des Berichtszeitraums im Rahmen einer Diskussion, wie eine Formel oder der Begriff ›formelhaft‹ zu definieren seien, genauer auseinandergesetzt (1526). Zu Beginn ihres Aufsatzes faßt sie noch einmal die Definitionen bzw. Funktionsbestimmungen der Formel, die Parry, Hainsworth, Kirk, Hoekstra und Bakker entwickelt haben, zusammen. Diesen vor allem mit der Nomen-Epitheton-Formel und dem synchronischen Aspekt der Formel befaßten Arbeiten stellt sie anschließend den generativen Ansatz von G. Nagy gegenüber, wonach die Formeln die Kola gleichsam geschaffen hätten. Unter Kolon versteht Nagy Nomen-Epitheton-Formeln, aber auch Einzelwörter oder präpositionale Ausdrücke mit der Tendenz zu einer bestimmten Plazierung im Vers; als Beispiel für dritte Kola könnten dienen: καὶ ἀνέρες, κατὰ φρένα, ἀρίστη oder θοὰς ἐπί. V a n s é v e r e n weist deutlich auf die Unmöglichkeit von verläßlichen Erkenntnissen hin, wenn das 86mal in Ilias und Odyssee vorkommende ἔμμεναι – von Nagy als formelhaftes Element des ersten Kolons bezeichnet – an dieser Stelle nur 13mal vorkommt, 73mal dagegen in anderen Kola im Vers, vorzugsweise im dritten. Der zentrale Punkt in diesem Aufsatz ist dann V a n s é v e r e n s Auseinandersetzung mit Higbies Annahme, die Verbindungen ›ἐθέλω oder φημί oder εὔχομαι + Infinitiv‹ seien formelhaft. Ihre ablehnenden Argumente dürfen als zutreffend angesehen werden, und sie verwirft zu Recht auch eine Umkehrung des Verhältnisses, also die Verbindungen ›Infinitiv + regierendes Verb‹, als formelhaft anzusehen; sie konkretisiert das an mehreren Beispielen im Zusammenhang mit ἐθέλω. Ihr Fazit lautet, daß es auch weiterhin nur Parrys Formeldefinition sei, die eine klar umrissene Beschreibung liefere, während die späteren Definitionen auf eine Entleerung dieses Begriffs hinausliefen. Im Grundsatz der gleichen Frage wie Vanséveren – wenn auch etwas allgemeiner gefaßt – ist J. L. G a r c í a R a m ó n nachgegangen, wie sich nämlich die Anordnung in Wortgruppen des Typs ›finites Verb + finaler Infinitiv‹ (Beispiel: ἑλοίμεθα οἰνοχοεύειν [B 127]) innerhalb eines Satzes darstellt (1362). Hier kann der Autor ein deutliches Ergebnis präsentieren: Bei 146 Belegen steht in 137 Fällen der Infinitiv hinter dem finiten Verb (entweder im gleichen Vers oder bei Enjambement am Beginn des folgenden), entweder direkt oder durch andere Wörter getrennt. Der Vergleich mit Herodot zeigt, daß diese Abfolge offenbar die natürliche ist, da sie bei diesem Autor ausnahmslos gilt. Bei den neun Ausnahmen im Homertext vermutet G a r c í a R a m ó n wohl zu Recht formelhaften Einfluß.
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c. doublets und clustering Was die oral-poetry-Forschung, die bei der Wortwahl von größtmöglicher Effektivität für die Versbildung ausgeht, auch intensiv beschäftigt hat, sind die sog. Dubletten (doublets), also Nomen-Epitheton-Verbindungen mit identischer prosodischer Struktur, bei denen die eine Variante allgemein rühmend ist, die andere hingegen spezifisch, Diese liegt etwa in den Verbindungen μεγάθυμος Ἀχιλλεύς und πόδας ὠκὺς Ἀχιλλεύς vor. Diese Abweichung vom Gesetz der Sparsamkeit (thrift oder economy) spricht zunächst einmal gegen das Prinzip ›für einen Begriff oder Namen gibt pro Kolon nur eine Formel, also eine prosodische Realisierung‹ und scheint ein Indiz gegen eine ausschließlich mündliche Genese der Homerverse zu sein. In Verbindung mit den doublets steht auch das sog. clustering, ein gehäuftes Auftreten bestimmter ungewöhnlicher Lexeme, Formeln oder Konstruktionen innerhalb bestimmter Textabschnitte. Bei schriftlich verfaßter Dichtung kann man davon ausgehen, daß für dieses Phänomen eine spezifische Aussageintention im Sinne einer bewußten Markierung verantwortlich ist; dieses innerhalb eines improvisiert entstandenen Großtexts anzunehmen fällt schwer, da sich der Sänger dann immer bewußt gewesen sein müßte, wo und wann er welchen Ausdruck zuvor verwendet hat. Zu Beginn der Diskussion dieses Themas ist auf einen Aufsatz von K. O ’ N o l a n 1978 einzugehen (1445), der das Phänomen der doublets sehr weit faßt. So hat er neben metrisch identischen Epitheta auch solche Ausdrücke berücksichtigt, die in ihrer Position nebeneinander gleichsam tautologisch sind (z. B. ἐπείρεαι ἠδὲ μεταλλᾶις); üblicherweise werden in der Homerforschung unter doublets prosodische Dubletten verstanden. Zu Beginn seines Aufsatzes gibt O ’ N o l a n eine Klassifizierung der Epitheta nach inhaltlichen Kriterien und findet auch hier eine Form von Dubletten. So bezeichnen bei Appellativen die Epitheta häufig eine diesen Begriffen notwendig zukommende, ja sogar definierende Eigenschaft (z. B. νῆσος ἀμφιρύτη, σπέος γλαφυρόν, ἀθάνατοι θεοί). Dagegen ist bei Eigennamen das Epitheton entweder allgemein rühmend oder spezifisch individualisierend, bei menschengemachten Gegenständen heben Epitheta deren Qualität hervor. Im Mittelteil des Aufsatzes führt O ’ N o l a n 20 ›Sets‹ von Dubletten auf, die er mit Blick auf das Metrum und das Enjambement auswertet. Vor allem verweist er darauf, daß die Dubletten in der Regel am Versende plaziert seien, und kommt so zu einer Art von Zweiteilung des homerischen Hexameters auf inhaltlicher Basis. Der erste Teil bringe die Handlung vorwärts, der zweite verweile mit sprachlich traditionellem Material auf dem erreichten Stand und vertiefe ihn; zugleich gebe der gleichsam statische zweite Teil des Verses dem Sänger in der Vortragssituation Gelegenheit, die Fortsetzung der Erzählung zu planen. Daß es sich bei dieser Technik nicht um ein auf die homerische oral poetry beschränktes Phänomen handle, wird abschließend anhand eines Vergleichs mit irischen Heldengeschichten ausgeführt. W. W h a l l o n (1541) hat sich mit der Verwendung der Epitheta in Verbindung mit der Figur des Hektor befaßt, für das es zwei prosodisch identische Formen gibt (ἀνδρόφονος und ἱππόδαμος). Er sieht als Erklärung für diese Besonderheit eine Entwicklung vom generischen ἱππόδαμος – die Verbindung mit Pferden ist charakte-
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ristisch für die Troer – zu ἀνδρόφονος, das dem Thema der Ilias und den hier beschrieben Aktionen näher lag. Damit werde erklärbar, warum in Verbindung mit Hektors Namen ἀνδρόφονος erheblich häufiger vorkommt als ἱππόδαμος. Insofern stelle die Verwendung von ἀνδρόφονος einen Beleg dar, wie ein ursprünglich distinktives Epitheton, das in Verbindung mit Exponenten kriegerischer Gewalt verwendet wurde, durch die Verbindung mit dem Geschehen der Ilias gleichsam generisch wurde und so in seinem Kontextbezug verblaßte. Mit den Gründen für das Vorkommen weiterer Dubletten, vor allem der Dublette zur Göttin Hera (θεὰ λευκώλενος Ἥρη : βοῶπις πότνια Ἥρη) hat sich R. J a n k o 1981 detailliert auseinandergesetzt (1384) und damit eine intensive Diskussion in Gang gesetzt. Ausgangspunkt ist eine Beobachtung von J. B. Hainsworth, der in einem Aufsatz von 1976 noch eher beiläufig auf eine auffällige Häufung (cluster) im Gebrauch von einem der beiden doublets innerhalb bestimmter Textbereiche hingewiesen hat92, dieser Beobachtung dann in zwei Aufsätzen von 1996 und 1997 konkreter nachgegangen (1369, 1371). Die 1976 von Hainsworth angeführten Belege werden von J a n k o noch erweitert. Da für ihn situationsspezifische Deutungen keinen Ansatz erkennen lassen, warum gerade eines der beiden doublets verwendet werden sollte, kommt J a n k o nach umfangreicher statistischer Analyse zu dem Resultat, daß die Erinnerung an eine vorausgegangene Verwendung innerhalb desselben Kontexts wesentlichen Einfluß auf die jeweilige Wahl einer äquivalenten Formel gehabt haben müsse; dies könne wie in der Odyssee soweit gehen, daß nach o 340 ἠμείβετ’ ἔπειτα zugunsten von αὖτε προσέειπε fast völlig verschwindet (1 Beleg gegenüber 19). Insofern könnten die doublets durch diesen Zusammenhang miteinander in Verbindung stehen, der freilich weiter gefaßt werden müsse als nur den jeweiligen Handlungspunkt betreffend. Dennoch nimmt J a n k o keinen absolut formalen Mechanismus dieser Art an, sondern geht davon aus, daß bestimmte inhaltliche Aspekte wie der Wunsch nach Variation oder das Zusammentreffen von zwei Dublettenpaaren die Festlegung bestimmt haben könnten. In der ersten Reaktion auf Jankos Aufsatz hat sich R. S c h m i e l gegen dessen Annahme einer interpretatorisch nicht möglichen Deutung des Phänomens doublet ausgesprochen (1494). Er behandelt hierzu die doublets χάλκεον ἔγχος : μείλινον ἔγχος, δόρυ χάλκεον : δόρυ μείλινον sowie πολυφλοίσβοιο θαλάσσης : θαλάσσης εὐρυπόροιο. So komme es etwa bei der Entscheidung für δόρυ χάλκεον dem Dichter darauf an zu betonen, daß der Speer eine Verwundung bewirkt, bei δόρυ μείλινον liege der inhaltliche Fokus mehr auf dem Schaft, der zum Heranziehen oder Wegstoßen des Gegners benutzt wird. Auch W. B e c k hat sich in einem Aufsatz von 1986 gegen Jankos Erklärung für die jeweilige Verwendung von βοῶπις πότνια Ἥρη bzw. θεὰ λευκώλενος Ἥρη gewandt (1276). Er verweist mit Recht darauf, daß sich die Arbeit in der Formelforschung zu sehr auf Statistiken stütze und den Kontext vernachlässige. Mit Blick auf den jewei 92 Phrase-clusters in Homer, in: A. Morpurgo Davies/W. Meid (Hrsgg), Studies in Greek, Italic, and Indo-European Linguistics: Offered to Leonard R. Palmer on the Occasion of his Seventieth Birthday, Innsbruck 1976, 83–86.
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ligen Zusammenhang kommt er zu dem Schluß, daß die Verwendung von βοῶπις πότνια bei konfliktträchtigen Situationen gesucht werde (speziell den Begegnungen mit Zeus, aber auch im Kontext mit Tieren), während θεὰ λευκώλενος in einem neutralen oder sogar freundlichen Handlungsumfeld die Standardformulierung darstelle. Zu dieser These Becks hat sich wiederum P. C o r s i n i 1992 kritisch geäußert, indem er die einschlägigen Stellen einer neuerlichen Analyse unterzogen hat (1296). Vor allem verweist er darauf, daß die von Beck vorgenommene Klassifizierung nicht eindeutig sei: So könne die jeweils ausgewählte Wendung sowohl dem inhaltlich definierten Typus ›Begegnung mit Zeus‹ als auch dem formal definierten Typus ›Redeeinleitung‹ zugeordnet werden; vor allem aber sei der Kontext ›Tiere‹ in Verbindung mit βοῶπις (πότνια Ἥρη) gegenüber anderen Zusammenhängen sekundär. Vielmehr werde diese Formulierung dann gewählt, wenn Hera in Gesprächskontexten agiere, sie habe also eine vokativische Funktion, die ja auch sonst mit dieser Junktur anzutreffen sei (Θ 471, Ο 49, Σ 357). Daß Jankos These für das clustering in Redeeinleitungen nicht zu halten sei, hat schließlich auch S. D. O l s o n in der Mnemosyne von 1994 dargelegt (1449). Er verweist darauf, daß Janko, der in seiner Argumentation Blöcke von jeweils fünfmal τὸν δ' ἠμείβετ' ἔπειτα bzw. τὸν δ' αὖτε προσέειπε in Folge annimmt, geringfügige Ver änderungen wie das ephelkystische ν nach προσέειπε oder Elision des -α am Schluß des ἔπειτα als hinreichenden Grund für eine Aussonderung bewerte; damit räume Janko in der Tat dem formalen Aspekt gegenüber dem semantischen eine zu große Bedeutung ein. Gehe man dagegen nach inhaltlichen Kriterien vor, spreche die Verteilung, wie O l s o n auch mathematisch belegt, nicht mehr signifikant für die Annahme einer Blockbildung. Als Gegenmodell schlägt O l s o n vor, die Wahl der einen oder anderen Formulierung von der jeweils sprechenden Figur abhängig zu machen: Bestimmte Figuren seien assoziativ mit der einen oder anderen Formulierung verbunden. Freilich gebe es auch hier Ausnahmen, für die man aber Erklärungen finden könne. Wieviel an Forschungsaufgaben zum homerischen Stil gerade auf der Basis einer Grundannahme einer Technik der Versifikation zu leisten ist und welche methodischen Wege dabei möglich sind, zeigt besonders instruktiv der Aufsatz von T. E i d e von 1986 zu den Epitheta, die in Verbindung mit dem Begriff χείρ verwendet werden (1320). Er differenziert die fünf verwendeten Epitheta (ἄατος, βαρύς, θρασύς, παχύς, στιβαρός) zunächst nach semantischen Kriterien und kommt hier zu einer Zweiteilung, nämlich die Bereiche ›die Hand als Medium wertneutralen Handelns‹ und ›die Hand als Medium schädigenden Handelns‹; dadurch könne die Verwendung von doublets (z. B. χειρὶ παχείηι und χειρὶ βαρείηι) auch anhand inhaltlicher Kriterien erklärt werden. 1992 haben E. B a k k e r und N. V a n d e n H o u t e n die Befunde zum Dativ Singular des Begriffs ›Speer‹ und hier speziell zu den angeblichen doublets ὀξέϊ δουρί : ὀξέϊ χαλκῶι und δουρὶ φαεινῶι : νηλέϊ χαλκῶι im Detail ausgearbeitet (1275). Zunächst wird bei den Begriffen χαλκόν, ἔγχος und δόρυ der diachronische Aspekt untersucht: δόρυ sei danach der jüngere Begriff, der regelmäßig mit dem Werfen verbunden sei und daher mehrfach auch im Dual vorkomme, ἔγχος verweise eher auf den mykenischen Langspeer), so daß von völliger Synonymie nicht gesprochen werden könne. Bei dem doublet ὀξέϊ δουρί und ὀξέϊ χαλκῶι gehe es bei der jeweiligen Auswahl um
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den semantischen Aspekt: ὀξέϊ χαλκῶι sei deutlich öfter in zeitstabilen und komplexiv beschreibenden Kontexten (›nicht getroffen vom scharfen Erz‹) verwendet, ὀξέϊ δουρί dagegen mit einem höheren Grad an Transitivität verbunden. Das doublet δουρὶ φαεινῶι : νηλέϊ χαλκῶι könne schließlich in poetischer Hinsicht differenziert werden, da in der zweiten Formel ein Element der Gewalt und Bedrohung enthalten sei, in der ersten dagegen nicht. Im ganzen stelle sich bei den doublets immer wieder die Frage ihrer Verwendung im jeweiligen Kontext. Man könnte hier, über B a k k e r / v o n H o u t e n hinausgehend, auch formulieren, daß die genannten doublets inhaltlich eben nicht austauschbar seien, also keine Verletzung von Parrys Gesetz der Ökonomie (›eine Formel pro metrischem Schema‹) darstellen. Mit den Dubletten hat sich 1994 auch G. M a c h a c e k befaßt (1414), um Parrys These von der rigorosen sprachlichen Ökonomie weiter zu modifizieren. Ausgehend von der hierin implizierten inhaltlichen Identität der Aussage ›Dem erwiderte Agamemnon‹ ist es auffällig, daß in A 130 dieser Inhalt mit τὸν δ’ ἀπαμειβόμενος προσέφη κρείων Ἀγαμέμνων, in A 172 dagegen mit τὸν δ’ ἠμείβετ’ ἔπειτα ἄναξ ἀνδρῶν Ἀγαμέμνων wiedergegeben wird, in diesem Vers übrigens das einzige Mal bei einer Erwiderungseinleitung des Agamemnon mit der Formel ἄναξ ἀνδρῶν. Gerade in A 172 passe nun das Epitheton ἄναξ ἀνδρῶν sehr gut zum engeren Kontext, da Agamemnon in seiner Rede auf seine Überlegenheit gegenüber Achilleus hinweisen wird. Eine ähnliche Beziehung sei für Achilleus’ Redeeinleitungen in den Versen A 84 und 121 zu konstatieren. Von hier aus zieht M a c h a c e k Schlußfolgerungen in Bezug auf Parrys Modell der Entstehung homerischer Verse. Dieser habe am Beispiel von νῆα θόην in ν 168 von einer metrischen Argumentation aus (Füllung bis zur Zäsur C 1) eine kontextsemantische Nullwertigkeit des Epithetons postuliert (MHV 127 f.). Dieser Deutung begegnet M a c h a c e k mit dem Argument, daß vor der Plazierung von νῆα im Vers nur die ersten beiden Kola des Verses gefüllt gewesen seien. Folglich sei der Zusatz des Epithetons nicht von der Metrik erzwungen, wie auch anhand einer alternativen Versgestaltung belegt werden soll. Statt wie im Text zu lesen ὤι μοι, τίς δὴ νῆα θοὴν ἐπέδησ' ἐνὶ πόντωι; hätte ν 168 auch anders, nämlich ὤι μοι, τίς δὴ νῆ' ἐπέδησ' ἐνὶ οἴνοπι πόντωι; lauten können; mithin dürfte das θοὴν im Originalvers durchaus situationsspezifisch gedeutet werden. Allerdings ist die einsilbige νῆ' in Ilias und Odyssee nur einmal belegt, νῆα dagegen 106mal. Nach zwei weiteren Beispielen dieser Art verweist M a c h a c e k noch auf eine weitere Möglichkeit, Formel und Kontext miteinander zu verbinden, nämlich durch das Weglassen eines üblichen Epithetons wie etwa beim Fehlen der Epithetongruppe βοὴν ἀγαθός in Verbindung mit Diomedes im K, also in einem Kontext, wo es auf Stille ankommt. Abschließend betont M a c h a c e k mit einem Hinweis auf die Grenzen, die Homer in der Auswahl des Wortmaterials von der Tradition gesetzt waren, noch einmal sein Anliegen, Parrys Modell mit seinen Ergebnissen nicht zu widerlegen, sondern zu erweitern.
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Eine sehr wichtige Arbeit zu den doublets hat L. S b a r d e l l a 1993 in den Quaderni Urbinati veröffentlicht (1491). Im ersten Teil hat er die Nomen-Epitheton-Formeln zu den Helden und Göttern mit erheblich größerer Genauigkeit als Parry unter metrischen Gesichtspunkten analysiert. Das Ergebnis ist bemerkenswert: Zumindest in diesem Bereich, der am deutlichsten den Einfluß einer bestimmten Tradition zu zeigen scheint, sind doublets durchaus nicht seltene Ausnahmen, was man anhand der Fokussierung der Forschung auf Ἕκτορος ἱπποδάμοιο : Ἕκτορος ἀνδροφόνοιο und θεὰ λευκώλενος Ἥρη : βοῶπις πότνια Ἥρη vermuten könnte. Metrische Ökonomie, wohl das wichtigste Fundament von Parrys Theorie, sollte demnach nur als allgemeine Regel angesehen werden, denn für etliche metrische Räume gibt es bei einer Verbindung von Namen und Epitheton nicht nur eine Füllung, sondern zwei; so sind Ὀδυσσῆα δαΐφρονα und Ὀδυσσῆα πολύφρονα jeweils 6x belegt. Dabei verweist S b a r d e l l a aber auch auf die Tatsache, daß es signifikante Unterschiede in der Frequenz gibt (etwa bei Menelaos das 21mal belegte βοὴν ἀγαθὸς Μενέλαος gegenüber nur dem nur einmal anzutreffenden Kolon ξανθὸς Μενέλαος [o 133], das durch den individuellen Zusatz κάρη an ein erstes Hemistich angeschlossen wird), doch sei im Ganzen das Fazit eindeutig: Doublets sind bei den Nomen-Epitheton-Formen zwar eine Ausnahme, kommen aber doch erheblich häufiger vor, als dies in der Forschungsliteratur üblicherweise dargestellt ist. In einem zweiten Teil hat S b a r d e l l a die Befunde mit folgendem Resultat ausgedeutet: »quantitativamente il grado di diseconomicità della formularità divina è sensibilmente più elevato di quel lo della formularità eroica.» (S. 17). Aufschlußreich sei auch die Tatsache, daß bei Helden sowohl generische als auch distinktive Epitheta vorkommen, bei den Göttern dagegen die Epitheta weit überwiegend distinktiv sind. Grund dafür sei die religiös-rituelle Sprache, in der, wie die Hymnen zeigen, auch Polyonomie eine wichtige Rolle spiele; diese wird anschließend von S b a r d e l l a ausführlich anhand von Beispielen aus der Literatur, vor allem der Hymnen, und auch mit Bezug auf die Religionsgeschichte (Verbindungen mit der mykenischen Kultur) erläutert; hierbei verweist er auch auf die grammatikalische Dimension wie das deutliche Überwiegen der Nominativformeln. In der Summe ist vor allem der erste Teil von S b a r d e l l a s Aufsatz für die Homerforschung wichtig. Schon 1976 hat J. B. H a i n s w o r t h den Anstoß zur Beschäftigung mit dem clustering gegeben und dieses Thema in zwei weiteren Arbeiten ausgestaltet (1369, 1371; s. S. 89). Er verweist darin auf Anomalien in der Berücksichtigung bestimmter Figuren wie des Idomeneus oder Eurypylos oder auf die Häufung seltener Vokabeln oder Formeln in bestimmten Abschnitten (etwa: ἀντιφερίζειν: 3mal in der Ilias innerhalb von 130 Versen [Φ 357–488], sonst nie). Mit großer sprachlicher Vorsicht werden dabei Erklärungen in dem Sinne angeboten, daß bei einem aoidos eben zuvor verwendete spezielle Begriffe oder Formeln (S. 102: »striking phrases«) gleichsam ›hängengeblieben‹ seien und sich so bei einer improvisierten Verskomposition aufgedrängt haben mögen. Noch bevor von Hainsworth diese These weiter ausgeführt wurde, hat sich 1994 L. S b a r d e l l a genauer mit diesem Thema befaßt (1492). In einleitenden Bemerkungen umreißt er kurz die Forschungssituation zur Genese der homerischen Epen
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zwischen den Theorien von völliger Oralität, vollständig schriftlicher Abfassung und – vor allem mit Hinweis auf die Arbeit von L. E. Rossi (1481) – einer fase mista, in der auf der Basis der oralen Technik, aber mit Hilfe der Schrift epische Texte konzipiert wurden. Um für eine Lösung weitere Evidenz zu gewinnen, nimmt der Verfasser Bezug auf das clustering, beginnt aber mit seiner Analyse bei den homerischen Hymnen auf Apollon und Demeter. Bei diesen bestätige sich die These, daß die Nähe zu einer gleichlautend vorgegangenen Formel Einfluß auf ihre neuerliche Verwendung hatte. Dennoch spiele offensichtlich auch der Wunsch nach Variation eine Rolle. So werde die Formel ἄναξ ἑκάεργος Ἀπόλλων im Apollonhymnos in den Versen 357, 382, 420 und 440 verwendet, das doublet ἄναξ Διὸς υἱὸς Ἀπόλλων in 437 und 514. Vermutlich habe in V. 437 die Nähe zu V. 420 die Abweichung von der bis dahin verwendeten Formel verursacht und anschließend die enge Verbindung zwischen 437 und 440 eine neuerliche Variation. Im K wechsle sich νύκτα δι’ ἀμβροσίην konsequent mit νύκτα δι’ ὀρφναίην ab und in der Διὸς ἀπάτη seien ähnliche Muster erkennbar. Im Gegensatz zu Janko (1384) deutet S b a r d e l l a dann die Variation zwischen βοῶπις πότνια Ἥρη und θεὰ λευκώλενος Ἥρη sowie zwischen τὸν δ' αὖτε προσέειπε und τὸν δ' ἠμείβετ’ ἔπειτα im O nicht als Resultat oraler Technik, sondern als bewußte Entscheidung des Sängers. Auch in der Aphrodite-Ares-Episode im θ seien solche Variationen feststellbar, hier wiederum zwischen τὸν δ' αὖτε προσέειπε und τὸν δ' ἠμείβετ' ἔπειτα, aber auch zwischen περικλυτοῦ Ἡφαίστοιο und πολύφρονος Ἡφαίστοιο. Die empirische Basis ist allerdings schmal. Im Ergebnis sieht S b a r d e l l a die Existenz dieser Varianten als Produkt vielfacher performances und damit, wie B. Gentili es ausdrückt habe, einer »tradizione fluida, ben documentata dalle varianti presenti nei papiri e nelle citazioni degli autori antichi« (S. 34); diese Annahme wird anhand des Überlieferungsbefundes zu Ξ 263, Ε 764, Θ 38 und A 544 belegt. Die Komposition der homerischen Epen sieht S b a r d e l l a schließlich als bewußtes Auswählen aus dieser Tradition, und so entscheidet er sich dafür, die homerischen Epen als »prodotto della composizione letteraria scritta« (S. 37) anzusehen. Abschließend fragt Sbardella nach dem ›Charakter‹ der Abschnitte, in denen diese Variationen vorkämen. Er sieht diesen in der Tatsache, daß es sich um Episoden oder Exkurse (digressioni) handelt, die möglicherweise als eigenständig konzipierte Texte in einer Phase des Übergangs von mündlicher performance zu retraktativer, d. h. schriftlicher Komposition ihren Weg in die homerischen Epen gefunden hätten. Man wird S b a r d e l l a vielleicht nicht in allen Punkten beipflichten, aber die Fülle der von ihm aufgespürten doublets und die Deutung des clusterings sprechen dafür, zumindest für die besprochenen Episoden einen bewußt planenden und mit Hilfe von Schrift konzipierenden Dichter anzunehmen. d. Kompositionstechnik auf Versebene Die Annahme einer homerischen Versifikation auf der Basis von Formeln hat, wie eben dargestellt, einerseits eine immer größere Ausdehnung dessen, was unter ›Formel‹ zu verstehen sei, zur Folge gehabt, so daß die Deutung des beschriebenen Geschehensablaufs immer weiter in den Hintergrund trat. Schon die Frage nach der
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Komposition eines ganzen Verses wurde weitestgehend ignoriert. Wenn in einem Vers, der nicht wie die Redeeinleitungen und -abschlüsse in immer gleicher Form verwendet wurde, eine Formel vorkam, wie verhielt es mit dem Rest des Verses? War auch der formelhaft oder ad hoc gebildet? Inwieweit war in diesem ›Versrest‹ noch eine in einer oralen Typologie gegründete Technik am Werk? Diese Fragen blieben bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts unbeantwortet. Dann begannen sich allerdings auch in diesem Bereich neue Perspektiven abzuzeichnen. Zunächst schienen zwei Aufsätze von N. P o s t l e t h w a i t e die Annahme, Homer habe seine Verse auf der Basis von Formeln kreiert – wenn auch mit der Flexibilität, wie sie J. B. Hainsworth dargestellt hat93 – im wesentlichen zu bestätigen (1461, 1463). Sein Ansatz im ersten der beiden Aufsätze besteht darin, diese Annahme auf die vier großen homerischen Hymnen anzuwenden, also diejenigen Hymnen, die auch Erzählungen enthalten. Allerdings modifiziert P o s t l e t h w a i t e die Verbindung ›Nomen + Epitheton‹ zu einer Verbindung, die er als ›CN–E‹, d. h. common noun + epithet, bezeichnet; er versteht darunter eine Wortverbindung, die zwar nicht exakt wiederholt sein muß, wohl aber über eine Analogie zu einer bekannten Formel entsprechend den Möglichkeiten des Metrums neu geschaffen werden konnte. Hierbei sei die Art und Weise, in welcher konkreten Form das Epitheton mit dem Nomen verbunden wurde, vielfältig variierbar. Damit erweitert auch P o s t l e t h w a i t e den Grad der Formelhaftigkeit im Homertext erheblich. Konkretisiert wird die Flexibilität formelhafter Ausdrücke an vier Variationsmöglichkeiten: (1) die Quantität formelhafter Ausdrücke, (2) die Beweglichkeit formelhafter Ausdrücke im Vers, (3) fehlende unmittelbare Verbindung von Epitheton und Nomen, (4) die Ausdehnung formelhafter Ausdrücke. Als Kontrolltexte aus dem homerischen Epos wählt er A 176–611 und β 1–434. Auf S. 17 zieht P o s t l e t h w a i t e folgendes Fazit: »the cumulative effect of the various strands of evidence suggests a considerable probability that the hymns and Homer belong to the same genre.« In den jeweiligen Unterschieden sieht der Autor persönliche Varianten. In dem zweiten Aufsatz wendet P o s t l e t h w a i t e die gleiche Methode auf einen Text aus der Odyssee an, der schon seit der Antike im Verdacht steht, nicht vom selben Dichter wie das übrige Epos zu stammen, nämlich die sogenannte ›Fortsetzung der Odyssee‹. Es handelt sich dabei um die Verse ψ 297 – ω 548, die nach Aristophanes’ und Aristarchs Einschätzung über den angeblichen Schlußpunkt des Epos (›Wiedervereinigung mit Penelope‹) hinausgehen (Σχ zu ψ 296). Die Analyse folgt weitgehend denselben Kriterien wie im vorgenannten Aufsatz. Zwar stellt der Autor für Variation (3), also separation, eine statistische Nähe zu dem Befund aus dem Demeterhymnos fest, doch sei generell eine kategoriale Abweichung im Umgang von CN–E zwischen den Hymnen, der Ilias und Odyssee α 1 – ψ 296 einerseits und der ›Fortsetzung‹ andererseits eindeutig gegeben. Damit ergibt sich für P o s t l e t h w a i t e folgendes Fazit: »the continuation was obviously not a product of the same composer as the Iliad and the Odyssey« (S. 186); der composer des Schlußabschnitts sei vielmehr ein imitator des homerischen Stils gewesen. Diese Aussage basiert freilich nur auf einem kleinen 93 S. oben S. 78.
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Ausschnitt des Homertexts und setzt zudem weiterhin die Formel als Grundelement, in dem Homer dachte und dichtete, voraus. Eine wichtige Arbeit, die Zweifel an dem Modell einer homerischen Versifikation auf der Basis von Formeln wecken kann, ist die 1983 erschienene, über 300 Seiten umfassende Monographie von A. G. T s o p a n a k i s mit dem programmatischen Titel Homeric researches. From the prosodic irregularity to the construction of the verse (1524; 1525 enthält eine Zusammenfassung der Hauptpunkte). T s o p a n a k i s ’ Ausgangspunkt für die Rekonstruktion der Verskomposition ist nicht die Semantik, sondern die Metrik. Er demonstriert hier sehr deutlich die Flexibilität in der prosodischen Gestaltung von Wörtern zum einen durch die metrischen Gesetze des Hexameters (Elision, Hiatkürzung, wahlweise Anwendung der correptio epica), zum anderen durch die metrischen Irregularitäten, die er vollständig in seiner Arbeit auflistet. Daraus entsteht der deutliche Eindruck, daß von einer weitgehend typologisch gesteuerten Verwendung bei vielen Wörtern, die bestimmte Lizenzen zulassen, aber auch bei Wörtern, bei denen Lizenzen auch sprachwidrig sind wie etwa das /ā/ am Wortanfang von ἀθάνατος, nicht die Rede sein kann. Eine rigide Einbettung in Formeln ist im Grund eher die Ausnahme als die Regel, es sei denn, man erklärte die Irregularität zum Teil des traditionellen Systems. Davon unberührt bleibt die Tatsache, daß die homerische Art der Komposition zu einem sehr viel höheren Maß traditionelle Formulierungen in die Textgestaltung einbringt, was T s o p a n a k i s auch ausspricht, wenn er auf S. 70 daran erinnert, daß: »the poet used mostly his words in their basic metrical form, not in their potential one« (ähnlich auch S. 22 [§ 33]). Von dieser Position aus geht T s o p a n a k i s im zweiten Teil zur Frage der Verskomposition über, in dem er die metrischen Irregularitäten als Resultat der Verskomposition deutet. Er zeigt dies an den Themen ›Wortstellung‹ (mit den Teilthemen ›Hyperbaton‹, ›Tmesis‹ und ›Inversion‹; ein Ergebnis ist beispielsweise die Tatsache, daß metrische Irregularitäten besonders häufig am Versanfang zu beobachten sind, da diese Position die Möglichkeit eröffnet, einen Begriff hervorzuheben), ›Enjambement‹, ›Parataxe und Hypotaxe‹ und ›Orientierung an einem festen Rahmen (stable frame)‹, ›Korrelativa‹, ›Relativpronomina‹ und ›Adverbien‹. Im ganzen hat T s o p a n a k i s damit die Bereiche sichtbar gemacht, die für metrische Irregularitäten ausschlaggebend sein dürften; die inhaltliche, also semantische Seite bleibt allerdings unberücksichtigt. Dennoch zeigt die Arbeit, daß die Basis, auf der die Komposition aufruht, weniger die Formel ist als vielmehr der einzelne Begriff, so daß Homer doch wohl Herr über seine Technik war und nicht die Technik Herr über seine Art zu sprechen. Dieser Arbeit ist in der Forschung wenig Aufmerksamkeit zuteil geworden. Noch weiter geht der Ansatz von E. V i s s e r in seiner 1987 erschienenen Basler Dissertation, in der er versucht hat, das Verhältnis zwischen Tradition und Innovation auf eine neue Basis zu stellen und die Spezifika des homerischen Stils mit der Frage nach der Produktionstechnik und dem jeweiligen Inhalt konkret zu verbinden (1529); diese Arbeit wurde kurz darauf um eine englischsprachige Zusammenfassung ergänzt (1530). Zunächst einmal bestreitet V i s s e r Parrys Annahme von der Formel als dem Dichter vorgegebene Einheit; vielmehr seien etwa in Formeln des Typus πόδας ὠκὺς Ἀχιλλεύς zwei in ihrer Funktion grundsätzlich unterschiedliche Elemente verbun-
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den, nämlich der Name Ἀχιλλεύς als situationsspezifisch notwendiger Begriff (von V i s s e r als ›Determinante‹ bezeichnet) und das Epitheton πόδας ὠκύς als Element, das die Funktion hat, den metrischen Erfordernissen entsprechend den Namen aus dem Stegreif mit dem ersten Halbvers verbinden zu können. Daraus ergibt sich die Annahme, daß die Verbindung der beiden Elemente Ἀχιλλεύς und πόδας ὠκὺς nicht eine Einheit bildet, mit welcher der Dichter gedanklich arbeitet, sondern daß die Epitheta je nach semantisch-metrischer Situation im Vers variiert werden, entweder zu ὠκύς bzw. δῖος (Anschluß an den Einschnitt C 2) oder zu ποδάρκης δῖος Ἀχιλλεύς (Anschluß an die Zäsur B 2). Auch können Epitheta gänzlich weggelassen sein, was häufiger vorkommt, als es nach der Forschungsdiskussion seit Parry den Anschein hat. Das, was als Formel bezeichnet wird, steht nach dieser Argumentation in seiner konkreten Ausprägung erst am Ende des Versproduktion und nicht an seinem Anfang. Dieses Resultat wird anschließend von V i s s e r anhand eines klar abgegrenzten inhaltlichen Bereichs genutzt, um die Entstehung eines improvisiert generierten ganzen Verses zu rekonstruieren. Es wird also gefragt, welche Bedingungen im Vers dazu geführt haben, warum einmal das Epitheton δῖος, ein andermal πόδας ὠκύς oder ein andermal ποδάρκης δῖος verwendet wird. V i s s e r wählt hierzu die Tötungsszenen der Ilias mit der Struktur ›A tötete B, ausgedrückt innerhalb eines Verses‹, ein Szenentyp, der sich in der Ilias 51mal nachweisen läßt. Aus dieser Analyse geht hervor, daß Homer diese Verse nicht mit Hilfe von Formeln generierte, sondern vom semantischen Wert der jeweiligen Determinanten ausging (in den untersuchten Versen die Namen von A [Täter] und B [Opfer] zunächst ohne die damit verbundenen Epitheta und die Prädikate). Um diese Determinanten an die strukturelle Kerngröße des Hexameters, das Kolon, anzupassen, wird dieses, wenn es kurz ist, durch Zusatz von traditionell vorgegebenem Wortmaterial, besonders natürlich der Epitheta, auf die Länge eines Kolons ausgedehnt. Die jeweilige Auswahl wird so in der Regel ohne Bezug auf den unmittelbaren Kontext vorgenommen. Mit V i s s e r s Ansatz ist die Aufgabe, im homerischen Wortlaut zwischen Tradition und Neuerung unterscheiden zu können, neu umrissen: Dasjenige Element, welches den semantisch gewünschten Begriff auf Kolonlänge ausdehnt bzw. an eine Kolongrenze (= Zäsur) heranführt, kann nach diesem Modell als traditionell vorgegeben angesehen werden; es ist damit für die spezifische Situation nicht bedeutungstragend. Demgegenüber ist der semantische Kern eines Kolons Ergebnis der Aussageintention des Dichters und als solcher situationsspezifisch interpretierbar. Allerdings gelte es bei den inhaltlichen und nicht metrisch definierten Begriffen zu differenzieren. An erster Stelle stehen die Wörter, deren prosodisches Schema fest oder in nur geringem Umfang variabel ist (z. B. Achilleus als Ἀχιλεύς, Ἀχιλλεύς oder Πηληϊάδης). Erheblich variantenreicher sind demgegenüber in dem ausgewählten Szenentypus die Verbformen mit der Bedeutung ›er tötete‹ (ἐνήρατο, ἔπεφνεν, κατέκτα, ἐξενάριξεν etc.: im ganzen 33, prosodisch sämtlich unterschiedlich), von V i s s e r als Variable bezeichnet: Sie seien semantisch unverzichtbar, aber in ihrer prosodischen Form wenig festgelegt. Erst danach kämen Wörter – primär Epitheta – mit primär versifikatorischer Funktion hinzu, also Wörter, deren prosodische Schemata die improvisierte Komplettierung des Verses erlauben (sog. ›freie Ergänzungen‹). Mit diesem Modell ergebe sich für die
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Komposition der Verse ein ständiges Wechselspiel aus Determinanten, Variablen und freien Ergänzungen, welches dazu führe, daß in jedem Einzelvers trotz der Verwendung traditioneller Elemente ganz individuelle Aussageintentionen anzusetzen sind. Im zweiten Teil seiner Arbeit setzt V i s s e r das so gewonnene Modell auf Tötungsszenen mit anderer sprachlicher Struktur (hier mit dem Verb βάλλειν) um; er vermag auch hier die jeweilige Versgestaltung in gleicher Weise zu rekonstruieren. Abschließend wird anhand einer Kontrastanalyse zu den Tötungsversen in den Posthomerica des Quintus von Smyrna gezeigt, daß bei diesem Dichter die Regeln der metrischen Ökonomie und syntaktischen Strukturen nicht eingehalten sind. Sie waren seit dem Ende der Improvisationstechnik eben nicht mehr bekannt, weil keine Notwendigkeit mehr bestand, sie anzuwenden. J. L a t a c z hat das gesamte Modell in einem Aufsatz von 1992 zustimmend noch einmal in der für ihn charakteristischen Anschaulichkeit zusammengefaßt (1403). Dieses Kompositionsmodell, bei dem die Formel nicht mehr Ausgangspunkt der Verskomposition ist, sondern als Resultat einer bestimmten Technik aufgefaßt werden kann, hat V i s s e r danach auf die Erzählform des Katalogs umgesetzt. Der Katalog scheint ja mit diesem Generierungsmodell nicht erklärbar zu sein, da man bei Namen zunächst einmal von semantischer Funktionalität und damit auch von prosodischer Determination ausgehen muß. Daß das in 1529 dargestellte Modell jedoch auch bei dieser speziellen Darstellungsform möglich ist, ergibt sich nach V i s s e r dann, wenn nicht alle Namen als Determinanten aufgefaßt werden und zudem die Flexibilität im Bereich der Konnektoren genau aufgearbeitet wird. Dies geschieht in einer Arbeit zum längsten und wichtigsten aller homerischen Kataloge, dem Schiffskatalog. Hier hat V i s s e r in einer sehr umfassenden Monographie (1532; die Verbindung zu seinem Versifikationsmodell ist explizit hergestellt in 1531) alle geographischen Bezeichnungen nach ihren historischen, mythologischen und archäologischen Befunden aufgeschlüsselt, und diese Befunde zeigen in der Tat, daß in den Versen mit den geographischen Bezeichnungen historisch und archäologisch bedeutsame Namen immer mit relativ unbedeutenden abwechseln, die Kompositionstechnik anhand eines Wechsels aus Determinanten, Variablen und freien Ergänzungen folglich auch im Katalog durchaus denkbar erscheint. V i s s e r kommt auf Grund seiner Versifikationsanalysen zu dem Schluß, daß die Namenverse des Schiffskatalogs sowohl Spuren aus mykenischer Zeit als auch aus den sog. dark ages und aus Homers kontemporärem Umfeld enthalten. Einen Teilaspekt des Schiffskatalogs im Hinblick auf die darin erkennbare Kompositionstechnik hat V i s s e r schließlich 1998 in den Blick genommen (1533). Betrachtet man die einzelnen entries des Katalogs, so lasse sich dort eine klare Strukturierung ausmachen, nämlich entweder ein einleitendes Ethnikon im Genetiv und die Nennung der Anführer im Nominativ, dann die Namen der jeweiligen Ortschaften (Beispiel B 527: Λοκρῶν δ' ἡγεμόνευεν Ὀϊλῆος ταχὺς Αἴας) oder ein einleitendes οἳ δέ mit den Namen der Ortschaften im Akkusativ und einem Verb des Inhalts ›sie bewohnten‹, danach, eingeleitet mit τῶν δέ, die Namen der Anführer, oder der Name des Anführers am Versanfang, schließlich eine Verbform mit dem Inhalt ›er/sie führte/n‹ und die Anzahl der Schiffe (Beispiel: B 559 und 568; s. dazu auch die Anmerkungen
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zum Aufsatz von B. B. Powell [1466] auf S. 106). Auch bei den Zahlen der Schiffe sei pro Kontingent eine gewisse formale Stereotypie durch die Verwendung von Vielfachen der Zehn oder der Drei deutlich zu erkennen. Daß diese Strukturen bei einer improvisierten Versifikation des Hexameters eminent hilfreich sind, liegt auf der Hand. V i s s e r nimmt an, daß die Herausbildung dieser Strukturen möglicherweise aus einer realen mykenischen Expedition nach Troia heraus ihren Weg in die Dichtung genommen haben könnte und sich dann über die dark ages weiterentwickelt hat.94 In unmittelbarer zeitlicher Nähe zu Vissers Dissertation haben E. J. B a k k e r und F. F a b b r i c o t t i die Funktion des Begriffs ›mit dem Speer‹ im Dativ Singular (z. B.: ὀξέϊ δουρί : ἔγχεϊ μακρῶι) auf seine Verwendung im jeweiligen Vers untersucht (1273). Die Autoren gehen dabei von der Existenz von Formeln aus, lösen diese also nicht wie Visser auf, bestimmen aber ihre Funktion im Vers in Bezug auf Kontext entweder als nucleus (d. h. mit bewußter Einfügung auf den spezifischen Kontext hin) oder als periphery. Sie sind nicht an dem Versuch interessiert, den Versifikationsprozeß zu rekonstruieren, sondern versuchen den homerischen Stil anhand der peripherality zu bestimmen. Zunächst verweisen sie zutreffend darauf, daß peripheraler Text nicht eo ipso bedeutungslos ist, sondern die semantische Funktionslosigkeit nur auf den Kontextbezug einzuschränken ist. Weiterhin wird von ihnen nach den Umständen gefragt, warum ein bestimmtes peripherales Wortmaterial ausgewählt wird, und hierzu wohl richtig darauf verwiesen, daß es keine stereotype Zuweisung zu dem jeweiligen Bereich geben kann, sondern der Kontext das Kriterium ist; das können die Autoren bei der Betrachtung der Verse E 850–856 und E 144–147 unmittelbar evident machen. Auf ein wichtiges ›technisches‹ Detail für die Versbildung jenseits der Formel hat A. C a r u l l o mit ihrem Aufsatz zur Tmesis aufmerksam gemacht (1289): Eigentlich ein Gegenstand der Metrik ist ihr Aufsatz hier im Kapitel zur oral poetry aufgeführt, da sie die Gründe für deren Verwendung in der Improvisationstechnik sucht. Nach ausführlicher Beschreibung der Tmesis auch anhand antiker Aussagen bezieht sie sich zunächst auf Parry, der in MHV 49 diese Erscheinung in der Liste seiner Hilfsmittel für improvisierte Versbildung aufführt (Nr. V), nämlich als Möglichkeit, nach der Mittelzäsur, also mit dem dritten Kolon einen neuen Satz beginnen zu können; dieser habe seine Beobachtung nicht hinreichend durch Daten untermauert oder weitere Möglichkeiten der Tmesis dargestellt. Das holt C a r u l l o hier vor allem mit den Tabellen auf den S. 51–56 nach, verweist aber auch darauf, daß die Tmesis nicht allein im dritten Kolon anzutreffen ist, sondern auch an anderen Verspositionen. Darüber hinaus müsse nicht zwangsläufig ein δέ zwischen Präfix und Verb treten, mehrfach ist auch ἄρα zu finden (besonders häufig in καθ' ἄρ' ἕζετο); auch τ' ist belegt. Daß die Tmesis nicht nur syntaktisch, sondern auch inhaltlich ein Element versifikatorischer Flexibilität ist, zeigt der Vergleich von A 195 (πρὸ γὰρ ἧκε; Erzähler-Text) mit 208 (πρὸ δέ μ' ἧκε; direkte Rede, also sekundäre Fokalisation). Nicht ausschließlich in den sprachlich-stilistischen, sondern auch in den gleichsam ›technischen‹ Bereich der Versproduktion gehört weiterhin M. C a s e v i t z ’ 94 S. dazu den Bericht zur Stoffgeschichte in Kap. X
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Aufsatz von 1992 (781; s. Bericht, Kap. VI, Lustrum 56, 2014, 117), in dem er auf die prosodische Flexibilität bei Eigennamen hinweist. Hier wird sichtbar, welcher formale Variationsreichtum Homer zur Verfügung stand. Genannt werden: verschiedene Deklinationsklassen, verschiedene Stammausgänge, veränderte Vokalquantität, verschiedene Patronymsuffixe und verschiedener Umgang bei Plosiv + Liquida; zudem können Personennamen auch durch Patronymika substituiert werden. 1992 hat A. M. R i g g s b y die Arbeiten von Visser sowie die Erkenntnisse von Bakker/Fabbricotti als Ausgangspunkt für weitere konkrete Erkenntnisse der Formeltechnik genutzt. Im ersten Teil wendet er Vissers Modell auf Redeeinleitungen in der Odyssee an, um dieses auf seine Übertragbarkeit auch bei anderen Inhalten zu überprüfen (1479). Der Autor macht in den Redeeinleitungen vier Schemata aus, nämlich (a) ›die Person X sprach‹; (b) die Person X sprach zu einer Person‹, (c) ›die Person X sprach unter mehreren Personen‹, (d) ›die Person X antwortete‹. R i g g s b y stellt hier die gleiche metrische Konvenienz fest wie Visser bei den Tötungsversen, und dies bei den Verben des Inhalts ›er sprach‹, ›er sprach unter‹, ›er sprach zu‹, bei den Konnektoren und bei den Ausdrücken für ›schnell‹. Auch die Kontrastanalyse mit schriftlich abgefaßter Epik, für die R i g g s b y nicht Quintus von Smyrnas Post homerica, sondern Apollonios’ Argonautika heranzieht, zeigt bei Versen dieses Inhalts eine vergleichbare Verletzung der Ökonomie. Anschließend beleuchtet er, wie dieses Modell auch in kleineren Teilproblemen wie etwa der Umgang mit dem ephelkystischen ν Deutungshilfen ermöglicht, um abschließend auf den Ansatz von Bakker/ Fabbricotti mit der Trennung von nucleus und periphery einzugehen. Er betont richtig, daß die bei Visser gewählten Begriffe ›Determinante‹ und ›Variable‹ nicht mit denen von Bakker/Fabbricotti identisch sind, in der Frage nach situationsspezifischer Funktion von Begriffen aber in die gleiche Richtung deuten. Hilfreich für das Verstehen von Homers traditionsgebundener Darstellungsweise über die Formel hinaus ist auch ein Aufsatz von F. L é t o u b l o n im Rahmen des Grenobler Milman-Parry-Kongresses zum Thema der Zeitangaben, insbesondere von Tag und Nacht (1406). Für die Beschreibung eines Tagesbeginns kann sie zeigen, daß Ἠώς, in der Regel als Name, seltener als Appellativum verwendet, fest in formelhafte Formulierungen eingebettet ist, was die begleitenden Epitheta und auch die syntaktische Struktur betrifft. Vergleichbares gilt auch für den Begriff ἦμαρ, während bei dem jüngeren Begriff ἡμέρη, der bei Homer deutlich weniger gebräuchlich ist, solche Strukturen fehlen. Eine ähnliche Beobachtung kann L é t o u b l o n dann auch für das Verhältnis von κνέφας zu νύξ machen, wobei aber νύξ auch einen symbolischen Gehalt haben kann. Auf eine wichtige interpretatorische Beobachtung macht die Autorin zu der Verbindung ἐννῆμαρ μέν … τῆι δεκάτηι δέ, die in der Ilias nur in A 53 f. und Ω 664 f. vorkommt, aufmerksam: Sie verbindet diese Tatsache mit der bereits von K. Reinhardt oder C. Macleod geäußerten Deutung des Ω als Lösung der Geschehnisse, die im A ihren Anfang genommen haben95. Jedenfalls bilden die Formeln zu Tag
95 K. Reinhardt, Die Ilias und ihr Dichter, Göttingen 1961, 464–469; C. W. Macleod, Homer, Iliad Book XXIV, Cambridge 1982, 32.
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und Nacht eine feste Struktur in Homers Beschreibung der Zeiteinheiten, wobei aber auch für diesen Bereich mehrere Varianten zur Verfügung stehen können. C. C a t e n a c c i hat in einem kurzen Aufsatz von 1997 (1290) noch einmal allgemein auf den Einfluß des Metrums auf die Wortwahl verwiesen, mit der die Aussageintention überformt werden mußte, um in der Form eines daktylischen Hexameters vorgetragen werden zu können. Man könnte sie mit M. Nagler als ›präverbale Gestalt‹96 bezeichnen. Exemplarisch zeigt er dies am Wort ὁμοίϊος, welches elfmal in den homerischen Epen belegt ist und vom ›regulären‹ ὅμοιος semantisch in keiner Weise differiert. Ausgehend von den Ergebnissen seiner eigenen Untersuchung zu neugriechischen Volksgesängen97 hat G. M. S i f a k i s diese Resultate dazu genutzt, das Verhältnis von traditioneller Bindung und kreativer Ausgestaltung klarer deutlich zu machen (1506). In einem ersten Teil thematisiert er die kreativen Möglichkeiten eines Sängers, der zwar vorgegebene Elemente wie Formeln unverändert übernimmt, aber über einen erheblichen kreativen Spielraum verfügt, um die sprachlichen Instrumente, die die Tradition ihm liefert, zu kombinieren; S i f a k i s nennt hier Wortschatz, Grammatik, Formeln, Versifikationsschemata, Bilder, Gleichnisse und Metaphern. Hiernach wird das inhaltliche Substratum, man könnte auch sagen: die Aussageintention, geformt. Das Modell wird an mehreren Beispielen exemplifiziert. So nimmt S i f a k i s in einem ersten Beweisdurchgang Bezug auf syntaktische Schemata, die er in seiner Arbeit zu den neugriechischen Volksliedern herausgearbeitet hat. Ein Schema wie ›X hat gesprochen, der angesprochene Y reagiert darauf emotional (mit Lächeln, Schaudern oder Freude)‹ kann dann so verbalisiert werden: ὥς φάτο, μείδησεν δὲ πολύτλας δῖος Ὀδυσσεύς oder ὥς φάτο, ῥίγησεν δὲ βοῶπις πότνια Ἥρη oder ὥς φάτο, γήθησεν δὲ θεὰ γλαυκῶπις Ἀθήνη. Andere syntaktische Schemata sind: ›X hat etwas gesehen und reagiert emotional‹ oder ›X erwidert Y in emotionaler Weise‹.98 S i f a k i s erkennt auch inhaltliche Schemata (themes) wie das vom unwillentlichen Mörder, die zwar sprachlich variiert sind, aber im Kern dasselbe aussagen; daher werden sie von S i f a k i s als ›poetische Synonyme‹ bezeichnet. Innerhalb dieser Synonyme kommen häufig unterschied liche Aussagen in Halbversen vor, die aber im Grunde dasselbe aussagen; S i f a k i s bezeichnet sie als ›Allomorphe‹. So gebe es etwa für das Substratum ›der Held fiel auf den Boden (1. Halbvers) und starb (2. Halbvers)‹ zehn Synonyme mit elf Allomorphen. Wie weit diese Flexibilität in der Ausgestaltung von Substrata geht, wird abschließend am Beispiel: ›Ablegen eines oder mehrerer Schiffe, in der Regel am Mor 96 S. oben S. 89. 97 Γιὰ μιὰ ποιητικὴ τοῦ ἑλληνικοῦ δημοτικοῦ τραγουδιοῦ, Herakleion 1988. 98 Das Beispielschema aus dem Schiffskatalog (S. 144: ›Pronomen, Objekt X, transitives Verb, Objekt Y‹) ist problematisch. In Katalogen, jedenfalls im Schiffskatalog sind die Versifikationsschemata vermutlich komplexer. S. dazu Visser (1532; s. S. 97), passim, v. a. 53–61.
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gen, und Fahrt aufs offene Meer‹ exemplifiziert, das zehnmal in der Odyssee belegt ist: immer wieder sind die einzelnen Stationen dieses Geschehens (im ganzen elf) auf der Oberfläche des Texts anders beschrieben, und in dieser Variation sieht S i f a k i s Homers Kreativität. Man kann diesem Befund in Teilen sicherlich beipflichten, doch sollte Homers Kreativität nicht darauf beschränkt werden, aus welchen vorgegebenen Formulierungen er jeweils ausgewählt hat. 1997 ist von M. C l a r k eine umfangreiche Untersuchung zur homerischen Komposition erschienen (1294), die ebenfalls über den einzelnen Vers hinausgeht. Ausgehend von der Annahme einer oralen Genese entwickelt er nach methodischen Anmerkungen zur Frage der Komposition auf der Basis von Formeln das Modell einer Tiefenstruktur von habitualisierten Wortassoziationen, die vom mündlichen Dichter je nach metrischer Ausgangssituation realisiert werden. Konkret umgesetzt wird dieser Ansatz anhand des Enjambements – hieraus erklärt sich der Titel Homeric Composition beyond the Hexameter –, für die C l a r k die Untersuchung von C. Higbie99 zugrunde legt. So seien bestimmte Wörter in einem voraufgegangenen Vers Auslöser (trigger) für bestimmte Fortsetzungen im folgenden Vers. Exemplifiziert wird dieses Modell anhand der Verse A 207 f., P 692 f. in Verbindung mit Σ 20 f., Δ 502 f. und ρ 473 f. Darüber hinaus werden auch diejenigen Enjambements in den Blick genommen, in denen ein neuer Satz nach der bukolischen Dihärese beginnt, woraus ein notwendiges Enjambement resultiert; auch hier könne eine konkrete Verbindung zwischen den Begriffen im Adoneus und einer formelhaften Fortsetzung im folgenden Vers festgestellt werden. Das trifft für diese Verse sicherlich zu, gilt aber keineswegs uneingeschränkt. Insofern hat C l a r k durchaus ein zutreffendes Prinzip der homerischen Komposition beschrieben, nämlich die innere Kohärenz eines von der Tradition determinierten Wortschatzes. Allerdings läßt sich aus diesem Blickwinkel heraus die Komplexität des Homertexts nicht zur Gänze ableiten. Wenn also durch C l a r k s Arbeit auch von diesem Gesichtspunkt her klar wird, wie tief der homerische Stil in einer bestimmten Tradition verwurzelt ist, gibt es doch immer noch viele Abweichungen, die mit dem Parry’schen Modell von der Annahme einer durchgängig traditionsdeterminierten Art des Formulierens nicht erklärt werden können. e. Typische Szenen und ihr Einfluß auf die Komposition Eine Besonderheit des homerischen Epos gegenüber späterer Epik liegt darin, daß typische Szenen wie ›Ankunft‹ oder ›Bewaffnung‹ immer mit dem gleichen oder nur leicht modifizierten Wortlaut wiedergegeben werden. Da Parry durch die Ergebnisse seiner Dissertation davon überzeugt war, daß der Homertext von einer bestimmten versifikatorischen Technik geprägt war, lag für ihn der Gedanke nahe, daß auch diese Besonderheit darin begründet war. Parry befaßte sich daher schon früh mit diesen Szenen, zu denen W. Arend – noch ohne Bezug auf Parrys Erkenntnisse – 1933 eine detaillierte Untersuchung vorgelegt hatte; diese wurde auch von Parry auch re 99 S. Bericht, oben Kap. VII, 1234.
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zensiert.100 Arend analysierte die Themenbereiche ›Ankunft‹, ›Opfer und Mahl‹, ›Schiff- und Wagenfahrt‹, ›Rüstung und Ankleiden‹, ›Schlaf‹, ›μερμηρίζειν‹, ›Versammlung‹, ›Schwur‹ und ›Bad‹, doch hat die Arbeit an der Typologie sich wiederholender Szenen einen weit höheren Grad an inhaltlicher Typizität aufdecken können. Hier sind vor allem die Arbeiten von B. C. Fenik zu nennen, der bei vielen Handlungsabläufen in Ilias und Odyssee strukturell eng verwandte Abläufe (patterns) herausarbeiten konnte101. Offenbar stellte die Tradition dem oral poet ein Geflecht von Strukturgerüsten zur Verfügung, welche es ihm erleichterten, den Inhalt typischer Szenen entlang einer jeweils gleichen Struktur zu wiederzugeben. Zu Beginn des Berichtszeitsraums hat M. K r a v a r einen Vergleich zwischen den homerischen Epen und den südslawischen Heldenliedern unter besonderer Berücksichtigung der typischen Szenen und der Komposition nach Themen durchgeführt, wofür er die Lieder des Salih Ugljanin, eines der bedeutendsten Guslare, herangezogen hat (1397). Als erste Ergebnis stellt K r a v a r fest, daß das Vorkommen identischer Wiederholung bei Ugljanin größer ist als bei Homer. Auch bei der Komposition nach Themen gebe es deutliche Unterschiede. So ist die Verbindung von identischen Versen in identischen Szenen, also der Grad der Verwendung traditionell vorgegebener Elemente, bei Homer deutlich geringer. Ugljanins Art zu dichten weicht demzufolge von der Homers erkennbar ab. B. C. F e n i k hat unsere Kenntnis über den Einfluß von festen Typologiegerüsten auf die Gestaltung von Ilias und Odyssee nicht durch Vergleiche, sondern durch Analyse des Homertexts selbst erweitert. 1978 hat er auf einem Homer-Symposion in Cincinnati eine bis dahin noch nicht explizit untersuchte typische Struktur vorgestellt (1323): Die Situation, in der ein Kämpfer auf dem Schlachtfeld in eine bedrohliche Situation gerät, über einen möglichen Rückzug nachdenkt und danach entscheidet standzuhalten oder zurückzuweichen; diese Erzählstruktur ist also dem Szenentypus des μερμηρίζειν zuzuordnen. Es sind vier Szenen in der Ilias, die trotz variantenreicher Ausgestaltung im einzelnen von der Abfolge ›Situationsbeschreibung‹, ›Monolog‹ (immer eingeleitet mit »ὤι μοι ἐγώ[ν]«), die Entscheidung (immer eingeleitet mit ἀλλὰ τίη μοι ταῦτα φίλος διελέξατο θυμός), ›Gleichnis‹ und ›Konsequenz aus der Überlegung‹ geprägt sind. Dieser Szenentypus findet sich bei Odysseus (Λ 401–410), Menelaos (P 91–105), Agenor (Φ 553–570) und Hektor (Χ 99–130); in drei Fällen entscheiden sich die Kämpfer für das Standhalten. Nur Menelaos weicht zurück, ein interpretatorisch bemerkenswerter Befund. H. S c h w a b l hat sich mit den Beziehungen der typischen Szenen zueinander beschäftigt und sie nicht als Hilfsmittel zur Strukturierung, sondern als bewußt gesetzte Anspielungen gedeutet (1497). Auch bei identisch wiederholten Halbversen (z. B. τὸν δὲ σκότος ὄσσε κάλυψε) oder sogar ganzen Versen (›Refrainverse‹) sieht S c h w a b l mit Berechnung vorgenommene Bezüge. Noch weitergehend ist seine Annahme, auch Epitheta seien situationsspezifisch zu interpretieren, und zwar auch 100 W. Arend, Die typischen Szenen bei Homer, Berlin 1933; M. Parry, CPh 31, 1936, 357–360. 101 Typical Battle Scenes in the Iliad: Studies in the Narrative Techniques of Homeric Battle Description, Wiesbaden 1968; Studies in the Odyssey, Wiesbaden 1974.
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aus stilistischen Gründen (Vermeidung von Wiederholungen, z. B. im A in 551 und 568: βοῶπις πότνια Ἥρη, in A 572 und 595: (θεὰ) λευκώλενος Ἥρη, schließlich in 611: χρυσόθρονος Ἥρη). Mit dieser Annahme ist die Frage des primum movens grundsätzlich gestellt: Resultat einer Technik oder Resultat einer bewußten Setzung? Solange man annimmt, daß es keine Wahlmöglichkeit für die Verbalisierung typischer Szenen gebe, spricht angesichts der Ergebnisse von Parry und Fenik doch wohl mehr dafür, die Verwendung identischer Strukturen für typische Szenen als Hilfsmittel für den improvisierten Vortrag zu deuten und nicht als bewußte Anspielung. Daß innerhalb der typischen Szenen dennoch genug Raum für individuelle Variation bleibt, hat vor allem Fenik in seinen Arbeiten gezeigt, doch betrifft dies nicht die wiederholte Verwendung der typischen Szene als ganzer. Einen methodisch wichtigen Aufsatz zum Verhältnis ›oral poetry – typische Szenen‹ hat O. T s a g a r a k i s 1979 veröffentlicht (1521). Mit diesem Aufsatz nimmt er Bezug auf zwei Aufsätze, in denen Abweichungen vom strengen typologischen Gerüst bestimmter Szenen als Einfluß einer oralen Genese gewertet werden. Hier habe der Einfluß der Tradition gewisse Unstimmigkeiten in der Darstellung des jeweiligen Kontexts zur Folge gehabt; solche Unstimmigkeiten seien auch in den südslawischen Heldenliedern zu beobachten. Die Aufsätze, auf die T s a g a r a k i s Bezug nimmt, stammen von D. M. Gunn und M. W. Edwards102. Gunn geht dabei von spontanen Irrtümern des diktierenden Sängers aus, Edwards von dem mißglückten Versuch Homers, mehrere typische Szenen in einer Episode zu kombinieren. T s a g a r a k i s vermutet dagegen in den Abweichungen von der Typik ein bewußtes Eingehen des Dichters auf die Situation, in der sich die Protagonisten jeweils befinden; seine Argumentation ist im Grundsatz schlüssig. Diskutiert werden hierbei Abfahrtsszenen (o 144–182 im Verhältnis zu Ω 281 f.), Ankunftsszenen (ε 85–91 im Verhältnis zu Σ 369–427), Ankunft eines Boten (Ω 333–371) und Ankunft eines Gastes (Ω 596–618). Ein weiteres Ergebnis liegt auch in Hinweisen auf kontextsensitive Verwendung zumindest einzelner Epitheta. In einem zweiten Beitrag zu dieser Thematik (1522) ist T s a g a r a k i s 1990 auf weitere Variationen innerhalb der typischen Szenen eingegangen, nämlich auf die Beschreibungen einer Abfahrt in A 141–144/308–311 oder der Einberufung der Versammlung durch Achilleus (A 54/T 34 ff.). Das Ergebnis seiner Untersuchungen faßt T s a g a r a k i s auf S. 123 so zusammen: »… es [gibt ] Strukturen und Szenen …, die auf eine besonders planvolle Ausarbeitung hinweisen. Eine solche Ausarbeitung setzt aber wohl das Hilfsmittel der Schrift voraus.« M. W. E d w a r d s (1316) hat in einem kurzen Aufsatz eine Standortbestimmung der Homerforschung für das Jahr 1982 gegeben und hierzu als konkreten Ausgangspunkt die sog. typischen Szenen als für orale Dichtung charakteristisches Erzählelement ausgewählt. So erkennt er auch im Handlungsablauf am Ende der Odyssee, einem von der Homeranalyse viel kritisierten Abschnitt, genuin Homerisches: Als typische 102 D. M. Gunn, Narrative Inconsistencies and the Oral Dictated Text in the Homeric Epic, AJPh 91, 1970, 192–203; M. W. Edwards, Type-Scenes and Homeric Hospitality, TAPhA 105, 1975, 51–72.
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Szenen sind das Mahl anzusehen, welches Odysseus, seine Verwandten und Gefolgsleute einnehmen, der Abtransport der Körper der erschlagenen Freier aus dem Palast, die Beratung der Bewohner Ithakas, das Herbeiholen von Waffen, die Beratung von Zeus und Athene über den gegenwärtigen Stand und schließlich die Reise Athenes nach Ithaka, wo schon die Bürger Ithakas unter der Führung des Eupeithes vor dem Palast stehen; erst nachdem das alles berichtet ist, kehrt der Erzähler zum Mahl des Odysseus zurück (ω 412–489). E d w a r d s , dem methodischen Ansatz von B. C. Fenik folgend, betont richtig, daß die einzelnen Handlungselemente den typischen Szenen entsprechen, wie sie auch sonst in den homerischen Epen zu finden sind – er nennt es auf S. 6 ein »piling-up of unelaborated type scenes« –, doch seien diese hier gleichsam nur in ihrer Rohform verwendet. Über den Grund könne man nur spekulieren; er könnte möglicherweise darin gesucht werden, daß die Odyssee nunmehr schnell beendet werden sollte, ob nun der Dichter dies selbst wünschte oder eher der Erwartung des Publikums entgegenkommen wollte. Die typische Szene des μερμηρίζειν, in der das Durchdenken eines problematischen Sachverhalts beschrieben wird, ist auch Thema eines Aufsatzes von S. S c u l l y von 1984 (1500). Er bezieht sich in diesem Zusammenhang zunächst auf die Analyse der vier iliadischen Entscheidungsszenen von Odysseus, Menelaos, Agenor und Hektor, die zuvor schon Fenik (1323) durchgeführt hat. S c u l l y erkennt hier deutlich einen Unterschied zwischen den Szenen, die die eben genannten Figuren betreffen, und denen, die Achilleus betreffen. Bis zum Λ sind die Überlegungsszenen auf die dritte Person beschränkt und werden mit dem Ausdruck διάνδιχα μερμηρίζειν oder ὁρμαίνειν διχθάδια eingeleitet; danach gibt Homer auch individuell auf die Figur bzw. den Kontext abgestimmte Einblicke in die seelische Disposition der jeweiligen Figur. Dieses wird in der Regel durch den Formelvers ὀχθήσας δ' ἄρα εἶπε πρὸς ὃν μεγαλήτορα θυμόν eingeleitet. Dieser finde Verwendung, wenn die Situation, die ein μερμηρίζειν oder ὁρμαίνειν mit der Fortsetzung ›ob … oder‹ auslöst, zu einem Konflikt zwischen dem Zurückweichen vor einer (Lebens-)Gefahr und den moralischen Anforderungen an einen Anführer führt. Bei Achilleus sei diese formale, strukturelle und inhaltliche Gleichheit in der Beschreibung des ›ob … oder‹ jedoch nicht zu beobachten. Schon bei der ersten Überlegungsszene in A 188–193, ob Achilleus den Agamennon töten solle, habe er seine Entscheidung sehr schnell getroffen: Er zieht bereits sein Schwert, läßt also den Gedanken an ein Zurückweichen nicht zu; erst; Athenes Ratschlag ändert dann seine Entscheidung. In Σ 3–16, wo zum ersten Mal der Formelvers ὀχθήσας κτλ. in Verbindung mit Achilleus auftaucht, durchdenkt dieser die Gefahr des Todes, aber nicht für ihn selbst, sondern für Patroklos. In Y 343–353 bezieht sich der Überlegungsvorgang, nachdem sich Achilleus den vorliegenden Sachverhalt klar gemacht hat, sofort auf andere, in diesem Fall die Gesamtheit der Griechen. Ähnlich ist auch S c u l l y s Deutung für Φ 53–64: Achilleus fasse bei seiner Überlegung nur den Sachverhalt zusammen, seine Entscheidung, Lykaon zu töten, stehe dagegen offensichtlich sofort fest. Damit werde in seinen Überlegungsszenen Achilleus als entschlußfreudig, sachlich und in seinem Denken die Auseinandersetzung mit dem Tod reflektierend präsentiert. Mit diesem Interpretationsansatz gewinnt der ὀχθήσας-
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Vers in Verbindung mit der Figur des Achilleus eine die Tradition transzendierende Bedeutung: Er zeige zwar an, daß sich Achilleus der »monumental seriousness of events« (S. 20) bewußt sei, daß ihm aber durch unvoreingenommene Akzeptanz der Sachverhalte besonders im Zusammenhang mit dem Tod jede Zögerlichkeit abgehe. Eine zweite Verwendung des Partizips ὀχθήσας in den Büchern Π-Χ bringe Achilleus dann in Verbindung mit Zeus, speziell in Σ 97–127 (S. 22: »takes a step towards the omniscience of Zeus«); das hebe ihn über die anderen Helden der Ilias hinaus und nähere ihn der Sphäre des Göttlichen an. Im Ergebnis heißt das für S c u l l y , daß der traditionelle Hintergrund dem Verfasser die von ihm auch genutzte Möglichkeit gebe, die Besonderheit bestimmter Figuren oder Szenen hervorzuheben. Mit dieser Deutung setzt S c u l l y im Grunde ein ›nicht-orales‹ Publikum für Homer voraus, doch ist die Frage nach Homers implizierten Rezipienten die vermutlich schwierigste überhaupt, unabhängig davon, ob man in Ilias und Odyssee eine performance sieht oder retraktativ entstandene Texte. Ein häufig zu beobachtendes erzähltechnisches Mittel in den homerischen Epen ist die Ringkomposition103, mit der sich W. P a r k s in den Neuphilologischen (!) Mitteilungen von 1988 (1452) befaßt hat. Als Beispiel nimmt er den zweiten Teil des Z, in dem Hektors Kritik gegenüber Paris an dessen Kampfbereitschaft und -fähigkeit die Begegnung zwischen Hektor und Andromache umrahmt (a: Z 313–342 [Hektors erste Kritik]; b: Z 368–502; a': Z 517–529 [Hektors zweite Kritik]); folglich habe Homer einen markierenden Rahmen für die Homilie schaffen wollen. Das ist sicherlich zutreffend, es sollte allerdings nicht übersehen werden, daß es sich hier bei a und a' nicht um eine gleichsam technisch, d. h. nur strukturell motivierte Wiederholung handelt. Vielmehr ist in a die Kritik an Paris konkreter auf die Situation bezogen, da Hektor hier Paris’ Reaktion (χόλος) auf den verlorenen Zweikampf mit Menelaos im Γ kritisiert. Demgegenüber ist in a' Paris’ innere Bereitschaft, sich freiwillig im Kampf an erster Stelle zu engagieren, Gegenstand von Hektors Tadel; an seinen kämpferischen Fähigkeiten findet Hektor durchaus Gutes. Anschließend behandelt P a r k s die Formen, in denen die Ringkomposition bzw. die Einbettung eines Themas in einen Rahmen bei Homer vorkommt, etwa der Vorstellung von getöteten ›kleinen Kämpfern‹ oder in größerer Komplexität mit zwei konzentrischen Kreisen wie A 428–492. Diesem Befund stellt P a r k s dann das Bild gegenüber, welches der Beowulf in Bezug auf die Ringkomposition biete. In diesem Heldenlied würden von allem Digressionen ringkompositorisch gerahmt, insbesondere Beschreibungen; diese könnten aber mit den Rahmenelementen auch inhaltlich verbunden sein, zum Beispiel in einer Verbindung der Welt der Ungeheuer wie Grendel oder dessen Mutter mit der Welt der Menschen. Sowohl bei Homer als auch im Beowulf habe die Verwendung der Ringkomposition also sowohl technisch-strukturierende als auch rezeptionssteuernde Funktion.
103 Als Belegsammlung und für eine allgemeine Klassifizierung immer noch grundlegend: W. A. A. Van Otterlo, De Ringcompositie als Opbouwprincipe in de epische Gedichten van Homerus, Amsterdam 1948.
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Eine umfangreiche Monographie, in der die Kompositionstechnik nach typischen Szenen oder Motiven aus allgemeinen Überlegungen des Parry-Lord-Modells entwickelt wird, wurde 1993 von S. L o w e n s t a m vorgelegt (1413). Im ersten Teil versucht er hier den Beweis zu führen, daß jedes Epitheton zwar nicht bewußt kontextspezifisch verwendet wurde, wohl aber vom Dichter gewissermaßen gutgeheißen wurde; diesen Beweis versucht er anhand einer Analyse zur Epithetonverwendung bei der Figur von Iros’ Mutter (πότνια μήτηρ; σ 5) und dem Ausdruck χειρὶ παχείηι im Zusammenhang mit Penelope (φ 6) zu führen. Dabei setzt L o w e n s t a m voraus, daß die homerische Dichtungstradition so große Menge an Formeln bereitstellte, daß sich der Dichter nie – L o w e n s t a m argumentiert in dieser Absolutheit – mit der Auswahl eines bestimmten Epithetons wegen seiner prosodischen Struktur gleichsam abgefunden hat. Der zweite Teil des Buchs behandelt dann den Bereich theme (im Deutschen vielleicht besser mit ›Motiv‹ als mit ›Thema‹ wiederzugeben). L o w e n s t a m geht dazu von der Forschungshypothese einer composition by theme aus, wonach die Wiederholung bestimmter Motive – auch als narrative patterns bezeichnet – nicht notwendigerweise signifikant (gemeint ist: interpretatorisch signifikant) seien. Der Autor versucht dann an etlichen Motiven in der Ilias und der Odyssee (z. B. Streit zwischen Anführer und bestem Kämpfer, beginnend im A, die Fortführung in Thersites’ Auseinandersetzung mit Agamemnon, die Diomedes-Episoden des Δ und I usw., Variationen zur Ablehnung von Entschädigung, Variationen zwischen Menelaos’ und Odysseus’ Irrfahrten usw.) zu zeigen, daß trotz vergleichbarer Struktur die jeweilige Ausformung ein ganz individuelles und somit interpretatorisch relevantes Profil habe. Hier sind an etlichen Stellen gute Beobachtungen zur Deutung des Homertexts zu finden. Daß Homer freilich auch bei den typischen Szenen immer wieder einen enormen Variationsreichtum zeigt, ist in der Forschung zu diesem Bereich schon lange gesehen worden. Es genügt, hier auf die Arbeiten von B. C. Fenik hinzuweisen, die von L o w e n s t a m zwar genannt werden, auf deren Bedeutung für seine Theorie er allerdings nicht näher eingeht. Primär formale Strukturen sind im Berichtszeitraum seltener behandelt worden; die entsprechenden Arbeiten sind dabei auf Kataloge fokussiert. Die erste Arbeit im Berichtszeitraum stammt von B. B. P o w e l l , der in einem Aufsatz von 1978 die Strukturen in den jeweiligen entries des Schiffskatalog analysiert hat (1466). Er unterscheidet hier drei patterns. Das erste pattern enthält am Beginn ein Ethnikon im Genetiv und die Anführer im Nominativ, dann eine Liste von Ortsnamen, schließlich die Anzahl der Schiffe, das zweite zuerst die Ortsnamen, dann die Namen der Anführer und schließlich wieder in gleicher Form wie beim ersten pattern die Namen der Anführer, das dritte die Elemente ›Anführer‹, ›Angabe des Herkunftsgebiets‹ und ›Anzahl der Schiffe in nur einem Vers oder zwei Versen‹; die Nennung von Städtenamen ist möglich, aber nicht zwingend. Anschließend ordnet P o w e l l alle Kontingente einem der drei patterns zu. Daraus ergibt sich eine klare strukturelle Vorgabe für die einzelnen entries, die auf orale Genese hindeutet. Eine mykenische Herkunft wird als Vermutung geäußert. In die gleiche Richtung, aber mit ausführlicherer Begründung geht auch die These von E. V i s s e r in 1533 (s. oben S. 97 f.), allerdings geht dieser nicht von numerischen Entsprechungen aus, sondern von zwei
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oder drei Grundschemata, die jeweils individuell ausgestaltet wurden. Auf diese Grundschemata hatte bereits C. R. Beye in einem Aufsatz von 1963 hingewiesen104. H. K o n i s h i hat in den Katalogen des B (Schiffskatalog) und des λ (Heroinenkatalog) eine numerische Struktur zu erkennen gemeint, die er als The M theorem bezeichnet hat (1396). Woher diese Bezeichnung genommen ist, wird in dem Aufsatz nicht klar, das Schema besteht jedenfalls darin, daß beide Bücher klar in Abschnitte geteilt seien und in ihnen ungefähre Entsprechungen im Umfang bestünden; die Abschnitte seien in chiastischer oder nicht-chiastischer Anordnung um eine Mitte – die aber auch fehlen kann – angeordnet. So entsprächen sich etwa im B die Erzählblöcke 2 und 6 (298 bzw. 291 Vv.) und 3 und 5 (jeweils 36 Vv.), hier parallel angeordnet. Es muß allerdings gesagt werden, daß hier die numerische Symmetrie die deutlichste ist; im λ ist die Anordnung mit 141 zu 156 Vv. und 108 zu 100 V. weniger überzeugend. Diese Struktur lasse sich K o n i s h i zufolge auch in anderen Büchern erkennen; dagegen sei sie bei späteren epischen Dichtern nicht erkennbar. Freilich wird dieses Modell vom Autor nur sehr allgemein mit Daten untermauert, eine in Aussicht gestellte größere Darstellung ist offenbar nicht erschienen. Abschließend vertritt K o n i s h i die These, daß diese numerischen Entsprechungen nur durch schriftliche Entstehung erklärbar seien. Nicht gegen das Modell als solches, wohl aber gegen den Konishis Annahme von nicht-oraler Entstehung solcher Strukturen hat sich unmittelbar darauf N. P o s t l e t h w a i t e ausgesprochen (1461). Er verweist zurecht darauf, daß die heuristischen Möglichkeiten, solche numerischen Strukturen als nicht-oral zu kennzeichnen, fehlen, unterschätzt jedoch das Kriterium des Wahrscheinlichen. Ein bestimmtes strukturelles Schema und damit eine Verbindung zur oralen Genese epischer Texte kann bei den 34 Stellen, an denen Homer eine Figur seines Epos direkt anredet, erwogen werden. J. M a t t h e w s (1417) hat in einem Aufsatz von 1980 die naheliegende Vermutung, daß die Gründe ihrer Verwendung metrischer Konvenienz geschuldet seien, durch eine Analyse bestätigt. Dafür spreche zunächst, daß die Apostrophe in Ilias und Odyssee auf nur sechs Figuren beschränkt sei. Sie finde sich zudem im letzten Kolon zur Hiatvermeidung nach einem üblicherweise vorausgehenden προσέφη 19mal (15mal bei Eumaios, davon 14mal in der Form ›προσέφης, Εὔμαιε συβῶτα‹, viermal bei Patroklos), zwischen den Zäsuren A 4 und B 2, also dem zweiten Kolon, achtmal (sechsmal davon bei Menelaos, zum Teil wohl wegen der Verbindung mit dem Epitheton διοτρεφής, also ›Μενέλαε διοτρεφές‹), dreimal zwischen A 3 und B 2, 2mal zwischen B 1 und C 2, einmal zwischen A 1 und B 2 und nur einmal außerhalb der üblichen Zäsuren, hier beim Namen Patroklos, für den der Vokativ ein durchaus reguläre Repräsentanz seines Namens darzustellen scheint. Eine kolometrisch determinierte Funktionalität der Apostrophe zur Verwendung einer Nomen-Epithetonverbindung oder einer Namensvariante ist nach diesem Befund überzeugend, die Vermutung einer besonderen inhaltlichen Funktionalität (so G. S. Kirk in seinem Kommentar zu Δ 127 [Bd. I 343]): »an emphatic and pathetic device«) entsprechend unwahrscheinlich. 104 Homeric Battle Narrative and Catalogues, HSCPh 68, 1964, 345–373.
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Eine Bestätigung hat dieses Ergebnis auch durch die Monographie von M. Z a f f i r a L e p r e erfahren, die in etwa zeitgleich mit Matthews Aufsatz erschienen ist (1544). Sie untersucht hier nicht die Apostrophe speziell, sondern fragt nach den Gründen, warum die Vokative bei Homer einmal mit der Interjektion ὦ verwendet sind und ein andermal nicht. Sie kommt nach einer Klassifizierung der jeweils angeredeten Figuren und ausführlicher kolometrischer Analysen zu dem Schluß, daß metrische Konvenienz durchaus eine Rolle für den Zusatz des ὦ spielen könnte; weitere Verbindungen zur oral-poetry-Theorie stellt sie allerdings nicht her. Unmittelbar darauf, nämlich 1982, ist ein weiterer Aufsatz zur Apostrophe im homerischen Epos erschienen: E. B l o c k (1279) hat hier durch einen Vergleich mit Vergil die spezifischen Charakteristika dieses Stilelements beleuchtet, ohne allerdings die beiden vorgenannten Aufsätze zu erwähnen; vermutlich haben sie ihr bei Abschluß des Manuskripts noch nicht vorgelegen. Nach ausführlicher Darstellung der Forschungsgeschichte und der Entwicklung einer Typologie, die sämtliche Apostrophen erfaßt (Kriterien sind: Frequenz, Adressat der Apostrophe, Anbindung an den Kontext), ergibt sich für sie bei Homer eine eher restriktive Verwendung sowohl bei Bezügen auf das Publikum wie auf Figuren innerhalb des Epos (Patroklos, Menelaos und Eumaios): Dagegen spreche Vergil auch Gruppen an und erweitere die Apostrophen gelegentlich zu regelrechten Ekphraseis. B l o c k leitet die Unterschiede aus verschiedenen Produktions- bzw. Rezeptionsbedingungen ab, d. h. aus mündlicher bzw. schriftlicher Abfassung. Warum bei Homer nur bestimmte Figuren direkt angeredet werden, erklärt B l o c k damit, daß ihnen eine gewisse Verletzbarkeit und Schwäche (»traits of vulnerability, loyalty, and a vague but poetically essential weakness« [S. 16]) gemeinsam sei. Eine Klassifizierung zur Entstehung der Apostrophen im homerischen Epos hat einige Jahre später N. Y a m a g a t a vorgenommen (1543). Er nimmt als Gründe erstens vorgeprägte Formulierungen an, die aus dem dialogischen Stil erwachsen sind, zweitens vorgeprägte Formulierungen aus rituell-hymnischer Redeweise und drittens improvisierend geschaffene Formeln als Alternativen zu den üblichen Formulierungen in der 3. Person Singular. Damit wird wiederum zumindest zum Teil ein inhaltliches Kriterium als Ursache der Verwendung angenommen. Bei einer solchen methodischen Herangehensweise ist jedoch erneut festzuhalten, daß damit der mit Parrys Arbeiten erreichte Fortschritt in der Erklärung des homerischen Stils aufgegeben wird: Wenn die Interpreten Homers die oral poetry-Theorie zwar allgemein für ein zutreffendes Modell halten, aber in dem von ihm untersuchten Segment wieder zur Annahme einer kontextsemantischen Funktionalität des gesamten jeweiligen Wortlauts zurückkehren, wird Parrys Ansatz obsolet. Ein wesentliches Verdienst Parrys war ja, die homerischen Epen als ganze in den Blick genommen zu haben und nicht einen nur geringen Teil davon oder speziell ausgewählte Themen. Zum Thema hospitality (was im Deutschen mit ›Gastfreundschaft‹ unzureichend übersetzt wäre; der englische Begriff ist umfassender und meint eher so etwas wie ›Besuchskultur‹) hat S. R e e c e eine umfangreiche, typologisch orientierte Untersuchung unternommen (1477). Ungewöhnlich daran ist, daß er damit ein gesamtes ›System‹ (Ausdruck von R e e c e ) in den Blick nimmt. Von diesen Systemen gebe es
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in Ilias, Odyssee und den Hymnen im ganzen 18. Das vollständige System hospitality könne im Maximalfall 38 verschiedene typische Teilelemente aufweisen, allerdings zeige keines von ihnen eine vollständige Wiedergabe. Für die Diskussion im einzelnen beschränkt sich R e e c e auf sieben Systeme, die er in den Kapiteln 2 bis 8 abhandelt und die alle der Odyssee entstammen. Diese sind: α 103–324 und ρ 204-ψ 348 (im Odysseuspalast auf Ithaka), γ 4–485 und ο 193–214 (in Pylos), δ 1–624 und o 1–84 (in Sparta), ε 388 – ν 187 (auf Scheria), ι 105–564 (auf der Insel des Polyphem), ν 221 – ξ 533, ο 301–494, o 555 – π 155, π 452 – ρ 25, ρ 182–203 (bei Eumaios). Schon die Umfänge dieser Abschnitte verweisen darauf, daß die Räume, in denen sich die Typik entfalten sollte, von R e e c e sehr weit gefaßt sind. Daher dürfte eine klare Abfolge der Abläufe die Darstellungsentwicklung im engeren Kontext kaum strukturierend geprägt haben. Das Oberthema der hospitality ist derart umfangreich, daß es nur wenig Konkretes zu traditionellen Vorstrukturen erkennen läßt, zumal die eigentlichen typischen Elemente auch gemischt werden können. Ungeachtet dieses grundsätzlichen Problems enthält diese Arbeit in einzelnen Textabschnitten nicht zuletzt durch den Vergleich von Systemen untereinander wie etwa die unterschiedliche Besuchskultur bei Nestor in Pylos und bei Menelaos in Sparta wichtige interpretatorische Beobachtungen. Zwei weitere typische Szenen hat schließlich T. K r i s c h e r 1997 (1399) zum Thema genommen, den sog. Schetliasmos, also die Beschreibung eines erfolglosen Versuchs, eine zu einem gefahrvollen Weg aufbrechende Person aufzuhalten, und die Ankunft einer Person bei einer anderen. Zum Schetliasmos stellt der Autor fest, daß es in der Odyssee eine solche Szene bei Telemachs Abfahrt im β gibt, bei der Eurykleia warnt, doch ist es nicht diese Figur, der bei der Rückkehr Telemachs im ρ Worte der Erleichterung in den Mund gelegt werden – was strukturell einfacher wäre –, sondern seine Mutter Penelope. Dieser Wechsel dient nach K r i s c h e r s Argumentation dazu, im β nicht zu pathetisch zu wirken; Vergleichbares mit noch komplexerer Variation sei auch bei Priamos’ Fahrt ins Lager der Achaier im Ω zu erkennen, bei dem eine Verbindung zur Homilie im Z aufgebaut werde. Auch bei Ankunftsszenen vermag K r i s c h e r diese Variationsmöglichkeiten typischer Szenen nachzuweisen, indem etwa ein Zusammentreffen bei einer der beteiligten Figuren geistig vorweggenommen wird, und zwar in besonderem Maße bei Odysseus’ Ankunftsszenen in der Odyssee. Die Komplexität und philologische Präzision von K r i s c h e r s Interpretationen kann hier nicht im einzelnen nachgezeichnet werden, doch bei solchen Aufsätzen wird deutlich, wie wenig Homer entlang traditioneller Stereotypen gedacht und gedichtet hat. f. Komposition auf Werksebene 1977 hat B. P o w e l l mit der Monographie Composition by Theme in the Odyssey (1465) einen Übergang zwischen dem Bereich der typischen Szenen und der Komposition auf der Ebene des gesamten Epos herzustellen versucht. Wie Parry und Lord geht auch P o w e l l von einem bestimmenden Einfluß der Tradition auf die Odyssee aus, und zwar durch bestimmte, im Mythos allgemein verankerte patterns. Er setzt für das gesamte Epos 34 Episoden an, von 1 (Kalypso) bis 34 (Odysseus’ Narbe),
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und untersucht sie darauf hin, inwieweit in ihnen traditionelle Erzählelemente zu erkennen sind. Bei diesen Elementen – structural elements genannt – unterscheidet P o w e l l 15 (mit Unterteilungen 32), so etwa unter Nr. I: ›Der Held, verloren auf hoher See, macht einen Halt‹, Nr. V: ›Ein Opfer oder Bankett finden statt‹ oder Nr. IX: ›Der Held hat eine besondere Waffe‹. Dann geht P o w e l l den Handlungsverlauf der Odyssee paraphrasierend Episode für Episode durch und stellt fest, welche traditionellen Erzählelemente in ihm zu erkennen sind, entweder, wie er formuliert, faintly present oder clearly present. Zum Ende gibt er eine Synopse, wie oft bestimmte structural elements in einer Episode vorkommen (z. B. in der Polyphem-Geschichte 18mal in deutlicher, 4mal in schwacher Form). Angesichts dieser Synopse drängt sich der Eindruck auf, die gesamte Odyssee bestünde nur aus einer Aneinanderreihung solcher structural elements und wäre so im wesentlichen in ihrem Inhalt ein Produkt der Tradition. Genau in dieser Bezeichnung der typischen Szenen als structural elements liegt jedoch das Problem: Nicht diese traditionellen Erzählelemente strukturieren die Episoden und weitergehend das Epos; bestimmend und leitend für die Odyssee ist vielmehr die poetische Konzeption einer Darstellung dessen, welche immensen Schwierigkeiten – äußerlich und innerlich – es macht, wenn ein Mann nach einer langen Abwesenheit zurück in seine Heimat gelangen und dort seine frühere Stellung einnehmen will. Eine Theorie zur Komposition der homerischen Epen, die Parrys Erkenntnisse explizit verwirft und statt dessen von einem eher analytisch orientierten Erklärungsansatz ausgeht, hat ebenfalls am Beginn des Berichtszeitraums J. P. G o o l d veröffentlicht (1365). Da G o o l d die Ablehnung einer in der Oralität verwurzelten Kompositionstechnik argumentativ nicht weiter ausführt – er sagt lediglich in seiner Einleitung, für Parry und seine Nachfolger sei die Annahme einer mündlichen Komposition »axiomatic« (S. 3) gewesen, was der Komplexität der Gedankenführung zumindest bei Parry nicht entspricht –, stellt dieser Beitrag keinen Fortschritt in der Frage nach einer Synthese zwischen mündlicher Genese und Großstruktur dar. Dennoch ist dieser Aufsatz durchaus wert zur Kenntnis genommen zu werden, denn G o o l d unterschätzt die Rolle der Tradition nicht, wenn er sie auch nur auf der allgemeinen thematischen Ebene sieht. Für G o o l d hat Homer eine fortschreitende Fixierung bestimmter Themen auf einen einheitlichen und im ganzen kohärent strukturierten Text vorgenommen, allerdings seien Spuren der Zusammenfügung bestimmter Themen an ihrer poetischen Schwäche (als Beispiel dient Odysseus’ Reaktion auf Aias’ Schweigen bei ihrer Begegnung in der Unterwelt im λ oder das Ende des Zweikampfs zwischen Hektor und Aias im H) noch erkennbar. Die Themen als solche seien aber dem Kernthema des jeweiligen Epos, das G o o l d in der Darstellung bestimmter Charaktere sieht, angepaßt. Diese Entwicklung belegt er vor allem an den Katalogen der Ilias und der Odyssee. Besonders wichtig ist auch das, was in diesem Aufsatz zum Thema ›Großstruktur‹ ausgeführt wird; in ihr erkennt G o o l d eine künstlerische Vision, die er mit Richard Wagners ›Ring des Nibelungen‹ und G. B. Shaws ›Back to Methuselah‹ vergleicht. Von allem methodisch orientiert ist J. P i n s e n t s Aufsatz von 1978 zur Organisation der Ilias (1458). Er geht auf die verschiedenen Kompositionstheorien der
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Ilias-Forschung (Analyse, Unitarismus, Neoanalyse und oral poetry-Theorie) ein und kommt – freilich ohne ausführlichere Textbetrachtungen – zum Schluß, daß die oral poetry-Theorie die Genese der homerischen Epen besser erklären könne als die unitarische Perspektive. Insofern sei das, was der Ilias-Dichter in seinem Epos geleistet habe, nicht die Entwicklung neuer Gestaltungsmöglichkeiten oder Charakterisierungen, sondern die Organisation der Tradition. A. B. L o r d hat 1980 die Stoffgeschichte, also den Mythos, mit der oral poetryTheorie zu verbinden gesucht (1409). So sieht er in der Odyssee zwei große traditionelle Erzählungen vereinigt, bei Telemach das Hineinwachsen in die Rolle eines erwachsenen Mannes und bei Odysseus das Verhalten eines Erwachsenen, der für seine Familie und sein soziales Umfeld Verantwortung trägt. Parallelen zur Telemach-Geschichte im Sinne von Sukzession und Investitur findet L o r d im Serbokroatischen in dem Lied von Bojičić Alija und von Smailagić Meho, zum mythischen Hintergrund in Hesiods Theogonie, im Gilgamesch-Epos und dem alt-babylonischen (akkadischen) Enuma Eliš. Das ist einem ganz grundsätzlichen Sinne sicherlich zutreffend, nur helfen diese Parallelen nicht, die homerische Telemachie besser zu verstehen. Der Odyssee-Dichter hat das Thema des Heranreifens zum Mann und der damit später möglichen Nachfolge als Herrscher wohl nicht primär deshalb in sein Epos eingebettet, um dieser Erzähltradition Raum für eine Darstellung zu geben, sondern er hat eher die patterns ›Sukzession‹ und ›Investitur‹ deshalb verwendet, um die Figur des Odysseus besser charakterisieren zu können; die Bücher α-δ sollen ja vor allem zeigen, welche Konsequenzen es hat, daß Odysseus noch nicht wieder als Herrscher nach Ithaka zurückgekehrt ist, und wer Odysseus seiner Persönlichkeit nach ist. Ähnlich argumentiert L o r d bei dem pattern ›Rückkehr‹ und damit zur Figur des Odysseus. Hier gebe es die südslawische Parallele des Liedes von Ðulić Ibrahim. Der mythische Hintergrund sei erneut im Gilgamesch-Epos belegbar, vor allem die Reise des Haupthelden zu Uta-napischti, von dem er sein zukünftiges Schicksal erfahren will; L o r d sieht hier Beziehungen zur odysseischen Kirke-Episode. Was halbgöttliche oder übernatürliche Protagonisten in oraler Epik betrifft, so sagt L o r d zu Recht, daß es solche in der Odyssee zwar nicht gebe, wohl aber in den Liedern um Marko Kraljević oder Digenis Akritas, wenn auch hier das ›Halb-und-halb‹ darin bestehe, daß Digenis eine christliche Mutter und einen arabischen Vater habe. Auch gebe es in der alten Epik noch weitere patterns wie substitute death oder die Hybris des Protagonisten, die dann im Lauf der Entwicklung traditioneller Epik nahezu verschwunden seien. Es soll allerdings zu L o r d s Aufsatz auch festgehalten werden, daß er nicht behauptet, diese patterns seien konstitutiv für die Konzeption der homerischen Epen gewesen; er will vielmehr zeigen, daß vor allem in alter traditioneller oraler Epik ein Fundus von patterns erkennbar sei. Dennoch könnte dieser Aufsatz den Anschein erwecken, als seien diese patterns ein gemeinsames Element in dieser Form von Dichtung. Diese Parallelisierung wird jedoch dem nicht gerecht, was Ilias und Odyssee, Gilgamesch-Epos, Beowulf oder die Lieder zu Marko Kraljevic ihrem Wesen nach ausmachen. Zwischen dem Hintergrund der patterns und dem Wortlaut der Epen steht jeweils die Person des Dichters, die diese patterns immer wieder neuen Funktionen in dem jeweils entstehenden Zusammenhang zuführt.
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Auf M. S k a f t e J e n s e n s Monographie von 1980 mit ihrem streng analytischen Standpunkt, wonach die schriftliche Fixierung der homerischen Epen in peisistratischer Zeit stattfand, wurde bereits im ersten Teil des Berichts, eingegangen (173; s. Bericht, Kap. I, Lustrum 54, 2012, 221). Diese Deutung hat sie in drei Aufsätzen aus den 1990er Jahren weiter ausgeführt und mit der oral poetry-Theorie verbunden (1507–1509). Im ersten gelangt sie auf Grund des Vergleichs mit oralen Texten anderer Kulturen (als Beispiele werden Texte aus dem Jemen und aus Tibet herangezogen) zu dem Schluß, daß auf Wunsch eines Auftraggebers (»patron« [S. 347]) Ilias und Odyssee von einem Rhapsoden – nicht aoidos – einer Gruppe von Schreibern mündlich vorgetragen und von diesen erst auf Wachstafeln, dann auf Papyrus aufgezeichnet wurden, und zwar ein Gesang pro Tag. Am folgenden Tag sei dieser Text verlesen worden, der Rhapsode habe dann den nächsten Gesang angeschlossen. So sei ein Gesang pro Tag entstanden. S k a f t e J e n s e n s Aufsatz von 1997 in den Analecta des dänischen Instituts in Rom (1508) ist eher methodisch orientiert. Hier betrachtet sie Parallelen und Unterschiede zwischen den homerischen Texten und der oral poetry anderer Kulturen, die sie speziell in den Abläufen der Verschriftlichung einer zuvor in Einzelgeschichten lebenden Dichtungstradition sieht. Hierfür geht sie erneut von den antiken Nachrichten eines Rhapsodenwettbewerbs in Athen zur Zeit des Peisistratos aus. Den zeithistorischen Hintergrund dieser Fixierung hat S k a f t e J e n s e n in 1509 zu konkretisieren versucht, indem sie der Frage nachgegangen ist, weshalb diese epischen Texte überhaupt aufgeschrieben wurden. Entsprechend ihrer Theorie zur Genese von Ilias und Odyssee nimmt sie einen politischen Hintergrund an, der mit der Repräsentation der Tyrannis der Peisistratiden, insbesondere mit der Person des Hipparch zusammenhänge. Dieser habe den Wunsch gehabt, einen gleichsam autoritativen Homertext zu seiner Verfügung zu haben, nachdem bisher nur fahrende Rhapsoden in Athen den Text vorgetragen hätten und der Text infolgedessen nach dem Vortrag nicht mehr verfügbar gewesen sei. Datiert wird diese Verschriftlichung auf den unmittelbaren Zeitraum nach den Panathenäen des Jahres 526 v. Chr. Im Zusammenhang mit ihrem Erklärungsmodell ist noch S k a f t e J e n s e n s sehr kritische Einstellung gegenüber dem Argument der poetischen Qualität zu erwähnen. Anhand von afrikanischen und albanischen Texten aus oraler epischer Tradition zieht sie generell eine Superiorität Homers im Vergleich zu anderen Texten in Zweifel; sie hebt dabei besonders auf den Bereich der Struktur ab. Wenn man aber genauer betrachtet, welch filigranes Kunstwerk etwa die Struktur der Odyssee darstellt – als Beispiel mag die subtil durchkomponierte Annäherung von Telemach an seinen Vater Odysseus, wie sie etwa E. Siegmann in seinen Homervorlesungen deutlich herausgearbeitet hat, genannt sein105 – wird doch deutlich, welcher Unterschied zwischen den von S k a f t e J e n s e n s erwähnten Werken und der Odyssee besteht. Von psychologischer Tiefgründigkeit, wie sie bei Charakteren wie Achilleus 105 Homer. Vorlesungen über die Odyssee, Würzburg 1987, 127–135. Zum Thema ›Psycholo gie‹ vgl. etwa J. Latacz, Achilleus. Wandlungen eines europäischen Heldenbildes, Leipzig/Stuttgart 1993.
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oder Helena erkennbar wird, ist in diesen Texten wenn überhaupt offenbar nur sehr wenig die Rede. Die Texte der Ilias und der Odyssee auf ausschließlich orale Genese zurückzuführen, wie S k a f t e J e n s e n s dies tut, würde vermutlich die mentalen Fähigkeiten auch des begabtesten Sängers überschreiten. Insofern ist auch das Qualitätsargument durchaus nicht rein subjektiv, auch wenn man seitens der komparatistischen Forschungsrichtung nicht müde wurde, dies zu betonen. In dieser Forschungsrichtung ersetzte man den Begriff der Qualität durch den der Tiefe (depth), wie in A. B. Lords Aufsatz Homer as Oral Poet von 1967 geradezu als Programm deutlich wird (s. dazu S. 141). Unter einem besonderen Gesichtspunkt, nämlich dem der Chaostheorie, hat K. S. M o r r e l l die Ilias als Repräsentanten oraler Tradition betrachtet (1429). Er geht von der nachvollziehbaren Überlegung aus, daß Menschen generell ihr Leben nach linearen Gleichungen verstehen, obwohl die Entwicklung der Welt, in der Menschen leben, häufig nicht linear verläuft. Nach M o r r e l l steht die oral poetry näher an der Nicht-Linearität, wie sie in der Natur angetroffen wird. Das sei bereits aus der Entwicklung der Handlung, wie aus einem geringen Anlaß, dem Streit um Chryseïs, fast die Vernichtung des griechischen Heeres entstehe, ableitbar: Für die Anführer des griechischen Heeres sei schon der Zusammenhang zwischen Agamemnons Brüskierung des Chryses und der Pest nicht erkennbar, also gleichsam nichtlinear. Diese Nicht-Berechenbarkeit für die Handlungsfiguren werde vom oral poet wieder ausgeglichen, indem er mit einer Erklärung (Chryses’ Hinwendung an Apollon, also die göttliche Ebene) die Handlung wieder ohne weiteres nachvollziehbar, also linear, werden läßt. Eine ähnliche Vorgehensweise sei selbst in Herodots Historien noch nachzuweisen, auch wenn dort die Götter nicht mehr als handelnde Figuren auftreten. Das zweite Element der Chaostheorie in der Ilias sieht M o r r e l l in der ›Gabelung‹ (bifurcation). Diese bestehe in der Vorstellung von Alternativen wie etwa im A die Frage des Achilleus, ob er Agamemnon töten oder seinen Zorn bändigen solle (A 188–193). M o r r e l l zählt dazu 13 solche Handlungsgabelungen auf, die auch durch bestimmte Typizität bis in die Wortwahl hinein geprägt seien106. Auch hier agierten dann Götter als Entscheidungsinstanz, allerdings nur im Rahmen des sog. Erzähler-Texts, belegt durch eine interpretierende Paraphrase dieser Szenen. Abschließend zieht M o r r e l l ein weitreichendes Fazit (S. 132): »Those who have always assumed that order and design have to be the work of a single human intelligence – generally referred to as Homer – will have to note that ›seemingly unconnected components of certain systems can behave in a globally coordinated fashion as the systems undergo self-organization‹«107. Es ist wohl richtig, wenn M o r r e l l darauf hinweist, wie sehr die Tradition dem Sänger hilft, die Abläufe seiner Erzählung in ihren Gründen transparent, d. h. linear, zu machen, doch scheint der Dichter Homer 106 Daß die Szene des μερμηρίζειν-Szenen in hohem Maße formelhaft geprägt ist, hat bereits W. Arend (s. oben S. 101 f.) festgestellt. Eine konkrete Bestätigung anhand von vier Entscheidungsszenen hat B. C. Fenik (1323) geliefert. 107 Zitat nach: A. J. Argyros, Narrative and Chaos, New Literary History 23, 1992, 666.
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eher der diese Tradition ordnende und auf neue Kontexte beziehende Geist zu sein. Die Formulierung, Ilias und Odyssee seien »the poetry of chaos« (S. 133), ist sicherlich eine übertriebene Zuspitzung. Einen ungewöhnlichen Ansatz zu Bestimmung dessen, was oral poetry im Kern ausmache, hat H. S a u s s y 1996 vorgelegt (1489). Zu Beginn interpretiert er Odysseus’ Narbe als eine Art von Schreiben, das Eurykleia zu lesen verstehe (τ 386–394, 467–475); S a u s s y formuliert das so: »this … mark is the proof that the shipment known as Odysseus has indeed arrived at his destination« (S. 304). Damit wird klar, daß der Autor die Annahme eines, wie er es nennt, »immanent reading of ›writing‹ in the Homeric poems« für zutreffend hält. Hiervon ausgehend schlägt er eine Brücke zu den Erkenntnissen von Parry und vertritt hier einen rigiden hardparryism; zu diesem Zweck verweist er zustimmend auf eine Aussage von Parry in MHV 318 f.: »the singer, who without stopping, must follow the stream of formulas«. Folglich ist Homer nicht der Herr über die Tradition, die er zur Gestaltung seiner Epen individuell neu ausgestaltet, sondern er ist Objekt der erlernten traditionellen Formulierungen. S a u s s y s Fazit lautet: »Formulaic diction is oral writing« (S. 307). Schon hiermit wird klar, daß S a u s s y die Frage nach Mündlichkeit und Schriftlichkeit nicht mit der Frage der Qualität bzw. der Retraktation, also der wohl nur durch das Instrument der Schrift möglichen permanenten Einbeziehung bereits fertiggestellter Passagen, verbindet. Ihm geht es vielmehr um eine neue Beschreibung dessen, was bei einem Vortrag mündlicher Dichtung geschieht. Mit Hinweis auf die Arbeiten von F. de Saussure und M. Jousse108 kommt er zum Schluß, daß für Parry Homers Stil als Anwendung der von ihm konsequent verwendeten epischen Sprache zu erklären ist. Folglich sei literarkritische Analyse nicht auf seine Texte anwendbar. Nimmt man diese Argumentation von S a u s s y ernst, hieße das, daß sämtliche Deutungen des Homertexts nach solchen Kriterien – die ja weit bis in die Antike, auf jeden Fall bis Zenodot, zurückreichen – ein Irrweg waren. Diesen Befund setzt S a u s s y anschließend in einer Interpretation des Beginns der Odyssee als ganzer um: Hier sieht er eine Fülle von patterns, die er als »intrinsically mnemonic« (S. 325) bezeichnet. So entstehe ein oraler Stil, der von Wiederholungen von Formeln, Parallelen in den jeweiligen Sequenzen und von einem Automatismus – entsprechende Kompetenz des Dichters vorausgesetzt – geprägt ist; der Beginn der Odyssee konstituiere ein »automatic … mnemonic law of revenge« (S. 327), dem immer ein Vergehen vorausgehe; ein ähnliches Gesetz sei das von ›Fortgehen‹ und ›Rückkehr‹. Das entspreche aber genau der Technik, die Jousse beschrieben habe. Generell sei daher auch der Handlungsverlauf der Odyssee ein Rhythmus, eine festgelegte Abfolge von Wiederaufnahmen und Erwartungen. Weitere Belege (das Schicksal des Odysseus ist nach S a u s s y mit der zunehmenden Kontrolle über die
108 F. de Saussure, Cours de linguistique générale, Paris 1916; M. Jousse, Études de psychologie linguistique: Le Style oral rhythmique et mnémotechnique chez les verbo-moteurs, Archives de philosophie 2, 1924, cahier IV, 1–240.
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σήματα verbunden; sein Auftreten als Bettler entspreche dem Typus eines oral poet, die Freier hingegen dem Auftreten schlechter oral poets, da sie die σήματα nicht erkannt hätten) sollen diese Annahme weiter belegen. S a u s s y legt hier also ein Modell von oral poetry vor, wonach ein so arbeitender Dichter vor allem Formeln und mnemonic laws folge. Wäre dem so, gäbe es zwischen den kyklischen Epikern, den αὐτὰρ ἔπειτα λέγοντες109, und der Odyssee keinen poetischen Unterschied mehr, doch hat bereits die antike Literaturkritik, allen voran Aristoteles, diesen zutreffend benannt. 5. Weiterentwicklungen des Parry-Lord-Modells von 1977 bis 2000: A. B. Lord, G. Nagy und J. M. Foley Die Anzahl der Arbeiten, in denen die homerischen Epen anhand eines Vergleichs mit oraler Literatur gedeutet worden sind, ist beträchtlich, und im US-amerikanischen Raum haben sie vor allem in der zweiten Hälfte des Berichtszeitraums die Homerforschung dominiert, weil dort die Umstände einer performance mit einer deutlichen Selbstverständlichkeit als die Situation angesehen wurden, in der die homerischen Epen entstanden sind. Dieser Umstand hat die Auswahl der hier zu besprechenden Literatur schwierig gemacht, da nun auch vergleichende Analysen zwischen Homer und der germanischen oder afrikanischen oral epic in den Horizont der Forschung getreten sind. Daher ist im folgenden nur das berücksichtigt, was eine wesentliche Verbindung zu Homer hat. So interessant es auch sein kann, etwa auf Arbeiten von A. B. Lord mit den Titeln Perspectives on recent work on oral literature oder Perspectives on recent work on the Formula (beide im von J. M. Foley herausgegebenen Sammelband Oral-formulaic theory: a folklore casebook [1346] enthalten) einzugehen, so muß dieses hier unterbleiben, weil ansonsten die gesamte Oralitätsforschung generell einbezogen werden müßte, und diese ist gerade in den achtziger und neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts so massiv angewachsen, daß sie im Grunde bereits einen eigenen Forschungsbereich, den der Epenkomparatistik, darstellt. Seit Parrys Dissertation wurde die Homerforschung zunehmend von der Frage des Verhältnisses von traditionellem Hintergrund und individueller Neugestaltung geprägt. Diese Entwicklung nahm darin ihren Anfang, daß A. Meillet, einer der Lehrer Parrys, ihn bei der défense seiner Dissertation an der Sorbonne in Verbindung mit dem prominenten Slawisten Matija Murko brachte und dieser ihn auf die damals noch lebendige südslawische Heldendichtung aufmerksam machte. Parry begann daraufhin mit seinen Feldforschungen in diesem Gebiet. Die von ihm aufgezeichneten, improvisiert vorgetragenen Epen forderten unmittelbar den Vergleich mit dem homerischen Epos heraus; dieser komparatistische Erklärungsansatz wurde sukzessive anhand der oralen Epik anderer Kulturen erweitert. Der bewußt auch im Detail formulierende und gestaltende Autor schien nun für eine adäquate Interpretation des Texts weitestgehend in den Hintergrund treten zu müssen; bestimmender Faktor 109 Anth. Pal. 11.130.1.
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war nun auch für Homer angeblich die Tradition. Dabei ist mit Tradition der Bereich gemeint, der die mündlich improvisierende Produktion eines Epos auf der Ebene des Verses, aber auch des gesamten Werks möglich macht. Als individuelle Neugestaltung könne so lediglich angesehen werden, wie Homer diese Tradition arrangiere und wo er sie möglicherweise hin und wieder sogar transzendiere. Nach Parrys Tod hat sein Mitarbeiter A. B. Lord durch die umfangreiche Auswertung der Aufzeichnungen in dem 1960 erschienenen Buch The Singer of Tales diesen neuen Weg der Homerforschung der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dieser methodische Ansatz hat das Feld der Homerforschung enorm erweitert und mit der Entwicklung nicht nur einer oral-poetry-Theorie, sondern sogar einer oral theory etliche weiterführende Erkenntnisse gewonnen, sich dabei aber häufig vom Homertext selbst weggewendet. Es galt vor allem in der amerikanischen Forschung zunehmend als gesichert, Homer habe Ilias und Odyssee als oral poet geschaffen und seine Werke seien dadurch denen anderer mündlicher Sänger anderer Weltkulturen im wesentlichen vergleichbar, so daß es eines close readings des Homertexts im Grunde nicht mehr bedürfe. Dementsprechend sind in vielen Arbeiten speziell gegen Ende des hier erfaßten Berichtszeitraums die Fragen nach dem genauen Wortlaut, nach der Struktur von Ilias und Odyssee oder der Darstellung von differenzierten Charakteren stark in den Hintergrund getreten. Auch änderte sich bei den Forschern, welche die strikt orale Prägung der homerischen Epen vertraten, der Fokus, auf den sich die Erklärungsbemühungen bezogen, weg vom produktionsästhetischen zum rezeptionsästhetischen Ansatz: Homer verschwand hier geradezu hinter seiner Tradition, gefragt wurde zunehmend, was ein Vortrag (performance) beim Publikum (audience) bewirkte und welche gesellschaftliche Funktion oral poetry hatte. Was beim Vergleich zwischen der homerischen Dichtung und anderer oral poetry auch aus dem Blick geriet, war der metrische Aspekt, also eine Auseinandersetzung mit der Tatsache, daß Homer für seine Texte ein ausgesprochen komplexes Metrum verwendete110. Bei einem metrischen System, das darauf beruht, nicht nach einem quantitierendem, sondern einem dynamischen System eine betonte neben eine unbetonte Silbe zu stellen und bei dem mit einer deutlichen Zäsur in der Versmitte nach 10 Silben das Versende erreicht wird – so der deseterac, der Vers der südslawischen Heldenlieder –, sind die Anforderungen an den improvisierenden Sänger substantiell geringer als beim daktylischen Hexameter, aber dieser Unterschied wurde in der komparatistischen Forschung kaum thematisiert. Geht man jedoch davon aus, daß jeder Gedanke, der in einem Homervers Ausdruck finden soll, nicht in der alltäglich verwendeten Prosa oder im der Alltagssprache nahen Jambus, sondern in der höchst anspruchsvollen Form des daktylischen Hexameters mit seiner quantitierenden Metrik und seiner Zäsurenregelung dargeboten werden soll111, dann erscheinen manche An 110 S. dazu genauer: Kap. VII, dort S. 23. 111 Ein interessanter theoretischer Ansatz hierzu, wie der Weg vom Gedanken, den der Sänger verbalisieren will, hin zur sprachlichen ›epischen‹ Äußerung abgelaufen sein könnte, ist von M. Nagler in seinem Buch Spontaneity and Tradition (s. Anm. 89 u. S. 85) entwickelt worden, wenn er auch in der konkreten Anwendung auf einzelne Formulierungen nicht immer überzeugend wirkt.
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nahmen von Anspielungen und Fernbezügen bestimmter Formulierungen zunächst einmal – dies eine Erkenntnis, deren Durchsetzung wesentlich auf Parry zurückzuführen ist – wenig wahrscheinlich, sofern man nicht eine Komposition mit Hilfe der Schrift annimmt, also die Kategorie des Oralen um die des Literalen erweitert. Zwischen 1977 und seinem Todesjahr 1991 hat der Doyen der oral-poetry-Forschung A. B. L o r d noch mehrere Arbeiten publiziert, in denen er einerseits auf Gegenpositionen zu seinen Darstellungen in The Singer of Tales einging, andererseits noch Unveröffentlichtes der scientific community zugänglich machte. Leitendes Konzept seiner Arbeiten war auch hier, die Parallelen zwischen Homer und den südslawischen Guslaren deutlich herauszustellen und Homer so als einen in einer mündlichen Tradition stehenden Dichter zu charakterisieren. Zur ersten Gruppe gehört der Aufsatz in dem von ihm herausgegebenen Buch Epic singers and oral tradition von 1991 (1411). Hier versucht er in drei Argumentationslinien die These von der künstlerischen Ausnahmestellung Homers zu entkräften: 1. durch Klärung bestimmter Begriffe wie ›Improvisation‹ oder ›Thema‹, 2. durch den Hinweis auf das Vorkommen bestimmter stilistischer Elemente sowohl in mündlich als auch in schriftlich komponierter Dichtung, 3. durch die Analyse eines Textabschnitts aus dem Song of Bagdad, stammend von Salih Ugljanin, einem der renommiertesten Guslare, im Hinblick auf den Grad ihrer Formelhaftigkeit (Vv. 789–803). Ein wichtiges Argument ist dabei die Frage nach dem Publikum: bestimmte Unterschiede zwischen Homer und Ugljanin führt L o r d darauf zurück, daß die Guslare als Hirten für Hirten singen und nicht für eine aristokratische Oberschicht. Einen besonderen Abschluß seines Lebenswerks, der durch den Titel The Singer Resumes the Tale auf sein Hauptwerk von 1960 verweist, erfuhr L o r d 1995 postum durch eine von seiner Frau Mary Lord publizierte Sammlung nachgelassener Aufsätze (1412). Die Herausgeberin hat hier eine formale Analogie zu dem Darstellungsprinzip hergestellt, das L o r d selbst seinerzeit in The Singer of Tales vorgenommen hat, nämlich eine klare Anordnung nach einzelnen Themen. Das Bild in 1412 ist allerdings sehr viel uneinheitlicher. L o r d selbst hatte in The Singer of Tales seinen Gegenstand der oral composition in den einzelnen Kapiteln Schritt für Schritt aufbauend durchgearbeitet, während hier eine deutliche Heterogenität unübersehbar ist: Die zehn Kapitel spannen einen weiten Bogen, von einer Wesensbestimmung oraler Dichtung insbesondere anhand von Definitionen in Kapitel 1, über die Oralität in der Lyrik in Kapitel 2, in Kapitel 3 über Homer und die orale Poetik, in 4 bis 6 über altenglische Heldendichtung, in 7 über die Ballade, in 8 über eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Formen der Oralitätsforschung, in 9 über die Technik, inhaltlich gleiche Episoden formal unterschiedlich darzubieten, präsentiert an einer Szene aus dem Smailagić Meho, bis abschließend in Kapitel 10 zur Frage nach dem Text, in dem eine orale Schöpfung in den fixierten Text überzugehen beginnt, dem sog. transitional text. Für den Homerforscher sind die Kapitel 1, 3, 8 und 10 bedeutsam. So sind im ersten Kapitel die Definitionen zur Bestimmung von Begriffen wie Tradition oder Formel sehr klar und hilfreich, in Kapitel 3 verweist
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L o r d – mit sehr deutlicher Abgrenzung zu solchen Homerdeutungen, wie sie etwa P. Vivante in seinem Buch The Homeric Epithet (s. oben S. 77 f.) vorgelegt hat –, anhand einer Textanalyse auf Homers poetische Meisterschaft, die zeigen soll, zu welcher inhaltlichen Differenzierung auch orale Dichter in der Lage sind. In dieser Argumentation liegt im Grunde eine petitio principii mit folgender Gedankenführung vor: die Epenkomparatistik zeigt, daß Homer ein improvisierender Dichter war. Die literarische Interpretation zeigt, daß Homers Dichtung von herausragender Qualität ist. Also können improvisierende Dichter höchst qualitätvolle Dichtung schaffen. Folglich ist die literarische Qualität von Ilias und Odyssee auch auf der Basis der Oralität möglich. Hilfreich ist die Differenzierung in Kapitel 8 zu dem, was als oral theory bezeichnet wird, nämlich als literatursoziologisches Modell, als Erforschung aller nicht-schriftlicher Literaturprodukte und als philologisch exakte Komparatistik. Speziell diesem Bereich sieht sich L o r d nicht anders als Parry in seinen Textanalysen verpflichtet. In der Frage nach dem Übergangstext schließlich nimmt L o r d eine andere Position ein als noch 1960: Er akzeptiert jetzt die Möglichkeit, daß es etwas zwischen dem rein mündlich und rein schriftlich konzipierten Text geben kann, etwa dort, wo ein philologischer Fachmann einen mündlich generierten Text aufzeichnet. Als Beispiel dienen L o r d unter anderem die Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm. Im ganzen gesehen ist The Singer Resumes the Tale ein wichtiges Buch, das vor allem durch die Klarheit in der Begrifflichkeit überzeugt. Freilich entsteht diese vor allem dadurch, daß L o r d nur im komparatistischen Ansatz die Möglichkeit sieht, Homer produktionsadäquat zu verstehen. Weiterhin hat sich L o r d anläßlich des Urbinater Kongresses zur Mündlichkeit zur Frage geäußert, was in diesem Bereich unter meaning und unter myth zu verstehen sei, und auch hierzu den Epenvergleich als heuristischen Ansatz gewählt (1410). Zunächst zieht er eine klare Trennlinie zwischen memorizing/memory im Sinne von ›exakter Erinnerung im Sinne von Auswendiglernen‹ und remembering als ›Erinnerung an die Hauptlinie der Handlung‹. Von memorizing könne man aber bei den Formeln und Formelversen sprechen, die ein oral poet in seinem sprachlichen Fundus zur Verfügung hat und die nicht stets neu improvisierend zu generieren sind. Um dieses spezielle Verhältnis zur Erinnerung zu illustrieren, vergleicht Lord zwei Fassungen des Epos Ženidba Smailagina sina (›Die Hochzeit des Smailagić Meho‹), eine von 1935, für Parry vorgetragen, eine zweite von 1950 gegenüber A. Lord. Der Inhalt (theme) ist weitgehend der gleiche, die Umsetzung weist dagegen deutliche Varianten auf. Das Ergebnis faßt Lord prägnant so zusammen: »He (der Sänger Avdo Međedović) thinks of content, not of text« (S. 51). Dennoch könnte auch eine bestimmte Versgruppe, wenn sie vom Kontext her passend ist, nahezu wörtlich wiederholt werden. Weitere Vergleiche mit südslawischen Heldenliedern zeigten, daß im Hintergrund immer der Geschehensablauf (myth) stehe, der den Einsatz von Wiederholung und Variation steuere. Dieser Umgang mit Tradition und Neuerung sei auch für Homer anzunehmen. Lord hatte in The Singer of Tales eine scharfe Grenze zwischen ›oraler Komposition‹ und ›Rezitation‹ gezogen, im Grundsatz sicherlich zu Recht, denn ein aoidos – um es auf Homer umzusetzen – wiederholte nicht Texte, die er zuvor auswendig
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gelernt hatte, sondern schuf sie auf der sprachlichen Basis der Tradition immer wieder neu und somit bei gleicher Handlungslinie immer wieder etwas anders. Allerdings wiederholt er dabei auch immer wieder einzelne Verse und sogar Versgruppen, was man als Rezitation bezeichnen müsse. Lord selbst hat daher die Verswiederholung des aoidos als einen Reflex unbewußter Erinnerung gedeutet; die Verswiederholung stelle sich gleichsam bei gleichen Sachverhalten automatisch ein. Dieses Problems hat sich D. B o u v i e r in einem Beitrag zum Grenobler ParryKongreß von 1993 angenommen (1281). Zunächst weist er darauf hin, daß es auch längere Versgruppen gibt, die wiederholt werden und führt als Beleg Wiederholungen aus dem Schiffskatalog an, insbesondere zu den Zahlen der Schiffe, doch ist dieses Argument problematisch. Man kann davon ausgehen, daß dort etwa die Zahl 40 deshalb mehrfach gewählt wurde, um gleiche Machtverhältnisse bei den jeweiligen Kontingenten anzuzeigen. Sie dürften auf eine jeweils individuelle Aussageintention des Ilias-Dichters zurückzuführen sein.112 Aussagefähiger ist dagegen der Vergleich bei den identischen Versen Δ 459–461 und Z 9–11 sowie I 299–301 und Π 692–694, der B o u v i e r zu der Schlußfolgerung veranlaßt, daß Lords Annahme einer nicht bewußten, sondern jeweils vom Kontext beeinflußten Gestaltung zwar erwägenswert, aber letztlich nicht beweisbar ist. Von einem ähnlichen Ansatz wie Lord ausgehend und ausgesprochen produktiv arbeitend nimmt J. M. F o l e y unter den komparatistisch arbeitenden Homerinterpreten eine besondere Stellung ein. Vor allem anhand der Vielzahl seiner Arbeiten wird im folgenden die Entwicklung der oral-poetry-Theorie zwischen 1977 und 2000 nachgezeichnet und kommentiert. Für F o l e y liegt sein Vergleichsschwerpunkt neben den südslawischen Heldenliedern auch auf dem altenglischen Beowulf. Neben etlichen kleinen Publikationen ist vor allem auf vier Monographien einzugehen, in denen sein Deutungsansatz zu den homerischen Epen umfangreich ausgebreitet und konkret umgesetzt ist. Daran wird besonders gut sichtbar, in welche Richtung die Entwicklung der oral-poetry-Theorie, wie Parry und Lord sie begründet haben, gegangen ist. F o l e y s erste Arbeit im Berichtszeitraum ist 1977 zum Thema ›Publikum in der oral poetry‹ erschienen (1334). Er schlägt vor, bei der performance eines Sängers den Begriff ›Zuhörerschaft‹ (audience) für das Publikum zu verwerfen und statt dessen den der ›Gruppe‹ (group) im psychoanalytischen Sinne, wie ihn E. Neumann vor allem in seinem Werk ›Ursprungsgeschichte des Bewußtseins‹ von 1949 verwendet hat, einzuführen. Zur Begründung beschreibt er eine von ihm selbst erlebte Darbietung eines Guslaren, um dann von hier aus Analogien zu Homer und zur altenglischen Epik, also dem Beowulf, herzustellen. Die ›Gruppe‹ entsteht nach F o l e y dadurch, daß die Hörer intensiv auf Text und Vortragsweise reagieren, womit wiederum Auswirkungen auf die performance des Sängers gegeben sind. Bei Homer sieht F o l e y in der Formulierung καὶ ἡμῖν (α 10) einen Hinweis auf eine solche Verbindung zwischen Sänger und Hörer; gleiches soll auch für das we im Beowulf-Proöm (V. 1) gelten, und auch in den südslawischen Heldenliedern seien solche Formen in der 1. Person Plural 112 S. dazu Visser (1532), passim.
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anzutreffen. Das ist natürlich eine nur schmale Textbasis, aber es ist grundsätzlich durchaus wahrscheinlich, daß die Interaktion zwischen Vortragendem und Zuhörer bei einer performance vielfach intensiver ist als bei der Lektüre eines geschriebenen Texts. F o l e y setzt in seiner Beweisführung freilich voraus, daß für die Ilias bzw. Odyssee dieselbe Rezeptionssituation gilt wie die von ihm miterlebte; das kann aber angesichts des Umfangs beider Epen nicht so ohne weiteres angenommen werden. Im darauffolgenden Jahr hat sich F o l e y unter drei Gesichtspunkten mit dem Guslaren Halil Bajgorić befaßt, der aus der Gegend von Stolac im Zentrum der Herzegowina stammte (1336). Diese Gesichtspunkte sind: 1. Bajgorićs Beschreibung des legendären Sängers Hasan Ćoso (auch: Ćor-Huso) als eines geradezu idealen Guslaren, 2. zwei Varianten des ›heroischen Eides‹ in dem von Bajgorić vorgetragenen Lied Kraljević Marko i Nina od Koštuna, 3. Vergleich der Szenen ›Bereitmachen des Pferdes für den Helden‹ in Bajgorićs Epen mit Bewirtungsszenen in der Odyssee. F o l e y zufolge bietet der idealisierte Sänger einer traditionellen Gesellschaft die Möglichkeit, sich über ihre Lieder und ihre Form der Präsentation ein dynamisches Bild ihres kollektiven Erbes zu machen, eine These, für deren Erstellung er auch altenglische Epik heranzieht. Die beiden Varianten des Eides machten deutlich, daß trotz relativ unterschiedlichen Wortlauts im einzelnen das Schema der verwendeten Erzählelemente in beiden Fassungen gleichbleibt. Schließlich spiegelten auch die Szenen des Inhalts ›Bereitmachen des Pferdes‹ und ›Bewirtung eines Gastes‹ dieselbe Technik in der Verwendung gleicher Begriffe und Verse. Im ganzen versucht F o l e y hier durch den Aufweis identischer Elemente in südslawischer, altenglischer und griechischer oral poetry auch die homerischen Texte hier in toto einzubetten, doch ist die Textbasis dafür sehr klein und nur an typischen Szenen orientiert. 1980 hat sich F o l e y in einem sehr kurzen Aufsatz mit dem Titel The viability of the comparative method (1337) nur sehr knapp zu Homer, dafür aber ausführlich zum Beowulf und hier besonders zum Einfluß der Metrik auf die Wortwahl geäußert; dieser Einfluß sei mit dem bei Homer völlig vergleichbar, so daß sich eine »ample justification for the formula-and-system-hunting in the Homeric epos« (S. 48) ergebe. Sein Fazit zu Homer lautet im wesentlichen: Parrys und Lords Annahme, die Ergebnisse ihrer Deutung des homerischen Stils könnten »without important modifications« auf die südslawischen Heldenlieder umgesetzt werden, seien eine »happy assumption« gewesen (ebda.). Diese These F o l e y s ist insofern zu korrigieren, als es erst einmal nur Parry war, der vom Homertext ausging und in einem zweiten Schritt die südslawischen Heldenlieder als Vergleichsgröße heranzog; mit der Hinzunahme von A. B. Lord wurden dann die verläßlichen Ergebnisse aus den aufgezeichneten Rezitationen südslawischer Sänger auf Homer umgesetzt. Diese Korrektur ist wichtig: Der Homertext diente also ursprünglich nicht dazu, die südslawischen Heldenlieder in ihrer Typik besser zu verstehen, vielmehr sollten seine Besonderheiten aus den südslawischen Heldenliedern heraus besser verständlich werden. Ebenfalls problematisch ist die von F o l e y behauptete weitgehende Identität der homerischen und südslawi-
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schen Produktionsbedingungen speziell in der Metrik: Wie bereits gesagt, steht der serbokroatische deseterac an Umfang und innerer Komplexität deutlich hinter dem daktylischen Hexameter zurück (s. Kap. VII, S. 23). Insofern ist F o l e y s behauptete viability der komparatistischen Methode für die Homerforschung doch erheblich geringer, als in diesem Aufsatz behauptet wird. Die erste von Foleys größeren Arbeiten auch zu Homer, 1988 erschienen, trägt den Titel The Theory of Oral Composition. History and Methodology (1345). Dieser Titel könnte darauf hindeuten, daß hier die Forschungserkenntnisse zu dem, was in der Kulturgeschichte der Menschheit als oral poetry nachweisbar ist, dargestellt würde, doch ist dieses Buch eher ein Forschungsbericht über die Voraussetzungen von M. Parrys Werk in der gräzistischen Forschung des 19. Jahrhunderts (Kapitel 1), den Forschungen von Parry und A. B. Lord (Kapitel 2 und 3; eine kurze Zusammenfassung bietet F o l e y in 1356) und der daraus resultierenden Forschungsentwicklung bis 1986, speziell im Bereich der Epenkomparatistik, bei der sich F o l e y als kompetenter Fachmann erweist (Kapitel 4). Im abschließenden Kapitel geht der Autor auf diejenige Methode zur Lösung des Rätsels Homer ein, die er als die sinnvollste ansieht, nämlich die anhand des Vergleichs mit der oral poetry anderer Zeiten und Völker. Angesichts der enormen Textmenge und der Fülle der berücksichtigten Literatur – das Literaturverzeichnis umfaßt 36 Seiten – muß F o l e y allerdings zum Teil sehr summarisch zusammenfassen und bewerten; das mindert für den Nichtfachmann die Möglichkeiten, sich ein genaueres Bild von den jeweils behandelten Themen zu machen. Es wird aber doch deutlich, daß F o l e y keinen kategorialen Unterschied zwischen der poetischen Qualität der homerischen Epen und denen anderer Völker und Zeiten sieht, und er spricht dies in seinem Beitrag zum New Companion auch deutlich aus: »We would do better to leave aside untenable judgements« (1352, 162). Näher am Homertext hat F o l e y in den nächsten drei Monographien gearbeitet, nämlich der 1991 erschienenen Untersuchung Traditional Oral Epic: The Odyssey, Beowulf, and the Serbo-Croatian Return Song (1347; in seiner Struktur bereits in einem Kongreßbericht für The International Comparative Literature Association 1979 in Innsbruck umrissen [1342]), der 1991 erschienenen Arbeit Immanent Art: From Structure to Meaning in Traditional Oral Epic von 1991 (1348) und Homer’s Traditional Art von 1999113 (1356). In allen drei Arbeiten befaßt er sich konkret mit der Frage des Einflusses der Tradition auf den homerischen Text, und zwar unter den Gesichtspunkten der Formel, der Szene und der Handlungsstruktur. Um das methodische Argument aufzubrechen, Homer könne auf Grund der Determiniertheit durch die Tradition im Bereich des Ausdrucks, der einzelnen Episode und des Gesamtaufbaus als poetisches Individuum nicht mehr erkannt werden, verwendet F o l e y den Begriff der traditional referentiality; als Träger für diese Hinweise auf eine sich entwickelnde besondere Situation (emergent reality) verwendet er, zuerst 113 Zum ersten Mal angedeutet in seiner Begrüßungsansprache zum Homer-Kongreß 1996 an der University of Natal in Durban mit der Überschrift What’s in a Sign? (in: 1415 [erschienen 1999 zu einem Zeitpunkt, als Homer’s Traditional Art bereits in Druck war, so daß Foley darauf verweisen kann], 6 f.).
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vorbereitend in 1353, dann umfassend in 1356 den Begriff σῆμα bzw. σήματα. So benutzt nach F o l e y der mündliche Sänger an zentralen Stellen der Handlung in Ilias bzw. Odyssee diesen Begriff bewußt als markierendes Element, so etwa bei Zeus’ Vorzeichen oder der Wiedererkennung des Odysseus durch Eurykleia und Penelope, um nachdrücklich auf eine metonymic reality hinzuweisen, das Publikum gleichsam aufzufordern, die Kenntnis der ihnen geläufigen Tradition in der folgenden Szene bewußt zu aktivieren. Solche Hinweise seien als traditionelle Ausdrucksmittel (traditional register114) dem Publikum Homers vertraut gewesen, während heutige Rezipienten ihren Stellenwert erst durch spezifische Untersuchungen – wie eben die von F o l e y – zurückgewinnen müßten; dazu könnten Vergleiche mit den südslawischen Epen wesentliche Aufschlüsse liefern. Dieser zunächst einmal interessante Ansatz wirft allerdings die Frage der Beweisbarkeit auf. Ein prominenter Fall, auf den sich auch F o l e y bezieht, ist die Junktur χειρὶ παχείηι. F o l e y zufolge wird mit dieser Junktur gerade Penelopes energisches Handeln bei der Einleitung zur Bogenprobe deutlich unterstrichen, doch spricht gegen eine solche Deutung die Tatsache, daß diese Junktur nicht spezifisch ist. Vielmehr ist sie 18mal bei Homer belegt, so daß die Verwendung dieser Junktur eher als Hinweis auf eine allgemein kraftvoll durchgeführte Verrichtung zu sehen ist115. Ein ähnlicher Deutungsansatz gilt nach F o l e y auch für den strukturellen Rahmen, innerhalb dessen Homer seine Epen verfaßt hat. So betont er, erst vorbereitend in 1342, dann ausführlicher in 1347, daß auch in den südslawischen Heldenliedern eine bestimmte Art des Rückkehrschemas existiert. Daher werde die Geschichte nicht linear dem Geschehensablauf folgend von Anfang bis Ende erzählt, sondern der Sänger bediene sich auch struktureller Varianten in Form einer nachgetragenen Erzählung, wie sie in den Apologen der Odyssee anzutreffen sind. Wieder weniger mit dem Homertext zu tun hat F o l e y s Monographie The Singer of Tales in Performance von 1995 (1350), auch wenn sie sich von ihrer Thematik an 1347 und 1348 anschließt. Hier befaßt sich der Autor vielmehr von einem anthropologischen Gesichtspunkt aus mit dem, was sich bei einer performance ereignet; er zieht hierzu entsprechende Arbeiten aus diesem Fachgebiet heran. Nach ausführlicher Diskussion kommt er zu dem Fazit, daß die Kraft/Bedeutung (power) des Wortes zu einem durch das Vorhandensein einer performance-arena entstehe und zum anderen durch das traditional register. Als drittes Element gebe es noch die communicative economy, mit der die Bedeutung des Gesagten bei einem eher geringen verbalen Aufwand weiteres Gewicht erhalte. Danach werden einzelne Texte behandelt: neben dem Demeterhymnos (s. dazu die Anmerkungen zu 1354 unten auf S. 128) die altenglische Hagiographie ›Andreas‹. Ob freilich Anlaß und traditioneller Hintergrund oder nicht doch der Inhalt der Verse der Grund für die power sind, darf zumindest als offene Frage angesehen werden. 114 Foley definiert register wie folgt: »one of those major speech styles associated with recurrent types of situations« (1350, 15; in wörtlicher Übernahme von: D. Hymes, Ways of Speaking, in R. Baumann/J. Sherzer (Hrsgg.), Explorations in the Ethnography of Speaking, Cambridge 1989, 440. 115 So Fortassier (864; s. Bericht, Kap. VI, Lustrum 56, 2014, 121)
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Trotz einiger Bedenken in mehreren auch zentralen Punkten enthalten alle vier Arbeiten wichtige Aspekte, die die Homerforschung zur Kenntnis nehmen sollte, um oral poetry besser zu verstehen; hierfür gibt auch F o l e y s Zusammenfassung seines Modells im New Companion eine gute erste Orientierung (1352). Allerdings ist sein Ansatz, seine Argumente aus einer komparativen Soziolinguistik zu generieren, für ein besseres inhaltliches Verständnis gerade der homerischen Epen sicherlich problematisch. Die Frage der poetischen Qualität wird von ihm, wie bereits gesagt, ausgeblendet, vielmehr ist ihm erkennbar wichtig, Homer, den Dichter des Beowulf und die serbokroatischen Guslare in einen grundsätzlich gleichen Rahmen zu stellen. Es ist sinnvoll und hilfreich, wenn F o l e y die Rahmenbedingungen, unter denen die verschiedenen Dichtungen entstanden sind, thematisiert und dabei auch dezidiert auf Parallelen verweist, aber allein mit allgemein kulturellen oder soziologischen Parallelen wird man dem Phänomen Homer wohl nicht gerecht. Was Homer zu Homer macht und worin die in der gesamten Antike immer wieder betonte – und auch argumentativ gestützte – Exzellenz Homers trotz seiner ›Fehler‹ begründet ist, das kann und will die Literatursoziologie (berechtigterweise!) nicht oder nur am Rand thematisieren. Auch die literarische Interpretation hat ihr wissenschaftliches Recht, und hier ist eher von Unterschieden zwischen Homer und der oral poetry anderer Kulturen zu reden. Da ist zum einen die Komplexität des Hexameters, vor allem aber die elaborierte Struktur von Ilias und Odyssee und die höchst differenzierte Darstellung von Charakteren. Gerade die Apologe der Odyssee zeigen dies. Auch wenn die nachholende Ich-Erzählung möglicherweise schon für Homer schon zum traditional register gehörte, so ist seine Funktion bei weitem nicht auf strukturelle Variation beschränkt. Die Apologe dienen erzählstrategisch dazu, Odysseus für die Rückgewinnung von Ithaka vorzubereiten: als mentale Rückkehr eines früheren Königs, dem es nicht gelungen ist, seine Gefolgsleute, für die er Verantwortung trägt, aus dem Krieg heil in die Heimat zurückzuführen, und der nur gerade sein eigenes Leben retten konnte, zu jemandem, der innerlich gestärkt und im Wissen um seine physische Stärke und Intelligenz die neuen Herausforderungen bestehen kann. Die Gefährten sind – das läßt Homer den Odysseus durch seine Ich-Erzählung klar erkennen – σφετέρηισιν ἀτασθαλίηισιν umgekommen; er selbst ist seiner Verantwortung als Anführer durchaus gerecht geworden. Auf solche Bedeutungsdimensionen ist in der Forschungsliteratur bei der Deutung von Epen anderer oraler Kulturen bislang noch nicht hingewiesen worden. Wichtig ist auch ein zweiter Aspekt. Bei F o l e y s Modell bleibt im Grunde die Frage unbeantwortet, auf wen sich die Aussage wie ›die Verwendung eines Epithetons ist die Aktivierung eines Themas, welche für die Vorstellung von einem Helden steht‹116 bezieht. War diese Aktivierung durch die Verwendung der Nomen-Epitheton-Formel eine bewußte Entscheidung des Dichters – immerhin gibt es beim epischen Personal eine hohe Zahl von Belegen dafür, daß ein Name nicht mit einem Epitheton 116 1357, 102: »Mentioning a hero or god in a traditional epic context is not a matter of ›ordinary‹ reference of denotation; it is more like the activation of what Nagy has called the theme which the concept of the hero represents.«
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begleitet wird –, und wenn sie es war, hat der Rezipient dies so verstanden, oder haben weder Dichter noch der von ihm implizierte Rezipient diese Absicht verstanden? Sind es vielleicht nur Homerphilologen, die diese Verbindung zu erkennen meinen? Jedenfalls wirft das Modell des traditional register für die Funktionsbestimmung des Epithetons in einem grundsätzlichen Sinne Probleme auf. Wenn in der Sekundärliteratur zu Homer die Formel πολύτλας δῖος Ὀδυσσεύς herausgegriffen und postuliert wird, daß durch diese Formel beim Publikum das traditional register evoziert wird, dann wirkt eine solche Aussage erst einmal schlüssig. Bezieht man sich aber konkret auf die Situation während der performance eines epischen Sängers, scheint auch eine andere Deutung möglich, ja plausibler. Bei der Darstellung einer Situation wie etwa einer Ratsversammlung oder einer Schlachtszene nennt der Sänger eine enorme Fülle von mythologisch bedeutenden Figuren und mit Epitheta erweiterten Begriffen. Diese Fülle macht es unwahrscheinlich, daß der Sänger bei jeder Verwendung eines Epithetons bewußt den traditionellen Hintergrund aktivieren wollte und konnte. Hierzu sei hier noch einmal auf Parrys Argumentation in diesem Zusammenhang hingewiesen. Schon in seiner Dissertation geht er davon aus, daß bei jemandem, der Homer liest oder hört, mit Bezug auf die Epitheta sehr schnell ein Ermüdungseffekt einsetze (MHV 126–128). So gewöhnt sich nach Parrys Beobachtung ein »student« der Ilias oder der Odyssee bei zunehmender Vertrautheit mit dem homerischen Stil immer mehr daran, angesichts der enormen Fülle von Epitheta nicht mehr nach einer jeweils spezifischen Deutung zu suchen, die auf den engeren Kontext – Parry spricht von »the sentence or the passage« (S. 126) – bezogen wäre. Der Student – und der darf durchaus mit einem Publikum gleichgesetzt werden, das einen mündlich generiertes und vorgetragenes Lied hört117 – wäre dann nämlich in seiner Verstehensarbeit ständig überfordert: »The unremitting vigilance that this would require would soon flag, and would in any case offer little real satisfaction. Consequently, the student quickly gives up seeking the particular reason for the presence of these epithets too, and comes to accept them without further ado as ornamental.« (S. 127). Angesichts der Fülle gerade bei den generischen Epitheta negiert Parry eine auf den jeweiligen Kontext ausgerichtete spezifische Ausdeutung, wozu er auch sehr dezidiert auf Erkenntnisse in den Scholien, insbesondere des Aristarch, und auf die Arbeiten von H. Düntzer118 verweist. Ähnlich könnte man auch bei F o l e y s Modell argumentieren: Das Publikum würde angesichts permanenter Assoziationsanforderungen kaum noch in der Lage sein, dem Gang der Erzählungen zu folgen. Es ist nach allgemeiner Erfahrung wahrscheinlicher, daß ein Publikum die besondere Betonung einer Formulierung gerade dann wahrnimmt, wenn in ihr das Gewohnte und Vertraute verändert wird. Das Publikum begibt sich zu Beginn einer performance in seinem Denkhorizont in die Welt des heroischen Epos hinein und bleibt während der performance in ihm, ohne den Assoziationshorizont der jeweiligen Epitheta für den unmittelbaren Kontext immer wieder bewußt neu oder aktualisierend mitzudenken. 117 Im Grunde wäre der Parry’sche Student für seine Rezeption sogar noch in einer komfortableren Situation, da er den Text schriftlich vor sich hat. 118 Besonders bedeutsam: Homerische Abhandlungen, Leipzig 1872.
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Entscheidend in diesem Zusammenhang ist der Begriff ›bewußt‹, das heißt: in den Gründen seiner Verwendung überlegt mit Bezug auf den konkreten Kontext und damit intersubjektiv interpretierbar. Wenn, wie speziell F o l e y immer wieder betont hat, die Funktionsbestimmung der Epitheta in der traditional referentiality liegt, stellt sich die Frage, ob der mündliche Sänger auf diese Funktion bei der Verwendung bewußt Bezug nahm. Diese Annahme wäre dann das Gegenbild zur kontextbezogenen literarischen Deutung, aber dann müßte man mit einer derartigen Überfülle an Assoziationen beim Publikum rechnen, daß sie den Blick auf die erzählte Handlung verstellte. Wären dagegen Sänger und Publikum unbewußt im Sinne von unreflektiert mit den Epitheta umgegangen, dann sind sie entweder deshalb in unserem Homertext, weil der traditionelle Stil es eben auf diese Weise vorgab, oder deshalb, weil sie bei der improvisierenden Verskomposition hilfreich waren. Träfe die erste Annahme zu, entzögen sich die Epitheta allerdings einer logisch nachvollziehbaren Funktionsbestimmung, denn ebenso gut wie von traditional referentiality könnte der oral poet bei ihrer Verwendung auch von ästhetischen oder habituellen Gründen geleitet sein. Was für Parrys Modell, also die primär versifikatorische Funktion der Epitheta, spricht, ist die metrische Geschlossenheit des Systems, in dem doublets bemerkenswerte und von der Forschung auch wahrgenommene Ausnahmen sind. Zur Methodik hat sich F o l e y explizit in einem Aufsatz von 1981 geäußert (1341). In diesem Aufsatz stellt er seine Sicht der Dinge zum Thema ›oral-traditionelle Texte‹ vor, bei dem insbesondere im ersten Teil, wo er sich mit der Forschungssituation auseinandersetzt, wichtige Hinweise zu finden sind, die in der Forschung häufig genug übersehen wurden. Dies gilt vor allem insbesondere in der Etablierung einer unreflektierten Komparatistik, in der die Unterschiede in der Sprache, der Gattung oder Traditionen nicht sorgfältig genug einbezogen werden. Damit kritisiert F o l e y die Zulässigkeit eines Ansatzes, den Begriff ›oral‹ ohne genauere Reflexion in der Forschung zu verwenden. Er verweist zu Recht darauf, daß man mit Verallgemeinerungen in dieser Frage nicht weiterkomme – er nennt als Beispiel dazu die Arbeiten von R. Finnegan –, und daß vor allem nur die Texte als oral bezeichnet werden können, bei denen diejenigen, die diese Texte aufgezeichnet haben, unmittelbar bei ihrer Entstehung aus dem mündlichen Vortrag heraus zugegen waren. Das betrifft im Zusammenhang mit der Homerforschung vor allem die südslawischen Heldenlieder, die im neunzehnten Jahrhundert von V. Karadžić, im zwanzigsten von Parry und Lord aufgezeichnet worden sind; Texte hingegen, die über Handschriften, also in schriftlicher Form, auf uns gekommen sind, könnten bestenfalls als ›aus der Oralität abgeleitet‹ (oral-derived) bezeichnet werden. Zu den oral-derived texts zählt F o l e y neben Homer auch den Beowulf oder das Rolandslied. Nach dieser Argumentation sei es durchaus nicht auszuschließen, daß sich mündliches Gut auch in Zeiten der Schriftlichkeit noch fortgesetzt habe, zumindest aber dort Spuren hinterlassen habe. Beide Arten von Texten, also die tatsächlich oralen und die aus der Oralität abgeleiteten, seien vielmehr als traditionelle Texte anzusehen und zu bezeichnen. Im zweiten Teil dieses Aufsatzes stellt F o l e y bestimmte Prinzipien vor, die der Interpret methodisch zu beachten habe, um oral-derived texts produktions- und/oder rezeptionsästhetisch adäquat zu verstehen. Diese Prinzipien bestünden in der Frage
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nach strikter oder abgeleiteter Oralität, der Abhängigkeit vom jeweiligen literarischen Genus, der Abhängigkeit von der Tradition und schließlich synchronischer und diachronischer Zusammenhänge. Konkret wird die Möglichkeit, anhand dieser Kriterien Texte zu betrachten, wiederum am Beispiel des sog. return-song durchgeführt, belegt an S. Ulgjanins Ropstvo (aufgezeichnet 1934; strikt oral) und Homers Odyssee (oral abgeleitet). Bei beiden bestehe die Struktur in der Abfolge ›Abwesenheit‹, ›Verwüstung‹, ›Rückkehr‹, ›Vergeltung‹ und ›Hochzeit‹, die demzufolge indogermanisch ererbt sein müsse. F o l e y kommt hier nicht zu konkreteren Detailergebnissen, beschreibt aber vor allem die Kriterien, die bei einer genauen Textanalyse zu beachten seien. So wichtig auch F o l e y s Anmerkungen in der Methodik vom Grundsatz her sind, wirkliche neue Aufschlüsse zur Deutung von Ilias oder Odyssee bieten auch diese Kriterien nicht, geschweige denn, daß sie etwas für die Interpretation des konkreten Wortlauts ausgäben. Ein weiterer zentraler Aspekt von F o l e y s Arbeiten ist der Stellenwert epischer Dichtung für die Sozialisation des Individuums in einer oralen Gesellschaft; auch hier ist das hermeneutische Instrument wieder der Vergleich zwischen der Odyssee, dem Beowulf und den südslawischen Heldenliedern (1335, 1341, 1344). Mit explizitem Bezug auf die Arbeiten von Havelock und Ong119 wird vor allem im letztgenannten Aufsatz von ›psychohistorischen Schemata‹ (psychohistorical patterns) gesprochen, die auf Grund ihres enzyklopädischen Charakters vermittels der oralen Epik in die Gesellschaft getragen werden und so einen wesentlichen Beitrag zur Sozialisation des Individuums leisten, dies sowohl im Bereich praktischen oder historischen bzw. mythhistorischen Wissens als auch im Bereich moralischer Werte, des Glaubens und der Gewohnheiten. So sei das orale Epos geradezu eine Enzyklopädie von gesellschaftlich relevantem Wissen, das aber nicht abstrakt dargeboten wird, sondern als Grundlage der erzählten Geschichte bereits vorhanden ist und sich in ihr konkret offenbart, sei es nun der Schiff- bzw. Floßbau (im ε) oder ganz allgemein das System der Theologie oder der Geographie. Auch als Aufbewahrungsort von psychologischem Wissen dürfte die oral poetry angesehen werden, weil die im Epos erzählte Geschichte so zum psychologischen Ratgeber werden könne, freilich in impliziter Form, eben in einer Geschichte, dargeboten. Als Beispiel hierfür nimmt F o l e y den bereits erwähnten return-song, den er wiederum anhand der Begrifflichkeit von E. Neumanns ›Ursprungsgeschichte des Bewußtseins‹ (s. S. 119) in seinen Stationen psychoanalytisch, also den psychologischen Reifeprozeß darstellend, ausdeutet. Der return-song weise mit den Strukturelementen ›Abwesenheit‹, ›Zerstörung‹, ›Rückkehr‹, ›Vergeltung‹ und ›Hochzeit‹ auf eine gemeinsame Struktur hin. Hierbei stehe die Abwesenheit für Gefangenschaft oder Eingrenzung, die immer von einer weiblichen Person beaufsichtigt werde und die uroborische Phase repräsentiere, also einen Zustand, in dem nicht zwischen Innen- und Außenwelt und den Geschlechtern differenziert werde. Die Existenz psychohistorischer Schemata werde daran deutlich, daß diese in ganz 119 E. Havelock, Preface to Plato, Cambridge, Mass. 1963; ders., The Literary Revolution in Greece and its Cultural Consequences, Princeton 1982; W. Ong, The Presence of the Word: Some Prolegomena for Cultural and Religious History, New Haven 1967.
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verschiedenen Kulturen und Zeiten zu beobachten seien: Bei Homer in der griechischsprachigen Welt des 8. Jahrhunderts v. Chr., beim Beowulf in der altenglischen Kultur des 8. Jahrhunderts n. Chr. und bei der uns in schriftlichen Texten vorliegenden südslawischen Epik weitgehend in der Zeit zwischen 1930 und 1950. Diese Schemata wären dann Grundkonstituenten einer oral epic, eine Annahme, mit der eine Nähe zum kollektiven Unterbewußtsein, wie C. G. Jung es gesehen hat, entsteht. Damit wird es natürlich schwierig, zu einem hermeneutisch abgesicherten besseren Verständnis dessen, was dem Dichter bei der Abfassung seines Epos von vorrangiger Bedeutung war, zu gelangen. Zwar kann man in der Tat in der Ilias und Odyssee erkennen, daß auch Wertvorstellungen thematisiert sind, aber dies geschieht ganz bewußt, wenn etwa in Ilias und Odyssee die Frage, ob man ein kurzes, aber ruhmvolles Leben einem langen ruhmlosen vorziehen solle, die anhand der Figur des Achilleus verschieden beantwortet wird, und zwar auf Grund einer Lernerfahrung. Zumindest der Schöpfer des Odyssee wollte sich offensichtlich explizit zu dieser Frage äußern. F o l e y s Deutungen zufolge dominiert bei Homer der Einfluß der Tradition die Struktur und die Funktion seiner Epen. Damit bleiben sie auf das beschränkt, was von der audience unbewußt aus dem Text abgeleitet wurde; bewußte produktionsästhetisch orientierte Deutungen des Wortlauts der homerischen Epen fallen weg. Es ist dann nur konsequent, die Frage der literarischen Qualität in der Behandlung dieser oral epic nicht mehr zu stellen bzw. die Qualität der oral epic in ihren von F o l e y postulierten historischen und sozio-kulturellen Möglichkeiten als »morethan-literary-art« (1353, 56) zu sehen. Wenn jedoch die homerischen Epen inhaltlich ›nur‹ Tradition sind oder, vorsichtiger formuliert, das primäre Bestreben des Dichters darin zu sehen ist, die Tradition in seinen Epen zur Darstellung zu bringen, wird Homers Leistung, aus der Tradition heraus individuell etwas Neues sowohl im Bereich der Struktur als auch im Bereich der Weltdeutung zu schaffen, doch wohl nicht angemessen beurteilt. In einem Aufsatz von 1996 mit dem Titel Guslar and aoidos: traditional register in south Slavic and Homeric epic hat F o l e y den Einfluß der epischen Tradition innerhalb des jeweiligen Kulturraums auf die Sprache und des Stils des Sängers verglichen (1351). Er überprüft dieses Verhältnis an vier grammatikalischen bzw. metrischen Fragestellungen, nämlich: 1. Ist die homerische Phraseologie ähnlich der der südslawischen Epik? 2. Wird das Enjambement in derselben Weise verwendet? 3. Gibt es Entsprechungen in den metrischen Irregularitäten? 4. Ist für die südslawische Epik eine Kunstsprache entsprechend der homerischen zu erkennen? Frage 1 wird bejaht: in beiden Epiken gibt es Formeln. F o l e y führt in diesem Zusammenhang aus, daß der serbokroatische Terminus technicus reč, in der Grundbedeutung ›Wort‹, ziemlich genau dem entspreche, was im Griechischen mit λόγος bezeichnet wird. Bei den weiteren Fragen lautet die Antwort sowohl ›ja‹ als auch ›nein‹. Bei Frage 2 laute die Antwort ›ja‹ auf Grund des von Homer und den südslawischen Guslaren häufig verwendeten additiven Enjambements, ›nein‹, weil die
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jeweiligen Traditionen doch individuell zu differenzieren seien. Dieses Ergebnis bedeutet freilich, daß bei der gesamten Epenkomparatistik mit Rückschlüssen aus Vergleichen große methodische Vorsicht geboten ist. Nach F o l e y ist auch bei der Vergleichbarkeit von metrischen Irregularitäten – im Serbokroatischen vor allem der Hiat bei der Mittelzäsur, der im Vortrag überspielt werden könne – zu differenzieren. Auch bei der Frage der Kunstsprache sieht F o l e y Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Angesichts dieses disparaten Bildes kann man sich die Frage stellen, ob nicht ein Vergleich mit der Epik des Apollonios oder Vergil ein vergleichbares Bild zutage gefördert hätte. F o l e y hat auch das Verhältnis zwischen den homerischen Epen und dem sog. epischen Kyklos thematisiert und auch hier die Entwicklung der oral-poetry-Forschung benutzt, um eine neue, veränderte Sicht in dieser Fragestellung zur Geltung zu bringen (1357). Galt davor generell eine Deutung, wonach die kyklischen Epen entstanden seien, um die mythologische Tradition an die Inhalte von Ilias und Odyssee heran- bzw. von ihnen wegzuzuführen, gibt es für F o l e y keinen kategorialen Unterschied zwischen Homer und den kyklischen Dichtern, die gleichsam als Chronisten des Mythos, als αὐτὰρ ἔπειτα λέγοντες (s. S. 115) arbeiten. Für F o l e y sind so die kyklischen Epen vielmehr die missing matrix, die nicht anders als die homerischen Epen Emanationen einer umfassenden Tradition sind. F o l e y s Argumentation verläuft dabei streng komparatistisch mit Hinweisen auf die südslawischen Epen, auf die russischen byliny, arabische und afrikanische Erzählungen bzw. Epen, auf die mittelalterlichen chansons de geste und das finnische Kalevala. Variationen im Kyklos gegenüber Homer werden als lokale Ausprägungen der Tradition gedeutet. In einem Vortrag beim Grenobler Parry-Kolloquium zum homerischen Demeterhymnos hat F o l e y zusammengefaßt, welche Methode der Forschung er zur Deutung von oral-derived traditional texts, also auch von Ilias und Odyssee, für angemessen hält (1354). Hier umschreibt er sie folgendermaßen: »the core interpretative question addresses […] the degree to which the text promotes—and its readership continues— a tradition of reception.« (S. 202; Hervorhebung von F o l e y ). Anders ausgedrückt gehe es also um eine »negotiation of meaning between a performer and an audience under the aegis of tradition« (ebda.). So deutet er im Hermeshymnos die Bezeichnung des Gottes als κρατὺς Ἀργειφόντης dahingehend, daß »this name metonymically calls forth his entire personality in the epos« (S. 209; Hervorhebung von F o l e y ). Ähnlich sieht er auch im Demeterhymnos in bestimmten Aussagen wie der Wirkung von Persephones Schrei bei ihrer Entführung durch Hades (V. 38–46) Bezüge auf die epische Tradition im Zusammenhang mit Achilleus (als Folge von dessen Vermutung, Patroklos könnte gefallen sein, am Beginn des Σ) und Andromache (Reaktion auf das Schreien der Diener nach dem Tod des Hektor in X 447–474). Die Tatsache, daß Achilleus und Andromache dabei in einem traditionellem Geschlechterverhalten verharren, ermögliche so die Erkenntnis von Demeters Verhalten, die sich in der Welt der Menschen auf die Suche nach ihrer Tochter macht, als etwas Besonderes. Auch werde in diesem Hymnos die Tradition des return-song in besonderer Weise ausgestaltet. In den Liverpool Classical Papers von 1987 hat F o l e y das Problem der Ästhetik in den oralen Dichtungen zum Gegenstand seiner Ausführungen gemacht (1349).
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Ausgangspunkt ist Parrys These von der Verwendung der Epitheta als metrisch funktionaler Elemente im Homertext ohne inhaltliche Signifikanz innerhalb des engeren Kontexts. Für F o l e y ist die Fragestellung ›(technisch) funktional oder ästhetisch‹ – wobei er unter diesem Begriff das Erzeugen von Bedeutung (meaning) für das Publikum versteht – in dieser Form nicht lösbar; er geht statt dessen von zwei verschiedenen Ästhetiken aus: einer traditionellen und einer oralen Ästhetik. In der oralen oder aus der Oralität abgeleiteten (oral-derived) Dichtung seien es die Formeln und Themen, also die Tradition, die Bedeutung an das Publikum vermittelten. Folgerichtig lehnt F o l e y als Grund für die Verwendung bestimmter Epitheta oder Formeln den Bezug zum engeren Kontext ab (»situation-specific deep meanings, which seem unlikely in the kind of epic represented by Homer and the moslem tradition in Yugoslavia« [S. 54]); vielmehr vermittelten sie »the extratextual wisdom of tradition« (S. 55), eine Funktion, die F o l e y auch hier als metonymic bezeichnet. Welche ästhetische Funktion diese metonymische Deutung für traditionelle Elemente im Homer habe, versucht F o l e y an der typischen Szene ›Bad‹ in der Odyssee zu exemplifizieren. Üblicherweise folge auf das Bad eines Angekommenen das Mahl, doch weiche der Odyssee-Dichter im ψ davon ab: nach dem Bad folgt hier die Wiedererkennung zwischen Odysseus und Penelope. Das sei eine »masterful augmentation of the conventional sequence« (S. 57). Dem kann man zustimmen, aber zum Generieren besonderer Bedeutung durch Abweichen vom Typus benötigt man nicht zwangsläufig die Annahme einer oralen Genese. Auch in literaler Dichtung ist dieses Element überaus häufig verwendet, und natürlich ist auch ein Lesepublikum mit solchen Erwartungen und Hintergrundwissen an einen Text herangegangen. Im Zusammenhang mit der Beschreibung dessen, was die Ästhetik der oral poetry ausmacht, ist auch auf einen Aufsatz von G. N a g y hinzuweisen, in dem dieser sich zur Terminologie der oral-poetry-Theorie äußert (1434). Er geht wie F o l e y von einer Zugehörigkeit der Homerphilologie zur Kulturanthropologie aus, und damit stellt sich für ihn der Terminus ›geschriebene Dichtung‹ zunächst einmal als Sonderfall dar: oral poetry sei im linguistischen Sinne unmarked, also gewissermaßen der Normalfall, written poetry dagegen marked. Weiterhin differenziert N a g y zwischen poetry und song, wobei poetry von Metrik geprägt sei, song hingegen von Rhythmus. Er postuliert, daß bei beiden Gattungen die Hilfe der Schrift weder bei der Komposition noch bei der Aufführung bzw. beim Vortrag (performance) noch bei WiederAufführung erforderlich sei. Seine Begriffsbestimmungen beziehen sich allerdings nur auf poetry, also auf Dichtung in Sprechversen, d. h. daktylische und iambische Dichtung (einschließlich der Elegie). Diese gesamte poetry ist N a g y zufolge immer Rezitationsdichtung; dagegen spreche auch nicht das Verb ἀείδειν. Ilias und Odyssee seien im 6. Jahrhundert an den Panathenäen von Rhapsoden vorgetragen worden; die früheste Generation der Rhapsoden sei mit dem Namen ›Homeriden‹ verbunden. Dagegen seien unter ›Homeristen‹ Künstler zu verstehen, die die Rhapsodentexte mit Musik erweitert hätten. Die Rhapsoden hätten über eine besondere Mnemotechnik verfügt und daher keine Notwendigkeit für das Medium ›Schrift‹ gehabt. Dieses Modell gelte nicht nur für das Epos (+ Elegie) und den Iambus, sondern auch für einen dritten Bereich, den Pan-
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hellenismus, der besonders im Corpus Theognideum vorläge. Dieser sei zu definieren als evolutionäre polisübergreifende Synthese von Traditionen; auch die homerischen Epen seien so gewissermaßen eine panhellenische Schöpfung, zu der unzählige Gelegenheiten von performances beigetragen hätten120. Es folgt N a g y s Bestimmung des Unterschieds zwischen Rhapsode und oral poet: Der oral poet komponiere beim Vortrag, der Rhapsode trage nur vor. Seiner gesellschaftlichen Stellung nach sei der oral poet (aoidos) ein δημιουργός, ein Dienstleister für die (Polis-)Gemeinschaft, seine Mobilität als wandernder Sänger habe zu einer steten Weiterentwicklung seiner Lieder geführt und daher sei Schrift als erklärendes Medium entbehrlich. Auch könne bei diesem Modell jede performance als panhellenisch angesehen werden.121 Das Ausmaß dessen hänge davon ab, wieviel lokale Tradition eingebracht würde. Dies sei etwa bei den Epen des Kyklos im besonderen Maße der Fall. Auch zu der Frage, wie der Begriff ›Epos‹ und damit auch Ilias und Odyssee ihrem literarischen Genus nach definiert werden könnten, hat sich G. N a g y geäußert (1442). Seine Anmerkungen von 1999 haben mit der hermeneutischen Durchdringung des Homertexts wenig zu tun, geben aber doch Anregungen zu einer konkreteren Erfassung dessen, was mit dem Begriff ›Epos‹ zu verbinden oder auch nicht zu verbinden ist. Auf der Basis einer Diskussion von verschiedenen Ansätzen, vor allem von der Komparatistik und der Sprechakttheorie, sieht N a g y im Epos eine multiform, also eine Textsorte, die in einem informellen und formellen Rahmen realisiert werden kann und sich an eine Mehrzahl von Voraussetzungen anpassen könne. Damit lasse es sich als Genus bestimmen, das zu einem ganzheitlichen Behältnis verschiedener anderer Genera werden kann. 6. Orale und homerische Poetik a. Terminologisches R. F i n n e g a n (1333) hat sich am Beginn des Berichtszeitraums grundsätzlich zu der Frage geäußert, inwieweit die Literaturforschung mit dem Begriff ›oral‹ bzw. ›literal‹ überhaupt ein sinnvolles Unterscheidungsmerkmal verwendet; der 1976 erschienene Aufsatz wurde 1990 in dem von J. M. Foley herausgegebenen Sammelband Oral formulaic theory. A folklore casebook (1346) neu herausgegeben.122 Die Autorin, die sich vor allem durch Untersuchungen afrikanischer oral poetry einen Namen gemacht hat, kommt zu dem Schluß, daß die Grenzen zwischen mündlich und schriftlich generierter Dichtung fließend seien; so könnten Dichter, die des Schreibens 120 So schon in: The Best of the Achaeans, Baltimore 1979, 8. 121 Dieser Verweis auf den Panhellenismus findet sich bereits in einem kurzen Entwurf zum evolutionary model in der Festschrift für A. B. Lord (1432). 122 What is Oral Literature anyway? Comments in the Light of Some African and Other Comparative Evidence, in: B. A. Stolz/R. S. Shannon (Hrsg.), Oral Literature and the Formula, Ann Arbor 1976, 127–166. Im darauffolgenden Jahr hat sie ein umfassendes Werk zum Wesen, zur Bedeutung und zum sozialen Kontext der oral poetry herausgebracht (Oral Poetry: Its Nature, Significance and Social Context, Cambridge 1977).
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kundig seien, durchaus auch im Medium der Oralität arbeiten. Auch Lords These, wonach oral poetry nur in der performance existiere, wird von F i n n e g a n mit etlichen Argumenten in Zweifel gezogen: Es gebe durchaus Fälle, in denen eine Textkonzeption schon vor dem eigentlichen Vortrag geplant worden sei, so daß der Vortrag selbst auch Elemente von Erinnerungen enthalte. Man kann F i n n e g a n hier sicherlich beipflichten, aber die Einordnung der homerischen Epen als Produktionen eines mündlich und/oder schriftlich komponierenden Dichters besteht eher in der Beantwortung der Frage, inwieweit in seinen Epen die Wiederholung von Formeln, Versen oder Szenen als bewußte Anspielungen oder als selbstverständlich mit der Technik der Versimprovisation gegebene Stilelemente zu werten seien. Für die nachhomerische antike Epik kann zumindest mit einiger Sicherheit angenommen werden, daß die Wiederholung im Dienst einer situationsspezifischen Textaussage steht, womit sie sich vermutlich doch von den homerischen Epen unterscheidet. Mit Bezug auf einen 1965 erschienen Aufsatz von T. K r i s c h e r 123 hat sich M. F i n k e l b e r g mit der homerischen Verwendung des Begriffs des καταλέγειν bzw. καταλέξαι befaßt und damit Homers eigene Sichtweise auf seine Texte thematisiert (1329). Ausgangspunkt sind die Verse θ 496–498. K r i s c h e r erkennt hier in κατὰ μοῖραν καταλέξῃς (496) ein Darstellen Punkt für Punkt und damit einen Verweis auf einen Wahrheitsanspruch epischen Dichtens; diese These wird durch ein Eingehen auf die Verwendung von καταλέξαι mit seinen grammatikalischen Ergänzungen abgesichert. So zeigten Ergänzungen wie ἀληθείην oder ἀτρεκέως, daß formale Richtigkeit für Homer auch einen Wahrheitsanspruch vermittle. Genauer wird dies anhand weiterer Belege der Verbindung von καταλέξαι mit der Junktur κατὰ μοῖραν belegt. F i n k e l b e r g postuliert für diese Junktur zwei Bedeutungen, eine häufigere, eher inhaltlich determinierte im Sinne von ›richtig‹ (rightly) und eine seltenere ursprüngliche, eher formal determinierte im Sinne ›Punkt für Punkt‹; diese verschiedenen Bedeutungen seien sogar durch die metrischen Schemata variiert: κατὰ μοῖραν in der ersten Bedeutung werde mit dem Schema | ∪ ∪ — ∪ | verwendet, in der zweiten mit dem Schema | ∪ — — — | . Mit Blick auf die Forschungsergebnisse von F. P. Magoun und T. Paroli124 zu altgermanischer Dichtung hat J. H a u d r y (1374) in einem Beitrag zum Grenobler Parry-Kongreß gezeigt, daß die Begriffe ›traditionell‹, ›oral und formelhaft‹ sowie ›improvisiert‹ nicht eindeutig verwendet werden, weil sie innerhalb bestimmter Forschungsgebiete (altgermanische Dichtung, Homer im Erklärungsmodell von Parry und Lord, indische Epik) unterschiedlich definiert sind. Im Jahr 2000 hat wiederum M. F i n k e l b e r g einen wichtigen Aufsatz zur Begriffsdefinition der Multiformität vorgelegt (1332). Sie trennt hier dezidiert zwischen einem festgelegten (rigid) und einem veränderbaren ( fluid) Bereich in oral generierten Gedichten. Für diejenigen, die diese Gedichte vortrugen, war die Essenz 123 ΕΤΥΜΟΣ und ΑΛΗΘΗΣ, Philologus 109, 1965; näher ausgeführt in: Formale Konventionen der homerischen Epik, München 1971. 124 F. P. Magoun, Oral-formulaic character of Anglo-Saxon narrative poetry, Speculum 1953, 446–467; T. Paroli, Sull’elemento formulare nella poesia germanica antica, Rom 1975.
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der Handlung und die Struktur festgelegt, der Wortlaut im einzelnen Vers dagegen weitaus weniger. Insofern sei A. Parrys Behauptung, »the poem changes its identity at every new performance« (S. 4125) für Homer nicht zutreffend. Wie Multiformität bei der ›Identität‹ eines Epos aussehen kann, zeigt sie dann mit einer Analyse der Handlungsstruktur der Kyprien, wie sie bei Herodot, Apollodor und Proklos dargestellt ist; hier könne man wirklich von verschiedenen Gedichten sprechen. Als Anfangspunkt eines kodifizierten Homertexts nimmt F i n k e l b e r g ebenso wie Nagy an, daß Peisistratos von Athen sie initiiert habe. b. Vergleiche Mit der Zuschreibung der Epen Homers zur Kultur der Oralität und der starken Aufwertung der Tradition, an deren Zustandekommen Lord, Nagy und Foley entscheidenden Anteil hatten, kam es auch zu einer neuen Einordnung dieser Werke, die sich sowohl im philologischen als auch im literatursoziologischen Bereich auswirkte. Im Bereich des Philologischen war die Möglichkeit eröffnet worden, die Homertexte nicht mehr nur wie bisher mit retraktativ entstandener Literatur wie den Hymnen, dem Kyklos und späterer antiken Epik zu vergleichen, sondern auch mit solchen, die ähnliche, aus der Schriftlichkeit nicht ableitbare Besonderheiten aufwiesen. Wie gesehen wurden hier an erster Stelle als Vergleichstexte die südslawischen Heldenlieder herangezogen, vor allem unter dem Einfluß von Foley auch der Beowulf. Chronologisch, stilistisch und inhaltlich am nächsten stehen den homerischen Epen die Texte des epischen Kyklos. Einen Vergleich zwischen beiden hat M. C u r t i in einem Aufsatz von 1993 durchgeführt (1302). Er sieht die Variationen in den kyklischen Versen gegenüber Homer in drei Gesichtspunkten, nämlich 1. einem deutlich redundanten Effekt bei Versen, die aus dem homerischen Epithetoninventar kombiniert sind – C u r t i führt als Beispiel einen Vers aus der Thebais126 an, der neben einem αὐτάρ und einem ὁ nur den Namen Polyneikes sowie drei Epitheta (διογενής, ἥρως und ξανθός) enthält, 2. in der Aufnahme homerischer Ausdrücke in innovativer syntaktischer oder semantischer Verwendung, 3. in der Verletzung der versifikatorischen Ökonomie. Auch wenn die Textbasis des Kyklos verschwindend gering ist, weisen diese Gesichtspunkte doch auf eine grundsätzlich andere Produktionstechnik der kyklischen Epen im Vergleich zu Homer hin. In dieser Frage ist ein deutlicher Unterschied zu Foleys Deutung (1357; s. oben S. 128) erkennbar: Während C u r t i seine Schlußfolgerungen aus der Arbeit am jeweiligen Wortlaut induktiv gewinnt, hat Foley seine oral theory deduktiv auf den Kyklos übertragen; damit erklärt er freilich eher die Tatsache von dessen Existenz an sich und weniger das spezifische sprachliche Profil. 125 Sie bezieht sich damit auf eine Bemerkung von A. Parry, Have we Homer’s Iliad?, YClS 20, 1966, 182. 126 F 2.1 Davies; F 2.1 Bernabé.
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Eine nützliche Übersicht über sprachliche Entsprechungen zwischen den delphischen Orakelsprüchen und der homerischen Dichtersprache hat J.-M. N i e t o I b á ñ e z erstellt (1444). Die Verbindungen zu homerischen, aber auch zu hesiodeischen Wendungen werden anhand dieser Übersicht deutlich erkennbar. Die Schlußfolgerung liegt nahe, daß die Hersteller der Orakelsprüche sich an der Sprache des Epos, die ja durch Homer erhebliche Autorität besaß, orientiert haben, speziell durch das Einfügen von positiv hervorhebenden epitheta ornantia. N i e t o I b á ñ e z ’ These, die Form der Orakelsprüche sei unmittelbar aus der oralen Tradition, also ohne Vermittlung über die homerischen Epen, abgeleitet, ist dagegen auf Grund der zeitlichen Distanz eher unwahrscheinlich. F. C a i r n s hat auf dem Freiburger Oralitätskolloquium von 1996 eine Untersuchung vorgelegt, in der es nicht eigentlich um Homer, sondern um Apollonios von Rhodos geht, genauer: um die Abfahrt- und Ankunft-Szenen der Argonautika (1283). Er kann hier zeigen, daß Apollonios sich erkennbar an die traditionsdeterminierte homerische Gestaltung anlehnt, womit er so etwas wie eine stilistische re-oralization bewirken wollte. Mit diesem Befund werde deutlich, daß eine gewisse Skepsis gegenüber einer völlig eindeutigen Trennung zwischen ›mündlich‹ und ›schriftlich‹ geboten sei. In Verbindung mit dem Thema dieses Berichts sind weiterhin die von C a i r n s herausgearbeiteten Strukturmerkmale in den homerischen Szenen dieses Typs wichtig. Es wird überaus deutlich, wie schemagebunden der Aufbau in den homerischen Szenen dieses Inhalts ist. Mit dem formalen Einfluß Homers auf einen der letzten Vertreter antiker Großepik, Quintus von Smyrna, hat sich schließlich P. V e n i n i (1527) befaßt. In ihrem Aufsatz zeigt sie vor allem anhand der Epitheta zum epischen Personal, daß Quintus diese ganz bewußt variiert hat, um so die homerische Tradition neu zu interpretieren. Zwangsläufig ist damit ein Verlust der Ökonomie, einem zentralen Element improvisierenden Dichtens, verbunden. Insofern hilft dieser Aufsatz, die Trennlinie zwischen Homer und einem spätantiken Epiker genauer zu fassen. Es zeigt sich, daß die von Parry aufgestellten Gesetze der Ökonomie und des Enjambements durchaus tragfähig sind, Epen, deren Genese in der Mündlichkeit basiert, von denen zu trennen, die mit Hilfe der Schrift entstanden sind. Eine Monographie zum Vergleich zwischen den homerischen Epen und dem mittelhochdeutschen Nibelungenepos, das trotz eindeutig schriftlicher Abfassung durch den Hintergrund altgermanischer Heldenlieder Elemente der Oralität aufweist, hat B. C. F e n i k 1986 vorgelegt (1324). Dieses Buch ist ähnlich wie die bereits zuvor von F e n i k verfaßten Darstellungen zur Typik der iliadischen Kampfszenen und der Struktur der Odyssee127 eine der wenigen umfassend angelegten Untersuchungen, in der sich F e n i k s profunde Kenntnis der oral poetry-Theorie mit interpretatorischer Feinfühligkeit und Präzision verbindet. Kernthema für die Analyse ist etwas, was man als Motiv oder als Thema bezeichnen könnte – F e n i k spricht von building blocks of epic architecture (S. 171) –, und der erzähltechnische Umgang mit diesen Motiven. Hierzu wählt F e n i k bei Homer das Λ, M und N aus, das Nibelungenlied sowie 127 S. oben Anm. 101.
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am Schluß das Rolandslied, das Markusevangelium, Augustinus’ Confessiones und Gotthelfs Uli der Knecht. In der Wiederholung dieser Motive erkennt F e n i k als Grundmuster vor allem den Parallelismus und die Ringkomposition und sieht hier enge Parallelen zwischen Homer und Nibelungenlied. Hieraus leitet er die Schlußfolgerung ab, daß für Homer entweder schriftliche Abfassung anzunehmen ist oder das, was einem oral poet an kompositorischen Möglichkeiten einzuräumen ist, erheblich erweitert werden muß. Mit Parrys Arbeiten wurde der Vergleich mit den südslawischen Heldenliedern zu einem neuen Schwerpunkt der Homerforschung. Hier ging es in überwiegendem Maße um die Rahmenbedingungen der oralen Epik, während der Wortlaut war dagegen in erheblich geringerem Maße Gegenstand der Diskussion war, doch sind auch hier Detailanalysen zu verzeichnen. D. E. B y n u m , Mitarbeiter an der Milman-Parry-Collection in Harvard und Mitherausgeber der Reihe Serbocroation Heroic Songs, hat in einem Vergleich der Proömien von Ilias, Odyssee und von A. Međedovićs Ženidba Smailagina sina den Aspekt thematischer Parallelen bearbeitet (1282). Der heuristische Wert seiner Beobachtungen wird deutlich dadurch gemindert, daß die von ihm genannten Parallelen zum einen sehr allgemein sind, nämlich (1) Anrufen eines übermenschlichen Wesens und Beschreibung ihres übermenschlichen Wesens, (2) Aufzählung und Anordnung des Leidens, welches die Anrufung begründet. Zudem trifft diese Deutung genau eigentlich nur auf Međedovićs Proöm zu, so daß in B y n u m s Deutung Achilleus und Odysseus generell als Repräsentanten menschlichen Leids figurieren müssen. Eine solche Interpretation ist freilich höchst problematisch, da für Homer gerade diese beiden Figuren keine Symbole für etwas Abstraktes darstellen, sondern gerade in ihrem SoSein ausgesprochen individuelle Züge tragen; Symbole sind sie höchstens in der Hinsicht, daß sie für eine bestimmte Art von Menschen mit einer bestimmten Auffassung gegenüber dem, was in einem menschlichen Leben wichtig und erstrebenswert ist; so wurden sie schon in der Antike gedeutet. Darüber hinaus ist die Gleichsetzung von Muse und Gott (Bog) so nicht zu halten, denn die hier beschriebene übernatürliche Macht hat durchaus Züge eines christlichen, mithin allmächtigen Gottes. Anschließend analysiert B y n u m die Strukturen von fünf Proömien, die von Međedović stammen, und kommt zu dem nachvollziehbaren Ergebnis, daß sie alle Invarianten eines Grundschemas bilden. Daraus wird die methodologische Forderung abgeleitet, daß für eine adäquate Analyse der spezifischen Technik eines oralen Dichters grundsätzlich solche Parallelen vorliegen müßten. Es folgt der weitere Versuch einer Parallelisierung von Homer und Međedović mit dem Hinweis, daß auf das Proöm in Odyssee und Ženidba Smailagina sina jeweils eine Versammlung von Personen stattfindet, unter denen eine ist, die über die Situation einer bestimmten anderen Person unglücklich ist und damit die Versammlung spaltet. Sollte dies ein Art von Schema sein, so entspricht die Ilias ihm freilich nicht. In mehreren Aufsätzen hat G. D a n e k als ausgewiesener Fachmann sowohl für Homer wie auch für die südslawischen Heldenlieder Aspekte aus beiden Textkorpora zueinander in Beziehung gesetzt. In der ersten dieser Arbeiten, erschienen 1991 (1303), analysiert er die Namensformeln zu ›Tale budalina‹ (›Tale, der Dummkopf‹),
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einer der prominentesten Figuren aus den südslawischen Heldenliedern. Hier zeigen sich zunächst Abweichungen von den Befunden, die Parry zur Grundlage seines Interpretationsmodells für Homer gemacht hat: In den christlichen Kurzepen wird bei der Nennung von Tale metrisch gesehen jeweils nur eine Formel verwendet, die zwar vier inhaltliche Varianten aufweist, aber immer sechs Silben umfaßt und immer in der zweiten Vershälfte plaziert wird. Die Ursache sieht D a n e k in der besonderen Stilistik dieser Lieder, die von großer Stereotypie geprägt ist. Anders verhält es sich den Langepen etwa des Avdo Međedović, bei dem eine den homerischen Epen vergleichbare Varianz in der Verwendung des Namens ›Tale‹ zu erkennen sei, allerdings verwende er in signifikant geringerem Maß Epitheta. D a n e k s Fazit geht dahin, daß Vergleiche von südslawischen Heldenliedern mit den Homertexten immer einer genauen Prüfung ihrer Grundlagen bedürfen. Im Jahr darauf hat D a n e k eine Analyse der Struktur und der Erzähltechnik südslawischer Heldenlieder vorgelegt (1304). Er betont hier zunächst die Tatsache, daß diese nicht als ein zeitlich, geographisch und kulturell einheitliches, nahezu uniformes Korpus angesehen werden können, sondern durchaus unterschiedliche Typen aufweisen. So weisen Kurzlieder im Umfang von 100 bis 300 Versen eine klar strukturierte, fast geometrisch anmutende Abfolge von sog. type-scenes (etwa: ›Handlungsmotive‹) auf. Dagegen legen die Sänger der sog. Krajina-Lieder (Umfang ca. 1000 Verse) mit häufigen Szenenwechseln, Aufwertungen von Nebenfiguren bzw. Nebenhandlungen oder Botenberichten Wert auf sehr elaborierte Handlungsstrukturen. Allerdings wird in diesen Liedern, die nur von einem begrenzen Kreis von Sängern vorgetragen wurden, erkennbar, daß diese die aus dem Umfang resultierende erzähltechnische Komplexität noch wenig beherrschten, da die Handlungsfäden nicht miteinander verschlungen, sondern parataktisch nebeneinandergestellt sind. Dies geschieht mit einem formelhaften Übergang der Art: »und dann ging diese Handlung in einen vorläufigen Ruhezustand über, und wir wollen jetzt nach einem anderen Erzählstrang sehen«. D a n e k erkennt hier eine Parallele zu Homer, der dem sog. Zielinski’schen Gesetz zufolge ähnlich arbeite, doch haben kurz nach dem 1992 erschienenen Aufsatz von D a n e k H. Patzer und A. Rengakos zeigen können, daß Zielinskis Sukzessionsgesetz (er selbst nennt es ›psychologisches Imcompatibilitätsgesetz‹), wonach konzeptionell gleichzeitig Vorgestelltes konsequent nacheinander erzählt wird, einer genaueren Überprüfung nicht ohne weiteres standhält128. Dritter Punkt sind die Großepen, deren herausragender Vertreter unter den südslawischen Sängern Avdo Međedović ist. Hier bezieht sich D a n e k nicht auf das noch von Parry aufgezeichnete Epos von der Hochzeit von Smailagić Meho, das ziemlich genau den Umfang der Odyssee hat, sondern auf ein etwa ungefähr halb so langes von der Hochzeit des Vlahinjic Alija (etwa 6000 Verse). Zwar erkennt D a n e k in diesem Epos bereits Elemente einer psycholo 128 H. Patzer, Die Formgesetze des homerischen Epos, Stuttgart 1996. (Schriften der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann W. Goethe-Universität Frankfurt am Main. Geisteswissenschaftliche Reihe). 12; A. Rengakos, Zeit und Gleichzeitigkeit in den homerischen Epen, A&A 41, 1995, 1–33; G. A. Seeck, Homerisches Erzählen und das Problem der Gleichzeitigkeit, Hermes 126, 1998, 131–144. Über dieses Thema wird in diesem Forschungsbericht in Kapitel IX (Erzähltechnik) noch zu handeln sein.
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gischen Vertiefung beim Haupthelden und auch eine gewisse ethische Dimension, doch überrage Homer auch dieses Epos an poetischer Durchdringung erheblich. Auf weitere Unterschiede verweist D a n e k auch in 1305. In einem Beitrag zum Epik-Kolloquium 1997 in Szeged geht er auf die mythologischen Exempla der Ilias (besonders hervorausgehoben: Niobe im Ω, Meleager im I) im Vergleich zu den südslawischen Heldenliedern ein. Zunächst stellt er fest, daß es im bosnischmoslemischen Heldenlied keine mythologischen Exempla geben kann, weil dort kein Kanon von verbindlichen Geschichten existiert, die eine chronologische Struktur hätten. Vielmehr könnten Exempla für Helden nur aus ihrer eigenen Biographie genommen werden, denn in der Konzeption dieser Lieder lebten alle großen Helden zur selben Zeit wie der Protagonist. Dagegen kenne die christliche Epik, speziell die der Serben, auch eine historische Tiefendimension, die von der Geschichte der türkischen Besetzung bestimmt sei. D a n e k exemplifiziert dies am Beispiel des Lieds von Vuk Karadžić mit dem Titel ›Der Beginn des Aufstandes gegen die Bahis‹. Hier wird klar, daß der Verweis auf eine historische Dimension dazu dient, eine neue Facette des Mythos vorzubereiten, womit eine gewisse Beziehung auch zu homerischen Exempla feststellbar ist. Die psychologische Dimension, die bei den homerischen Exempla ein wesentliches Element für ihre Verwendung darstellt und die der Verständnissteuerung für den Rezipienten dienen soll, wird von D a n e k allerdings nicht thematisiert, und hier kann man bei genauerem Hinsehen doch deutliche Unterschiede erkennen. Nicht unmittelbar zur besseren Durchdringung der homerischen Poetik durch die südslawischen Heldenlieder, wohl aber zur Bedeutung Homers für die Erforschung eben dieser südslawischen Texte am Ausgang des 18. Jahrhundert ist schließlich noch D a n e k s Aufsatz von 1999 wichtig (1306) zu nennen. Er zeigt hier – auch anhand eines längeren Textbeispiels –, wie die Dichtung aussah, die man in dieser Zeit der Vorromantik als ähnlich ursprünglich und unverfälscht ansah wie die homerischen Epen oder den Ossian; allerdings mußten diese in kroatischer Sprache entstandenen Texte erst ins Lateinische übersetzt werden, um eine nennenswerte Rezeption in der literarischen Welt West- und Mitteleuropas zu finden. W. P a r k s (1453) hat in der Festschrift für A. Renoir die These vertreten, daß trotz unterschiedlicher Realisierung sowohl Homer als auch der Verfasser des Beowulf darum gewußt hätten, daß sie sich mit ihrer poetischen Darstellung in die Welt der mündlichen Wissensvermittlung begeben und daß sie ein Bewußtsein von der Struktur mündlicher Vermittlung in die Konzeption ihrer Erzählung einbringen. Entscheidend für P a r k s ’ Deutung ist die Präsentation einer Alternative zur performativen Vermittlung des Texts (Sänger und Publikum sind beim Vortrag präsent.), nämlich eine ›interperformative‹ Vermittlung; darunter ist eine diachronische Vermittlungskette zu verstehen (X erzählt die erste Geschichte ›G1‹, Y hört G1 und erzählt sie als G2, Z hört G2 und erzählt sie als G3 usw.). P a r k s nimmt als Basis für seine Argumentation die Frage, wie die mündlichen Sänger ihr Publikum in ihre Darbietung einbringen. Beim Beowulf kommt das ›Ich‹ des Sängers nur in der Form ›ich hörte‹ vor, und das deutet für P a r k s darauf hin, daß der Erzähler, wenn er von sich spricht, sein Singen immer mit dem Begriff des Hörens zusammenbringt. Er sieht sich also nicht als Subjekt, sondern als Objekt der Geschichte, die er erzählt. Wenn innerhalb
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des Beowulf Figuren vor Publikum sprechen, verfahren sie analog. Bei Homer gebe es dagegen drei mögliche Adressaten, wenn der Erzähler aus der Geschichte heraustritt: die Hörer, die Musen und Figuren innerhalb der Erzählung. Aber auch hier dienten die Anreden an die Musen oder bestimmte Handlungsfiguren, also die Unterbrechung des Handlungsablaufs, dazu, beim Publikum eine diachronische Dimension anzudeuten, zugleich aber auch, die Distanz zwischen Sänger und Publikum zu verringern, weil die Angeredeten eine Art von eigener Existenz erhalten und Sänger und Publikum gemeinsam auf die Angeredeten schauen. Jedenfalls wollten sowohl der Dichter des Beowulf als auch Homer im Erzählen die Vergangenheit wieder lebendig werden lassen, nur beziehe sich dieser mehr auf das Vergangene, jener auf das Jetzt. Durch die Epenkomparatistik sind neben den südslawischen Heldenliedern auch andere Formen improvisierender Dichtung in Bezug zu den homerischen Epen gesetzt worden, unter anderem die Preislieder der südafrikanischen Zulu. Die Entwicklung dieser Lieder, der izibongo, hat D. L o m b a r d (1408) unter der Fragestellung nachgezeichnet, ob diese Form der Preisdichtung auch in der Entwicklung zum homerischen Epos hin am Anfang stand. Mit Blick auf die Preislieder der Zulu kommt L o m b a r d zu folgendem Ergebnis: Die Entwicklung sei von anfänglichem Preis und Gebet über eine erzählende Preisdichtung hin zur Heldendichtung vonstatten gegangen. Es zeige sich hier aber eine Fülle von Unterschieden zwischen den homerischen κλέα und izibongo, speziell in der zentralen kultisch-magischen Funktion der Preislieder. Von diesem Aspekt gebe es bei Homer keine Spuren. c. Sprachliche Befunde aus dem Homertext Eine weitere Möglichkeit, das Profil der homerischen Poetik genauer beschreiben und erklären zu können, ohne daß dabei die vergleichende Epenforschung als methodisches Instrument herangezogen würde, hat im Berichtszeitraum vor allem J. B. H a i n s w o r t h angewandt, der schon seit Beginn der 60er Jahre der Forschung wichtige Impulse gegeben hat. Es ist kein Zufall, daß er als einziger sowohl im von G. S. Kirk herausgegebenen Ilias-Kommentar (578; s. Bericht, Kap. III, Lustrum 54, 2012, 301) als auch im Odyssee-Kommentar der Fondazione Valla, herausgegeben von A. Privitera (282; s. Bericht, Kap. I, Lustrum 54, 2012, 227), einen bestimmten Abschnitt bearbeitet hat. Sein in diesem Zusammenhang einflußreichstes Werk ist die Monographie von 1968 zur Flexibilität der homerischen Formel129, durch die der Parry’sche Rigorismus hin in philologischer Präzision, aber auch eleganter Nüchternheit ein Stückweit überwunden wurde. H a i n s w o r t h s Methode lag im wesentlichen darin, Unstimmigkeiten oder logische Auffälligkeiten im Homertext aufzuspüren und Thesen zur Erklärung anzudeuten, doch waren seine Erklärungen keinesfalls dogmatisch oder verstiegen. Sie halfen eher dazu, durch Hinweise auf eben diese Besonderheiten den Dichter Homer und seine spezifischen Produktionsbedingungen besser prüfen zu können. Dabei wurde von ihm nicht der Anspruch vermittelt, eine allumfassende Lösung in der Frage nach dem Verhältnis zwischen 129 S. oben S. 86 f.
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Produktionsbedingungen und Möglichkeiten einer situationsspezifischen Deutung der Wörter geliefert zu haben. Zwischen 1977 und 2000 sind von ihm neben den bereits erwähnten Kommentarbänden und den Arbeiten zum clustering drei weitere Aufsätze publiziert worden (1386, 1370, 1373). In 1368 untersucht H a i n s w o r t h die Frage nach der Entwicklung in der Auswahl von Epitheta in den Nomen-Epitheton-Formeln. Speziell geht es ihm dabei um das Verhältnis der spezifischen zu den generischen Epitheta. Auch wenn die Annahme plausibel erscheine, daß sich die spezifischen gegenüber den generischen zusehends ausgebreitet hätten, weil sie stärker ›markiert‹ seien, führe doch eine solche Annahme als grundsätzliche Regel zu gewissen Schwierigkeiten. So werde die generisch erscheinende Formel θεὰ λευκώλενος Ἥρη häufiger verwendet als βοῶπις πότνια Ἥρη (19mal : 11mal). Auch sei die Verbindung bestimmter spezifischer Epitheta mit bestimmten Nomina manchmal an bestimmte Versplazierungen gebunden, bei deren Auflösung dann ein generisches Epitheton eintritt (vgl. χερσὶ στιβαρῆισι (siebenmal): χερσὶ πιέζει ∣∣ νωλεμέως κρατερῆισι [δ 287 f.]). Weiterhin sei es bemerkenswert, daß etwa das generisch erscheinende κορυθαίολος (36mal in Verbindung mit Hektor) nicht durch ein spezifisches ersetzt oder ergänzt wurde. Zudem könnten Epitheta auch zwischen bestimmten Formelsystemen wechseln, so etwa bei θάνατος und πόλεμος. H a i n s w o r t h sieht hinter diesen Befunden anfänglich einen allmählichen Wechsel vom generischen zum spezifischen Epitheton als denkbar an, entstanden aus dem Wunsch, stärker auf den Hörer zu wirken. Das Verhältnis von spezifischem zu generischem Epitheton könne aber auch umgekehrt zu der obigen Annahme sein: ein ursprünglich spezifisches Epitheton wie in ἄναξ ἀνδρῶν Ἀγαμέμνων sei dann durch Übertragung auf andere Figuren quasi-generisch geworden. So könnte ein Kreislauf in der Entwicklung der Epitheta entstehen, der die verschiedenen Befunde erklärbar macht: (1) kontext-neutral/generisch, (2) spezifisch, (3) quasi-generisch, (4) altmodisch, (5) unverständlich, (5) ersetzbar. Das Thema ›Bedeutungsentwicklung der Epitheta‹ wurde 1999 von H a i n s w o r t h noch einmal aufgegriffen (1373); es geht ihm auch hier vor allem darum, den Verlust von ursprünglich klar definierter Bedeutung in der homerischen Diktion nachzuzeichnen. Zunächst verweist er am Beispiel von πόδας ὠκύς, ποδώκης und ποδάρκης darauf, wie ihre üblicherweise im situationsspezifischen Zusammenhang generische Bedeutung auch im individuellen Kontext Bedeutung erlangen kann. Am Beispiel der Epitheta ἄναξ ἀνδρῶν und κρείων, offenbar ursprünglich dem Agamemnon vorbehalten, zeige sich, wie diese Verbindung aufgebrochen wird, da auch geringere Herrscher (Anchises, Aineias, Augeias, Euphetes und Eumelos) diese Bezeichnung erhalten können, wenn auch nur je einmal; offenbar verband Homer mit ἄναξ ἀνδρῶν kein genaues Wissen um die genaue rechtliche Stellung eines ἄναξ, wie wir sie aus der mykenischen Zeit annehmen dürfen. Daran werde deutlich, daß diese Epitheta ihre an eine bestimmte Figur gebundene Bedeutung (particularized meaning) in der Entwicklung der epischen Diktion auch verlieren könnten. Das mache es H a i n s w o r t h zufolge dem epischen Sänger möglich, Epitheta neu auszudeuten: τελαμώνιος, nach Chantraines Dictionnaire étymologique möglicherweise ›der Ausdauernde‹, sei so zu einem Patronymikon geworden. Eine letzte Stufe der
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Entwicklung stellten schließlich die Epitheta dar, die auf Grund der sprachlichen oder kulturellen Entwicklung bedeutungslos geworden waren. In der Alltagssprache seien diese Wörter abgestorben, die homerische Diktion bewahre dagegen Wörter wie ἀργεϊφόντης oder νῶροψ sie als besonders markierende Begriffe; als Glossen seien sie Sprachfossile, die man später neu zu verstehen suchte. 1997 hat H a i n s w o r t h einen Aufsatz publiziert, der die Folgen beschreibt, die sich bei der Annahme ergeben, die homerischen Epen seien oral dictated texts (1370). Die Annahme selbst wurde bereits 1953 von A. B. Lord in die Diskussion eingebracht130 und danach besonders nachdrücklich von R. Janko vertreten131; auch H a i n s w o r t h hält sie für plausibel. Von einem modernen Standpunkt aus könne man nun erwarten, daß die Personen, die den diktierten Text aufgeschrieben hätten, auch als Korrektoren fungiert hätten, doch das weist H a i n s w o r t h aus allgemeinen Erwägungen zurück. Daher seien im Homertext eine Fülle von Unstimmigkeiten stehen geblieben, die er wie folgt klassifiziert: 1. sachliche Unstimmigkeiten wie etwa beim Herkunftsort des Amphios (B 828–830 gegenüber E 612 f.), 2. Schwierigkeiten im Verständnis des Gesagten (A 290 f.; ω 318–319), 3. nicht stimmiger Ablauf der Erzählung (ε 85–91), 4. ›unglückliche‹ (infelice) Syntax (P 385–387), 5. ›unglücklicher‹ Stil (ρ 587–588), 6. Übernahme von Worten oder Ausdrücken durch Wiederholung auf Grund des Kontexts (clustering), 7. Verswiederholungen. Bei diesem Phänomen müsse nicht angenommen werden, daß wiederholte Verse immer gänzlich neu generiert worden seien und auf Grund der Technik dem Parallelvers genau entsprächen, sondern man könnte auch an die Übernahme von Versatzstücken, z. B. Halbversen, denken. H a i n s w o r t h nennt diese Form der homerischen Diktion ›transitorisch‹. Alles, was Hainsworth ausführt, ist plausibel, widerlegt aber nicht die Annahme, daß die homerischen Texte von einem aoidos auch selbst geschrieben wurden. Wenn vom angenommenen Schreiber ebenfalls wenig retraktativ beim Entstehungsvorgang des jeweiligen Verses verfahren wurde, ist der Unterschied, ob der Autor selbst geschrieben oder einem Schreiber diktiert hat, nicht mehr erkennbar. 1999 hat sich auch G. N a g y mit bestimmten Unstimmigkeiten oder Fehlern (mistakes) im Homertext befaßt (1441); er bezieht sich hier auf zwei homerische Stellen, die widersprüchlich bzw. schwer zu erklären sind. Diese sind die notorischen Duale im I und das von Zeus gesandte Zeichen eines Donners bei klarem Himmel (υ 113–114), obwohl zuvor gesagt wurde, der Donner sei ἐκ νεφέων gekommen (υ 103–104); Janko hatte sie als Fehler aus der oralen Versifikationstechnik heraus gedeutet. N a g y gibt hier eine zweifache Erklärung dieser Stellen, zum einen in literarischer Interpretation – hiernach sind als Subjekt der Duale Phoinix und Aias 130 Homer’s Originality: Oral Dictated Texts, AJPh 84, 1953, 124–134. 131 S. oben zu 1385 und 1386 auf S. 175 f.
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gemeint und unter den νέφεα in υ 104 sei ›Himmel‹ und nicht ›Wolken‹ zu verstehen –, zum anderen im Rahmen der oral poetry. Hierzu verbindet er seine Deutung mit dem von ihm propagierten evolutionary model des Homertexts (s. S. 178 f.), das er noch einmal in seiner Genese und seinen Kernpunkten vorstellt. Ausgehend von dem Modell eines fließenden Nebeneinanders von Varianten des Ilias-Texts gibt es für N a g y keine irreversible mistakes, vielmehr bevorzugt er »the idea of a narrative plan that dares to call itself the will of Zeus« (S. 274). Er will vermutlich damit aussagen, daß das Publikum diese Aussagen auf Grund seiner Bewunderung für Homer und dessen poetische Konzeption einfach hinnahm und nicht nach Fehlern suchte; in dieser Deutlichkeit sagt N a g y es freilich nicht. Ein nachgelassener Aufsatz von K. O ’ N o l a n , einem Experten nicht nur für griechische Literatur, sondern auch für irische Volksdichtung, erschienen 1992 in den Liverpool Classical Papers Nr. 2 (1447), enthält wichtige Bemerkungen zu den Differenzen zwischen mündlich und schriftlich verfaßter Dichtung. Der Autor nennt als typische Elemente oraler Dichtung: 1. Die – in den homerischen Gleichnissen konsequent durchgeführte – Wegführung vom Erzählstrang und seine Rückführung durch ὡς … ὥς (Gegenbeispiel: Vergil, Aeneis 4.68–73), 2. die Verwendung des homerischen hysteron proteron im Umgang mit gleichzeitig ablaufenden Handlungen (Beispiel: der doppelte Beginn der Odyssee in α 84–88 und die anschließende Fortsetzung mit dem als zweiten angelegten Erzählstrang), 3. die visualisierende Funktion der Epitheta und Formeln (»visionary representation« [S. 6]), 4. die gleichsam rückwärts gerichtete, weil in der Tradition so vorgegebene Weltsicht (Beispiel: In irischer Volksdichtung geschieht das Töten von Feinden immer durch Enthauptung.), 5. die Antizipation von besonders dramatischen Ereignissen im Denken der Protagonisten (Beispiel: Odysseus’ Befürchtung, Eurykleia werde ihn an seiner Narbe erkennen), 6. die vorausweisende Beschreibung der Erzählungsentwicklung (»visionary composition« [S. 8]; Beispiele: α 48–55 und 68–73). Beginnend mit einer klugen Würdigung von Parrys Funktionsbestimmung des Epithetons hat E. B a k k e r 1995 die Forschung zur homerischen Diktion einer neuerlichen Analyse unterzogen (1268). Er tut dies von einem diachronischen Ansatz aus, den er hier um den Aspekt der Grammatikalisierung, wie sie vor allem von C. Lehmann beschrieben wurde132, erweitert. Er sieht hier eine Entwicklung des Epithetons in den Stufen ›Paradigmatisierung‹ (= vorbildhafte Verwendung), zu ›Obligatisierung‹ zur ›Fixierung‹. Diese Fixierung habe dazu geführt, die Funktion des Epithetons neu zu definieren: Seine Verwendung sei nun zu einem »semantic concern of the Homeric poet« (S. 109) geworden. 132 Grammaticalization: Synchronic Variation and Diachronic Change, Lingua e Stile, 20, 1985, 303–318.
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d. ›Neue Poetik‹ H. W. C l a r k e hat im Rahmen eines Oralitätskongresses in Paris den Forschungsstand bezüglich der oral-poetry-Theorie im Jahr 1985 dargestellt (1295; die Kongreßakten sind 1991 erschienen). Sein Ausgangspunkt ist der Aufsatz von J. Notopoulos von 1949, in welchem dieser die Entwicklung einer nicht-aristotelischen Poetik für Homer (new poetics) gefordert hat. Homer dürfte nicht mit dem Maßstab gemessen werden, den man an Vergil oder Milton anlege.133 Auf diese Forderung hat 1967 A. B. Lord in dem Aufsatz Homer as Oral poet’134 mit folgender Aussage reagiert: »Surely one of the vital questions now facing Homeric scholarship is how to understand oral practice, how to read oral traditional poetry. Its poetics is different from that of written literature because its technique of composition is different. It cannot be treated as a flat surface. All the elements in traditional poetry have depth, and our task is to plumb their sometimes hidden recesses; for there will meaning be found. We must be willing to use the new tools for investigation of multiforms of themes and patterns, and we must be willing to learn from the experience of other traditional poetics.« (S. 46; Hervorhebung durch den Berichterstatter). Über die Konsequenzen aus diesem Neuansatz zieht C l a r k e auf S. 15 f. ein bemerkenswertes und wohl zutreffendes Fazit: Im Grund sei die neue Poetik auf Grund der Suche nach patterns eher eine archetypal analysis, die aber ebensowenig wie die Oralitätstheorie zu einem grundsätzlich neuen Verständnis der homerischen Epik führen könne. Inwieweit die Forderung nach einer spezifisch homerischen Poetik für die wissenschaftliche Kommentierung Homers problematisch war, hat J. B. H a i n s w o r t h – Verfasser des dritten Bandes (I-M) des von G. S. Kirk herausgegebenen Ilias-Kommentars – in einem italienischen Aufsatz dargestellt (1372). Die Vorgabe des General Editor G. S. Kirk für das Kommentarprojekt war die Zielsetzung, sich an Rezipienten zu richten, die sich ernsthaft (seriamente) mit der Ilias befassen wollten, der Kommentar sei also nicht als Instrument für »studiosi professionisti« (S. 52) konzipiert. Daher war auch die Einbettung eines Forschungsberichts in den Kommentar nicht intendiert. Vielmehr sollte es darum gehen, den sachlichen Hintergrund (Oralität und inhaltliche Tradition) darzustellen, was auch das weitgehende Fehlen der Berücksichtigung von Sekundärliteratur erklärt. Kirk ging es dezidiert darum, die Fähigkeit des (Kunst-)Handwerkers (artigiano) Homer zu erklären und so die literarische Deutung durch den Leser nicht zu präjudizieren. H a i n s w o r t h sieht diese Zielsetzung, die ›handwerkliche‹ Seite der Ilias darzustellen, für einen Kommentar als nicht gänzlich ausreichend an. Hierzu verweist auf die Verswiederholung von B 116–118 in I 23–25, die man interpretatorisch nicht einfach übergehen könne, als spräche im I noch derselbe Agamemnon wie im B. H a i n s w o r t h sieht im Typus des entmutigten Agamemnon im I das Vorbild für die Verse im B. Auch der homerische Stil (»rapido,
133 Parataxis in Homer. A New Approach to Homeric Criticism, TAPhA 80, 1949, 1–23. 134 HSCPh 72, 1967, 1–46.
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piano, diretto e nobile«135) war für H a i n s w o r t h etwas, was in den Kommentar einfließen sollte, allerdings nicht so weitgehend, daß etwa euphonische Deutungen angeführt werden sollten. Der nächste Punkt betrifft die Frage, ob die Narratologie in der Kommentierung hätte berücksichtigt werden sollen. H a i n s w o r t h sieht die Einbeziehung dieses noch in der Entwicklung befindlichen Bereichs als Aufgabe für künftige Kommentatoren; die Narratologie sei aber untrennbar mit der Kenntnis der homerischen Tradition zu verbinden und auf diese verweise der Kirk’sche Kommentar intensiv. Daß ein Verzicht darauf problematisch sein kann, werde mit einem Blick auf S. Richardsons Buch The Homeric Narrator (Nashville 1990) deutlich. Zusammenfassend ermögliche es jedenfalls die Entscheidung des General Editor, nicht zu viele Teilaspekte in den Kommentar aufzunehmen, daß die »interazione fra le idee espresse nell›Iliade e la tradizione della poesia eroica greca« (S. 61) sichtbar werde. Auch R. F r i e d r ich hat an dem oben genannten Oralitätskongreß die mit der oral-poetry-Theorie für Homer angeblich notwendig gewordenen new poetics zum Gegenstand einer Analyse gemacht (1360). Sehr konkret stellt er dort die aristotelische Poetik einer auf Benutzung der Schrift basierenden Werkgenese einer nicht-aristotelischen, auf Mündlichkeit basierenden gegenüber. Anschließend geht F r i e d r i c h auf das poetologische Bild bei Homer ein. Demnach verweisen Arbeiten von J. Th. Kakridis136, J. B. Hainsworth137 und G. S. Kirk138 darauf, daß das homerische Epos mehr der aristotelischen als einer nicht-aristotelischen Poetik entspreche. Die sich damit abzeichnende Möglichkeit einer wie auch immer gearteten Mischung von mündlichem und schriftlichem Stil in den homerischen Epen hat A. B. Lord zwar in seinem Buch The Singer of Tales von 1960 kategorisch abgelehnt139, doch betont F r i e d r i c h zu Recht, daß die weitergehende Forschung140 hier zu einem anderen Resultat gelangt sei. Für ein vertiefendes Verständnis der Verwurzelung des homerischen Stils in der Oralität hat E. B a k k e r im Berichtszeitraum vier wichtige Arbeiten publiziert, die Ansätze für eine dem homerischen Stil angemessene Poetik ermöglichen: zunächst einen Aufsatz in den TAPhA von 1990 (1267), dann die Monographie Poetry in Speech von 1997 (1269), nahezu zeitgleich eine Art von Zusammenfassung im New Companion unter dem Titel The Study of Homeric Discourse (1270) und schließlich eine abrundende Ergänzung (1271). Ausgangspunkt ist die Bewertung des homerischen Stils nach Kriterien schriftlicher Literatur. Danach verweise seine Prägung durch die λέξις εἰρομένη auf eine Frühform von Literatur, die in späterer Zeit zusehends weniger verwendet wurde. Nach B a k k e r ist es jedoch nicht statthaft, diese Art der 135 Nach M. Arnold, On Translating Homer, London 1861. 136 Homeric Researches, Lund 1949. 137 The Criticism of an Oral Homer, JHS 90, 1970, 90–98. 138 Homer and the Oral Tradition, Cambridge 1976. 139 The Singer of Tales, Cambridge, Mass. 1960, bes. S. 129; zuvor schon in: Homer’s Originality: Oral Dictated Texts, TAPhA 84, 1953, 124–134; wiederabgedruckt in: A. B. Lord (Hrsg.), Epic Singers and Oral Tradition, Ithaca, N. Y. 1991, 38–48. 140 Neben den in den voraufgegangenen Fußnoten genannten Arbeiten vor allem auch R. Finnegan (s. S. 130 f.).
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Erzählung von der wohl nur in Schriftlichkeit möglichen λέξις κατεστραμμένη her zu bewerten, vielmehr gehörten Homers Epen gänzlich zur Sphäre der Oralität, daher sei Sprache, nicht Schrift ihr Medium. Schrift habe bei der Entstehung des Homertexts nur zur Erstellung von transcripts für Rhapsoden gedient und für die Komposition der Texte keine Bedeutung gehabt. Mit diesem Wechsel der homerischen Epen in das Medium ›Sprache‹ kann B a k k e r für seine weitere Argumentation die Sprechtheorie von W. L. Chafe141 heranziehen. Hiernach sprechen wir, indem wir einzelne intonation units – B a k k e r verwendet auch den Terminus speech units –, auf die wir uns bewußt aktiv fokussieren, aneinanderfügen. Dieses Aneinanderfügen werde gesteuert durch eine Art flow, der uns dazu bringe, Information an Information zu reihen, bis die geplante Aussage vollständig sei. Folglich sei eine mündlich geäußerte Darstellung eher ein Prozeß als ein Produkt. B a k k e r weist dann auf die Bedeutung der Partikeln wie δέ, καί oder μέν hin, die auf diesen flow verweisen, weil sie dem Sänger – und damit auch dem Publikum – ankündigen, daß ein neuer Gedanke folgt, der sich dann wieder im additiven Stil entwickeln kann und wird. B a k k e r führt diese Form der Entstehung von Sätzen anhand des Ilias-Proöms überzeugend vor. Als aktiv fokussierte erste intonation unit und zugleich Themenangabe habe Homer μῆνιν ἄειδε gesetzt, auf das dann additiv Konkretisierungen folgten, erstens durch Πηληϊάδεω Ἀχιλλῆος und zweitens den Relativsatz, usw. Überzeugend wirkt hier die Darstellung vor allem dadurch, daß auch für die Frage nach der Einteilung des Hexameters neue Kriterien geschaffen werden: speech units und Halbverse lassen sich erstaunlich gut zur Deckung bringen. Dieses kontinuierliche Vorwärtsgehen in Einheiten bezeichnet Bakker in Abs. 6c von 1269 als The Syntax of Movement. Da sich B a k k e r in der Entwicklung seines Modells zunächst einmal an der Stilistik bzw. Komposition von Erzählungen in der Alltagssprache orientiert hat, fügt er anschließend für Homers Stil eine Charakterisierung als special speech an, die sich vor allem in den Begriffen ›Formel‹, ›Metrik‹ und ›Enjambement‹ manifestiere. Nach dem zuvor Ausgeführten kann er in diesen Merkmalen nun nicht mehr die Basis des homerischen Stils sehen, sondern eine Art von diachronisch entwickelten Besonderheiten, die er als enhancements oder stylizations ansieht142. Erst durch die schriftliche Fixierung dieser special speech seien bestimmte Probleme aufgetaucht, die im Bereich des mündlichen Vortrags gar nicht existiert hätten, zum Beispiel prosodisch un passende Formen wie μηχανῶντο, welches im Vortrag durch besondere Markierung der Intonation des/ō/in das hexametrische System eingefügt werden konnte. Erst die Schrift machte eine Art Richtigstellung erforderlich, in diesem Fall durch die Diektasis von μηχανῶντο zu μηχανόωντο.
141 Chafes Hauptwerk ist Discourse, Consciousness, and Time: The Flow and Displacement of Conscious Experience in Speech and Writing (Chicago 1994). 142 Damit hat Bakker auch einen konkretisierenden Schritt auf die von S. R. Slings in 1514 erhobene Forderung nach der Entwicklung einer Grammatik des oralen Stils getan.
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In die gleiche Richtung geht auch B a k k e r s Aufsatz How oral is oral composition? von 1999 (1271). Mit Bezug auf die Arbeiten von W. Oesterreicher143 betont er hier die Notwendigkeit einer Trennung von Inhalt und Medium: Eine mündlich vorgetragene Rede könne in ihrer Abfassungsgenese völlig schriftlich sein; die Konzeption müsse deshalb aber nicht literate sein. Wie das zu verstehen ist, zeigt er anhand einer Analyse von Z 390–403. Auch hier erkennt Bakker wieder einen »flow of discourse« (S. 43), ein fließendes Aneinanderreihen von Inhalten. Man könnte gegen B a k k e r s Theorie einwenden, mit der Annahme eines flow falle die Annahme eines planenden Subjekts als des Schöpfers von Ilias und/oder Odyssee weg, aber seine Theorie bezieht sich erst einmal nur auf die Ebene der Syntax und Stilistik. Daß Homer sich hier doch erkennbar von späteren Autoren unterscheidet und eben auch bestimmte ›Fehler‹144 macht, ist eindeutig erkennbar. Insofern könnte B a k k e r s Arbeiten einen Ansatzpunkt bilden, die Verwurzelung der homerischen Epen in der Oralität mit dem enormen Grad ihrer Elaboration vor allem im Bereich der Struktur zu verbinden: Homer hätte bei der Komposition an der Technik der Syntax of Movement festgehalten, weil er als aoidos in dieser Technik gleichsam aufwachsen war; die Schrift wurde dann von ihm dazu genutzt, den Kosmos der Ilias bzw. der Odyssee so zu errichten, wie er uns vorliegt. Am Ende des Berichtszeitraums hat sich R. F r i e d r i c h noch einmal zur ›neuen Poetik‹ geäußert, diesmal anhand des Verhältnisses von Enjambement zur Oralität (1361). Zunächst gibt er einen instruktiven Forschungsüberblick, in dem er vor die unterschiedliche Begrifflichkeit noch einmal klar herausstellt.145 Dies betrifft den Umgang mit den statistischen Daten im hard-parryism (= alles ist Formel), soft-parryism (= manches ist Formel) und dem eben beschriebenen linguistisch-kognitiven Ansatz von E. B a k k e r , der mit der Annahme, daß jede Art informellen Sprechens seinem Wesen nach in idea units fragmentiert sei146 und daher in jedem Falle der Versschluß einen break in sense bedeute, folglich der Begriff des Enjambements für Homer generell zu meiden sei. Speziell dieses Deutungsmodell lehnt F r i e d r i c h dezidiert ab (er verweist etwa auf die in der Tat wohl unauflöslich vorzustellende Verbindung von κατὰ und ἤσθιον im Odyssee-Proöm [α 8/9]). In seinem Fazit kommt der Autor zum Schluß, daß der homerische Satzbau eine Zwischenstellung zwischen λέξις εἰρομένη und κατεστραμμένη, also zwischen Parataxe und Hypotaxe zeige. Daher sei sein Stil nicht mehr als rein oral zu bewerten, also ausgeprägt in der Parataxe wurzelnd, wie der Hinweis auf die südslawischen Heldenlieder zeigt147; vielmehr sei er, wie F r i e d r i c h es nennt, post-oral. Das ist natürlich eine mögliche Sicht, doch es ist auch ohne weiteres 143 Verschriftung und Verschriftlichung im Kontext medialer und konzeptioneller Schriftlichkeit, in: U. Schaefer (Hrsg.), Schriftlichkeit im frühen Mittelalter, Tübingen 1990, 265–290; Types of Orality in Text, in: E. J. Bakker/A. Kahane (1274), 190–214. 144 S. dazu vor allem den Aufsatz von J. B. Hainsworth von 1997 (1370); s. S. 139. 145 S. dazu Kap. VII, S. 18-23. 146 Bakker verweist auch hier auf die Arbeiten von W. L. Chafe (s. S. 143). 147 Als Quelle zitiert Friedrich dazu eine Arbeit von A. B. Lord, und zwar als ›Lord 1949‹, wobei diese Angabe nicht erläutert wird. Gemeint ist vermutlich Lords Aufsatz ›Homer and Huso III: Enjambement in Greek and Southslavic heroic song‹ (TAPhA 79, 1948, 113–124).
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denkbar, im Enjambement einen integralen Teil der homerischen Versifikationstechnik zu sehen, wenn man etwa an die stereotype Verwendung von αὐτὰρ ἔπειτα nach der bukolischen Dihärese denkt. Jedenfalls bleibt B a k k e r s Modell durchaus erwägenswert, da er viele Belege für seine These anzuführen in der Lage ist und zeigt, daß eine Gleichsetzung ›Vers = grammatikalisch vollständiger Satz‹ im Zusammenhang mit dem Enjambement zu kurz greift. e. Soziologie und Psychologie Da in der oral theory nicht mehr der homerische Text im Mittelpunkt der Forschung stand, sondern die Frage nach der Funktion und Wirkung einer performance für eine von der Oralität geprägte Gesellschaft, war es naheliegend, daß zunehmend auch Themen wie Soziologie und Psychologie diskutiert wurden; die Nachzeichnung vor allem von F o l e y s Arbeiten zeigt diese Entwicklung exemplarisch. Die Erweiterung der Homerforschung auch auf diese Bereiche ist aber nicht erst im Berichtszeitraum oder relativ kurz davor thematisiert worden, vielmehr hat Parry selbst sie schon 1934 gefordert. In einem Vortrag vor dem Leitungsgremium der Harvard University (board of overseers) hatte er als wichtige Konsequenz aus seinen voraufgegangenen Forschungsergebnissen eine Aufarbeitung des historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Hintergrunds für das Verständnis der homerischen Epen als unabdingbar bezeichnet, und das gelte auch und gerade angesichts der jetzt erkennbar gewordenen Zuordnung von H omers Werken zur Welt der Oralität.148 Diese Forderung hat S. S c h e i n (1493) am G renobler Milman-Parry-Kongreß als nicht weitgehend genug bezeichnet und am Ende die Annahme geäußert, daß Parry selbst, hätte er länger gelebt, die moderne Forschungsentwicklung sowohl in der Anthropologie als auch der Literaturtheorie durchaus als vorteilhaft angesehen hätte. Das ist angesichts der philologischen Genauigkeit, die Parry in seiner Dissertation an den Tag gelegt hat, erst einmal unsicher, aber die Entschiedenheit, mit der Parry nach seiner Dissertation der Philologie in der Welt der Mündlichkeit allgemein nachging, spricht dafür, daß S c h e i n mit dieser Vermutung Recht haben könnte. Ebenso wie Schein hat sich J. J. P e r a d o t t o in einem Beitrag zum Parry-Kongreß in Grenoble mit der Bedeutung des Begriffs ›Tradition‹ und dessen Abgrenzung von Individualität bzw. Neuerung im Zusammenhang mit der Homerforschung nach Parry befaßt (1455). Zu einer Klärung greift er auf Arbeiten von Max Weber, Émile Durkheim und M. Levi-Bruhl zurück, insbesondere auf Dürkheims Konzeption von Tradition als kollektiven Repräsentationen. Diese erweitert der Autor um Erkenntnisse zur Erzähltheorie von Michael Bachtin, der zwischen einer Erzählung, die repräsentiert, und einer Erzählung, die produziert, unterscheidet. Auf dieser Grundlage schlägt P e r a d o t t o vor, den Gegensatz zwischen Tradition, zu verbinden mit Gesellschaft oder Konvention, und der Darstellung individuellen Handelns aufzuheben. Diese Forderung resultiert in der Annahme, daß eine sichere Klärung zur Festlegung von Tradition und Innovation im Falle der homerischen Dichtung unmöglich sei. 148 MHV 408–413.
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Vielmehr müsse eine ständige Fluktuation zwischen diesen beiden Polen bei Homer angenommen werden. Um das Verhältnis zwischen diesen beiden anschaulich zu machen, vergleicht P e r a d o t t o die homerische Dichtung mit dem Croquet-Spiel in Lewis Carrolls Erzählung ›Alice im Wunderland‹. In diesem Spiel sei nichts festgelegt und stabil, weder die Schläger noch das Objekt, welches getroffen werden soll, noch die Tore auf dem Spielfeld, ja nicht einmal Alice selbst und ihre Mitspieler. Mit dieser Annahme wird freilich alles Bemühen um die Rekonstruktion des spezifisch homerischen Stils zum Scheitern verurteilt; für solch radikalen Skeptizismus besteht aber wohl doch kein Anlaß. Wenig brauchbar für ein besseres Verständnis des Homertexts ist die soziolinguistisch orientierte Darstellung von V. E d w a r d s / Th. S i e n k e w i c z zum Thema ›orale Kulturen früher und jetzt‹, wobei unter ›jetzt‹ der Rap verstanden wird (1319). Das Buch enthält vier Abschnitte: 1. die Rahmenbedingungen beim Vortrag des mündlichen Sängers, 2. soziale Aspekte bei dieser Art von Texten, 3. Elemente innerhalb eines mündlich improvisierten Vortrags, mit denen der Sänger das Publikum an sich bindet, 4. das Verhältnis zwischen mündlicher und schriftlicher Komposition mit der ausdrücklichen Warnung, die Qualität schriftlich konzipierter Literatur nicht über die mündlich generierter Texte zu stellen. Die Darstellung basiert auf einer breiten Berücksichtigung von Kulturen aus allen Kontinenten und benennt wesentliche Elemente oraler performance: die Fähigkeiten, über die Vortragende verfügen müssen, die bei der Komposition angewandten Techniken und vor allem die Beziehung zwischen dem Vortragendem und seinem Publikum. Der Umgang mit Homer erweist sich allerdings auf Grund einer Fülle eklatanter sachlicher Fehler als sehr unprofessionell (falsche Verszahlen, Bezeichnung von Thersites und Euryalos als artists und des Odysseus als δολόπλοκος, also mit einem Epitheton, das im homerischen Epos überhaupt nicht belegt ist). Noch gravierender ist die Tatsache, daß von E d w a r d s / S i e n k e w i c z praktisch die gesamte Literatur bis in das späte 5. Jahrhundert hinein als Beleg für Oralität herangezogen wird, eine Sonderstellung Homers also gar nicht gesehen ist. Th. S i e n k e w i c z , einer der beiden Autoren von 1319, hat sich wenig später mit den komparatistischen Betrachtungen in der oral-poetry-Forschung anhand der Fragestellung auseinandergesetzt, ob die homerischen Epen innerhalb dieses Bereichs eine Ausnahmestellung haben (1505). Seine Antwort präsentiert er bereits in Titel seines Aufsatzes von 1991: The Greeks are indeed like the others. Als Vergleichspunkt nimmt er das westafrikanische Sunjata-Epos des Stammes der Manding. Es geht S i e n k e w i c z bei seinem Vergleich allerdings nicht um poetische Qualität im aristotelischen Sinne, sondern um spezifische orale Charakteristika und die soziologische Funktion des Mythos. Auch von ihm wird mit Verweis auf die Darstellung von A. B. Lord die Entstehung der homerischen Epen generell als mündlich festgelegt; von dieser Setzung aus trifft dann natürlich alles auf Ilias und Odyssee zu, was an oral poetry anderer Kulturen belegt ist (vor allem: spezifische Sprache, Medium historischen und sozio-
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logischen Wissens). Der deutliche Unterschied, den etwa eine ausgewiesene Kennerin wie R. Finnegan in Bezug auf die Länge anderer oraler Epen im Vergleich zu Homer gesehen hat (Note on Epic, 1970), wird durch die Unsicherheit der Überlieferung zu minimieren versucht. Die soziologische Funktion wird für Ilias und Odyssee nicht anders als im Sunjata-Epos als »social unifier joining peoples in the present by c reating communal unity with the past« (S. 198) definiert. Auch wenn S i e n k e w i c z danach noch Unterschiede erwähnt (die Funktion des Publikums, das Vorhandensein eines fixierten Texts), bleibt er bis zum Schluß seiner Darstellung bei der Einordnung der homerischen Epen zu den Produktionen einer oral society. Einen der wenigen deutschsprachigen Beiträge zur oral theory hat W. R ö s l e r 1993 publiziert, bezeichnenderweise nicht in einem ausschließlich auf Homer bezogenen Rahmen, sondern im Rahmen der Beschreibung eines Funktionswandels der griechischen Literatur von Homer bis Aristoteles (1480). Damit geht es in diesem Aufsatz um literatursoziologische Fragen in einem allgemeinen Sinne, Homer als Vertreter einer oralen Kultur wird auf nur etwa zwei Seiten behandelt. Nach R ö s l e r betrachtet sich der Dichter als Medium göttlichen Wissens und erhebt somit einen fundamentalen Wahrheitsanspruch, der ihm von der oralen Gesellschaft auch zugestanden werde. Die Dichtung des mündlichen Sängers werde so nach einem Begriff von M. Halbwachs149 zur mémoire collective. Damit präge der oral poet auch die historische und religiöse Überlieferung, die durch die Darstellung von Genealogien miteinander verbunden seien. Ob Homer über diese im Grundsatz sicherlich zutreffend beschriebene Funktion des oral poet schon hinausgegangen ist und sich bewußt war, bereits Fiktives, also Texte ohne durch eine höhere Instanz (= Muse) verbürgten Wahrheitsanspruch, vorzutragen, wird von R ö s l e r nicht thematisiert. C. C a l a m e hat in einer 1985 erschienenen Arbeit die Auswirkungen von mündlich zu schriftlich generierter Literatur anhand des Wechsels in der Art, die Aussage zu gestalten (énonciation énoncée), untersucht (1284). Den zentralen Punkt dieses Wechsels sieht er im Zurücktreten des Erzählers, der in der Lyrik zugunsten des ›Ich‹ weitgehend verschwindet, also dem Entstehen einer explizit persönlichen Perspektive. Anhand eines Vergleichs der homerischen Epen mit den Hymnen und Theognis sei gut erkennbar, wie diese Entwicklung eines allmählichen Zurücktretens der oralen Entstehung von Literatur abgelaufen sein könnte. Wie weit die Entwicklung durch das neue interpretatorische Modell die Betrachtung des homerischen Wortlauts in den Hintergrund rücken konnte, zeigt ein Aufsatz vom Ende des Berichtszeitraums, den J. R u s s o 1999 veröffentlicht hat. Schon der Titel Sicilian folktales, cognitive psychology, and oral theory zeigt, welchen Themen bereichen sich die Homerphilologe mittlerweile auch zugewandt hat (1485). Auffällig ist bereits ein terminologischer Wechsel: Anstelle von oral-poetry theory wird nunmehr von oral theory gesprochen, und in den Worten von R u s s o hat dieser Wechsel für die Forschungsentwicklung eine enorme Bedeutung: »Oral theory constitutes a landmark conceptual breakthrough in the way we look at certain texts« (S. 151). Zu Beginn verweist R u s s o darauf, daß auch Prosatexte in der oral theory zum 149 La mémoire collective, Paris 1950.
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Gegenstand der Betrachtung werden sollten und exemplifiziert das an Texten eines sizilianischen Kindermädchens mit Namen Agatuzza Messia. Mit dem Blick auf diese Prosa führt R u s s o dann die Betrachtung der homerischen Sprache die Deutung von E. J. Bakker ein, der nicht zwischen oralen und literalen Texten unterscheidet, sondern zwischen Texten, die stilistisch ein oralen bzw. literalen Stil aufweisen (s. dazu v. a. 1269 [s. S. 142–144]). Die Oralität Homers bestehe demnach darin, daß seine Erzäh lung aus patterns bestehe, die von multiple constraints beeinflußt würden150. Diese constraints seien starke syntaktische und rhythmische Elemente des oralen Stils sowie die Kolongliederung. Im letzten Abschnitt geht es R u s s o um die kognitive Psychologie der oral theory. Auch hier geht er von Determinanten aus, sog. frames, schemata, scenarios oder scripts, die als in der Erinnerung aufgehobene Wissensstrukturen definiert werden könnten; aus diesen ließen sich für orale Literatur die Existenz der typischen Szenen, die themes, ableiten. Dementsprechend werde die Anwendung dieser scripts im Verlauf der Literaturgeschichte immer geringer; R u s s o zählt zum Beweis eine Kette von kurzen russischen oder südslawischen Epen, den homerischen Epen, der Epik des Apollonios und Vergils bis hin zu englischer und amerikanischer Epik auf. Bemerkenswert ist R u s s o s Satz auf S. 168: »If we see Homeric epic, then, as offering a wide range of forms that richly satisfy our innate predisposition to perceive patterns and to be gratified by them …, we may have found an ideal way to explain why Homeric language and narrative are simultaneously so attractive …«. Hier scheint die Deutung eher vom Bedürfnis des Interpreten geleitet zu sein und nicht mehr vom Text selbst. Die als Beleg angeführte Stelle aus Hesiods Theogonie 96–103 ist schwerlich auf diese Deutung anwendbar, denn es geht hier um den ermutigenden Effekt der κλεῖα προτέρων ἀνθρώπων (V. 100). In jedem Fall ist auch nach R u s s o s Deutungskategorien Homer ein Objekt seiner Tradition. Gegen diese Annahme spricht jedoch sowohl die enorme Menge der metrischen Irregularitäten (s. v. a. die Arbeit von A. G. Tsopanakis [1524; s. oben S. 95]) als auch die Konzeption so groß strukturierter Epen wie Ilias oder Odyssee: Beides scheint darauf hinzudeuten, daß Homer seinen traditionellen Hintergrund mit dem Ziel transzendierte, besondere und bislang so noch nicht zur Darstellung gebrachte inhaltliche Ziele zu präsentieren. In einer Monographie von 1994 hat L. L a n z a (1402) die Frage nach der hohen Wertschätzung der homerischen Epen durch die Griechen anhand eines Vergleichs mit afrikanischer oral poetry in den Blick genommen. Im ersten Kapitel stellt sie die allgemeinen Befunde der oral poetry-Forschung zu Homer dar, wobei schon hier der soziologische Aspekt hervorgehoben wird. Im Hauptteil behandelt sie die Geschichte der afrikanischen Literatur und ihre Veränderung auf Grund europäischer Vorstellungen von Literatur – L a n z a s Generalsierungen ›europäisch‹ und ›afrikanisch‹ sowie die Nichtbeachtung der Möglichkeit, daß sich Literatur auch innerhalb einer Gesellschaft verändern kann, sind diskussionswürdig – und thematisiert dann die Bedeutung oraler Dichtung in der afrikanischen Gesellschaft. Anschließend erfolgt die Rückführung auf ihre anfängliche Fragestellung: Sie erklärt nun die Wertschät 150 D. C. Rubin, Memory in Oral Tradition, Cambridge, Mass. 1995, 176.
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zung Homers wie die der afrikanischen Sänger auf der Basis von Archetypen des kollektiven Unbewußten, wie dieses von C. G. Jung angenommen wird. Hierbei spielen die Frauengestalten eine wichtige Rolle. In dieser Erklärung mag ganz grundsätzlich einiges Richtige gesagt sein, doch bleibt in der Bewertung Homers die spezifische literarische Ausgestaltung seiner Epen doch weitestgehend außer acht. f. Parallelstellen und Statistiken Parrys Arbeiten haben auch dazu geführt, daß das Erstellen von Listen mit Parallelstellen und von Statistiken zu einem wichtigen Bestandteil der Homerforschung geworden ist. Da man angesichts der Besonderheit des homerischen Stils nicht eindeutig festlegen konnte, welche Formulierung der Absicht des Dichters und welche den metrischen Erfordernissen geschuldet war, meinte man, mit diesem Hilfsmittel einen gewissen Grad an Objektivität zu gewinnen, um nähere Aufschlüsse über die homerische Poetik zu erreichen. Einen wichtigen Schritt für den quantitativen Nachweis der Formelhaftigkeit Homers durch Erhebung von Daten hat Parry schon in seiner Dissertation und wenig später in dem Aufsatz Studies in the Epic Technique of Oral Verse-Making (s. Anm. 61) getan, indem er die ersten 25 Verse des ersten Ilias- und Odyssee-Buches auf das Vorhandensein von Formeln und formelhaften Elementen untersucht hat (MHV 301–304). 1994 hat J. B. To r r e s G u e r r a (1518) darauf verwiesen, daß der Textumfang für derart umfassende Folgerungen, wie Parry sie aus dieser Analyse abgeleitet hat, sehr schmal sei. Erfaßt wurden in der Tat von der Forschung bis dahin nur wenig mehr als die 50 von Parry in dieser Weise analysierten Verse: nach To r r e s G u e r r a s Zählung im ganzen 105 Ilias- und 152 Odyssee-Verse. Daher hat er eine größer angelegte Analyse unter der Fragestellung vorgelegt, inwieweit die Verse der Phoinix-Rede in der Presbeia (I 430–605) als formelhaft anzusehen seien. Für die Definition dessen, was Formel oder formelhaft ist, zieht er neben dem von Parry auch den erweiterten Formelbegriff von Hainsworth151 heran; weiteres zentrales Kriterium ist für ihn aber auch die metrische Gestalt. So gelten dem Verfasser solche Ausdrücke als formelhaft, die jeweils bei gleichem prosodischem Wert in deklinierter und konjugierter Form auftauchen, bei denen die Wortstellung geändert ist oder die ihre Position im Vers variiert haben. Die Textbasis, an der die Phoinix-Rede auf Formelhaftigkeit hin verglichen wird, sind Ilias, Odyssee, Hesiods Werke (einschließlich Scutum) sowie die Hymnen. To r r e s G u e r r a kommt auf einen Wert von 37,3 % an formelhaften Ausdrücken oder Formeln; als mögliche Fehlerquote wird nach ausführlicher Diskussion ein Wert von 3 % eingeräumt. Damit läge die Formeldichte in diesem Abschnitt deutlich über den 25 %, die A. B. Lord 1968 als Grenze postuliert hatte.152 Dementsprechend lautet To r r e s G u e r r a s Fazit: »Los datos obtenidos prueban o sugieren la composición oral del fragment analizado.« (S. 289). Durch die statistischen Daten und ebenso durch das hohe Methodenbewußtsein des Verfassers 151 Vgl. S. 78. 152 Homer as Oral Poet, HSCPh 72, 1968, 1–46.
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wirkt diese Arbeit in sich schlüssig, nur ist ja eigentlich spätestens seit Parry klar, daß der homerische Stil in einer besonderen Tradition wurzelt, die aus der Oralität herleitbar ist, ohne daß damit feststünde, daß Ilias und Odyssee gänzlich ohne Hilfe der Schrift entstanden seien (vgl. dazu etwa die Anmerkungen zum Beitrag von L. Sbardella [1492] auf S. 92 f.). S. S p r a y c a r und L. F. D u n l a p haben schon 1982 auf die Grenzen der statistischen Erkenntnisgewinnung hingewiesen (1512). Vor allem beziehen sich die Autoren auf die quantitativen Analysen, die A. B. Lord unternommen hat; hier bezeichnen sie die statistische Ausgangsbasis als extrem dünn (15 Verse aus S. Ugljanins Lied von Bagdad). Die Möglichkeiten, Parallelen in den homerischen bzw. südslawischen Texten zu finden, würden natürlich durch den Einsatz von Computern deutlich erhöht, doch sei hier methodische Vorsicht geboten. So hat das Programm, das S p r a y c a r zum Auffinden von Parallelen geschrieben hat und das auch den Kontext für das jeweilige Lemma berücksichtigt und dadurch die Textbasis sehr weit faßt, ergeben, daß in den Werken des schriftlich verfassenden südslawischen Dichters A. Kačić der Anteil der wörtlichen Wiederholungen mit 60 % genauso hoch ist wie in den von Lord gesammelten, oral generierten Texten. Mithin könne ein formelhafter Stil nicht zwangsläufig auch als oral angesehen werden. Daß die statistische Methode im Vergleich zwischen mündlich und schriftlich entstandener Dichtung zwar hilfreich sein kann, aber doch mit einer gewissen Vorsicht gehandhabt werden muß, zeigen die Aufsätze von D. W e n d e r und S. M. T r e g g i a r i zum Vergleich zwischen dem homerischen Epos und Rudyard Kiplings Erzählung The Elephant’s Child (1539; 1519). W e n d e r zeigt in ihrer Analyse, welch exorbitant hohen Anteil an formelhaften Wendungen dieser Text, der unzweifelhaft mit Hilfe von Schrift verfaßt wurde, aufweist: Er übertrifft den der homerischen Epen etwa um das Doppelte. T r e g g i a r i hat allerdings klargestellt, daß Kipling, wie er in seiner Autobiographie Something about myself sagt, die Wiederholungen in The Elephant’s Child ganz bewußt verwendet habe, da es sich um eine Gute-NachtGeschichte für seine Tochter Effie handelte, die auf exakter Wiederholung der Formulierungen bestand. Mit dem Aspekt der Statistik hat sich auch A. K a h a n e im New Companion in dem Artikel Quantifying epic genauer auseinandergesetzt (1391). Im ersten Teil verweist er zu Recht darauf, daß der Grad der Objektivität von Statistiken etwa in der Metrik, bei den Formeln oder auch in der Grammatik weitaus geringer sei als allgemein angenommen, da die Frage der Kriterien, nach denen diese Statistiken erstellt werden, wiederum eine eher interpretatorische Dimension habe; generell besteht so die Argumentation dieses gesamten ersten Abschnitts im Grunde aus Warnungen. Im zweiten Teil versucht K a h a n e in der Formulierung recht vorsichtig die Möglichkeiten der Statistiken zu beleuchten, die er durch die modernen technischen Mittel in ihrer Handhabbarkeit als sehr viel einfacher verfügbar ansieht. Er tut dies an zwei Beispielen. Das erste wird entwickelt an der Verwendung des Wortes ἠώς (›Morgenröte‹) entweder als Name oder als Appellativum: als Name wird es häufiger im Nominativ, als Appellativum häufiger im Akkusativ verwendet. Im zweiten Beispiel geht es um die Frage der Verbposition in Versen, wo Odysseus’ Name genannt werde;
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diese befinde sich in mehr als 60 % der Fälle unmittelbar vor dem Namen oder der Nomen-Epitheton-Formel, die Kahane als ›eigennamenbasierter Ausdruck‹ (propername based expression) bezeichnet. Diese Anordnung könne nicht formelhaft sein, es handele sich vielmehr um eine Art pattern. Aufgabe der Forschung sei es somit, diesen patterns stärker als bisher nachzugehen, was freilich den Nachteil habe, daß die elegante Einfachheit des Parry’schen Modells keinen Bestand mehr haben könne. K a h a n e hat in dieser Hinsicht wohl recht, doch wird mit der Frage nach solchen patterns für die Forschung natürlich ein extrem umfangreiches Forschungsgebiet eröffnet, das zudem nur schwer mit intersubjektiven Kriterien vereinbart werden kann. 7. Oral-poetry-Theorie versus schriftliche Komposition Gegen die methodische Zulässigkeit eines Vergleichs der homerischen Epen mit dem von A. Međedović auf Parrys Wunsch komponierten Großepos Ženidba Smailagina sina hat sich unmittelbar am Beginn des Berichtszeitraum B. H e m m e r d i n g e r ausgesprochen (1376). Ausgangspunkt seiner Kritik sind zwei Bemerkungen von Jacob Grimm. Grimm zufolge handele es sich den improvisierten Dichtungstexten der Serben um Lieder, nicht aber um epische Dichtung; ein serbisches Großepos als gemeinsame Quelle der einzelnen Heldenlieder, wie es Vuk Karadžić rekonstruieren wollte, habe es nie gegeben. Ausgehend von dieser Aussage kritisiert H e m m e r d i n g e r die von Parry an Međedović gerichtete Aufforderung, ihm ein Großepos zum Zweck einer Aufzeichnung vorzutragen, um daraus Schlußfolgerungen für Homer abzuleiten. Die Form eines Großepos sei in der serbischen Dichtung nämlich »une chose purement imaginaire« (S. 80) und dürfe daher nicht zur Erklärung von Ilias und Odyssee herangezogen werden. H e m m e r d i n g e r beschließt seinen Aufsatz mit der auf Parry bezogenen Formulierung »Qui veut trop prouver ne prouve rien«, ein wohl doch zu hartes Urteil, wenn auch von den epischen Strukturen her bei einem Vergleich zwischen Međedović und Homer durchaus methodische Vorsicht geboten ist. 1978 hat H. L l o y d - J o n e s in einer kurzen Anmerkung am 10. Kongreß der Association Budé mit Verweis auf R. Finnegans Werk Oral Poetry (Cambridge 1977) betont, daß auch schriftlich komponierte Werke stilistische Elemente oraler Dichtung aufweisen können (1407). Ausgehend von diesem Standpunkt spricht für H. L l o y d - J o n e s nichts dagegen, eine schriftliche Abfassung der homerischen Epen anzunehmen; die Homerforschung sollte sich daher wieder darum bemühen, mehr dem poetischen Wert von Ilias und Odyssee nachzugehen. Hiermit bezieht er sich explizit auf die Position, die bereits Milman Parrys Sohn Adam vertreten hat153. Mit dem heuristischen Wert des komparatistischen Prinzips, speziell dem Vergleich zwischen den homerischen Epen und den südslawischen Heldenliedern, hat sich auch der Slawist Z. D u k a t befaßt (1314). Seitens eines Teils der gräzistischen Forschung wurde immer wieder betont, daß es eine besondere, ja einzigartige Qualität und Komplexität der homerischen Epen gebe, die in den verglichenen südslawischen Texten so nicht erkennbar sei, mithin sei der Vergleich mit anderer oraler Epik als 153 Have we Homer’s Iliad?, YCS 20, 1966, 175–216.
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heuristisches Instrument zum Verständnis des Homertexts nicht wirklich weiterführend. Solche Kritik sei, wie D u k a t ausführt, in dieser Entschiedenheit nicht zwingend, da Vergleiche bei den Rahmenbedingungen, wie sie für die Produktionen der griechischen ἀοιδοί und der guslari (Technik, Anlaß, Publikum) anzunehmen sind, auch für die homerischen Epen durchaus sinnvoll seien. Nur ziele dieser Vergleich auf literaturtheoretische Erkenntnisse, während die Qualitätsfrage eine literarkritische sei, und dazu könne die von Parry inaugurierte Deutung Homers nicht erfolgreich in Bezug gesetzt werden. Im Grunde erteilt D u k a t damit der komparatistischen Methode als hermeneutischem Prinzip in der Homerforschung eine Absage, welche er aber dahingehend modifiziert, daß in der Frage der literarischen Qualität die Auswahl der südslawischen Heldenlieder von Parry und Lord unangemessen sei: In den Sammelwerken des bedeutenden Slawisten Vuk Karadžić aus der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts seien improvisiert entstandene Heldenlieder zu finden, die es an Qualität durchaus mit denen Homers aufnehmen könnten. In einem Aufsatz von 1979 (1430) kritisiert D. R. M o s e r am Beispiel zweier Odyssee-Szenen eine These R. M. Dorsons zur Bedeutung der Volkskunde für die homerische Frage154, die M o s e r auf S. 124 so zusammenfaßt: »… daß die Folkloristik aus ihrer Kenntnis traditioneller Erzählstoffe und -motive in der Lage sei, das mündliche Erzählgut dieser Epen von deren sonstigen Stereotypen zu unterscheiden. Die folkloristische Erzählforschung könne […] dazu beitragen, den Anteil des Bearbeiters Homer von dem des ›mündlichen Dichters‹ zu trennen.« M o s e r rät hier mit Recht zu methodischer Vorsicht. Natürlich gebe es eine Fülle von Motiven aus Volkserzählungen, sie stellten aber schwerlich die inhaltliche Grundlage der homerischen Epen dar, eher sei anzunehmen, daß solche Motive mit Blick auf die höchst elaborierte Gesamtstruktur der Ilias bzw. Odyssee – vom Autor im Gegensatz zur Volksdichtung als Hochdichtung bezeichnet – hin adaptiert worden seien. Der Blick auf die Tradition helfe also für eine Erklärung der Struktur der homerischen Epen nicht weiter. Welche möglichen Aufschlüsse die homerischen Gleichnisse in der Frage nach der Entwicklung von der Mündlichkeit hin zur Schriftlichkeit liefern können, hat L. C a r m i g n a n i 1984 analysiert (1288). Er geht dabei zunächst einmal von mündlicher Genese als Basis der homerischen Dichtung aus, die jedoch bei den Gleichnissen wegen der weniger von der Erzähltradition geprägten Inhalte schwer nachzuweisen sei. Um hier zu neuen Erkenntnissen zu gelangen, differenziert er die Gleichnisse anhand ihres Umfangs und vor allem anhand ihres Bezugs auf den Kontext. Als Beispiel für die einfachste Fassung nennt C a r m i g n a n i Ω 572 (Achilleus springt λέων ὥς zum Eingang), dann Θ 306–308 (das Gleichnis kontrastiert die Grausamkeit der Schlacht), dann Δ 482–489 (das Gleichnis zum Tod des Simoeisios gewinnt eine gewisse Selbständigkeit und ist mit dem oralen Prinzip der gedanklichen Assoziation nicht vereinbar). Das Aufbrechen des Kontexts sei auch in M 299–308 zu erkennen (Sarpedon greift an wie ein Löwe, der dabei entweder erfolgreich Beute macht oder bei dem Angriff umkommt). Hier erweise sich die Sprache als besonders differenziert und 154 R. M. Dorson, Buying the Wind. Regional Folklore in the United States, Chicago/London 1972.
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das entstandene Bild als reich nuanciert, vor allem aber gebe sie dem unmittelbaren Kontext eine spezielle Kontur. Dennoch sei nicht gänzlich auszuschließen, daß auch ein mündlicher Dichter ein solches Gleichnis hätte konzipieren können. Noch wahrscheinlicher werde es dann aber in E 84–94, daß bei diesem Wortlaut der planende Wille eines Dichters vorliege. Als nicht mehr mit dem Modell einer Textentwicklung durch fortlaufende Assoziation vereinbar sieht C a r m i g n a n i das Gleichnis in M 40–48155, das ein Fenster auf das zukünftige Schicksal der beteiligten Figuren öffne. Ähnlich seien auch Σ 207–214, Φ 522–525 und X 26–31 zu deuten, und auch die Odyssee enthalte Gleichnisse von der Art, daß ihnen trotz eines anderen Erzählzusammenhangs auf das Hauptthema, die Heimkehr des Helden, angespielt werde. Ähnliche Fernbeziehungen auch zu den beiden anderen Themenkreisen der Odyssee, nämlich ›Telemachs Reise‹ und ›Penelopes Handeln‹, erkennt C a r m i g n a n i in etlichen anderen Gleichnissen. In diesen weise die Gestaltung über orale Kompositionstechnik hinaus. Das erzähltechnische Mittel der Rückblende, die vor allem in den Apologen der Odyssee eine zentrale Bedeutung für das Gesamtverständnis des Epos hat, die aber auch in der Ilias von Bedeutung ist, hat O. T s a g a r a k i s zum Gegenstand eines Aufsatzes gemacht (1523). Er verweist zu Beginn auf die vielfältigen Rückblenden am Beginn der Ilias, die dazu dienten, das gesamte Geschehen zu exponieren, um dann auf das α der Odyssee und seine Beziehung zum ε einzugehen; hier sei die Rückblendetechnik noch elaborierter. Im ganzen sei dieses erzähltechnische Mittel bei Homer strukturell so komplex, daß die Art ihrer Verwendung mit oraler Genese nicht mehr vereinbar sei. Im Sammelband Scrivere e recitare, erschienen 1986, hat C. C e r r i sehr bestimmt einen heuristischen Wert der oral-poetry-Theorie für Homer (1291) abgelehnt. Als Anfangspunkt seiner Argumentation wählt er F. A. Wolfs Bewertung Bücher T bis einschließlich Ω als späte Zutat zur Ilias, eine Annahme, die die Analyse der 19. Jahrhunderts – vor allem aus lexikalischen Gründen – übernommen hat, die C e r r i aber mit Blick auf die spätere Forschung nicht für gesichert hält. Er befaßt sich aus einem anderen Blickwinkel mit dieser Frage, indem er zunächst anhand der Aspekte ›entehrende Behandlung des gefallenen Feindes‹ und ›Freikauf von Hektors Leichnam‹ eine manifeste Diskrepanz des Ω zu den anderen Aussagen der Ilias zu dieser Thematik feststellt. Daraus folgert er, daß das Ω dem Handlungsgeschehen der Ilias später hinzugefügt wurde. Von dieser als definitiv gesetzten Basis aus geht C e r r i weiter zu der Frage, in welchem Verhältnis die oral poetry-Forschung zu diesem Resultat stehe. Als wesentliches Fazit sieht er, daß seit der Etablierung dieser Forschungsrichtung die diachronische Dimension in den Erklärungen zur Entstehung der homerischen Epen nahezu verschwunden sei. C e r r i insistiert, daß Argumente aus dem ideologischinstitutionellen Bereich durchaus erfolgversprechend für ein besseres Verstehen in der Entwicklung auch oral generierter Texte sein könnten, wobei er aber aedo und rapsodo in eins setzt. Das zentrale Ergebnis seiner Untersuchung sieht C e r r i dann darin, daß die oral-poetry-Theorie »è inadeguato di spiegare fenomeni di stratificazione« 155 Anders Di Benedetto (1309); s. S. 155–158.
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(S. 40). Insofern sei es besser, einem Entstehungskonzept für Ilias und Odyssee zu folgen, wie es 1907 G. Murray in dem Werk The Rise of the Greek Epic entwickelt hatte, nämlich ein allmähliches Anwachsen bestimmter, immer wieder rezitierter Texte im Laufe der Jahrhunderte, bis diese in peisistratischer Zeit aufgezeichnet wurden. Diese Aufzeichnung sei »uno degli anelli finali della catena« (S. 41). Dem Argumentationsgang C e r r i s kann man durchaus folgen, problematisch aber bleibt seine Deutung von Homers Darstellung der Mißhandlung von Hektors Leichnam und schließlichen Auslösung. C e r r i macht die Andersartigkeit in der Behandlung des gefallenen Kriegers in der Ilias zu seinem Kernargument, ohne darauf einzugehen, daß gerade das Ω ein poetisches Ereignis abbilde, das sich in seinem Ablauf vom ›Normalzustand‹, wie er sonst in der Ilias anzutreffen ist, deutlich absetzen will. In der Frage nach oraler oder literaler Genese der homerischen Epen hat R. G o r d e s i a n i in einer Monographie von 1986 (1366; 1988 in einem Aufsatz in russischer Sprache zusammengefaßt [*1367]) den Begriff der kompositionellen Einheit als erstes konstitutives Element gewählt. Für die Ilias sieht er diese Einheit in Form einer spiegelsymmetrischen Struktur, in dessen Zentrum das M steht. Um diesen Gesang seien die Geschehnisse in entsprechender Anordnung angelegt, so daß etwa die Rückgabe der Chryseïs an ihren Vater im A der Rückführung von Hektors Leiche nach Troia im Ω entspricht (S. 38). Eine solche Komposition über die gesamte Ilias hinweg ist wahrscheinlich nur mit Hilfe der Schrift denkbar, doch sind einige von G o r d e s i a n i in dieser Richtung gewertete Entsprechungen wenig plausibel. So soll Achilleus’ Rückzug vom Kampf im A eine Parallele im Gespräch zwischen Priamos und Achilleus im Ω haben, da er auch hier die Teilnahme an den Kämpfen einstellt (S. 38). Eine vergleichbare Symmetrie sieht G o r d e s i a n i auch in der Odyssee. Hier soll etwa der Besuch Telemachs bei Nestor und Menelaos im γ und δ dem Besuch des Odysseus bei seinem Vater Laertes im ω entsprechen. Den zweiten Teil überschreibt G o r d e s i a n i – etwas mißverständlich – mit ›sprachliche Organisation‹. Dieses Kapitel hat die wörtlichen Wiederholungen von Versen oder Phrasen und eine Statistik zur Häufigkeit in der Verwendung von Adjektiven in Verbindung mit den Namen der wichtigsten Figuren und ihrer individuellen Verwendung (›Lexikostatistik‹) zum Thema. Man kann G o r d e s i a n i s Befund, wonach hier auf ein beträchtliches Maß an Individualität zu erkennen sei, beipflichten, was vor allem in der statistischen Absicherung begründet ist. Der dritte Teil umfaßt Einzelbeobachtungen, die hier aufzuführen zu sehr ins Detail ginge. In der Summe erweist sich dieses Buch als energischer Versuch, Beweise zur schriftlichen Komposition der homerischen Epen zu liefern, von denen besonders der zweite Teil zur Kenntnis genommen werden sollte. Sehr dezidiert hat sich F. C h a m o u x für eine schriftliche Abfassung von Ilias und Odyssee ausgesprochen (1292); sie seien nur als Ergebnis des Zusammentreffens eines Genies mit den neu eröffneten Möglichkeiten der Buchstabenschrift zu verstehen. Er verweist in seiner Begründung insbesondere auf die Forschungsergebnisse zur komplexen Struktur der Epen, die ohne schriftliche Fixierung nicht vorstellbar sei. Freilich müsse die genaue Vorgehensweise – von Homer selbst verfaßt, einem Schreiber/mehreren Schreibern diktiert, von anderen aufgezeichnet – ungeklärt bleiben.
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Die Argumentation von C h a m o u x ist insofern bemerkenswert, als er für seine Meinungsbildung in dieser Frage die Forschungsliteratur zur Struktur der homerischen Epen intensiv berücksichtigt hat, der zufolge Homers Epen mehr mit Vergils Aeneis gemeinsam haben als etwa mit Avdo Međedovićs Ženidba Smailagina sina. Bei den Forschern, die keinen qualitativen Unterschied zwischen den homerischen Epen und mündlich komponierten Epen anderer Kulturen sehen, bleibt dieser Interpretationsbereich dagegen weitestgehend unbeachtet. Auch R. B e l l a m y (1277) hat sich für die Anwendung der Schrift bei der Komposition von Ilias und Odyssee ausgesprochen. Seine Argumentation basiert zum einen auf den auch sonst in der Forschung immer wieder erwähnte Annahme, daß die Buchstabenschrift aus dem Semitischen im 8. Jahrhundert in Griechenland bekannt und verändert wurde (Nestor-Becher, Dipylon-Vase, die in der Ilias vorhandenen Erwähnungen des Schreibens, die Erwähnung eines πίναξ πτυκτός in der Bellerophon-Geschichte [Z 168–170]), zum anderen auf der Annahme, daß nur mit Hilfe von Schrift in einem so komplexen Vers wie dem Hexameter komponiert werden konnte. Die Argumentation als solche weckt allerdings Zweifel. Die Erwähnung der σήματα λυγρά auf einem πίναξ πτυκτός ist in ihrer Deutung höchst umstritten156, der Hexameter ist, wie die Forschung gezeigt hat, bei der mündlichen Genese von Versen kein Hindernis, sondern ein helfendes Medium. Das Argument, daß zur Zeit der Abfassung von Ilias und Odyssee die Buchstabenschrift bekannt war, ist für sich allein genommen nicht zureichend für eine Annahme, wonach diese bei der Komposition dieser Epen Anwendung gefunden hat. Insofern ist B e l l a m y s Aussage, die oralpoetry-Theorie sei ein »myth« (S. 307), doch wohl unzutreffend. Auch das Buch von V. D i B e n e d e t t o mit dem griffigen Titel Nel laboratorio di Omero (1311) – einzelne Kapitel lagen zuvor bereits in leicht veränderter Form als Aufsätze vor (1307, 1308; 1309 für den Bereich der Gleichnisse) – ist in seiner Zielsetzung ebenfalls ein Beitrag zum Thema oral poetry, obwohl der Autor die Verankerung in der Oralität nicht als ein zureichendes Erklärungsmodell für die stilistische Prägung Homers, ja sogar für einen »modo rozzo di leggere Omero« (S. VII) hält. So sieht D i B e n e d e t t o in der Ilias, auf die er sich hier beschränkt, einen Dichter am Werk, der klare inhaltliche Bezüge zwischen einzelnen Wiederholungen schafft und diese Bezüge zur Rezeptionssteuerung nutzt. So wird an D i B e n e d e t t o s Arbeit geradezu exemplarisch deutlich, wie man von einer interpretierenden Vorgehensweise her mit dem Problem der unleugbaren Formelhaftigkeit des homerischen Stils umgehen kann. Nach dem ersten Teil zum Verhältnis zwischen dem epischen Erzähler und dem, was von dem epischen Personal in direkter Rede gesagt wird – hierin anknüpfend vor allem an den narratologischen Ansatz, den besonders I. de Jong für Homer fruchtbar gemacht hat –, geht der Autor im zweiten Teil auf das Problem der Formelsprache ein. Er führt Formulierungen, die zum Teil auch unpassend an anderen Stellen wiederholt werden, auf die Existenz einer ›inneren Formelhaftigkeit‹ ( formularità interna) zurück. So stehe hinter dem Wortlaut der Ilias kein bestimmter 156 S. dazu etwa M. Stoevesandt, Basler Kommentar zur Ilias (BK), IV, Sechster Gesang, fasc. 2, Berlin 2008, 168–170 (S. 67 f.).
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Schatz an tradierten Formulierungen ( formularità esterna), die in einer performance jeweils aktualisiert werden, sondern der Ilias-Dichter zitiere sich bei Wiederholungen gewissermaßen selbst, und diese Wiederholungen sollten interpretatorisch wirken. Methodische Voraussetzung ist für D i B e n e d e t t o das Auffinden von Parallelstellen im Ilias-Text, die in der übrigen archaischen Epik der Griechen nicht mehr belegt sind, eine angesichts des geringen Textmenge problematische Beweisführung. Im dritten Abschnitt befaßt sich D i B e n e d e t t o mit Quer- und Fernverweisen (corrispondenze alle distanza). Als unitarisch argumentierender Interpret verwirft er den Gedanken an eine in der Oralität durchaus mögliche composition by theme, aber seine jeweiligen Deutungen sind durchaus überzeugend, da sie weniger auf die typische Szene als solche verweisen als auf den jeweiligen genauen Wortlaut. Der vierte Abschnitt hat mit der oral poetry bzw. ihrer Zurückweisung als hermeneutischen Instruments zur Deutung nichts mehr zu tun; hier geht es um homerische Wertvorstellungen, in denen D i B e n e d e t t o eine deutliche inhaltliche Kohärenz erkennt. Was D i B e n e d e t t o s formularità interna betrifft, so dürfte dieser Deutungs ansatz in vielen Fällen zutreffen, aber die von ihm genannten Beispiele reichen nicht notwendigerweise aus, um sie als durchgängiges Kompositionsprinzip gegen die von Parry in den Vordergrund gerückte externe Formelhaftigkeit durchzusetzen. D i B e n e d e t t o s Argumentation verläuft hier nicht anders als bei den Unitariern alter Schule, aber auch bei den rezeptionsästhetisch orientierten Interpreten, daß nämlich einzelne, nicht selten auch überzeugende Einzelbefunde aus dem Homertext genommen werden, um zu beweisen, daß etwa Epitheta in einem generellen Sinn situationsspezifisch verwendet sein können. Wie es aber mit der Fülle der formel geprägten Sprache und speziell der enormen Fülle an Wiederholungen – auf C. E. Schmidts Parallel-Homer wurde bereits auf S. 57 verwiesen – steht, bleibt unerklärt. Wenn im dritten Teil sehr gute Bemerkungen zur komplexen Struktur der Ilias enthalten sind, so betrifft dies nicht die Frage nach der Verwurzelung des homerischen Stils in der Oralität, wohl aber die Frage, wie eine solche Struktur oral improvisierend entstanden sein kann. Eine sehr ausführliche und in die gleiche Richtung deutende Bewertung D i B e n e d e t t o s Buch hat C. O. P a v e s e in den Quaderni Urbinati von 1998 (1454) geäußert. Anhand von 1309 mit dem Thema der formularità interna innerhalb der Gleichnisse wird im folgenden D i B e n e d e t t o s Argumentationsmuster konkret demonstriert werden. Die von ihm genannten Erscheinungsformen in diesem Zusammenhang sind: 1. Fernbeziehungen. Das wird zunächst an dem Adverb πυργηδόν (dreimal belegt) veranschaulicht, welches jeweils im Zusammenhang mit Hektor vorkommt; bestimmte Junkturen (στίχας ἀνδρῶν, πειρητίζων) könnten nach D i B e n e d e t t o auf einen dem Sänger vorgegebenen Zusammenhang zwischen Hektor und dem Durchbrechen turmartig angeordneter Reihen von Gegnern schließen lasse, auf den Homer bewußt hinweisen wollte. Ähnliches sei in der Beziehung zwischen E 554–560 und Π 751–754 sowie zwischen O 263–269 und X 21–24 (O 269: ὣς Ἕκτωρ λαιψηρὰ πόδας καὶ γούνατ' ἐνώμα / X 24: ὣς Ἀχιλεὺς λαιψηρὰ πόδας καὶ γούνατ' ἐνώμα, jeweils vor einem entscheidenden Sieg der beiden) zu beobachten.
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2. Scharnierfunktion. Hiernach schaffe etwa, verbunden durch das gleiche Thema und eine spezifische Wortwahl, das Gleichnis in Λ 414–420 eine Verbindung zwischen M 145–152 und N 471–476. Auch setzt Θ 297–302 – mit umgekehrten Vorzeichen für die weitere Handlung – Π 555–562 voraus. Weitere Beispiele folgen. 3. Klammerfunktion. Zwei Gleichnisse zum Wind Νότος (im B 144–146 [hier noch begleitet vom Εὖρος]) und 394–397) dienten dazu, die Rede des Agamemnon in der πεῖρα einzuklammern. Eine sehr weite Klammer sieht D i B e n e d e t t o in den Gleichnissen I 4–8 und Ξ 16–22 auf Grund der sprachlichen Ähnlichkeit zwischen ἐδαΐζετο θυμός und δαιζόμενος κατὰ θυμόν. Hier sind Bedenken angebracht, da beide Stellen durch ca. 3500 Verse getrennt sind. 4. Wörtliche Wiederholung. Auf diese Bezüge wie in N 389–393 und Π 482–486 braucht D i B e n e d e t t o interpretatorisch nicht weiter einzugehen; sie sind evident. Was den Ergebnissen, die mit Hilfe dieser Methode gefunden werden, Bedeutung verleiht, ist die Tatsache, daß es sich bei der Verwendung der jeweiligen Gleichnisse nicht immer um gleiche Kontexte handelt und daß auch nicht die gleiche innere Disposition der jeweiligen Figur dargestellt werden soll. Jedenfalls sieht D i B e n e d e t t o auch in den Gleichnissen eine verbale und inhaltliche Typik, die sich Homer zum Zweck der Steuerung des inhaltlichen Verständnisses zunutze macht. Den abschließenden Teil des Aufsatzes bildet eine Betrachtung der Gleichnisse, in denen der Löwe im Mittelpunkt steht, insbesondere im Λ und im Zusammenhang mit den Ereignissen nach dem Tod des Patroklos im Ρ. Gerade im letztgenannten Bereich sei es so, daß diese Gleichnisse weniger die Atmosphäre von Wildheit und Aggression erzeugten, sondern den Trotz eines in die Enge getriebenen Tieres beschreiben sollten, das standhalten und seine Nachkommen schützen will. Auch hierzu nennt D i B e n e d e t t o wieder eine Fülle von sprachlichen Indizien, die bei den Gleichnissen auf gegenseitige Bezugnahme hinwiesen. Nach dem gleichen Erklärungsmodell hat D i B e n e d e t t o schließlich im Jahr 2000 die Wiederaufnahme von gleichen Versanfängen in engen Abständen oder unmittelbar aufeinanderfolgenden Versen interpretiert (1312). Der Verfasser sieht auch hier eine besondere Betonung, die durch dieses stilistische Mittel erreicht wird, und zwar sowohl eine Bedeutung im individuellen Kontext als auch eine Charakterisierung bestimmter Figuren, insbesondere des Antenor und des Nestor, beide auf ihrer jeweiligen Seite exzellente Redner, bei denen jedoch die zweite Dimension, nämlich gute Kämpfer zu sein, nicht so ausgeprägt ist wie bei Agamemnon, Achilleus oder Aias. So wird der Rede des Antenor in Γ 204–224 die Verseinleitung ἄλλ' ὅτε δή (53mal in der Ilias) gleich viermal verwendet, und der Verfasser zeigt, daß jedes Mal der Redner damit jeweils einen neuen inhaltlichen Abschnitt einleitet. Analog führt D i B e n e d e t t o die Analyse der ersten Nestorrede in der Ilias (A 254–284; mit anaphorischem Versanfang durch κάρτιστοι in 266 f. und Versanfängen mit καί [269, 271, 273], ἀλλά [274, 276] und μήτε [275, 277]) durch; auch hier wird deutlich, wie stilistisch komplex diese Rede strukturiert ist. Ebenfalls auffällig ist die Stilistik
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in Λ 696–803, γ 109–111 (dreimaliges ἔνθα am Versanfang) und Ψ 313–318 (μή in 314, gefolgt von μήτι in 315, 316 und 318). Diese Komplexität findet sich freilich nicht in allen Nestor-Reden. Bei dem Motiv evocazione del passato sind es Reden von Phoinix (I 434–605) und Aineias (Υ 200–258, speziell 225–231), deren Reden durch verseinleitende Anaphern eine besondere Prägung erhalten. Weniger überzeugend ist D i B e n e d e t t o s Argumentation im Zusammenhang mit Achilleus’ Rede im I 308–429 (Wiederholung des οὐδέ in 379, 381 (bis), 385, 386, 389 und 391; markierende Wirkung durch Parallelismen in 412–416). Weitere Passagen, auf die D i B e n e d e t t o hinweist, brauchen hier nicht mehr angeführt zu werden, zumal diese nicht so beweiskräftig sind. Über die genannten Aspekte hinaus sieht D i B e n e d e t t o in der verseinleitenden Anapher auch ein strukturbezogenes Hilfsmittel, das dem Erzähler dazu dient, im Fortgang der Erzählung entweder eine Beschleunigung (so in der Schildbeschreibung vor allem anhand von ἐν δ' ἐτίθει) oder einen Stillstand (so in Ψ 719–720) zu markieren. In der Nachfolge von Di Benedettos methodischen Ansatz hat Ch. N e n c i o n i 1999 für mehreren Stellen des Σ eine formularità interna angenommen (1443). So deutet sie das zweimal in Verbindung mit ναῦς vorkommende Epithetonform ὀρθοκραιράων (Σ 3, Τ 344; sonst in Verbindung mit βοῦς verwendet) als bewußten Bezug auf die Figur des Achilleus, speziell in seiner Verbindung mit Patroklos. Auf ähnliche Weise sieht sie in der dreimal belegten Junktur λυγρῆς ἀγγελίης eine individuelle Verbindung mit der Thematik von Patroklos’ Tod, wobei hier aber nur die Lexik, also die Begriffe λυγρός und ἀγγελίη gemeinsam sind, die Formel λυγρῆς ἀγγελίης ist nur P 642 und 686 anzutreffen; in T 337 steht diese Junktur im Akkusativ. N e n c i o n i deutet die Existenz dieses semantischen Netzes neoanalytisch aus: es gehe zurück auf die Situation, in der Peleus von Tod seines Sohnes Achilleus erfährt. Im folgenden stellt die Verfasserin dann an einer Fülle weiterer Stellen im Σ solche bewußten Anspielungen fest, doch erscheint auch hier eine formularità esterna durchaus denkbar. Von den homerischen hapax und dis legomena her hat D. K e i l (1394) in ihrer 1998 erschienenen Bochumer Dissertation versucht, in der Frage der oralen oder literalen Abfassung neue Argumente zu finden. Ihr argumentative Basis besteht darin, daß sie zwar eine mündlich improvisierende Versproduktion als technische Basis für die homerischen Epen annimmt, Parrys Modell einer völligen Bindung an die orale Technik der Epenproduktion aber für zu rigoros hält, auch deswegen, weil er das Thema der hapax und dis legomena nicht in seine Theoriebildung einbezogen habe. In beiden Bereichen erkennt K e i l auf Grund ihrer ausführlichen Analysen eine bewußte Verwendung dieser Wörter und schließt von dort auf eine Genese der beiden Epen mit Hilfe der Schrift bzw. mit der Anwendung von Retraktation, eine These, die natürlich bei den hapax legomena schwer zu belegen ist. Als Indiz für bewußt geplante Gestaltung sieht K e i l eine Häufung solcher Wörter in bestimmten Kontexten; die Analyse dieser Stellen führt sie zu dem Schluß, daß es dort »bereits zu spürbaren Berührungen und Überschneidungen mit dem Einsatz von Schrift« gekommen sei (S. 91). Die genannten Verse verweisen allerdings nicht unbedingt auf schriftliche Genese; denkbar ist auch, daß die hapax legomena auf Grund eines ungewöhnlichen
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Zusammenhangs (z. B. Milchwirtschaft [s. dazu S. 54–56] oder Grabenbau [S. 59 f.]) gehäuft auftreten, ohne daß Retraktation anzunehmen wäre. Ähnlich problematisch ist auch die Beweisführung bei den dis legomena. Hier trennt K e i l zunächst einmal sinnvoll nach Stellen, in denen die beiden Belege auf die Ilias beschränkt sind, und denen, die einmal in der Ilias, ein andermal in der Odyssee vorkommen. Bei der inneriliadischen Verwendung scheinen einzelne Stellen K e i l s Theorie zu stützen, so etwa bei der Verwendung der dis legomena ἐννεάχειλοι und δεκάχειλοι in E 860 und Ξ 148. Da aber diese Wörter Teil eines Formelverses sind, liegt hier nicht die Wiederholung von Wörtern, sondern eines Verses vor, und dieses Phänomen ist doch eher als technisches Hilfsmittel für die Improvisation anzusehen. Gleiches gilt für den Vers, mit dem Paris als Frauenheld beschimpft wird (Γ 39, = N 769). Auch die Analyse des interepischen Verhältnisses liefert keine sicheren Belege für schriftliche Komposition auf Grund der Verwendung von dis legomena, am ehesten noch bei der Charakterisierung von Aias und Iros als βουγάϊος (Ν 824, σ 79) und von Hermes als ὑπηνήτης (Ω 348, κ 279). Im ganzen muß der Beweis wohl als nicht geführt angesehen werden. Hilfreich wäre sicherlich ein genaueres Eingehen auf die Sekundärliteratur zur Frage von Wortwiederholungen in den homerischen Epen wie etwa die Arbeiten von Di Benedetto (1307–1312) gewesen. Einen die Homerforschung nicht unwesentlich beeinflussenden Analyseansatz hat I . d e J o n g inauguriert, nämlich die narratologische Betrachtung von Ilias und Odyssee; besondere Bedeutung kommt hier ihrer Abhandlung ›Narrators and Focalizers‹ von 1987 zu157. Mit der ihr eigenen methodischen Genauigkeit und gleichzeitigem Verständnis für Poetik hat sie auch das Verhältnis zwischen oral poetry und Narratologie in einem Aufsatz von 1991 explizit thematisiert (1388). Es ist eine hervorzuhebende Ausnahme unter den narratologischen Arbeiten zu Homer, daß d e J o n g auch bei nicht-narratologischen Ansätzen die Homerdeutung ausgesprochen kompetent überblickt. Zunächst einmal stellt sie fest, daß durch Parrys Ergebnisse zwar das alte unitarisch-analytische Interpretationspatt überwunden wurde, gleichzeitig aber ein neues entstanden sei: Nicht mehr der Homertext und seine Aussage stünden nunmehr im Mittelpunkt, sondern die Formel. Hier biete sich nach d e J o n g nun die Narratologie als möglicher Ausweg an, wozu sie auf Arbeiten von M. W. Edwards verweist, der mit genauem Blick auf den jeweiligen Wortlaut basierend auf der Formelforschung dem Text neue Deutungsmöglichkeiten abgewinnt. Das bedeute, daß der interpretatorische Fokus auch auf nur ungefähr gleiche Formulierungen zu legen sei, da diese Variationen eine heuristische Perspektive eröffnen, der mens auctoris Homers näher zu kommen. D e J o n g verfährt hier also methodisch in der Weise, Homer auf der Basis seines eigenen Wortlauts verstehen zu wollen. Sie tut dies anhand der Betrachtung von Redeeinleitungen, in denen die stereotype Wendung durch geringfügige Variation einen konkret auf den Kontext zugeschnittenen Sinn bekommt, und den Variationen bei Wiederholungen weitgehend ähnlicher Verse, 157 I. de Jong, Narrators and Focalizers. The Presentation of the Story in the Iliad, Amsterdam 1987. Über die Arbeiten von de Jong wird im Kapitel zur Narratologie ausführlicher gehandelt werden.
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bei denen der Kontext dem jeweiligen Wortlaut einen je anderen interpretatorischen Sinn gibt; ein ähnliches Ergebnis wird bei der Diskussion von Formel und Kontext erzielt. Nach d e J o n g war sich Homer seiner Technik also durchaus bewußt: An bestimmten wichtigen Stellen wich er von dieser Technik ab, da sie ihm für den jeweiligen Zusammenhang allzu blasse Formulierungen anbot. Aus d e J o n g s Art der Betrachtung des Homertexts resultieren so ausgesprochen erfolgversprechende Deutungsperspektiven. Eine Untersuchung zur Fortsetzung der epischen Formelsprache über Homer hinaus hat F. F e r r a r i 1986 vorgelegt (1327). Während G. Nagy für Sapphos Epithalamion von Hektor und Andromache (frg. 44 V.) die These formuliert hatte, daß homerische und sapphische Formeln aus der gemeinsamen Quelle epischer Formelsprache erklärt werden können158, hat F e r r a r i durch genaue Analyse wahrscheinlich gemacht, daß Sappho in nahezu allen von Nagy angeführten Fällen (acht von neun) bewußt auf homerische Formeln angespielt hat, um den Kontext dieser Formeln zur Verdeutlichung ihrer darstellerischen Absicht nutzbar zu machen. 8. Orale Tradition konkret im Homertext a. Grammatik Daß der traditionell-orale Stil auf die Formenlehre der homerischen Epen einen nicht unerheblichen Einfluß hat, darf nach den Arbeiten von H. Düntzer, K. Witte, K. Meister und Parry als gesicherte Erkenntnis gelten. Bei der Syntax ist diese Erkenntnis in geringerem Maße gesichert, da es nur wenige Arbeiten gibt, die diesen Aspekt zum Thema haben. Dennoch weist die homerische Grammatik eine Fülle von syntaktischen Abweichungen von der späterer Autoren auf; diese Abweichungen sind sowohl in der antiken wie auch modernen Textexegese in der Regel als bewußte inhaltliche Hervorhebung interpretiert worden. Wie syntaktische Muster aus der oralen Tradition zu bestimmten Anomalien geführt haben, hat F. F e r r a r i anhand einiger Passagen aus dem θ (1325) untersucht. Das erste Beispiel hat den Beginn dieses Buches zum Thema. Hier wird zunächst dargestellt, wie sich Alkinoos und Odysseus vom Schlaf erheben und anschließend zur Versammlung gehen. Danach tritt Athene in der Gestalt eines Herolds ›mitten unter sie‹ (μετώιχετο). Das Objekt ihrer Handlung ist syntaktisch nicht genannt, aber der Kontext verweist auf Odysseus und Alkinoos. Die Fortsetzung zeigt jedoch, daß das Objekt die an der Versammlung beteiligten Phäaken sind. Daß hier eine typische Szene im Hintergrund anzunehmen ist, zeigt F e r r a r i daran, daß es für das Herantreten eines Herolds an eine Gruppe etliche Parallelen gibt. Ähnlich verläuft die Argumentation zu θ 167–181, zum Widerspruch zwischen 103 f. und 246–249, zur Junktur ἔργ' ἀγέλαστα in 307 und zum Zeitaspekt in 315–317. Schließlich seien die von Aristarchs athetierten Verse Θ 73–74 (V. 70: κῆρε, sc. das kollektive Todes 158 Comparative Studies of Greek and Indic meter, Cambridge, Mass. 1974, 118–139.
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verhängnis beider Seiten, also der Achaier und der Troer; V. 74: κῆρες, sc. die einzelnen Todesverhängnisse der Krieger) eher als Richtigstellung des Dichters für einen sonst nicht gebräuchlichen Gedanken von einem kollektiven Todesverhängnis zu verstehen. Diese nachträgliche Variation zur Richtigstellung (autocorrezione) sei ebenfalls ein Element aus dem Repertoire eines mündlichen Dichters. Eine umfangreiche Studie im Zusammenhang mit der Grammatik stellt die bei den Amsterdamer Indogermanisten C. M. J. Sikking und C. J. Ruijgh entstandene und 1988 publizierte Dissertation von E. J. B a k k e r (1265) dar; Ausgangspunkt ist die Partikel περ. Im ersten Teil seiner Arbeit analysiert B a k k e r die Belege für diese Partikel nach semantischen Kriterien und findet drei Bedeutungsbereiche von περ: 1. ›Skalarität‹ (scalarity), also die sprachliche Wiedergabe solcher Phänomene wie Quantifizierung, Abstufung, Vergleich oder Intensivierung. B a k k e r verwendet den Begriff zur Bezeichnung einer Höchststufe innerhalb einer Skala, die in den homerischen Epen neben Superlativformen auch durch die Partikel περ (im späteren Griechisch: καί) ausgedrückt sein kann. 2. ›Einräumung‹ (concession). Diese entstehe immer bei der Verbindung von περ mit der Satzaussage, wie B a k k e r an dem Beispiel even Achilles (the least likely person to do so) feared the battle deutlich macht. 3. ›Prototypizität‹ (prototypicality). Schließlich zeige περ auch an, daß der so bezeichnete Begriff für seine Gattung besonders charakteristisch ist. Nach diesen einleitenden Anmerkungen, die, durch viele Textbeispiele belegt, mehr als die erste Hälfte des Buches umfassen, geht B a k k e r im zweiten auf die Formelhaftigkeit im Bereich der Partikel περ ein. Von besonderer Bedeutung ist hier der Ansatz, daß B a k k e r die Formel nicht als Grundlage, sondern als Ergebnis der mündlichen Versbildungstechnik ansieht. Er konzentriert sich daher auch bei der Verwendung von περ auf Belege, in denen ein direkter Bezug auf den Kontext, wie er in der vorangegangenen Klassifizierung als Grundlage der semantischen Verwendung angenommen werden könne, nicht zu erkennen sei; diese Verwendung nennt B a k k e r peripheral. Sie lasse sich aus einer semantischen Integration innerhalb einer Formel als semantische Redundanz erklären, um Begriffe metrisch besser handhabbar zu machen, indem sie durch Zusätze den üblichen Kolonlängen angepaßt werden. Das sei besonders gut bei der Gruppe ›Partizip + περ‹ zu beobachten. Unter den Arbeiten zur Syntax ist der 1994 veröffentlichte Aufsatz von S. R. S l i n g s (1511) von besonderer Bedeutung, da der Verfasser hier plausibel zu machen versteht, daß syntaktische Besonderheiten nicht der Lesersteuerung dienen, sondern als Resultate einer in der Oralität wurzelnden Grammatik zu deuten sind; davon ausgehend hat er die Erstellung einer solchen Grammatik für Homer gefordert. Für diese können seine Beobachtungen in der Tat einen guten Anfang bilden. Als einleitendes Beispiel nimmt S l i n g s die Verse Ο 346–349: Ἕκτωρ δὲ Τρώεσσιν ἐκέκλετο μακρὸν ἀύσας νηυσὶν ἐπισσεύεσθαι, ἐᾶν δ' ἔναρα βροτόεντα· »ὃν δ' ἂν ἐγὼν ἀπάνευθε νεῶν ἑτέρωθι νοήσω,
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αὐτοῦ οἱ θάνατον μητίσομαι· … Den zwischen 347 und 348 eingetretene Wechsel von der indirekten zur direkten Rede hat Ps.-Longinus in De Sublimitate 27.1 als eine ἐκβολή τις τοῦ πάθους, ein Hervorbrechen von Pathos, und damit als ein σχῆμα, als Stilfigur, gedeutet. Dagegen sieht S l i n g s in diesem Wechsel ein Element oraler Grammatik, einer Grammatik, die weniger an syntaktischen Regeln als an pragmatischen, kommunikativen Strategien orientiert sei, man könnte Parry folgend auch sagen: Die durch ihre Produktionsbedingungen einem bestimmten Pragmatismus unterworfen sind. Diesen Ansatz nimmt S l i n g s als Grundlegung für seine Forderung nach der Erstellung einer oralen Grammatik, deren wesentliches Merkmal das Bestreben nach Vereinfachung – und damit metrisch leichter handhabbaren, weil vertrauten – Strukturen ist. Als weitere instruktive Beispiele für die Funktionsweise dieser Grammatik werden angefügt: 1. Wechsel innerhalb eines Nebensatzgefüges in den Hauptsatz, 2. fehlender Hauptsatzanschluß nach vorausgehendem Nebensatz (etwa nach ἐπεὶ …, δὲ … / εἰ …, δὲ … / ὅτε …, δὲ … / ἐπεὶ …, καὶ … / Relativpronomen + δὲ …), 3. im selben Satz Wechsel von der Beschreibung zum Beschriebenen, 4. Kasusverschiebungen bei Partizipien und Appositionen. Den Aufsatz beschließt eine Liste von Kriterien, die in der Erstellung einer oralen Grammatik von der späterer, mit Verwendung von Schrift arbeitender Dichter darzustellen wären. Zusammengefaßt stellt S l i n g s ’ Aufsatz eine wichtige hermeneutische Warnung für die Deutung des Homertexts dar: Nicht alles, was nach späterer Grammatik ein interpretationswürdiger Spezialfall zu sein scheint, ist von Homer auch als ein solcher konzipiert worden. Ein weiterer Beitrag zur Syntax stammt von B. J a c q u i n o d , der in seinem Beitrag zum Grenobler Parry-Kongreß (1383) noch einmal explizit darauf verweist, daß die oral-poetry-Theorie für die Erforschung der homerischen Syntax kaum thematisiert sei. Um hier Fortschritte zu erzielen, wählt er die Verwendung des doppelten Akkusativs in Verbindung mit Verben des Sprechens aus, die vor allem in Redeeinleitungen belegt ist. Auf der Basis seiner älteren Untersuchung zum doppelten Akkusativ im Griechischen bis zum Ende des 5. Jahrhunderts159 kann J a c q u i n o d feststellen, daß diese Konstruktion bei Homer dreimal häufiger vorkommt als bei anderen Autoren. Seine Analyse zur Formelhaftigkeit des bei Homer häufig anzutreffenden σχῆμα καθ' ὅλον καὶ μέρος führt zu dem Ergebnis, daß eine formelhafte Einbettung nicht feststellbar sei. Der Vergleich mit der Verwendung dieser Konstruktion in den Argonautika des Apollonios, wo dieses Syntagma fünfmal seltener verwendet werde als in der Ilias, zeige eindeutig, daß jedenfalls in diesem Punkt Homers Syntax von Formelhaftigkeit unabhängig ist. Ausgehend von der Frage, wie Homer in der Tempusgebung seine Geschichte erzählt, hat sich schließlich noch E. B a k k e r in einem Aufsatz von 1999 mit 159 Le double accusatif en grec, d’Homère à la fin du Ve siècle avant J. C., Louvain 1989.
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spezifischen Kriterien oraler Darstellungstechnik beschäftigt (1272; die Grundlage hatte er zuvor in vier Arbeiten [1267, 1269–1271; s. oben S. 142–144]) entwickelt. Die Tempusgebung verweise darauf, daß es dem Dichter der Ilias nicht darum gehe, vergangene Ereignisse auch als vergangen darzustellen, sondern diese als gleichsam lebendig zu reaktivieren. Zu diesem Zweck analysiert B a k k e r die Funktion der Partikel ἄρα, des Verbs μέλλειν und die Funktion des Augments. Man kann vielleicht bei dem zweiten Thema semantische Funktionalität annehmen, doch sollte bei der Verwendung von ἄρα höchstens eine allgemeine Evidenzfunktion vermutet werden, da es eine enorme Fülle an Belegen gibt, in der eine metrische Funktion weitaus näherliegt. Die Annahme einer semantischen Funktionalität des Augments steht dann völlig im Widerspruch zu Parrys Theorie: Sollte B a k k e r in diesem Punkt Recht haben, wäre die Bedeutung der Metrik und damit die Annahme einer auch von versifikatorischer Praktikabilität beeinflußten Gestaltung der homerischen Verse nur noch schwer haltbar. b. Begriffe, Verse, Szenen Bei den konkreten Textdeutungen, in denen ein interpretatorisch relevanter Einfluß der Tradition bzw. Oralität auf die Struktur oder die konkrete Ausgestaltung angenommen wird, sind nicht immer alle Gedankenführungen überzeugend, aber es ist doch augenfällig, daß sich ohne Blick auf einen traditionell-oralen Hintergrund etliche Fragestellungen nicht ergeben hätten. Zu Beginn des Berichtszeitraums hat F. R. R a n d a l l in einer Dissertation an der Princeton University (1476) die Wiederholungen von Wörtern, Ausdrücken und Abschnitten bei Homer untersucht. Bezugnehmend auf die Arbeiten von Adam Parry und Ann Amory Parry, die in der homerischen Diktion einen hohen Grad von individueller Wortwahl auch im engeren Erzählkontext erkennen160, führt er diese Untersuchung an fünf Bereichen durch: (1) der Verwendung der Epitheta in Verbindung mit dem Begriff ›Tränen‹ (θερμός, τέρης, θαλερός), (2) der erzähltechnischen Funktion des Begriffs ›Hirsch‹, (3) dem Adler-Hase-Gleichnis in Ρ 673–681, (4) der Beziehung zwischen kleinen Kindern und jungen Tieren sowie (5) Ermüdung und Unermüdlichkeit. Bei der Verwendung von θερμός sieht R a n d a l l eine spezielle Beziehung zur Figur des Patroklos, die darin begründet sei, daß Wärme für Mitgefühl und Beistand steht, mithin für diese Figur besonders passend sei. Dagegen sei die Verwendung von τέρης mit einer Eltern-/Kindbeziehung assoziiert, θαλερός mit Patroklos und Hektor. Diese Befunde erkennt der Autor nur in der Ilias, für die Odyssee könne ein vergleichbares Ergebnis nicht postuliert werden. Bei der Analyse dessen, wofür der Hirsch in der Ilias steht, ergeben sich nach R a n d a l l die Assoziationsfelder von einerseits ›Feigheit‹ und ›Schwäche‹, andererseits ›Sympathie‹. Die Deutung des Gleichnisses im Ρ verweise in Verbindung mit dem Gleichnis vom Adler und Hasen darauf, daß Menelaos als Verursacher des Krieges um 160 Vor allem: A. Parry, Have We Homer’s Iliad? (s. Anm. 125); A. Amory Parry, Blameless Aegisthus, Leiden 1973.
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Troia für Patroklos’ Tod Verantwortung trage. Im Abschnitt zum Verhältnis von Kindern zu kleinen Tieren versucht R a n d a l l deutlich zu machen, wie an wiederholten Formulierungen und Gleichnissen deutlich wird, daß die Griechen Verantwortung für den Tod von Kindern tragen, die die Troer nicht zu schützen vermögen. Im letzten Abschnitt wird die Verwendung des Wortfeldes κάμνω behandelt: Hier werden die Ermüdungserscheinungen von Kämpfern wie Achilleus, Aias und Diomedes in Kontrast zur Unermüdlichkeit des Feuers gesetzt Während so im ersten Argumentationsgang ein die Parry’sche Theorie betreffendes Ergebnis (situationsspezifische Funktionalität bestimmter Epitheta) erzielt wird, haben die weiteren Kapitel die imagery, die Bildvorstellung zu den jeweiligen Begriffen zum Thema. Man kann R a n d a l l s Deutungen durchaus beipflichten, doch sind die Kapitel 2 bis 5 im Grunde Deutungen, in denen die Frage der Versifikationstechnik und der Oralität keine Rolle mehr spielt. Höchstens kann festgestellt werden, daß die Gleichnisse dem Leser/Hörer dabei helfen, die jeweiligen Charaktere besser in ihrem Handeln zu verstehen, aber ein solches Ergebnis wäre nicht neu. 1979 hat A. A l o n i drei Verse am Beginn des Σ, also des Gesanges, in dem Achilleus wieder aktiv in das Handlungsgeschehen eingreift, unter dem Gesichtspunkt ihrer Formelhaftigkeit in den Blick genommen (1264). Behandelt wird hier zunächst Σ 2: Ἀντίλοχος δ' Ἀχιλῆι πόδας ταχὺς ἄγγελος ἦλθε. Dieser Vers weist eine ungewöhnliche Wortstellung auf: πόδας ὠκύς, üblicherweise ein Epitheton zu Achilleus, wird hier, zu dem prosodischen Schema | ∪ — ∪ ∪ | (πόδας ταχύς) modifiziert, dem Antilochos beigefügt. Damit werden beide Figuren außer durch die Kontaktstellung (Achilleus’ Name neben dem des Antilochos und dem Epitheton ›fußschnell‹) auch im Hinblick auf ihre Schnelligkeit eng miteinander verbunden. Die Verbindung ἀνὰ θυμόν gegenüber dem häufigeren κατὰ θυμόν in Σ 4 deutet A l o n i im zweiten Teil des Aufsatzes als Resultat metrischer Notwendigkeit, im dritten Teil wird ein ähnliches Ergebnis bei den Formelversen des Typus ὀχθήσας δ' ἄρα εἶπε πρὸς ὃν μεγαλήτορα θυμόν festgestellt. Mit der Formelhaftigkeit in den Gleichnissen hat sich W. B. I n g a l l s in einem Aufsatz von 1979, basierend auf seiner unpublizierten Dissertation der Universität Toronto von 1971161, auseinandergesetzt (1381). I n g a l l s geht für seine Analyse ebenfalls von Hainsworths Formeldefinition a recurrent word-group aus, die er dann auf die ersten 100 Verse des A, also einen narrativen Text, umsetzt. Vers für Vers werden die wiederholten Wortgruppen, in ihrer Länge nach Moren gezählt, aufgeführt und statistisch ausgewertet. Analog wird dann mit Gleichnissen verfahren, im ganzen 11 (Β 87–94, Γ 10–14, Γ 23–29, Ε 87–94, Ε 137–143, Ζ 506–516, Λ 172–180, Λ 473–484, Λ 492–501, Λ 548–557, Μ 278–289). Die Zahlen würden eindeutig darauf hinweisen, daß die Ilias in ihnen »a uniform formular texture« (S. 105) offenbare, die freilich nicht völlig auf formelhaft vorgegebene Formulierungen hindeute; vielmehr ließen sich in beiden Textsorten, Erzählung und Gleichnis, linguistisch Spätes 161 Studies in Homeric Formulae: Linguistic Lateness and Formular Irregularity in the Homeric Iliad, Toronto 1971.
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und Formelmodifikationen nachweisen. Die Beweiskraft hängt hier natürlich an der Formeldefinition, doch scheinen I n g a l l s Befunde im ganzen doch in die richtige Richtung zu weisen, daß nämlich das Ausmaß formelhafter Prägung innerhalb des gesamten Ilias-Texts nicht signifikant differiere. Derselbe Autor hat drei Jahre später das sprachliche Profil der mythologischen Paradeigmata der Ilias analysiert (1382). Zu diesen hatte M. M. Willcock 1964 überzeugend dargelegt162, daß der Dichter bestimmte Details neu erfunden habe, um so seiner erzählerischen Absicht (narrative purpose) angemessenen Ausdruck zu verleihen. I n g a l l s kann zeigen, daß auch die sprachliche Form wiederum auf Grund der Verwendung von linguistisch späten Formen und Formelvariationen dieser Deutung entspricht; das wird in der anschließenden Appendix zu Formen und Formelvarianten überaus deutlich. F. F e r r a r i hat 1985 durch eine umfassende stilistische Analyse von Andromaches Klagerede im Anschluß an die Tötung des Hektor (X 477–514) gezeigt, daß die mündliche Entstehung eines Texts auch kontextspezifische Verwendung von Formen und Wörtern zulasse und auf diese Weise eine »rete di corrispondenza« (S. 9) entstehe (1326). F e r r a r i s Analyse der Stilmittel – unter ihnen ein Chiasmus, häufige Wordrekurrenzen, Querverweise, Assonanzen oder Zentrierung des Texts um einen Kernbegriff – zeigt, wie sehr dieser Text phonetisch/semantisch (»fonico-semantica« [S. 11]) eine Einheit unter dem Stichwort ἰῆι … αἴσηι (477) darstellt, die Einheit des Geschicks von Andromache und Hektor. Diese Einheit trage eine Art von Zauber – F e r r a r i verwendet den Begriff κηληθμός – in sich. Eine Analyse von Priamos’ Bittrede an Hektor (X 38–76) zeige dasselbe Resultat. Wichtig dabei ist, daß F e r r a r i eine solche rhetorische Ausgestaltung auch in Verbindung mit oraler Genese des Texts für möglich hält, indem er von einer strukturellen, ja geometrisierenden Anordnung der Worte spricht, die sich ein Sänger durch eine lange Ausbildung angeeignet habe. Es müsse also für Ilias und Odyssee nicht zwangsläufig eine schriftliche Komposition angenommen werden, zumal sich diese Epen in einem ständigen Prozeß von »creazione e ri-creazione« (S. 16) befunden hätten. Für F e r r a r i s Modell einer sich anhand einzelner Begriffe vorwärts entwickelnder Textproduktion spricht einiges, doch ist nicht alles in seiner Beweisführung plausibel, wenn man einbezieht, welche Herausforderungen eine sprachlich-metrisch weitgehend korrekte improvisierende Versbildung stellt. Den gleichen Ansatz hat F e r r a r i auch in den Sammelband Oralità ed espressione: ricognizioni omeriche ein Jahr nach dem Erscheinen des eben erwähnten Aufsatzes weiterverfolgt und ausgebaut (1328); hier sind vier bereits zuvor erschienene Aufsätze mit einigen z. T. substantiellen Erweiterungen zusammengefaßt. Im ersten Aufsatz mit dem Titel Testi o non testi geht F e r r a r i auf die Frage ein, wie man in schriftlicher Form nachgeahmte oral poetry (z. B. die Batrachomyomachie) von originärer unterscheiden könne. Hierzu verweist er auf die Kriterien in dem Buch The Winged
162 M. M. Willcock, Mythological Paradeigma in the Iliad, CQ 14, 1964, 141–154; wieder abgedruckt in: D. L. Cairns (Hrsg.), Oxford Readings in Homer’s Iliad, Oxford 2001, 435–455.
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Word von B. Peabody (Albany N. Y. 1975), das freilich höchst umstritten ist163. F e r r a r i definiert danach den Begriff ›Text‹ als »un prodotto definitivo«, welches »in ogni caso è fissato una volta per sempre« (S. 15) sei. Der non-testo ist dagegen als allmähliches Vorangehen innerhalb eines verbalen Flusses »imperfetto, mai finito«. Als Beleg folgen die Analysen von Andromaches Klage (X 477–514) und Priamos’ Bittrede (X 33–89), anhand derer F e r r a r i zeigen will, wie ein verbaler Fluß entsteht, der den mündlichen Sänger von Formulierung zu Formulierung führt. Auch der Aspekt der autocorrezione wird wieder erwähnt. Methodisch gleich angelegte Analysen weiterer Abschnitte folgen. Im zweiten Artikel wird die Beweisführung anhand von Π 49–100 und des θ in analoger Form fortgesetzt, während der dritte Artikel der Wirksamkeit der Diktion in der Begegnung zwischen Diomedes und Aphrodite im E gewidmet ist – hier erkennt F e r r a r i ironisches Amüsement auf Seiten des Dichters – und den Reden von Priamos und Hekabe in X 405–436, bei dem das Wortfeld ›Klage‹ gleichsam steuernd wirkt. Den Abschluß bilden Anmerkungen zur sog. Fortsetzung der Odyssee (ψ 297 – ω 548). Auch hier sieht F e r r a r i das Prinzip der autocorrezione am Werk. Obwohl es schwerfällt, in F e r r a r i s Modell mündlicher Textgenese alle tiefgründigen Deutungen als zutreffend anzusehen, gibt es in dieser Arbeit doch eine Fülle von Interpretationen, die es verdienen, Beachtung zu finden. In Ψ 226 ist zur Beschreibung eines Tagesanbruchs der Ausdruck φόως ἐρέων (Subjekt ist der ἑωσφόρος) belegt, was üblicherweise als ›um Licht anzusagen‹ verstanden wird. A. C h r i s t o l (1293) hat hier vorgeschlagen, statt des ἐρέων eine Form ἐρύων anzunehmen, wodurch die Aussage ›um Licht über die Erde zu ziehen‹ entstünde. Er stützt diese Annahme auf indogermanische, vor allem vedische Parallelen, in denen die Vorstellung ›den Schleier der Nacht ziehen‹ erkennbar ist; dann wäre hier ein traditioneller Ausdruck anzunehmen, der aber von späteren Sängern oder Homerexegeten nicht mehr verstanden wurde und aus diesem Grund umgedeutet wurde. Gegen C h r i s t o l s Vermutung spricht allerdings der Ausdruck ἀγγέλλων φάος in ν 94: auch hier wird in Verbindung mit der Aussage vom Aufgang des Morgensterns ein Verb des Sprechens oder Ansagens verwendet. Mit dem Formelvers ἄνερες ἔστε, φίλοι, μνήσασθε δὲ θούριδος ἀλκῆς (siebenmal in der Ilias, davon fünfmal Hektor und je einmal Aias und Patroklos in den Mund gelegt) hat sich V. D i B e n e d e t t o in der 1987 erschienenen Festschrift für B. Gentili befaßt (1310). Mit Hinweis auf den jeweiligen Kontext kommt er zu dem Schluß, daß dieser wahrscheinlich in der mündlichen Tradition vorgegebene Vers in der Ilias spezifisch für jeweilige Figuren, insbesondere für Hektor verwendet wird. Damit lasse sich erneut ein zunächst traditionell erscheinendes Element im Homertext einer neuen Deutungsebene zuführen – von D i B e n e d e t t o als riappropriazione bezeichnet –, nämlich der Charakterisierung einer Figur zu dienen. In einer Miszelle im Hermes von 1988 hat R. F r i e d r i c h die Frage aufgeworfen, ob θεῶν ἔριδι (A 8, Y 66) als Formel angesehen werden kann (1359). Er zeigt, daß die Parry’sche Definition der Formel (›regelmäßig verwendete Wortgruppe unter den 163 S. die Rezension von M. L. West, Phoenix 30, 1976, 382–386.
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selben metrischen Bedingungen zum Ausdruck eines bestimmten Gedankens‹) hier nicht zutreffen kann, insbesondere weil das θεῶν im A anders als im Y nicht auf ἔριδι zu beziehen ist, sondern auf das τίς am Versanfang. Insofern könne manches, was auf den ersten Blick formelhaft zu sein scheint, bei näherem Hinsehen, entweder auf den genauen Wortlaut oder den Kontext, nicht in dieser Weise bezeichnet werden. In der Nekyia spricht Odysseus den Achilleus mit den Worten ὦ Ἀχιλεῦ, Πηλέως υἱέ, μέγα φέρτατ’ Ἀχαιῶν an (λ 478), ein offenbar zur Gänze formelhafter Wortlaut, der sich auch in Π 21 und Τ 216 findet. Daß auch ein solch formelhaft erscheinender Vers eine inhaltlich höchst anspruchsvolle Aussage enthalten kann, hat N. P o s t l e t h w a i t e in einem kurzen Aufsatz (1464) gezeigt. Bezieht man nämlich diese drei Verse aufeinander, ergibt sich eine Umkehrung in der Bewertung der Figuren des Agamemnon und des Achilleus: Während sich Agamemnon noch im A φέρτερος gegenüber Achilleus bezeichnet, nimmt er es in der Nekyia unwidersprochen hin, daß für Odysseus nun Achilleus φέρτατος ist. Um einen Autor sinnentsprechend in eine andere Sprache übersetzen zu können, bedarf es des Wissens um die spezifische Verwendung der Sprache bei dem betreffenden Autor. In Verbindung mit der homerischen Sprache und dem Einfluß, den die orale Tradition offenbar auf sie hatte, ist diese Forderung in besonderem Maße von Bedeutung. Am Beispiel der Formel χρυσόθρονος Ἠώς hat G. A. P r i v i t e r a die damit gegebene Problematik näher beleuchtet, also gefragt, was ›goldthronend‹ in Zusammenhang mit der Göttin der Morgenröte für Homer bzw. sein Publikum genau bedeutet haben könnte (1475). Auf Grund der mit der oral poetry gegebenen stilistischen Redundanz stehe der Übersetzer vor der Wahl, ob er die Tatsache betonen soll, daß das Möbelstück aus reinem Gold gefertigt ist (χρυσόθρονος) oder daß es sich um einen Thron als Sitz (χρυσόθρονος) handele oder daß dieser Thron aus Gold besteht, mit dem Eos wegen des optischen Eindrucks der Morgenröte verbunden ist (was im Italienischen in der Verbindung von Aurora und aureo auch eine Art von Wortspiel ermöglicht, das aber im Original nicht gegeben ist). P r i v i t e r a verweist richtig darauf, daß für eine Festlegung in einer Übersetzung das Verständnis des antiken Publikums als auch die modernen Deutungen heranzuziehen seien; daher seien andere Komposita von -θρόνος in antiker Literatur, vorzugsweise Homer, heranzuziehen. Da Sappho und Bakchylides mit Eos die Epitheta χρυσοπέδιλος bzw. χρυσόπαχυς verbinden, hat offenbar der Hinweis auf das Gold gegenüber einer allgemeinen Betonung von Kostbarkeit geringere Bedeutung. Moderne Homerkritik würde dagegen eher auf die in beiden Teilen generell verblaßte Bedeutung des Epithetons hinweisen. Nach einer Diskussion der fünf Möglichkeiten, χρυσόθρονος Ἠώς ins Italienische übersetzen, entscheidet sich der Autor für Aurora dall’aureo trono. Den Versuchen, aus den Angaben in der Odyssee so etwas wie ein ›homerisches Haus‹ im Sinne eines Palasts – z. B. der Herrschersitz (δόμος, μέγαρα) des Menelaos, Alkinoos und Odysseus – oder einer Hütte (κλισίη) – des Eumaios – zu rekonstruieren, hat J. P i n s e n t 1990 eine nachdrückliche Absage erteilt (1459). Schon der Titel gibt sein Fazit wieder: »There is no Homeric House, there are only Homeric House Formulae«. In der Tat ist es offenbar nicht möglich, das Bild, welches Homer bei den jeweiligen Stellen und Termini vor Augen hatte, konsequent stimmig zu
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rekonstruieren. Dieser Befund gilt für nahezu sämtliche Begriffe wie den Ausdruck προπάροιθε θυράων (für die Frage, ob die Türen von innen oder von außen gesehen vorzustellen sind, dürfte vermutlich der jeweilige Kontext entscheidend sein), als auch für konkrete Bezeichnungen in ihrem Verhältnis zueinander wie αὐλῆς οὐδός, πρόδομος, πρόθυρον, αὐλή, αἴθουσα oder ὀρσοθύρη. Im jeweiligen Kontext ist die Verwendung in sich schlüssig, aber bei der Verbindung zweier oder mehrerer Kontexte kann P i n s e n t so viele Ungereimtheiten aufzeigen, daß sich ein stimmiges Gesamtbild nicht erkennen läßt. Formelhafte Ausdrücke scheinen hier die jeweilige Verwendung zu dominieren, und man kann P i n s e n t angesichts der Fülle an Belegen zustimmen, wenn er auf S. 89 zu αὐλή und μέγαρον sagt: »It is an imaginary αὐλή and it can contain at any particular moment just what the poet then wants it to contain, just as the μέγαρον contains such rooms and doors at any time as are convenient or necessary for the action at that moment.« An fünf Stellen der Ilias ist der Vers || – ∪ ὁ δ' ἐν κονίηισι πεσὼν ἕλε γαῖαν ἀγοστῶι || belegt (Λ 425, N 508, Ν 520, Ξ 452, Ρ 315), mit dem R. P e d r e r o S a n c h o sich in einem Aufsatz von 1989 befaßt hat (1456). Hierbei gilt ihr Augenmerk zunächst dem Wort ἀγοστῶι, für Homer üblicherweise mit ›Hand‹ übersetzt. Nach einem kurzen Blick auf die erfolglosen etymologischen Deutungsversuche deutet sie das Wort im Rahmen eines Formelkontexts von Todesbeschreibungen, in denen immer von einem krampfenden Ergreifen des Bodens mit Hand oder Zähnen die Rede ist. Allerdings hätten die anderen Formeln im Subjekt immer einen Plural und fänden sich im Unterschied zu ἕλε γαῖαν ἀγοστῶι nicht in direkten Reden, sondern im Erzähler-Text. So bestehe in der Aussage der Formeln selbst kein semantischer Unterschied, der ihre Verwendung determinieren würde; ihre Verwendung sei vielmehr aus narratologischen Gründen zu erklären. J. R u s s o hat – wie zuvor schon Di Benedetto (1309) – zwei weitgehend, z. T. wörtliche parallele Passagen in der Odyssee behandelt (1483), nämlich die Beschreibung des Ortes an der Küste von Scheria, wo sich Odysseus nach seiner Rettung aus dem Sturm verbirgt (ε 478–483), und des Verstecks, in dem der Keiler lauerte, der dem Odysseus als jungem Mann seine Narbe beibrachte (τ 440–443). R u s s o deutet dann insbesondere die Szene der Jagd auf den Keiler als ein von vielfältigen Symbolen begleitetes Handeln, wobei er auch eine Etymologie von Odysseus’ Namen miteinbezieht, der er als giver of pain (S. 53) deutet. Man mag bei diesem und anderen Aspekten skeptisch sein, entscheidend ist aber, daß es R u s s o mit diesem Vergleich gelingt, den Parry’schen Ansatz der Formelhaftigkeit in Richtung einer poetischen Interpretierbarkeit zu erweitern. Die wörtlichen oder fast wörtlichen Wiederholungen binden beide Szenen zusammen und was in ihnen ausgesagt wird, weist auf den Aspekt der Selbstfindung des Odysseus hin. Im ε ist noch soviel Leben in ihm, daß er wieder der werden kann, der er vor Antritt der Heimfahrt war, im τ wird er zu dem Helden, der er bis zum Antritt der Heimfahrt war. Ob man mit R u s s o von Geburt und Wiedergeburt oder Erneuerung sprechen muß, sei dahingestellt; sein Aufsatz zeigt jedoch, daß in solchen Querverbindungen vieles von Homers Individualität deutlich wird und daß eben nicht die Tradition bestimmt, was den literarischen Wert von Ilias und Odyssee ausmacht.
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Der Vokativ und seine poetische Funktion sind das Thema eines Beitrags von A. K a h a n e für den Grenobler Parry-Kongreß (1389). Er geht von der These aus, daß Vokative in einem Erzählkontext klar markierende Funktion haben. So zeige für die Ilias schon die verschiedene Gestaltung der Anrede von Achilleus und Agamemnon eine deutliche Diskrepanz: Während Agamemnon entsprechend seiner Funktion als oberster Heerführer einen ganzen Vers als Anrede erhält (Ἀτρεΐδη κύδιστε, ἄναξ ἀνδρῶν Ἀγάμεμνον, elfmal), sind die Formeln bei Achilleus deutlich kürzer. Das eigentliche Thema sind dann aber die Verspositionen, an denen Vokative zu finden sind, und für diese nimmt K a h a n e eine besondere inhaltliche Markierung an; generell sei ja in den meisten Sprachen die Satzposition eines Vokativs semantisch signifikant. K a h a n e stellt dann fest, daß es bei Homer eine deutliche Tendenz (fast 50 %) gebe, Vokative von Personennamen (PNV) an den Versanfang zu setzen. Ein Drittel werde an den Versschluß gesetzt, die Position in der Versmitte sei dementsprechend selten. Daraus folgert der Autor, daß die geläufigste Position die am wenigsten markierte sei, die Position am Versende die am stärksten. Das paßt freilich nicht genau zu den Zahlen, denn dann müßten die Positionen mit der stärksten Markierung in der Versmitte liegen; daher werden diese Positionen als Resultate von »special illocutionary circumstances« angesehen. Anschließend werden von K a h a n e konkrete Fälle besprochen. Da die Vokative zu Achilleus und Odysseus fast ausschließlich am Versende plaziert sind, könnten diese Formen als ›markiert‹ gewertet werden. Zu dieser These wird hier etwas ausführlicher Stellung genommen, da K a h a n e in seinem Buch The Interpretation of Order164 weitreichende Konsequenzen für die homerische Poetik daraus ableitet. Sie würde zunächst einmal Parrys Theorie grundsätzlich in Frage stellen: Wenn die Auswahl der Formen Ἀχιλλεῦ bzw. Ὀδυσσεῦ – und nur die sind am Versende metrisch möglich – aus einer semantischen Intention abzuleiten ist, wäre die Annahme, metrische Varianten seien der improvisierten Versgenese geschuldet, hinfällig. Das wäre umso problematischer, als zwischen Ὀδυσσεύς und Ὀδυσεύς kein semantischer Unterschied besteht; metrische Praktikabilität kann als Interpretationskriterium wohl nirgendwo eher angenommen werden als bei diesen Varianten. Dessen ist sich K a h a n e offensichtlich bewußt, daher trennt er hier zwischen produktions- und rezeptionsästhetischer Deutung: Auf der Ebene des Autors sei die Plazierung von Ἀχιλλεῦ bzw. Ὀδυσσεῦ »intimately linked to technical requirements of oral verse making, but at a reception level it is one of the ›marks‹« (S. 254). Sollte diese Deutung zutreffen, hieße das, der Effekt einer Gewöhnung an die formalen Besonderheiten der epischen Sprache sei beim Publikum nicht eingetreten, doch es war ja gerade dieser Effekt, der Parry dazu veranlaßt hat, seine Theorie der traditionellen Prägung des homerischen Stils zu entwickeln (s. dazu S. 124). K a h a n e setzt seine Anmerkungen auf dieser Ebene weiter fort. So soll etwa die überwiegende Schlußstellung von Πηνελόπεια diese als eine Figur kenntlich machen, die zu Odysseus gehört und paßt. Telemach hingegen sei noch zu jung und unerfahren, um einer solchen Endplazierung im Vers gewürdigt zu werden. Menelaos, Patroklos 164 Oxford 1994. Vgl. dazu die Anmerkungen in Kap. IX (Erzähltechnik).
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und Eumaios seien durch die Positionierung ihrer Vokativformen als mitfühlende und verletzbare Antithesen zu Agamemnon, Achilleus und Odysseus charakterisiert. Wenn K a h a n e am Ende fragt, ob Homer das alles wußte – gemeint ist wohl: diese Plazierungen der Vokative ganz bewußt vorgenommen hat –, plädiert er auch mit Hinweis auf Parry (MHV 20), daß es unbewußt geschah; es geschah, »because he heard the rhythm« (S. 261). Dem kann man zustimmen. Ob aber das Publikum auf Grund des Rhythmus sehr viel bewußter zuhören konnte, darf bezweifelt werden. Das Argument einer Vergleichbarkeit mit der Reaktion eines Kinopublikums auf das Stakkato-Motiv in der Musik von Steven Spielbergs Film ›Der weiße Hai‹ (S. 255) ist wenig überzeugend, denn dieses Motiv hat eine zentrale Funktion für die Rezeptionssteuerung – vergleichbar den Leitmotiven bei Richard Wagner – und ist von den Produzenten des Films bewußt so geplant worden. Ebenfalls 1997 hat A. K a h a n e zu erklären versucht, in welcher Form die homerische Dichtung als oral poetry das Textverständnis des Publikums gesteuert hat (1390); zur Beantwortung dieser Frage setzt er bei der Funktion des Rhythmus bzw. Metrums165 an. Da er in dem Gebrauch des Hexameters »symbols of cultural continuity« (S. 111) sieht, entstehe bei dessen Anwendung für die Zuhörer ein Verweis auf einen, wie K a h a n e es nennt, »undetermined scope« (S. 113), einen nicht festumrissenen Geltungsbereich, auf ein out there. Diese Welt der Heroen aus der Vergangenheit, die beim Vortrag hexametrischer Texte entstehe, markiere einen deutlichen Kontrast zur kontemporären Welt der Zuhörer, was zunächst einmal durch die Nomen-Epitheton-Formeln geleistet werde. Doch es spielten auch – und das ist K a h a n e s in mehreren Publikationen dargestellter Neuansatz166 – die Position der Namen oder Nomen-Epitheton-Formeln im Vers eine Rolle; diese ist allerdings – was K a h a n e nicht erwähnt – bei Figuren wie Menelaos, Idomeneus, Priamos oder Deiphobos so nicht gegeben. Hiervon ausgehend definiert Kahane im nächsten Abschnitt die Funktion des Hexameters als Distanz schaffendes Medium ähnlich der Dunkelheit in einem Kino, Distanz zwischen dem ›hier‹ des Publikums und dem ›dort draußen‹, der Welt der Erzählung. Bei einer performance entstehe mit dem Erreichen des Versendes ein Wechsel in der rezeptiven Haltung des Publikums: Die kurze Pause sorge dafür, daß etwas von der Welt ›dort draußen‹ in das ›hier‹ geholt würde und leiste damit, was auch ein Ritual leiste; dieses Etwas sei das κλέος ἄφθιτον, welches vom Epos generiert werde. In einem zweiten Teil konkretisiert K a h a n e sein Modell anhand der Begriffe οἶος und μοῦνος. Demnach sei οἶος an der Schlußposition im Vers ein »codified element of ritual, an enactment of the epic hero« (S. 122). Allerdings zieht er diesen Schluß aus Belegen, deren Markierung vor allem durch das davor gebrauchte καί geleistet wird, und auch hier gibt es unter den nur sieben Belegstellen immerhin eine, 165 Diese Gleichsetzung hat Kahane selbst vorgenommen, und zwar in seinem Aufsatz zur Positionierung der Vokativformen von Personennamen (1389), dort auf S. 252: »rhythmical feature, i. e. metrical position«. Auch hier in 1390 spricht er von einer »metrical/rhythmic form« (S. 111). 166 Diesen Interpretationsansatz hat Kahane außer in dem eben zuvor besprochenen Aufsatz auch in The Interpretation of Order (s. vorige Seite) vertreten.
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die in der Versmitte plaziert ist (Π 243). Überprüft man die Position von οἶος in der Ilias als ganzer, so stehen 13 Belegen am Versende, davon 6 mit vorangehendem καί, 31 Belege gegenüber, die an anderen Stellen plaziert sind (in der Odyssee haben wir ein Verhältnis von 7:16). Dieser Befund schwächt K a h a n e s Annahme, daß über die semantische Bedeutung hinaus eine Markierung auch über die Plazierung im Vers erfolgt sei, erheblich. Die gleiche Analyse wird danach für μοῦνος durchgeführt, welches eine bevorzugte Stellung am Versanfang haben soll, da es im Verhältnis zu οἶος von sich selbst her weniger markiert sei. Aber auch hier ergibt sich zumindest für die Ilias der gleiche Befund wie für οἶος (sechsmal am Versanfang: 17mal nicht am Versanfang); in der Odyssee haben wir in etwa gleiche Zahlen (neunmal nicht am Versanfang, zehnmal am Versanfang, allerdings in π 118–120 mit dreimaliger Positionierung am Versanfang. Daß an dieser Stelle eine klare Markierung vorliegt, dürfte unbestreitbar sein, doch hier wird sie dem Publikum durch die Wiederholung kenntlich gemacht). Der Text stützt also K a h a n e s Modell, daß Verspositionen bei bestimmten Wörtern die Funktion von Markierungen haben können, nicht. Wenn er am Schluß behauptet, es gebe für diese These Tausende von Beispielen (S. 135), dann muß der Beweis dafür als nicht erbracht gelten. Es sind vermutlich andere Erzählmittel als Plazierungen von Wörtern an bestimmten Verspositionen, mit denen Homer das Textverständnis steuert. Die folgenden vier jetzt zu besprechenden Arbeiten sind alle für den 1993 in Grenoble veranstalteten Parry-Kongreß entstanden. R. P. M a r t i n hat in seinem Beitrag nach dem Ausmaß von Formelhaftigkeit in den Reden gefragt (1416), einen Bereich, den Parry nicht eigens thematisiert hat. M a r t i n legt dabei für seine Analyse zwei Formeltypen zugrunde: die syntaktische und die paradigmatische Formel. Die syntaktische Formel entspricht in etwa dem Formelbegriff von J. B. Hainsworth167, die paradigmatische ist angelehnt an den von J. Russo und M. Nagler168. Auf dieser Basis analysiert M a r t i n die Verse β 40–79, also die Rede des Telemach, die dieser bei der Volksversammlung in Ithaka hält. Speziell mit Blick auf die paradigmatische Formel, unter der M a r t i n die Verwendung einzelner Wörter an bestimmten Stellen im Vers versteht, vermag er den größten Teil dieses Abschnitts als formelhaft zu erweisen. Folglich sei ein genereller Unterschied in der Formelverwendung zwischen Reden und Erzählung nicht anzunehmen, so daß das Postulat der Entwicklung einer oralen Poetik nicht verworfen werden müsse. Es gibt in der Ilias mehrere Stellen, an denen eine Figur, die eine Rede hält, über sich selbst in der dritten Person spricht oder einen Angeredeten nicht mit der zweiten, sondern der dritten Person anspricht. Mit diesen Stellen hat sich L. M u e l l n e r näher beschäftigt (1431). Er nimmt für eine Deutung dieses Phänomens A 240 f. als Ausgangspunkt: Indem Homer den Achilleus sagen läßt, daß die Achaier ein Verlangen nach Achilleus (und nicht: ›nach mir‹) ankommen werde, stelle er sich außerhalb seiner sozialen Gemeinschaft, also der griechischen Kämpfer vor Troia, er verlasse 167 S. oben S. 86 f. 168 J. Russo, The structural formula in Homer, YCS 20, 1966, 219–240; zu der Arbeit von M. Nagler s. Anm. 89 und S. 85.
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gewissermaßen die Beziehung des ›Du‹. Gerade an dieser Stelle sei die Intensität der Distanzierung (alienation) besonders groß, doch in schwächerer Form auch in Versen wie Θ 22 und 470, in denen Zeus spricht, und in H 75 mit Hektor als Sprecher erkennbar. Im I charakterisiert Aias durch die Anrede zunächst in der dritten Person (I 628–631) Achilleus als »absence presence« (S. 153), wechselt dann aber in 636 in die zweite Person, die Achilleus durch diesen Appell wieder werden soll. Eine ähnliche Differenzierung sei auch im T zu beobachten: Zwar nehme Agamemnon im ganzen gesehen durch das, was er sagt, den Achilleus wieder in die Gemeinschaft der Kämpfer auf, aber unterschwellig gebe es noch einen emotionalen Widerstand gegen Achilleus, was durch viermalige Beziehung auf Achilleus in der dritten Person sinnfällig gemacht würde (T 83, 89, 188, 189). M u e l l n e r sieht in dieser Besonderheit eine Bestätigung für »the Epic medium’s ability to finely manipulate and control formulaic language for expressive purposes in a consistent way for a specific character over the course of the whole Iliad« (S. 156). Die Bedeutung und Verwendung des geographischen Begriffs ›Argos‹ bei Homer hat P. S a u z e a u anhand formelhafter (= mehrfach mit den gleichen Epitheta gebrauchter) und nicht-formelhafter Verwendung zu ermitteln versucht (1490). Zu Beginn geht er kurz auf das Problem der Etymologie von τὸ Ἄργος ein, dann stellt er die homerischen Befunde dar; hier steht besonders die Gegenüberstellung von Argos und Achaiïs (Γ 75, = 258) im Vordergrund. Unter Argos Südgriechenland und der Achaiïs das Griechenland nördlich des Spercheios zu verstehen ist eine häufige Erklärung, S a u z e a u zufolge allerdings das Resultat einer diachronisch orientierten Sichtweise. Von einem synchronischen Standpunkt gesehen erweise sich Argos auf Grund der damit verbundenen Epitheta als reiches, fruchtbares Land, als Sehnsuchtsort. Das werde besonders in der Verbindung mit dem Epitheton ἱππόβοτος deutlich. Der Blick darauf, inwieweit hier eine formelhafte Verwendung gegeben sei, zeige, daß bei mehrfacher Nennung von ›Argos‹ mit dem gleichen Epitheton eine deutliche Einbettung in ein Formelsystem erkennbar sei; in der Verbindung Ἄργος Ἀχαιϊκόν vermutet S a u z e a u eine mykenische Reminiszenz. Anschließend geht der Autor auf die Stellen ein, an denen ›Argos‹ nur einmal mit einem bestimmten Epitheton (Beispiel: τὸ Πελασγικὸν Ἄργος in B 681) oder ohne Epitheton genannt wird. Nur in diesen Fällen ist von Argos als Stadt die Rede, an die Seite gestellt mit Tiryns, Mykene oder Sparta; eine Einbettung in einen formelhaften Rahmen sei folglich nicht gegeben. Als Konsequenz aus seinen Bemerkungen verwirft S a u z e a u zutreffend die Bedeutung von τὸ Ἄργος als Ebene; vielmehr verweise es auf ein ›strahlendes Land der Rückkehr zum Leben, im Herzen der heroischen Welt‹. Der Vers B 731 τῶν αὖθ' ἡγείσθην Ἀσκληπιοῦ δύο παῖδε weist in der überlieferten Form Ἀσκληπιοῦ mit dem bei diesem Namen sonst nicht belegten /ī/ eine metrische Anomalie (einen sog. στίχος λαγαρός) auf. N. M a u r i c e G u i l l e u x hat dazu als ursprüngliche Fassung, mit der diese Anomalie beseitigt würde, Ἀσκληπιόο δϝὼ παῖδε [ – | – ∪ ∪ | – – | – ∪ || ] angenommen (1418); das würde auf eine mykenische Provenienz hinweisen, wo das dwo sogar durch ein eigenes Syllabogramm belegt ist. Die metrische Verwendung von παῖδε spreche dann ebenfalls
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dafür, daß hier eine spätere Neugestaltung vorgenommen wurde; ursprünglich habe der Versschluß wohl Ἀσκληπιόο δϝὼ hυῖε gelautet. Abschließend verweist die Autorin darauf, daß in der Formelforschung grundsätzlich auch ein diachronischer Aspekt zu berücksichtigen sei. Den Einfluß der Tradition auf die Beschreibung von Gegenständen in der Ilias (im ganzen 21) hat E. M i n c h i n in ihrem Beitrag zum Homer-Kongreß in Durban von 1996 überzeugend analysiert (1425). Als Element der oral poetry erkennt sie eine Beschränkung, ja Stereotypie von Struktur und Wortschatz in der Beschreibung der jeweiligen Gegenstände, die sich so in literaler Dichtung nicht finde. Die von M i n c h i n erstellte Tabelle macht die einzelnen Gesichtspunkte (allgemeine Beschreibung, Material, handwerkliche Ausführung, Größe, Besonderheit und Geschichte) und ihr Vorkommen deutlich (S. 54 f.), und die Übersicht zeigt deutlich die intensive Berücksichtigung dieses Schemas, von M i n c h i n sicherlich zutreffend als »apparatus of memory« (S. 56) bezeichnet. Dieser gelte selbst für den Schild des Achilleus. Allerdings sei es wichtig festzustellen, daß daraus keine völlig schematische Verbalisierung folge. Die Frage, warum die Beschreibungen im ganzen eher knapp ausfallen, beantwortet M i n c h i n sowohl produktions- als auch rezeptionsästhetisch. Mit Hinweis auf einschlägige Sekundarliteratur verweist sie darauf, daß das Publikum bei einer performance eher an Erzählung als an Beschreibung orientiert ist, und für den oral poet sei eine Erzählung einfacher zu improvisieren als eine Beschreibung; möglicherweise habe er ja auch selbst eine Vorliebe für Erzählung gehabt. Die Beschreibungen seien dann auch nicht um ihrer selbst willen eingefügt, sondern hätten enge Beziehungen zu den jeweiligen Besitzern und erlaubten so dem Publikum, über die Worte und Taten des jeweiligen Protagonisten hinaus Erkenntnisse über diesen zu gewinnen (evaluative information); dies führt M i n c h i n anhand der Beschreibung von Agamemnons Szepter aus. Odysseus’ Zögern bei der Preisgabe seiner Identität gegenüber den Phäakenhof im η hat R. S c o d e l in einem Aufsatz von 1999 als aus dem Kontext heraus unzureichend motiviert gedeutet (1499). Sie lehnt eine Deutung dieses Zögerns als Reflex einer spezifischen psychischen Disposition, die Homer bei Odysseus damit zur Darstellung bringen will169, ab; vielmehr verrate sein Handeln schon bei der Ankunft auf Scheria so etwas wie innere Sicherheit (adroitness). Auch die Annahme, den Phäaken könne durch eine Prophezeiung bekannt sein, daß ihnen von der Person des Odysseus Gefahr drohe, so daß er aus diesem Grund seine Identität so lange verbirgt, erscheint S c o d e l problematisch, wie ihre Analyse anderer Prophezeiungen, nämlich an Polyphem und an Kirke, zeigt. Sie sieht als Grund vielmehr den Bezug des Dichters auf eine für die Odyssee typischen Szene (theme), die vor allem im – dort gut motivierten – Handlungsablauf auf Ithaka zu erkennen ist (›der unerkannte Fremde übersteht Gefahren und heiratet am Schluß die Prinzessin‹). Dieses Thema habe die Darstellung dessen, wie Odysseus am Phäakenhof agiert, als traditionelles Element 169 So vor allem W. Mattes, Odysseus bei den Phäaken, Würzburg 1958, 123–142. Nach Mattes’ Deutung sei Odysseus bei diesem Stand der Ereignisse emotional noch nicht der Lage, sich zu dem zu bekennen, was er doch ist oder jedenfalls einmal war, nämlich ein berühmter Held.
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überlagert und damit habe hier etwas Verwendung gefunden, was scheinbar nicht zum Kontext paßt. Daraus sei zu folgern, daß das Publikum »must be expected to tolerate narrative that is not immediately transparent. […] Traditional referentiality is at work« (S. 93). Das Publikum benötige also Geschick darin, die Erzählung als ganze aufzunehmen und so als individuelle Geschichte genau zu erkennen. Mit dieser Deutung hat S c o d e l eine deutliche hermeneutische Trennlinie gezogen, indem sie die die poetische Darstellung emotionaler Befindlichkeiten der Protagonisten als Deutungsmuster verwirft: Hätte sie damit recht, würde der gesamte Spannungsbogen, der die Odysseus-Linie vom ε bis zum ω durchzieht, nämlich die Rückgewinnung der früheren Stärke und Macht, also des Status quo ante bellum, hinfällig und die Odyssee ihres Kernthemas beraubt. T. E i d e hat im selben Jahr anhand der Aussagen des Typus: ›X sagt: Tue a, b und c‹, gefolgt von ›sie taten a, b und c‹ eine Analyse vorgestellt, wieviel poetische Freiheit dieser Typus einem mit oralen Elementen arbeitenden Dichter – so E i d e s Formulierung – läßt (1321). Hierzu wählt er mehrere Stellen (Γ 67–75, das mit gewissen Änderungen und Kürzungen in Γ 86–94, 136–138 und 252–258 wiederholt wird170) aus und zeigt an ihnen, daß bei kleineren grammatikalischen oder metrischen Fehlern offenbar die Anpassung eines regulär vorgeprägten Verses an den neuen Kontext eine Rolle spielt. Ans Ende setzt E i d e eine dadurch gewonnene Liste von Synonyma, die sich aus den Varianten ergibt. Hier erscheint etwa auf Grund veränderter Bedingungen für den Inhalt ›Grabmal‹ sowohl σῆμα als auch τύμβος. Zumindest an diesen Stellen darf man davon ausgehen, daß Synonymie vorliegt. Im ganzen ist E i d e s Ansatz methodisch von einiger Bedeutung für das Verständnis des Homertexts, da er zeigt, daß sich eine hermeneutisch gut abgesicherte literarische Textdeutung mit Aspekten einer technisch geprägten Versproduktion durchaus verbinden läßt. Mit dem Ausdruck σῶκος ἐριούνιος Ἑρμῆς in Υ 72 hat sich S. R e e c e (1478) auseinandergesetzt und dabei eine Art von Modell entworfen, wie solche – später nicht mehr genau verständlichen – Formeln entstanden sein könnten. Aus der Beobachtung, wie ἐριούνιος in Verbindung mit dem Namen des Hermes – gedeutet als ›schneller Läufer‹ oder ›starker Helfer‹ – metrisch verwendet wird und zugleich der Annahme, daß das ungeklärte σῶκος durch falsche Abtrennung des Sigma aus ὠκύς entstanden ist, sieht er in dieser Formel eine Neukombination traditioneller Bestandteile. R e e c e ist sich dabei der Tatsache, daß hier vieles recht spekulativ bleiben muss, bewußt, doch grundsätzlich könnte der von ihm skizzierte Weg bei bestimmten, deutlich von üblichen Nomen-Epitheton-Formeln abweichenden Ausdrücken so gewesen sein. Als letzte Arbeit in diesem Kontext ist die Monographie von J. K i m zum Wortfeld ›Mitleid‹ in Zusammenhang mit der Figur des Achilleus und mit Bezügen für oral-poetry-Theorie zu nennen (1395). Im ersten Teil behandelt sie den Zusammen 170 Die weiteren Stellen sind: Z 87–101, H 337–340, Θ 399–408, I 122–157, M 343–350, O 158–167, Π 667–675, Ω 113–119, Ω 144–158, α 93–95, β 288–295, β 371–376, δ 750–752, κ 289–301.
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hang zwischen dem Mitleid-Motiv und der Figur des Achilleus, welcher vor allem im Ω in der Begegnung mit Priamos hervortritt und ein Gegenstück zu dessen μῆνις, dem Kernmotiv der Ilias, bildet. Im nächsten Kapitel folgt die Analyse des Wortfelds ›Mitleid‹, insbesondere in Verbindung mit den Verben ἐλεεῖν, ἐλεαίρειν, οἰκτίρειν und κήδεσθαι sowie dem Epitheton ἐλεεινός. Die Einbeziehung von κήδεσθαι begründet die Autorin darin, daß die Bedeutung von κήδεσθαι gegenüber den φίλοι dem entspreche, was ἐλεεῖν gegenüber den ἐχθροί sei, eine problematische Annahme. Ausgehend von dieser Basis zeigt K i m , daß das Wortfeld ›Mitleid‹ in bestimmte formelhafte Kontexte eingebunden ist, allerdings erweist sich der Rahmen nicht signifikant stärker ausgeprägt als bei anderen Verben: Gleiche Formeln wie μέγα κήδεται ἠδ' ἐλέαιρε oder οὐ κήδεται οὐδ' ἐλεαίρει kommen nur selten vor (3mal bzw. einmal in der Ilias). In der Fortsetzung geht es K i m um das Mitleid-Motiv – sie benutzt auch den Begriff motif – in Verbindung mit der Figur des Achilleus als wesentliches Strukturierungselement der gesamten Ilias, und hier vor allem um den strukturellen Gegensatz zwischen seinem Mitleid gegenüber den φίλοι und der Mitleidlosigkeit gegenüber den ἐχθροί. So sei ein in drei Phasen gegliederter Aufbau zu erkennen: der Groll (wrath) des Achilleus (A-Θ), die Konsequenzen aus dem Groll (Ι-Π; das K wird als nicht der ursprünglichen Ilias zugehörig angesehen) und Achilleus’ Reaktion auf die Konsequenzen (Ρ-Ω). Der Fokus wird dann zusehends auf das I gelegt, welches K i m der ersten Phase zuordnet. Ungeachtet mancher guten Beobachtungen in der Detailinterpretation – etwa daß für ›Mitleid haben‹ in Verbindung mit Achilleus fast ausschließlich οἰκτίρειν gebraucht wird, macht es doch Mühe, den Inhalt des Buches mit dem Titel The oral style and the Unity of the Iliad zusammenzubringen. K i m erkennt zwar immer wieder bestimmte themes, die in der Darstellung auftauchen, und auch die Großstruktur sieht sie als traditionell beeinflußt an, doch ließe sich ihre Deutung auch ohne Bezug zur oral-poetry-Theorie argumentativ entwickeln. Die Einbeziehung dieser Theorie in die Deutung der homerischen Epen könnte doch eher dafür hilfreich sein, Abweichungen von einer retraktativ geprägten Beurteilung von Dichtung zu verstehen. 9. Die oral-poetry-Theorie und die Fixierung des Homertexts Zu Recht betont R. J a n k o zwei in Aufsätzen von 1990 und 1998 (1385, 1386) am Beginn die Bedeutung von Parrys Theorie einer oral improvisierenden Versbildung bei Homer; sie stelle ungeachtet vieler später Kritik doch ein schlüssiges Modell dar, das viele Probleme im Homertext, speziell das Ausmaß an Wiederholungen sowie bestimmte sachlogische oder metrische Irregularitäten, löse. Dieses Modell lasse jedoch die Frage entstehen, wie es, wenn denn der Text von Ilias und Odyssee mündlich entstanden sei, überhaupt zu einem geschriebenen Text gekommen sei. Zunächst stellt er die zu dieser Frage geäußerten Thesen vor. Diese sind: 1. Homer hat seine Epen mit Hilfe der Schrift abgefaßt; 2. der Text der Epen wurde zunächst mündlich überliefert und in der 2. Hälfte des 6. Jahrhunderts aufgeschrieben; 3. die Epen wurden diktiert.
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J a n k o verwirft in einer sehr kurzen Analyse die beiden ersten Thesen. Mithin schließt er sich Lords These eines mündlich generierten Texts, der einem Schreiber diktiert wurde, an. Damit kann er die offensichtlichen Ungenauigkeiten, die etwa von Aristarch zu beseitigen versucht wurden – J a n k o verweist hierzu auf die Beschreibung von Hypsenors Tod (N 410–423) –, als der mündlichen Genese geschuldet und so als durchaus vom Ilias-Dichter stammend deuten. An mehreren Beispielen sei es auch für die modernen Herausgeber besser, Varianten bestehen zu lassen anstatt zu vereinheitlichen, eine Forderung, der H. van Thiel in seinen Homerausgaben entsprochen hat, allerdings aus anderen Gründen (s. Bericht, Kap. I, Lustrum 54, 2012, 235 f.). Warum es allerdings eines Diktats bedurfte, um diese Fehler zu erklären, erklärt J a n k o nicht. Es ist durchaus auch denkbar, daß der epische Dichter, also Homer, bei einer schriftlichen Abfassung nicht allen Einzelheiten retraktativ nachgegangen ist und sie im aristarchischen Sinne geglättet hat, insbesondere dann, wenn es dem Dichter mehr um das große Ganze – die Struktur und die Entwicklung des Textes aus der psychologischen Zeichnung der Protagonisten heraus – gegangen ist. Die ungewöhnlich anmutende Vermutung, das griechische Alphabet sei ent wickelt worden, um die homerischen Epen aufzuzeichnen, von H. T. Wade-Gery 1952 als Denkmöglichkeit vorgeschlagen171, ist Grundlage einer Monographie, die B. B. P o w e l l 1991 veröffentlicht hat (1467). Träfe diese These zu, hieße dies, der geschriebene Homertext habe schon spätestens 750 v. Chr. vollständig vorgelegen. P o w e l l stützt diese These zunächst mit einem ausführlichen Vergleich des westgriechischen Alphabets mit westsemitischen Schriften und verweist auf kategoriale Unterschiede, insbesondere in der Neuschöpfung eigener Buchstaben für die Vokale. So sei um oder kurz nach 800 v. Chr. von einem euböischen adapter – P o w e l l erwägt den vom Mythos her mit der Erfindung der Schrift verbundenen Namen des Palamedes – ein weitgehend vollständiges Alphabet geschaffen worden. Im zweiten Kapitel folgt der Kernpunkt von P o w e l l s Argumentation, die auf einer Analyse der ägyptischen Hieroglyphen sowie der zyprischen und phönizischen Silbenschriften basiert. Bei allen dreien dieser Schriftsysteme stellt er richtig fest, daß sie zur Wiedergabe von Hexametern ungeeignet seien. Vielmehr sei die Notwendigkeit, Sprache möglichst vollständig mit Hilfe von Schrift abzubilden, also ein System zu schaffen, das eindeutig, universell verwendbar und leicht erlernbar sei, erst durch den Wunsch erklärbar, die homerischen Epen durch Schrift zu fixieren. Diesen Gedanken stützt P o w e l l im nächsten Abschnitt damit, daß vor 650 v. Chr. so gut wie keine nicht-hexametrischen Inschriften bekannt sein, Schrift und Hexameter also eine besonders intensive Beziehung gehabt hätten. Damit ergebe sich auch eine Datierung für die Entstehung der homerischen Epen irgendwo in dem Zeitraum zwischen 800 und 750 v. Chr. Konkret sei die Entstehung der Homertexte so vorzustellen, daß der adapter neben phönizischen Abenteurern (adventurer) etwa aus Al Mina zu dem Kreis der Zuhörer Homers gehörte und nach einer performance die dort gehörten Texte fixieren wollte. Auch hätten diese Texte für Euböer als Stamm der Seefahrer und Kolonisatoren einen besonderen Reiz gehabt. Deshalb habe er die phönizische Schrift an die Notwendig 171 The Poet of the Iliad, Cambridge 1952.
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keit, komplexe Sprache schriftlich festzuhalten, angepaßt und Ilias und die Odyssee aufgezeichnet, die Homer ihm in Form oral generierter Texte diktierte. Auf S. 65 gibt P o w e l l sogar eine hypothetische Rekonstruktion, wie diese Texte in seinem Schriftbild ausgesehen haben könnte: mit den Buchstabenzeichen, wie wir sie von Inschriften etwa derselben Zeit kennen, bustrophedon und in scriptio continua. Ergänzt hat P o w e l l sein Modell noch durch einen kurzen Aufsatz ein Jahr später (1468). Hier begründet er das Aufkommen eines narrativen Stils in der bildenden Kunst – was er sorgfältig belegt – und anderer Phänomene etwa im Bereich der Religion ab etwa 725 v. Chr. dadurch, daß ab diesem Zeitpunkt die homerischen Gedichte, nun einem schriftlichen Original folgend von Rhapsoden vorgetragen, die griechische Kultur zu durchdringen begannen (popularization). In sich ist P o w e l l s These, wonach gerade Homers Vortrag von daktylischen Hexametern die Entstehung des Alphabets und die schriftliche Abfassung von Ilias und Odyssee verursachte, sorgfältig recherchiert und bemerkenswert schlüssig, aber doch in seinen allgemeinen Voraussetzungen problematisch. So gibt es schon sowohl auf der athenischen Dipylon-Kanne als auch auf dem Nestor-Becher nach dem einleitenden Hexameter wahrscheinlich auch iambischen Text. Darüber hinaus müßte sich nach diesem Modell die Verbreitung der Schrift über Euböa hinaus nach Attika oder Korinth extrem schnell vollzogen haben. Sehr ungewöhnlich wäre auch das Zusammentreffen zweier geistigen Großtaten von epochaler Bedeutung in zwei Personen in persönlichem Kontakt. Homer, dessen Lebensbereich doch eher an der kleinasiatischen Küste zu suchen ist, müßte ja definitiv einmal in Euböa gelebt haben und das für längere Zeit, bis eben die gesamten Epen fertiggestellt und aufgeschrieben waren. Hinzu kommt, daß dieses Modell den weltanschaulichen Unterschieden zwischen Ilias und Odyssee nicht gerecht werden kann. Vor allem aber unterschätzt P o w e l l den soziokulturellen Kontext einer so fundamentalen Erfindung wie der des Alphabets doch zu sehr, als daß sie lediglich aus dem kulturellen Bedürfnis zweier Personen heraus zu erklären wären. Mit Powells These hat A. P a n a y o t o u in einem Aufsatz aus dem Jahr 2000 kritisch auseinandergesetzt (1450). Sie stellt dabei, auf entsprechende Sekundärliteratur gestützt, eine Fülle von Fragen zu Powells Modell: Wie könne ein und dieselbe Person im Falle des/ps/ein Zeichen für zwei verschiedene Bedeutungen geschaffen haben und warum sei ein nicht-psilotischer Dialekt von einer Person auf Euböa genutzt worden? Wie lassen sich euböisches und ionisches Alphabet miteinander verbinden und warum werde in den homerischen Epen so wenig von der Schrift gesagt? Wie stehe es dann um Homers Geschichtsbild, das Kontemporäres und Früheres, speziell Mykenisches, miteinander verbinde? Wie stehe es mit dem Zeitunterschied zwischen der Übernahme der Schrift und den ältesten Schriftzeugnissen? Kämen nicht andere Orte für die Übernahme der phönizischen Schrift wie Zypern eher in Frage? Wäre die Übernahme der Schrift nicht eher für andere Zwecke anzunehmen als die hexametrische Literatur? Diese Fragen zu stellen bedeute nicht, daß Powells Theorie gänzlich zu verwerfen sei, vielmehr stelle seine Monographie einen Ausgangspunkt dar, von dem aus weiter zu arbeiten sei; eine besondere Rolle weist P a n a y o t o u dabei der Epigraphik zu.
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P o w e l l hat auch den Forschungsüberblick im New Companion zum Thema ›Schrift‹ (bzw. ›schreiben‹) und zur Entstehung des Alphabets verfaßt (1469). Nach einleitenden Bemerkungen kommt er erst gegen Ende auf das eigentliche Thema, nämlich ›Homer und die Schrift‹, zu sprechen, so daß für das eigentliche Thema nur zwei Seiten einschlägig sind; rechnet man die abschließende conclusion hinzu, sind es fünf Seiten. Hier verweist P o w e l l darauf, daß nur an zwei Stellen im Homer eine Art von Schreiben erwähnt wird (H 175, Z 168–179), bei denen aber wohl weniger von der Verwendung von Buchstaben als von bestimmten vereinbarten Zeichen auszugehen sei; auch die σήματα λυγρά in Z 168 »cannot refer to any specific script« (S. 28). Zu der Frage nach der Möglichkeit einer schriftlichen Abfassung der homerischen Epen hatte P o w e l l bereits ausführlich und dezidiert für eine einheitliche Entstehung im diktierenden Verfahren etwa um 800 v. Chr. auf Euböa argumentiert (1467); diese These wird hier aber nicht wiederholt. G. N a g y hat in mehreren Arbeiten zur Fixierung des Homertexts ein Modell entwickelt, das, wenn es zuträfe, eine grundlegende Modifikation für die Arbeit daran bedeuten würde. Er bestreitet nämlich die These, wonach bei mehreren Überlieferungsvarianten eine richtigere, der Absicht des Autors und damit dem Original entsprechende gebe; vielmehr seien gerade in der Frühzeit des Homertexts alle Varianten als gültig im Sinne von original anzusehen. In Umrissen hat N a g y diese These bereits 1981 in der Festschrift für A. B. Lord angedeutet (1432) und sie in einem Aufsatz in den TAPhA von 1992 im Detail vorgestellt (1433). Weitere Ausführungen zu diesem evolutionary model lieferte N a g y dann in 1436 (wiederabgedruckt in 1437, Teil 2), im dritten Teil von 1437 sowie in 1438, 1439 und 1440, wo er die Kernpunkte dieser These zusammengefaßt und in der Auseinandersetzung mit anderen Modellen (vor allem von Janko und West) um neue Belege erweitert hat. Ausgangspunkt seiner These sind zum einen semantisch auffällige Varianten (speziell im Blickpunkt steht τ 521: πολυηχέα oder πολυδευκέα, sc. φωνήν), Varianten, die N a g y nicht aus einer philologischen Bearbeitung eines ›Urtexts‹ ableiten will, sondern in denen er das Ergebnis verschiedener performances des Ilias-Stoffs durch Rhapsoden sieht; insofern seien beide Varianten original homerisch, oder besser: nicht unhomerisch. Ein weiterer Ausgangspunkt ist der Befund zur Person Homers, die in der klassischen Epoche nicht als konkrete historische Person bekannt war, sondern als eine Art Gründerheros rhapsodischen Singens galt. So ist für N a g y für das 7. Jahrhundert der Ilias- und Odyssee-Text fluktuierend, und er lasse sich nicht, selbst nachdem er im 6. Jahrhundert im Athen der peisistratischen Epoche aufgeschrieben wurde, auf einen Archetyp reduzieren. Von einem eindeutig fixierten Text könne man erst mit der Arbeit von Aristarch, also im 2. Jahrhundert v. Chr., sprechen. Im ganzen entsteht so ein Modell von ›Five Ages of Homer‹, nämlich: 1. auf Grund des Fehlens schriftlicher Texte eine Epoche der Fluktuation der epischen Stoffe vom frühen 2. Jahrtausend v. Chr. bis etwa zur Mitte des 8. Jahrhunderts, 2. Verbreitung der um diese Zeit entstandenen homerischen Epen über den griechischen Kulturraum durch Vorträge von Rhapsoden, also immer noch ohne geschriebene Texte und mit entsprechenden Varianten,
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3. im Athen der peisistratischen Zeit schriftliche Fixierung und Verbreitung über Abschriften (transcripts) bis zum späten 4. Jahrhundert, 4. zunehmende Standardisierung des Texts bis in die Mitte des 2. Jahrhunderts, 5. nach Aristarch der Homertext als Dokument und Verschwinden von Varianten wie den sog. exzentrischen Papyri. Damit ergebe es keinen Sinn, nach einer Art von Urtext für die homerischen Epen zu suchen, vielmehr sei die homerische Textgeschichte eine Art von crystallization auf eine bestimmte Fassung hin: Je weiter man zeitlich hinaufgehe, desto weniger einheitlich sei der Text gewesen; er müsse als ›vielgestaltiger Text‹ (multiform) gesehen werden, ein Begriff, den bereits A. B. Lord in The Singer of Tales verwendet hatte, der freilich die Multiformität auf den exakten Wortlaut der Schöpfungen des aoidos beschränkt. Dagegen hebt N a g y mit seiner These den Unterschied zwischen dem aoidos und dem Rhapsoden auf: Auch der Rhapsode habe in seiner performance den Text neu geschaffen, dabei auch mit Querverweisen (cross-references; dies der zentrale Begriff in 1440) einzelne Elemente früherer Fassungen eingefügt und so wiederum folgende Fassungen beeinflußt. Das ganze Verfahren sei teleologisch vorzustellen. Dieses evolutionary model bildet auch die Basis für den Aufsatz Myth as exemplum von 1992, in dem N a g y versucht, den Kenntnistand von Homers Publikum zu rekonstruieren (1435; wiederabgedruckt in 1437, Teil vier); hierdurch wird der Multiformitätsgedanke auf die Rezipienten bezogen. Als Beleg zieht N a g y hier Parallelen aus der Ethnologie heran, so etwa einen weiblichen Initiationsritus der Navajo, mit dessen Ausbreitung und Bedeutungszuwachs der Ursprungspunkt ebenfalls stärker in den Hintergrund getreten sei. Freilich sind solche Parallelen bestenfalls Indizien, keine Beweise und bedürften genauerer Analyse, die N a g y über die Analogie mit den Navajo hinaus allerdings nicht liefert. Abschließend fragt N a g y nach den Gründen für die Fixierung in Athen und sucht sie – wenig überraschend – im politischkulturellen Kalkül des Tyrannen. In der Nachfolge von Nagy haben G. D. B i r d (1278) und T h . d e V e t (1528) aus der Verwurzelung des Homertexts in der Oralität Konsequenzen für die Textkritik gezogen. B i r d formuliert seinen Ansatz auf S. 40 seines Aufsatzes von 1994 wie folgt: »With Homer, I shall be considering variant readings, each of which appears as ›authentic‹ as the other; in these cases by comparing both internal and external evidence I hope to show that neither variant can be shown to be ›the correct reading‹ – rather both are ›correct‹«. Das wird an dem notorischen Problem in A 5 (οἰωνοῖσί τε πᾶσι : οἰωνοῖσί τε δαῖτα) sowie zwei weiteren Stellen (Γ 330–339, Δ 88–89) mit dem Blick auf die sog. typischen Szenen exemplifiziert – B i r d bezieht sich hier auf Papyrusbefunde aus dem 3. Jh. v. Chr. (Pap. Hibeh I) –, die im mündlichen Vortrag einmal ausführlicher, ein andermal knapper vorgetragen wurden. Es spricht aber doch mehr dafür, daß für die kürzer gefaßten Varianten Zenodot entscheidend war172.
172 Zur Stelle im Δ s. K. Nickau (280; s. Bericht, Kap. I, Lustrum 54, 2012, 227) 101–103; A. Rengakos (302; s. Bericht, Kap. I, Lustrum 54, 2012, 58–59).
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Demgegenüber argumentiert d e V e t gegen das auf den Homertext angewandte ›jugoslawische Modell‹ einer strikten Trennung zwischen »either oral and fluid, or written and fixed« (S. 44) an. Der Ausgangspunkt für sie ist der Befund, daß nach den Aufzeichnungen der südslawischen Heldenlieder durch Parry und Lord – für die die besten Guslare ausgewählt wurden – die weitere orale Produktion keineswegs zum Erliegen kam, während dies in Griechenland der geometrischen Zeit offenbar der Fall war. Daher könne das ›jugoslawische Modell‹ nicht die Phasen der transcription und der transmission erklären. Statt dessen sieht d e V e t in den Befunden zur Epik, wie sie auf der Insel Bali ab dem Ende des 9. Jh. n. Chr. nachweisbar ist – ihre Stoffe sind vor allem den altindischen Epen Mahabharata und Ramayana entnommen – ein besseres Erklärungsmodell. Auch in der balinesischen Epik seien diese Epen durch Improvisation entstanden, doch seien als inhaltliche Basis nicht nur mündliche, sondern auch geschriebene Texte (sog. lontars, auf Palmblätter geschriebene Texte) benutzt worden. Ein wesentliches Hilfsmittel bei der Produktion dieser Epen sei die für diese Epik entwickelte Kunstsprache gewesen; sie habe das Überleben dieser Dichtung in entscheidendem Maße gefördert. Allerdings verschweigt d e V e t auch nicht, daß vor allem die Rezeptionssituation beim Vortrag dieser Texte sehr unterschiedlich von dem ist, was wir für die homerische Epik annehmen können; so muß etwa der in der Kunstsprache vorgetragene Text von einem Übersetzer an das Publikum vermittelt werden. Dennoch kommt sie zu dem Schluß, daß das ›balinesische Modell‹ sehr viel besser geeignet sei als das jugoslawische, um die Situation des Homertexts bis zu seiner Fixierung im Hellenismus zu erklären. Allerdings ignoriert d e V e t dabei nicht den kategorialen Unterschied, daß schon sehr früh in der griechischen Kultur wörtliche Bezüge zum Homertext nachweisbar sind und eine Person Homer als Produzent von Ilias und Odyssee angenommen wird; diese Individualisierung und Personalisierung fehle in der balinesischen Epik völlig. Diese These eines bis in den Hellenismus hinein gleichsam offenen Homertexts ist intensiv rezipiert worden und dabei – abgesehen von allgemeinen positiven Anmerkungen zum wissenschaftlichen Rang des Autors – doch generell abgelehnt worden173. Die Gründe dafür sind überzeugend, speziell der, daß der homerische Text einfach nicht so viele semantisch interessante Varianten bietet, um bei einem Rhapsodenvortrag von einer auch nur im Ansatz grundlegenden Neuschöpfung sprechen zu können. Natürlich ist es bei einem Vortrag zu Varianten gekommen, aber die waren sicherlich nicht so zahlreich und vor allem nicht so grundsätzlich, daß die Struktur der Epen oder die Personencharakterisierung betroffen gewesen sei. Gerade bei der intensiven Prägung der homerischen Epen durch die Tradition ist es problematisch, in nur kurzen Wendungen oder Begriffen Querverweise ausmachen zu wollen. Für die Entwicklung des Homertexts dürfte eher eine Analogie zu den mittelalterlichen Schreibern von Handschriften den Sachverhalt zutreffen: Es gibt einen ›Urtext‹, eben die Handschrift, die gerade kopiert werden soll, und der Schreiber ist auch bemüht, 173 S. West, Elements of Epic, TLS 2, August 1996, 27; H. Pellicia, As Many Homers As You Please, New York Review of Books, 20 November 1997, 46; B. Powell, BMCRev 97.3.21. Auf Powell hat Nagy repliziert, allerdings wenig überzeugend (BMCRev 97.4.18).
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ihn korrekt abzuschreiben, aber das gelingt nicht immer; es schleichen sich Fehler, möglicherweise auch Glättungen, bei einzelnen Wendungen ein. Den Gedanken an eine mündliche Abfassung von Ilias und Odyssee hat die antike Homererklärung nicht erwogen. Wenn in den Scholien von Schrift die Rede ist, geht es darum, welchen Einfluß diese schriftlich fixierten Epen auf die griechische Sprache und Literatur gehabt haben, insbesondere in der Auseinandersetzung zwischen Analogie und Anomalie. Einer der Homerexegeten, der Aristarch-Schüler Ptolemaios Pindarion, ist Gegenstand eines Aufsatzes, den F. M o n t a n a r i 1981 veröffentlicht hat (1427). Wie sein Lehrer war auch Ptolemaios Pindarion Anhänger der analogischen Spracherklärung und hat infolgedessen auch für die homerische Sprache das Prinzip der internen Analogie vertreten. M o n t a n a r i vermutet, Ptolemaios Pindarion habe die Homertexte, die mit Hilfe des Alphabets schriftlich verfaßt wurden, entsprechend der Ὁμηρικὴ συνήθεια als erste Dokumente eines ἑλληνισμός, der richtigen Art Griechisch zu sprechen, angesehen. So markiere die Anwendung von Schrift in den homerischen Epen auch den Beginn der griechischen Literaturgeschichte. Corrigendum zu: Lustrum 56, 2014, 120 und 200 Im zweiten Teil des Berichts ist der Verfassername des Aufsatzes 842 (ΚΛΕΟΣ ΑΦΘΙΤΟΝ and Oral Theory [CQ 38, 1988, 25–30]) nicht R. J. Edgeworth, sondern A. T. E d w a r d s .