Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 59. Band (2018) [1 ed.] 9783428555185, 9783428155187

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Literaturwissenschaftliches Jahrbuch: 59. Band (2018) [1 ed.]
 9783428555185, 9783428155187

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LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUE FOLGE, BEGRÜNDET VON HERMANN KUNISCH

IM AUFTRAG DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON MATTHIAS BAUER, SUSANNE FRIEDE, BEATRICE JAKOBS, KLAUS RIDDER, GERTRUD M. RÖSCH, CHRISTOPH STROSETZKI in Verbindung mit einem wissenschaftlichen Beirat PEER REVIEWED SEIT 2015

NEUNUNDFÜNFZIGSTER BAND

2018

DUNCKER & HUMBLOT · BERLIN

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUNUNDFÜNFZIGSTER BAND

Literaturwissenschaftliches Jahrbuch Neue Folge, begründet von Hermann Kunisch, im Auftrage der Görres-Gesellschaft

Peer reviewed seit 2015 Herausgeber Prof. Dr. Klaus Ridder, Deutsches Seminar, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Wilhelmstr. 50, 72074 Tübingen (Altgermanistik, federführend) Prof. Dr. Matthias Bauer, Englisches Seminar, Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Wilhelmstraße 50, 72074 Tübingen (Anglistik/Amerikanistik) Prof. Dr. Susanne Friede, Institut für Romanistik, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Universitätsstraße 65–67, A–9020 Klagenfurt (Romanistik) Prof. Dr. Gertrud Maria Rösch, Institut für Deutsch als Fremdsprachenphilologie, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Plöck 55, 69117 Heidelberg (Neugermanistik) Prof. Dr. Christoph Strosetzki, Romanisches Seminar, Universität Münster, Bispinghof 3, 48143 Münster (Romanistik) PD Dr. Béatrice Jakobs, Romanisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Leibnizstr. 10, 24098 Kiel (Rezensionen)

Wissenschaftlicher Beirat Jürgen Barkhoff (Dublin), Ricarda Bauschke (Düsseldorf), Ute Berns (Hamburg), Dieter Breuer (Aachen), Sebastian Coxon (London), Monika Fick (Aachen), Rüdiger Görner (London), Elke Koch (Berlin), Florian Kragl (Erlangen), Joachim Leeker (Dresden), Stéphane Macé (Grenoble), Friedhelm Marx (Bamberg), Anja Müller-Wood (Mainz), David Paroissien (Buckingham), Richard Trachsler (Zürich), Edwin Williamson (Oxford)

Redaktion Redaktionsanschrift: Prof. Dr. Klaus Ridder, Deutsches Seminar, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Wilhelmstr. 50, 72074 Tübingen. Redaktion Aufsatzteil: Dr. Ulrich Barton. Redaktion Rezensionsteil: PD Dr. Béatrice Jakobs, Romanisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Leibnizstr. 10, 24098 Kiel. Merkblatt zur Manuskripterstellung und Merkblatt für Abbildungen: http://bit.ly/1B7LIRN Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch erscheint als Jahresband jeweils im Umfang von etwa 20 Bogen. Beiträge sind in Dateiform und als Ausdruck an die jeweils zuständigen Herausgeber zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es wird dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig, entsprechend den im Merkblatt (s. o.) angeführten typographischen Richtlinien einzureichen. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausführung des Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Redaktion (Rezensionsteil) erbeten. Eine Gewähr für die Rezension oder Rücksendung unverlangt eingesandter Besprechungsexemplare kann nicht übernommen werden.

Verlag Duncker & Humblot GmbH, Carl-Heinrich-Becker-Weg 9, 12165 Berlin.

LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUE FOLGE, BEGRÜNDET VON HERMANN KUNISCH

IM AUFTRAG DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON MATTHIAS BAUER, SUSANNE FRIEDE, BEATRICE JAKOBS, KLAUS RIDDER, GERTRUD M. RÖSCH, CHRISTOPH STROSETZKI in Verbindung mit einem wissenschaftlichen Beirat PEER REVIEWED SEIT 2015

NEUNUNDFÜNFZIGSTER BAND

2018

DUNCKER & HUMBLOT · BERLIN

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 0075-997X ISBN 978-3-428-15518-7 (Print) ISBN 978-3-428-55518-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-85518-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Vorwort Mit dem vorliegenden Band übernimmt (entgegen der Ankündigung im letzten Jahrbuch) Matthias Bauer die Herausgeberschaft für die anglistischen und amerikanistischen Beiträge, nachdem er seit 2015 dem wissenschaftlichen Beirat des Literaturwissenschaftlichen Jahrbuches angehört hatte. Neu für den Beirat gewonnen werden konnten Florian Kragl (Erlangen), Richard Trachsler (Zürich) und Edwin Williamson (Oxford). Die Herausgeber / innen im Namen der Görres-Gesellschaft

Inhaltsverzeichnis AUFSÄTZE

Beatrice von Lüpke (Tübingen), Überlegungen zum Stil der Lavinia-Episoden in den mittelalterlichen Eneasromanen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Maximilian Wick (München), Car molt a entre faire et dire. Reflexionen von Sprache und (Ur-)Schuld im Roman de Renart und im Reinhart Fuchs  . . . 27 Rebekka Nöcker (Tübingen), Zur Dollnsteiner Fastnacht im Parzival (409,8–11) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Richard Trachsler (Zürich), Merlin empilé. Les états textuels du Merlin et de sa Suite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Hélène Bouget (Brest), Mouvance du texte et mouvance du sens dans les versions abrégées de La Queste del Saint Graal (XIIIe–XVIe siècles) . . . . . . . . 123 Benjamin Kohlmann (Freiburg), »Plain and positiue termes«: The Idea of a Perfect Language in Early Modern Utopian Narratives . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Ignacio Arellano (Navarra/Münster), El desenlace de La verdad sospechosa de Ruiz de Alarcón. Otra revisión . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Dietmar Kunisch (Iffeldorf), Joseph von Eichendorff, Das Marmorbild. Eine autobiographische Novelle? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Lars Schneider (München), Ausstieg aus der Geschichte? Über Fernán Caballeros Clemencia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Max Graff (Heidelberg), Die Würde der Krankheit. Thomas Manns Essay Goethe und Tolstoi, Schiller und die Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Marion Darilek (Tübingen), Gezeichnete Tiere. Transfers und Transforma­ tionen von Erzählmustern und Wissensbeständen aus Tierepos und Fabel in Benjamin Renners Fuchs-Comic Le Grand Méchant Renard . . . . . . . . . . . . . 257 KLEINER BEITRAG

Bernhard Schlink (Berlin), Der Freie und der Knecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

8 Inhaltsverzeichnis BUCHBESPRECHUNGEN

Dieter Breuer / Jürgen Breuer, »Mit Wahrheit oder nach Sage«. »Nibelungenlied« und Kreuzzüge (von Michael Rupp)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Detlef Metz, Das protestantische Drama: Evangelisches geistliches Theater in der Reformationszeit und im konfessionellen Zeitalter (von Glenn Ehr­ stine)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Frédéric Ogée (Hg.), Sensing the World. Taste and the Senses in the Eighteenth Century (II), (Landau-Paris Studies in the Eighteenth Century, Bd. 5) (von Sabine Volk-Birke)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Hebbel Jahrbuch, Bd.  71 / 2016 (von Anna Sawko von Massow)  . . . . . . . . . . . . 316 Hebbel Jahrbuch, Bd.  72 / 2017 (von Anna Sawko von Massow)  . . . . . . . . . . . . 317 Klaus-Groth-Gesellschaft, Jahrbuch 2017 (von Anna Sawko von Massow)  . . . 320 Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft. Bd. 66 / 2017 (von Anna Sawko von Massow)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Karl Ernst Laage, Theodor Storm zum 200.  Geburtstag. Aufsätze  – Untersuchungen  – Dokumente (von Anna Sawko von Massow)  . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Namen- und Werkregister (von Ulrich Barton) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325

Überlegungen zum Stil der Lavinia-Episoden in den mittelalterlichen Eneasromanen Von Beatrice von Lüpke Wohl kaum ein Werk der mittelhochdeutschen Literatur ist so systematisch auf seine Vorlagen hin untersucht worden wie der Eneasroman Heinrichs von Veldeke.1 Als Übertragung des anonym überlieferten Roman d’Eneas, dem Vergils Aeneis zugrunde liegt, auf die wiederum auch Veldeke bei seiner Bearbeitung zurückgegriffen hat, handelt es sich bei ihm um die Bearbeitung einer Bearbeitung.2 Neben der unmittelbaren 1  Siehe zusammenfassend dazu Joachim Hamm, Marie-Sophie Masse, »Aeneasromane«, in: Gert H. M. Claassens, Fritz Peter Knapp, Hartmut Kugler (Hgg.), Germania Litteraria Francigena. Bd. 4: Historische und religiöse Erzählungen, Berlin 2014, 79–116, hier 80, sowie Peter Kern, »Beobachtungen zum Adaptationsprozess von Vergils ›Aeneis‹ im Mittelalter«, in: Joachim Heinzle, Peter L. Johnson, Gisela Vollmann-Profe (Hgg.), Übersetzen im Mittelalter. Cambridger Kolloquium 1994 (Wolfram-Studien 14), Berlin 1996, 109–133. Einen detaillierten Vergleich von Veldekes Eneasroman mit dem Roman d’Eneas hat Marie-Luise Dittrich, Die ›Eneide‹ Heinrichs von Veldeke, Wiesbaden 1966, unternommen. Obwohl ihre zentrale These, dass Veldekes Bearbeitung eine Umarbeitung zu einem heilsgeschichtlichen Epos sei, vielfach hinterfragt wurde (vgl. etwa Silvia Schmitz, Die Poetik der Adaptation. Literarische inventio im ›Eneas‹ Heinrichs von Veldeke, Tübingen 2007, 199 f.), haben ihre Einzelbeobachtungen nach wie vor Gültigkeit. 2  Der Eneasroman gilt damit als eine »Dichtung auf dritter Stufe« (Hamm, Masse, »Aeneasromane«, 79). Vgl. auch den Sammelband Marie-Sophie Masse, Stephanie Seidl (Hgg.)‚ ›Texte dritter Stufe‹. Deutschsprachige Antikenromane in ihrem lateinisch-romanischen Kontext (Kultur und Technik 31), Berlin 2016. Der Begriff suggeriert, dass sich Intertextualität als ein gradueller Prozess mit zählbaren Stufenfolgen fassen und dass sich in Bezug auf den Eneasroman in diesem Prozess eine ausschließlich lineare Abfolge von lateinischem, altfranzösischem und deutschem Text ausmachen ließe. Zu bedenken bleibt, dass bereits Vergils Aeneis selbst in engem Zusammenhang zu Homers Epen gesehen werden muss und Veldeke bei seiner Bearbeitung nicht allein vom Roman d’Eneas abhängt, sondern ebenfalls auf Vergils Epos zurückgreift. Nichtsdestoweniger lenkt eine solche Begriffsprägung das Augenmerk darauf, dass die Antikenromane »Spezialfälle mittelalterlichen Wiedererzählens« sind (Marie-Sophie Masse, Stephanie Seidl, »›Dritte Stufe‹ und ›viertes Rad‹. Poetologische Reflexionen und Autorbilder in französisch- und deutschsprachigen Antikenromanen des Mittelalters«, in: dies. [Hgg.], Texte, 117–133, hier 132).

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französischen und der unmittelbaren und mittelbaren lateinischen Vorlage hat die Forschung auch auf den Einfluss gelehrter spätmittelalterlicher Vergil-Kommentare und historiographischer Texte wie des Excidium ­Troiae und der Ylias des Simon Aurea Capra hingewiesen. Als gesichert gilt der Einfluss Ovids, und zwar sowohl der Metamorphosen und des siebten Heroidenbriefs als auch der seiner liebestheoretischen Schriften Ars Amatoria und Remedia Amoris.3 Zuletzt hat Joachim Hamm in die Diskussion eingebracht, ob nicht auch die Pseudo-Ciris Vorbild für eine Szene des Eneasromans sein könnte.4 Wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Roman bemühen konsequenterweise zumeist auch den Vergleich mit mindestens der französischen Vorlage.5 Die wohl augenfälligste Umgestaltung des französischen und dann auch des mittelhochdeutschen Eneasromans betrifft eine von Vergil nur sehr beiläufig erwähnte Zuneigung der Königstochter Lavinia zu Aeneas.6 Sie wird zu einer Liebesgeschichte ausgestaltet, hinter der wohl die liebes­ theoretischen Schriften Ovids stehen.7 Was sich in inhaltlicher Perspektive problemlos als Orientierung mal an der einen, mal an der anderen antiken Autorität beschreiben lässt, weist in formaler, sprachlicher Perspektive auf eine Spannung, wie Erich Auerbach bemerkt: »Der Éneasdichter verpflanzt […] die ovidische Liebeskasuistik in eine andere Gesellschaftsschicht und in einen anderen Stil, wo sie sich, so scheint mir wenigstens, noch ein wenig sonderbar ausnimmt.«8 Auch Renate Kistler vermutet, dass zumindest für Veldeke in sprachlich-formaler Hinsicht Ovid das Vorbild für die Minnemonologe war, dies jedoch nicht mit seinen liebestheoretischen Schriften, sondern mit den Metamorphosen. In der Gestaltung der Reden stehe Veldeke zudem der lateinischen Vorlage näher als der französische Anonymus. An den Lavinia-Szenen ließen sich damit wesentliche Unterschiede zwischen dem mittelhochdeutschen Roman und seiner altfranzösischen Vorlage festmachen, die aber nicht inhaltlich, sondern »stilistisch«9 zu fassen seien und sich in einer zunehmenden rhetorischen Durchfor­ enkel, mung äußerten.10 Zu einer anderen Einschätzung gelangt Nikolaus H 3  Renate Kistler, Heinrich von Veldeke und Ovid (Hermaea. Neue Folge 71), Tübingen 1993. 4  Joachim Hamm, »Lavinia und die Wahrheit der Geschichte«, in:  Masse, Seidl (Hgg.), Texte, 39–53. 5  So auch die Einschätzung von Schmitz, Poetik, 21. 6  Aeneis, XII, 64–66. 7  Kern, »Beobachtungen«, 133. 8  Erich Auerbach, Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter, Bern 1958, 162. 9  Vgl. Kistler, Veldeke, 184.



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den mittelalterlichen Eneasromanen bescheinigt, Ovids mittlerem Darstellungsstil zu folgen, und konsequenterweise im Vergleich mit dem  lateinischen Epos von einer »grundsätzlichen Neuorientierung« auf sprachlich-formaler Ebene spricht.11 Diese Auffassung vertritt auch Elisabeth Lienert: 10der

Der Gattungswechsel vom antiken Hexameter-Epos zum Versroman […] äußert sich […] in unterschiedlicher Stilhöhe und Erzählgestus: Vergils hochgetriebenes episches Pathos wird durch einen eleganten Erzählton auf mittlerer Stilebene ersetzt.12

Diese zum Teil  recht beiläufigen Bemerkungen sind unabhängig voneinander gefallen und haben bislang nicht zu kontroversen Debatten in der Forschung geführt. Sie weisen erstens darauf, dass sich inhaltliche Anlehnungen sehr viel eindeutiger identifizieren lassen als Entsprechungen, die die sprachliche Form betreffen. Zweitens fordern sie mehr oder weniger explizit eine stilistische Kohärenz der mittelalterlichen Romane ein, für die die Übertragung und Kompilation lateinischer Texte unterschiedlicher Gestalt eine besondere Herausforderung darstellt. Drittens argumentieren alle zitierten Positionen mehr oder weniger reflektiert mit dem Begriff ›Stil‹, der in der mediävistischen Forschung zwar immer wieder verwendet und verworfen, der aber insbesondere in der letzten Zeit erneut zur Diskussion gestellt und in seinen Möglichkeiten erprobt wurde.13 Die folgenden Ausführungen möchten an diese Diskussion anschließen und Überlegungen zum Stil im Eneasroman anstellen. In einem ersten Schritt wird dazu der vormoderne rhetorische Stildiskurs rekapituliert. In einem zweiten Schritt wird die Lavinia-Handlung in dieser Perspektive diskutiert, bevor davon ausgehend ein Ausblick auf den Stilbegriff in der germanistischen Mediävistik unternommen wird. 10  Ebd.,

178–186, insb. 186. Henkel, »›Fortschritt‹ in der Poetik des höfischen Romans. Das Verfahren der Descriptio im ›Roman d’Eneas‹ und in Heinrichs von Veldeke ›Eneas­ roman‹«, in: Joachim Bumke, Ursula Peters (Hgg.), Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur (Sonderheft der ZfdPh 124), Berlin 2005, 96–116, hier 105. 12  Elisabeth Lienert, Deutsche Antikenromane des Mittelalters (Grundlagen der Germanistik 39), Berlin 2001, 74. 13  So vor allem im Sammelband Elizabeth Andersen et  al. (Hgg.), Literarischer Stil. Mittelalterliche Dichtung zwischen Konvention und Innovation. XXII. AngloGerman Colloquium Düsseldorf, Berlin 2015. Siehe auch Jens Haustein, »Mediävisti­ sche Stilforschung und die Präsenzkultur des Mittelalters. Mit einem Ausblick auf Gottfried von Straßburg und Konrad von Würzburg«, in: Ulrich Breuer, Bernhard Spies (Hgg.), Textprofile stilistisch. Beiträge zur literarischen Evolution (Mainzer Historische Kulturwissenschaften 8), Bielefeld 2011, 43–60. Vgl. auch Maximilian Benz, »Über den Stil«, DVjs 89 (2015), 666–674. 11  Nikolaus

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I. Definitionen von ›Stil‹ in den Sprach- und Literaturwissenschaften kommen zumeist darin überein, dass Stil die Art und Weise des Sprechens und Schreibens bezeichne, für die »stets Regeln, Normen, Erwartungen einerseits und Abweichungen von Stilvorgaben […] andererseits eine bedeutsame Rolle [spielen]«.14 Diese Minimaldefinition lässt sich hinsichtlich verschiedener historischer Stildiskurse konkretisieren, wie zuletzt Gert Hübner zeigt. Er unterscheidet zwischen einem rhetorischen, einem ästhetischen und einem linguistischen Stildiskurs, zu denen Verwendungsweisen des Begriffs in den Literaturwissenschaften in einer »parasitären Relation«15 stünden. Unter diesen drei Stildiskursen soll im Folgenden der rhetorische verfolgt werden, handelt es sich bei der Rhetorik im Mittelalter doch um die maßgebliche Theorie auch der literarischen Textproduktion und Grundlage der sprachlichen Ausbildung. Ihre Regeln sind historisch greifbar und lassen sich folglich auch in ihrer Umsetzung in konkreten literarischen Texten beschreiben oder zumindest problematisieren.16 Das Mittelalter führt den antiken rhetorischen Stildiskurs fort, der ihm in den rhetorischen Schriften Ciceros,17 der ihm fälschlicherweise zugeschriebenen Rhetorica ad Herennium und, wenn auch zum größten Teil  mittelbar, in Quintilians Institutio oratoria überliefert ist.18 Der lateinische Begriff stilus spielt in diesen Schriften zwar eine »randständige Rolle«19, das damit nach modernem Verständnis Bezeichnete wird aber in 14  Bernhard Sowinski, »Stil«, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, 12 Bde., Tübingen u. a. 1992–2015, Bd. 8, 1393–1419, hier 1393. Auch Einführungen in die Stilistik verzichten bezeichnenderweise auf allgemeingültige Festlegungen, vgl. etwa Karl-Heinz Göttert, Oliver Jungen, Einführung in die Stilistik (UTB 2567), München 2004, 13 f.; Bernhard Sowinski, Stilistik. Stiltheorien und Stil­ analysen (Sammlung Metzler), 2. Aufl., Stuttgart 1999, 1 f. 15  Gert Hübner, »Historische Stildiskurse und historische Poetologie«, in: Andersen et al. (Hgg.), Stil, 17–37, hier 17. 16  Vgl. Haustein, »Stilforschung«, 44. 17  Zu nennen ist für das Mittelalter vor allem De inventione. Zur Überlieferung des antiken rhetorisch-stilistischen Wissens im Mittelalter siehe zusammenfassend Joachim Knape, »Rhetorik und Stilistik des Mittelalters«, in: Ulla Fix, Andreas Gardt, Joachim Knape (Hgg.), Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung / Rhetoric and Stylistics. An International Handbook of Historical and Systematic Research. 1. Halbband (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 31.1), Berlin / New York 2008, 55–73, hier 56. 18  Zum Folgenden siehe Sowinski, Stil, sowie Hübner, »Stildiskurse«, 18–24. 19  Ebd., 18.



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verschiedenen Zusammenhängen sehr wohl theoretisch gefasst. Konstitutiv ist die Unterscheidung zwischen Inhalt und Ausdrucksformen sowie die damit einhergehende Annahme, dass man einen Inhalt auf unterschiedliche Art und Weise ausdrücken könne. Bei der Einkleidung der Sachverhalte gilt es, verschiedene Stiltugenden anzustreben. Neben der perspicuitas, der sprachlichen Klarheit, soll vor allem das aptum gewahrt werden. Es lässt sich als innere Angemessenheit auf den Zusammenhang von Inhalt und Sprache, als äußere Angemessenheit auf den Zusammenhang von Sprache und Wirkung beziehen. Aus dieser Differenzierung ergeben sich wiede­ rum Kriterien zur Unterscheidung dreier Stilebenen,20 auf die zum Teil auch die eingangs zitierten Positionen verweisen: Die Unterscheidung dreier Wirkabsichten, nämlich zu belehren, zu erheitern oder emotional aufzuwühlen, ist ebenso mit einem niederen, mittleren oder hohen Stil korreliert wie die Unterscheidung dreier Stoffbereiche. Diese Lehre wird zum Teil mit der Figurenlehre enggeführt: Die figura gravis, mediocris und attenuata unterschieden sich demnach durch die graduelle Abnahme des Redeschmucks.21 Diese Überlegungen werden auch auf die Dichtung übertragen. Sie hat keine von der Rede verschiedene Funktion, sondern kann vielmehr alle Wirkabsichten bedienen.22 Auch in der Dichtung lassen sich folglich drei Stilebenen unterscheiden. Dies aber nicht in dem Sinne, dass auch die 20  Zu diesen siehe einführend Kurt Spang, »Dreistillehre«, in: HWRh, Bd. 2, 921– 972, sowie Franz Quadlbauer, Die antike Theorie der genera dicendi im lateinischen Mittelalter (Sitzungsberichte. Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse 241,2), Wien 1962, und Thomas Schirren, »Niveau der Textgestaltung (Dreistillehre / genera dicendi)«, in: Ulla Fix, Andreas Gardt, Joachim Knape (Hgg.), Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung  /  Rhetoric and Stylistics. An International Handbook of Historical and Systematic Research. 2. Halbband (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 31.2), Berlin / New York 2009, 1425–1444. Ein Zeugnis für die Rezeption der Dreistillehre und ihre Bedeutung für die mittelalterliche Dichtung bietet Walthers von der Vogelweide Spruch L 84.22, in dem es heißt, er habe vil rehte drîer slahte sanc getroffen (zitiert nach: Walther von der Vogelweide, Leich, Lieder, Sangsprüche, hg. Thomas Bein, 15. Aufl., Berlin 2013). Zu diesem Spruch siehe Ferdinand Urbanek, »Rhetorischer Disput im Dienste staufischer Kreuzzugspolitik. Zu Walthers Spruch vom ›drîer slahte sanc‹«, DVjs 67 (1993), 221–251, sowie ders., »Die genera dicendi in der Dichtung Walthers von der Vogelweide«, ZfdPh 114 (1995), 1–28. Vgl. auch ders., »Die drei antik-mittelalterlichen Genera dicendi in weiterer Aufgliederung«, Mittellateinisches Jahrbuch 30 (1995), 1–27. 21  Vgl. etwa Rhetorica ad Herennium 4,11. 22  Im Anschluss an die überaus wirkmächtige, sogenannte Ars Poetica, wird vor allem das prodesse und delectare (Horaz, Ars Poetica, v. 333) betont. Vgl. dazu Paul

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Einordnung eines gesamten Werkes in eine der drei Stilebenen gefordert würde. Inhalt und Wirkabsicht können einen Wechsel auch innerhalb eines Werkes erforderlich machen.23 Einem mittelalterlichen rhetorisch-poetischen Stilbegriff lassen sich darüber hinaus auch jene Vorgaben zurechnen, die zur imitatio und dann auch zur aemulatio auctorum anleiten.24 Diese implizieren, dass jede Dichtung, zumal mittelalterlicher Wiedererzählungen, sich an einem vorgegebenen Stilideal orientierten, dieses jedoch auch zu übertreffen vermögen. Zugleich ist darin die Möglichkeit einer Orientierung an verschiedenen Vorbildern angelegt, sodass sowohl die Selektion eines nachzuahmenden literarischen Textes als auch die Kombination mehrerer als ein persön­ licher Stil gedacht werden können. An diese Vorstellung schließen mittelalterliche Poetiken25 zwar an, deuten aber zugleich die Lehre von den drei Stilen im Anschluss an Augustinus um: Die von Gott geschaffene Ordnung der Welt reproduziere sich als Ordnung der Sprache. Stilebenen werden nicht mehr allein hinsichtlich ihrer Wirkabsichten, sondern hinsichtlich des gesellschaftlichen Ranges der dargestellten Personen unterschieden, was an den drei Werken Vergils illustriert wird.26 Unter den Funktionen der Dichtung wird im Anschluss Klopsch, Einführung in die Dichtungslehren des lateinischen Mittelalters (Das lateinische Mittelalter), Darmstadt 1980, 42, sowie Hübner, »Stildiskurse«, 21. 23  Vgl. Urbanek, »genera dicendi«, 3 f. 24  Nicola Kaminski, »Imitatio auctorum«, in: HWRh, Bd. 4, 235–303. 25  Zu nennen sind die vor 1175 entstandene Ars versificatoria des Matthäus von Vendôme (ediert: Mathei Vindocinensis Opera, Band  III: Ars versificatoria, hg. Franco Munari [Storia e letteratura 171], Roma 1988) sowie die wohl zu Beginn des 13.  Jh.s entstandenen poetologischen Schriften Galfridus’ de Vinosalvo, die Poetria nova (ediert: The Poetria nova and its sources in early rhetorical doctrine, hg. Ernest Gallo [De proprietatibus litterarum. Series maior 10], The Hague et al. 1971) und das Documentum de modo et arte dictandi et versificandi (ediert: Edmond Faral, Les Arts poétiques du XIIe et du XIIIe siècle. Recherches et documents sur la technique littéraire du moyen âge [Bibliothèque de l’École des Hautes Études. Sciences Historiques et Philologiques 238], Paris 1962, 263–327), die Parisiana Poetria Johannes’ von Garlandia und die um 1215 entstandene Ars Poetica Gervais’ von Melkley. Auch wenn die beiden letztgenannten Schriften nach dem Eneasroman entstanden sind, lässt sich ihnen doch ein Diskurs entnehmen, der bereits die Ausbildung des französischen Anonymus und Veldekes geprägt haben dürfte. Vgl. auch die Einschätzung von Sylvia Schmitz: »Auch wenn ihr [i. e. die mittellateinischen Poetiken] größter Teil  später als die Bearbeitungen der ›Blütezeit‹ entsteht, bilden sie den historisch adäquaten Rahmen für das Verständnis der rhetorisch-poetischen Fundierung der Dichtungen« (Schmitz, Poetik, 7). Zu den lateinischen Poetiken des Mittelalters siehe einführend immer noch Klopsch, Dichtungslehren, sowie Knape, »Rhetorik«, 61 und 65–68.



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an Horaz 26vor allem herausgestellt, dass Dichtung durch ihre Schönheit, die in besonderer Weise durch den ornatus bedingt ist, zu erfreuen vermag.27 Derartige Vorschriften bleiben einerseits unbefriedigend: Sie leiten zwar dazu an, drei Stilebenen zu unterscheiden, und geben mit der Korrelation von Stand und Sprache ein eindeutiges Kriterium für eine Zuweisung zu einer Stilebene an die Hand; die sprachlichen Ausdrucksmittel, die damit einhergehen, bleiben aber unbestimmt. Antike literarische Werke werden als Beispiele einer Stilebene genannt; die Kriterien dieser Zuordnung erschließen sich aber nicht immer. Rhetorische Vorschriften sind nicht unabhängig von einer stilistischen Praxis zu denken. In welchem Ausmaß sie die Literatur bestimmten, lässt sich aber schwer bestimmen. Andererseits zeigen Arbeiten insbesondere zum Eneasroman Heinrichs von Veldeke, dass der Einfluss der rhetorischen Ausbildung wohl kaum zu überschätzen ist.28 Eine Interpretation in dieser Perspektive beruht auf einer Bestandsaufnahme sprachlicher Figuren und Tropen, auf Beobachtungen zur Lexik und Syntax. Sie versucht, diese Beobachtungen in enger Abhängigkeit von seinem Inhalt und seinen Wirkabsichten zu bewerten und, wenn auch nicht zu einer ganzheitlichen Qualität im Sinne eines Autoren- oder Epochenstils zu verbinden, so doch die sprachliche Oberfläche auf ihre Kohärenz und Stimmigkeit zu hinterfragen, was für einen Roman, dessen Besonderheit in seinem kompilatorischen Charakter gesehen wird, wohl von unzweifelhaftem Belang sein dürfte.29

26  So insbesondere die Vorstellung von Galfridus de Vinosalvo. Vgl. Spang, »Dreistillehre«, sowie Klopsch, Dichtungslehren, 111. 27  So vor allem in der Ars versificatoria des Matthäus von Vendôme. 28  Vgl. etwa die Studie von Schmitz, Poetik, die den Roman konsequent in der Perspektive rhetorisch-poetischer Vorschriften zur inventio interpretiert und davon ausgeht, dass sich die Autoren durch ihre rhetorische Ausbildung einen habitus ­aneigneten, sowie auch Franz Josef Worstbrock, »Dilatatio materiae. Zur Poetik des ›Erec‹ Hartmanns von Aue«, Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), 1–30; ders., »Wiedererzählen und Übersetzen«, in: Walter Haug (Hg.), Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze (Fortuna Vitrea 16), Tübingen 1999, 128–142, sowie Joachim Hamm, »Camillas Grabmal. Zur Poetik der dilatatio materiae im deutschen Eneasroman«, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, N.F. 45 (2004), 29–56. 29  Vgl. auch Hübner, »Stildiskurse«, 37.

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II. Die Handlung der sich im altfranzösischen Roman auf etwa 1500 Verse (Roman d’Eneas, v.  7857–9274)30 und im mittelhochdeutschen auf etwa 2000 Verse (Eneasroman, v.  260,7–306,34)31 erstreckenden Liebesepisode lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Nach verlustreichen Gefechten verabreden sich Turnus und Eneas zum Zweikampf. Lavinias Mutter versucht, ihre Tochter in einem Gespräch für Turnus einzunehmen, und belehrt sie über das Wesen der Minne. Sobald Lavinia aber Eneas erblickt, wird sie von der ihr bis dahin unbekannten Macht ergriffen, die sie als Minne identifiziert und anklagt. Die Königin erkennt Lavinias Zuneigung zu Eneas, stellt sie zur Rede und tadelt ihr Empfinden. Lavinia gesteht Eneas ihre Liebe in einem Brief. Eneas entbrennt, nachdem er den Brief erhalten und daraufhin mit Lavinia Blicke getauscht hat, seinerseits in Liebe zu ihr und klagt ebenfalls die Minne an. Lavinia zweifelt kurz an der Zuneigung Eneas’, bis die Liebenden sich durch einen Blickwechsel erneut ihrer Liebe versichern. Diese Liebesgeschichte zwischen Lavinia und Eneas hat als umfassendste Umgestaltung des französischen Anonymus gegenüber der lateinischen Vorlage das besondere Interesse der Forschung auf sich gezogen: Erörtert wurden die Emotionalität der geschilderten Zuneigung und deren Mittelbarkeit.32 Vor allem aber wurde das Geschehen um Lavinia und Eneas mit dem um Dido und Eneas verglichen, dabei nach der Rechtmäßigkeit der einen gegenüber der Unrechtmäßigkeit der anderen Liebe gefragt33 und 30  Hier und im Folgenden zitiert nach Le Roman d’Eneas, übers. u. eingel. Monica Schöler-Beinhauer (Klassische Texte des romanischen Mittelalters 9), München 1972. 31  Hier und im Folgenden zitiert nach Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Die Berliner Bilderhandschrift mit Übersetzung und Kommentar, hg. Hans Fromm. Mit den Miniaturen der Handschrift und einem Aufsatz v. Dorothea u. Peter Diemer (Bibliothek des Mittelalters 4), Frankfurt / M. 1992. 32  Rüdiger Schnell, »Medialität und Emotionalität. Bemerkungen zu Lavinias Minne«, Germanisch-Romanische Monatsschrift 55 (2005), 267–282; Bruno Quast, Monika Schausten, »Amors Pfeil. Liebe zwischen Medialisierung und Mythisierung in Heinrichs von Veldeke Eneasroman«, in: Mireille Schnyder (Hg.), Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters (Trends in Medieval Philology 13), Berlin / New York 2008, 63–82. Die Forschung zu den Liebesepisoden fasst Schmitz, Poetik, 199– 218, zusammen. 33  Zu dieser Forschungsdebatte und der Frage, ob sich die Darstellung der ›Minne‹ in beiden Episoden fundamental unterscheide, vgl. zusammenfassend Monika Schausten, »Gender, Identität und Begehren: Zur Dido-Episode in Heinrichs von Veldeke ›Eneit‹«, in: Ingrid Bennewitz, Helmut Tervooren (Hgg.), Manlîchiu wîp, wîplîch man. Zur Konstruktion der Kategorien ›Körper‹ und ›Geschlecht‹ in der deut-



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der Zusammenhang von ›Minne‹ und ›Herrschaft‹ diskutiert.34 Demgegenüber ist die Rhetorik dieser offenkundig so bemerkenswerten Partien kaum untersucht worden,35 obwohl bereits Dirk Blask zu der Einschätzung gelangt, es handele sich um »ein mehr oder minder separates, d. h. auch eigenständiges, Stück Literatur«36, das »ein wenig den Eindruck eines literarisch-rhetorischen Bravour- oder Virtuosenstücks und einer publikumswirksamen narrativen ›Zugabe‹«37 vermittele. Anknüpfen lässt sich an die Interpretationen Hübners, der ebenfalls von einem Vergleich der beiden Liebesepisoden ausgeht. Sein Interesse gilt dem erzähltechnischen Arrangement, an dem sich fundamentale Unterschiede auch zwischen dem französischen und dem mittelhochdeutschen Roman festmachen ließen: Veldeke erprobe »das Erzählen von der Figur her«, für das »ein mit höfischen Augen gesehener Vergil Pate stand.«38 Der Inhalt der Episoden ließe sich so zweifelsfrei auf Ovid zurückführen, die sprachliche Darstellung verweise aber auf Vergil. Auffällig ist zunächst, dass in diesen Passagen immer wieder das Wesen der Minne beschrieben wird, das dem Rezipienten bereits aus den Empschen Literatur des Mittelalters (Beihefte zur ZfdPh 9), Berlin 1999, 143–158, hier 146–148, sowie Gert Hübner, Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im ›Eneas‹ im ›Iwein‹ und im ›Tristan‹, Tübingen / Basel 2003. Er gelangt zu der abschließenden Einschätzung: »Es ist, wie eine ganze Reihe von Untersuchungen gezeigt hat, schwer, konzeptionelle Unterschiede zwischen der Liebe Didos und der Liebe Lavinias zu entdecken: Die eine wie die andere liebt nach ovidianischer Topik und deshalb offenbar nicht mehr oder weniger ›recht‹« (ebd., 249). 34  Dieter Kartschoke, »Didos Minne – Didos Schuld«, in: Rüdiger Krohn (Hg.), Liebe als Literatur. Aufsätze zur erotischen Dichtung in Deutschland, München 1983, 99–116; Ingrid Kasten, »Herrschaft und Liebe. Zur Rolle und Darstellung des ›Helden‹ im Roman d’Eneas und in Veldekes Eneasroman«, DVjs 62 (1988), 227– 245, sowie auch Anna Mühlherr, »Offenlîche unde stille. Die Liebe des Herrschers im ›Roman d’Eneas‹ und bei Heinrich von Veldeke«, in: Gisela Vollmann-Profe et  al. (Hgg.), Impulse und Resonanzen. Tübinger mediävistische Beiträge zum 80. Geburtstag von Walter Haug, Tübingen 2007, 115–130. 35  Ansätze finden sich bei Kistler, Veldeke, 178–186, die aber vor allem nach inhaltlichen Entsprechungen zwischen dem mittelhochdeutschen Eneasroman und den Schriften Ovids fragt. Schmitz, Poetik, 153–218, untersucht die Funktion der Liebe im Blick auf die Figurengestaltung. Vgl. aber die umfangreiche Bestandsaufnahme rhetorischer Figuren bei Jean-Marc Pastré, Rhétorique et adaptation dans les oeuvres allemandes du Moyen-Age (Publications de l’Université de Rouen 50), Paris 1979, zu Heinrich von Veldeke insb. 297–317. 36  Dirk Jürgen Blask, Geschehen und Geschick im altfranzösischen Eneas-Roman (Romanica et Comparatistica 2), Tübingen 1984, 171 f. 37  Ebd. 38  Hübner, Erzählform, 204. Ähnliche Beobachtungen trifft bereits Kistler, Veldeke, 183.

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findungen der unglückseligen Dido vertraut ist. Lavinia und Eneas entdecken ihre Gefühle füreinander. Sie bestätigen damit aber lediglich, was ohnehin durch Götterwillen feststand: Sie  – und nicht etwa Dido und Eneas  – sind füreinander bestimmt. Diese Episoden haben also bezüglich der Romanhandlung retardierenden Charakter. Ihr Reiz scheint in der Variation der Minnethematik zu bestehen, die der Erzähler vor allem durch verschiedene Redeformen, Dialoge und Monologe, anstrebt.39 Am Beginn steht das Minnegespräch zwischen Königin Amata40 und ihrer Tochter Lavinia, das im französischen wie im deutschen Roman zum Teil als Stichomythie (Roman d’Eneas, v. 7888–7901, 7935–7942, 7953–7956 u. ö.; Eneasroman, v.  261,17–27, 261,36–262,8, 263,10–13 u. ö.) gestaltet ist und darüber hinaus durch zahlreiche Wortwiederholungen, figurae etymologicae und Alliterationen von besonderer klanglicher Qualität ist. Amata gesteht zwar, dass die Minne ihrem Wesen nach sprachlich nicht angemessen ausgedrückt werden könne (Roman d’Eneas, v.  7892; Eneasroman, v.  262,7). Sie beschreibt sie aber trotzdem in ihren körperlichen Symptomen: Erbleichen, Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, abwechselndes Frieren und Schwitzen. In der Tradition Ovids wird die Minne als ein Leiden beschrieben,41 das andere Leiden noch übertrifft (vgl. Roman d’Eneas, v.  7917–7930; Eneasroman v.  262,40–263,3). Ihr ambivalentes, zugleich angenehmes und schmerzhaftes Wesen benennt die Königin in zahlreichen parallelen und zugleich paradoxen Abfolgen (Roman d’Eneas, v.  7961– 9774; Eneasroman, v.  263,19–33), die sich schließlich zu der Behauptung steigern: la plaie saine que il fait (Roman d’Eneas, v.  7972; vgl. Eneasroman v.  263,39)42, die in ähnlicher Form wiederholt wird (Roman d’Eneas, v. 7990, 8007). Lavinia erfährt die Gewalt der Minne nach diesem Gespräch am eigenen Leib, als sie Eneas erblickt. Der Erzähler schildert ihr körperliches Empfinden, und schließlich berichtet auch Lavinia selbst von dem ihr ungewohnten Leiden in einem langen Minnemonolog. Beide verwenden dabei zum Teil  die gleichen Worte, die bereits Amata zur Beschreibung der Minnesymptome gebraucht hat (vgl. Roman d’Eneas, v.  7921– 7930 und 8072–8077; Eneasroman v. 269,30). Lavinia äußert immer wieder 39  Die verschiedenen Redeformen listet detailliert auf: Jane Emberson, Speech in the ›Eneide‹ of Heinrich von Veldeke (GAG 319), Göppingen 1981. 40  Der Name der Königin wird in den mittelhochdeutschen Eneasromanen nicht genannt. 41  Siehe dazu ausführlich Kistler, Veldeke, 134–143. Zur kulturgeschichtlichen Annahme der Liebe als Krankheit siehe immer noch Hjalmar Crohns, »Zur Geschichte der Liebe als Krankheit«, Archiv für Kulturgeschichte 3 (1905), 66–86. 42  »sie heilt die Wunde, die sie schlägt«; Übersetzung nach Schöler-Beinhauer, Le Roman d’Eneas. Vgl. Eneasroman, v. 263,39.



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ihre Sorge, ihre Mutter könnte aufgrund ihrer körperlichen Symptome ihre Zuneigung zum Trojaner entdecken, was Heinrich von Veldeke anders als seine unmittelbare Vorlage nicht als einen débat intérieur, sondern als reine Monologpassagen gestaltet.43 Ihre Klage steigert sich schließlich zu einer, so formuliert es Dieter Kartschoke mit Blick auf Veldekes Eneas­ roman, regelrechten Arie:44 ›minne, ich han dich funden bitter albetalle, minne, du bist noch galle, minne, nN wirt sze, daz ich dich loben mze, minne, senfte mir ettewaz, daz ich dir gedienen mege baz, minne, sol ich iht lange leben, so mstu mir trost geben mit ettelichem sinne. waz hilfet dich daz, minne, daz ich sus smilze inne? dv heizest vnrehte minne, als ich dich noch bechenne. du bist ein quelerinne. Venus, heriv gotinne, gesenfte mir dise minne‹ – sprach diu kuneginne  –, ›vnze ich bedenche die rehten art der minne! dv treges salbe, minne. ist daz ich der gewinne, so genis ich, edeliv minne, vnd hastus michel ere. […]‹. (Eneasroman, v. 272,38–273,21)

Auffälligstes Stilmittel der Passage sind die mehrfachen Minneapostrophen, die zur Anapher und auch zur Epipher gestaltet worden sind. Von den zitierten 25 Versen beginnen oder enden elf mit dem Wort minne, das

Kistler, Veldeke, 183. Kartschoke, »Stellenkommentar«, in: Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkommentar u. einem Nachwort v. Dieter Kartschoke (RUB 8303), Stuttgart 2014, 759–826, hier 811. Auch Kistler beobachtet, dass es sich bei Veldekes Monologen um »lyrische Partien« handele (Kistler, Veldeke, 183). 43  Vgl.

44  Dieter

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sich auf die Empfindung oder ihre Personifikation bezieht.45 Die Epipher bedingt in der metrisch gebundenen Rede eine gewisse Reimarmut.46 Die Reimwörter inne, gewinne und vor allem sinne treten allerdings in auffälliger Häufigkeit in der gesamten Lavinia-Handlung auf. Zugleich bewirkt insbesondere die Kombination von Anapher und Epipher, dass die allumfassende Gewalt der Minne auch sprachlich in Erscheinung tritt: Sie ist Anfang und Ende der Reimpaarverse. Die Entsprechung im französischen Roman ist von einer ähnlich auffälligen Gestalt. Die Anaphern sind dort aber weniger regelhaft gesetzt und die Epipher fehlt (vgl. Roman d’Eneas, v.  8183–8232).47 Dieser Passage entsprechen in auffälliger Weise zwei Minnemonologe des Eneas.48 Als er ebenfalls in Liebe entbrennt und ihre Zeichen an sich spürt, klagt er die Minne mit folgenden Worten an: ›minne, ir tt mir alze we, wan daz ir sin nit welt enbern. minne, sol ez lange wern, so mz ez mir an daz leben gan. minne, waz han ich iv gitan, daz ir mich quelet so sere? minne, nemet ir mir min ere, hulfez mich iet, ich bin ein man. minne, al daz ich mach vnde can,

45  Vgl.

auch ebd. Variation in den Reimen lässt sich im gesamten Eneasroman beobachten. Sie wurde damit in Verbindung gebracht, dass Veldeke den regional neutralen Reim bemüht, um seinem Werk eine größtmögliche Reichweite zu sichern. Vgl. dazu Werner Schröder, Der Eneasroman Heinrichs von Veldeke deutsch (Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main 332,1), Stuttgart 1994, 7–15. 47  Diese Stelle bietet sich darüber hinaus auch deswegen an, Unterschiede zwischen den beiden mittelalterlichen Romanen festzumachen, weil die französische Entsprechung zum mittelhochdeutschen minne ausgerechnet amors ist. Im mittelhochdeutschen Roman wird minne insbesondere durch die Apostrophen zu einer Personifikation ausgestaltet, im Altfranzösischen bezeichnet das Wort ohnehin Empfindung und ausgerechnet den Gott, der Bruder des Eneas ist (vgl. Roman d’Eneas, v.  8940–8949).  – Zur weitergehenden stilistischen Durchformung des mittelhochdeutschen Eneasromans gegenüber dem Roman d’Eneas vgl. auch Pastré, Rhétorique, 316. 48  Dies ist auch deswegen bemerkenswert, weil der Autor dem Epilog zufolge die Arbeit am Manuskript zwischen diesen beiden Szenen unterbrechen musste (vgl. Eneasroman, v. 352,26–353,12). Siehe dazu Tina Sabine Weicker, »Dô wart daz bûch ze Cleve verstolen. Neue Überlegungen zur Entstehung von Veldekes ›Eneas‹«, ZfdA 130 (2001), 1–18, sowie Hamm, Masse, »Aeneasromane«, 85. 46  Mangelnde



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daz hilfet wider ivch nit ein har. minne, iwer burde ist mir al ze swar. ich enmach sie langer niht gitragen. minne, ich engitar von iv nit clagen, swie vnsanfte so ir mir tt. minne, n trostet mir den mt schiere, des ist mir not! minne, waz hilffet ivch min t=t?‹ (Eneasroman, v. 294,8–26)

Auch Eneas apostrophiert wiederholt die Minne, was auf der sprachlichen Oberfläche als Anapher realisiert wird. Auch sein Leiden äußert sich in vorwurfsvollen rhetorischen Fragen. Anders als Lavinia beklagt er jedoch vor allem seine Machtlosigkeit, die ihn dem Tode nahebringt. Augenfälliger noch sind die Entsprechungen zum Lavinia-Monolog, liest man ein paar Verse weiter: ›[…] Gnade‹, sprach er, ›minne, sit daz ich des beginne, daz ich iv sol dienen, minne, so bedarf ich gter sinne. der helfet ir mir, minne, e danne ich gar verbrinne! waz hilfet iv daz, minne, daz ich sus smelze inbinne? gnade mir, minne, e ich den schaden gewinne! getroste mich, minne, starchiv kuneginne! bistu min mter, minne, Venus, heriv gotinne, ob ich din sun bin, minne, des bring mich schiere innen!‹ (Eneasroman, v.  295,19–34)

Diese Passage hat kein Vorbild im altfranzösischen Roman. Die Verse waz hilfet iv daz, minne,   /   daz ich sus smelze inbinne? entsprechen aber, abgesehen davon, dass Eneas die Minne irzt,49 zwei Versen der zitierten Lavinia-Passage (ebd., v. 273,8 f.). Die Minne-Apostrophe beschließt systematisch jeden ersten Reimpaarvers, und auch die Reimwörter finden sich im Lavinia-Monolog. 49  Möglicherweise hängt dies damit zusammen, dass Eneas in der Minne zugleich seine Mutter Venus erkennt.

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Sowohl der französische Anonymus als auch Heinrich von Veldeke erzählen von der Minne in einer auffälligen, einer gesuchten Form. Die verwendeten Techniken, nämlich die breit angelegte Minne-Periphrase, die antithetische Ausdrucksweise, die Apostrophe und auch die Personifika­ tion, entsprechen nahezu mustergültig den Ausführungen, die zeitgenössische Poetiken zur Erweiterung des Stoffes anführen.50 Was wiederholt sowohl für den altfranzösischen als auch für den mittelhochdeutschen Eneasroman beobachtet und vor allem anhand der ausgefeilten Beschreibungen analysiert worden ist, lässt sich auch für die Minnehandlung belegen: Augenscheinlich war in produktionstheoretischer Perspektive unter anderem die dilatatio materiae bestimmend für Veldekes literarisches Tun.51 Ihre Techniken werden mit einer stilistischen Aufwertung des Stoffes assoziiert.52 Die zeitgenössische Poetik legt es demnach nahe, dass bereits der französische Anonymus eine hohe Stilebene angestrebt und Veldeke ihn als Wiedererzähler des antiken und zugleich des französischen Romans darin noch zu übertreffen versucht hat. Das innere aptum, das die Entsprechung von Form und Inhalt vorgibt, scheint damit gleichermaßen gewahrt: Lavinia und Eneas, Königstochter und Fürst, klagen die Minne als eine göttliche Macht an, die beide derart in ihren Bann geschlagen hat, dass sie um Gnade flehen. Diese theoretische, produktionsorientierte Sichtweise ist aber nur eine Perspektive auf die sprachliche Gestalt der Romane und möglicherweise nur von eingeschränkter Aussagekraft für ihre Wirkung. Hinzu kommt, dass die rhetorischen Techniken insbesondere der sprachlichen Erweiterung eines vorfindlichen Stoffes ihm, wie Worstbrock betont, eine neue Struktur verleihen und ihm damit vielleicht einen anderen oder einen zusätzlichen Sinn zuschreiben. Richtet man vor diesem Hintergrund erneut den Blick auf die Minnemonologe von Lavinia und Eneas, so spiegelt sich in ihnen ein Bemühen um Ausgewogenheit wider. Die einander entsprechende sprachliche Gestalt ihrer Reden stilisiert die beiden als ideales Paar. Die Parallelität, ja sogar die Wiederholung bedingt, dass Eneas wie Lavinia spricht und wie sie leidet. Dies lässt sich verschieden deuten: Einerseits kommt darin die Allgewalt der Liebeserfahrung zum Ausdruck. Das Minneerleben betrifft Frauen wie Männer gleichermaßen und führt zu immer den gleichen körperlichen und seelischen Befindlichkeiten, die sich dann 50  So vor allem bei Galfridus de Vinosalvo. Vgl. Faral, Arts, 63 f. Die Stellen nennt Worstbrock, »Dilatatio«, 27. Vgl. auch Schmitz, Poetik, 269, und Knape, »Rhetorik«, 65 f. 51  Vgl. Worstbrock, »Wiedererzählen«, 137, und vor allem Hamm, »Grabmal«, sowie Schmitz, Poetik, 262–292. 52  Vgl. ebd., 268–271.



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folgerichtig auch gleich artikulieren. Andererseits bewirkt sie eine gewisse Ambivalenz in der Darstellung des Eneas. Der exorbitante Held und Sohn einer Göttin selbst beklagt sein Verhalten explizit als unmännlich (vgl. Eneasroman, v. 294,17; 296,20–25; 298,26–29).53 Diese Spannung provoziert die Frage nach den Wirkungen, auf die ein rhetorischer Stilbegriff wesentlich zielt: Der mehrmaligen Beschreibung der Minne-Symptome, zuerst durch Amata, dann durch den Erzähler, schließlich durch Lavinia lässt sich eine belehrende Funktion nicht absprechen. Der Roman d’Eneas, so deutet es Joachim Hamm, belehre über ­einen typischen Fall der Minnekrankheit, und diese Tendenz steigere sich bei Veldeke »ins Exemplarische, Typische, Lehrhafte«.54 Das Minnegespräch zwischen Lavinia und ihrer Mutter sei schließlich »recht eigentlich ein Lehrdialog über die Liebe«.55 Die pathetischen Minneanrufe hingegen appellieren in ihrer markierten sprachlichen Form in besonderer Weise an die Gefühle des Hörers. Der auffällige Gebrauch von Stilmitteln schließlich ist in der rhetorischen Theorie in besonderer Weise mit dem delectare assoziiert. Die Frage nach dieser auf Vergnügen zielenden dichterischen Funktion lässt sich aber noch weiterführen: Das Motiv des liebeskranken Mannes ist auch komisch besetzt. Eneas’ Verhalten steht in einer komischen Spannung zu seiner Rolle als männlichem Held, die von seinen spottenden Gefährten explizit bemerkt wird (vgl. Eneasroman v. 290,14– 25). Dieser Spott und diese Schwäche Eneas’ verleiht dem Geschehen zwar zweifellos eine gewisse Dramatik: Eneas droht den finalen Zweikampf mit Turnus zu verlieren. Zumindest auf der Handlungsebene sorgt sein Verhalten aber auch für Gelächter. Nachdem Eneas an Lavinias Zuneigung gezweifelt hat, kommt es zu einem erneuten Blickwechsel der beiden, der auch seinen Gefährten nicht entgeht und erneut deren Spott herausfordert: si sach her vnd er dar. dez wurden seine man gewar, die mit im dar chamen. ze spotte si daz namen. (Eneasroman, v. 305,33–36) 53  Vgl. dazu die Überlegungen von Hübner: »Veldeke thematisiert mit dem Eneas-Sololoquium den Schritt vom Heroen zum Romanprotagonisten, den der ›Roman‹ vollzieht. Dabei setzte er das wichtigste Vehikel der Innenweltdarstellung dazu ein, die Liebe mit dem Heroischen in Einklang zu bringen. Wie man sieht, integriert dies der Männlichkeit Züge, die unter Weiblichkeitsverdacht standen: Im männ­ lichen Liebesmonolog kristallisiert die Differenz zwischen Heros und Romanprotagonist geradezu« (Hübner, Erzählform, 259). 54  Hamm, »Lavinia«, 50. 55  Ebd.

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Ein Trojaner rät daraufhin Eneas lachinde (ebd., 305,37), er würde mehr vom Leben haben, wenn er nicht ganz so nah an den Turm heranritte (vgl. ebd., 305,39–306,12). Von Eneas weiß der Erzähler dann zu berichten: Do lachet der herre Eneas (ebd., 306,13).56 Während das Geschehen um Dido tragisch ist  – in der Forschung zu Vergils Aeneis wird wiederholt auf die »Anklänge der Episode an das Tragödienmodell«57 hingewiesen  –, ist die Liebe zwischen Lavinia und Eneas von Anfang an auf Erfüllung angelegt. Damit ist nicht impliziert, dass die Episode analog als Komödie aufgefasst werden sollte. Die Handlung besteht aber doch in der Darstellung mehr oder weniger gewichtiger Hindernisse – vor allem in Gestalt von Amata – und wechselseitiger Missverständnisse, die lediglich das glückliche Ende verzögern und es keinesfalls verhindern können. In der Perspektive eines rhetorischen Stilbegriffs bedingt dies eine Spannung zwischen Stoff und Form. Analog zur zeitgenössischen Vorstellung der ›hohen Minne‹ fordert auch die Zuneigung zwischen Lavinia und Eneas Heimlichkeit und Illegitimität.58 Das Leiden, das Eneas und Lavinia erfahren, ist aber ein zeitlich begrenztes, und letztlich ist es sogar die Liebe zu Lavinia, die Eneas zum Sieg gegen Turnus verhilft (vgl. Eneasroman, v. 299,34–300,8).59 ›Minne‹ ist eine göttliche Gewalt, die geradezu hymnisch angerufen wird. Zugleich wirkt sie sich aber in sehr allzu menschlichen, körperlichen Symptomen aus: Lavinia fällt gleich mehrere Male in Ohnmacht,60 und von Eneas, dem helt mare (ebd., v.  292,7), heißt es, er isst und trinkt nicht mehr, sondern will nur noch schlafen. Vielleicht erklärt diese Heterogenität auch das Empfinden Auerbachs, dass die ›Liebeskasuistik‹ sich im altfranzösischen und mittelhochdeutschen Eneasroman »noch ein wenig sonderbar ausnimmt«.61 Möglicherweise aber lässt sich gerade dieses Spannungsvolle als seine besondere Qualität fassen.

56  Zu dieser Szene im Roman d’Eneas siehe auch Raymond J. Cormier, »Laughter and Smile (and a few Non-Virgilian Chuckles) in the Old French ›Roman d’Enéas‹«, in: Jean Dufournet (Hg.), Relire le ›Roman de Enéas‹ (Collection Unichamp 8), Genève 1985, 7–22, hier 13 f. 57  Hübner, Erzählform, 245. 58  Zum Begriff der ›Hohen Minne‹ siehe Harald Haferland, Hohe Minne. Zur Beschreibung der Minnekanzone (Beihefte zur ZfdPh 10), Berlin 2000, 217–244. 59  Vgl. auch Hübner, Erzählform, 259, sowie Blask, Geschehen, 173. 60  Vgl. Eneasroman, v. 267,40–268,7, 276,28 f., 284,26–31. 61  Auerbach, Literatursprache, 162.



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III. Wenn mit diesen Überlegungen der Begriff ›Stil‹ zum Ausgangspunkt einer Interpretation gemacht wird, dann geschieht dies im Bewusstsein eines, wie es Jens Haustein nennt, »forschungsgeschichtliche[n] Prob­ lem[s]«.62 Stilanalysen dienten vor allem im 19. Jahrhundert dazu, literarische Texte bestimmten Autoren zuzuweisen.63 Derartige Stilurteile werden heute vielfach als willkürlich empfunden.64 Sie sind problematisch, sofern sie eine »inzwischen überholte[  ] Vorstellung von der Einheitlichkeit« voraussetzen, sei es eines literarischen Textes (im Sinne von Textstil), eines Autorœuvres (im Sinne von Autorstil), einer Textreihe (im Sinne von Gattungsstil), einer zielgerichteten Handlungsweise (im Sinne von Funktionalstil) oder gar eines zeitlich eingrenzbaren literaturhistorischen Abschnitts (im Sinne von Epochenstil).65

Die Kategorie des Stils dient hier nicht nur dazu, einzelne sprachliche Auffälligkeiten zu beschreiben, sondern verbindet diese Einzelbeobachtungen zu einer möglichst ganzheitlichen Qualität. Gibt man ein solches Drängen auf Einheitlichkeit auf und zieht einen am zeitgenössischen rhetorisch-poetischen Diskurs orientierten Stilbegriff heran, so scheint gerade dieser Begriff eine besondere Affinität zu den Fragestellungen germanistischer Mediävistik aufzuweisen.66 Ihre Gegenstände sind durch Traditionsbindung und ein Bewusstsein für Sprachgestaltung gekennzeichnet, und ihre Neuartigkeit beruht oft auf dem Wiedererzählen und der Kompilation einer vorfindlichen materia.67 Eine In62  Haustein,

»Stilforschung«, 46. ebd. – Zur Diskussion um den ›geblümten Stil‹ vgl. den Forschungsbericht von Gert Hübner, Lobblumen. Studien zur Genese und Funktion der ›Geblümten Rede‹ (Bibliotheca Germanica 41), Tübingen / Basel 2000, 7–32. Er empfiehlt, »die Rede vom ›geblümten Stil‹ aufzugeben und nur noch vom ›geblümten Lob‹ (und der geblümten Invektive) zu sprechen« (ebd., 446). Siehe dazu auch ders., »Die ›geblümte Rede‹. Zur Theorie und Praxis einer poetischen Technik im späteren Mittelalter«, Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 12 (2000), 176–184, sowie Jens Haustein, »Geblümte Rede als Konvention?«, in: Ludger Lieb, Otto Neudeck (Hgg.), Triviale Minne? Konventionalität und Trivialisierung in spätmittelalterlichen Minnereden (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 40 [274]), Berlin 2006, 45–54. 64  Vgl. Haustein, »Stilforschung«, 47. 65  Silvia Reuvekamp, »Perspektiven mediävistischer Stilforschung. Eine Einleitung«, in: Andersen et al. (Hgg.), Stil, 1–13, hier 4. 66  Anders Hübner, »Stildiskurse«, 37, der gerade in dem holistischen Anspruch des Stilbegriffs eine Chance sieht. 67  Vgl. auch Reuvekamp, »Perspektiven«, 6. 63  Vgl.

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terpretation des Eneasromans in dieser Perspektive, so haben die Ausführungen zu zeigen versucht, fokussiert zum einen die sprachlichen Mittel. Sie nimmt dabei insbesondere die Spannungen zwischen konventionellen Darstellungsmitteln und ihrer spezifischen Auswahl und Kombination in den Blick. Zum anderen erfordert sie es, den Zusammenhang zwischen Form und Stoff sowie Form und Wirkung zu reflektieren. Das kann dann dazu dienen, die Spannungen und Ambivalenzen, die Teil der spezifischen literarischen Qualität eines Textes sind, aufzuzeigen, und erfordert mitnichten, einen literarischen Text insgesamt in seiner sprachlichen Gestalt einer von drei Stilebenen zuzuweisen, sondern die »Forderung der Stil­ mischung«68 ernst zu nehmen. Ob dieser Zugriff auch für andere literarische Texte, die weniger offenkundig Bezüge zur Schulrhetorik aufweisen, lohnt, bedarf sicherlich einer weiteren kritischen Diskussion.

68  Urbanek,

»genera dicendi«, 4.

Car molt a entre faire et dire Reflexionen von Sprache und (Ur-)Schuld im Roman de Renart und im Reinhart Fuchs Von Maximilian Wick I. Begründung animalischer Schuldbarkeit am Beispiel der Fabel Wolf und Lamm Zum selben Bache waren Wolf und Lamm gekommen, / durstgetrieben; oberhalb stand er, der Wolf, / und unterhalb weitab das Lamm. Da gab mit seinem unverschämten Maul (fauce improba) / der Räuber, aufgereizt, Anlaß zum Streit (iurgii causam intulit): / ›Warum‹ sagte er, ›hast du mir trüb gemacht das Wasser, / als ich trank?‹ Der Wollebringer widersprach in Furcht: / ›Wie kann ich, bitte sehr, Wolf, tun, was du beklagst? / Von dir herab läuft er zur Stelle, wo ich trinken kann, der klare Quell.‹ / So abgewiesen durch die Wucht der Wahrheit: / ›Heute sind’s sechs Monate‹, sagte er, ›da hast du mich beschimpft.‹ / Das Lamm erwiderte: ›Da war ich ja noch nicht geboren.‹ / ›Lieber Himmel‹, rief er, ›ja, dein Vater war’s, der mich beschimpft hat.‹ / Und so ergreift er es, zerreißt es, mordend ungerecht (iniusta nece).1

Die Fabel vom Lamm, das von einem hungrigen Wolf am Bach in einen Streit verwickelt und an dessen Ende trotz offensichtlich besserer Argumente gefressen wird, gehört zu den bekanntesten Fabeln des Phae­ drus und nimmt in dessen Sammlung zugleich die »prominente erste Stelle«2 ein. Sieht man vom Kern der Fabel, dem Disput der beiden Kon1  Phaedrus, »Wolf und Lamm (Lupus et agnus)«, in: Fabeln, hg. u. übers. Eberhard Oberg (Sammlung Tusculum), Zürich 1996, 14–17, v. 1–13. Der lateinische Text lautet: Ad rivum eundem lupus et agnus venerant / Siti compulsi; superior stabat lupus / Longeque inferior agnus. Tunc fauce improba / Latro incitatus iurgii causam intulit.  /  ›Cur‹ inquit ›turbulentam fecisti mihi / Aquam bibenti?‹ Laniger contra timens: / ›Qui possum, quaeso, facere, quod quereris, lupe? / A te decurrit ad meos haustus liquor‹. Repulsus ille veritatis viribus: / ›Ante hos sex menses male, ait, dixisti mihi‹. / Respondit agnus: ›Equidem natus non eram‹. / ›Pater hercle tuus, ille inquit, male dixit mihi‹. / Atque ita correptum lacerat iniusta nece. 2  Ursula Gärtner, Phaedrus. Ein Interpretationskommentar zum ersten Buch der Fabeln (Zetemata. Monographien zur klassischen Altertumswissenschaft 149), München 2015, 69.

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trahenten, einmal ab, so stellt sich die Frage, wie es überhaupt erst zu diesem kommen konnte. Der Erzähler gibt dazu wenige Anhaltspunkte, beginnt die Fabel doch mit einer eher sparsamen Einführung, in der beide Figuren zunächst noch gänzlich tierhaft erscheinen: Sie sind aus keinem anderen Grund an den Bach gekommen, als ihren Durst zu stillen. Den größten Teil  der Einführung nimmt zudem die angesichts der brevitas der Fabel aufwendig genaue Lokalisation der beiden ein, die in der Argumentation des Lammes später Relevanz beanspruchen wird. Über die Motivation des Wolfes, ein Gespräch mit dem Lamm überhaupt erst zu beginnen, erfahren wir hingegen nichts  – und schon gar nichts über seine Möglichkeit, eben solches zu tun. Während die Begründung für Letzteres, das Sprachvermögen der Tiere, bereits im Prolog als bekannt vorausgesetzt worden ist,3 scheint der Grund für seine Konfrontation so eindeutig auf der Hand zu liegen, dass er gar nicht mehr erwähnt werden muss: (im Wortsinne) natürlich will der Wolf das Lamm fressen  – Wölfe fressen Lämmer, dafür muss man nicht einmal das kulturelle, geschweige denn literarische Gedächtnis bemühen, auch wenn dieses die Erwartungshaltung sicherlich forciert. Weniger einfach scheint jedoch die Antwort auf die Frage, wozu es da noch der Unterhaltung der beiden bedarf  – oder um noch präziser sein  – wieso der Wolf sich um die explizite Feststellung eines moralischen Grundes bemüht, um das Lamm zu fressen. Denn gleich wie vorgeschoben seine Argumente auch sein mögen, so scheint doch für ihn durchaus die Notwendigkeit zu bestehen, das letzte Wort zu behalten und das Lamm gerechterweise, als Sanktion für ein Vergehen, zu verspeisen. Entsprechend liegt auch sein einziges Hindernis eben darin, zuerst seine causa gewinnen zu müssen, ehe er zur blutigen Tat schreiten kann. Das Streitgespräch (iurgium) und die damit simultan erzeugte Frage nach der Moral werden allerdings erst durch den Wolf in die Welt gebracht, dem gewissermaßen die Fabeltradition, ja er selbst als fiktional Entfremdeter im Wege steht.4 3  Entsprechend verweist der Prolog zunächst auf Äsop und entkräftet dann scherzhaft den möglichen Einwand, dass neben den Tieren auch die Bäume sprächen: »Will mir aber jemand das zum Vorwurf machen, / daß auch Bäume sprechen, nicht nur Tiere, / soll er still bedenken: Fabeln sind’s, zum Spaß erdichtete.« (Calumniari si quis autem voluerit, / Quod arbores loquantur, non tantum ferae, / Fictis iocari nos meminerit fabulis.) (Phaedrus, »Prolog · Herkunft, Form, Absicht und Sinn der Fabeln (Prologus)«, in: Fabeln, 14 f.). Isidor wird später ausdrücklich die Baumfabel unter Verweis auf Ri 9,7–15 zur Gattung äsopischer Fabeln hinzuzählen (vgl. Isidorus Hispalensis, Etymologiarum sive Originum libri XX, hg. Wallace M. Lindsay, 2 Bde, Oxford 1911 (repr. 1966), Bd. 1, I, 40, 6). 4  Nøjgaard spricht überzeugend von einem »conflit entre la ›nature‹ (si le Loup peut de toute façon recourir à sa force matérielle, il serait absurde qu’il essayât



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Denn hätte der Wolf, der zum Zeitpunkt seiner ersten Rede noch frei von jeder moralischen Kategorisierung ist, das Maul seiner Artnatur folgend zum Fressen statt zum Sprechen aufgemacht, wäre diesem das moralisierende Attribut improba wohl erspart geblieben und auch der moralische Pyrrhussieg, mit dem die Fabel schließt (iniusta nece), wäre vermieden. Hätte er also geschwiegen, wäre er Wolf geblieben und nicht zum ›literarischen Vorgänger‹ des später in tierepischen Texten allzu oft düpierten Ysengrin avanciert.5 Freilich lässt sich gegen diese Spekulation einwenden, dass der Wolf der Fabel immer schon Reflexionsmedium menschlichen Verhaltens und damit eine durch ratio korrumpierte literarische Figur ist. Entsprechend verweist das Epimythion als Zweckursache der Fabel auf solche Menschen, die wie der Wolf, so will man meinen, mit erfundener Klage (fictis causis) Unschul-

d’abord la force spirituelle, au lieu d’aller directement au but par le chemin sûr la brutalité) et la ›fiction‹ que nous assistons dans notre fable.« (Morten Nøjgaard, »La moralisation de la fable: d’Éscope à Romulus«, in: Francisco R. Adrados, Olivier Reverdin [Hgg.], La fable. Huit éxposés suivis de discussions [Entretiens sur l’antiquité classique XXX], Genf 1984, 225–251, hier 232) Führt man die Fiktionalität der Fabel mit derjenigen des Streitgesprächs eng, könnte man davon sprechen, dass der Wolf sich zuletzt von der zivilisatorischen Hegemonie emanzipiert, die ihn – mit Blick auf die Literaturgeschichte vorerst – als physischen Sieger im moralisierenden Erzählerkommentar und Epimythion kaum tangieren mag. Eine solche Deutung entspräche einer dekonstruktiven Lektüre, wie sie die Human-Animal Studies vorschlagen, die den widerständigen Rest an ›Tierischem‹ fokussieren (vgl. Roland Borgards, »Tiere in der Literatur – Eine methodische Standortbestimmung«, in: Herwig Grimm, Carola Otterstedt [Hgg.], Das Tier an sich. Disziplinenübergreifende Perspektiven für neue Wege im wissenschaftsbasierten Tierschutz, Göttingen 2012, 87–118, hier 105), der hier immerhin die Grundlage für den ›Erfolg‹ des Wolfes bildet. Aus ihrer Perspektive ließe sich formulieren, dass der Figur als Wolf immer noch die Möglichkeit bliebe, das Lamm kommentarlos zu verspeisen  – so wie es Wölfe eben tun. Kritisch wäre dem zu entgegnen, dass die Fabel keinerlei Anspruch erhebt bzw. es ihrer Absicht zuwiderliefe, einen Rest an ›Real-Wölfischem‹ zu vermitteln, der ebenso gut fiktional bis ins Letzte getilgt oder auch schlichtweg niemals vorhanden gewesen sein könnte. Gegen Kompatscher ließe sich also fragen, ob tatsächlich unter den »Filter[n]«, die »über dem literarisierten Tier [liegen]« (Gabriela Kompatscher, »Literaturwissenschaft. Die Befreiung ästhetischer Tiere«, in: Reingard Spannring et al. [Hgg.], Disziplinierte Tiere? Perspektiven der Human-Animal Studies für die wissenschaftlichen Disziplinen, Bielefeld 2015, 137–159, hier 138), eine Art ›realer‹ Nukleus zu finden sein muss. 5  »Der Wolf hätte das Lamm auch so gleich fressen können; aber obwohl er kein Publikum hat, scheint er – offensichtlich für sich selbst – sein Handeln rechtfertigen zu müssen, wobei er sich nach römischem Recht freilich selbst strafbar macht; doch da kein Publikum vorhanden ist, kommt er in doppeltem Sinne ungestraft davon: als calumniator und als Mörder.« (Gärtner, Phaedrus, 74).

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dige bedrängen.6 Tatsächlich ist jedoch der lasterhafte Mensch Vorbild des anthropomorphisierten Wolfes, der in der Fabel als Bauernopfer einer politischen Reflexion über Gewalt und Ethik herhalten muss7 und zugleich dem Prolog die gefährliche Schattenseite fiktionalen Erzählens entgegenhält.8 Während die Problemkonstellation der Fabel noch in dieser verhältnismäßig schlichten Übertragungslogik ausgedrückt werden kann, münden solche Versuche in den mitunter hochkomplexen Erzählarrangements mittelalterlicher Tierepik nicht selten in eine Aporie. Neben der geänderten Quantität bewirkt dies auch die gegenüber der Fabel in der Regel deutlich gesteigerte Polarität von zwanghafter Triebnatur und politischer Klugheit, die sich ihrerseits vielfach in fiktionaler Rede artikuliert. Bezeichnenderweise ist es hier nicht der Wolf, sondern – sehr zu dessen Leidwesen – der körperlich unterlegene Fuchs, der als animal loquens durch intrigantes Fabulieren seine Interessen durchsetzt. Entsprechend tritt ›fressen‹ (resp. ›Beute greifen‹) weit hinter die mit demselben Organ ausgeführte Handlung ›sprechen‹ zurück, wobei beide zwar oftmals zum Zweck des Hunger-Stillens eingesetzt werden, sich jedoch in actu ausschließen. Insofern die Sprachfähigkeit als basale Grundfigur von Fabel und Tierepik mit der Schuldfähigkeit korreliert, indem sie die jeweiligen Akteure vom Animalisch-Amoralischen entfernt, gleichsam vom ›Fressen‹ zum ›Sprechen‹ führt, ließe sich der strategische Umgang mit diesem Dualismus als ein bemerkenswert metareflexives Charakteristikum bestimmter tierepischer Akteure beschreiben, was im Folgenden an zwei Episoden aus dem Roman de Renart und dem Reinhart Fuchs erörtert werden soll. Dabei wird sich zeigen, dass besonders in der für mittelalterliche Tierepik eher seltenen Tier-Mensch-Interaktion der strategische Verzicht auf Sprache und damit der Rückfall in das vermeintlich genuin (Raub-)Tierhafte

6  Haec propter illos scripta est homines fabula, / Qui fictis causis innocentes opprimunt. (Phaedrus, »Wolf und Lamm«, 16. v. 14 f.). Auf die Wiedergabe der Übersetzung Obergs wird an dieser Stelle verzichtet, da sie den akzentuierten Aspekt weitgehend tilgt. 7  Entsprechend greift auch Gärtners Deutung, es gehe »Phaedrus engagiert um einen ethischen Konflikt zwischen Laster und Tugend« (Gärtner, Phaedrus, 76) zu kurz: Laster und Tugend stehen als Pole einer ethischen Dimension gemeinsam dem amoralischen Recht des Stärkeren gegenüber, wie es auch der von ihr hierfür zitierte Nøjgaard erkennt, der die Tragik der Fabel auf »la dualité fondamentale d’un monde régi par la force physique, mais évalué selon des valeurs éthiques« zurückführt, wobei diese »dualité du monde n’est pas un accident, susceptible d’une moralisation a posteriori, mais constitue une donée primordiale de l’existence.« (Nøjgaard, »La moralisation de la fable«, 238). 8  Zum Verhältnis zwischen Prolog und erster Fabel vgl. Gärtner, Phaedrus, 78 f.



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oftmals zielführend ist.9 Aus diesem Grund soll mit den Enfances de Renart im Anschluss noch eine solche Branche untersucht werden, die zumindest den Anschein erweckt, das Interaktionsgefüge von Mensch und Tier ätiologisch zu begründen. Im Hintergrund der immer stärker verunklarten Zeichenrelation spielt sie jedoch lediglich Aspekte von Fiktionalität, Sprachvermögen und Schuld gegeneinander aus, um so im Gefälle beanspruchter göttlicher Autorität einer apokryphen Genesiserzählung auf der einen und tierepisch-geschwätzigen Fabulierens auf der anderen Seite die Ordnung ihres Erzählkosmos der Lächerlichkeit preiszugeben.10 Dass dabei nicht nur dem bereits in der Fabel angelegten Konflikt von amoralischer Tiernatur und zoomorpher ratio, sondern auch der im Maul manifesten Wechselfigur von ›fressen‹ und ›sprechen um zu fressen‹ eine Absage erteilt wird, zeigt sich in der die Branche abschließenden Episode vom Schinkenraub, in der sich Renart eben nicht aus akutem Hunger, sondern womöglich eher aus »[a]utotelische[r] Betrugslust«11 seiner tückischen Rhetorik bedient.

9  Umgekehrt kann strategisches Schweigen ebenso von der Artnatur entfremden, wie beispielsweise der Hahn im Speculum stultorum demonstriert, der aus Rache eines Tages nicht kräht, damit sein jähzorniger Besitzer Gundulf die Priesterweihe verschläft. Vgl. Nigel de Longchamps, Speculum stultorum, hg. John H. Mozley, Robert R. Raymo (University of California Publications. English Studies 18), Berkeley / Los Angeles 1960, 59–64, v. 1251–1502. In v. 1416 spricht Gundulf sich noch in vermeintlicher Sicherheit wiegend just dieses Vermögen dem Hahn ab, der auch wenn er wolle (im Morgengrauen) nicht schweigen könne. 10  Vorwiegend am Beispiel von Les Vêpres de Tibert und Renart et le vilain Liétard, jedoch auch unter Berücksichtigung weiterer Branchen, darunter den Enfances de Renart, hat Boutet als Ziel der spielerischen Absage an transzendente Ordnung im Roman de Renart herausgearbeitet, dass es nicht darum gehe, »de dénoncer des abus ou des erreurs, comme dans les revues ›d’états du monde‹, mais de nier l’existence de toute loi. Pour Renart […] règne la liberté pure: mais la liberté dans un univers où tout est fondamentalement dérisoire […]. Un monde de l’immédiaté, où rien ne compte que l’assouvissement des passions et des besoins de l’instant. Le rire apparaît ainsi comme l’expression même de la négativité.« (Dominique Boutet, »Renart, le plaisir, le rire et le mal. Réflexions autour de deux branches du Roman de Renart«, in: Jean-Claude Aubailly et  al. [Hgg.], Et c’est la fin pour quoy sommes ensemble. Hommage à Jean Dufournet, 3 Bde., Paris 1993, Bd. 1, 257–268, hier 263) Mit Fokus auf eine weitere Episode (La Confession Renart) bestätigt Chalumeau ebenfalls die Universalisierbarkeit der Aussage in Bezug auf die Erzählwelt des gesamten Roman (vgl. Chloé Chalumeau, »Quand les vertus deviennent vices: du carnevalesque à la satire dans La Confession Renart«, e-Spania. Revue interdisciplinaire d’études hispaniques médiévales et modernes 22 (2015), 26 (http: /  / journals.openedi tion.org / e-spania / 24905 / Zugriff am 10.12.2017 um 15:05 Uhr). 11  Michael Waltenberger, »Das Buch AUCUPRE. Oder: Narrative Ordnungs(ent)gründung im Roman de Renart«, in: Jan Glück, Kathrin Lukaschek, Michael Wal-

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II. Renarts ›allzumenschliche‹ Niederlage Dass Renarts Transgression des Animalischen ihm nicht nur beinahe universale schelmische Lizenzen verleihen kann, sondern mitunter auch Risiken für den Fuchs birgt  – zumal, wenn sie libystisch,12 also in der eher seltenen Interaktion mit genuin menschlichen Akteuren der Erzählwelt erfolgt  –, demonstriert die Branche der Entführung Chanteclers /  Schanteclers aus dem Hühnerhof, die sowohl im Roman de Renart wie auch in der mittelhochdeutschen Bearbeitung Reinhart Fuchs des Elsässers Heinrich eine prominente Stellung einnimmt.13 In beiden Texten hat der Fuchs sich trotz eines eigens gegen ihn vom Bauern errichteten Zaunes (resp. einer Hecke) Zugang zum Hühnerhof verschafft und dort mit einer List den Hahn in seine Gewalt gebracht, den er lebendig im Maul entführt. Im Roman ist es die Bäuerin, die bei ihrer Abendroutine den Verlust entdeckt und ihren Gatten alarmiert, der dem Fuchs in Begleitung seiner menschlichen Kumpane sowie der Jagdhunde nachsetzt. Als sie ihn schließlich aufspüren, rufen alle im Chor ›Seht da den Fuchs!‹ (Vois le houpil!14), woraufhin der Erzähler  – erstaunlicherweise just in diesem Moment nahender Rettung  – die Gefahr für Chantecler betont, wenn dieser es nicht zügig verstünde, ›eine List zu ersinnen‹ (reset engien et art15). In der Folge bietet er dem Fuchs eine Deutung des für ihn (wahrscheinlich aber für beide) offenbar unverständlichen Ausrufs der Menschen an, den er als ›Schmähung‹ (honte16) auslegt, welche von Renart entspretenberger (Hgg.), Reflexionen des Politischen in der europäischen Tierepik, Berlin /  Boston 2016, 26–43, hier 39. 12  Vgl. Isidorus Hispalensis, Etymologiarum sive Originum libri XX, I, 40, 2. Zur prekären Tier-Mensch-Interaktion vgl.  Julia Weitbrecht, »Feld, Wald und Wiese. Kontaktzonen und Interaktionsräume von Mensch und Tier in der Fabel und im Reinhart Fuchs«, in: Glück, Lukaschek, Waltenberger (Hgg.), Reflexionen des Politischen in der europäischen Tierepik, 44–59. 13  Während Heinrichs Text das Erzählarrangement mit dieser Episode eröffnet, folgt sie in der Handschriftengruppe Alpha des Roman unmittelbar, in Beta nach Einschub der Enfances auf den Prologue. Allein Gruppe Gamma, die programmatisch mit dem Prologue gefolgt von den Enfances beginnt, stellt die Branche etwas unvermittelt zwischen Pêche à la queue und Tibert. Vgl. Luke Sunderland, »Le Cycle de Renart: from the Enfances to the Jugement in a cyclical Roman de Renart manuscript«, French studies 62 (2008), 1–12, hier 4. 14  Le Roman de Renart, hg. Armand Strubel (Bibliothèque de la Pléiade 445), Paris 1998, 265, v. 407, meine Übers. 15  Ibid., 266, v. 409, meine Übers. 16  Ibid., v. 411, meine Übers.

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chend erwidert werden solle. Sobald die Bauern riefen ›Renart trägt ihn fort‹ (Renars l’en porte17), möge er ihnen doch spöttisch ›Euch zum Trotz‹ (Malgre vostre18) erwidern. Was folgt, ist bezeichnend für die ganze Szene, denn der Erzähler berichtet nicht etwa von einem weiteren Rufen der Bauern, sondern erklärt, dass auch Renart, der die ganze Welt betrüge, einmal betrogen werden könne, wonach dieser ohne unmittel­baren Anlass das eingeflüsterte Malgre vostre von sich gibt und dadurch sprechend dem nicht länger in seinem Maul eingeklemmten Hahn die Flucht ermöglicht. Wer spricht, verzichtet – zumindest für die Dauer seiner Rede – darauf, seine körperliche Überlegenheit zu nutzen. Dem Trick des Hahns liegt insofern eben jene konstitutive Struktur zugrunde, welche eingangs an der Fabel von Wolf und Lamm hervorgehoben wurde. Zu sprechen hindert Renart ebenso wie den Wolf am Fressen bzw. am Festhalten der Beute mit dem Maul. Der Hahn nutzt dies hier zu seinem Vorteil, indem er den Fuchs in eine eher menschliche Rolle drängt, in welcher er seinen Fresstrieb dem Drang nach Restitution der Ehre unterordnet.19 Dass dabei die konkrete Dialogsituation zwischen Fuchs und Bauern mehrfach gestört ist  – denn weder haben die Menschen Renart geschmäht, wie Chantecler behauptet, noch werden die auslösenden Worte für Renarts Reprise (Renars l’en porte) gesprochen – bezeugt die Brüchigkeit dieser nur scheinbar kommunikativen Tier-Mensch-Beziehung. Ähnliches lässt sich auch an der mittelhochdeutschen Bearbeitung zeigen, die im Wesentlichen die Szene beibehält. Hier initiiert allerdings Pintes Klageschrei über den Verlust ihres Gatten die Verfolgung Reinharts, wobei der Bauer Lantzelin diesen für ihn unverständlichen schal20 im Sinne eines signum naturale korrekt deutet: owe der hvner min!21 ruft er unmittelbar auf Pintes Klage hin, ohne die konkrete Bedrohung benennen zu können. Ähnlich wie das Vois le houpil wird auch dieser Ausruf vom Hahn als Schmähung (um-?)interpretiert:

17  Ibid.,

v. 416, meine Übers. de Renart, hg. Strubel, v. 417, meine Übers. 19  Einen ähnlichen Trick nutzt der Fuchs in der Fabel Fuchs und Rabe, in welcher er den Raben zum Singen bewegt, was diesen am Festhalten des Käses mit seinem Schnabel hindert und zum Verlust der sicher geglaubten Nahrung führt. 20  Heinrich [Der Glîchezâre], Der Reinhart Fuchs des Elsässers Heinrich, hg. Klaus Düwel unter Mitarbeit v. Sigrid Krause, Katharina von Goetz, Frank Henrichvark (Altdeutsche Textbibliothek 96), Tübingen 1984, 6, v. 139. 21  Ibid., v. 140. 18  Roman

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Schantekler sprach zv Reinharte: ›war gahet ir svst harte? Wes lazet ir vch disen gebvren schelden? mvgt ir iz im niht vergelten?‹ ›Ia ich, sam mir Reinhart‹, sprach er, ›ir get ein vppige vart.‹22

Reinharts Antwort auf die provokante Frage des Hahns ist in dieser Fassung rätselhaft. Er beglaubigt seinen Vergeltungswillen unter Berufung auf den eigenen Namen bzw. Ruf (»Doch, so wahr ich Reinhart bin!«23) und adressiert dann erst den Bauern, indem er dessen Verfolgung als vergeblich (ein vppige vart) bezeichnet. Dabei stellt sich zum einen ein ironischer Effekt ein, da just durch diesen Sprechakt Reinharts eigener Weg vppig wird, zum anderen führt genau dieser Fehler in Kombination mit der Namensbeteuerung zu einer ›Derenartisierung‹ (resp. ›Dereinhartisierung‹) des Fuchses: Wo im französischen Text der Erzähler noch die Fehlbarkeit des Allweltbetrügers postuliert und damit die Renarthaftigkeit seiner Figur auch im Falle des Misserfolgs stabilisiert, spricht Reinhart sich in der deutschen Bearbeitung unbeabsichtigt selbst seinen Namen und alles damit Verbundene ab. So wahr er Reinhart sei, glücke sein Raub, doch da der Raub misslingt, ist er in diesem Moment nicht mehr Reinhart, sofern diesem ja notwendigerweise der Raub gelingen müsste. Die Tragweite der Schmähverse 145 f. wird besonders deutlich, wenn man sich Wallners Einspruch gegen deren oben vorgeschlagene Lesart vor Augen führt. Wallner ändert Interpunktion und syntaktische Zuordnungen, so dass der Name des Fuchses nicht dessen Rede zugehört, sondern als Teil  der inquit-Formel aufgefasst wird: ›Ia ich, sam mir‹ Reinhart /  sprach ›[h]er, ir get ein vppige vart.‹ Dass der Verssprung zwischen Reinhart und sprach ungewöhnlich wäre, sofern man nicht durch Umstellung in die Überlieferung eingreift, und dass man das er entweder streichen oder als her deuten müsste,24 sieht Wallner dabei als weniger gewichtig an als die aus seiner Sicht unwahrscheinliche Beteuerung in Reinharts eigenem Namen: die (oft elliptisch gebrauchte) beteuerungsformel sam mir ruft entweder Gott und seine heiligen zu eidhelfern auf: sam mir (got, Krist, sant Iohans sc. helfe) Reinhart Fuchs, v. 141–146. Übersetzung geht zurück auf Grimm. Vgl. Anton Wallner, »Reinhartfragen«, ZfdA 63 (1926), 177–216, hier 208. 24  Vgl. Düwels Stellenkommentar in Heinrich, Reinhart Fuchs, 6 f. Das Verhältnis zu den möglichen Parallelstellen im Neidhart-Corpus bliebe genauer zu untersuchen. 22  Heinrich, 23  Die

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oder sie meint: sam mir (mîn lîp, mîn sêl, mîn bart sc. liep ist) […] die Reinhartstelle ist also isoliert und ergibt keinen sinn, da an einen sanct Reinhart als namenspatron ebensowenig zu denken ist wie an Grimms deutung ›so wahr ich R. heiße!‹25

Was Wallner explizit ausschließt, möchte ich als gerade adäquate Deutung der Szene vorschlagen: Reinhart ruft sich selbst an und adressiert dabei als Eidhelfer seinen ihm stets vorausgehenden Namen. Zugleich kann man die Formel aber auch als einen Fluch verstehen, der den Namen als integralen Teil seines eigenen Wesens beschwört und zugleich aufs Spiel setzt.26 Sein Reinhart-Sein soll ihm zum Erfolg des Raubzugs verhelfen; im Fall des Scheiterns aber will und wird er es notwendig verlieren. Dass die danach erfolgende momenthafte ›Derenartisierung‹ ausgerechnet mit der »im ›Reinhart Fuchs‹ singuläre[n] Anrede einer Tierfigur an einen menschlichen Handlungspartner«27 zusammenfällt, kommt nicht von ungefähr, denn es ist ja der Mensch derjenige, der den Fuchs ›Fuchs‹ und schließlich in Übertragung seiner Laster ›Reinhart‹ nennt. Und genau dieser Kraft versucht sich Reinhart im Moment seines Scheiterns vergeblich zu bemächtigen, indem er eine instabile Synthese von transzendentem Eid-, bzw. Fluchhelfer (seinem Namen) und immanentem Fluchgegenstand (seiner Bindung an den Namen) herstellt, die sich notwendig qua Fluch selbst zerstören muss. III. Animalisches Schweigen: c’est Renart qui se taira Bekräftigung kann diese These an einem Beispiel finden, in dem Renart sich bewusst gegen seine Rolle als animal loquens entscheidet und damit den Sieg gegenüber seinen menschlichen Rivalen davonträgt. So erzählt die 25  Wallner,

»Reinhartfragen«, 208. Verhältnis von Fluch und Eid vgl. die Konzeption Agambens (Giorgio Agamben, Das Sakrament der Sprache. Eine Archäologie des Eides, übers. Stefanie Günthner, Berlin 2010, 46–49), der beides in einem Akt realisiert denkt: »Nach allgemeiner Auffassung werden die Götter (bzw. um genau zu sein, ihre Namen) beim Eid zweimal genannt: einmal als Zeugen für den Eid und ein zweites Mal, beim Fluch, als Bestrafer des Meineidigen.« (ibid., 48, meine Herv. M.W.) Auch Reinhart verwendet seinen eigenen Namen in dieser Doppelfunktion, in der er »[i]m einen Fall […] die positive Kraft der Sprache aus[drückt], das heißt die richtige Beziehung zwischen den Worten und den Dingen, […] im zweiten Fall eine Schwäche des logos, das heißt das Zerbrechen dieser Beziehung« (ibid.). Dass die Integrität des Eid- bzw. Fluchhelfers im Falle des Fluches jedoch in Mitleidenschaft geriete, führt zwangsläufig in die Aporie. 27  Vgl. Düwels Stellenkommentar in Heinrich, Reinhart Fuchs, 7. 26  Zum

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Branche Renart et les anguilles,28 wie der Fuchs eines Tages einen herbeifahrenden Händlerkarren mit Fässern voller Aale entdeckt, woraufhin er sich kurzerhand totstellt und auf die Straße legt, damit die Kaufleute ihn mitnehmen. ›Seht, da ist ein Fuchs oder ein Hund (u houpil u waignon)!‹ Bei seinem Anblick rief der andere aus: ›Es ist ein Fuchs (houpils)! Los, pack ihn, los! Hurensohn, hab Acht, dass er nicht entwischt! Er muss ausgesprochen listig sein, dieser Re­ nart, wenn er hier nicht sein Fell lässt!‹29

Die zwei Händler erkennen von weitem ein Tier und wissen dabei erst nicht, ob es sich um einen Fuchs oder einen Hund handelt. Schließlich erkennt der eine den Fuchs und drückt seine Vorsicht gegenüber dem listenreichen Renart aus. In ihrer doppelten Präzisierung gehen die beiden also zunächst (wie man heute sagen könnte) taxonomisch vor, indem sie zuerst die Familie der Canidae und daraufhin die Gattung der Vulpes erkennen. Der dritte Schritt führt allerdings über eine einfache Taxonomie hinaus, denn am phänomenal in dieser Situation wohl kaum bestimmbaren Merkmal der List identifizieren sie den Fuchs als Renart und damit den genuin tierepischen Vertreter seiner Spezies. Nachdem die Händler sich schon ausgerechnet haben, wieviel Geld ihnen das Fell des Fuchses einbringen wird, den sie am Abend ausnehmen wollen, kann Renart auf dem Karren liegend ›nicht anders als zu grinsen, denn viel liegt zwischen tun und sagen‹ (n’en fait fors sourire, / Car molt a entre faire et dire30). Kaum wieder auf dem Weg plündert er die Fässer aus, frisst sich satt und springt mit Ketten aus Aalen um den Hals bei voller Fahrt zurück auf die Straße, von wo aus er die Kaufleute zu allem Überfluss auch noch verspottet: ›Gott schütze euch! Dieser Teil der Aale ist der meine und die Übriggebliebenen seien alle die Euren!‹ (Dieus vos saut! / Cils sameaus d’anguilles est nostrez  / Et li remanans soit tous vostres!31). Die Händler werden nun zwar auf den flüchtenden Fuchs aufmerksam, jedoch scheinen sie seine Rede nicht verstanden zu haben und rufen ähnlich den Bauern beim Hahnenraub: ›Seht da den Fuchs!‹ (Vois le houpil!32). Erst allmählich 28  Bzw. Les poissons. Da die Branche nicht in allen Handschriftengruppen nach Chantecler steht und in keiner Gruppe direkt auf diese folgt, verbietet sich die verlockende Spekulation über einen Lernprozess Renarts. 29  Meine Übers., Roman de Renart, hg. Strubel, 308, v. 56–61: ›Veés ci u houpil u waignon!‹ / Cius le vit, si s’escria: / ›C’est uns houpils, va, sel prent, va! / Fils a putain, gar ne t’escap! / Or savra il trop de barat, / Renars, se il n’i lait l’escorce!‹ 30  Ibid., 309, v. 83 f., meine Übers. 31  Ibid., 310, v. 114–116, meine Übers. 32  Ibid., v. 119, meine Übers.



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rekapitulieren sie schließlich seine List und machen sich selbst große Vorwürfe, da sie Renart, den sie nun passenderweise auch beim Namen nennen, vertraut haben, obwohl er durch und durch bösartig sei. ›Wie dumm und töricht waren wir, als wir Renart Glauben schenkten: Er hat die Fässer ein Stück weit geöffnet und [offenbar] um einen Teil ihres Inhalts erleichtert, denn zwei Kränze aus Aalen trägt er nun davon: Möge es seinem Bauch übel bekommen!‹ ›Oh weh‹, seufzen die Kaufleute. ›Renart, von welcher Bosheit Ihr seid! Mögen sie Euch schlecht bekommen!‹33

Auf ihre Verwünschung hin entgegnet der Fuchs nun, dass er keine Absicht habe, weiter mit ihnen zu streiten, und dass die Händler nun sagen könnten, was sie wollten, ›es [sei] Renart, der schweigen werde!‹ (c’est Renars qui se taira!34) Bei allem scheinbaren Dialog kommunizieren die beiden Parteien doch auch in dieser Szene nicht wirklich, da sie einander nicht verstehen können und jeweils nur auf ihre Deutung des Geschehens, nicht aber die der gewechselten Worte sprachlich reagieren.35 Entsprechend ist Renarts Schlusswort als Absage an die letztlich der Sphäre der Menschen zuzuordnende (sprachliche) Kommunikation zu deuten, mit der er bewusst brechen kann, um  – scheinbar ganz Tier  – mit dem Fisch zu entkommen statt zu streiten. Ebenso wie der Wolf der eingangs betrachteten Fabel agiert Renart hier als Herr der tierepischen Kippfigur, der anders als bei seinem Versagen gegenüber Chantecler weiß, wann es taktisch ratsam ist zu schweigen, um Tier bleibend seine Beute zu  sichern. Nicht nur in Bezug auf die Teilung der Aale also, sondern auch in Bezug auf die Zuteilung der Rede bzw. der conditio humana (als animal loquens) ließe sich seine spottende Bemerkung verstehen, nach der er die Beute gegen Partizipation an der unmöglichen Kommunikation eingetauscht hat. Dass er bei der anschließenden Flucht nun jedoch ausgerechnet zu Pferde entkommen kann,36 demonstriert, inwiefern auch hier die Arretierung der vermeintlichen Grenze und damit einhergehend die eindeutige Hierarchisierung von Mensch und Tier zurückgewiesen wird. 33  Ibid., v. 129–136, meine Übers. Molt estiliens fol et musart / Trestout quant nos creiens Renart: / Les paniers a bien souffassiés / Et ses a auques allaschiés, / Car deus rens d’anguilles emporte: / La male passion le torde! / Ha! font li marcheant, Renars, / Tant par estes de male part! / Mal bien vous puissent elles faire! 34  Ibid., v. 140, meine Übers. 35  Diese klare Grenze wird allerdings davon unterlaufen, dass Renart den einen Händler beim Worte nimmt, der zuvor ›[w]enn Gott mich schütze‹ ([s]e dieus me saut [ibid., 309, v. 70]) gerufen hatte, was der Fuchs in seiner Spottrede anscheinend aufgreift. Interessanterweise stehen beide Anrufungen des Herrn im Kontext einer ökonomischen Überlegung, einmal zum Marktwert des Fuchses, das andere Mal zur (gerechten?) Teilung der Aale. 36  Vgl. ibid., 310, v. 141–143.

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Im Gegensatz zum Wolf der Fabel besitzt Renart die Kompetenz zu schweigen  – wohl aber ebenso wenig die Beschränkung schweigen zu müssen. Er überschreitet damit beim Aalraub die Grenze des Animalischen und zugleich zieht er sich taktisch hinter sie zurück. Der Allweltbetrüger kann schweigen, wie dies sprichwörtlich die toten Fische um seinen Hals tun, deren Fähigkeit er scheinbar kontiguitär adaptiert, doch ist er dazu nicht gezwungen, denn er ist Renart, der beides kann und nichts davon muss. IV. (Re-)Setting the stage for Renart: Die Tierschöpfung nach Aucupre Symptomatisch für mittelalterlich-tierepisches Erzählen, das seine Grundordnungen  – vom Wesen seiner Akteure über deren recht konstante Beziehungen zueinander  – gleichermaßen ›naturalisiert‹ immer schon voraussetzt, ist die Branche zum vermeintlichen Ursprungsszenario des Erzählkosmos auch erst nachträglich zum Kernkorpus des Roman de Renart entstanden. Die so genannten Enfances de Renart, welche in der späten Handschriftengruppe Gamma zu Beginn des Roman als Einschub in den Prologue den folgenden Branchen vorangestellt sind,37 eröffnen das Erzählarrangement somit auch keineswegs in einem literaturhistorischen Sinne, sondern sind lediglich innerhalb der Fiktion an seinem Beginn situiert. Der Prologue verspricht unter Verweis auf die Bekanntschaft des Publikums mit Geschichten aus dem Antikenroman (zumindest des Helenenraubes), dem Tristan oder auch der Chansons de Geste eine – suggeriert ebenso – epische Geschichte vom Kampf der Barone Renart und Ysengrin zu erzählen. Während nun irritierenderweise in der überwiegenden Zahl der älteren Handschriften die besprochene Episode um die Entführung des Hahns beginnt, in welcher der Wolf gar keine Rolle spielt,38 schließt 37  Vgl. Sunderland, »Le Cycle de Renart«, 6. Auch Handschrift B aus der Gruppe Beta überliefert die Enfances (ebenfalls im Verbund mit dem Prologue), die Gruppe beginnt jedoch ebenso wie Alpha mit dem Jugement. Eine unvollständige tabellarische Übersicht findet sich bei Sunderland, der sich kritisch zur allgemeinen Gruppierbarkeit der Handschriften äußert, die je nach gewähltem Kriterium (etwa überlieferte Branchen vs. Anordnung der Branchen) stark divergieren kann (vgl. Sunderland, »Le Cycle de Renart«, 1–5, die Tabelle befindet sich auf S. 4). 38  Dennoch will der Erzähler die Geschichte vom Hahnenraub als ›den Beginn von Streit und Zwist, durch welche Gründe und welche Widrigkeiten es zur Kriegserklärung zwischen den beiden kam‹ (le conmencement / Et de la noise et dou content / Par quoi et par quel mesestance / Fu entr’iaus deus la deffiance [Roman de Renart, hg. Strubel, 255, v. 20–22, meine Übers.]), verstanden wissen.

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in den die Enfances überliefernden Handschriften die Branche etwas kohärenter an die geweckte Erwartung an, auch wenn hier in einer weit ausholenden Erzählgeste zunächst vom Ursprung der Tiere selbst und vorerst nicht von dem ihrer Fehde berichtet wird.39 Die damit einsetzende Geschichte, die der Erzähler dem in der Forschung viel diskutierten und höchst wahrscheinlich als Quelle fingierten Buch Aucupre entnommen haben möchte,40 hebt zunächst mit einer anderen, menschlichen Ursprungserzählung an, einer apokryphen Genesishandlung, in der Adam und Eva bereits aus dem Paradies vertrieben sind und sich infolgedessen in der ökonomischen Not irdischer Zwänge befinden. Statt nun allerdings dem Fluch folgend zunächst mit Ackerbau ihr Dasein fristen zu müssen,41 wird den Menschen scheinbar unmittelbar eine göttliche Gnade zuteil: Mitleid mit ihnen ergriff Ihn [den Herrn / M.W.] und Er schenkte ihnen eine Rute, deren Nutzen Er ihnen zeigte: Wenn es an irgendetwas mangelte, sollten sie mit dieser Rute auf das Meer schlagen. Adam nahm die Rute in seine Hand und schlug vor Evas Augen auf das Meer. Als er damit auf das Meer schlug, sprang sogleich ein Schaf daraus. Adam sprach Folgendes: ›Frau, nehmt dieses Schaf und hütet es. Es wird euch so viel Milch und Käse geben, dass wir davon genügend Nahrung haben.‹ Eva dachte in ihrem Herzen, dass, wenn sie noch eines davon hätte, ihre Gesellschaft noch angenehmer würde. Sie ergriff rasch die Rute und schlug heftig damit auf das Meer. Ein Wolf stieg heraus und griff das Schaf. Mit hohem Tempo und in schnellem Galopp entkam er damit in den Wald.42

39  Vgl.

Waltenberger, »Das Buch AUCUPRE«, 28 f. schlägt die Deutung Aucupres als »a playfully encrypted pronunciation of apocryphe« (John F. Levy, »The Gospel according to Aucupre, or Réécriture on the cheap«, Reinardus 23 (2011), 104–125, hier 123) vor und referiert Scheideggers Vorschlag, den Titel als »a pun derived from Au(teur) qui se crupe« (Levy, »The Gospel according to Aucupre«, 122) zu verstehen (vgl. dazu auch den Kommentar Lefèvres in Strubels Ausgabe: Roman de Renart, hg. Strubel, 1375). Waltenberger fügt dem die Möglichkeit hinzu, dass man »[i]n den Versen 37–40, die mit dem Wort Acupres beginnen, […] auch ein akrostisches Spiel mit den ersten Buchstaben des Alphabets beobachten [könnte], welches den Bericht von der Vertreibung aus dem Paradies begleitet« (Waltenberger, »Das Buch AUCUPRE«, 41). 41  Vgl. Gen 3,18. Zugleich wird hier »auch die intrikate Verknüpfung des Übergangs zur Tierhaltung mit der folgenschweren Transgression der Tötung Abels durch Kain ausgestrichen« (Waltenberger, »Das Buch AUCUPRE«, 31). 42  Roman de Renart, hg. Strubel, 828, v.43–62, meine Übers. Im Altfranzösischen lautet der Text: Pitié l’en prist, si lor dona / Une verge, si lor mostra / Quant il de rien mestier avroient / De cele verge en mer ferroient. / Adams tint la verge en se main, / En mer feri devant Evain. / Si tost com en la mer feri / Une berbiz fors en issi. / Ce dist Adam: ›Dame, prenez / Ceste berbiz, si la gardez. / Tant vos donra lait 40  Levy

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Aus Mitleid und keineswegs mit dem Ziel, die Fortführung seiner wohl als begonnen, aber noch nicht vollendet zu denkenden Schöpfung an die Menschen ›abzudelegieren‹, habe der Herr den Stammeltern eine Rute geschenkt und ihnen  – wohlgemerkt beiden  – erklärt, wie mit dieser zu verfahren sei. Obwohl sie mit dem ersten Schaf erklärtermaßen einstweilen ausreichend versorgt sind und damit die als Gebot zu denkende Bedingung einer Mangelsituation nicht gegeben ist,43 begehrt Eva ein zweites Schaf und erwirkt durch einen weiteren Schlag aufs Meer den Wolf,44 der das Schaf raubt und in den Wald flüchtet. Als Eva bemerkte, dass sie das Schaf verloren hatte und dass ihr niemand zu Hilfe kam, da weinte sie und rief laut: ›Ah, ah!‹45 Adam ergriff erneut die Rute et fromache, / Assez i avrons compenage.‹ / Eve en son cuer se porpansoit / Que s’ele une encore en avoit, / Plus bele estroit la compaigne. / Ele a la verge tost saisie, / En la mer fiert molt roidement. / Uns leus en saut, la berbiz prent. / Grant aleüre et granz galoz / S’en va li leus corent a bos. 43  Es sei denn, man sähe einen moralischen Mangel gerade in der Beseitigung des existenziellen Mangels durch die harmonische Mensch-Schaf-Gesellschaft  – also in der Aufhebung der dem postlapsaren Zustand eigentlich angemessenen Mangelsituation. Folgt man dem, geht es beim zweiten Lapsus keineswegs um Evas »ökonomisch unvernünftige Ungenügsamkeit« (Waltenberger, »Das Buch AUCUPRE«, 31), sondern um die unwillentliche Wiederherstellung der verdienten Strafe (zur paradiesischen Tier-Mensch-Harmonie vgl. Udo Friedrich, Menschentier und Tiermensch. Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter [Historische Semantik 5], Göttingen 2009, 40–43). Dafür sprächen auch der in Adams Aufforderung implizierte Vegetarismus sowie die naheliegende Möglichkeit, das potentielle zweite Schaf zu verspeisen, wie es schließlich der Wolf mit dem ersten plant. Entsprechend wäre es Gottes Providenz zuzurechnen, beiden den Umgang mit der Rute nahegelegt zu haben – immerhin müsste auch bei dieser nachträglichen Tierschöpfung die von ihm sonst selbst vorgenommene Trennung von Wild- und Haustieren erfolgen (vgl. Gen 1,24). 44  Zur Rolle des Wolfes in der Fabel in seinem Verhältnis zum Menschen vgl. Julia Weitbrecht, »Lupus in fabula. Mensch-Wolf-Relationen und die mittelalterliche Tierfabel«, in: Hans Jürgen Scheuer, Ulrike Vedder (Hgg.), Tiere im Text. Exemplarität und Allegorizität literarischer Lebewesen (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik 29), Bern et al. 2015, 23–35, bes. 25. 45  Evas Klagelaute können ebenso als erneut sprachbegründende (vgl. Jean R. Scheidegger, Le Roman de Renart ou le texte de la dérision [Publications romanes et françaises 188], Genf 1989, 186) Anrufung Adams verstanden werden, dessen erste Silbe nach zeitgenössischer Vorstellung Neugeborenen als Vorbild für den ersten Laut dient (vgl. etwa den Laborintus Eberhards des Deutschen: Masculus ›a‹ profert omnis, dum prodit, ad auras, / Ex radice trahit primiparentis Adae. (Eberhard der Deutsche, Laborintus, hg. u. übers. Dorota Gacka [Bibliotheca Litterarum Medii Aevi], Warschau 2011, v. 77 f.) Gleichzeitig wiederholt Eva zumindest phonetisch auch die Majuskel am Anfang von A(u)cupre, jenes »alpha mythique du roman« (Scheidegger, Le Roman de Renart, 179); Dragonetti betont die Nähe der autoritativen Schriftlichkeit Aucupres zur Nichtigkeit des betrunkenen Geschwätzes, die er im



Car molt a entre faire et dire41 und schlug böswillig auf das Meer, dem rasch ein Hund entstieg. Sobald er den Wolf sah, schickte er sich in vollem Tempo an, das Schaf zurückzugewinnen. Er entriss es dem Wolf, der ihm das Schaf, ob er wollte oder nicht, überließ. Und dieser handelt auch morgen noch so, wenn er ein Schaf im Wald oder auf der Weide findet. Aber wegen seines Misserfolgs hat er sich gänzlich beschämt in den Wald geflüchtet. […] Jedes Mal, wenn Adam mit der Rute auf das Meer schlug und ihm ein Tier entsprang, behielten sie dieses Tier bei sich. Die [Tiere], welche so entstanden, die zähmten sie. Diejenigen aber, welche Eva dem Meer entsteigen ließ, die konnten sie nicht bei sich behalten. Sobald diese aus dem Meer entstiegen waren, eilten sie rasch zum Wolf im Wald. Die ›Adamtiere‹ wurden leicht zahm, die ›Evatiere‹ verwilderten. Unter den zuletzt Genannten gab es auch den Fuchs (gorpis) und der wurde wild.46

Offenbar ist der Wolf in dieser Szene dem Hund physisch und nicht etwa moralisch unterlegen, und doch richtet er sich wegen dieses Miss­ erfolgs ›gänzlich beschämt‹ (tout honteus47) dauerhaft im Wald ein. Ausgerechnet sein domestiziertes Alter Ego hat ihn geschlagen und damit den ersten Sieg kultivierter Wildheit über die reine physische Gewalt eingefahren  – und das auch noch auf deren eigenem Terrain. Dem Wolf bleibt in der Folge nichts anderes übrig, als im Wald einen aus Menschensicht permanenten Gefahrenherd zu etablieren, der im Verlauf der weiteren fast identischen Reimpaar livre / ivre (Roman de Renart, hg. Strubel, 828, v. 31 f.) bekräftigt sieht. Daher postuliert er mit Blick auf die Materialität der Schrift und der daraus erzeugten Phoneme das dem Wortspiel zentrale ›I‹ als Initiale Aucupres (vgl. Roger Dragonetti, La vie de la letter au moyen âge. Le conte du Graal [Connexions], Paris 1980, 57 f. u. 79), das zunächst den Beginn des trophischen Unfriedens markiert, aus dem später die intercarnivore (resp. intercanidäre) Tierfehde erwachsen wird. Zur Datierung der Enfances vgl. Hans Robert Jauß, »Les Enfances de Renart«, in: ders: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956–1976, München 1977, 291–312 [131–152], hier 291 [131]). 46  Roman de Renart, hg. Strubel, 828 f., v. 63–96, meine Übers. Quant Eve vit qu’ele a perdue / Sa brebiz, s’ele n’a eiüe, / Brait et crie forment ›Ha, ha!‹ / Adam la verge reprisse a, / En la mer fiert par mal talant: / Uns chien en saut hastivemant. / Quant vit le leu, a laissé corre / Por la berbiz qu’il vost rescorre. / Il li resqueut, molt a enviz / La laissa li leus la berbiz. / Si feroit li encor demain, / Si le tenoit n’a bois n’a plain. / Por ce que meffaiz ot li leus, / Au bois s’enfoui tout honteus. […] Toutes les foiz c’Adens feri / En la mer, que beste en issi, / Cele beste si retenoient; / Quel que Eve en fist issir, / Ne pot il onques retenir. / Si tost com de la mer issoient, / Aprés le leu au bois aloient. / Les Adam bien aprivesoient, / Les Evain asauvagisoient. / Entre les autres en issi / Li gorpis, si asauvagi. 47  Die Scham des Wolfes irritiert an dieser Stelle, da er »vorerst nicht als tierepisches Hybridwesen erscheint« und damit »seine Transgression […] auch noch nicht moralisch zurechenbar« ist (Waltenberger, »Das Buch AUCUPRE«, 31). Möglicherweise kann sie als Reflex auf die allerdings in der Nacktheit und nicht der Transgression begründete Scham der Stammeltern nach dem bzw. durch den Sündenfall verstanden werden.

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Schöpfungstaten auch die übrigen Kreaturen Evas anzieht, die eine wilde Gegengesellschaft zur Hirtengemeinschaft am Strand bilden. Evas Rolle als Sündenbringerin, die der Text mit seinem postlapsaren Beginn aufruft, ohne jedoch weiter darauf einzugehen, pflanzt sich im apokryphen Bericht der Tierschöpfung fort, in welchem sie abermals das für den Menschen Schädliche in die Welt bringt; allerdings diesmal ohne irgendeine Kritik dafür zu erfahren, sei es seitens des Erzählers, ihres Gatten oder auch des nunmehr ohnehin von der Erzählung ausgeblendeten Gottes. Stattdessen pendelt sich ein Kontinuum von Vergesellschaftung und Störung durch die abwechselnden Kreationen der Stammeltern ein, die der Logik des Textes folgend zusammen mit den domestizierten Tieren eine im Gegensatz zu derjenigen der Wildtiere markiert heterogene Gemeinschaft bilden. Denn die Gesellschaft der Tiere des Waldes besteht ja nur aus gleichartigen, wilden ›Evatieren‹, während sich am Strand neben Adam und den ›Adamtieren‹ auch Eva befindet, die immer wieder die Ordnung stört und damit  – wenn auch nicht topologisch, so aber in actu  – selbst gewissermaßen aus der Ordnung fällt. Und ebenso wie Eva sind auch die Tiere in dieser doppelten Urszene  – immerhin will der Erzähler ja eigentlich den Grund für die Fehde zwischen Fuchs und Wolf erklären  – zunächst noch frei von moralischer Beurteilung, ebenso wie sie frei von Sprache sind. Dazu passt, dass ihre Parallelgesellschaft im Wald ebenfalls noch keine Probleme aufweist, zumindest keine, von denen erzählt würde  – obgleich das drohende Ende ihrer Harmonie stets mitzudenken ist. Man könnte nun spekulieren, dass ihr Sündenfall im Gegensatz zum lapsus hominum noch aussteht, wodurch die angekündigte Fehde nicht nur als Grundmotiv mittelalterlich-tierepischen Erzählens, sondern auch als Indiz für ein grundsätzliches moralisches Defizit in der Welt der Tiere verstanden werden könnte. Auserzählt würde dann also die Geschichte von der Urschuld der Tiere als kommentierendes Surrogat des narrativ ausgesparten Sündenfalls, das diesen zugleich strukturhomolog fortsetzt, um daraus konsequent zur Tiergeschichte weiterzuführen.48 Unter den anderen [Tieren] war auch der Fuchs (gorpis), der verwilderte. Rot war sein Fell wie bei Renart, er war äußerst klug (cointes) und bösartig (gain­ 48  Entsprechend deutet Scheidegger den drohenden Konflikt zwischen Renart und Ysengrin aus der Erzählsituation als gottgewollt: »Dieu même participerait alors, comme l’inspirateur d’Aucupre, à l’écriture du Roman de Renart! La parole animale n’est-elle pas un effet du bon plaisir divin? […] [Ne] plaît-il pas à Dieu que la paix entre Renart et Ysengrin ne dure pas?« (Scheidegger, Le Roman de Renart, 178 f.).



Car molt a entre faire et dire43 gnarz). Mit seiner Listigkeit betrog er alle übrigen Tiere, wenn er auf eines von ihnen traf.49

Mit der Schöpfung des Fuchses durch Eva ist also die Saat gestreut, aus welcher rasch der schon zu Beginn angekündigte Konflikt erwachsen wird. Zwar verwildert der gorpil anfangs ebenso wie die anderen ›Eva­ tiere‹, jedoch entkommt er der Zivilisation nicht ohne die kennzeichnende Deutung seines roten Fells, das ihn mit Renart vergleichbar ›klug und bösartig‹ macht. Dieser wiederum sei nach Menschen mit eben diesen Charaktereigenschaften benannt, woraufhin man schließlich auch Menschen ›nach Renart und seinem Fuchs‹ ([p]or Renart et por son gorpil50) benannt habe. Bezeichnenderweise werden beide Eigenschaften des Fuchses erst im Vergleich zu Renart erwähnt, was in der komplexen Zeichenrelation die Frage aufwirft, ob der Charakter des Fuchses nicht erst in der renartschen Übertragung genuin menschlicher Laster beobachtbar wird. Der zunächst logisch anmutende Schluss, der gorpil werde Renart genannt, weil er so klug und bösartig ist wie ein menschlicher Renart, kehrt sich damit in die Paradoxie um, dass der gorpil bösartig und klug ist, weil bzw. sobald er Renart genannt wird.51 Sowohl die füchsische Listklugheit wie auch die moralische Dimension kommen also erst durch Menschenhand ins Spiel bzw. durch komplexe, wechselseitige Übertragungen, deren Bewegung sich als Hysteron-Proteron oder Reimport der Laster a priori beschreiben ließe.52 Renart geht dabei als »a kind of eternal fox-figure, an exemplary version of a fox«53 der ›Renartisierung‹ seines Doubles und derjenigen bestimmter lasterhafter Menschen  – deren renartsches Wesen ja ebenfalls erst im Vergleich beschreibbar wird  – voraus und bildet zugleich das Schema für strukturgleiche Übertragungen im Falle Ysengrins, Hersents und Richeuts. Von Renart aus im Verbund mit ›seinem Fuchs‹ breitet sich also das Laster sowohl im Reich der Tiere wie in dem der Menschen aus. Es scheint deshalb kaum verwunderlich, wenn der Passus zu ihm damit schließt, dass, »[s]o wie Renart die 49  Roman de Renart, hg. Strubel, 829, v. 95–100, meine Übers. Entre les autres en issi / Li gorpis, si asauvagi. Rous ot le poil comme Renarz, / Molt par fu cointes et gaingnarz. / Par son sens toutes decevoit / Les bestes, qant qu’il en trovoit. 50  Ibid., 829, v. 105, meine Übers. 51  Auch die Benennung Evas im zweiten Schöpfungsbericht erfolgt erst postlapsar und darüber hinaus durch den Menschen (vgl. Gen 1,20). Im Gegensatz zu ›Frau‹ ist ›Eva‹ also als stets bereits durch ihr eigenes Vermögen, Gutes von Bösem zu scheiden, ›moralisiert‹ zu denken. 52  Zu den Dopplungen und der polyvalenten Signifikationsstruktur vgl. weiterführend Scheidegger, Le Roman de Renart, 191–193. 53  Sunderland, »Le Cycle de Renart«, 9.

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Menschen zu bescheißen wusste, […] es der Fuchs [verstand], die Tiere zu betrü­gen.«54 Bis dato betont der Erzähler allerdings immer noch die enge Verbundenheit der Wildtiere (zumindest der genannten füchsischen und wölfischen Paare) in ihrer homogenen Gesellschaft, die zunächst »lediglich auf gleicher – genauer: auf gleichermaßen sündhafter – Veranlagung gründet«55 und durch gegenseitige Beteuerung der Verwandtschaft gestärkt wird. Der überflüssig wirkende Einschub zur Sprachfähigkeit von Bileams Eselin56 hat vor diesem Hintergrund die klare Funktion, das Movens für den sowohl in der Gattungstradition als auch in der durch den Prologue gestifteten Erwartungshaltung angelegten (Sünden-)Fall dieser Gegen­gesellschaft zu akzentuieren bzw. nachträglich ins Spiel zu bringen: die Sprachfähigkeit der tierepischen Akteure  – oder metapoetisch gewendet: deren Korrumpierbarkeit per Fiktion. Zwar spricht Renart bereits zuvor bei der Schließung der Wahlverwandtschaft  – er fragt seinen ›Onkel‹, den Wolf, was dieser tun möchte, um auf diese Weise ›seine Zuneigung zu gewinnen‹ (s’amor atraire57) – jedoch gibt es an dieser Stelle bei aller aus Rezipientensicht nachvollziehbaren Scheinheiligkeit keinen unmittelbaren Grund, an Renarts ehrbaren Absichten zu zweifeln.58 Wenn nun der Erzähler einerseits die problemlos auf biblische Wahrheit zurückzuführende, aber als Geschwätz von Nachbarn ausgegebene Geschichte von Bileams Eselin59 zur Begründung der Sprachfähigkeit der Tiere anführt, so ist dieses Vermögen von vornherein an die Unzuverlässigkeit mündlicher Erzählung gebunden. Andererseits koppelt er aber auch die Verlässlichkeit Aucupres – immerhin inszeniert als ein »equivalent of Scripture«60  – an die Beständigkeit des verwandtschaftlich-liebevollen 54  Roman de Renart, hg. Strubel, 830, v. 107 f., meine Übers. Se Renars sot gent conchïer, / Li gorpix bestes engingnier. 55  Waltenberger, »Das Buch AUCUPRE«, 34. 56  Vgl. Num 22, 21–34. 57  Roman de Renart, hg. Strubel, 831, v. 162, meine Übers. 58  Während der Abschnitt sogar mit der haarsträubenden Behauptung ihrer scheinbar kontinuierlichen Harmonie (vgl. ibid., 831, v. 165 f.) schließt, unterläuft der Erzähler durch einen Einschub zu Renarts lehrreich-lasterhaftem Wesen sofort wieder jegliche Erwartung eines gütlichen Zusammenlebens der beiden. Jauß spricht von einer gesteigerten »Umkehrung lang vertrauter und scheinbar immerwährender epischer Verhältnisse bis ins Paradoxe […]: die alten Widersacher nennen sich hier aus dem Grund überschwenglich ›Onkel‹ und ›Neffe‹, weil sie sich wahrhaft zugetan sind.« (Jauß, »Les Enfances de Renart«, 310 [150]). 59  Vgl. Roman de Renart, hg. Strubel, 832, v. 204. 60  Levy, »The Gospel according to Aucupre«, 124.

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Bandes zwischen Fuchs und Wolf,61 dessen erwartbares Einreißen zugleich der gesamten Geschichte die Glaubwürdigkeit entzieht. Im Vergleich zur durch Aucupre gestützten Behauptung dieser Freundschaft kann das Geschwätz der Nachbarn hingegen den Vertrauensbonus biblischer Hypotextualität beanspruchen, wobei beides gegeneinander ausgespielt wird: die als wahr behauptete, aber unglaubwürdige Geschichte der Gevatterschaft gegen die als unglaubwürdig inszenierte ›wahre‹ Erzählung von Bileams Eselin.62 Dass die Gevatterschaft selbstverständlich – und wie im Prologue bereits erklärt  – keineswegs von Dauer sein wird, kann als unausgesprochene Pointe der Branche gesehen werden. Sie lässt auch an ihrem Ende noch keinen ausgesprochenen Konflikt erkennen, denn die abschließende Episode der Enfances zeigt zwar Renarts ersten Streich zu Lasten Ysen­ grins; es wird aber an keiner Stelle gesagt, dass dieser den Trick durchschaut, seinem ›Neffen‹ zürnt und dadurch etwa eine Kette aus Schädigung und Rache initiiert wird. V. Der Schinkenraub als Sündenfall in disguise Gänzlich krank und voller Geschwüre kam Renart eines Tages zu seinem Onkel. Ysengrin sprach: ›Teurer Neffe, was hast du? Ich sehe dich dem Tode nahe.‹ Darauf sprach Renart: ›Ich bin krank.‹ ›Das sehe ich, gewiss, hast du heute schon gespeist?‹ ›Nein, Herr, das konnte ich heute noch nicht.‹ ›Steht auf, Frau Hersent, bereitet ein kleines Frikassee aus zwei Nierchen und einer Milz.‹ Renart schwieg mit gesenktem Haupt und dachte daran, dass er Schinken gemacht hatte. Ein wenig hob er den Kopf: Drei Schinkenkeulen baumelten am Dachbalken. Den Schinken anlächelnd sprach er: ›Es ist närrisch, dass ihr ihn dort hingehängt habt. Ahi, teurer Onkel Ysengrin, es gibt derartig böse Nachbarn, einer davon könnte dort euren Schinken sehen und seinen Teil davon haben wollen. Versteckt ihn lieber rasch und sagt, dass er euch gestohlen worden sei.‹ Darauf sagte Ysengrin: ›Er wird ihn nicht kosten, wie ich glaube, der ihn dort erblickt.‹ Darauf begann Renart zu lachen: ›Ihr könnt es eventuell nicht abschlagen (sagte er), denn einer könnte euch so darum bitten…‹ Ysengrin sprach: ›Schweigt! Ich habe weder einen Bruder noch einen Neffen oder eine Nichte, der ich auch nur ein Stück davon gäbe.‹ Gemünzt auf Renart sagte er das und ebenso auf seinen Vater wie auf seine Frau und seine Mutter.63 Roman de Renart, hg. Strubel, 831, v. 155–158. Kontrast erklärt Levy als »double distortion or mirrored reversal«, möglicherweise als Ausdruck eines subversiven Sinns für Humor. »[I]n short he wanted to pass off gossip as Gospel and Gospel as gossip.« (Levy, »The Gospel according to Aucupre«, 124). 63  Roman de Renart, hg. Strubel, 833, v. 237–268, meine Übers. Toz malades, plains de raoncle, / Vint Renars un jor a son oncle. / Dist Ysengrins: ›Biaus niés, q’as 61  Vgl.

62  Diesen

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Bereits die Ausgangslage der schwankhaften Erzählung vom Schinkenraub wirft Fragen auf: So mag dem traditionsbewussten Rezipienten die Krankheit des Fuchses verdächtig vorkommen, obwohl diese doch zuerst vom Erzähler selbst konstatiert und von Renart wie augenscheinlich von Ysengrin nur noch einmal bestätigt wird. Umso fragwürdiger bleibt, wie es zu Renarts Nachdenken über den Schinken kommt, den er scheinbar erst, nachdem er an ihn gedacht hat, am Dachbalken baumeln sieht: War der Fuchs bereits im Gedanken an den Schinken zu Ysengrin gekommen und hatte alles von langer Hand geplant? Gerade die Betonung seines gesenkten Kopfes in der sonst eher kargen Beschreibung der Szenerie liefert ein deutliches Indiz dafür, dass der Fuchs des Schinkens zunächst gar nicht ansichtig war. Ist seine Krankheit also nur vorgetäuscht? In diesem Falle hätte der Fuchs aber auch den Erzähler betrogen oder der Erzähler seine Leserschaft, da er ja ohne jeden erkennbaren Doppelsinn von Renarts Krankheit berichtet, welche dieser in der Unterhaltung mit dem Wolf nur noch einmal bestätigt. Ebenso falsch wie Ysengrins Status als geliebter oncle (und damit die dies bezeugende Autorität Aucupres) wäre entsprechend derjenige der fast gleichlautenden und im Reim betonten Geschwüre (raoncle), von denen der Erzähler berichtet. Und auch das auf den Schinkenproduzenten verweisende Pronomen il verliert an deiktischer Eindeutigkeit, denn so eindeutig in der Logik des Erzählten der Wolf den Schinken gemacht hat, scheint er doch der Phänomenologie des Erzählens nach mehr ein Produkt der »vulpekulären Narrativik«.64 In jedem Falle wird die füchsische Listklugheit spätestens dann auch auf der Handlungsebene wirksam, wenn Renart Ysengrin darauf hinweist, er solle den Schinken besser verstecken und behaupten, er sei bereits entwendet worden, damit kein böswilliger Nachbar seinen Teil  einfordere.65 Der tu? / Molt te voi ore confondu.‹ / Ce dist Renars: ›Malades sui.  /   – Voire, cheles, mangas tu hui?  /  – Naie sires, n’en ai talent.  /  – Levez moi sus, dame Hersent, / Fates une petite haste / De deus roignons et d’une rate.‹ / Renars si se tut toz’ enbrons, / Pansa qu’il eüst faiz bacons. / Un pestitet leva la teste: / Trois bacons vit pandre a la feste. / En sorient as bacons dit: / ›Molt par est fous qui la vos mist! / Ahi, biaus oncles Ysengrin, / Ja sont il tant malvés voisin: / Tés puet la voz bacons veoir / Qui en vora s apart avoir. / Isnelement les despandez; / Dites c’on les vos a enblez.‹ Dist Ysengrins: ›N’en goutera / Tez, com je cuit, qui le savra.‹ / Don’t commença Renars a rirre: / ›Nel porrez, dist il, escondire, / Je n’ai frere, neveu ne niece / Qui j’en donasse une piece.‹ / Por lui dist et por son pere / Et por sa fame et por sa mere. 64  Zum Konzept »vulpekulärer Narrativik« vgl. Michael Schilling, »Vulpekuläre Narrativik. Beobachtungen zum Erzählen im ›Reinhart Fuchs‹«, ZfdA 118 (1989), 108–122. 65  Damit ist zugleich noch einmal auf die Nachbarn angespielt, welche die Geschichte von Bileams Eselin erzählen, ja möglicherweise fingiert haben. Der An-



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Wolf jedoch ist sich der Sicherheit seiner Vorräte gewiss. Auf die ergänzende Warnung des Fuchses hin, Ysengrin könne unter Umständen so darum gebeten werden, dass er es nicht abschlagen könne, erklärt er, dass er den Schinken ja nicht einmal mit der engsten Familie teilen würde. Es kommt, wie es kommen muss: Renart schleicht nachts zum Haus seines Onkels und stiehlt den Schinken kurzerhand und scheinbar ohne jeden Grund, keinesfalls jedoch um akut seinen Hunger zu stillen. Als Ysengrin sich bei ihm am kommenden Tag über den Diebstahl beklagt, gratuliert der Fuchs zur gekonnten Lüge  – besser könne der Wolf seinen Schinken nicht bewahren, als dass er jedem davon erzähle, er sei gestohlen worden. Ysengrin beteuert vergeblich, dass es sich keineswegs um eine Lüge handle, doch Renart bestätigt ihn nur erneut darin, dass er seine ›Lüge‹ mit eben dieser Inbrunst weiterverfolgen möge. Die Geschichte endet mit einem lachend aufbrechenden Fuchs, der, wie der Erzähler ankündigt, in Zukunft dem Wolf und den übrigen Tieren noch oft das Leben schwermachen werde.66 Wie ist diese Episode nun mit der apokryphen Genesishandlung und den verbindenden Scharnierstellen, dem Bericht über die Herkunft der Tiernamen, der vermeintlichen Verwandtschaft von Renart und Ysengrin sowie der Geschichte von Bileams Eselin verknüpft? Zweifelsohne weist sie Analogien zum Sündenfall und zur eingangs erzählten postlapsaren Szene auf. Obwohl die Bedürfnisse des Fuchses offenbar von seinen fürsorglichen Verwandten gestillt werden  – er hätte sonst vermutlich auch nicht genug Kraft für den Schinkenraub gehabt –, begehrt dieser mehr, als ihm zusteht. Die am Dachbalken (la feste) baumelnden Schinkenkeulen bilden deutlich eine Parallele zur Frucht der Erkenntnis – und mehr noch, der Name des Balkens verrät ihr besonderes Wesen. Denn feste kann nicht nur den Balken bezeichnen, sondern steht homonym auch für den Scherz, der durch Renarts Schinkenraub in die Tierwelt kommt.67 Die Wahrnehspruch auf den Schinken müsste ebenso zunächst narrativ begründet werden, wobei die Begründung, wie die Antwort des Fuchses nahelegt, derart raffiniert ausfallen könnte, dass der Wolf der Bitte nachgeben müsste. Ysengrins Befehl zu schweigen reagiert also auf die Möglichkeit eines derart zwingenden Narrativs, das er lieber im Keim ersticken will. In der Folge verzichtet Renart beim Raub gänzlich auf Rede und nutzt diese stattdessen erst nach vollendeter Tat zu seiner  – eigentlich unnötigen – Verteidigung. 66  Jauß sieht darin literaturhistorisch die Geburtsstunde eines neuen Typus von Fuchs, der die »historische Metamorphose vom listenreichen baron im Reich König Nobles zum Typ des liebenswürdigen Schelmen in der Art Till Uilenspiegels vollendet« habe (Jauß, »Les Enfances de Renart«, 312 [152]). 67  Vgl. Frédéric Godefroy, »Feste«, in: Dictionnaire de l’ancienne langue française et de tous ses dialectes du IXe au XVe siècles, 10 Bde., Paris 1884, Bd. 3, 770. Über

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mung einer Analogie zwischen den beiden lapsus wird jedoch unter mehreren Aspekten relativiert: Der Schinken ist trotz seiner womöglich auf die Transzendenz verweisenden Dreizahl eben kein göttliches Geschenk, sondern wurde vom Wolf (resp. durch füchsischen Einfall) allererst hergestellt und verdankt ihre religiöse Konnotation im Wesentlichen dem Kontext.68 Projiziert man das Geschehen nun wieder zurück auf die menschlichen Verhältnisse, so gerät die scheinbar klare Ordnung des Anfangs mehr und mehr ins Wanken, ja sogar Gottes Verbot, vom Baum der Erkenntnis zu essen, rückt in Überblendung mit Ysengrins Habgier in ein mehr als prekäres Licht. Die doppelbödige Warnung Renarts, der Wolf möge den Schinken doch besser verstecken, gewinnt damit in Gott einen versteckten zweiten Adressaten und den Charakter einer anklagenden Theodizee. Ein besser versteckter Schinken des Scherzes, respektive eine besser behütete Frucht der Erkenntnis hätte den jeweiligen Sündenfall verhindern können.69

den Reim mit dem ohnehin graphemisch und phonetisch beinahe identischen teste verbunden, avanciert feste (und damit auch der Schinken) umso mehr zur ›Kopfgeburt‹ Renarts. 68  In Anbetracht der zentralen Funktion, die Nahrungsbeschaffung als Motiva­ tion für zahlreiche Branchen einnimmt, verwundert es kaum, dass die Beute mehrfach fetischisiert wird. Ein anschauliches Beispiel liefert die Branche Tibert et l’anouille, in der es dem Kater gelingt, Renart eine Wurst zu entwenden, indem er zunächst dessen unangemessene Weise, die Wurst im Maul zu tragen kritisiert. Kaum hat er sie selbst in Besitz, verkündet Tibert, die Wurst sei heilig und dürfe nur auf dem Kruzifix einer Kirche verspeist werden, auf welches geklettert er den dazu nicht fähigen Fuchs hungrig am Boden zurücklässt. Zu dieser »sausage religion« vgl. Alexandre Leupin, Fiction and Incarnation. Rhetoric, Theology and Literature in the Middle Ages, übers. David Laatsch, Minneapolis / London 2003, 157–160. 69  Mit diesem Blick ist auch noch einmal die Rute zu befragen, die der Herr unmissverständlich beiden Stammeltern mit den passenden Instruktionen überlassen hatte (vgl. Waltenberger, »Das Buch AUCUPRE«, 31), sowie deren zweite Anwendung, vor der er sie mit keiner Silbe gewarnt hatte und welche die kurzzeitig wiederhergestellte Ordnung erneut bedroht. Oder um noch einen Schritt zurückzugehen: Gott selbst hat mit Eva ja das erste ›Evatier‹ geschaffen, das sich in der Fortführung der Schöpfung nur weiter  – man könnte sagen gut aristotelisch  – gleichartig fortpflanzt: »der Mensch zeugt nämlich einen Menschen (ἄνθρωπος γὰρ ἄνθρωπον γεννᾷ)« (Aristoteles, Metaphysik, hg. William David Ross, 2 Bde., Oxford 1924 [repr. 1953], Bd. 2, 12, 1070α), resp. ›der Fuchs zeugt nämlich einen Fuchs‹ (ἀλώπηξ γὰρ ἀλώπεκα γεννᾷ). Kelly betont hingegen die rhetorische Verbindung der drei Figuren, indem er die Szene allegorisch denkt: »Three Images stand in systematic and basic relation: Eve as the source of evil, and the fox and Renart as, respectively, animal and human Images of evil.« (Douglas Kelly, Medieval Imagination. Rhetoric and the Poetry of Courtly Love, Madison 1978, 40).

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Auch mit der Sprachfähigkeit der Tiere hat Gott sich in der Logik des Textes einen Bärendienst erwiesen, betont der Erzähler doch beim Bericht von der sprechenden Eselin, die selbe Allmacht Gottes, die dem Tier die Sprache verlieh, könne auch Geizige70 großzügig machen. Dies in Kombination mit der unmittelbar zuvor erfolgten Reflexion über die der Wahlverwandtschaft entgegenstehende Sündhaftigkeit des Fuchses, die in einer Klage über Geiz und Wucher endet,71 könnte eine Gottgewolltheit dieses Lasters suggerieren. Ysengrins Habgier, die allererst den Schinkenraub als Raub ermöglicht und damit den Grundstein für die Feindschaft von Fuchs und Wolf legt, deren Ausmaß der Erzähler mit dem des Trojanischen Krieges vergleicht, wirft also kein gutes Licht auf Gottes Entscheidung, lieber das Tier sprechen als den Geizigen großzügig werden zu lassen. Zusätzlich nutzt Renart dieses Geschenk der Sprache eben dazu, aus der Verfehlung des Wolfes eine noch größere Verfehlung seinerseits zu machen, welche schließlich den gesamten tierepischen Kosmos korrumpieren wird.72 Und auch der Erzähler, so gewinnt man nach und nach den Eindruck, steht in gewisser Weise mit dem Fuchs im Bunde und liefert statt einer zwar apokryphen, jedoch gleiche Legitimität wie die Bibel beanspruchenden Offenbarung eher einen Bericht mit gespaltener Zunge. Eben diese Absage an Geltungsansprüche und die bewusste Sabotage eindeutiger Sinnstiftung bilden das Fundament für einen komplexen Scherz mit der Theodizee, dessen theologische Abgründigkeit vulpekulär verschleiert wird. In einer Art ›Zoopoiedizee‹ vermittelt der Text damit keine glaubwürdig oder eindeutig das Geschehen begründende Erkenntnis, sondern untergräbt sich trotz seiner vermeintlich letztgültigen Schriftlichkeit immer wieder selbst und stellt dabei sowohl das bereits Gesagte wie das neu Hinzugekommene ins ›epistemische Abseits‹. Da weder den sprechenden Akteuren noch dem Erzähler oder seinen vorgeblichen Quel-

›Wucherer‹ (usuriers [Roman de Renart, hg. Strubel, 833, v. 230]). ibid., 832, v. 188–191. 72  Mit ähnlichem Tenor deutet auch Levy diesen Zusammenhang: »There is an aspect of this juxtaposition of the themes of usury and the origins of animals speak­ ing on the one hand and the origins of Renart (and Ysengrin) on the other  – the juxtaposition of these two tales – that I have not delved into: the animals can be seen to use language that has been distorted, used badly, been subject to a verbal kind of usury or misuse. In short, they use the language to trick one another, to gain their own ends, to receive an illicit, despicable gain. The animals have gained the ability to resemble man in his most degraded state: greedy, larcenous, usurious, homicidal, deceitful. Far from being a promotion of the beasts to a higher form of being, this is a moral demotion.« (Levy, »The Gospel according to Aucupre«, 120 f.). 70  Wörtlich 71  Vgl.

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len vertraut werden kann, avanciert die Sprache des Textes vom angekündigten Medium der Offenbarung zu dem der Verunsicherung per se. VI. Fazit Spuren eines solchen Sinn verunsichernden Moments lassen sich  – konzeptuell und ohne eine literarhistorische Teleologie strapazieren zu wollen  – bereits in dem für die Fabel konstitutiven Sprachvermögen der Tiere ausmachen. So gerät in der Erzählung von Wolf und Lamm die scheinbar sichere Naturordnung der Nahrungskette durch die Rechtfertigungsrede des Wolfs ins Wanken, der erst durch Begründung des zuvor scheinbar unmittelbar Evidenten seine eigene Legitimität in Frage stellt und damit das Fabulös-Lehrhafte der Fabel inszeniert. Ähnlich verhält es sich in der Branche vom Hahnenraub, deren Handlung zunächst ebenfalls vom Fresstrieb initiiert wird. Wie schon so oft bricht Renart / Reinhart in den Hühnerstall ein, um Beute zu machen, die er in Form des Hahnes im Maul davonträgt. Dessen List besteht nun darin, dass er  – selbst von einem vorgeblichen Spott des Bauern fabulierend  – den Fuchs so weit provoziert, dass dieser aus seiner gerade erfolgversprechenden Rolle als Beutegreifer herausfällt, das Maul zum Sprechen öffnet und damit als (Raub-)Tier versagt. Der Aalraub kehrt dies gewissermaßen um, indem sich Renart hier, freilich bereits im Medium der Sprache, bewusst listig für das animalische Schweigen und gegen die erneut fatale Position als animal loquens entscheidet. In den Enfances ist dem tierepischen Treiben die Urszene menschlicher Moralität par excellence vorgeschaltet, die durch Ankündigung einer darauf folgenden Ätiologie der Feindschaft von Fuchs und Wolf vornehmlich zur sekundären Vergleichsfolie gerät, deren zunächst suggerierte Strukturanalogien mit einem ›tierepischen Sündenfall‹ allerdings im Laufe der Erzählung immer weiter verunklart werden. Hält man dennoch an ihnen fest, stellt die selbst über das Buch Aucupre nahezu biblische Autorität beanspruchende Tiergeschichte einerseits die Legitimation der apokryphbiblischen Erzählung sowie des tatsächlich in der Heiligen Schrift verbürgten Einschubs zu Bileams Eselin in Frage. Andererseits dekonstruiert sie ihre eigenen Sinnstiftungsmechanismen und kontaminiert mit dem dabei freigesetzten Sinnüberschuss zugleich diejenigen der Menschen-, re­ spektive Menschheitsgeschichte. Da die Branche in der abschließenden Episode zum Schinkenraub überdies mit der tierepischen Grundregel bricht, nach der »le plaisir du discours n’éclipse jamais celui de la dévoration à venir«73, das Maul also nur in primärer Fressabsicht zum Fabulieren

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geöffnet wird, 73lässt der lachende Renart am Schluss der Enfances nicht nur den Wolf mit leeren Händen zurück, sondern auch den gattungserfahrenen Rezipienten, der auf moralische Unterweisung womöglich noch verzichten könnte, nun aber nicht einmal mehr auf die ›naturalisierte‹ Teleologie animalischen Fresstriebs vertrauen kann.

73  Boutet,

»Renart, le plaisir, le rire et le mal«, 262.

Zur Dollnsteiner Fastnacht im Parzival (409,8–11) Von Rebekka Nöcker I. Im Mittelalter sind fastnächtliche Aktivitäten vor allem Erscheinungsformen urbaner Festkultur. In der Stadtgesellschaft schaffen Feste und Feiern eine öffentliche Kultur und sind in diesem Sinne ein gewichtiger Teil der sozialen Ordnung. Ein wesentlicher Bestandteil ist die Fastnachtsfeier mit ihren komplexen Spiel- und Schaubräuchen, die sich im 14. und 15.  Jh. in den spätmittelalterlichen Städten ausformte und von der städtischen Obrigkeit gleichermaßen gefördert wie reglementiert wurde.1 Das fastnächtliche rituelle und theatrale Handeln umfasste alle Geselligkeitsformen mit Öffentlichkeitscharakter: Schau- und Umzüge, Fastnachts­ turniere, szenische und musikalische Darstellungen und dramatische Aufführungen von Fastnachtspielen, spontane Einzelauftritte, parodistische Sprüche, Spottlieder, ferner Tanzrituale, Heischegänge, inszenierte Gastmähler und weitere Bräuche und Festpraktiken. Einem auf diese Weise bestimmten Fastnachtstheater liegt ein weiter Theaterbegriff zugrunde, der körperlich vollzogene und sozial wahrgenommene Inszenierungen innerhalb der kulturellen Praxis beinhaltet.2 Den ganz unterschiedlichen Ansätzen zur Herkunft des Brauchkomplexes ist zumindest gemeinsam, dass man Fastnacht nicht mehr als germani1  Vgl. z. B. Harry Kühnel, »Die städtische Fastnacht im 15. Jahrhundert. Das disziplinierte und öffentlich finanzierte Volksfest«, in: Peter Dinzelbacher, Hans-Dieter Mück (Hgg.), Volkskultur des europäischen Spätmittelalters (Böblinger Forum  1), Stuttgart 1987, 1–27. 2  Vgl. Christel Meier, »Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Werte im vormodernen Theater. Eine Einführung«, in: dies., Heinz Meyer, Claudia Spanily (Hgg.), Das Theater des Mittelalters und der Frühen Neuzeit als Ort und Medium sozialer und symbolischer Kommunikation (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des SFB  496  4), Münster 2004, 7–22, hier 15; Andreas Kotte, »Theaterbegriffe«, in: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Matthias Warstat (Hgg.), Metzler Lexikon Theatertheorie, 2., aktual. und erw. Aufl., Stuttgart 2014, 361–568, hier 367.

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schen Winteraustreibungs- und Fruchtbarkeitskult begreift. Vielmehr sieht man sie in den kirchlichen Jahreszyklus eingebunden und terminlich antithetisch auf die vorösterliche Buß- und Fastenzeit bezogen.3 Neben Michael Bachtins kulturhistorischem ›Konzept der Karnevalisierung‹, wonach die Karnevalszeit eine zeitlich und räumlich begrenzte Lachkultur des Volkes evoziere, die den herrschenden Sozialschichten entgegengesetzt sei, konkurrieren im Wesentlichen zwei Erklärungsmodelle: Zum einen habe die Kirche das Fest eingerichtet und gezielt gefördert, um den Gläubigen exemplarisch eine gottferne, verkehrte Welt vor Augen zu halten und die Notwendigkeit einer bußfertigen Umkehr deutlich zu machen, die in den Bußwochen der Fastenzeit erfolge. Zum anderen werden die sozialen und rechtlichen Kontexte in den Vordergrund gestellt und die Relevanz der Fastnacht als eines Wirtschafts-, Zins- und Heiratstermins betont: Fastnacht war Markttag und Gerichtstag, an Fastnacht erfolgten die Lohnzahlungen, und Arbeitsverhältnisse wurden weitergeführt oder gewechselt, und da in der Fastenzeit als kirchlich geschlossener Zeit keine Eheschließungen stattfinden durften, wurde vor Aschermittwoch verstärkt geheiratet. Zudem galt es, vor dem sechswöchigen Verzicht auf Fleisch, Eier und tierisches Fett verderbliche Speisen zu verzehren, so dass noch einmal exzessiv gegessen und getrunken wurde, zumeist bei gemeinsamen Festmählern. So verstanden, bildete Fastnacht nicht nur einen starken Einschnitt im Wirtschaftsjahr, sondern sei zunächst ein Schwellenfest gewesen, das auf die Fastenzeit mit den gravierenden Veränderungen der Konsumgewohnheiten vorbereitet habe, und im Laufe der Jahrhunderte hätten sich vielfältige, regional verschiedene Brauchelemente um den Festtermin angelagert.4 Die Herkunftsfrage ist zwar nicht vollends geklärt, weiterführende Untersuchen aber haben gezeigt, dass sich für die Feier der Fastnacht seit Beginn des 13.  Jhs. Belege beibringen lassen und sie im 15.  Jh. im gesamten Einflussbereich der römischen Kirche bezeugt ist. Entsprechend der Quellenlage ist der Brauchkomplex für das 14. und vor allem das 15. und 16.  Jh. auch relativ gut erforscht.5 3  Vgl. Dietz-Rüdiger Moser, Fastnacht – Fasching – Karneval. Das Fest der ›Verkehrten Welt‹, Graz / Wien / Köln 1986, 18–27. 4  Eine knappe, informative Übersicht zu den Ansätzen der Fastnachtsforschung bietet Beatrice von Lüpke, Nürnberger Fastnachtspiel und städtische Ordnung (Bedrohte Ordnungen 8), Tübingen 2017, 2–5. 5  Siehe vor allem D.-R. Moser, Fastnacht – Fasching – Karneval; Werner Mezger, Narrenidee und Fastnachtsbrauch. Studien zum Fortleben des Mittelalters in der europäischen Festkultur (Konstanzer Bibliothek  15), Konstanz 1991; Johannes Grabmayer (Hg.), Das Königreich der Narren. Fasching im Mittelalter [Beiträge der Aka-



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Welche Aussagen lassen sich aber über die Fastnacht zur Zeit der ersten Zeugnisse treffen? Um 1200 setzen in lateinischen Quellen Belege für den Kalendertermin des Dienstags vor Aschermittwoch ein,6 mit dem die vorösterliche Buß- und Fastenzeit beginnt.7 Explizite Brauchbeschreibungen sind für das 13.  Jh. dagegen vergleichsweise spärlich. Zwei der ersten finden sich in dem um 1220 entstandenen Dialogus miraculorum des Zisterziensermönchs Caesarius von Heisterbach. In einem der Exempla heißt es, dass ein Weltgeistlicher am Abend vor Aschermittwoch Mönche aus dem Kloster Prüm zu einem Festmahl mit mehreren Sorten Fleisch und erlesenem Wein in sein Haus geladen hatte. Obwohl sie fast bis Mitternacht gespeist hatten und gut gesättigt waren, wollte der Priester noch beim ersten Hahnenschrei das fetteste Huhn auftischen, das er besaß, man fand darin aber statt der Innereien eine Kröte vor. Beschämt flohen seine Gäste, weil sie das Ganze als Teufelswerk begriffen: Non est diu, quod quidam ex monachis Prumiensibus, feria tertia ante Cineres in domo cuiusdam saecularis sacerdotis convivantes, diversas carnes cum vino exquisito usque ad mediam pene noctem comederunt. Et cum saturati essent nimis, in ipso galli cantu sacerdos vocans scholarem adultum, nomine Johannem, quem ego bene novi, dixit: Certe adhuc comedemus. Vade affer nobis gallinam, quam inveneris in pertica iuxta gallum sedentem, quia ceteris pinguior esse consuevit, et praepara nobis. Quam cum strangulasset, et ventre aperto, manuque imposita, cum se omnia intestina cuius simul eiicere putaret, maximum bufonem extraxit. Cuius motum cum in manu sensisset, et proiecisset, vidissetque quid esset, repentino suo clamore omnes advocavit. Vindentes gallinae intestina in bufonem versa, confusi a loco convivii recesserunt, intelligentes opus esse diaboli. Haec mihi unus fratrum illorum, qui interfuit et vidit, recitavit.8 demie Friesach, Friesach (Kärnten), 9. bis 11.  November 2007] (Schriftenreihe der Akademie Friesach N.F. 1), Klagenfurt 2009. 6  Vgl. Karl Meisen, »Namen und Ursprung der Fastnacht«, Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 17 / 18 (1966 / 1967), 7–47, hier 17. 7  Zu ihrer Entwicklung s. Christian Domenig, »Fasching – Fastnacht – Karneval. Zur Etymologie der Namen und zum Zeitraum des Narrenfestes«, in: Grabmayer (Hg.), Das Königreich der Narren, 21–37, hier 22 f., 27 f. 8  Caesarii Heisterbacensis monachi ordinis Cisterciensis Dialogus miraculorum, hg. Joseph Strange, 2 Bde., Köln / Bonn / Brüssel 1851, Index Koblenz 1857, 2. Aufl., Köln 1922 [Nachdr.: Ridgewood, N.J. 1966], Bd. 1, 252, dist. 4, cap. 86. – Übersetzung: »Es ist auch nicht lange her, daß einige von den Prümer Mönchen am Dienstag vor Aschermittwoch im Hause eines Weltpriesters speisten, wobei sie fast bis zur Mitternacht verschiedene Fleischsorten und ausgezeichneten Wein genossen. Obwohl sie schon vollkommen satt waren, rief beim ersten Hahnenschrei der Priester einen erwachsenen Schüler namens Johannes, den ich gut kenne, und sagte: ›Wir wollen noch gewiß weiter schmausen. Geh, und bring uns die Henne, die Du [sic!] neben dem Hahn auf der Stange sitzend findest[,] und bereite sie uns zu; denn die pflegt fetter als die anderen zu sein!‹ Als er ihr den Hals umgedreht hatte, öffnete er

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Einem anderen Exemplum zufolge hatte in Koblenz ein Metzger fast die ganze Nacht auf Aschermittwoch mit einem Trink- und Fressgelage verbracht und in den frühen Morgenstunden, um sich das verzehrte Fleisch gleichsam ›abzuwaschen‹, mit einem seiner Trinkgenossen ein Wirtshaus betreten und dort weitergezecht. Statt aber wie die übrigen Gäste in die Frühmesse aufzubrechen und das Aschekreuz zu empfangen, verlachte der Metzger das Mysterium der Asche und streute seinem Kumpan die Asche vom Herd über den Kopf. Darauf erhob sich über ihn eine Staubwolke, in der er jämmerlich erstickte: Retulit nobis Theodericus monachus noster quondam Comes in Wiede, rem satis mirabilem. Novi, inquit, in Confluentia carnificem quendam, hominem in officio suo probum satis, nomen illius exprimens. Hic cum tempore quodam tertia feria ante Cineres, totam pene noctem in comessationibus expendisset, mane quasi ad abluendas carnes cum quodam suo collega tabernam intravit. Cumque ad officium missae pulsaretur, et fideles ad ecclesiam confluerent, nec non ex eadem taberna, iamque soli hi duo illic remanentes potarent, ait alter carnifici: Certe modo nimis diu exspectamus; eamus ergo ad ecclesiam propter sacros cineres. Cui ille mysterium cinerum irridendo, respondit: Sede, ego tibi dabo cineres, et tu mihi. Et ecce mox poena irrisionis subsecuta est. Nam statim circa caput et faciem tantum sensit pulverem, ac si follibus ei insufflaretur. Cumque territus exclamaret, tantum ore cineris hausit, ut pene suffocatus fuisset. Accurrerunt multi, plagam tam mirabilem videntes. Ductus est in proximam insulam, in qua non pulvis sed gramen erat; sed nihil illi profuit. In Rheno, in pomerio, in solario, neque in aliquo loco a turbine cinerum se defendere potuit; a quibus tandem suffocatus, poenam irrisionis luit. Ecce homo de quo supra dictum est, devotionis gratia etiam sub terra vivere potuit; hunc in aere iam dicta culpa suffocavit. Duo nunc subiiciam miracula; primum meruit virtus humilitatis, sequens virtus castitatis.9

sie, griff mit der Hand hinein, und als er glaubte, alle Eingeweide zugleich herauszubefördern, zog er eine riesige Kröte heraus. Er spürte, wie etwas in seiner Hand zappelte[,] und schleuderte es von sich. Da sah er, was es war, schrie sofort auf und rief die anderen herbei. Als diese sahen, daß die Eingeweide des Huhns in eine Kröte verwandelt waren, liefen sie beschämt vom Ort der Schmauserei davon, weil sie begriffen, daß dies ein Werk des Teufels war. Dies hat mir einer der Ordensleute, der dabei war und es gesehen hat, berichtet« (Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum = Dialog über die Wunder, lateinisch / deutsch, eingel. Horst Schneider, übers. und komm. Nikolaus Nösges, Horst Schneider, 5  Teilbde. [Fontes Christiani 86,1–5], Turnhout 2009, Bd. 2, 887). 9  Caesarii Heisterbacensis […] Dialogus miraculorum, Bd. 2, 253  f., dist.  10, cap. 53. – Übersetzung: »Unser Mönch Dietrich, einstmals Graf von Wied, hat mir folgende ganz wunderbare Geschichte erzählt: Ich kannte, sagte er, in Koblenz einen Fleischer, der in seinem Handwerk sehr tüchtig war. Und er nannte dessen Namen. Als er einst einen Dienstag vor Aschermittwoch fast die ganze Nacht mit Schmausen verbracht hatte, kam er am Morgen mit einem seiner Kollegen in die Schänke, um –



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Das Wort ›Fastnacht‹ nennt Caesarius zwar nicht,10 aber deutlich wird: Die Feier der Fastnacht findet am Dienstag vor Aschermittwoch in den Abendstunden statt; wichtige Elemente sind die Geselligkeit, verbunden mit reichlich gutem Essen und Trinken; sogar die übermäßige Feier mit Völlerei und Prasserei ist akzeptiert. Festakteure sind nicht nur die Stadtbewohner und insbesondere Handwerker (Metzger), sondern auch Geistliche sowohl des Weltklerus als auch aus dem monastischen Milieu. Deutlich wird ferner, dass nicht die Fastnachtsfeier selbst und auch nicht ihre exzessive Form anstößig sind. Wenn man aber die Fastnacht als Durchführungsrahmen für die Übertretung des Fastengebots oder gar für die blasphemische Verkehrung der Festelemente nutzt, dann handelt es sich um einen eklatanten Verstoß gegen die religiöse Norm.11 II. Anders als in lateinischen Quellen ist der Kalendertermin der Fastnacht in deutschsprachigen Archivalien erst ab der zweiten Hälfte des 13.  Jhs.

wie man so sagt – das Fleisch abzuwaschen. Als es zur Messe läutete und die Gläubigen zur Kirche eilten – auch die in der Schänke –, blieben nur diese beiden zurück und tranken. Da sagte der Kollege zu dem Fleischer: ›Sicher werden wir schon längst erwartet. Laß uns also zur Kirche gehen wegen der heiligen Asche.‹ Der andere aber erwiderte ihm, um das Geheimnis der Asche zu verspotten: ›Setz Dich [sic!], ich gebe Dir [sic!] die Asche und Du [sic!] gibst sie mir!‹ Und er nahm Asche vom Herd und streute sie ihm auf den Kopf. Doch siehe: die Strafe für den Spott folgte auf dem Fuß! Er spürte sogleich um seinen Kopf und sein Gesicht soviel Staub, als würde er ihm mit Blasebälgen zugeweht. Als er vor Schrecken schrie, schluckte er soviel Asche mit seinem Mund, daß er fast erstickt wäre. Viele liefen herbei und sahen die so wunderbare Strafe. Man brachte ihn zu einer sehr nahen Insel, auf der es keinen Staub, sondern nur Gras gab, doch es half ihm nicht: Ob im Rhein, im Obstgarten, oder auf dem Söller, nirgendwo konnte er sich vor dem Wirbel aus Asche retten. Schließlich erstickte er daran und büßte so für seinen Spott. Siehe: Der Mann, von dem vorhin die Rede war, konnte wegen seiner Frömmigkeit unter der Erde überleben, den anderen aber erstickte seine schon genannte Schuld im Freien« (Dialog über die Wunder, übers. Nösges, Schneider, Bd. 4, 1999–2001). 10  Die lateinischen Äquivalente zu ›Fastnacht‹ sind carnisprivium, carnipluvium, carnislevamen u. ä., vgl. Hermann Grotefend, Zeitrechnung des Deutschen Mittelalters und der Neuzeit, 2 Bde., Hannover 1891–1898 [2. Neudr: Aalen 1984], Bd. 1, 21. Caesarius verwendet stattdessen die gängige Wochentagzählung ›Dienstag (= dritter Tag der Woche) vor Aschermittwoch‹: feria tertia ante Cineres. Zu dieser vgl. auch Meisen, »Namen und Ursprung«, 17 f. 11  Zu den beiden Exempla s. auch Wolfgang Herborn, Die Geschichte der Kölner Fastnacht von den Anfängen bis 1600 (Publikationen des Kölnischen Stadtmuseums 10), Hildesheim / Zürich / New York 2009, 18–21, hier 21.

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belegt.12 Hier bezeichnet das Wort vas(t)-naht den Dienstag vor Aschermittwoch, was als Vortag der Fastenzeit zu verstehen ist analog zu ›Weihnacht(en)‹ als Vorabend des Christtages oder ›Johannisnacht‹ als Vorabend des Johannisfestes, gemäß dem christlichen Usus, am Vortag eines Festes dessen Vigilfeier zu begehen.13 Zum ersten Mal überhaupt und noch dazu für die Fastnacht als Brauchtermin ist ein sprachlicher Nachweis des deutschen Worts ›Fastnacht‹ jedoch bereits in dem um 1206  /  1210 entstandenen mittelhochdeutschen Parzival-Roman14 Wolframs von Eschenbach bezeugt:15 In einer Szene des achten Buchs kämpft Antikonîe, Schwester des Königs Vergulaht von Ascalûn, an der Seite des Artusritters Gâwân gegen die Bewohner der Burg Schanpfanzûn, welche die erotische Annäherung zwischen ihr und ihrem Gast als Vergewaltigung interpretiert und sich zum Angriff auf Gâwân gesammelt haben. Das Paar flieht vor der andrängenden Stadtwehr in einen Turm, und während sich Gâwân in Ermangelung geeigneter Waffen mit einem Türriegel und einem großen Schachbrett verteidigt  – sein Schwert hatte er zuvor gemäß der Gastsitte abgelegt  –, wirft die ihm beistehende Königin große schwere Schachfiguren aus Stein auf die Feinde, und zwar mit solcher Wucht, dass unversehens zu Boden stürzt, wer getroffen ist: ez wære künec oder roch, daz warf si gein den vînden doch: ez was grôz und swære. man sagt von ir diu mære, swen dâ erreichte ir wurfes swanc, der strûchte âne sînen danc. (Pz.  408,29–409,4)

Mehrere Textsignale markieren das Handeln der Königin als höchst außergewöhnliches Ereignis. Das Adverb doch verdeutlicht das bemer12  Vgl.

Meisen, »Namen und Ursprung«, 16. z. B. ibid., 10; Domenig, »Fasching – Fastnacht – Karneval«, 33. 14  Wolfram von Eschenbach, Parzival, nach der Ausg. Karl Lachmanns rev. und komm. Eberhard Nellmann, übertr. Dieter Kühn, 2 Bde. (Deutscher Klassikerverlag im Taschenbuch 7), 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2013 (im Folgenden ›Pz.‹). 15  Vgl. Meisen, »Namen und Ursprung«, 16; Hans Moser, »Städtische Fastnacht des Mittelalters«, Volksleben 18 (1967), 135–202, hier 147 f.; Hellmut Rosenfeld, »Fastnacht und Karneval. Name, Geschichte und Wirklichkeit«, Archiv für Kirchengeschichte 51 (1969), 175–181, hier 175; Domenig, »Fasching  – Fastnacht  – Karneval«, 33; Bernd Schirok, »Wolfram und seine Werke im Mittelalter«, in: Joachim Heinzle (Hg.), Wolfram von Eschenbach. Ein Handbuch, 2 Bde., Berlin 2011, Bd. 1, 1–81, hier 6; Eberhard Nellmann, »Kommentar«, in: Wolfram von Eschenbach, Parzival, Bd. 2, 413–430, 443–790, hier 648. 13  Vgl.

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kenswerte physiologische Vermögen Antikonîes, die Schachsteine trotz ihrer Größe und ihres Gewichts den Feinden entgegenzuschleudern,16 zudem mit der Technik einer ritterlichen Turnierdisziplin (wurfes swanc). Nicht nur das: in Antikonîes Hand sind die Steine Geschosse, welche die Feinde unweigerlich zu Fall bringen. Der Erzähler hält es für nötig, diese frappierende, noch einmal gesteigerte Zweckentfremdung gleichsam metasprachlich anzukündigen und tritt mit dem Einschub man sagt von ir diu mære in Distanz zu der Figur. Umso mehr sieht er sich veranlasst, Antikonîes Kampfeseifer zu kommentieren: Er vergleicht die wehrhafte, wie ein wahrer Ritter fechtende Königin mit den Kauffrauen von Dollnstein, die zu Fastnacht nie besser gekämpft hätten, nur dass sie es aus scherzhafter Ausgelassenheit (von gampelsiten) täten und sich freiwillig, d. h. ohne dringlichen Grund (ân nôt), abmühten: diu küneginne rîche streit dâ ritterlîche, bî Gâwân si werlîche schein, daz diu koufwîp ze Tolenstein an der vasnaht nie baz gestriten: wan si tuontz von gampelsiten unde müent ân nôt ir lîp. (Pz.  409,5–11)

Gleich mehrere Forschungsdisziplinen haben diese Parzival-Stelle diskutiert. Sie wird erstens bemüht im Kontext wortgeschichtlicher Überlegungen zur bis heute nicht abschließend geklärten Etymologie von vasnaht (ohne -t-) und vastnaht (mit -t-).17 Einen auf bairischen Urkunden fußenden Rekonstruktionsversuch hat Peter Wiesinger in der bislang einzigen Corpusuntersuchung unternommen:18 Während die Form ohne -t- zu den 16  Vgl.

aber Anm. 206. Überblick über die verschiedenen etymologischen Ansätze, die teils ideologischen Vorstellungen zu entsprechen suchen, geben D.-R. Moser, Fastnacht – Fasching  – Karneval, 11–17; Domenig, »Fasching  – Fastnacht  – Karneval«, 33–36. Vgl. im Einzelnen die bei Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearb. Elmar Seebold, 25., durchges. und erweit. Aufl., Berlin / Boston 2011, 279 f., genannte Lit. 18  Peter Wiesinger, »Fasching und Fasnacht. Ein Beitrag zur historischen Wortgeographie des Bairischen und zur Etymologie«, in: Albrecht Greule, Uwe Ruberg (Hgg.), Sprache – Literatur – Kultur. Studien zu ihrer Geschichte im deutschen Süden und Westen, Wolfgang Kleiber zu seinem 60. Geburtstag gewidmet, Stuttgart 1989, 71–109. Vgl. auch die Auswertung einiger Vokabularien aus bayerischen Klöstern bei Hans Moser, »Die alten Bezeichnungen der Fasnacht im altbayerischen Raum«, Oberdeutsche Zeitschrift für Volkskunde 16 (1942), 147–165, hier 147 f., sowie die Zusammenstellung bei Albert Hiß, »Fasnacht oder Fastnacht? Eine germanistischvolkskundliche Studie zur Wortgeschichte«, Württembergisches Jahrbuch für Volkskunde [6] 1965 / 1969, 123–193, hier 126–158. 17  Einen

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zahlreich belegten, »regulären urkundlichen Schreibungen vasenaht, vas­ naht«19 gehöre und die germanische Wurzel *fes- / fas- ›fruchtbar‹ enthalte,20 sei die Form mit -t-, für die Wiesinger bis 1499 lediglich zwei Belege beibringen kann,21 mit der Fastenzeit »in Zusammenhang gebracht und damit auch volksetymologisch neumotiviert«22. Wiesinger greift damit die umstrittene These auf, dass eine germanische Wortbildung vorliege, die »auf die Zeit der Abhaltung von Kulten zur Förderung von Wachstum und Fruchtbarkeit«23 zu beziehen sei.24 Allerdings berücksichtigt man für den Kronzeugenbeleg, zu dem die Parzival-Stelle in dieser Frage gleichsam avanciert ist,25 gemeinhin diejenige Wortform, die Karl Lachmanns auf der Überlieferungsklasse *D basierende Edition26 bereitstellt, nämlich die Wortform vasnaht, ohne -t19  Wiesinger,

»Fasching und Fasnacht«, 89. ibid., 91. 21  Brixen 1296: uastnaht (vgl. ibid., 101); Mühlbach bei Brixen 1332: vastnacht (vgl. ibid., 103). Vgl. dazu auch ibid., 91. 22  Ibid. Vgl. auch Eugen Fehrle, »Deutsche Fasnacht am Oberrhein«, Obderdeutsche Zeitschrift für Volkskunde 12 (1938), 1–40, hier 32, und ähnlich Hiß, »Fasnacht oder Fastnacht?«, 162. Die gegenteilige Meinung setzt, ausgehend von dem inhaltlichen und zeitlichen Zusammenhang mit der Fastenzeit, eine ursprüngliche Form mit -t- an, das aus Gründen der Ausspracheerleichterung (Tilgung der Drittkonsonanz) ausgefallen sei, vgl. z. B. Rosenfeld, »Fastnacht und Karneval«, 176; kritisch wiederum Fehrle, »Deutsche Fasnacht am Oberrhein«, 35 f.; Wiesinger, »Fasching und Fasnacht«, 90 f. 23  Ibid., 92. 24  Zu dieser These vgl. kritisch Herborn, Die Geschichte der Kölner Fastnacht, 12 f. 25  Vgl. z. B. Adolf Spamer, Deutsche Fastnachtsbräuche, Jena 1936, 21; Fehrle, »Deutsche Fasnacht am Oberrhein«, 36; Anton Dörrer, Tiroler Fasnacht innerhalb der alpenländischen Winter- und Vorfrühlingsbräuche (Österreichische Volkskultur  5), Wien 1949, 15; Hiß, »Fasnacht oder Fastnacht?«, 160; Wiesinger, »Fasching und Fasnacht«, 74; Domenig, »Fasching – Fastnacht – Karneval«, 33. Die Bedeutung des Parzival-Belegs für die Frage der Schreibung stellt D.-R. Moser, Fastnacht – Fasching – Karneval, 13, heraus. 26  Lachmanns Editionsgrundlage beschreibt knapp Nellmann, »Kommentar«, 427. Zu Lachmanns »ausgesprochen folgenreiche[r] Fixierung der textgeschichtlichen Pole *D und *G« unter Ausschluss der Gruppe *T s. Robert Schöller, Die Fassung *T des Parzival Wolframs von Eschenbach. Untersuchungen zur Überlieferung und zum Textprofil (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 56 = 290), Berlin 2009, 31–42 (Zitat 31). Zur Gruppe *mno bzw. *m s. Gabriel Viehhauser-Mery, Die Parzival-Überlieferung am Ausgang des Manuskriptzeitalters. Handschriften der Lauberwerkstatt und der Straßburger Druck (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 55 = 289), Berlin / New York 2009. Die jeweiligen Gruppenverhältnisse sind den beiden letztgenannten Arbeiten zu entnehmen. 20  Vgl.



Zur Dollnsteiner Fastnacht im Parzival61

(Pz.  409,9).27 Bezieht man aber auch die weitere Parzival-Überlieferung ein,28 zeigt sich, dass bereits die ältesten Handschriften des 13.  Jhs. beide Wortformen für den Erstbeleg bezeugen (vgl. Tab.),29 und zwar relativ klar geschieden nach ostalemannisch-bairischer Herkunft einerseits (ohne -t-) und alemannischer oder mitteldeutscher Herkunft andererseits (mit -t-). Ohne mit dieser Beobachtung die etymologische Diskussion um das Wort vas(t)naht neu aufzurollen, sei dazu angeregt, in dieser Frage die mundartliche oder schreibsprachliche Dimension stärker einzubeziehen.30 Vorerst gibt der Überlieferungsbefund des Parzival zumindest Anlass zur Überprüfung der Annahme, dass die Form mit -t- sekundär motiviert sei.

27  Dass der Umstand der in der Edition kaum gesicherten Schreibung nicht beachtet wird, hat bereits Rosenfeld, »Fastnacht und Karneval«, 175, Anm. 3, benannt. 28  Mit 88 bekannten Überlieferungsträgern handelt es sich beim Parzival um einen der am besten bezeugten Texte der mittelhochdeutschen Epik. Die Überlieferung setzt in der 1.  Hälfte des 13.  Jhs. ein und reicht bis in das dritte Viertel des 15. Jhs. (16 im Großen und Ganzen vollständige Handschriften, 71 Fragmente, ein Druck 1477). Der deutlich überwiegende Anteil ist im oberdeutschen Raum verbreitet, ca. ein Viertel im mitteldeutschen, vier Fragmente im niederdeutschen. Zur Parzival-Überlieferung insgesamt s. Bernd Schirok, »Überlieferung«, in: Heinzle (Hg.), Wolfram von Eschenbach, Bd. 1, 308–365. 29  Zu Hs. T s. in dieser Frage bereits Schöller, Die Fassung *T, 353. 30  So wird vielleicht auch die auf Basis der Datenbank des Tübinger / Trierer Editionsprojekts ›Vorreformatorische Nürnberger Fastnachtspiele‹ angestellte Beobachtung, dass in den ca. 110 Spielen ausschließlich (!) die Wortform ohne -t- vorkommt (in der Schreibung vas- / vaß- und fas- / faß-, einmal vase-, auch vaßnnacht; ähnlich das Tiroler Spielcorpus, vgl. Dörrer, Tiroler Fasnacht, 399, Anm. 3), weniger auf eine ›reguläre Schreibung‹ zurückzuführen sein als vielmehr darauf, dass es sich bei der handschriftlichen Überlieferung um Textzeugen überwiegend mit nordbairisch-ostfränkischer (vor allem nürnbergischer) und teils (ost-)schwäbischer Schreibsprache handelt. Auch die Drucke stammen mit einer Ausnahme aus Nürnberger Offizinen. Zur Überlieferung s. Gerd Simon, Die erste deutsche Fastnachtsspieltradition. Zur Überlieferung, Textkritik und Chronologie der Nürnberger Fastnachtsspiele des 15. Jahrhunderts (mit kurzen Einführungen in die Verfahren der quantitativen Linguistik) (Germanistische Studien 240), Lübeck / Hamburg 1970, 11–23; Thomas Habel, »Vom Zeugniswert der Überlieferungsträger. Bemerkungen zum frühen Nürnberger Fastnachtspiel«, in: Stephan Füssel, Gert Hübner, Joachim Knape (Hgg.), Artibus. Kulturwissenschaft und deutsche Philologie des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Festschrift für Dieter Wuttke zum 65. Geburtstag, Wiesbaden 1994, 103– 134. Zu dem an Fastnacht aufgeführten literarisch-theatralischen Schauspiel s. etwa Klaus Ridder (Hg.), Fastnachtspiele. Weltliches Schauspiel in literarischen und kulturellen Kontexten, Tübingen 2009; von Lüpke, Nürnberger Fastnachtspiel.

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Rebekka Nöcker Überlieferung zu Pz.  409,9 im 13.  Jh.31

ohne -t- (vasnaht)

mit -t- (vastnaht)

D

(um 1260)

G

(M.)

I

(2.  V.)

O

(4.  V.)

T

(4.  V.)

Fr22

(M. oder 3.  V. [?])

ostalemannisch-bairisch oder bairisch

alemannisch oder mitteldeutsch

Zweitens 31ist aus literaturwissenschaftlicher Sicht mit Blick auf die Frage nach Wolframs Gönnern eine Verbindung zum Grafengeschlecht von Dollnstein erwogen worden, einem Ort bei Eichstätt im oberbayerischen Altmühltal32 ca.  40 km von (Ober-)Eschenbach entfernt, jenem Ort, der 31  Die Datierung und Lokalisierung der Textzeugen sowie die Siglenvergabe folgen dem Verzeichnis von Klaus Klein, »Beschreibendes Verzeichnis der Handschriften (Wolfram und Wolfram-Fortsetzer)«, in: Heinzle (Hg.), Wolfram von Eschenbach, Bd. 2, 941–1002, hier 943–959, sowie dem Verzeichnis des Berner ParzivalEditionsprojekts (http: /  / www.parzival.unibe.ch / hsverz.html; Zugriff: 20.03.2018) und jeweils ibid. den Verweisen auf den Handschriftencensus (http: /  / www.hand schriftencensus.de; Zugriff: 20.03.2018). In der späteren relevanten Überlieferung, die sich auf den alemannisch-mitteldeutschen Raum (v. a. elsässisch und rheinfränkisch; Ausnahme: Z ostfränkisch) konzentriert, verteilen sich die beiden Wortformen wie folgt: 14. Jh.: ohne -t- U, V, Z; mit -t- kein Beleg; 15. Jh.: ohne -t- L, n, R, W (Inkunabel); mit -t- M, m, o; in Q (15.  Jh.) fehlen die Verse Pz.  370,13–410,12. Insgesamt zur zeitlichen und schreibsprachlichen Distribution der Parzival-Zeugen s. Schirok, »Überlieferung«, 315–317, 327–330. – Für die freundliche Nennung der Überlieferungszeugen danke ich Agata Mazurek (Berner Parzival-Projekt), ebenso für die Auskunft zur Schreibung des schwer lesbaren Fragments Fr22 (Bl.  4v) auf Basis von Handschriftenautopsie und Ultraviolettaufnahme. Die Schreibung der übrigen Belege lässt sich anhand von Digitalisaten (über den Handschriftencensus) verifizieren. 32  1007 erstmals urkundlich erwähnt, wurde das an einem Altmühlübergang gelegene Dollnstein im 12.  Jh. als Lehen des Bischofs von Eichstätt den Grafen von Grögling-Dollnstein übergeben, die nach 1139 in Dollnstein saßen und sich um 1200 nach ihrem neuen Hauptsitz Grafen von Hirschberg nannten. Die militärische und administrative Verwaltung oblag einem zuerst 1139 bezeugten Ministerialengeschlecht, den Herren von Dollnstein. 1387 erhielt Dollnstein das Marktrecht, wiewohl es bereits zuvor marktähnlichen Handel gegeben haben dürfte (dazu s. Anm. 107). Vgl. Klaus Kreitmeir, »Die Geschichte des Marktes Dollnstein bis zur Säkularisation«, in: Markt Dollnstein (Hg.), Dollnstein. 600 Jahre Markt. Natur, Kultur, Geschichte, Gegenwart, Kipfenberg 1987, 58–73, 90, bes. 58 f., 61; Helmut Rischert, »Burg, Herrschaft und Amt Dollnstein«, in: Markt Dollnstein (Hg.), Dollnstein, 103–132, hier 111 f.; Leo Hintermayr, Art. »Dollnstein«, in: Hans-Michael Körner, Alois Schmid (Hgg.), Handbuch der historischen Stätten. Bayern  I.



Zur Dollnsteiner Fastnacht im Parzival63

für Wolframs Herkunft geltend gemacht wird.33 Vor allem aber wird der Erzählerkommentar zur Dollnsteiner Fastnacht im Zusammenhang mit einem der zentralen Interpretationsprobleme des achten Buchs, der Bewertung der Antikonîe-Figur, gesehen.34 In dieser Frage sind zwei weitere Altbayern und Schwaben, unter Mitarb. v. Martin Ott (Kröners Taschenaus­ gabe  324) [4., vollst. neu geschr. Aufl.], Stuttgart 2006, 170–172. Nicht weiterführend ist Bernhard Eder (Hg.), 1000 Jahre Dollnstein. 1007–2007, Kipfenberg / Dollnstein 2007. 33  Vgl. Hugo Steger, »Wolfram von Eschenbach. 1170 / 75 bis um 1220«, in: Wolfgang Buhl (Hg.), Fränkische Klassiker. Eine Literaturgeschichte in Einzeldarstellungen mit 255 Abbildungen, Nürnberg 1971, 24–50, hier 46, 48, 50; ferner Bernd Schirok, Parzivalrezeption im Mittelalter, Darmstadt 1982, 15; Nellmann, »Kommentar«, 648; Joachim Bumke, Wolfram von Eschenbach (Sammlung Metzler  36), 7. u. 8., völlig neu bearb. Aufll., Stuttgart / Weimar 1997 bzw. 2004, hier 8. Aufl., 17 f.; Schirok, »Wolfram und seine Werke«, 6. 34  In diesem Problem kulminieren die wichtigsten Deutungsaspekte des achten Buchs: neben den verwandtschaftlichen Beziehungen vor allem die Liebesbegegnung zwischen Gâwân und Antikonîe und der politische Konflikt. Vgl. die Analysen (teils mit Forschungsüberblicken) von Karl Kinzel, »Beiträge zur Erklärung und Beurteilung des Parzival«, Zeitschrift für deutsches Alterthum und deutsche Literatur 18 (1886), 353–365, hier 357–365; Wolfgang Mohr, »Landgraf Kingrimursel. Zum VIII.  Buch von Wolframs Parzival«, in: Werner Kohlschmidt, Paul Zinsli (Hgg.), Philologia deutsch. Festschrift zum 70. Geburtstag von Walter Henzen, Bern 1965, 21–38; James F. Poag, »Wolfram von Eschenbach’s Antikonie«, The Germanic Review 41 (1966), 83–88; Lutz Huth, Dichterische Wahrheit als Thematisierung der Sprache in poetischer Kommunikation. Untersucht an der Funktion des Höfischen in Wolframs Parzival (Hamburger philologische Studien  28), Hamburg 1972, 93–111; Henry Kratz, Wolfram von Eschenbach’s Parzival. An Attempt at a Total Evaluation (Bibliotheca Germanica  15), Bern 1973, 326–334; Rüdiger Schnell, »Vogeljagd und Liebe im VIII. Buch von Wolframs Parzival«, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (Tübingen) 96 (1974), 246–269; Siegfried Richard Christoph, Wolfram von Eschenbach’s Couples (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur 44), Amsterdam 1981, 117–125; Heinz Rupp, »Die Bedeutung der GawanBücher im Parzival Wolframs von Eschenbach«, London German Studies 2 (1983), 1–17, bes. 5 f.; Petrus W. Tax, »Die Liebe zwischen Gawan und Antikonie im 8. Buch von Wolframs Parzival. Politische und dynastische Hintergründe«, in: Klaus Matzel, Hans-Gert Roloff (Hgg.), Festschrift für Herbert Kolb zu seinem 65. Geburtstag, unter Mitarb. v. Barbara Haupt u. Hilkert Weddige, Bern u. a. 1989, 702–712; Herta Zutt, »Gawan und die Geschwister Antikonie und Vergulaht«, in: Rüdiger Schnell (Hg.), Gotes und der werlde hulde. Literatur in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Heinz Rupp zum 70. Geburtstag, Bern / Stuttgart 1989, 97–117; Ulrike Draesner, Wege durch erzählte Welten. Intertextuelle Verweise als Mittel der Bedeutungskonstitution in Wolframs Parzival« (Mikrokosmos  36), Frankfurt  a. M. u. a. 1993, 311– 335; Manfred Eikelmann, »Schanpfanzun. Zur Entstehung einer offenen Erzählwelt im Parzival Wolframs von Eschenbach«, Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 125 (1996), 245–263; John M. Clifton-Everest, »Wolfram und Statius. Zum Namen ›Antikonie‹ und zum VIII.  Buch von [sic!] Parzival«, Zeitschrift für deutsche Philologie 116 (1997), 321–351; Christoph Steppich, »Zu Wolframs Ver-

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Rebekka Nöcker

ungewöhnliche Vergleiche relevant, die im unmittelbaren Kontext des Fastnachtsvergleichs stehen und ebenso wie dieser keine Entsprechung in  der Vorlage, dem Conte du Graal Chrétiens de Troyes,35 haben:36 Um  nämlich zu illustrieren, dass Antikonîes außerordentliche Schönheit Gâwâns Kampfesmut steigert, sobald er in Kampfpausen sie zu betrachten Gelegenheit hat, vergleicht der Erzähler ihre schlanke Gestalt mit einem Hasen am Spieß und mit der Taille einer Ameise37:

gleich der Antikonie mit der Markgräfin auf Burg Haidstein (Pz. 403,21–404,10)«, Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 53 (2000), 187–230; Sonja Emmerling, Geschlechterbeziehungen in den Gawan-Büchern des Parzival. Wolframs Arbeit an einem literarischen Modell (Hermaea N.F.  100), Tübingen 2003, 33–56; Robert Scheuble, Mannes manheit, vrouwen meister. Männliche Sozialisation und Formen der Gewalt gegen Frauen im Nibelungenlied und in Wolframs von Eschenbach Parzival (Kultur, Wissenschaft, Literatur. Beiträge zur Mittelalterforschung  6), Frankfurt  a. M. u. a. 2005, 173–184; Hans-Joachim Ziegeler, »der herzoge Liddamus. Bemerkungen zum 8. Buch von Wolframs Parzival«, in: Christiane Ackermann, Ulrich Barton (Hgg.), »Texte zum Sprechen bringen«. Philologie und Interpretation. Festschrift für Paul Sappler, unter Mitarb. v. Anne Auditor u. Susanne Borgards, Tübingen 2009, 107–117; Hans Jürgen Scheuer, »Schach auf Schanpfanzûn. Das Spiel als Exempel im VIII.  Buch des Parzival Wolframs von Eschenbach«, Zeitschrift für deutsche Philologie 134 (2015), 29–45. 35  Chrétien de Troyes, Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal. Der Percevalroman oder Die Erzählung vom Graal. Altfranzösisch / Deutsch, übers. u. hg. Felicitas Olef-Krafft (Universal-Bibliothek 8649), Stuttgart 1991 (im Folgenden ›CdG.‹), v. 5656–6213. 36  Zu Wolframs systematisch-produktivem Umgang mit der altfranzösischen Vorlage des achten Buchs s. etwa Mohr, »Landgraf Kingrimursel«, passim; Zutt, »Gawan und die Geschwister«, 99 f.; Emmerling, Geschlechterbeziehungen, 34–50; Ziegeler, »der herzoge Liddamus«, 108–110; ferner bes. Scheuer, »Schach auf Schanpfanzûn«, 35–38, mit den sich aus Wolframs spezifischen Änderungen ergebenden offenen Fragen. 37  Nellmann, »Kommentar«, 684, verweist auf die Beschreibung der Graljungfrauen: si wâren gefischieret vil / mit zwein gürteln an der krenke (›Taille‹), / ob der hüffe ame gelenke (›Taille‹) (Pz. 232,28–30) und von Tenabroc, ist mir gesagt, / ­stuont dâ Clârischanze ein süeziu magt, / liehter var gar unverkrenket, / als ein âmeize ­gelenket (Pz.  806,23–26). Vgl. außerdem die Gestalt der Mädchen, die Gâwân und Kingrimursel bei Antikonîe bedienen: […] juncfrowen dâ mitten kranc (›schlank‹) (Pz.  423,18).  – Von einem individuellen Textverständnis, das wohl die geschickte Beweglichkeit der Königin im Sinn hat, zeugt eine Randnotiz des späten 15. Jhs. im Dresdener Exemplar der Inkunabel W ([Johann Mentelin : Straßburg] 1477; GW  M51783; Ex.: Dresden, SLUB, Ink. 1542.2): Die Verse Pz.  410,2–4 sind kommentierend erläutert mit wie gelenck die kongin was (Bl. 80r, o. R.; Verweiszeichen nach Pz.  410,4). Zur Datierung dieser Benutzerhand und zum »Programm« ihrer Einträge s. Viehhauser-Mery, Die Parzival-Überlieferung, 467–477, zum vorliegenden Eintrag 475. Die Turmszene hat gleich mehrere Benutzer zu insgesamt drei Einträgen (auf einer Druckseite) veranlasst, vgl. Anm. 201, 212.



Zur Dollnsteiner Fastnacht im Parzival65 waz Gâwân dô tæte? swenne im diu muoze geschach, daz er die maget reht ersach, ir munt, ir ougen, unde ir nasen  – baz geschict an spizze hasen, ich wæne den gesâht ir nie, dan si was dort und hie, zwischen der hüffe unde ir brust. minne gerende gelust kunde ir lîp vil wol gereizen. irn gesâht nie âmeizen, diu bezzers gelenkes pflac, dan sie was dâ der gürtel lac. daz gap ir gesellen Gâwâne manlîch ellen. (Pz.  409,22–410,6)

Der Forschung bereitet es Schwierigkeiten, die drei Vergleiche  – hinzu tritt noch der »vielumrätselte« Vergleich mit der strahlenden Markgräfin von Haidstein38  – in das als merkwürdig empfundene Spannungsfeld einzuordnen, das sich einerseits aus Antikonîes vermeintlich fragwürdigem Handeln gegen die hovezuht (erotische Freizügigkeit, Teilnahme am Kampf)39 und andererseits aus den ausnahmslos positiven Epitheta ergebe, mit denen Antikonîe in der Erzählerrede auffällig oft belegt ist: z. B. hat ir kiusche prîs erworben (404,27), sie ist ein maget reine (408,19) und vor allem ist sie vor valscheit diu vrîe (413,2).40 Dieser (für das achte Buch

38  Pz.  403,24–404,8. Der Sinn dieses Vergleichs ist bislang offengeblieben, vgl. Nellmann, »Kommentar«, 645 (Zitat ibid.). Zur möglichen Identifizierung der Markgräfin von Haidstein mit einer historischen Person (einer Markgräfin von Vohburg) und einer damit verbundenen ironischen Zeichnung der Antikonîe-Figur s.  Fritz Peter Knapp, »Baiern und die Steiermark in Wolframs Parzival«, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur (Tübingen) 110 (1988), 6–28, hier 6–16. Vgl. ferner Steppich, »Zu Wolframs Vergleich«, 204, 224, der dagegen in Gâwân das eigentliche Objekt der Ironie sieht. 39  Vgl. etwa Wolfgang Mohr, »Parzival und Gawan«, Euphorion 52 (1958), 1–22, hier 8; Poag, »Wolfram von Eschenbach’s Antikonie«, 83; Schnell, »Vogeljagd und Liebe«, 251 f.; Tax, »Die Liebe zwischen Gawan und Antikonie«, 706 f.; Scheuble, Mannes manheit, vrouwen meister, 183 f.; Bumke, Wolfram von Eschenbach, 8. Aufl., 84; Stefan Seeber, Poetik des Lachens. Untersuchungen zum mittelhochdeutschen Roman um 1200 (Münchener Texte und Untersuchungen 140), Berlin / New York 2010, 201; Elke Brüggen, Joachim Bumke, »Figuren-Lexikon«, in: Heinzle (Hg.), Wolfram von Eschenbach, Bd. 2, 835–938, hier 851. 40  Vgl. die Zusammenstellung der Epitheta bei Mohr, »Parzival und Gawan«, 17 f.; ders., »Landgraf Kingrimursel«, 26–28; Zutt, »Gawan und die Geschwister«, 108 f.; Steppich, »Zu Wolframs Vergleich«, 203; Emmerling, Geschlechterbeziehungen, 43 f.

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signifikante) Widerspruch in der Figurenzeichnung41 gilt als eines der Musterbeispiele für Wolframs spezifischen Erzählstil des sog. parrierens, der auf dem poetologischen Prinzip beruht, gerade inkommensurable Sinnkonstellationen zusammenzubringen.42 Teil des Prinzips ist u. a. eine Bildsprache, die nicht zusammenpassende Bildbereiche zusammenstellt,43 und dazu zählt neben dem Hasen- und Ameisenvergleich insbesondere der Vergleich der kämpfenden Antikonîe mit den Kauffrauen von Dollnstein. Die Vergleiche gelten gemeinhin als Ausweis einer Poetik der Ironie oder werden in das kulturhistorische Paradigma der Komik eingeordnet  – die ältere Forschung hat darin Wolframs Humor gesehen.44 Es ist allerdings umstritten, ob es sich bei der Figurenzeichnung Antikonîes um die hyperbolisch-groteske Bildsprache einer ironischen Erzählhaltung handelt45 oder

41  Die auf Antikonîe bezogenen Vergleiche stehen in einer Reihe mit weiteren »ironischen, sarkastischen, aber immer auch wieder verständnisinnig offenen Vergleichen«, die einen spezifischen Charakterisierungstypus für gleich mehrere Figuren des achten Buchs bilden. Vgl. Ziegeler, »der herzoge Liddamus«, 111. 42  Allgemein zu Wolframs Poetik des parrierens s. Joachim Bumke, Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im Parzival Wolframs von Eschenbach (Hermaea N.F.  94), Tübingen 2001, 145 f.; ders., Wolfram von Eschenbach, 8. Aufl., 210 (Bildsprache und Figurenzeichnung); Elisabeth Schmid, »Der mære wildenære. Oder die Angst des Dichters vor der Vorlage«, Wolfram-Studien 7 (2002), 95–113, hier 111 f. (Aspekt der wilde); umfassend Beatrice Trînca, Parrieren und undersnîden. Wolframs Poetik des Heterogenen (Frankfurter Beiträge zur Germanistik  46), Heidelberg 2008 (bes. Polyphonie); ergänzend Larissa Schuler-Lang, Wildes Erzählen – Erzählen vom Wilden. Parzival, Busant und Wolfdietrich D (Literatur – Theorie – Geschichte 7), Berlin 2014, 110 f. (Stoffbearbeitung). 43  Vgl. Bumke, Blutstropfen im Schnee, 146; ders., Wolfram von Eschenbach, 8. Aufl., 210, 223; Schmid, »Der mære wildenære«, 111 f. 44  Zu den drei Forschungsansätzen s. mit weiterer Lit. Seeber, Poetik des Lachens, 131–141. Vgl. auch Heiko Hartmann, »Darstellungsmittel und Darstellungsformen in den erzählenden Werken«, in: Heinzle (Hg.), Wolfram von Eschenbach, Bd. 1, 146–220, hier 206–209. – Seeber sieht die Antikonîe-Figur von einem ironischen Erzählerstandpunkt geschildert, der dadurch, dass er dem rhetorischen Prinzip »ge­ spielte[r] Ernsthaftigkeit« (dissimulatio) folgt, eine positive Bewertung der Figur (wie jener Gâwâns) trotz devianten Agierens gestattet (201 f.). Denn »der Rezipient kann die Epitheta, die den Helden beigegeben werden, als Ironie decodieren, die Wertung durch den Erzähler jedoch ist unironisch positiv gehalten zugunsten genau der Figuren, die zugleich durch die Darstellung ihres Handelns ironisiert werden« (209). 45  Vgl. z. B. Mohr, »Landgraf Kingrimursel«, 27 (»groteske[r] Exkurs«); Poag, »Wolfram von Eschenbach’s Antikonie«, 88 (»ironic vein«); Huth, Dichterische Wahrheit, 102 (»ironische Durchführung«), 105, 110 (»die Ironie des Erzählers sowie das Groteske der Situationen«); Nellmann, »Kommentar«, 649 f. (führt die »grotesken Vergleiche« auf Wolframs »grotesken Humor« zurück); Bumke, Wolfram von



Zur Dollnsteiner Fastnacht im Parzival67

ob ein ernstgemeinter Tugend- und Schönheitspreis vorliegt46. Entsprechend wird Antikonîe teils als zwielichtige, teils als ideale, normenkonform agierende Frauenfigur interpretiert.47 Je nach Blickwinkel fällt auch die ­Interpretation des Fastnachtsvergleichs aus. Er erscheint einerseits als Mittel, der Verteidigungsszene im Burgturm einen komischen Anstrich zu verleihen und die Zwielichtigkeit Antikonîes zu unterstreichen oder sie zumindest der Lächerlichkeit preiszugeben.48 Dabei reichen die Deutungen von der Verachtung, mit der die ritterliche Gesellschaft auf Kauffrauen

Eschenbach, 8. Aufl., 84 (»erzählerische Ironie«); Seeber, Poetik des Lachens, 201 (»Ironie des Erzählerstandpunktes«), 209 (»ironisiert[e]« Figur). 46  Vgl. z. B. Zutt, »Gawan und die Geschwister«, 110. 47  Negative oder ambivalente Interpretation: z. B. Kinzel, »Beiträge zur Erklärung«, 362; Mohr, »Landgraf Kingrimursel«, 27; Poag, »Wolfram von Eschenbach’s Antikonie«; Michael Curschmann, »Das Abenteuer des Erzählens. Über den Erzähler in Wolframs Parzival«, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 45 (1971), 627–667, hier 664; Huth, Dichterische Wahrheit, 102– 104; Marion E. Gibbs, Wîplîchez wîbes reht. A Study of the Women Characters in the Works of Wolfram von Eschenbach (Duquesne Studies: Philological Series 15), [Pittsburgh, PA] 1972, 186 f., 191 (positiv: 189); Schnell, »Vogeljagd und Liebe«, 251 f., 261–266; Knapp, »Baiern und die Steiermark«, 7; Scheuble, Mannes manheit, vrouwen meister, 184; Bumke, Wolfram von Eschenbach, 8. Aufl., 84. – Positive Interpretation: z. B. Kurt Boestfleisch, Studien zum Minnegedanken bei Wolfram von Eschenbach (Königsberger Deutsche Forschungen  8), Königsberg i. Pr. 1930, 61; Kratz, Wolfram von Eschenbach’s Parzival, 334; Kurt Ruh, Höfische Epik des deutschen Mittelalters, 2 Bde. (Grundlagen der Germanistik 7 u. 25), Bd. 1: 2., verb. Aufl., Berlin 1977, Bd. 2: Berlin 1980, hier Bd. 2, 118; Christoph, Wolfram von Eschenbach’s Couples, 120 f., 123; Tax, »Die Liebe zwischen Gawan und Antikonie«, 710; Rupp, »Die Bedeutung der Gawan-Bücher«, 5; Zutt, »Gawan und die Geschwister«, 108– 112, bes. 112; John M. Clifton-Everest, »Knights-Servitor and Rapist Knights. A Contribution to the Parzival / Gawan Question«, Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 119 (1990), 290–317, hier 300; Michael Dallapiazza, »Plippalinots Tochter«, Prospero. Rivista di Letterature Straniere, Comparatistica e Studi Culturali 3 (1996), 85–95, hier 93 f.; Clifton-Everest, »Wolfram und Statius«, 325 f., 338 f.; Steppich, »Zu Wolframs Vergleich«, 206–217, bes. 216 f. (geht statt von Freizügigkeit vom Motiv »sex hospitality« aus); Emmerling, Geschlechterbeziehungen, 46 f. 48  Vgl. Kinzel, »Beiträge zur Erklärung«, 362 (»nicht gerade sehr ehrenvoll«); Poag, »Wolfram von Eschenbach’s Antikonie«, 88 (»mock-heroic«); Gibbs, Wîp­ lîchez wîbes reht, 188 (»[…] the comparison with the merchant-women hardly suggests dignity«); Huth, Dichterische Wahrheit, 105 (»Der Vergleich […] betont die Komik der Szene und stellt den Kampf mit einer Karnevalsbelustigung auf eine Stufe«); Martin Jones, »The Significance of the Gawan Story in Parzival«, in: Will Hasty (Hg.), A Companion to Wolfram’s Parzival (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture), 1.  publ., Columbia, SC 1999, 37–76, hier 48 (»comic dimensions«); Bumke, Wolfram von Eschenbach, 8. Aufl., 84 (»[…] der Vergleich mit den Marktfrauen zu Dollnstein, die zu Fastnacht komische Kämpfe aufführen, unterstreich[t] die Zwielichtigkeit der Königin«).

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herabsehe,49 über eine »Karnevalsbelustigung«, mit welcher der Kampf auf eine Stufe gestellt sei,50 bis zum »frauenfeindlichen Scherz[  ]«51. Andererseits bilde der Fastnachtsvergleich einen Kontrast, der »die Gefährlichkeit der Situation«52 und die »unbändige Schlagkraft«53 Antikonîes betonen oder gegenüber dem vermeintlich »mutwillig[en]« Agieren der Marktfrauen den »noblen Zweck« von Antikonîes Wurfgeschossen verdeutlichen54 soll. Mit dem Vergleich verteidige der Erzähler Antikonîe »gegen den Vorwurf unweiblichen Verhaltens«55. Insbesondere diene der Bezug auf die Fastnacht als eine kurze Zeit der Auflösung traditioneller Geschlechtergrenzen dazu, den Rollentausch für schicklich zu erklären, den Antikonîe eingehe, indem sie die Verteidigung übernimmt.56 Schließlich bringe die Anspielung auf die Dollnsteiner Kauffrauen zusammen mit der Unterbrechung des erotischen Beisammenseins durch die anrückende Bürgerwehr »das Fastnachtliche der Szene« vom Liebesspiel ausdrücklich zum Vorschein.57 Erreicht werde damit eine »Lizenz schwankhaften Erzählens«, welche die Transgression, die Gâwâns sexueller Kontrollverlust bedeute, abmildere.58 Die Turmepisode sei nicht nur Folge und Zeichen von Gâwâns »Liebeshunger«, sondern »unter dem Aspekt der verkehrten Welt« zu lesen.59 Drittens gilt die Parzival-Stelle der ethnologischen und kulturhistorischen Fastnachtsforschung als Nachweis dafür, dass Fastnacht bereits zu Beginn des 13.  Jhs. im deutschen Sprachraum als Brauchtermin existierte, zumal mit dem »Auftreten von Frauengestalten« verbunden.60 In jüngerer 49  Vgl. Ernst Martin, »Anmerkungen zum Parzival«, in: Wolframs von Eschenbach Parzival und Titurel, hg. u. erkl. Ernst Martin, 2 Bde. (Germanistische Handbibliothek 9,1–2), Halle a. S. 1900–1903, Bd. 2, 1–535, hier 324. 50  Vgl. Huth, Dichterische Wahrheit, wie Anm. 48. 51  Vgl. Scheuble, Mannes manheit, vrouwen meister, 178 f. (Zitat 178). 52  Zutt, »Gawan und die Geschwister«, 110, Anm. 37. 53  Gibbs, Wîplîchez wîbes reht, 195 (»abandoned vigour«). 54  Curschmann, »Das Abenteuer des Erzählens«, 664. Ähnlich sieht auch Kratz Antikonîes Agieren gegenüber dem der Marktfrauen »in a completely different category« gestellt, nämlich in die Kategorie der Loyalität, vgl. Kratz, Wolfram von Eschenbach’s Parzival, 330. 55  Schöller, Die Fassung *T, 352. 56  Rosemarie McGerr, »Reversing Gender Roles and Defining True Manhood in Parzival«, The Arthurian Yearbook 3 (1993), 215–225, 218. Emmerling sieht in der Antikonîe-Figur »Wolframs neue[ ] Konzeption von Weiblichkeit« ausgestaltet, vgl. Emmerling, Geschlechterbeziehungen, 47. 57  Scheuer, »Schach auf Schanpfanzûn«, 35. 58  Ibid., 35. 59  Schmid, »Lüsternheit«, 139 f. (Zitat 139).



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Zeit ordnet 60Karl Braun den Beleg in jene Entwicklung des 11. und 12. Jhs. ein, die auf die Verchristlichung der Ehe zielte:61 Die scholastische Neubestimmung der augustinischen Eheauffassung umfasste besonders die »Vergeistigung geschlechtlicher Lust«62 und bedurfte intensiver Vermittlungswege in das alltägliche Handeln. Braun nennt die asketische Botschaft der neuentstandenen Bettelorden, die Verpflichtung zum Zölibat, die Ma­ rianisierung mit dem Ideal der jungfräulichen Gottesmutter, die Erfindung des Fegefeuers als eines Reinigungsorts, die Einführung der jährlichen Ohrenbeichte sowie die Neuregelung der Fastenzeit auf dem Konzil von Benevent 1091 und die Verpflichtung der Gläubigen, das Aschekreuz zu empfangen. Den frühen Fastnachtsbeleg im Parzival sieht Braun als literarische Reminiszenz dieser Entwicklung.63 Denn die sich herausbildenden mittelalterlichen Städte ermöglichten als ökonomische Zentren in wirtschaftlicher, religiöser und geschlechtlicher Hinsicht neue Lebensmodelle, die jedoch der Spannung zwischen der christlichen Dominanz des Alltagslebens durch das Keuschheits- und Enthaltsamkeitsideal der scholastischen Ehelehre einerseits und den Optionen städtischer Lebensführung andererseits verhaftet waren. Die Fastnachtsfeier sei eine »Bestätigung und Op­ position«64 dieser Spannung zugleich, denn mit ihr inszeniere die Stadt ein »Fest des Fleisches«65, das alle Forderungen der Askese temporär vernichte, alle leiblichen Bedürfnisse feiere und damit gegen die Institution der christlichen Ehe stehe. Viertens kommt schließlich die Parzival-Stelle in der kulturanthropo­ logisch orientierten Sportgeschichte dort in den Blick, wo sie nach der ­Soziologie des körperbasiert ausgetragenen Wettbewerbs und seinen gesellschaftlich relevanten Sinnstrukturen bei der ›Leibesübung‹ von Frauen fragt und für die Zeit vor 1400 verstärkt auf ikonographische und literarische Darstellungen angewiesen ist.66 Für die Aktivität der Dollnsteiner

60  Vgl. H. Moser, »Städtische Fastnacht des Mittelalters«, 147  f.; D.-R. Moser, Fastnacht  – Fasching  – Karneval, 218 (Zitat); Mezger, Narrenidee, 18, 487; Karl Braun, »Das ›Fleisch‹ inszeniert sich als christliches Fest. Zur Entstehung der Fastnacht im späten Mittelalter«, in: Grabmayer (Hg.), Das Königreich der Narren, 53– 74, hier 63. 61  Zum Folgenden vgl. ibid., 62–65. 62  Ibid., 63. 63  Vgl. ibid. 64  Ibid., 64. 65  Ibid. 66  Christine Edith Janotta, »Frauen und Sport im Mittelalter«, in: Gerhard Ammerer, Christian Rohr, Alfred Stefan Weiß (Hgg.), Tradition und Wandel. Beiträge

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Frauen geht sie im Anschluss an die ältere literaturgeschichtliche Forschung (s. u.) von einem Frauen- oder Fastnachtsturnier aus.67 III. Anknüpfend an die kulturhistorische Perspektive soll im Folgenden Wolframs literarästhetische Beschreibung der Dollnsteiner Fastnacht auf die spezifischen Merkmale hin befragt werden, die der Fastnacht als Brauchkomplex zu Beginn des 13.  Jhs. eignen.68 Mit Karl Bertau wird dabei von der Prämisse ausgegangen, dass Wolfram auf eine »außerpoetische« zeitgeschichtliche Realität verweist.69 Methodisch werden daher das fiktive Geschehen der Turmszene einerseits und das im Roman ästhetisch vermittelte außerliterarische Brauchgeschehen der Dollnsteiner Fastnacht andererseits in einen reziproken Bezug gesetzt; d. h., zusätzlich zu der vom Erzähler gewählten Vergleichsrichtung, in der die Dollnsteiner Fastnacht als Folie für den Kampf im Turm fungiert, wird in umgekehrter Richtung auch das Aufschlusspotenzial des fiktiven literarischen Geschehens für Aussagen über das ›reale‹ zeitgenössische Brauchgeschehen untersucht. Der Beitrag zielt jedoch nicht auf die Rekonstruktion der außer­ literarischen Wirklichkeit einzelner Brauchelemente, sondern sucht, kultuzur Kirchen-, Gesellschafts- und Kulturgeschichte. Festschrift für Heinz Dopsch, Wien / München 2001, 126–135, hier 132 f. 67  Vgl. Martin Hahn, Die Leibesübungen im mittelalterlichen Volksleben, Breslau 1929, 29 f.; Janotta, »Frauen und Sport im Mittelalter«, 134. 68  Der Parzival ist der einzige mittelhochdeutsche Roman, der das Wort ›Fastnacht‹ bezeugt (Ergebnis der Recherche in der Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank [im Folgenden ›MHDBDB‹] http: /  / mhdbdb.sbg.ac.at / ; Zugriff: 20.03.2018). Öfters findet es dagegen – neben der Narrenliteratur (z. B. Sebastian Brants Narrenschiff) – u. a. in der mittelhochdeutschen Versnovellistik des 14. und 15. Jhs. Verwendung. Das Potenzial des implementierten Worts für die Sinnstruktur dieser Texte betrachtet Sebastian Coxon, »das geschach zu ainer fasnacht. Shrovetide in Late Medieval German Comic Tales«, in: Mark Chinca, Timo Reuvekamp-Felber (Hgg.), Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext. Kulturwissenschaftliche Per­ spektiven (Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, Beihefte  13), Berlin 2006, 192–206. 69  Die Anspielung auf die Dollnsteiner Fastnacht steht neben einer Reihe weiterer »außerpoetische[r] Realitäten politischer, persönlicher und literarischer Natur«, die Bertau gleichsam als besonderes Kennzeichen des achten Buchs beurteilt; vgl. Karl Bertau, Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter, 2 Bde., München 1972–1973, Bd. 2, 986 f. Einen tabellarischen Überblick über die außerliterarischen Anspielungen des gesamten Romans gibt Schirok, Parzivalrezeption im Mittelalter, 26; eine Analyse anhand der Kollation von *T mit der Gesamtüberlieferung unternimmt Schöller, Die Fassung *T, 338–357.



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rell wirksame Prozesse sozialer Interaktion zu abstrahieren. Zur Betrachtung kommen dabei sechs Aspekte. 1. Kämpferische Aktivität Der Phrase nie baz gestriten ist unschwer zu entnehmen, dass die Dollnsteiner Kauffrauen sich an einer kämpferischen Aktivität beteiligen. Der komparativische Ausdruck nie baz verdeutlicht, dass ihnen die mit äußerster Kraft kämpfende Antikonîe in nichts nachsteht. Folglich ist für die Kauffrauen mindestens die gleiche Kampfeslust und Standhaftigkeit anzusetzen wie für Antikonîe und ferner anzunehmen, dass sie sich ebenfalls mit aller Ernsthaftigkeit ins Zeug legen und dafür alle verfügbaren Kapazitäten mobilisieren (müent […] ir lîp). Ob es sich allerdings um ein Turnier- oder Verteidigungsspiel oder um einen Wettstreit handelt, darüber schweigt der Erzähler. Archivalische Zeugnisse, die zur Erhellung beitragen könnten, sind nicht bekannt.70 Die Überlegungen der Forschung suchen dann auch Parallelen zu anderen fastnächtlichen oder allgemein karnevalesken Brauchformen und fallen entsprechend ungesichert aus: So vermutet der Literaturhistoriker Hyacinth Holland entweder einen Zweikampf als Rechtsmittel, mit dem sich die vor einem Fastnachtsgericht angeklagten Kauffrauen hätten verteidigen müssen,71 oder einen »übermüthigen Handstreich« reicher Kauffrauen im Stil jener Frauenturniere, wie sie in der literarischen Fiktion entworfen sind.72 Zu nennen sind vor allem die beiden Mären Frauenturnier und Nonnenturnier;73 Holland erwähnt daneben Gyburcs Verteidigung der Festung Orange gegen die Heiden im Willehalm.74 Der Volkskundler Hans Moser denkt an eine

70  Vgl. H[yacinth] Holland, »Zu Wolframs Parzival. I: Diu koufwîp ze Tolenstein, II: Die Trühendinger phanne«, Germania. Vierteljahrsschrift für deutsche Altertumskunde 6 (1861), 467–471, I = 467–469 (leicht überarbeitet wieder in: ders., Geschichte der altdeutschen Dichtkunst in Bayern, Regensburg 1861, 122–124), hier 468 / 123. 71  Vgl. ibid. 72  Vgl. ibid., 469 / 124. 73  Zu dem rein fiktiven Stoff am Beispiel dieser beiden Mären s. Ute von Bloh, »Heimliche Kämpfe. Frauenturniere in mittelalterlichen Mären«, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 121 (1999), 214–238 (Zitat 214). 74  Vgl. Holland, »Zu Wolframs Parzival«, 469 / 124. Es handelt sich um folgende Stellen aus Wolfram von Eschenbach, Willehalm. Text der Ausg. v. Werner Schröder, völlig neubearb. Übers., Vorw. u. Register v. Dieter Karschoke, Berlin / New York 1989 (im Folgenden ›Wh.‹): Wh.  108,23–112,2; 221,27–223,25; 226,22–228,25, bes. 227,12–17.

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»Übernahme des höfisch-ritterlichen Spielkampfes« um die Minneburg.75 Bei dieser Unterhaltungsform verteidigten die Frauen eine Burgattrappe, welche von Rittern erstürmt wurde, mit Wurfgeschossen aus Obst, Nüssen, Konfekt oder mit Blumen als Schlagwaffen.76 Zu einer solchen Annahme dürfte Moser durch Analogiebildung zu der literarischen Verteidigungsszene im Roman gekommen sein, in der ja Schachfiguren die Wurfgeschosse bilden. Vielleicht hat ihn an die gleichsam kriegerische Ausei­ nandersetzung vor dem Burgturm auch insbesondere der prominente Fall der 1214 auf dem Hoftag von Treviso (nördlich von Venedig) veranstalteten Minneburg erinnert,77 der deshalb unrühmliche Bekanntheit erlangt hat, weil das höfische Kriegsspiel in eine Auseinandersetzung zwischen den beiden belagernden Parteien, den Veneziern und den Paduanern, mündete, die gewaltsame Überfälle zur Folge hatte; den daraufhin von Venedig gegenüber Padua und Treviso erklärten Krieg konnte erst 1216 Papst Honorius  III. beenden.78 Der Historiker Markus Wenninger setzt ein 75  H. Moser,

»Städtische Fastnacht des Mittelalters«, 148. dieser vielfach auch literarisch und ikonographisch dargestellten, bis ins 19.  Jh. ausgeübten Spielpraxis von der Erstürmung der Minneburg vgl. Alwin Schultz, Das höfische Leben zur Zeit der Minnesinger, 2 Bde., 2., verm. u. verb. Aufl., Leipzig 1889 [Neudr.: Osnabrück 1965], Bd. 1, 233; Roger Sherman Loomis, »The Allegorical Siege in the Art of the Middle Ages«, American Journal of Archaeology 2.  Ser.  23 (1919), 255–269; Otto Lauffer, Frau Minne in Schrifttum und Bildender Kunst des deutschen Mittelalters, Hamburg 1947, 71–79; Bryan Holme, Der Glanz höfischen Lebens im Mittelalter, Freiburg i. Br. 1987, 23; Werner Meyer, »Das ritterliche Turnier als Fest«, Nachrichten des Schweizerischen Burgenvereins 60 (1987), 36–39, hier 38; Joachim Zeune, Burgen. Symbole der Macht. Ein neues Bild der mittelalterlichen Burg, 2. Aufl., Regensburg 1997, 209; Michael Camille, The Medieval Art of Love. Objects and Subjects of Desire, London 1998, 87–93; Anja Sommer, Die Minneburg. Beiträge zu einer Funktionsgeschichte der Allegorie im späten Mittelalter. Mit der Erstedition der Prosafassung (Mikrokosmos  52), Frankfurt  a. M. u. a. 1999, 100 f.; Michael Curschmann, »Konventionelles aus dem Freiraum zwischen verbaler und visueller Gestaltung«, in: Eckart Conrad Lutz, Johanna Thali, René Wetzel (Hgg.), Literatur und Wandmalerei II. Konventionalität und Konversation. Burgdorfer Colloquium 2001, Tübingen 2005, 237–252, hier 240–245 (mit Abb. 10– 14). 77  Diesen Beleg bringt bereits Holland, »Zu Wolframs Parzival«, 469 / 124, mit der Dollnsteiner Fastnacht in Verbindung. 78  Vgl. Rolandini Patavini Cronica in factis et circa facta Marchie Trivixane [aa. 1200cc.–1262], hg. Antonio Bonardi (Rerum Italicarum Scriptores 8,1), Città di Castello 1905, 24 f., lib.  1,13; Übersetzung (auf Basis der Partien Joachim Bumkes): Christoph Friedrich Weber, Zeichen der Ordnung und des Aufruhrs. Heraldische Symbolik in italienischen Stadtkommunen des Mittelalters (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne), Köln / Weimar / Wien 2011, 356 f.  – Vgl. dazu Schultz, Das höfische Leben, Bd. 1, 577 f.; Loomis, »The Allegorical Siege«, 255 f.; Lauffer, Frau Minne, 71 f.; Joachim Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im 76  Zu



Zur Dollnsteiner Fastnacht im Parzival73

»von Frauen ausgetragenes Turnier« voraus, das »im kleinen Markt Dollnstein zur üblichen Fastnachtsbelustigung gehörte[  ]«,79 und sieht den Fastnachtsbeleg im Parzival als Zeugnis für jene »Bauern-, Scherz- und Frauenturniere«, die in Verkehrung der geltenden Ordnung adlig-ritter­ liche Turnierkultur parodieren würden.80 Von germanistisch-mediävistischer Seite schließlich scheint Wolfgang Spiewok eine physische Aktivität mit vollem Körpereinsatz zu meinen, wenn er in seiner Parzival-Übersetzung die betreffende Stelle dahin gehend wiedergibt, dass die Dollnsteiner Frauen »[ ] zur Fastnachtszeit nicht kräftiger um sich geschlagen [haben]«81 als Antikonîe. Herta Zutt geht davon aus, dass die Frauen »miteinander« kämpfen.82 Ute von Bloh sieht die Parzival-Stelle sogar als Beleg dafür, dass »derartige Kampf­ spiele«  – wie jenes im Märe Frauenturnier83 zwischen den Frauen einer Burg verabredete Turnier, auf dem sich die mit den Rüstungen ihrer abwesenden Männer versehenen Teilnehmerinnen gegenseitig erheblich verletzen84  – »auch zu den Fastnachtspielen« gehören, von denen Wolfram berichte.85 Es ist von Blohs  – notwendigerweise kurzer  – Anmerkung nicht zu entnehmen, ob der Terminus ›Fastnachtspiel‹ die dramatische Gattung86 meint oder ein in der sozialen Realität anlässlich Fastnacht abgehaltenes Frauenturnier. Auf der einen Seite stellt von Bloh zu Beginn ihres Aufsatzes klar, dass »Frauenturniere [ ] im Mittelalter nur in Fiktionen [existieren]«87, was dafür spräche, dass sie die Parzival-Stelle auf den Stoff eines zur Fastnacht aufgeführten Schauspiels bezieht, das ein hohen Mittelalter, 12. Aufl., München 2008, 301 f.; Curschmann, »Konventionelles aus dem Freiraum«, 244 f.; Weber, Zeichen der Ordnung und des Aufruhrs, 357 f. (unter Berücksichtigung der chronikalen Darstellung des Martin da Carnal). 79  Markus J. Wenninger, »Fasching als Krisenzeit. Die ›Böse Fastnacht‹ von Basel und andere Konflikte«, in: Grabmayer (Hg.), Das Königreich der Narren, 213–251, hier 221. 80  Ibid., 219. 81  Parzival. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Mittelhochdeutscher Text nach der Ausg. v. Karl Lachmann, Übers. u. Nachw. v. Wolfgang Spiewok, 2 Bde., Stuttgart 2002 [Nachdr.], Bd. 1, 695. 82  Zutt, »Gawan und die Geschwister«, 110, Anm. 37. 83  Gesammtabenteuer. Hundert altdeutsche Erzählungen: Ritter- und PfaffenMären, Stadt- und Dorfgeschichten, Schwänke, Wundersagen und Legenden […], meist zum erstenmal gedr. u. hg. Friedrich Heinrich von der Hagen, 3  Bde., Stuttgart / Tübingen 1850 [Nachdr.: Darmstadt 1961], hier Bd. 1, Nr. 17, 371–382. 84  V. 158–172. 85  Vgl. von Bloh, »Heimliche Kämpfe«, 230, Anm. 44 (Zitate ibid.). 86  Vgl. Anm. 30. 87  von Bloh, »Heimliche Kämpfe«, 215.

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Turnier oder ein Kampfspiel zwischen Frauen auf die Bühne brächte. Auf der anderen Seite spricht von Bloh von den »Akteuren eines Spieles«, mit denen Wolfram »Antikonies tapfere Verteidigung des Turms« vergleiche;88 nimmt man die Wortwahl ernst, die nun auf historisch-soziologische Zusammenhänge verweist, schiene von Bloh für die ParzivalStelle eher auf ein reales Frauenturnier zu zielen. Eberhard Nellmann wiederum schließt von dem Bild rüstungsverschmutzter Frauen, das der Erzähler kommentierend auf Antikonîe bezieht (s. u.), auf »Kämpfe im harnasch«, und etikettiert sie als »Übergriffe« mit Aufführungscharakter.89 Dadurch schreibt er ihnen eine Performanzdimension zu, versieht sie aber auch implizit mit einer Semantik des Unzulässigen oder gar Illegitimen.90 Die verschiedenen Deutungen müssen mangels Quellenmaterials wendig im Bereich des Spekulativen verbleiben. Ein kleiner Hinweis sich aber immerhin der Parzival-Überlieferung selbst entnehmen. Lesart kampf wîp in zwei Handschriften der Überlieferungsgruppe legt zumindest ein wie auch immer geartetes Kampfspiel nahe:

notlässt Die *T91

Div kvneginne riche streit da riterliche bi gawane si werliche schein dc div kampf wip ze Tolenstein an der vastnaht nie baz gestriten wan si tnt ez mit Gampel siten vnde mvent ane not ir lip (Wien, ÖNB, Cod. 2708 [T], Bl.  81rb–va)

Robert Schöller, der dieser Fassung eine eigene Studie gewidmet hat, schließt daraus, dass der Brauch nicht nur von den Frauen der Kaufmannschaft Dollnsteins, sondern »offenbar generell von den weiblichen Einwohnern dieses Ortes geübt wird«92. Für die Frage nach den Merkmalen der Fastnacht ist es unerheblich, ob die Handschriftenklasse *D oder aber die Handschriftenklasse *T den ›realen‹ Begebenheiten des Dollnsteiner 88  Ibid. 89  Nellmann,

»Kommentar«, 648. geht von einer (obrigkeitlich vielfach als Ordnungsverstoß wahrgenommenen) Vermummung der Frauen aus, vgl. Hugo Steger, »Abenberc und Wildenberc. Ein Brief mit einem neuen Vexierbild in einer alten Parzival-Frage«, Zeitschrift für deutsche Philologie 105 (1986), 1–41, hier 41. 91  Zu den Handschriften der Überlieferungsgruppe *T s. Schöller, Die Fassung *T, 42–53, 60–124. Die Variante kampf wip ist neben Hs.  T in Hs.  U (kamp wip, Bl. 57ra) bezeugt, vgl. ibid., 353. Außerhalb der Gruppe zeigt Hs. m kampf wip zu Toleristein (Bl. 264v). In Hs. O (Bl. 82rb) ist (nach der Zeile) chovf wip für gestrichenes kst eingewiesen. 92  Schöller, Die Fassung *T, 353. 90  Steger



Zur Dollnsteiner Fastnacht im Parzival75

Brauchs entspricht, zumal ein Brauch stets Veränderungen unterliegen kann. Relevant ist vielmehr, dass beide Klassen die potenzielle Teilnahme von Frauen an einem Kampfspiel als reale außerliterarische Begebenheit imaginieren und so in mentalitätsgeschichtlicher Perspektive Aufschluss über die zeitgenössische Vorstellung der Fastnacht geben. 2. Weibliche Akteure Daher ist auch die Beteiligung weiblicher Akteure an der Dollnsteiner Fastnacht in der Regel unhinterfragt. Lediglich Dietz-Rüdiger Moser hat im Kontext fastnächtlicher weiblicher Verkleidungstypen wie der Hexe oder der hässlichen Alten die Frage aufgeworfen, ob in Dollnstein nicht Männer in Frauenverkleidung auftraten.93 Wenninger schließt diese Möglichkeit mit dem Argument der verkehrten Welt aus, der turnierende Frauen in besonderer Weise entsprächen.94 Aber bereits Albert Schulz, der 1887 die erste Parzival-Übersetzung vorgelegt hat und sich in seinem Stellenkommentar Hollands These vom Frauenturnier grundsätzlich anschließt, stellt ebendort die Dollnsteiner Fastnacht neben zwei weitere karnevaleske Brauchformen, zum einen neben die nachweihnachtlichen Klerikerfeste und zum anderen neben einen Pfingstbrauch, bei dem Männer in Frauenkleidern einen ausgelassenen Umzug veranstalten.95 Die Auswahl gerade dieser Parallelverweise begründet Schulz nicht, doch fällt auf, dass die beiden Brauchformen ausschließlich von männlichen Teilnehmern getragen werden und dass dabei die Verkleidung als Frau ein zentrales Element ist: Für den beschriebenen Pfingstbrauch ist sie evident, für die Klerikerfeste nahm sie die Forschung seinerzeit an.96 Auch für die Fastnacht bzw. die Fastenzeit ist cross-dressing belegt,97 sogar in Zusam93  D.-R. Moser, Fastnacht  – Fasching  – Karneval, 218. Moser wählt bewusst die Bezeichnung »Frauengestalten«, die bei Wolfram zur Fastnacht aufträten, und konstatiert, es lasse sich »nicht feststellen«, ob sie »wirklich Frauen waren« oder ob sie »von Männern gespielt wurden«. 94  Vgl. Wenninger, »Fasching als Krisenzeit«, 220 f. 95  Vgl. San-Marte [= Albert Schulz], Parcival. Rittergedicht von Wolfram von Eschenbach, aus dem Mittelhochdeutschen zum ersten male übers., 2 Bde., 3., verb. Aufl., Halle a. S. 1887, Bd. 2, 439 (ohne Quellennachweise). 96  Vgl. dazu Max Harris, Sacred folly. A New History of the Feast of Fools, Ithaca, N.Y. 2011, Register 317 s. v. »cross-dressing (clerical)«. 97  Vgl. Eckehard Simon, »Carnival Obscenities in German Towns«, in: Jan  M. Ziolkowski (Hg.), Obscenity. Social Control and Artistic Creation in the European Middle Ages (Cultures, Believes, and Traditions 4), Leiden / Boston / Köln 1998, 193– 213, hier 195, 198 f., 212.

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menhang mit einem Schaukampf. So moniert der italienische Chronist Salimbene de Adam, in der Fastenzeit des Jahres 1287 hätten die Männer der kalabresischen Stadt Reggio Frauenkleider und hell geschminkte Masken angelegt und, in dieser Weise kostümiert, Lanzenspiele veranstaltet: Item, millesimo supraposito, in Carnisprivio non luserunt Regini secundum morem aliarum civitatum Christianorum, que omnes tali tempore ubique stultiçant et infatuantur, sed sub silentio permanserunt, veluti si mortuos suos flerent. In Quadragesima vero, quando est tempus Deo dicatum, ceperunt ludere, quando est tempus acceptabile et dies salutis, tempus elemosinas faciendi et operibus pietatis insistendi […]; item tempus confitendi, predicationes audiendi, ecclesiarum limina visitandi, orandi, ieiunandi et flendi, […]. Igitur in Quadragesima maiori non institerunt Regini operibus pietatis nec fecerunt bona superius memorata, sed ambulaverunt post vanitatem et vani facti sunt. Et cum Dominus prohibeat, Deutero. XXII: Non induetur mulier veste virili, nec vir utetur veste feminea. Abominabilis enim apud Deum est qui facit hec, ipsi totum fecerunt contrarium et ambulaverunt post adinventiones suas. Acceperunt enim a dominabus mutuo vestes muliebres plures eorum, quibus induti ceperunt ludere et per civitatem cum hastiludio discurrebant. Et ut mulieres melius apparerent, cum cerusa dealbabant larvas quas suis vultibus apponebant, non attendentes penam que talibus est promissa.98 98  Salimbene de Adam, Cronica, hg. Giuseppe Scalia, 2  Bde. (Corpvs Christian­ orvm, Continuatio Mediaeualis  125, 125A), Turnholt 1998–1999, Bd. 2, 939 f., 941 (Kursivierung im Original). – Übersetzung: »Ferner trieben in jenem Jahre im Karneval die Regginer keinerlei Spiel nach der Weise andrer christlicher Städte, die sämtlich zu dieser Zeit überall Dummheiten treiben und läppische Dinge, sondern verhielten sich still, als beweinten sie ihre Toten. In der Fastenzeit dagegen, da die Jahreszeit Gott geweiht sein soll, begannen sie Spiele aufzuführen, gerade dann, wenn ›die Zeit und der Tag des Heils‹ ist, die Zeit Almosen zu spenden und Werken der Frömmigkeit obzuliegen. … Ferner die Zeit zu beichten, Predigt zu hören, die Schwellen der Kirchen aufzusuchen, zu beten, zu fasten und zu weinen, […]. Also gaben die Regginer in der Fastenzeit sich nicht Werken der Frömmigkeit hin und taten nicht die erwähnten guten Werke, sondern ›hingen an unnützen Götzen, da sie doch nichts erlangten‹! Und während der Herr verbietet, Deuteronomium im 22sten: ›Ein Weib soll nicht Mannsgeräte tragen und ein Mann soll nicht Weiberkleider antun; denn wer solches tut, der ist Gott ein Greuel‹, taten sie gerade das Gegenteil und gingen ihren Hirngespinsten nach. Denn manche von ihnen liehen sich von ihren Weibern Frauengewänder und hatten mit diesen angetan ihre Kurzweil und rannten durch die Stadt im Kampfspiel. Und um mehr wie Frauen auszusehen, weißten sie sich mit Bleiweiß die Masken, die sie sich auf ihr Gesicht setzten, nicht achtend der Strafe, die solchem Treiben in Aussicht gestellt ist« (Die Chronik des Salimbene von Parma, nach der Ausg. der Monumenta Germaniae bearb. Alfred Doren, 2 Bde. [Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit 93–94], Leipzig 1914, Bd. 2, 338 f.).  – Wenn Alwin Schultz im Zusammenhang mit dem ausartenden Ansturm der Belagerer auf die Minneburg von Treviso auf das Lanzenspiel der Männer aus Reggio verweist, sieht er offenbar formale und inhaltliche Parallelen zwischen den beiden Kampfspielen, vgl. Schultz, Das höfische Leben, Bd. 1, 578, Anm. 32.



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Die Frage, ob nun bei der Dollnsteiner Fastnacht Männer in Frauenverkleidung kämpften, zumindest einmal zu stellen, legt sich aus zwei kulturgeschichtlichen Gründen nahe: Zum einen, weil Frauen  – wenn auch die Beteiligung weiblicher Akteure an Wett- und Sportspielen im Mittelalter in einigen Disziplinen zumeist für die adlige und städtische Gesellschaft durchaus akzeptiert war99  – als ›aktive‹ Akteure an öffentlichen Schaukämpfen nur gelegentlich und dann zumeist in sozialer Randstellung auftraten100 wie beim Wettlauf der nicht ehrbaren Frauen auf dem Nördlinger Scharlachrennen von 1442.101 Auf hochmittelalterlichen Turnieren waren

99  Im Mittelalter betraf die ›sportliche‹ Betätigung der Frauen das Ball- und Tennisspiel, den Wettlauf, Ring- und Fechtkampf, Zweikampf mit einem Mann (als Rechtsmittel) und die Jagd, s. Hahn, Die Leibesübungen im mittelalterlichen Volksleben, 22–31; Herbert Seering, »Die ritterlichen Leibesübungen in den höfischen Epen«, Wolfram-Jahrbuch (1953), 48–100, (1954), 7–42, hier (1953), 7–11, 42; Wolfgang Behringer, Kulturgeschichte des Sports. Vom antiken Olympia bis zur Gegenwart, München 2012, hier 110–112; Robert Sturm, Frauen & Sport in Antike und Mittelalter. Text- und Bildzeugnisse zur Bewegungskultur von Frauen in alter Zeit, Berlin 2014, 125–141. 100  Vgl. Meyer, »Das ritterliche Turnier als Fest«, 37. 101  Dieses Ereignis gilt als frühester deutschsprachiger Beleg für die spätmittelalterlichen, im städtischen Kontext veranstalteten (vielleicht aber aus dem bäuerlichen Bereich übernommenen) Wettrennen der zumeist nicht ehrbaren Frauen, insbesondere der Prostituierten, vgl. mit der Lit. Hanns Fischer, »Der Überfall beim Nördlinger Scharlachrennen. Bemerkungen zu einem vergessenen Zeitspruch aus dem Jahre 1442«, in: Eckehard Catholy, Winfried Hellmann (Hgg.), Festschrift für Klaus Ziegler, Tübingen [1968], 61–76, hier 67 f.; Agneta Bialecka, »Der Überfall auf das Nördlinger Scharlachrennen. Gewalt und symbolische Ordnung der Gesellschaft in der urbanen Festkultur«, in: Cora Dietl, Titus Knäpper (Hgg.), Rules and Violence = Regeln und Gewalt. On the Cultural History of Collective Violence from Late Antiquity to the Confessional Age = Zur Kulturgeschichte der kollektiven Gewalt von der Spätantike bis zum konfessionellen Zeitalter, Berlin 2014, 193–208, hier 196. Den eher niedrigen Sozialstatus der Teilnehmerinnen an den Wettläufen in Deutschland zeigt auf Janotta, »Frauen und Sport im Mittelalter«, insb. 132. Literatur zu Frauen(wett)läufen in Frankreich und Italien, teils als Mittel, im Krieg den Gegner zu irritieren, nennen Beate Schuster, Die freien Frauen. Dirnen und Frauenhäuser im 15. und 16. Jahrhundert (Geschichte und Geschlechter  12), Frankfurt  a. M. / New York 1995, 51, Anm. 76, und Bialecka, »Der Überfall auf das Nördlinger Scharlachrennen«, 196, Anm. 11.  – Die Vorstellung vom ›Lauf im Harnisch‹ als bildlicher Umschreibung wohl für eine nicht ehrbare Frau formuliert bereits im ersten deutschen Losbuch (Limburg, E.  14.  Jh.) ein Orakelspruch für heiratswillige Männer: Das wip die du wilt kaffin / hat in dem harnesch gelauffin (Bl. 7v; die ist über der Zeile eingewiesen; ein wîp koufen ›heiraten‹ Lex 1,1694), zit. nach Losbuch in deutschen Reimpaaren. Vollständige Faksimile-Ausgabe im Originalformat des Codex Vindobonensis Series Nova 2652 der Österreichischen Nationalbibliothek (Codices Selecti 38), Graz 1972; zugehöriger Kommentarbd. von Werner Abraham, mit zwei ganzseitigen Farbtafeln, Graz 1973.

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Frauen bedeutsame ›passive‹ Teilnehmerinnen, weil sie eine »stimulierende wie zivilisierende Rolle«102 ausübten. Zum anderen lässt sich die Teilnahme von weiblichen Akteuren an der Feier der Fastnacht in erster Linie für die soziale Elite nachweisen, was durchaus der einseitigen Quellenlage geschuldet sein dürfte. Es war zum Beispiel üblich, dass der Adel und die städtische Führungsschicht den höherstehenden Frauen Naturalgaben verehrten, z. B. Konfekt oder ein Stück Wild; in Regensburg etwa unterstützte der Rat ab 1416 den jährlichen Fastnachtshof, den die Frauen des Pa­ triziats mit Tanz und Festmahl abhielten, mit einer großzügigen Geldgabe.103 Schaukämpfe waren hingegen nicht Teil  ihrer Fastnachtsbegehung. Dass die »zu Dollnstein gehörigen oder dort anwesenden«104 Kauffrauen aber zu einer Randgruppe gehört hätten, ist unwahrscheinlich, auch wenn Ernst Martin in seinem häufig zitierten Kommentar zur Stelle annimmt, im Fastnachtsvergleich komme zum Ausdruck, dass die höfische Gesellschaft auf die Kaufmannschaft verächtlich niedergeblickt hätte.105 Denn 102  Josef Fleckenstein, »Das Turnier als höfisches Fest im hochmittelalterlichen Deutschland«, in: ders. (Hg.), Das ritterliche Turnier im Mittelalter. Beiträge zu einer vergleichenden Formen- und Verhaltensgeschichte des Rittertums (Veröffent­ lichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte  80), Göttingen 1985, 229–256, hier 238. 103  Vgl. Hans Moser, »Brauchgeschichtliches aus dem Donauraum zwischen Regensburg und Passau«, in: Horst Heldmann (Hg.), Archive und Geschichtsforschung. Studien zur fränkischen und bayerischen Geschichte. Fridolin Solleder zum 80. Geburtstag, Neustadt a. d. Aisch 1966, 111–147, hier 121. 104  Herbert Kolb, »niemen hie ze Wildenberc (Parzival 230,13)«, Zeitschrift für deutsche Philologie 105 (1986), 382–385, hier 384. 105  Vgl. Martin, »Anmerkungen zum Parzival«, 324. Zum literarischem Kaufmann als wohlhabendem, unhöfischem Repräsentanten einer »Gegenwelt, die von der höfischen Adelsgesellschaft abgesetzt wird«, s. Ursula Peters, Literatur in der Stadt. Studien zu den sozialen Voraussetzungen und kulturellen Organisationsformen städtischer Literatur im 13. und 14. Jahrhundert (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur  7), Tübingen 1983, 57 f. (Zitat 57). Peters warnt allerdings vor der Annahme, mittelalterliche Dichtung registriere mit der literarischen Kaufmannsfigur unmittelbar die Reaktion des Adels auf die als bedrohlich empfundene Konkurrenz der neuen, aufstrebenden Sozialgruppe (vgl. ibid., 57). Zur literarischen Kaufmannsfigur s. ferner Danielle Buschinger, »Das Bild des Kaufmanns im TristanRoman und bei Wolfram von Eschenbach«, in: dies. (Hg.), Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters (Wodan  53), Greifswald 1995, 89–101.  – In der GâwânHandlung bildet das Motiv des (fahrenden) Kaufmanns gleichsam einen ›Marker‹ für künftige Konflikt- und Bewährungssituationen, in die Gâwân u. a. deshalb gerät, weil er als sozial geringerstehend verkannt wird oder sich für verkannt hält: In Buch sieben weist Obîe ihm die Identität eines Kaufmanns zu (Pz. 352,16; 353,26), sogar eines betrügerischen (Pz.  361,10); als Folge ihres Streits mit Obilôt über Gâwâns sozialen Rang erwählt sich Obilôt ihn zu ihrem Minneritter (vgl. Buschinger, »Das Bild des Kaufmanns«, 94 f.). In Buch zehn begründet Gâwân seine Weigerung, dem



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dagegen spricht nicht nur das enge semantische Spektrum von koufwîp; die Bedeutungen sind im Mittelhochdeutschen die ›selbständig Handel treibende Frau‹ und die ›Ehefrau eines Kaufmannes‹, erst im Frühneuhochdeutschen die ›Prostituierte‹ (kauffrau).106 Auch war im 13.  Jh. der Handelsverkehr in Dollnstein, das einen der vier Marktorte im Altmühltal bildete, wahrscheinlich schon recht bedeutend,107 so dass es sich bei den Kaufleuten dort vermutlich um eine aufstrebende, selbstbewusste Gesellschaftsgruppe handelte, der man eine eigene Festkultur unterstellen darf.108

Fährmann Plippalinôt sein eben wiedererlangtes Pferd Gringuljete als Turniertribut zu überlassen, kein zollpflichtiger Kaufmann zu sein (Pz. 544,23); die Einigungsrede mündet in eine Einladung ins Haus des Fährmanns, durch die Gâwân von Schastel marveile erfährt. In beiden Fällen sieht sich Gâwân anschließend in die Situation gestellt, gesellschaftliche Ordnung zu restituieren. Diametral steht dem nun das Kontrastbild von Antikonîe und den Dollnsteiner Kauffrauen gegenüber, das in besonders signifikanter Weise die Konfliktzuspitzung in Schanpfanzûn illustriert. 106  Mittelhochdeutsches Wörterbuch, mit Benutzung des Nachlasses v. Georg Friedrich Benecke ausgearb. Wilhelm Müller u. Friedrich Zarncke, 3 Bde., Stuttgart 1990 [Reprogr. Nachdr. der Ausg. Leipzig 1854–1866] (im Folgenden ›BMZ‹), 3,719b; Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuche von BeneckeMüller-Zarncke, 3  Bde. u. Nachträge, 2., unveränd. Aufl. nach einem Nachdr. der Ausg. Leipzig 1872–1878, Leipzig 2017 (im Folgenden ›Lex‹), 1,1697; Robert R. Anderson, Ulrich Goebel, Oskar Reichmann (Hgg.), Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, bisher erschienen: Bd. 1–4, 6, 8 u. Lfg. 5,1–2, 7,1, 9,1, Berlin / New York 1989 ff. (im Folgenden ›FrnhdWb‹), 8,716. 107  Die Parzival-Stelle gilt ebenso als Indiz für die Annahme, dass es bereits zu Beginn des 13.  Jhs. in Dollnstein, das erst 1387 sein Marktrecht erwarb (vgl. Anm. 32), »eine marktähnliche Struktur« gegeben hat, wie das spätere Privileg der Zollfreiheit in Eichstätt (urkundl. 1309), das Dollnstein unter den Hirschberger Grafen erhielt. Vgl. Holland, »Zu Wolframs Parzival«, 468 / 124; Theodor Eisenbrand, Ehehaftsordnungen im Hochstift Eichstätt, Diss. Erlangen 1938, 24; Kreitmeir, Die Geschichte, 59; Rischert, Burg, 111; Wenninger, »Fasching als Krisenzeit«, 220, Anm. 19 (Zitat).  – Bis zum 15.  Jh. war im Hochstift Eichstätt »eine ansehnliche Städte-Märkte-Dichte« von acht Städten und sieben Märkten entstanden. Der 1440 vom Hochstift erworbene Markt Dollnstein lag im südlichen Unterstift »an der Grenze zu einer Landschaft, in der der Anteil von Märkten gegenüber Städten höher war«; diese Märkte unterschieden sich nur »wenig« von den Städten, vgl. Helmut Flachenecker, »Märkte und Städte in Franken. Messe – Handel – Ortsherrschaft«, in: ders., Rolf Kießling (Hgg.), Wirtschaftslandschaften in Bayern. Studien zur Entstehung und Entwicklung ökonomischer Raumstrukturen vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Beiheft 39), München 2010, 79–112, hier 98. 108  Insbesondere gehörten im 13.  Jh. Turnierveranstaltungen zur Festpraxis reicher Kaufleute. In Magdeburg etwa lud man 1226 dazu die angesehenen Kaufmannschaften benachbarter Städte ein. Vgl. Georg Steinhausen, Kaufleute und Handelsherren in alten Zeiten, Leipzig 1899 [Fotomech. Nachdr.: Bayreuth 1976], 31.

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Verfolgt man vor diesem Hintergrund also einmal die Überlegung, ob in Dollnstein Männer im Frauenkostüm gekämpft haben könnten, wäre nach den textkritischen Varianten zu differenzieren. Für die Lesart kampf wîp der Handschriftenklasse *T wäre sie unproblematisch, brächte sie nämlich lediglich zum Ausdruck, dass als Frauen verkleidete Männer ein Kampfspiel veranstaltet hätten. Für die Lesart koufwîp der Handschriftenklasse D* hätte sie allerdings zur Konsequenz, dass dort entweder nur Kauffrauenkostüme zugelassen worden wären oder nur die Männer der Kaufmannschaft an dem Brauch teilgenommen hätten. Das Privileg exklusiver öffentlicher Brauchbegehung genossen zwar bestimmte Berufsgruppen gerade an Fastnacht, vor allem die Metzger und Fleischhauer, die Schautänze veranstalteten oder Prozessionen anführten, weil sie aufgrund des gebotenen Fleischverzichts in der sechswöchigen Fastenzeit finanzielle Einbußen hatten. Aber das Vorrecht, Fastnacht in besonderer Weise als Repräsentationsmedium zu nutzen, ist für die soziale Gruppe der Kaufleute nicht belegt, es sei denn, man versteht die Parzival-Stelle als ein solches Zeugnis. Insgesamt sprechen also mehrere textexterne Gründe gegen eine Überlegung, in Dollnstein seien zur Fastnacht Männer in Kauffrauenkostümen zu einem Kampfspiel angetreten. Ein weiteres Argument dagegen liefert vor allem aber der Text selbst. Denn der Erzähler stellt unmittelbar nach dem Vergleich zwischen Antikonîe und den Dollnsteiner Frauen den Blick auf die Beteiligung speziell weiblicher Akteure an Kämpfen zentral, wenn er erklärt, dass die kämpferische Auseinandersetzung für eine Frau ungebührlich sei: swâ harnaschrâmec wirt ein wîp, diu hât ir rehts vergezzen, sol man ir kiusche mezzen, sine tuoz dan durch ir triuwe. (Pz.  409,12–15)

Es gezieme sich nicht, dass eine Frau durch das Tragen einer Rüstung109 schmutzig werde, außer sie kämpfe aus Loyalität, zu der aufrichtige Ergebenheit und wahre Zuneigung verpflichten (triuwe). Der Kommentar zielt auf die zentrale Rolle der Geschlechterbeziehungen. Antikonîe verhält sich wie ein Mann, sie wird gleichsam zum weiblichen Ritter.110 Die Forschung hat dies in Zusammenhang mit der spezifischen Darstellung der geharnischten Kämpferin Gyburc im Willehalm111 gebracht und gefolgert, dass bei Wolfram gewappnete Frauen generell 109  Zu

diesem Bild s. ähnlich Anm. 101. Dallapiazza, »Plippalinots Tochter«, 93 f. 111  Wh. 231,19–27; 243,23–30: harnaschvar. 110  Vgl.

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»Gegenstand zum Spott« seien.112 Zweifelsohne ist der von Antikonîe vollzogene Rollentausch vor dem Hintergrund der höfischen Geschlechterordnung ungehörig.113 Um dies sprachlich herauszustellen, formuliert Wolfram den Erzählerkommentar ›im Stil‹ einer allgemeingültigen Sentenz. Insofern diese besondere Redeform eine sozial wirksame Verhaltensregel von ubiquitärer Verbindlichkeit zu fixieren scheint, wird Antikonîes Kampfteilnahme eindeutig als unzulässiger Verstoß gegen ebendiese Regel bewertet. Mittelbar trifft dies auch auf Gâwân zu: Denn der Rollentausch wird allererst erforderlich, weil Gâwân die Notwendigkeit, unhöfische Waffen zu verwenden, mitverantwortet, weshalb sich sein Idealbild als vorbildlich kämpfender Ritter erheblich relativiert.114 Angesichts des normativen Geltungsanspruchs der Pseudo-Sentenz115 scheint eine Rechtfertigung des Verstoßes auf logisch-argumentativer Ebene unmöglich. Dem Erzähler gelingt es jedoch, Antikonîe zu rehabilitieren, indem er mit Blick auf das moralische Leitmotiv integrer kiusche, des vorbildlichen Fehlens aller Falschheit,116 als einzig denkbare Ausnahme der Regel die für die narrative Struktur des Parzival so wichtige Handlungsmotivation der triu­ we117 definiert und sie auf Antikonîe bezieht (sine tuoz dan durch ir triu­ we)  – und ihr damit kiusche bescheinigt, wenn er wie folgt fortsetzt: Studien zum Minnegedanken, 37. Aspekt des Rollentauschs vgl. McGerr, »Reversing Gender Roles«, 218 f.; Dallapiazza, »Plippalinots Tochter«, 93 f. 114  Vgl. dazu Schnell, »Vogeljagd und Liebe«, 260 f.; Emmerling, Geschlechterbeziehungen, 52. 115  Da die Stelle nicht die Kriterien für eine allgemeine Sentenz erfüllt, ist sie nicht aufgenommen im Thesaurus proverbiorum medii aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters, hg. Kuratorium Singer der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, begr. Samuel Singer, 13  Bde. u. Quellenverz., Berlin / New York 1995–2002, und bei Tomas Tomasek (Bearb.), Artusromane nach 1230, Gralromane, Tristanromane, in Zusammenarb. mit Hanno Rüther u. Heike Bismark unter Mitwirk. v. Jan Hallmann, Daniela Riegermann, Kerstin Rüther u. Manuela Schotte (Handbuch der Sentenzen und Sprichwörter im höfischen Roman des 12. und 13. Jahrhunderts 2), Berlin / New York 2009. Übergreifend zur Funktion gnomischer Mikrotexte im höfischen Roman s. Silvia Reuvekamp, Sprichwort und Sentenz im narrativen Kontext. Ein Beitrag zur Poetik des höfischen Romans, Berlin / New York 2007. 116  Diese Bedeutung der kiusche hat für den Parzival Mohr, »Parzival und Gawan«, 17 f., herausgearbeitet. Für Antikonîe vgl. auch Karl Kinzel, »Der Begriff der kiusche bei Wolfram von Eschenbach«, Zeitschrift für deutsche Philologie 18 (1886), 447–458, hier 453; ders., »Beiträge zur Erklärung«, 360, 364 f.; David Duckworth, »Herzeloyde and Antikonie. Some Aspekts Compared«, German Life and Letters 41 (1988), 332–341, hier 338–340. 117  Den zerstörerischen Aspekten der Minne wie Tod, Hass, Gewalt oder Krieg setzt Wolfram ein positives Minnekonzept entgegen, in dem die richtige Liebe auf 112  Boestfleisch, 113  Zum

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Antikonîen riuwe wart ze Schanfanzûn erzeiget unt ir hôher muot geneiget. in strît si sêre weinde: wol si daz bescheinde, daz friwentlîch liebe ist stæte. (Pz.  409,16–21)

Die stolze Antikonîe bricht während des Kampfs in Tränen aus, weil sie sich ihres normabweichenden Verhaltens bewusst ist und an der da­ raus resultierenden »entwürdigenden Lage«118 verzweifelt, zu der sie das falsche Handeln anderer gegen das Gastrecht zwingt.119 Die Königin befindet sich in einem Normenkonflikt zwischen der Erfüllung höfischer Rollenerwartung und dem Erfordernis der triuwe, das ihr neben ihrer persönlichen Zuneigung zu Gâwân (friwentlîch liebe) das Gastrecht120 abverlangt.121 Dass sie angesichts dessen mit der emotionalen Reaktion ­ihrem Eintreten für die triuwe zeichenhaft-symbolischen Ausdruck gibt, noch dazu unter Lebensgefahr, deutet der Erzähler als Beweis beständiger Liebe (stæte).122 In Wolframs Vergleich von Antikonîe mit den Fastnachtsfrauen erweist sich also ein bedeutsames tertium comparationis darin, dass kämpfende Frauen, gemessen an der sozialen Norm,123 die sogenannte verkehrte wahrer triuwe basiert, vgl. Bumke, Wolfram von Eschenbach, 7. Aufl., 114; Emmerling, Geschlechterbeziehungen, 49. 118  Ibid., 52. 119  Vgl. Kratz, Wolfram von Eschenbach’s Parzival, 330; Zutt, »Gawan und die Geschwister«, 110. Andere Interpretationsweisen deuten die Tränen als Ausdruck der Empörung Antikonîes über den ungerechtfertigten Angriff auf Gâwân und auf sie selbst (z. B. Christoph, Wolfram von Eschenbach’s Couples, 122; Clifton-Everest, »Wolfram und Statius«, 338) oder als Beweis für die Aufrichtigkeit ihrer Liebe zu Gâwân (Gibbs, Wîplîchez wîbes reht, 189). 120  Nachdem Vergulaht ihr Gâwân als Gast anempfohlen hat, ist die Königin für sein Wohlergehen verantwortlich, worauf sie sich später in ihrer Anklage gegenüber Vergulaht selbst beruft: den (sc. schilt) bôt ich für den ritter mîn, / den ir mir sandet da her în (Pz. 414,25 f.), vgl. auch Ziegeler, »der herzoge Liddamus«, 111. 121  Insofern ließe sich das Weinen der Königsschwester als »Grenzreaktion[ ]« im Sinne der anthropologischen Perspektive Helmuth Plessners beschreiben, nämlich durch Weinen in Krisensituationen der Diskrepanz zwischen dem Normenideal und dem unumgänglichen Unvermögen, mit diesem übereinzustimmen, zu begegnen. Vgl. Helmuth Plessner, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens [1941], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 7: Ausdruck und menschliche Natur, 1. Aufl., Frankfurt a. M. 1982, 201–387, hier 359–384 (Zitat 366). 122  Mit der (Antikonîes Tränen kommentierenden) Sentenz friwentlîch liebe ist stæte illustriert der Erzähler die anthropologische Regel, dass aufrichtige Zuneigung beständig ist. Vgl. Tomasek, Artusromane nach 1230, 168 f.



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Welt 123repräsentieren.124 So wie es allerdings zu Fastnacht eine temporäre Zeit der akzeptierten Lizenz gibt, diese Normengrenze zu überschreiten, Frauen also männliche Kämpferrollen übernehmen, lizenziert auch die besondere liminale Ausnahmesituation im Turm Antikonîe zur Devianz gegenüber der Rollenerwartung. In diesem Punkt besteht eine wichtige Funktion des Fastnachtsvergleichs. 3.  Handlungsmotivation Während die Partizipation Antikonîes an der verkehrten Welt aber durch triuwe in einer politischen Ausnahmesituation legitimiert ist, lässt sich für die Kauffrauen weder ein moralisch-intrinsischer noch ein politisch-äußerer Grund anführen. Ihre Handlungsmotivation ist ganz anders gelagert. Der adversative Hauptsatz wan si tuontz von gampelsiten / unde müent ân nôt ir lîp benennt zwei Merkmale, die gerade in ihrem Kontrast zu Antikonîes Handeln als entscheidende Propria der Fastnacht gelten dürfen. Der Dollnsteiner Brauch wird, so der erste Aspekt, nach Art eines ausgelassenen Scherz- oder Possenspiels, nämlich von gampelsiten, ausgeführt. Das zum starken Femininum gampel ›Scherz, Possenspiel, Spott‹, auch ›Gegenstand des Spiels, Spotts‹125 gebildete gampelsite gehört zu Wolframs eigenständig geprägten Komposita126 und bezeichnet allgemein das ›ausge123  Diejenigen Interpretationen, die Antikonîe eine positive Figurenzeichnung bescheinigen, betonen gelegentlich ihre Normenkonformität in Angelegenheiten der Minne, des Gastrechts und der politischen Entscheidung. Vgl. z. B. Zutt, »Gawan und die Geschwister«, 111; Emmerling, Geschlechterbeziehungen, 48 (»Dies bedeutet nicht, dass sie freimütig gegen sämtliche Normen verstößt. Ganz im Gegenteil – […] ist Antikonie die einzige in Schampfanzun, die ein ausgeprägtes Normbewusstsein besitzt«). 124  Bei diesem Verkehrungsprinzip geht es nicht darum, eine Utopie von maximaler Divergenz gegenüber den realen Bedingungen zu zeigen, sondern es geht darum, die Mechanismen der sozialen Ordnung gerade dadurch zur Anschauung zu bringen, dass geltende Normen und etablierte Hierarchien zeitweise außer Kraft gesetzt und dadurch fragwürdig gemacht werden. Zu diesem Deutungsmuster s. den Sammelband Dominik Fugger (Hg.), Verkehrte Welten? Forschungen zum Motiv der rituellen Inversion (Historische Zeitschrift, Beihefte N.F. 60), München 2013. 125  Lex  1,732; Mittelhochdeutsches Wörterbuch, im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen hg. Kurt Gärtner, Klaus Grubmüller, Karl Stackmann, bisher erschienen: Bd. 1 und Bd. 2, Doppellfg. 1 / 2, 3 / 4, Stuttgart 2009 ff. (im Folgenden ›MWB‹), 2,71. 126  Vgl. Edmund Wiessner, Harald Burger, »Die höfische Blütezeit« [Neufassung des Artikels von E. Wiessner], in: Friedrich Maurer, Heinz Rupp (Hgg.), Deutsche

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lassene Benehmen‹ oder die ›Spaßmacherei‹.127 Die präpositionale Wendung von gampelsiten wird in der Forschung, vermutlich unter der Prämisse, dass die Narrenkultur ein wesentliches Element der Fastnacht sei, gelegentlich mit »in närrischer Weise« (Bumke128) oder »(aus) Narretei« (Kühn129; Stapel130) übersetzt.131 Hält man sich an die Grundbedeutung ›Scherz, Spaßmacherei, Ausgelassenheit‹, darf dem Dollnsteiner Fastnachtsbrauch jedenfalls ein scherzhaft-unterhaltsames Moment zugebilligt werden.132 Dies wird durch den zweiten Aspekt unterstrichen, dass sich die Frauen ân nôt  – nämlich freiwillig und ohne zwingenden Grund  – ins Zeug legen. Der Zweck des Brauchs liegt demnach offenbar in sich selbst begründet, er ist selbstreferenziell: Bei aller Ernsthaftigkeit ihrer kämpferischen Agitation (s. o.) streiten die Frauen zum Spaß und als Spiel sowie zur Unterhaltung ihrer selbst und, so darf angenommen werden, zur Unterhaltung anderer.133 Ihre Fastnachtsaktivität, dies scheint der zentrale Aspekt zu sein, ist in der kulturellen Praxis als öffentlich inszenierte Geselligkeitsform mit gleichsam spielerischer Darbietung angelegt.

Wortgeschichte, 3  Bde. (Grundriß der germanischen Philo­logie  17,1–3), 3., neu bearb. Aufl., Berlin / New York 1971–1978, Bd. 1, 189–253, hier 224. – Die MHDBDBRecherche ergibt einen weiteren Beleg aus dem 15. Jh.: ettlicher durch sein schimpf des honlich lacht, / jahen: »er sagts et durch sein gampel siten!« (Ulrich Fuetrer, Lannzilet [Aus dem Buch der Abenteuer], Str. 1–1122, hg. Karl-Eckhard Lenk [Altdeutsche Textbibliothek 102], Tübingen 1989, v. 651,4 f.). Vgl. auch den Hinweis auf eine Pseudo-Neidhart-Stelle bei Martin, »Anmerkungen zum Parzival«, 324.  – Die mittelhochdeutsche Lexik hält daneben gampelgeile (MWB  2,71), gampelher (2,71; nur Pz.  520,29), gampelspil (2,71), gampelvuore (2,71), gampelvreude (2,71; nur JTit 6182,2) und gampelwîse (2,72) bereit. 127  Lex 1,732 (»ausgelassenes benehmen«); BMZ 3,325a (»das treiben von possen oder thorheiten, ausgelassenes benehmen«); MWB  2,71 (»ausgelassenes Benehmen, Spaßmacherei«); FrnhdWb  6,62 (»ausgelassenes Benehmen, Possenspiel«); Martin, »Anmerkungen zum Parzival«, 324 (»ausgelassenes Benehmen, Lust an Possen«). 128  Bumke, Wolfram von Eschenbach, 8. Aufl., 17. 129  Parzival, Bd. 1, 677. 130  Wolfram von Eschenbach, Parzival, in Prosa übertr. Wilhelm Stapel, Frankfurt a. M. / Berlin 1996, 210. 131  Vgl. auch San-Marte, Parcival, Bd. 2, 68 (»aus Narrensitten«); Holland, »Zu Wolframs Parzival«, 467 / 122 (»der Narrheit zu Liebe«). 132  So versteht Meisen, »Namen und Ursprung«, 16, die Wendung als »scherzhaftes Spiel«. 133  Zum Problem der Abgrenzung der als zweckfrei begriffenen kulturellen Kategorie des Spiels vom Ernst s. die Forschungspositionen bei Michael Roslon, Spielerische Rituale oder rituelle Spiele. Überlegungen zum Wandel zweier zentraler Begriffe der Sozialforschung (Theorie und Praxis der Diskursforschung), Wiesbaden 2017, 98, 125 f., 127, 130, 133, 143 f., 166.



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4. Komik Bumkes Ansicht, es handele sich in Dollnstein um »komische Kämpfe«, die zur Fastnacht aufgeführt würden,134 knüpft wohl an die Interpretation von gampelsite als ›Narretei‹ an. Die Auffassung kann aber außerdem ­infolge einer ›Rückübertragung‹ der vielfach als »komisch«135, »grotesk«136, »schwankhaft«,137 »burlesk«138 oder »karnevalesk«139 beurteilten Turm­ szene mit ihrem Schachbrettkampf sowie des Handelns Antikonîes als »berserkerhafte[n] Wüten[s]«140 auf die Dollnsteiner Fastnachtsbegehung entstanden sein. Denn wenn von der Komik des Fastnachtsvergleichs die Rede ist, wird in der Argumentationsrichtung nie so recht deutlich, ob entweder die vermeintliche Komik der Turmszene auf die Fastnacht in Dollnstein übertragen wird, bei der es sich dementsprechend nur um eine komische Fastnachtsbelustigung handeln könne, oder aber ob umgekehrt von der Annahme, dass prinzipiell jeder Fastnachtsaktivität und damit auch der Dollnsteiner Fastnacht das Moment der Komik zu eigen sei, auf die Turmszene geschlossen wird, die folglich die Aura des Komischen zeigen müsse, wenn der Fastnachtsvergleich tragen soll. Als erstes Argument für die Bewertung der Turmszene als komisch, grotesk, burlesk oder schwankhaft wird angeführt, dass Gâwân, statt als mustergültiger Ritter mit Schwert und Schild anzugreifen, lediglich mit unhöfischen, untauglichen Waffen ausgestattet und nurmehr in der unehrenhaften Verteidigungsposition sei, während es Antikonîe in Umkehrung der Geschlechterrolle übernehme, die Feinde niederzustrecken. Darin wird eine »Persiflage auf die Grundmotive des Ritterkampfes« gesehen.141 Dem ist erstens entgegenzuhalten, dass weder in der Vorlage Chrétiens noch in Heinrichs von dem Türlin Rezeptionsszene der Crône das Element des Schachspielkampfs als vordergründig komisch ausgestaltet ist.

134  Vgl. Bumke, Blutstropfen im Schnee, 146; ders, Wolfram von Eschenbach, 8. Aufl., 84. 135  Brüggen, Bumke, »Figuren-Lexikon«, 851, 876. 136  Huth, Dichterische Wahrheit, 105. 137  Eikelmann, »Schanpfanzun«, 262. 138  Hans Joachim Gernentz, »Der Ritter in seinem Verhältnis zur Gesellschaft im Parzival Wolframs von Eschenbach«, Weimarer Beiträge 12 (1966), 623–651, hier 641, Anm. 61; Emmerling, Geschlechterbeziehungen, 52. 139  Scheuer, »Schach auf Schanpfanzûn«, 35, bezogen auf das gesamte achte Buch. 140  Gernentz, »Der Ritter«, 641, Anm. 61. 141  Vgl. z.  B. Huth, Dichterische Wahrheit, 105; Gernentz, »Der Ritter«, 641, Anm. 61 (Zitat); Emmerling, Geschlechterbeziehungen, 52 f.

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Im Conte du Graal wählt Gauvain, von der damoisele mit einer der im Turm reichlich vorhandenen Rüstungen sowie mit seinem Schwert Escalibor gewappnet, selbst das Schachbrett als Schild und befördert die unbrauchbaren Schachsteine auf den Boden; später bewirft zunächst die Dame, dann auch Gauvain mit ihnen die Angreifer, die diesem Beschuss nicht standhalten und den Turm zu untergraben beginnen.142 In der Crône wird Gâwain, der mit seiner Gastgeberin Seimeret im palas beim Schachspiel sitzt, unerwartet von ihrem Bruder Angaras und seinen zwölf Rittern angegriffen, nachdem dieser in ihm den Brudermörder erkannt hat. Während Seimeret Angaras so umklammert, dass er nicht fortkann, vermag es Gâwain, alle Gegner mit dem Schachbrett aus dem palas zu schlagen, woraufhin Seimeret das Tor zum palas verriegelt und mit Gâwain auf den Turm flieht. Dem Vorhaben der Angreifer, das Tor einzurammen, gebietet Angaras und Seimerets Vater Einhalt.143

Zweitens nimmt Gâwân sehr wohl aktiv am Kampfgeschehen teil. Denn unmittelbar nach Entdeckung seiner Identität erfasst er scharfsinnig die heikle Lage in Bezug auf seine Waffenlosigkeit und bittet Antikonîe um Rat (nicht um Hilfe144), worauf sie, da Gâwân kaum Ortskenntnis besitzen dürfte, die Flucht in den Turm empfiehlt.145 Dort ist es Gâwân, der sich vor dem Turmtor den Angreifern entgegenstellt und sie mit dem aus der Turmmauer gerissenen eisernen Torriegel, seinem Schwertersatz, derart abwehrt, dass sie mehrmals zurückweichen müssen.146 Währenddessen begibt sich Antikonîe im Turm auf die Suche nach brauchbaren Waffen, stößt auf das Schachspiel, händigt das sehr groß geformte Brett Gâwân als Schild aus und benutzt selbst die Schachfiguren. Zwar wird Gâwân der ungewöhnliche Schild von den Feinden bald völlig zerhauen,147 doch schöpft er in kurzen Kampfpausen aus dem Anblick Antikonîes einen solchen Kampfesmut, dass es viele das Leben kostet.148 Und auch König Vergulaht erblickt bei seiner Rückkehr von der Jagd einen Kämpfer, der die Verteidigung standhaft hält, wie der Erzähler eigens betont.149 Erst als der König selbst am Kampf gegen ihn teilnimmt, muss Gâwân unter das Turmtor zurückweichen, was aber angesichts der Übermacht keine 142  CdG. 5882–5904,

6000–6013. von dem Türlin, Diu Crône. Kritische mittelhochdeutsche Leseausgabe mit Erläuterungen, hg. Gudrun Felder, Berlin / Boston 2012, v. 18796–18933. 144  Den für die Bewertung der Gâwân-Figur bedeutsamen Unterschied stellt Christoph, Wolfram von Eschenbach’s Couples, 121, heraus. 145  Pz. 407,22–30. 146  Pz. 408,10–15. 147  Pz. 408,27. 148  Pz. 410,5 f.10–12. 149  Pz. 410,13–20 (bes. 410,20). 143  Heinrich



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Schmach sei, wie auch hier hervorgehoben wird.150 Als schließlich Landgraf (und Burgherr) Kingrimursel ihm zu Hilfe eilt, kann Gâwân wieder Boden gut machen, und erneut betont der Erzähler seine Behendigkeit.151 Gâwân, in seiner Wappnung weit entfernt von einem Musterritter, schlägt sich also unter den gegebenen Bedingungen trotzdem hervorragend. Zumindest in der Turmszene ist die sonst »chimärisch« erscheinende Figur152 so angelegt, dass der Protagonist gerade angesichts der prekären Situation als mutiger, standhafter Kämpfer erscheint, obwohl er ursächliches »Teil des Problems«153 ist, worin eine Provokation des Ritterideals liegen mag. Das zweite, signifikantere Argument für die Komik der Turmszene lautet, dass die mit Schachfiguren werfende Antikonîe aus dem erwartbaren Horizont der Rollenerfüllung in deren Diskrepanzbereich ›kippt‹.154 Ohne Zweifel provoziert das Bild gerade einer rîche[n] küneginne in einer Kampfsituation sowie seine Engführung mit den koufwîp einen Kontrast, der auf der ›Textoberfläche‹ eine komische Wirkung erzielen kann. Aber entscheidend für die Frage, ob Antikonîe auch in der ›Tiefenstruktur‹ der Turmszene als komische Figur inszeniert wird, ist vielmehr die Bewertung des Fastnachtsvergleichs im Blick auf die Bestimmungsrichtung jener Komponente des tertium comparationis, die die Handlungsmotivation be­ trifft: Das scherzhafte Agieren von gampelsiten ohne äußeren Anlass lässt sich einerseits als ironisches Kontrastmoment auffassen, das gerade dadurch entsteht, dass die unter schwersten Bedingungen kämpfende Königin lediglich vor der Folie eines Scherzkampfs gesehen wird, nicht aber 150  Pz. 410,28–411,3. 151  Pz. 411,30–412,2. 152  Im Gesamtroman erscheint Gâwân einerseits als idealer Musterritter, andererseits werden schwerwiegende Vorwürfe des Mordes, der Vergewaltigung und des Verrats erhoben (vgl. z. B. Bumke: Blutstropfen, 159 f.; Scheuer, »Schach auf Schanpfanzûn«, 33–35). Zu Gâwân als chimärisch angelegter Figur mittelalterlicher Literatur s. Eva Bolta, Die Chimäre als dialektische Denkfigur im Artusroman. Mit exemplarischen Analysen von Teilen des Parzival Wolframs von Eschenbach, des Wigalois Wirnts von Grafenberg und der Crône Heinrichs von dem Türlin (Mikrokosmos 81), Frankfurt a. M. u. a. 2014, zum Parzival 195–203, 234 f. Die sich daraus ergebenden »Möglichkeiten […] für ein experimentierendes Erzählen […] quer zum Gerüst des doppelten Kursus« untersucht Sandra Linden, »Spielleiter hinter den Kulissen? Die Gawanfigur in Wolframs von Eschenbach Parzival«, in: Gisela Vollmann-Profe u. a. (Hgg.), Impulse und Resonanzen. Tübinger mediävistische Beiträge zum 80. Geburtstag von Walter Haug, Tübingen 2007, 151–166 (Zitat 152). – Ein ironisches Lachen über die Figur bescheinigt Seeber, Poetik des Lachens, 198–203, der GâwânHandlung, besonders im achten Buch. 153  Ibid., 201. 154  Vgl. z. B. Schnell, »Vogeljagd und Liebe«, 261; Ziegeler, »der herzoge Liddamus«, 110 f.

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vor jener anderer berühmter Kämpferinnen, etwa Camilla aus dem EneasStoff.155 Hier bleibt ein poetischer Überschuss, der als spöttische Relativierung der Antikonîe-Figur fungieren mag und eine Entlastung des Rezipienten zu einem Punkt der narrativen Ausgestaltung zum Ziel hat, an dem sich die Szene nach der folgenreichen Entdeckung der Liebesbeziehung dramatisch zuspitzt. Andererseits lässt es sich als kontrastives Analogiemoment begreifen, das den Ernst der existenzbedrohlichen Situation herausstellt, mit der sich Antikonîe unter enormer physischer und psychischer Belastung konfrontiert sieht. In dem Maße nämlich, in dem sich die Kauffrauen aus Vergnügen ihrem Unternehmen widmen können, ist Antikonîe in einer Notsituation zu einem unfreiwilligen Handeln auf Leben und Tod gegen ihre Verwandtschaft gezwungen. Hier fungiert der Hinweis auf die fastnächtliche Option zum gampelsite als nicht minder entlastende rezeptionslenkende Aufforderung zur Empathie. Welchem Verständnis der Rezipient folgt, hängt von der individuellen Interpretationsleistung ab. Wahrscheinlich  – und signifikant für Wolframs ambivalenten Erzählstil  – ist eine beständig hin und her wechselnde Überlagerung beider Alterna­ tiven nach dem Vexierbildprinzip, die eine eindeutige Zuschreibung erschwert oder gar unmöglich macht. Vor diesem Hintergrund aber legt sich eine ausschließlich ›schwankhafte‹ oder ›groteske‹ Lesart der Turmepisode nicht nahe. Selbst wenn man der These folgt, dass sich Wolfram beim Schachspielkampf mit der Reminiszenz auf die Dollnsteiner Fastnacht »der Technik bedient[  ], literarisches Geschehen durch Parallelisierung mit realen Orten und dortigen Gepflogenheiten zu ironisieren«156, oder dass er im Ortsnamen durch die Assoziation mit tol ›töricht, unsinnig‹ einen metaphorischen »Doppelsinn« konstruiert und daher den Kauffrauen »eine besondere Lust am Possenspiel an[dichtet]«157, scheint die Turmszene nicht darauf angelegt zu sein, 155  Beispielsweise wird Orgeluse mit Kamilla verglichen (Pz.  504,25); im Willehalm dienen Camille und Carpite als Vergleich für die kämpfende Gyburc (Wh. 229,26–30). 156  Bernhard Schmitz, »Nantes. Spielfelder der Handlung in Wolframs Parzival«, Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 133 (2004), 22–44, hier 33. 157  Rischert, Burg, 111. – Für die Herkunft des Ortsnamens liegen mehrere Erklärungsversuche vor (vgl. mit der Lit. ibid., 110 f.; Kreitmeir, Die Geschichte, 58): Während für das Grundwort, mhd. stein, die Bedeutung ›Stein, Fels‹, auch ›Burg‹, anzusetzen ist (Lex  2,1161–1163), gilt das Bestimmungswort als ungesichert: Aufgrund mundartlicher Merkmale wird der Bezug zu ahd. dalle, mhd. tâhele ›Dohle‹ (Lex 2,1396) ausgeschlossen (Carl August Böheimb, »Beschreibung und Geschichte des Marktes Dollenstein im Königlichen Landgerichte Eichstätt in Mittelfranken«, Jahresbericht des historischen Vereins in Mittelfranken 29 [1861], Beilage III, 81–106, hier 84 f.). Ausgehend von ahd. thôla, mhd. tol(e) ›Wasserstrom, -graben‹ (Lex 2,1459),



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eine burleske Szenerie zu entwerfen, die in erster Linie eine Lesart der Komik evoziere. Von der Turmszene kann somit für die Dollnsteiner Fastnacht nicht notwendig auf ›komische Kämpfe‹ geschlossen werden. Da das Wort gampelsite vielmehr den scherzhaft-spielerischen Charakter des Brauchs in Dollnstein betont, statt den Aspekt der Komik, sind auch umgekehrt nicht notwendig aus der Dollnsteiner Fastnacht komische Ereignisse im Turm zu folgern. Unberührt bleibt davon aber auch für die Dollnsteiner Fastnacht, dass fastnächtliches Handeln, das dem Scherz und der Unterhaltung dient, potenziell Momente der Komik zeigen kann. In dieser Perspektive wäre dann eigens zu untersuchen, ob der Hasenund Ameisenvergleich, mit denen der Fastnachtsvergleich im Modus ästhetischer Durchformung fortgeführt wird, nicht ebenfalls weniger komisch-ironischen Intentionen unterliegt, als bisweilen diskutiert wird. Angesichts der vielfältigen, letztlich unbefriedigenden Erklärungsansätze158 wurde ein noch in der Römerzeit am Altmühlübergang errichteter, archäologisch aber nicht nachweisbarer Wachturm angenommen (Joseph Plank, Archäologisch-topographischer Entwurf einer Geschichte des ehemaligen Bischof- und Fürstenthums Eichstädt, ursprünglich im Nordgau und in Ostfranken oder Frankonien, an der Westgränze von Bojoarien oder Altbayern zuletzt im Fränkischen Kreise gelegen, München 1859, 153). Auch bei der Erklärung »Steinhaus, Burg des Tollo« (WolfArmin von Reitzenstein, Lexikon bayerischer Ortsnamen. Herkunft und Bedeutung, 2., verb. u. erw. Aufl., München 1991, 104) findet sich für den Personennamen im Eichstätter Gebiet kein urkundlicher Nachweis. Ferner wird vom mhd. Adjektiv tol (eigtl. ›töricht, unsinnig‹) in der Bedeutung ›ausgezeichnet, stattlich, ansehnlich‹ (Lex 2,1458) auf den »tolle[n] Stein« geschlossen als Bezeichnung für den »aus dem Talgrund der Altmühl stattlich aufragende[n] Felsen, der eine ansehnliche Burg trägt« (Rischert, Burg, 111, mit der Lit.; zur frühestens für 1145 nachweisbaren Burg Dollnstein s. ibid., 103–113). 158  Mit Bezug auf Belege für den Ameisen- und Wespenvergleich in Kampfsituationen sowie für den Aspekt der Hässlichkeit beim Hasenvergleich hat Bostock die These formuliert, im Parzival zeigten die Vergleiche Wolframs Bissigkeit (»ferocity«) innerhalb eines wenig schmeichelhaften Figurenlobs (vgl. J[ohn] K[night] Bostock, »The Ant’s Waist: A Query«, Medium Aevum 25 [1956], 84 f., hier 85). Nellmann sieht die Vergleiche gegen Bostock »außerhalb jeder Tradition« und bezieht sie stattdessen auf Antikonîes Kleidung mit der speziellen Schnittführung, Schnürung und Gürtung der zeitgenössischen Mode (Nellmann, »Kommentar«, 648 f.), in der nach Brüggen das höfische Schönheitsideal von »schlanke[r] Taille und schmale[n] Hüften« zur Geltung komme, das Wolfram durch die Vergleiche ironisiere (vgl. Elke Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts [Euphorion, Beihefte 23], Heidelberg 1989, 74 f., Zitat 74). Gegenüber Mohr, der die Vergleiche als »groteske Einfälle« betrachtet (vgl. Mohr, »Landgraf Kingrimursel«, 27), und Schnell, der mit dem Hasenbild die bereits bei Ovid angelegte sexuelle Konnotation in Fortsetzung der auf Gawan bezogenen Jagdmetaphern verbindet (Hase für begehrtes Mädchen; vgl. Schnell, »Vogeljagd und Liebe«, 259 f., mit weiterer Lit.), geht Zutt für Hasen- und Ameisenvergleich von einem Schönheitspreis aus (vgl. Zutt, »Gawan und die Geschwister«, 110). Bereits Bumke nimmt unter Verweis

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wird in jüngerer Zeit unter Verweis auf den Humor als »historisch relative Kategorie« betont, dass sich das zeitgenössische Rezipientenverständnis der Vergleiche wohl schlicht nicht erschließen lässt und es eine offene Frage bleiben muss, »ob hier  – nach mittelalterlichem Verständnis  – bewußt metaphorische Kontrastpunkte gesetzt werden«159. Statt einer »Dekonstruktion von Bildlichkeit« zeige sich in den »krummen« Vergleichen vielmehr die Suche nach »innovativen Bildern, die seine [sc. Wolframs] literarischen Vorbilder noch nicht kannten«, denn »Antikonies Schönheit soll wirklich abgebildet werden, Gawans Verliebtheit soll geschildert […] werden«.160 Es geht vielleicht doch um einen ernstgemeinten Vergleich, der Antikonîes wohlgeformte Gestalt mit schlanker Taille und betonten Hüften, die auf Gâwân so anziehend wirkt, eindrücklich zu beschreiben sucht. Dem käme auch entgegen, dass die Ameise ein durchweg positiv auf die Wiederholung des Ameisenbildes bei der Graljungfrau Clârischanze in Pz. 806,26 (vgl. Anm. 37; dazu Bostock, »The Ant’s Waist«, 84) an, dass es sich um ein »Merkmal weiblicher Schönheit« handelt (vgl. Joachim Bumke, Die Wolfram von Eschenbach Forschung seit 1945. Bericht und Bibliographie, München 1970, 304), sieht im Hasenvergleich aber einen »komischen Verfremdungseffekt« (ders., Wolfram von Eschenbach, 8. Aufl., 223). Auch Madsen weist beide Vergleiche dem Funktionsbereich der Komik zu (Rainer Madsen, Die Gestaltung des Humors in den Werken Wolframs von Eschenbach. Untersuchungen zu Parzival und Willehalm, Bochum 1971, 121–123), und Bertau geht wegen der Reime nasen : hasen und gereizen : ameizen von einem Wortwitz (»Kalauer«) aus (Karl Bertau, Wolfram von Eschenbach. Neun Versuche über Subjektivität und Ursprünglichkeit in der Geschichte, München 1983, 74 f., Zitat 76). Emmerling erwägt, dass Hasen- und Ameisenvergleich durch die Beschreibung der Protagonistin Antigone im altfranzösischen Roman de Thèbes, insbesondere ihrer schmalen Taille, angeregt worden sein könnten (vgl. Emmerling, Geschlechterbeziehungen, 44, Anm. 32, mit Lit. zum Verhältnis des achten Buchs zum Thebenstoff). Vom »konkreten Hasen« und seiner Rolle in der Jagdmetaphorik wiederum geht Scheuble im Anschluss an Schnell und andere aus (Scheuble, Mannes manheit, vrouwen meister, 179 f., Anm. 89). Schmid assoziiert im Zusammenhang von Lüsternheit und Sexualität das Lendenstück des Hasen und das abgezogene Fell mit einem narrativen »Akt phallischer Aggression«; weil beide Tiervergleiche auf dem Verkehrungsprinzip beruhten, evozierten sie komische Effekte (Elisabeth Schmid, »Lüsternheit. Ein Körperkonzept im Artusroman«, in: Friedrich Wolfzettel [Hg.], Körperkonzepte im arthurischen Roman, Tübingen 2007, 131–147, hier 138–140, Zitat 140). Seeber begreift die Vergleiche deshalb als Ausweis einer rhetorischen Erzählerkompetenz, weil in ihnen das Ironieprinzip »gespielte[r] Ernsthaftigkeit […] gebrochen« und gerade dadurch die Kunstfertigkeit des Erzählers sichtbar werde (Seeber, Poetik des Lachens, 201). Koch empfiehlt, Wolframs »irritierende Vergleiche« als »Methode der Bildauflösung« zu verstehen (Susanne Koch, Wilde und verweigerte Bilder. Untersuchungen zur literarischen Medialität der Figur um 1200, Göttingen 2014, 162–167, Zitate 166 f.). 159  Hartmann, »Darstellungsmittel und Darstellungsformen«, 168. Zur Komik als (literar)historisch-anthropologischer Kategorie s. Seeber, Poetik des Lachens, 9–34. 160  Hartmann, »Darstellungsmittel und Darstellungsformen«, 169.



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konnotiertes Tier ist, das für tugend- und vorbildhaftes Verhalten steht,161 und dass der Hase in ikonographischer Tradition durchaus in positiven Konnex mit erotischem Begehren gestellt ist.162 Wenn nun im Fastnachtsvergleich zusammen mit dem nachfolgenden Bild harnasch-schmutziger Frauen die Aspekte von kiusche und militärischem Kampf enggeführt sind, knüpft dies an das in der sog. ›Selbst­ verteidigung‹163 und im Epilog zum sechsten Buch164 entwickelte Thema »Frauenlob des Erzählers«165 an. Denn in der ›Selbstverteidigung‹ entwirft der Erzähler für die Frauen, deren Hass er sich  – zu Unrecht, wie er beteuert  – zugezogen hat, das Bild der mit hurte seine Palisaden (hâmît) attackierenden Angreiferinnen; gegen sie gedenkt er mit ›kämpfender Abwehr‹ vorzugehen.166 ›Verkämpfen‹ will er sich als lobes kemphe jedoch 161  Zu den Narrativen der Ameise als positiv konnotierten Tiers s. Marion Darilek, »Von emsigen Ameisen und schlafenden Löwen. Zu narratio und moralisatio im Reinhart Fuchs«, in: Björn Reich, Christoph Schanze (Hgg.), narratio und moralisatio (Beiträge zur mediävistischen Erzählforschung, Themenheft 1), S. 15–51, OnlinePublikation: https: / / ojs.uni-oldenburg.de / ojs-3.1.0 / index.php / bme / article / view / 10 (22.06.2018), bes. 15–17, 36. Die Parzvial-Stelle nutze »die deutliche Segmentierung des Ameisenkörpers«, um Antikonîes »erotische Wirkung« auf Gâwân zu beschreiben, vgl. ibid.,17. 162  In der Metaphorik der Liebesjagd bezeichnet der Hase die Frau und deutet auf (männliches) sexuelles Verlangen hin, vgl. Birgit Gehrisch, ›Lepusculus domini, erotic hare, Meister Lampe‹. Zur Rolle des Hasen in der Kulturgeschichte, Wettenberg 2005, 135 f. Diesen Zusammenhang machen in besonderer Weise Minnekästchen mit Darstellungen des gejagten Hasen augenfällig. Hier zeigt der Bildtypus den gejagten oder am Jagdspieß hängenden Tierkörper mit gewölbter Brust und elegant-schmaler Rundung oder Streckung des Übergangs zu den Hinterläufen. Vgl. Jürgen Wurst, Reliquiare der Liebe. Das Münchner Minnekästchen und andere Minnekästchen aus dem deutschsprachigen Raum, Diss. München 2005 [Online-Publikation: http: /  / edoc. ub.uni-muenchen.de / archive / 00004623 / 01 / wurst %5Fjuergen %5Falexander.pdf; Zugriff: 20.03.2018], 316–325. Eigens erwähnt sei das Wilde-Leute-Kästchen (1460 / 70), dessen Deckel den Zug einer Jagdgesellschaft aus Wilden Leuten mit einer Dame auf einem Einhorn und mit zwei an ihren Hinterläufen am Spieß hängenden Hasen zeigt, vgl. ibid., 247, 419 (Abb. 74, Taf.  XXXXII; Wien, Kunsthistorisches Museum, Kunstkammer, Inv.-Nr. 118). 163  Pz.  114,28–115,4. Zur ›Selbstverteidigung‹ und ihrem poetologischen Programm samt Kritik an der Literaturform des Minnesangs s. (mit den wichtigsten Forschungspositionen) die Analyse von Christiane Ackermann, Im Spannungsfeld von Ich und Körper. Subjektivität im Parzival Wolframs von Eschenbach und im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein (Ordo 12), Köln / Weimar / Wien 2009, 121–132. 164  Pz. 337,1–30. 165  Nellmann, »Kommentar«, 516. 166  Pz. 114,21–28, bes. 26–28: doch sulen si sich vergâhen niht / mit hurte an mîn hâmît: / si vindent werlîchen strît. – Zur Deutung des Bildes als einer Metapher für das »Wortgefecht« s. Ackermann, Im Spannungsfeld von Ich und Körper, 126.

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für das Lob jener Frauen, deren Verhalten dem kiusche-Codex folgt,167 denn schließlich weiß er Frauen  – im Ritterdienst seiner Dichtkunst  – richtig zu beurteilen.168 Beide Frauen-Bilder, das der Kämpferin und das der idealen Frau, kulminieren insofern in positiver Weise in der AntikonîeFigur, als sich die Königin aus triuwe in den Kampf begibt. Vor diesem Hintergrund liest sich der Fastnachtsvergleich, der par excellence ein besonderes Beispiel für das Sprechen über Frauen demonstriert, und mit ihm der Hasen- und Ameisenvergleich, als poetologische Reflexion auf das programmatische Erzählen von Frauen.169 Wenn aber in der Logik dieses ›Erzähl‹-Prinzips jenen Frauen, die das kiusche-Ideal erfüllen, nurmehr lop auszusprechen ist, sind auch  – in der Erzählerposition  – die drei Vergleiche auf eine positive Bewertung Antikonîes trotz ihrer Grenzüberschreitung zu beziehen. 5. Politischer Konflikt Die Agitationsform des Kampfs per se wendet sich auf den Kontext des Konflikts. In der als zeitgeschichtlich verbürgt beigebrachten Dollnsteiner Fastnacht gestaltet er sich als spielerisch inszenierte Konkurrenz, in der fiktiven Verteidigungsszene des Romans als gleichsam kriegerische Auseinandersetzung. Denn der Aufruhr der Bürger von Schanpfanzûn ist in den schwerwiegenden politischen Konflikt um den Mord an Kingrisîn von Ascalûn, dem Vater Antikonîes und ihres Bruders, Königs Vergulaht, eingebettet.170 Auf der Tafelrunde von Plimizœl (sechstes Buch) hatte Landgraf Kingrimursel von Schanpfanzûn Gâwân zu Unrecht des Verbrechens bezichtigt und ihn zum Gerichtskampf in Schanpfanzûn herausgefordert.171 Der zornige Angriff der Bürgerwehr, der in erster Linie dadurch motiviert ist, dass man Gâwâns vermeintliche 167  swelhem

wîbe volget kiusche mite, / der lobes kemphe wil ich sîn (Pz. 115,2 f.). hân des niht vergezzen, / ine künne wol gemezzen (Pz. 114,29 f.). 169  Zu einer weiteren Bedingung des Erzählens von Frauen in Bezug auf Antikonîe (Pz. 404,7 f.) s. Emmerling, Geschlechterbeziehungen, 41. Ob auch der Hasenvergleich eine poetologische Referenz auf das Prologbild des hakenschlagenden Hasen (für uneindeutige Bilder und eine sinnoffene Art des Erzählens) bildet (Pz. 1,19), wäre eigens zu erörtern. 170  Grundsätzlich zum Konfliktverhalten in der mittelalterlichen Epik s. Klaus Ridder, »Kampfzorn. Affektivität und Gewalt in mittelalterlicher Epik«, in: Christa Bertelsmeier-Kierst, Christopher Young (Hgg.), Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität von 1200–1300. Cambridger Symposium 2001, Tübingen 2003, 221–248. 171  Pz. 319,20–324,30; 413,13–20. 168  ine



Zur Dollnsteiner Fastnacht im Parzival93 Identität als Mörder entdeckt hat, verstößt nicht nur gegen das Gastrecht, nachdem König Vergulaht auf der Beizjagd den fristgerecht in Ascalûn eintreffenden Gâwân noch unerkannt172 auf die Burg eingeladen hat, sondern auch gegen sein sicheres Geleit, für das Kingrimursel, der Burgherr, mit seiner êre bürgt.173 Deshalb sieht sich Kingrimursel verpflichtet, auf der Seite Gâwâns gegen seine eigene Streitkraft und gegen seinen König zu agieren, der, inzwischen von der Jagd zurückgekehrt, die Partei der Angreifer unterstützt. Als sich diese aber zunehmend weigert, gegen ihren Landgrafen die Waffen zu erheben, ruft der König den Frieden aus und berät sich mit seinen Fürsten über eine Alternative, Rache zu nehmen. Der Gerichtskampf wird schließlich um ein Jahr verschoben und Gâwân beauftragt, anstelle von Vergulaht, der kurz zuvor vom roten Ritter als Sicherheitsleistung die Gralsuche auferlegt bekommen hat, den Gral zu finden.

Manfred Eikelmann hat gezeigt, dass Wolfram im achten Buch eine Erzählwelt schafft, »die sich wesentlich über gesellschaftliche Konflikte formiert«174. Er ordnet das achte Buch in eine Gattungsentwicklung ein, in der »die Protagonistenhandlung des Artusromans durch eine komplexe Gesellschaftshandlung abgelöst wird«.175 Die gesellschaftlich-politische Ordnung des Königreichs Ascalûn zeigt sich aber als fragwürdig; Heinz Rupp sieht die Hofwelt »von einer falschen, kranken Ordnung« ›verletzt‹ und in ›Unordnung‹ gebracht.176 In Frage gestellt ist die Ordnung zum einen, weil König Vergulaht als »negative Herrscherfigur«177 entworfen ist, die in peinlicher Weise das Gast- und das Schutzrecht missachtet: Statt bei Gâwâns Ankunft den Fremden gemäß der Gastsitte zur Burg zu begleiten, zieht Vergulaht es vor, seinen Jagdausflug fortzusetzen; nach seiner Rückkehr kämpft er gegen den Gast, statt ihm beizustehen, wie es der in königlichem Namen zugesicherte Schutz erfordert hätte. Auch nimmt ­ Vergulaht es in Kauf, seine Schwester anzugreifen, in deren Obhut er den Gast gegeben hat. In Frage gestellt ist die Ordnung zum anderen, weil die Hofgesellschaft durch den krisenhaften »Gegensatz zwischen Königsmacht und Fürstenmacht«178 bestimmt ist: Landgraf Kingrimursel muss sich um 172  Zur Funktion des Inkognito-Motivs s. Zutt, »Gawan und die Geschwister«, 104 (im Anschluss an D[ennis] H[oward] Green, The Art of Recognition in Wolfram’s Parzival, Cambridge 1982, 142 f.); Bolta, Die Chimäre als dialektische Denkfigur, 196 mit Anm. 691. Entdeckung: Pz. 407,11–19. 173  Pz. 411,4–13; 412,18–24. 174  Eikelmann, »Schanpfanzun«, 248. 175  Ibid. Vgl. auch ibid., 259. Die ›Sonderstellung‹ des achten Buchs legt auch Ziegeler, »der herzoge Liddamus«, dar. 176  Vgl. Rupp, »Die Bedeutung der Gawan-Bücher«, 6. 177  Eikelmann, »Schanpfanzun«, 249. 178  Emmerling, Geschlechterbeziehungen, 40, im Anschluss an Mohr, »Landgraf Kingrimursel«, 33–38.

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der êre willen – seine Verpflichtung zu Loyalität missachtend – im Kampf gegen seinen König stellen, und in der Beratungsszene gipfelt der politische Konflikt in der Kontroverse zwischen Kingrimursel und Herzog Liddamus um die Geltung höfischer Werte, um die Bedeutung verwandtschaftlicher und Lehensbindungen und um das Ritterethos. Liddamus plädiert entgegen dem traditionellen höfischen Wertesystem für die sofortige Tötung Gâwâns, Kingrimursel dagegen im Sinne des alten ritterlichen Ethos für das Rechtsmittel des Zweikampfs.179 Ein zerstrittenes Ratgebergremium aber kennzeichnet einen schwachen, inkompetenten König, und so repräsentiert Vergulaht eine »ambivalente und in sich widersprüchliche Hofwelt«180, in der sogar, so lässt sich ergänzen, die Streitkraft gleichsam anarchisch agiert, wenn sie ohne königliche oder landgräfliche Erlaubnis die Waffen ergreift. Als symptomatisch für die Instabilität des feudalen Ordnungsgefüges erweist sich zudem bereits jener Umstand, dass Gâwân vom König und seinem Gefolge zu Unrecht für den Mörder des alten Königs gehalten wird. Die Übertragung der Königswürde vom Vater auf den Sohn steht ursächlich unter missverstandenen Zeichen, und deren falsche, negative Deutung hat fatale Folgen nicht nur für die Ausübung der Herrscher­ rolle – Vergulaht kann unter diesen Vorzeichen die Königsrolle nur unzureichend erfüllen  –, sondern auch für die innere Existenz des Hofes. Die Burg Schanpfanzûn ist aufgrund ihrer Lage am Meer gegen äußere Feinde, gegen militärische Bedrohung von außen, hervorragend geschützt.181 Sie gilt als die mächtigste Festung auf dem Erdreich,182 wie der Erzähler in seiner topographischen Beschreibung des Fleckens eigens betont. Dies ist jedoch keine Garantie gegen eine Bedrohung von innen, gegen die selbstgenerierte Gefährdung der politischen Ordnung durch einen Aufruhr innerhalb der Festung. Im Gegenteil: Äußere Sicherheit und innere Bedrohung scheinen antiproportional aufeinander bezogen zu sein. Im Blick auf die literarische Konstruktion der Raumwelt und die symbolische Raumdarstellung bildet der Burgturm, in den sich Gâwân und Antikonîe retten, einen Grenzraum. In ihm ist das Paar von der Burg­ 179  Zu den unterschiedlichen Vasallenmodellen und zugehörigen Konfliktlösungsvorstellungen, die Kingrimursel und Liddamus repräsentieren (»heroisch-kämp­ ferische[s] oder politisch-taktische[s] Verhalten« [Hartmann, »Darstellungsmittel und Darstellungsformen«, 200]), s. Eikelmann, »Schanpfanzun«, 260 f.; Ziegeler, »der herzoge Liddamus«, 113–116. 180  Eikelmann, »Schanpfanzun«, 252. 181  Pz. 399,21–24. 182  Pz. 403,15–20.



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gesellschaft räumlich isoliert und in der zugewiesenen Feindrolle zugleich gesellschaftlich ausgegrenzt. Der Kampf gestaltet sich als liminale Phase in einer Handlungsabfolge zwischen der »Heimlichkeit der spontan entstandenen Liebe und der Öffentlichkeit des politischen Konflikts‹.183 Ein konventionelles erprobtes Handlungsmuster gibt es für das Zurechtkommen in einem so qualifizierten Grenzbereich nicht. Der HandlungsspielRaum ist erst situativ, genauer: performativ, auszuloten, und so verwundert die Transformation eines Schachspiels, das per se eine zunächst ergebnisoffene Situation im Sinne des »rite de passage« darstellt,184 in Kampfwaffen nicht. 6. Symbolische Kommunikation Der Ernsthaftigkeit der kriegerischen Auseinandersetzung wird auf Ebene der symbolischen Kommunikation dadurch Ausdruck verliehen, dass Schachfiguren, die in ihrer originären Funktion dem spielerisch inszenierten Kampf um die Königsmacht dienen, nun die Waffen eines wirklichen Machtkampfs bilden.185 Rosemarie McGerr setzt in ihrer Deutung der Schachspielmetaphorik in der Turmszene bei der Schachkunst als traditionellem Symbol für die Liebeskunst an. Bezogen auf die erotische Szene in Antikonîes Kemenate, in der Gâwân seiner Gastgeberin den ungastlîch[en] (Pz.  405,21) Kuss abringt, sie mehrfach um Beischlaf bittet, was sie mehrfach ablehnt, ihr schließlich unter den Mantel greift, worauf sich in beiden das Liebesverlangen entfacht  – rückbezogen also auf diese Szene sei das Schachspiel 183  Vgl. Eikelmann, »Schanpfanzun«, 249 f.; Mireille Schnyder, »Erzählte Gewalt und Gewalt des Erzählten. Gewalt im deutschen höfischen Roman«, in: Manuel Braun, Cornelia Herberichs (Hgg.), Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen, München 2005, 365–379, 377, spricht von einem »›Grenzkrieg‹ zwischen öffentlichem und intimem Raum«. 184  Robert Auty, Robert-Henri Bautier, Norbert Angermann (Hgg.), Lexikon des Mittelalters, 9  Bde. u. Registerbd., München u. a. 1980–1999 (im Folgenden ›LexMa‹), Bd. 7 (1995), 1429. Vgl. auch Walter Haug, »Der Artusritter gegen das magische Schachbrett oder Das Spiel, bei dem man immer verliert«, in: ders. (Hg.), Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters, Tübingen 1990, 672–686, hier 675, zur Funktion von Schachpartien in der matière de Bretagne, als »Schwellensymbole« den »Übergang zwischen den zwei Bereichen, in denen die Handlung spielt«, zu markieren. In mythologischer Perspektive beschreibt dies Scheuer, »Schach auf Schanpfanzûn«, 44, als Übergang »zwischen Welt und Anderwelt«. 185  Vgl. ähnlich Tax, »Die Liebe zwischen Gawan und Antikonie«, 712.

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eine Metapher für den ›Liebeskampf‹ zwischen den beiden Protagonisten und stehe für ihre Auseinandersetzung (»difference«). Bezogen auf die Verteidigung gegen Vergulahts Mannschaft hingegen zeige das Schachspiel ihre Einigkeit (»unity«) an. Hier symbolisiere das Schachbrett, das Antikonîe Gâwân als Schutzschild überreicht, ihre weibliche Reinheit (»female virginity«) in Ergänzung zu dem phallischen Türriegel (»phallic bolt«), mit dem er sich selbst bewaffnet.186 In diesem Sinne bringe das Schwarz-Weiß der Schachfelder das Thema der vereinten Gegensätze (»unified oppos­ ites«) zum Ausdruck, das bereits die programmatische Farbsymbolik im Prologbild von der Finsternis und Helligkeit der menschlichen Seele187 sowie in der Haut des Feirefiz zeige.188 Albrecht Classen zufolge zeigen die vom Schachbrett, ihrem angestammtem Ort, entfernten und nun fliegenden Steine, dass sich die Mitglieder der Gesellschaft, die sie symbolisieren, außerhalb ihrer inneren Ordnung befinden und den Regeln des Chaos unterstünden. Er interpretiert die Schachmetapher als Beschreibungsform für eine scheinheilige, gegen ihre eigenen Mitglieder aggressiv agierende Hofgesellschaft und sieht in Antikonîe die Spielfigur der ›Königin‹ und in Gâwân den ›Läufer‹ identifiziert, in den herandrängenden Stadtbewohnern die ›Bauern‹.189 In dieser Perspektive begreift Hans Jürgen Scheuer sogar das gesamte Tableau der Romanfiguren im achten Buch als die spezifische Aufstellung von Spielfiguren mit einer spezifischen Bewegungskonstellation historischer Zugweisen in einer Schachpartie, die mit dem verspäteten Erscheinen Vergulahts (Königssprung) und dem ›Sprung‹ Kingrimursels an Gâwâns Seite wider die eigene Königsmacht zwei kritische Spielwendungen nehme und, durchkreuzt von dem wenig geradlinig ziehenden Läufer Liddamus, schließlich in einer Pattstellung ende. Scheuer vollzieht das Handeln der literarischen Figuren, im sechsten Buch mit dem Auftritt Kingrimursels 186  Vgl. McGerr, »Reversing Gender Roles«, 218. »[S]exualpsychologische[ ] Assoziationen« bescheinigt auch Hermann Reichert, Wolfram von Eschenbach. Parzival für Anfänger, 3., völlig überarb. Aufl., Wien 2017, 138, der Szene. 187  der unstæte geselle / hât die swarzen varwe gar, / und wirt och nâch der vinster var: / sô habet sich an die blanken / der mit stæten gedanken (Pz. 1,10–14). 188  Vgl. McGerr, »Reversing Gender Roles«, 223. 189  Albrecht Classen, »Chess in Medieval German Literature: A Mirrow of So­ cial-Historical and Cultural, Religious, Ethical, and Moral Conditions«, in: Da­ niel E. O’Sullivan (Hg.), Chess in the Middle Ages and Early Modern Age. A Fundamental Thought Paradigm of the Premodern World (Fundamentals of Medieval and Early Modern Culture  10), Berlin / Boston 2012, 17–44, hier 24–26. Classen entwickelt die These im Anschluss an Renate Decke-Cornill, Stellenkommentar zum III. Buch des Willehalm Wolframs von Eschenbach (Marburger Studien zur Germanistik 7), Marburg 1985, 190–192.

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am Artushof, dem Eröffnungszug, einsetzend, als »taktische Variante der Schacherzählung« nach, und perspektiviert bislang Verständnisprobleme bereitende Aktionen  – etwa Gâwâns sexuelle Zudringlichkeit und Vergulahts anfängliche Immobilität  – als spiellogische Notwendigkeit.190 Indem Wolfram Chrétiens »Schematik des Märchens« durch die »Diagrammatik des Schachspiels« ersetze, ohne allerdings die formale Einheit der Narration aufzulösen oder die mimetische Abbildung einer bestimmten Schachvariante anzustreben, bediene er sich der »Logik des Exempels«. Mit dem achten Buch gebe er »ein Beispiel exemplarischen Erzählens«, um in einer Gesellschaftsordnung, die um 1200 für das »Freund-Feind-Schema« noch keine institutionell verankerten Ordnungsinstanzen mit abrufbaren Verfahren der Konfliktlösung kennt, die disziplinierende, gewaltlimitierende Option sprachlichen Handelns aufzuzeigen, »Lösungsmodelle von Fall zu Fall erzählend zu entwickeln«.191 Lutz Huth weist wiederum auf die zeitgenössische Vorstellung hin, vom Ausgang einer Schachpartie wichtige Entscheidungen abhängig zu machen.192 Im Epos Salman und Morolf etwa macht Morolf seinen Kopf, d. h. sein eigenes Leben, zum Spieleinsatz gegen 30 Goldmark, königlichen Geleitschutz und das schönste Mädchen,193 und auch in mehreren Erzählungen der Chansons de geste »fungiert eine Schachszene als Paradigma einer Konfliktsituation.«194 Huth folgert, bei der Einbindung des Schachspiels in die Turmszene werde nicht nur das Schachspiel »gröblichst missbraucht«, sondern auch die Vorstellung von der Konfliktentscheidung »per­vertiert«.195 Den verschiedenen Ansätzen lässt sich eine Interpretation hinzufügen, die von einer produktiven ›Perversion‹ des Spiels ausgeht. In der Turm­ episode kehrt sich die spielerisch-inszenatorisch herbeigeführte Entscheidung des Schachspiels um in den Versuch Antikonîes und Gâwâns, mit gleichsam ›realer‹ Waffengewalt eine kriegerische Entscheidung herbeizu190  Vgl.

Scheuer, »Schach auf Schanpfanzûn«, 38–44 (Zitat 40). ibid., 44 f. 192  Vgl. Huth, Dichterische Wahrheit, 105, Anm. 121. 193  Salman und Morolf, hg. Alfred Karnein (Altdeutsche Textbibliothek 85), Tübingen 1979, v. 225,1–251,2. Morolf gewinnt die Partie mit Hilfe eines Fingerringes, der seine Gegnerin, Königin Salme, ablenkt. Zur Schachszene und ihrer Einbettung in den übergreifenden Konflikt zwischen Morolf und der Königin s. Sabine Griese, Salomon und Markolf. Ein literarischer Komplex im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Studien zu Überlieferung und Interpretation (Hermaea N.F. 81), Tübingen 1999, 115–120. 194  LexMa, Bd. 7 (1995), 1429. 195  Huth, Dichterische Wahrheit, 105, Anm. 121. 191  Vgl.

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führen. Die ungewöhnliche Waffenwahl verleiht auch der Turmszene einen inszenatorischen Charakter, doch ist in ihr die spielerische Komponente des symbolisch-repräsentativen Kriegsspiels im Schach zurückgenommen zugunsten der real-kriegerischen Konfliktaustragung. Das Prinzip, dass die inszenatorische Spielaustragung in eine reale gewaltsame Auseinandersetzung umschlagen kann,196 dient in anderen Erzählungen ganz explizit der dramatischen Konfliktzuspitzung, wenn wie im Ritterroman Guy of Warwick die beiden Schachpartner den spielerischen Rahmen der Partie verlassen, indem sie sich mit den Schachfiguren ins Gesicht schlagen und unter dem Schachbrett zu Tode kommen.197 Die Transformation der Schachfiguren in kriegerische Geschosse und die des Schachbretts in ein Kampfschild sind nicht minder zeichenhaftes Element einer sozial relevanten symbolischen Handlung, wenn man berücksichtigt, dass das Kriegsspiel Schach auf die höfische und seit dem 13.  Jh. auf die gesamte mittelalterliche Gesellschaft übertragen wurde.198 Der (allegorischen) Darstellung der Gesellschaft auf dem Schachbrett dienten häufig große, repräsentative Figuren im Unterschied zu den klei196  Den Aspekt der »Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung« betont für die Verwendung des Schachspiels in der Turmszene auch Volker Honemann, »Das Schachspiel in der deutschen Literatur des Mittelalters. Zur Funktion des Schachmotivs und der Schachmetaphorik«, in: Gerd Althoff (Hg.), Zeichen – Rituale – Werte. Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereichs  496 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, unter Mitarb. v. Christiane Witthöfft (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des SFB 496 3), 1. Aufl., Münster 2004, 363–383, hier 374. 197  Vgl. Megan G. Leitch, »Ritual, Revenge and the Politics of Chess in Medieval Romance«, in: Nicholas Perkins (Hg.), Medieval Romance and Material Culture (Studies in Medieval Romance [18]), Cambridge 2015, 129–146, hier 129 (mit weiteren Belegen); Nachweise ferner bei Honemann, »Das Schachspiel in der deutschen Literatur des Mittelalters«, 379. 198  Vgl. LexMa, Bd. 7 (1995), 1427; Anežka Vidmanová, »Die mittelalterliche Gesellschaft im Lichte des Schachspiels«, in: Albert Zimmermann (Hg.), Soziale Ordnungen im Selbstverständnis des Mittelalters, für den Druck besorgt Gudrun Vuillemin-Diem (Miscellanea mediaevalia  12,2), Berlin 1979–1980, 323–335; Honemann, »Das Schachspiel in der deutschen Literatur des Mittelalters«, 375–378; Heike Bierschwale, Oliver Plessow, »Schachbrett, Körper, Räderwerk. Verräumlichte Gesellschaftsmetaphorik im Spätmittelalter«, in: Christoph Dartmann, Marian Füssel, ­Stephanie Rüther (Hgg.), Raum und Konflikt. Zur symbolischen Konstituierung gesellschaftlicher Ordnung in Mittelalter und Früher Neuzeit (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des SFB  496  5), Münster 2004, 59–81, hier 62–70 (mit weiterer Lit.); Volker Honemann, »Der Beitrag der mittelalterlichen Schachtraktate zur Beschreibung und Deutung der menschlichen Gesellschaft«, in: Olle Ferm, Volker Honemann (Hgg.), Chess and Allegory in the Middle Ages, in collaboration with Gösta Hedegård, Maren Jönsson, Bridget Morris (Sällskapet Runica et Mediaevalia, Scripta minora 12), Stockholm 2005, 37–56.

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nen und leichten Gebrauchssteinen, mit denen die Schachpartien durchgeführt wurden.199 Wenn nun der Erzähler ausdrücklich erwähnt, dass es sich bei den Schachsteinen, die Antikonîe im Turm findet, um große und schwere Figuren handelt (grôz und swære, Pz.  409,1)  – bei Chrétien sind sie sogar zehnmal größer als üblich200  –, zielt dies zuvorderst darauf, die Eignung der Schachfiguren als wuchtiger Wurfgeschosse plausibel zu machen.201 Dass sie darüber aber auch das äußere Merkmal jener Steine zeigen, die für die repräsentative Darstellung des gesellschaftlichen Gefüges vorgesehen waren, kann als rezeptionslenkendes Signal gesehen werden, die Ereignisse vor der Folie der in Schanpfanzûn bestehenden Gesellschaftsordnung zu sehen. Aber auch unabhängig vom Aspekt der Größe transformiert Antikonîe die Miniatursymbole höfischer Gesellschaft gerade in solche Waffen, die in einem realen Konflikt um die Geltung der Werte ebendieser höfischen Gesellschaft zum Einsatz kommen. Wenn zudem das Schachbrett im Kampf vollständig zerhauen wird,202 das symbolische Gesellschaftsfundament mithin nur wenig zu stützen vermag, symbolisieren die Waffentransformate schließlich die Fragilität dieser Gesellschaftsordnung. Denn nur in einer desolaten Gesellschaft ist eine gegen sie selbst gerichtete dekonstruierende Uminterpretation ihrer konstitutiven symbolischen Zeichen nötig. Im konkreten Fall demonstriert Antikonîe mit dem gewaltsamen Gebrauch des Schachspiels nicht nur die Fragilität der Ordnung am Hof ihres Bruders, sondern stellt dafür auch den geeigneten performativen Aufführungsrahmen her: Das Schachspiel zu erlernen, war Element adliger Erziehung für Männer und Frauen gleichermaßen.203 Für die Königin darf 199  Vgl.

LexMa, Bd. 7 (1995), 1427 f. besondere Größe der Schachfiguren findet sich bereits bei Chrétien de Troyes: Lors versa les eschés a terre: / D’ivoire furent, dis tans gros / Que autre ­eskec, de plus dur os (CdG.  5896–6898).  – Zur Deutung des Schachspielkampfs im Conte du Graal im Blick auf spezifische politische Risse s. Leitch, »Ritual, Revenge and the Politics of Chess«, 134 f. 201  Im Dresdener Exemplar der Inkunabel W (vgl. Anm. 37) hat eine Hand des 16. oder 17.  Jhs. ebenjene Verse, die von Antikonîes Wurf mit den Schachfiguren berichten (Pz.  408,29–409,4), unterstrichen und am unteren Blattrand ergänzt, dass aus ihrer Größe eine tödliche Wirkung resultiere: sÿ mochten so groß sein gewesen / sie sollte ein wol erworfen (›durch einen Wurf getötet‹) haben (Bl. 80r). Zu dieser Hand s. Viehhauser-Mery, Die Parzival-Überlieferung, 477. 202  Pz. 408,25–27. 203  Wilhelm Wackernagel, »Das Schachspiel im Mittelalter«, in: ders., Kleinere Schriften, Bd. 1, Leipzig 1872, 107–127, hier 113, 118 f.; Joachim Petzold, Das königliche Spiel. Die Kulturgeschichte des Schach, mit einem Geleitwort v. Lothar Schmid, Stuttgart / Leipzig 1987, 95 f. 200  Die

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demnach die Beherrschung des Schachreglements sowie das Wissen um  seine gesellschaftsabbildende und ein elitäres gemeinschaftsstiftendes Selbst­ verständnis erzeugende Funktion ebenso vorausgesetzt werden204 wie für ihre Feinde im realen Krieg um den Turm. Indem Antikonîe die Spielfiguren aus ihrer Funktionsbindung an ihr originäres Regelsetting löst, führt sie zeichenhaft die chaotische Entfremdung der Hof-familia in der politischen Praxis von ihrem Regelcodex und seiner Verbindlichkeit vor. Sie nutzt nun sowohl das Wissen um die dem Schachspiel eigene Funktion, Ordnung abzubilden und zu bestätigen, als auch um die im Abbildungsvorgang immer mit angelegte Option, Ordnung zu relativieren. Mit ihrer Transformation gerade des in seiner stabilisierenden Gesellschaftsfunktion so bedeutsamen Schachspiels zielt Antikonîe daher auf die kalkulierte Durchsetzung der Intention, den gegnerischen ›Mitspielern‹ mit Hilfe der Zeichenrelation von Schachspiel, Hofgesellschaft und Normendiskursivierung die existenzgefährdende Destruktivität und insofern die bedrohliche Unangemessenheit ihres agitatorischen Handelns vor Augen zu führen. Die Reflexion dieses sozialen Prozesses erfordert den präsenten, sichtbaren Vollzug des Handelns in gesellschaftlicher Interak­ tion, für den die Turmszene die probate ›Bühne‹ bildet. Auf dieser Bühne bedient sich Antikonîe ganz bewusst der Mechanismen symbolischer Kommunikation. Dazu gehört auch, dass sie bei der Transformation der Wurfgeschosse selbst gleichsam als symbolisch-zeichenhaftes Katapult fungiert, mithin als hohe Dame, der hier die Determination sozialer Reflexion sowie ihr kommunikativer Vollzug zukommt. Indem auf metaphorischer Ebene die ›Königin‹, im mittelalterlichen Schach die zweitschwächste Figur,205 sogar die wichtigsten Spielsteine, ›König‹ und ›Roch‹ (künec oder roch)206, dem Ordnungskomplex des Schachs (gegenständlich) zu entfernen vermag, bezieht sich die zeichenhafte Vermittlung der ›fliegenden Steine‹ zuvorderst auf die herrschenden Personen der Hofgesellschaft, deren ordnungsbedrohendes Agieren in der Regellosigkeit 204  Vgl. auch etwa die Königin Salme in Salman und Morolf (vgl. Anm. 193) oder Gaweins Spielpartnerin Seimeret in der Crône (vgl. Anm. 143). 205  Vgl. Ursula Katzmeier, Das Schachspiel des Mittelalters als Strukturprinzip des Erec-Romans (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), Heidelberg 1989, 55. Zur genderbezogenen Rolle der ›Königin‹ in mittelalterlichen Schachzabelbüchern s. Maren Jönsson, »Von tugendhaften Königinnen und neugierigen Ehefrauen. Weib­ liche Genderentwürfe in deutsch- und schwedischsprachigen Schachzabelbüchern«, in: Ferm, Honemann (Hgg.), Chess and Allegory, 217–279. 206  Pz. 408,29. In dieser Perspektive erscheint das Adverb doch (408,30) nicht so sehr auf Antikonîes Stärke (s. o.), sondern auf die Hierarchie der Figuren im Schachspiel bezogen. Zu den beiden Figuren ›König‹ und ›Roch‹ s. Katzmeier, Das Schachspiel des Mittelalters, 45 f., 71 f.



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sie zugleich metaphorisch anzeigt.207 Damit gerät das Schachspiel zum Medium einerseits für die desaströsen Folgen der gesellschaftlichen Auflösung politischer Regeln (Hofgesellschaft) und andererseits für individuelles, souveränes kulturelles Handeln gegen das Setting normativer Regeln (Antikonîe)  – dies im Unterschied zu der gattungsbedingt vielfach stabilisierenden Symbolwirkung des Schachspiels im mittelalterlichen Roman bei Themen von Kampf, Minne, Tod oder Gesellschaftsdeutung.208 Wolfram rekurriert in der Turmszene nun auf ein solches Feld kultureller Praktiken und ebenso auf deren Potenzial für zeichenhafte Aktionen, indem er durch seinen Fastnachtsvergleich vorführt, inwiefern theatrale und rituelle Inszenierungen als Element der symbolischen Kommunikation zu begreifen sind: Zwar ist das Werfen mit Schachfiguren weder auf einen spezifischen Fest- oder Brauchanlass bezogen, wie dies bei dem fastnächtlichen Kampfspiel der Fall ist, noch unterliegt es einem rituell vorgegebenen Reglement, an welches das Kampfspiel freilich gebunden sein dürfte. Auch erfolgt es gerade nicht ân nôt, sondern gleichsam unfreiwillig, aber immerhin »zu einem noblen Zweck«.209 Und schließlich geht es bei einem fastnächtlichen Schaukampf um repräsentative Machtverhandlungen, im Kampf der Turmepisode dagegen um eine Konflikt­ austragung von unmittelbarer existenzieller Relevanz. Aber der Verweis auf die kämpferisch-inszenatorischen Vollzugsformen der Fastnacht erfolgt ganz gezielt im Zusammenhang mit der prekären Ent- und Umfunktionalisierung jenes Spiels, das als ordnungssetzendes Spiel schlechthin gilt. Dadurch erhält die Fastnacht unweigerlich eine ordnungszer­ 207  Es läge nahe, die metaphorische Lesart auch auf die äußere Architektur der Szene, das verteidigte bzw. bestürmte Turmgebäude, auszuweiten. Allerdings wäre zu klären, ob hier für die Deutung des roch bereits die Veränderung anzusetzen ist, welche die gegenständliche Darstellung vom ›Streitwagen‹ im persischen Schach und z. B. des ›Gefährts‹ und dann des ›Wächters‹ (auch die ›Ritterfront‹) im europäischen Hochmittelalter und sodann zur ›Festung‹ oder zum ›Schloss‹ vollzieht (heute: ›Turm‹). Vgl. dazu Barbara Holländer, »Transfer und Transformation von Wörtern und Sachen. Schachtexte und Schachfiguren des 10.–12. Jahrhunderts«, in: Ernst Strouhal (Hg.), Vom Wesir zur Dame. Kulturelle Regeln, ihr Zwang und ihre Brüchigkeit. Über kulturelle Transformationen am Beispiel des Schachspiels, Wien 1995, 123–146, passim; LexMA, Bd. 7 (1995), 1429. Vgl. ferner Hans Holländer, »Ein Spiel aus dem Osten«, in: Odilo Engels, Peter Schreiner (Hgg.), Die Begegnung des Westens mit dem Osten. Kongreßakten des 4.  Symposions des Mediävistenverbandes in Köln 1991 aus Anlaß des 1000.  Todesjahres der Kaiserin Theophanu, Sigmaringen 1993, 389–416. 208  Die verschiedenen thematischen Komplexe des Schachmotivs zeigt Honemann, »Das Schachspiel in der deutschen Literatur des Mittelalters«, auf. Vgl. auch Classen, »Chess in Medieval German Literature«. 209  Curschmann, »Das Abenteuer des Erzählens«, 664.

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setzende Konnotation. Indem nun, so verstanden, die Schachmetapher und der Fastnachtsverweis korrelativ zusammenführt werden, wird eine gesteigerte metaphorische Spannung erzeugt, die in der erzählerischen ­ Wirklichkeit auszuagieren ist: Sowohl der Handlungsmodus der Normentransgression als auch der dafür genutzte Durchführungs- und zugleich Wahrnehmungsrahmen des öffentlichen Auftritts erlauben es Antikonîe, zum einen für ihre leidenschaftliche Liebe zu Gâwân Geltungsanspruch zu artikulieren210 und zum anderen anzuzeigen, dass die Ordnung der Hofgesellschaft durch den Verstoß gegen das Gast- und Geleitrecht in Frage steht. Gerade weil Antikonîes Streitbarkeit die soziale Norm überschreitet, gerät die Dame zur Akteurin einer sozial wirksamen kommunikativen Handlung. Ebenso gerät das Werfen mit Schachfiguren zu einem transformatorischen und performativen sozialen Akt, der, will er als solcher wirksam sein, stets auf die Performanzsituation der Aufführung verwiesen ist. In der erzählten Wirklichkeit wählt Antikonîe notwendigerweise den kriegerischen Konflikt am Turm als ›Aufführungssituation‹. In der Erzählerperspektive wiederum ist diese gleichsam als szenischer Vorgang, als dramatisch-theatrale Schauszene gestaltet, die den Rezipienten zur poetologischen Reflexion auf die Bedingungen literarischer Performanz anleitet. Trotz der nicht zu verleugnenden Erzählhaltung, in der die Figur Antikonîes in einer »ästhetisierenden Distanz«211 erscheint, entwerfen die kulturgeschichtlichen Parameter in Wolframs Vergleich mit den Frauen der Dollnsteiner Fastnacht ein um die Bedingungen symbolischer Kommunikation und transformatorischer sozialer Praktiken ausdifferenziertes Figurenbild jenseits des Problems seiner Ambivalenz. IV. Mit Blick auf die Bedeutung der Parzival-Stelle für die Frage nach der Geschichte der Fastnacht ist festzuhalten, dass Wolfram aufgrund der nurmehr beiläufig erfolgten Anspielung auf die Dollnsteiner Fastnacht bei dem von ihm angezielten Rezipientenkreis die allgemeine Bekanntheit dieser Fest- und Brauchbegehung und wahrscheinlich auch ihre lokale 210  Emmerling, Geschlechterbeziehungen, 49, betont als eines der entscheidenden Figurenmerkmale Antikonîes, die für Wolframs neues Weiblichkeitskonzept konstitutiv seien, dass sie »für ihre Unabhängigkeit in Liebesdingen eintritt«. Zur spezifisch emotionalen Minnebindung zwischen ihr und Gâwân s. ibid., 44 f., 46. 211  Mireille Schnyder, »Erzählte Gewalt«, 378. Vgl. auch Bumke, Wolfram von Eschenbach, 8. Aufl., 84.



Zur Dollnsteiner Fastnacht im Parzival103

Bindung an den eher kleinen Marktflecken Dollnstein212 voraussetzen durfte. Demnach war Fastnacht zu Beginn des 13. Jhs. ein bereits etabliertes Fest. Aus der Parzival-Stelle und ihrem Kontext des achten Buchs lassen sich nun folgende Merkmale der Fastnacht abstrahieren: – Teilnehmer und Träger der Fastnacht sind bestimmte soziale Gruppen, darunter Frauen, die in spezifischen selbstreferenziellen Brauchformen agieren. – Fastnacht ist auf den Modus der Aufführung angewiesen, und zwar insofern, als Akteure das soziale Handeln anderer wahrnehmen und betrachten. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn dieses Handeln dem Bereich der ästhetisch-kulturellen Agitation mit Formen demonstrativritueller oder spielerisch-theatraler Handlung zugehört. – Fastnacht als einem Durchführungsrahmen für Spiel und Unterhaltung, aber auch Komik und Groteske, ist ein Selbstzweck inhärent. Fastnacht findet in der spielerischen Inszenierung ihren Darstellungs- und im Prinzip der verkehrten Welt ihren Deutungsrahmen. – Fastnacht birgt das Potenzial zur Normentransgression. Die spielerisch inszenierte Entgrenzung kann in die reale Entgrenzung umschlagen, und Konfliktsituationen können dieses Kipp-Phänomen befördern. Fastnacht fungiert als Katalysator für soziale Spannungen. – Sozialer Referenzrahmen fastnächtlicher Handlungen und ihrer Sinnbildung ist die Ordnung der Gesellschaft, namentlich in ihrem hierarchisch-politischen, aber auch in ihrem sozialen und kulturellen Gefüge. Aufgrund ihres Transgressionspotenzials vermögen es fastnächtliche Handlungen, die Mechanismen instabiler Ordnungsgefüge im Modus symbolischer Kommunikation aufzuzeigen. Diese Merkmale sind ihrerseits relevant für das Verständnis der Turmszene. Abschließend sei daher der Vorschlag formuliert, die Bewertung der Szene hinsichtlich ihrer Komik umzuakzentuieren. Die abstrahierten Merkmale machen deutlich, dass die Fastnachtsreminiszenz im achten Buch primär die sozialen Aspekte fastnächtlichen Handelns und seines 212  In der späteren Überlieferung weicht der Ortsname mitunter ab: In Hs.  R wird daraus k=ln stond mit veränderter Syntax (By Gawan sy werlichen stnd / Als die kouff wib zu k=ln stond / In der vaßnacht ward nie bas gestritten / Wan sv tnd es von gampel sitten / Vnd mugent one not Jr lib; Bl. 83rb). Um einen Lesefehler – ri für n – dürfte es sich bei Hs. m handeln (Toleristein; vgl. Anm. 91). Zu den Gründen für die Modifikation der Ortsnamen s. Schöller, Die Fassung *T, 342 f. In der Überlieferung des Drucks W (vgl. Anm. 37) geben Benutzerspuren reale Ortsnamen wie insbesondere Tolnsteynn (Bl.  80r, o.R.) als »registrierenswertes ›Bildungsgut‹« zu erkennen, vgl. Viehhauser-Mery, Die Parzival-Überlieferung, 470.

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Zusammenhangs mit gesellschaftlicher Ordnung und symbolischer Kommunikation betont. Auf die fastnächtliche Komik wird dagegen durchaus, aber erst sekundär gezielt, denn das kommentierende Augenzwinkern ist nur ein Aspekt unter mehreren relevanten angesichts der ausschlaggebenden Funktion der Fastnachtsreminiszenz, die verschiedenen sozialen Parameter der besonderen Ausnahmesituation einer kämpfenden Frau zu illustrieren. Wenn also das komische Moment nicht das dominante tertium comparationis des Vergleichs zwischen Antikonîe und den Fastnachts­ frauen ist, wie von der Forschung in der Regel angenommen, lässt sich die Rolle Antikonîes in der Kampfsituation gerade nicht in erster Linie als groteske amazonenhafte Deviantin höfischer Norm beschreiben, und auch die Turmszene erscheint dann weitaus weniger als schwankhafte komischburleske Episode. Antikonîe ist vielmehr als Figur entworfen, die die Mechanismen symbolischer Kommunikation  – anhand der gesteigert verwendeten Schachmetapher  – im Modus inszenatorischen Handelns anzuwenden und zeichenhaft zu nutzen sucht. Das Erfordernis, sich in einer sozial höchst liminalen Ausnahmesituation zu bewähren, verlangt einen komplexen Figurentypus, der sich innerhalb der Pole von höfischer Normenkonformität einerseits und kompetenter Normentransgression andererseits bewegen ›muss‹ und sich daher einer auf Eindeutigkeit zielenden moralischen Bewertung notwendig entzieht.

Merlin empilé. Les états textuels du Merlin et de sa Suite Par Richard Trachsler Le Merlin et ses Suites offrent un terrain d’enquête privilégié pour réfléchir sur le procédé de ce qu’on a appelé la cyclification de la littérature médiévale. Il illustre, pratiquement à lui seul, toute la trajectoire qu’un texte peut parcourir au Moyen Âge du point de vue de la forme et, aussi, du point de vue du contenu, dans la mesure où il subit, à chaque étape de ce parcours, un remaniement destiné à l’adapter au mieux à son nouveau contexte. Par rapport à d’autres romans arthuriens en prose qui sont encore inédits et dont on commence tout juste à appréhender la tradition textuelle, la partie Merlin du Lancelot-Graal est assez bien connue: elle a été éditée plusieurs fois de bonne heure, et a bénéficié d’une édition critique établie dans les règles précédée d’une enquête sur la tradition textuelle, dues, toutes les deux, à Alexandre Micha, l’un des meilleurs connaisseurs des manuscrits arthuriens en prose.1 Si nous croyons utile de rouvrir ici ce dossier, c’est en partie parce qu’une édition récente du Merlin propose une interprétation nouvelle de la tradition manuscrite, et en partie parce qu’il y aurait probablement intérêt à prendre en considération, pour une meilleure compréhension de l’élaboration des cycles, non seulement le Merlin, mais aussi sa Suite. 1  Parmi les éditions anciennes, on peut signaler The Vulgate Version of Arthurian Romances, éd. Heinrich Oskar Sommer (Carnegie Institution of Washington Publication 74), 7 vol., Washington 1908–1916, réimpr. New York 1979, et pour le Merlin post-vulgate, Merlin. Roman en prose du XIIIe siècle publié avec la mise en prose du poème de Robert de Boron, éd. Gaston Paris et Jacob Ulrich (SATF), 2 vol., Paris 1886. L’édition critique de référence pour la version vulgate est Robert de Boron, Merlin, éd. Alexandre Micha (Textes Littéraires Français 281), Genève 1979. Micha édite la version dite α du texte, mais inclut aussi des variantes de la version ß. Pour le texte de cette dernière, voir Le Roman de Merlin en prose, éd. bilingue établie, traduite, présentée et annotée par Corinne Füg-Pierreville (Moyen Âge 39), Paris 2014. L’édition de Micha a été préparée par deux études sur la tradition textuelle: Alexandre Micha, » Les Manuscrits du Merlin en Prose de Robert de Boron «, Romania 79 (1958), 78–94 et 145–174. Pour la version post-vulgate, on dispose de La Suite du roman de Merlin, éd. Gilles Roussineau (Textes Littéraires Français 472), 2 vol., Genève 1996. La version octosyllabique a été publiée, entre autres, en annexe de l’édition Micha et dans celle de Füg-Pierreville.

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L’état présent de la recherche peut être résumé dans ses grandes lignes en quelques paragraphes. C’est la version octosyllabique, attribuée traditionnellement à Robert de Boron, qui est en général considérée comme le point de départ supposé de cette trajectoire. Elle est fragmentaire et conservée dans un manuscrit unique. Le point d’aboutissement est le Merlin, entretemps augmenté d’une suite qualifiée par convention de » romanesque «, tel qu’il s’insère dans le cycle de la Post-Vulgate. Les stades intermédiaires sont représentés par la trilogie de Robert de Boron, appelée autrefois le » Petit Cycle du Graal «, puis par le » Grand Cycle «, celui du Pseudo-Map, le Lancelot-Graal, avec son Merlin et sa Suite à lui, celle qu’on appelle, par opposition à la Suite romanesque du cycle de la Post-Vulgate, la Suite historique ou, simplement, Suite-Vulgate. On distinguera donc quatre stades, récapitulés ci-dessous, essentiellement pour rappeler les différentes désignations qui ont, ou ont eu, cours dans la littérature critique. Stade I Trilogie de Robert de Boron / » Petit Cycle « octosyllabique: Joseph en vers  – Merlin en vers  – … Stade II Trilogie de / attribuée à Robert de Boron / » Petit Cycle « en prose: Joseph en prose  – Merlin en prose  – Perceval en prose Stade III Cycle de la Vulgate / Cycle du Pseudo-Gautier Map / Cycle du Lancelot-Graal: Estoire del Saint Graal  – Merlin en prose  – Suite-Vulgate / Suite historique  – Lancelot  – Queste  – Mort Artu Stade IV Cycle la Post-Vulgate [Estoire del Saint Graal]  – Merlin en prose  – Suite-Post-Vulgate / Suite romanesque  – Queste  – Mort Artu Le Merlin permet donc d’étudier toute une palette de réalisations différentes d’une même matière, adaptée, au fil des décennies, à un contexte toujours différent. Toutefois, ni le point de départ ni le point d’arrivée ne sont totalement assurés: pour ce qui est de l’origine, on a pu suggérer, avec des arguments qui ne sont pas tous dépourvus de valeur, que le manuscrit unique du Merlin en vers pouvait très bien être, plutôt que le support à un dérimage, le résultat d’une mise en vers, réalisée à partir de la version en prose.2 Pour ce qui est du point d’arrivée, l’existence même du cycle 2  Voir les arguments exposés par Linda Gowans, » What did Robert de Boron really write?  «, dans: Bonnie Wheeler (éd.), Arthurian Studies in Honour of P. J. C. Field, Cambridge 2004, 15–28.



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de la Post-Vulgate n’est pas universellement admise et fait l’objet de débats.3 Autrement dit, la seule chose qui soit certaine, c’est que nous avons des manuscrits qui contiennent des textes, lesquels sont ensuite mis en rapport les uns avec les autres par les chercheurs. C’est ainsi que s’écrit l’histoire de la littérature médiévale. Naturellement, les traits que nous dessinons en pointillés pour relier les différents textes entre eux peuvent être brossés d’une main plus assurée quand nous parvenons à faire entrer en ligne de compte non seulement les textes eux-mêmes, mais aussi les manuscrits qui les contiennent, en d’autres termes quand c’est la tradition textuelle qui renseigne l’histoire de la littérature. Les spécialistes des traditions textuelles ne sont pas toujours parvenus à tirer des conclusions univoques des données qu’ils avaient sous les yeux: pour le Lancelot, on se rappelle l’hypothèse défendue par Elspeth Kennedy, éditrice du texte, qui décelait dans les manuscrits les traces d’un premier stade, avec un Lancelot non cyclique, pratiquement sans Graal et où le héros à venir était Perceval plutôt que Galaad. Cette interprétation n’a pas rencontré l’adhésion d’Alexandre Micha, autre éditeur du texte, qui privilégiait un modèle différent, où, d’emblée, un rôle plus important revenait à l’histoire du Graal. Autour du cycle de la Post-Vulgate, la situation est encore plus confuse puisque, d’un côté, Fanni Bogdanow voyait dans les textes qu’elle éditait et dans d’autres témoins, les membra disjecta d’un cycle, là où d’autres chercheurs éditaient les œuvres en question sans croire à la nécessité de considérer la possibilité que certains épisodes puissent appartenir à un ensemble cyclique4. C’est que, la plupart du temps, les éditeurs des longs romans en prose, confrontés à des milliers de feuillets répartis sur plusieurs dizaines de manuscrits, commencent par distinguer des » versions « ou des » rédactions «. Ils regardent d’abord le récit, l’ordre des épisodes, la présence ou l’absence d’un paragraphe et ainsi de suite. Ils distinguent ainsi la version la plus répandue, qu’on appelle alors » Vulgate «, et ils commencent à raisonner par rapport à celle-ci.5 Cette manière de procé3  Pour une présentation équilibrée des données, voir Patrick Moran, Lectures cycliques. Le réseau inter-romanesque dans les cycles du Graal du XIIIe siècle (Nouvelle Bibliothèque du Moyen Age 112), Paris 2014, 649-58, l’Annexe 2, » La Question de l’existence du Cycle de la Post-Vulgate «. 4  Voir la synthèse de Fanni Bogdanow, » The Post-Vulgate Roman du Graal «, dans: Glyn S. Burgess et Karen Pratt (éds.), Arthur of the French. The Arthurian Legend in Medieval French and Occitan Literature (Arthurian Literature in the Middle Age IV), Cardiff 2005, 342–352, qui contient aussi une bibliographie des travaux antérieurs. 5  Sur ces aspects, voir Lino Leonardi et Richard Trachsler, » L’édition critique des romans en prose. Le cas de Guiron le Courtois «, dans: David Trotter (éd.), Manuel de la philologie de l’édition, Berlin / Boston 2015, 44–80.

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der est tout à fait légitime et efficace. Pour l’édition de l’Historia regum Brianniae, texte en prose conservé dans plus de deux cent cinquante manuscrits, on a très tôt opté pour la même approche, dégageant une version vulgate et la célèbre Variant-Version, qui a été utilisée par Wace. Paul Meyer avait fait de même pour les Légendiers français et pour l’Histoire ancienne jusqu’à César, où il a réussi à mettre de l’ordre en examinant l’absence et la présence de certains éléments, ainsi que leur ordre. En Allemagne aussi, le grand Karl Warnke, au moment d’éditer les Fables de Marie de France, a procédé de façon analogue pour classer les manuscrits. Avant de regarder le texte des 102 fables, il a simplement regardé l’ordre et les séquences que présentaient les témoins. C’est plus efficace et peut-être plus sûr que l’examen de la lettre du texte.6 Warnke, à son époque, a naturellement aussi étudié ces Fables sous l’angle du texte pour élaborer son stemma, mais cette élaboration était facilitée justement par la forme même des textes étudiés: le vers. Pour la prose, par contre, il s’est assez vite installé chez les éditeurs un sentiment d’impuissance. Comment classer des textes qui se réécrivaient hors de toute contrainte métrique, au gré des copistes et selon le goût du temps? Comment repérer les fautes, alors qu’on commençait juste à comprendre que certains passages présentaient des pièges à copistes, qui pouvaient donc commettre, indépendamment les uns des autres, le même bourdon? Puis, il y avait aussi un sentiment d’urgence: il fallait donner à lire ces textes à la communauté scientifique. La tradition française est à l’origine des romans en prose en anglais, hollandais, italien et dans les langues ibériques, il était alors primordial de disposer de ces textes. On n’appréciera jamais assez le service rendu par Heinrich Oscar Sommer, savant norvégien, quand il prit la décision de transcrire, sans presque rien y changer, le manuscrit Additional 10292-94 de la British Library contenant une copie complète et lisible du cycle du Lancelot-Graal, et de doter ainsi les lecteurs d’un texte sur lequel travailler pour plusieurs générations.7 Pour toutes ces excellentes raisons, la communauté scientifique est encore très largement occupée à débattre de versions, c’est-à-dire de récits 6  Voir notre étude, déjà un peu ancienne, » Les Fables de Marie de France. Manuscrits et éditions «, Cahiers de Civilisation Médiévale 44 (2001), 45–63. 7  The Vulgate Version of Arthurian Romances, éd. Sommer. La grande entreprise lancée par Daniel Poirion, puis reprise par Philippe Walter pour la Pléiade est au fond assez similaire: Le Livre du Graal, éd. Philippe Walter (Bibliothèque de la Pléiade 476, 498, 554), vol.  1: avec la collaboration d’Anne Berthelot, Robert Deschaux, Irène Freire-Nunes et Gérard Gros, Paris 2001, vol. 2: avec la collaboration d’Anne Berthelot, Mireille Demaules, Robert Deschaux et al., Paris 2003, vol. 3: avec la collaboration de Gérard Gros, Maire Geneviève Grossel et al., Paris 2009.



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qui s’opposent les uns aux autres. Celui-ci comporte le Graal, celui-là n’en dit rien, celui-ci met en scène tel héros, celui-là tel autre, l’un est court, l’autre long et tel autre moyen. Avec d’excellents arguments, les critiques ont souligné les qualités de l’un et les défauts de l’autre, tour à tour, ils ont soupçonné des interpolations dans l’un et des omissions dans l’autre. C’est qu’une version est toujours aussi bonne ou mauvaise qu’une autre: du point de vue ecdotique, on parlerait de leçons adiaphores. Il nous manque donc l’instrument de travail le plus important, le stemma, qui permettrait de hiérarchiser les rapports de dépendance pour bâtir les filiations non pas sur les leçons adiaphores, mais sur les erreurs, communes et séparatives. À l’exception notable de l’édition de l’Estoire del Saint Graal établie par Jean-Paul Ponceau, l’approche stemmatique n’est donc pas l’approche privilégiée des éditeurs contemporains:8 trop de manuscrits, trop de versions divergentes, trop de feuillets à collationner, et, puis, sur un plan plus intrinsèque, trop d’incertitudes pour identifier fautes et innovations de façon probante dans cette prose arthurienne stylisée, formelle et à haute capacité auto-réparatrice. On comprend donc qu’il y ait eu peu de tentatives pour établir des éditions non bédiéristes des romans arthuriens en prose. Il faut toutefois noter qu’à chaque tentative en ce sens, les résultats ont été encourageants: l’on peut en effet enregistrer, ces dernières années, un inversement de la tendance critique et un retour à l’édition néo-lachmanienne. Curieusement, les efforts se sont concentrés sur le cycle de Guiron le Courtois, le plus improbable des candidats, puisque c’est le cycle à la configuration la plus incertaine et la plus éclatée. Pourtant, Nicola Morato, Claudio Lagomarsini et Elena Stefanelli sont parvenus à élaborer des stemmata pour ce type de texte réputé réfractaire à de telles tentatives.9 En soi, la tâche n’est donc pas impossible, elle est juste très longue. 8  L’Estoire del Saint Graal, éd. Jean-Paul Ponceau, 2 vol. (CFMA 120, 121), Paris 1997. 9  Nicola Morato, Il ciclo di » Guiron le Courtois «. Strutture e testi nella tradizione manoscritta (Archivio Romanzo 19), Firenze 2010, et Les aventures des Bruns. Compilazione guironiana del secolo XIII attribuibile a Rustichello da Pisa, éd. Claudio Lagomarsini (Archivio Romanzo 28), Firenze 2014. La thèse d’Elena Stefanelli, dirigée par Lino Leonardi à Sienne, n’a pas encore paru: Elena Stefanelli, Il » Roman de Guiron «. Edizione critica (parziale) con uno studio sulle principali divergenze redazionali, Tesi di dottorato, Università di Siena 2016. Voir en particulier la proposition d’un stemma du Guiron par Claudio Lagomarsini, » Pour l’édition du Roman de Guiron. Classement des manuscrits «, dans: Luca Cadioli et Sophie Lecomte (éds.), Le cycle de Guiron le Courtois. Prolégomènes à l‘édition intégrale du corpus, sous la direction de Lino Leonardi et Richard Trachsler, Paris sous presse.

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Voilà pour le contexte général des éditions des romans arthuriens en prose. Revenons au Merlin. Pour le Merlin, justement, on maîtrise assez bien certains aspects de la tradition textuelle, grâce aux travaux réalisés par Alexandre Micha vers le milieu des années 1950. Dans son classement des manuscrits du Merlin, le chercheur avait dégagé deux » versions «, deux états textuels, deux récits, deux » leçons adiaphores «, comme on le disait plus haut. Ce qui a permis de les orienter et de les situer dans un rapport hiérarchique l’une par rapport à l’autre, ce n’est pas un stemma, mais l’histoire de la littérature ou ce que nous croyons en savoir. L’une des versions est destinée à s’insérer dans la Trilogie de Robert de Boron (α), et l’autre à être incorporée dans le cycle du Lancelot-Graal (ß). C’est cette distinction capitale qui a par la suite aussi guidé l’établissement de l’édition critique du Merlin, fondée sur un manuscrit de la famille α et enregistrant, entre autres, les variantes des manuscrits de la rédaction ß. L’existence de ces grandes versions α et ß a, à l’époque, été unanimement acceptée par la critique et les critères gardent toute leur pertinence aujourd’hui: en gros, on voit que l’une des deux versions est faite en fonction d’une narration qui est celle du Joseph du cycle de Robert de Boron, alors que l’autre tient compte d’un contexte qui doit davantage à celui du Pseudo-Gautier Map. Deux passages en particulier permettent de voir comment à la rédaction α, soucieuse de respecter les données du Joseph, la rédaction ß oppose un texte plus conforme avec l’Estoire del Saint Graal. Ainsi, là où la rédaction α évoque Alein et Petrus, personnages du Joseph, la rédaction ß parle de Nascien, acteur jouant un rôle important dans l’Estoire del Saint Graal. version (α) Einsis quist Blaises ce que mestiers li fu, et quant il ot tot quis et assemblé, si li comença a aconter les amors de Jhesu-Criit et de Joseph tot einsi com eles avoient esté, et de lui et de son lingnaige et de celes genz qui le vaissel dou graal avoient et toute l’ovre si come ele avoit esté et d’Alein et de sa compaignie, si com il estoit partiz de chiés son pere coment Pe[t]rus s’en estoit alez et coment Joseph se dessaisi de son vaissel et coment il fina […].10

version (ß) Lors quist Blayses ce que mestier li fu, et quant il ot quis et assemblé, si li commencha a conter les amors de Jhesu-Crist et de Joseph d’Arimachie tot einsi come eles avoient esté et toute l’oevre si come ele avoit esté de Nascien et de ses compaignons, et comment Joseph morut et se fut desaisis de son vaissel […].11

10  Micha, 11  Ibid.

» Les Manuscrits du Merlin en Prose de Robert de Boron «, 149.



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On voit qu’il y a une opposition de personnages concernant les acteurs qui ont joué un rôle dans la préhistoire du Graal. On voit aussi, et ce point n’est pas non plus anodin, que la version ß est plus courte. Mais le passage le plus éloquent se situe plus loin dans le roman, au moment où il est question de la Table Ronde. Au moment d’évoquer le lieu vide à la table, Merlin précise: version (α) Tant te puis je bien dire que il ne sera ja acompliz a ton tens ne cil qui engenderra celui qui acomplir le doit n’a encore point de feme pise ne ne set pas que il le doie engendrer; et covendra a celui doit acomplir cest leu acomplir avant celui dou vaissel dou graal […].12

version (ß) Tant te puis je bien dire qu’il ne sera mie aconplis a ton tans, ne cil qui l’anconplira n’est encore mie engendrés, et il convendra que cil qui aconplira cel lieu, qu’il aconplisse les aventures del Graal.13

De nouveau, on a une opposition entre deux récits adiaphores: dans la version α, on apprend que le héros du Graal devra, avant de s’asseoir à la Table Ronde, d’abord prendre place à la table du Graal, alors que cette précision ne figure pas dans la version ß. De façon neutre, on dira que la version α est compatible avec le plan du Joseph où la Table Ronde est la dernière des trois tables, mais pas avec celui du Lancelot-Graal, qui raconte, précisément, le dépassement de la chevalerie terrienne par la chevalerie celestielle et, donc, l’insuffisance de la Table Ronde, qui n’est qu’une étape dans la trajectoire vers la table du Graal. La version ß, elle, est compatible avec les données du Lancelot-Graal. Avec ces deux passages, on est donc, toujours de façon très neutre, face à deux récits adiaphores, l’un conforme aux données de la Trilogie de Robert de Boron, l’autre au cycle du Lancelot-Graal. Comme l’histoire de la littérature nous a appris  – mais c’est peut-être un leurre  – que la Trilogie vient avant le Lancelot-Graal, on aura tendance à penser que la version ß est issue de la version α. La tradition textuelle, qui comporte un peu plus de 50 témoins (39 manuscrits de la version α et 12 de la version ß) pourrait corroborer cette hypothèse puisqu’on rencontre un assez grand nombre de manuscrits du Lancelot-Graal qui donnent la version α, comme si, justement, l’adaptation était intervenue seulement en cours de route.  Mais si l’on veut vrai-

de Boron, Merlin, éd. Micha, § 49, ll. 75–80, 189–190. Roman de Merlin en prose, éd. Füg-Pierreville, § 73, ll. 11–14, 312.

12  Robert 13  Le

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ment verser dans le sophisme on peut dire que, du point de vue strictement ecdotique, rien n’a été démontré.14 C’est pourquoi il n’est que légitime de tester aussi d’autres points de vue. C’est ce qu’a fait Corinne Füg-Pierreville, qui signe l’édition la plus récente du Merlin, d’après le manuscrit Bnf fr. 24394, qui est, d’après les travaux de Micha, le meilleur représentant de la version ß.15 Dans l’introduction, elle écrit ceci: La copie A’ Bnf f. 24394 […] à l’exception des deux passages remaniés destinés à l’intégrer au cycle du Lancelot-Graal […] constitue […] à nos yeux la version la plus proche du roman originel qui soit encore à notre disposition.16

En clair, cela voudrait dire que la version ß est plus proche de l’archétype et qu’elle a juste subi les deux interpolations concernant Nascien et la hiérarchie des tables. À ce niveau de généralisation, c’est indécidable.  Mais l’éditrice continue ensuite la caractérisation de la version transmise par son manuscrit de base: » Les quelques leçons isolées que propose le manuscrit A’ sont en effet des leçons de grande qualité, plus pertinentes et plus riches que les leçons banalisées, conservées dans les manuscrits ultérieurs […]. «17 Ce faisant, elle descend dans l’arène de la philologie textuelle, où les hypothèses deviennent vérifiables. Parmi les leçons authentiques, elle allègue quatre exemples que l’on peut brièvement commenter: – aporce vs aporte Le premier exemple est simple. Le manuscrit A’, représentant de la version ß, donne une leçon qui le démarque de A, représentant de la version α, manuscrit de base de l’édition Micha. Et li rois lor dist et conmande qu’il en voisent a Tintajoel parler a la duchoise et qu’il li mostrent qu’ele ne puet vers lui desfendre et s’ele velt la pais et les gens de sa terre, et se ses consaus li aporce, il le fera volentiers a sa volenté.18

14  Il est évident, toutefois, qu’Alexandre Micha, pour ses classements, s’appuie aussi sur les erreurs et les fautes communes, mais qu’il a choisi, au moment d’en publier les résultats, de mettre en avant surtout les divergences sur le plan du récit plutôt que de noircir des pages avec des listes de fautes des copistes. 15  Le Roman de Merlin en prose, éd. Füg-Pierreville. Voir le compte rendu de Lino Leonardi dans Medioevo Romanzo 40 / 1 (2016), 196–198, celui de Nicola Morato dans Le Moyen Âge, sous presse, et le mien dans Revue critique de Philologie romane 18 (2017), également sous presse. 16  Le Roman de Merlin en prose, éd. Füg-Pierreville, 28–29. 17  Le Roman de Merlin en prose, éd. Füg-Pierreville, 29. 18  Ibid., A’, § 97, ll. 17–21, 362.



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La discussion porte sur la forme aporce, qui est analysée par l’éditrice comme suit: » La forme aporce est une variante picarde de aproche, 3e personne de aprochier au présent de l’indicatif. Comme souvent dans une scripta de l’Est, il s’est produit une métathèse de pro en por et c s’est substitué à che. Le verbe aprochier signifiait › demander dans un contexte juridique ‹, ce qui correspond parfaitement à la situation. Comme il n’a pas été compris, les copies ultérieures l’ont remplacé par li aporte (AB’C’F’), privant l’incise de signification […] «.19 Comme souvent dans les copies médiévales, on peut hésiter, dans A’, entre la lecture de c et t. En l’espèce, rien n’interdit de lire aporce avec l’éditrice, même si aporte ne semble pas non plus impossible:

Si l’on compare le mot avec deux autres réalisations prélevées à proximité immédiate (133v°b), on dirait même que le c se distingue du t par le fait d’être exécuté en un seul trait, alors que le t est composé d’un trait vertical et d’un trait horizontal, comme on le voit peut-être ci-dessus, dans aporce / aporte, ce qui inviterait à retenir plutôt aporte. duc

porte

Mais peu importe. Jouons le jeu jusqu’au bout. Si, donc, on est face à aporce et si, vraiment, il s’agit d’une graphie pour aproche, il faut alors s’interroger sur comment comprendre la leçon des autres manuscrits qui écrivent tous, qu’il s’agisse de témoins de la famille α ou ß, aporte, au sein de constructions par ailleurs tellement différentes qu’on a l’impression que aporte est presque ce qu’il y a de plus stable. Outre les manuscrits cités 19  Ibid.,

30–31.

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par l’éditrice, on peut en effet ajouter à la liste les témoins suivants et, probablement, un grand nombre supplémentaire.20 A (Bnf, fr. 747) Et il lor dit et comende que il aillent a Titaguel parler a la duchesse et a ses homes et qui il li mostrent qu’ele ne se puet vers lui desfandre et s’elle vuelt la pais et ses conseuz li aporte, il la fera molt volentiers a lor volenté.21 B (London, BL, Add. 32125, fol. 237v°b) E si ele voet la pes e les genz de la tere e ses conseils si la fereit mult volenters (version α). G (Città del Vaticano, BAV, Reg. lat. 1517, fol. 168r°a) Et commande que il aillent a Tintajuel parleir a la duchesse et que il li moustre que elle ne se puet vers lui desfendre et se elle wuel[t] la pais et les genz de sa terre et ces consaus li aporte, il la fera volentiers a lour volenté (version α). Y (BnF, fr. fr. 9123, fol. 124va) Lors li distrent que il envoiast a Tintaguel parler a la duçoize et a ses amis et aus amis du duc, savoir mon se il vuellent pais et se leur consaus leur aporte, il la fera a leur voulenté (version α).

Cette constante s’explique peut-être simplement par le fait que aporter est enregistré, en coprésence avec conseil, par Tobler avec le sens qu’il nous faut depuis Chrétien de Troyes: » mit sich bringen, erfordern «.22 Il n’y a donc aucune raison de considérer la leçon aporte comme inférieure à aporce. – faillis[tes] vs failliez Le deuxième exemple est un peu plus complexe. Là aussi, A’ s’oppose à A sur une forme isolée: Et por ce que vos estes fol et malvais et ort, faillis[tes] [c] vos a ce que vos devés enquerre […].23

Le scribe du fr. 24394, arrivé en fin de la colonne, n’a pas eu la place d’écrire faillistes et, continuant sa transcription au verso, n’a plus pensé qu’il devait finir le mot commencé au recto. C’est donc assez certainement faillis[tes] qu’il faut comprendre, exactement comme le pense l’éditrice, qui compare la leçon en question à celle qu’on trouve ailleurs: » Même fautive, 20  Des cas comme g (Paris, BnF, fr. 344), qui réécrit complètement le passage (fol. 97rb), semblent être l’exception. 21  Robert de Boron, Merlin, éd.  Micha, § 69, ll. 9–13, 236. En gras deux petites rectifications par rapport à la transcription de Micha. 22  TL, vol. 1, 462, s. v. aporter. Les exemples conviennent parfaitement et s’échelonnent depuis Chrétien de Troyes jusqu’à Robert de Clari: Voici celui d’Yvain, tiré du TL: » Ja mes, se je ne le comant, Et mes consauz ne le m’aporte, Ne vos iert overte ma porte, Ch[evalier] au lyon 5739. « 23  Le Roman de Merlin en prose, éd. Füg-Pierreville, A’ § 40, ll. 5–6, 236.



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la leçon de A’ reste cependant supérieure à celle proposée par les autres manuscrits. Certains donnent un présent failliez (ACC’P), qui n’est pas adapté puisque l’échec des clercs se situe dans un temps antérieur à celui du discours «.24 Devant la masse compacte de témoins qui donnent failliez ou une graphie proche25 on pourrait de demander si, vraiment, tous les copistes ont mal interprété la chronologie des faits ou s’il ne serait pas envisageable de considérer la forme en question comme un imparfait. En tout cas, un regard sur d’autres manuscrits invite à ne pas clore trop rapidement le dossier parce qu’une pioche chanceuse, effectuée dans le manuscrit Paris, BnF, fr. 344 (siglé g), représentant de la version α, révèle une solution assez différente: Et por ceu ke vos estes fol et malvais faillis vos avez ceu ke vos queriez (fol.  88vb).

Ici faillis est participe passé et figure dans une construction alternative, qui peut être le résultat d’une réécriture ou, au contraire, puisqu’il s’agit du plus ancien des manuscrits cycliques, refléter un état plus authentique. En tout cas, l’exemple montre qu’il est peut-être prématuré de tirer des conclusions sur la tradition textuelle du Merlin après avoir collationné seulement une poignée de manuscrits, en particulier parce que le manuscrit fr. 9123 (siglé Y), autre représentant de la version α, donne au mot près le texte de A’. Cette convergence démontre que la leçon n’est pas propre à ce témoin et incite, au contraire, à penser qu’elle peut dériver d’une autre branche de α que celle éditée par Micha: Et pour ce que vous estes fol et malvais et ort faillistes vous a ce que vous enqueriés (fol. 110r°a). C’est ce que montrent aussi les autres exemples allégués par l’éditrice. – sostenance vs sostance Dans l’exemple suivant, situé dans un passage au début du roman, le manuscrit A’ s’oppose à A, au sujet de l’expression faire sostenance vs sostance, leçon imprimée par Micha. Molt a fait cil esperital sostenance, qui por home salver est venus en terre et naistre de fenme et effachier les tormens terriens […].26

À juste tire, l’éditrice commente ainsi le passage: » Les autres rédactions ont préféré, en grande majorité, le substantif sostance (» substance «) qui s’accorde bien avec l’adjectif esperital, mais se comprend mal comme com24  Ibid,

31. Città del Vaticano, Bibl. Vat., Reg. lat. 1517, par exemple, donne failleiz (144v°b); a Paris, Bnf, fr. 770, donne faliés (132r°c). 26  Le Roman de Merlin en prose, éd. Füg-Pierreville, A’, § 1, ll. 33–35, 128. 25  G,

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plément du verbe faire […]. «27 En effet, sostance n’est pas vraiment attesté avec le sens qu’il faut et la bonne leçon est probablement bien celle de son manuscrit A’. Très vraisemblablement, Micha aurait dû l’admettre dans son texte critique parce que  – et c’est le point crucial  – sostenance, en l’occurrence, sustenance, figure aussi dans B, London, BL, Add. 32125, fol. 206v°a, ainsi que l’indique son propre apparat. Elle appartient donc à la version α et n’est pas propre à A’. Elle invite, par contre, à chercher la famille textuelle de la version α à laquelle se rattache ß. – li vient en pensee vs li met en penitence Un constat analogue peut être fait pour l’exemple suivant. Le passage se situe immédiatement après la conversation entre Blaise et la mère de Merlin, qui vient d’être séduite par le démon. Et puis le saine, si le conmande maintenant a Dieu. Et si li vient en sa pensee tos les biens qu’ele porroit faire. Et ele s’en vint en sa maison et mena molt boine vie et molt simple […].28 Puis il trace à nouveau sur elle le signe de la croix et la recommande à Dieu. Alors lui vient à l’esprit tout le bien qu’elle pourrait accomplir. Elle retourna à son logis et mena une vie exemplaire et modeste […].29

Pour justifier la supériorité de cette leçon, l’éditrice écrit: » Les autres manuscrits s’accordent tous sur la leçon si li met, le confesseur de la demoiselle étant le sujet du verbe. La leçon de A’ si li vient est très supérieure au niveau du sens. «30 Un petit commentaire additionnel s’impose. Si les » autres manuscrits « donnaient réellement tous si li met en pensee, on pourrait éventuellement discuter de la supériorité du sens, mais en réalité, il ne s’agit pas de trancher entre si li vient et si li met, mais entre deux phrases assez différentes. Les manuscrits α donnent Il la saingne et la comende a Dieu et li met touz les biens qu’ele puet faire en sa penitence. Einsi s’en vient en sa maison et mena molt bonne vie et molt simple.31

Le lieu variant englobe donc non seulement un verbe (si li vient et si li met et un changement de sujet grammatical), mais aussi un nom: pensee vs penitence. Le sens du passage est » Il fit encore sur elle le signe de la croix et compta pour pénitence toutes les bonnes actions qu’elle accomplirait à l’avenir «.32 Les deux variantes peuvent donc difficilement être envisagées 27  Ibid.,

29–30. A’, § 13, ll. 11–14, 158. 29  Ibid., 159. 30  Ibid., 29. 31  Robert de Boron, Merlin, éd. Micha, A, § 7, ll. 78–§ 8, ll. 1–2, 43. 32  Robert de Boron, Merlin, trad. Alexandre Micha, Paris 1994, 37. 28  Ibid.,



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sous l’angle de la supériorité ou de l’infériorité. Elles sont simplement différentes, adiaphores.  Mais il y a plus. L’apparat de Micha indique que la variante met en pensee que comporte le manuscrit A’, figure dans les manuscrits CDG et dans la version ß. La leçon que l’éditrice juge isolée et de très grande qualité vient donc encore d’une branche de la version α. Elle n’est par conséquent pas propre à A’ et  – surtout  – ne permet pas d’inverser les rapports entre les versions.33 Le contrôle des autres manuscrits constitue une étape importante dans la compréhension de la lettre de son manuscrit de base. Ici, il permet en outre de déboucher sur un détail intéressant: dans le manuscrit B, témoin de α, on trouve la leçon ci-dessous, où le mot penitence semble avoir fait l’objet d’une intervention: […] il la seigne si la comande a Deu et la met en sa penitence [en surcharge] toz les bens q’ele porra fere. Ensi s’en vint en sa meson e mena mut bone vie e mut simple (B fol. 209 v°b).

Même s’il n’est pas possible d’interpréter de manière univoque ce qui s’est passé, il semble bien que le mot ait été retouché et que les quatre premières lettres, à l’origine, formaient pens– non peni–.  Mais, surtout, le détail nous rappelle qu’une enquête élargie à d’autres témoins de la version α permettrait peut-être de trouver, avec un peu de chance, la sous-famille à laquelle se rattache ß et de mieux comprendre comment on est passé d’un état textuel à l’autre. Même après la dernière édition en date du Merlin, rien n’oblige donc, à l’heure actuelle, à inverser la relation entre les deux versions: α semble bien antérieure à ß. La question a son importance si l’on embrasse d’un même regard la tradition textuelle du Merlin et celle de la Suite, comme on voudrait brièvement le faire avant de clore cette réflexion sur la trans33  Pour la petite histoire, je signale que l’apparat de Micha ne permet pas de comprendre que BCG donnent un ordre des mots légèrement différent qui les séparent de A. Voici le texte de C (Tours, BM 951 (C), fol. 178r°a http: /  / bvmm.irht.cnrs. fr / consult / consult.php?REPRODUCTION_ID=4911): » Et il la seigne et la coumande tot maintenant a Deu et si li met en sa penitance touz les bien que ele pouroit faire. Einsint s’en vint en sa meson et mena mout bone vie et simple « (= B fol. 209 v°b = G fol. 132 r°a).

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mission du Merlin en prose. En l’absence d’étude globale sur la tradition de la Suite, une intuition d’Alexandre Micha constitue là aussi le point de départ le plus utile.34 Il n’y a pas deux Suite-Vulgate différentes, mais, semble-t-il, le texte de nos manuscrits α n’est pas identique à celui des manuscrits ß […].35

Sans entrer dans le détail pour se demander ce qu’il faut entendre exactement par » identique « par opposition à » pas différent «, on constate, quand on fait le travail de recoupement entre les deux traditions textuelles, que les manuscrits classés par Micha dans les trois grandes catégories α, ß, contaminé se répartissent de la même manière pour la Suite. Les deux traditions sont donc solidaires. Au fil des années, nous avons mené un certain nombre de sondages sur les différences entre les deux versions α et ß en comparant toujours des récits et en évitant, pour l’instant, l’effort de traquer les fautes communes et séparatives qui, seules, rappelons-le, permettent de dégager des traditions textuelles solides.36 Rien qu’en s’appuyant sur la comparaison des deux états textuels, il est possible de confirmer ce que disait Micha à propos de l’évolution du cycle: dans la partie Suite, la version ß a subi un élagage assez massif, qui oscille entre 15 % et 40 % pour certains épisodes, opération qui a mis à mal la cohérence par des coupes intempestives. Très certainement, cet élagage est le fait du responsable de ß. Le cheminement inverse est en effet difficilement imaginable, car on ne voit pas quelqu’un réparer systématiquement un état textuel pour aboutir à la version α en tombant aussi juste sur le plan du style et du sens. Les différences se rencontrent tout au long du roman et touchent toute sorte de phénomènes, mais c’est à la toute la fin de la Suite que les écarts entre les deux versions se font vraiment importantes.37 Le lieu variant en 34  Voir mes observations provisoires » Pour une nouvelle édition de la Suite-Vulgate du Merlin «, Vox Romanica 60 (2001), 128–148. 35  Micha, » Les Manuscrits du Merlin en Prose de Robert de Boron «, 145, note 5. 36  Richard Trachsler, » Merlin chez Jules César. De l’épisode de Grisandole à la tradition manuscrite de la Suite du Merlin «, Studi Francesi 133 (2001), 61–71, » Quand Gauvainet rencontre Sagremoret ou le charme de la première fois dans la Suite-Vulgate du Merlin «, dans: Denis Hüe et Christine Ferlampin-Acher (éds.), Enfances arthuriennes. Actes du Colloque arthurien de Rennes (6–7 mars 2003) (Medievalia 57), Orléans 2006, 203–215, » La Naissance du Mal. Agravain dans les Suites du Merlin «, dans: Nathalie Koble et al. (éds.), Jeunesse et genèse du royaume arthurien. Les Suites romanesques du Merlin en prose, Actes du Colloque des 27 et 28 avril 2007 ENS (Paris) (Medievalia 65), Caen 2007, 89–101. 37  J’ai discuté ces différences dans » Pour une nouvelle édition de la Suite-Vulgate du Merlin «, auquel je renvoie pour la présentation des leçons des différents manuscrits.



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question évoque les hostilités que doivent affronter les frères Ban et Boort face à Claudas, leur voisin envahissant. Le passage, de toute évidence, est censé préparer la transition vers le Lancelot, dont il extrapole certaines données. Toutefois, la version α paraît quelque peu en contradiction avec le récit, qui, dans les manuscrits cycliques, débutera au feuillet suivant: version α Or dit li contes que quant li rois Artus se fu departiz deu roi Ban et deu roi Boort, que li dui frere demorerent a Benoÿc en grant joie et en grant leece et furent avec leur molliers, qui moult estoient gentes et beles. Si avint, isinc conme il plot a Nostre Seignor, que li rois Bans et la reigne orent .i. filz cui il mistrent non en droit bautesme Galaad et en sornom Lancelot et iceli non de Lancelot maintint il tote sa vie, si en ot li rois et la reigne molt grant joie. Si l’aama tant sa mere qu’ele meismes le norri et alaita de son let. Et la mollier au roi Boort en ot un que l’en apela Lyonnel, qui molt fu biax emfes de grant maniere, et en . xii. mois aprés en ot .i. autre, qui Boort ot a nom. Li emfant furent puis de molt grant renomee par le realme de Logres et par toutes terres se firent quenoistre par leur proeces. I. pou de tens aprés ce que Boorz fu nez, li plus jueunes des .ii. filz au roi Boort, chaï li rois ses peres en une molt grant maladie et jut molt longuement en la cité de Gaunes. Si en fu li rois Bans ses freres molt dolenz et molt correciez, car il ne pooit pas estre avec li ne vooir le a sa volenté por .i. suen voisin qui a li marchossoit qui molt estoit fel et engrés et crels. Et ce estoit li rois Claudas de la Deserte qui tant estoit dolenz et correciez de son chastel que li rois Artus avoit fet abatre que a pou qu’il n’issoit del sens. Si ne s’en savoit a qui penre forz au roi Ban et aus [s]uens qui marchissoient a li, porce qu’il estoit hom lo roi Artu. Si le comança a guerroier et manda a li .i. concille de Rome qui avoit nom Ponce Anthoine. Li Romain haoient lo roi Artu et toz les suens por la mort de Luce, l’emperaor qu’il avoient ocis. Et a ce tens estoit morz Hoël de Nantes, qui moult avoit lo roi Claudas guerroié, si refirent tant li Romain que il orent Gaule an lor baillie. Et envaïrent cil de Gaule et cil de la Deser-[229b]-te et Ponces Anthoyne lo roi Ban de Benoÿc et sa terre. Et il se deffendi molt viguereusement conme cil qui molt estoit de haut afere et de grant emprise. Si asembla souvant a els a plain champ, si perdi souvant et souvant i gaaigna et isinc va il de guerre que l’en i gaaigne et pert. Et merveilles i firent d’armes Leonces de Paerne et Pharians et Grascians de Trebes et Banyns, uns chevaliers qui fillox estoit au roi Ban, car ilcist [sic] ocistrent molt et destruirrent de la gent Claudas et molt en firent grant essart.  Mais Grascians et Pharians et li contes de Paerne i furent navré a mort, dont ce fut moult grant domaches au roi Ban. Et des que cil furent mort, petit pot puis avoir de duree a Claudas et a sa force, ainz le menierent si de jor en jor que il pristrent ses chastiaux et ses forteres[es] ne il ne pooit avoir aïde de son frere, le roi Boort, qui gesoit au lit malades, dont il puis ne leva. Et ce li fu molt grand desconforz, car tant avoit Poinces Anthoynes grant pooir de Gaule et de la contree environ que il ne le pooit endurer ne souffrir. Si li tollirent sa cité de Benoÿc et tote sa terre que il ne li remest ne chastel ne cité fors solement le chastel de Triebes ou la reigne

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Helaine estoit et Galaad Lancelot, son fil qui jesoit encore au berçuel et ot avé li tant de gent conme il en pot asenbler, mes ce fu pou a tel esfort souffrir. Et i fu ses filleus Banyns en cui il se fia molt et droit avoit, car il estoit bons chevaliers et leax, et ot .i. senechal qu’il avoit norri d’enfance a cui il avoit toute sa terre conmandee aprés la mort Pharian et ce fu celi qui le traï et par qui il perdi le chastel de Trebe, ainsinc conme li contes le devisera ça avant qui conmence en tele maniere: En la marche de Gaule38

Ces lignes finales » introduisent « les personnages que l’on retrouvera de l’autre côté de l’incipit En la marche de Gaule.  Mais les passages ici mis en gras font difficulté, car Léonce de Paerne et Pharien font partie des personae dramatis du début du Lancelot. Pharien, tout en étant le sénéchal de Claudas, est le protecteur des jeunes princes Boort iunior et Lyonel, dont il devient le » maître «. Avec son neveu Lambègue, c’est lui qui incarne la résistance contre Claudas, en attendant que les jeunes princes grandissent.39 Sans lui, la première partie du Lancelot ne fonctionne pas. C’est pourquoi la version β a rectifié le problème en introduisant une petite précision (ici en italiques) dont le caractère gratuit suffit à dénoncer sa nature secondaire. version ß Et mervelles i firent d’armes Leonce de Paerne et Gracien de Trebes et Banyns, .i. filleus au roi Ban. Cil destrustrent moult et ocistrent moult de la gent le roi Claudas. Si i morut Graciens, mes Phariens n’i morut mie, et li rois Bans fu tant afebloiés et sa gent qu’il n’ot as Romains duree.40

Cette incompatibilité entre la fin de la Suite et le début du Lancelot dans la version α, c’est-à-dire dans la version première, soulève naturellement le problème de la possible existence d’un ensemble constitué du seul Merlin accompagné de sa Suite. Il est certes exact que cette fin de la partie Merlin ouvre sur la partie Lancelot et qu’elle infère donc un caractère cyclique.41 Mais il est aussi vrai que l’amorce vers le Lancelot est singulièrement maladroite si l’intention était, justement, d’aménager la transition vers le texte suivant du cycle. Si l’on admet, par contre, que nous tenons là le moment où l’on a commencé à assembler les différentes composantes de ce qui deviendra le Lancelot-Graal, les incompatibilités qu’introduit 38  Paris,

BnF, fr. 747, fol. 229b. il n’a jamais été, comme l’insinue ici l’auteur de la Suite, sénéchal de Ban, et paraît même surtout avoir été vassal de Boort. 40  Paris, BnF fr. 24394, fol. 287d. 41  C’est l’objection que fait à mon hypothèse Moran, Lectures cycliques, 321–325. 39  Toutefois,



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cette fin s’expliquent mieux: la version α présente le stade de la juxtaposition, de l’assemblage matériel, en quelque sorte, auquel la version ß apportera le lissage narratif. La solidarité de la tradition textuelle du Merlin et de sa Suite paraît en outre indiquer quelque chose de plus inquiétant: c’est que le Merlin nous est difficilement accessible puisque son état textuel a été comme vitrifié au moment où est arrivée la Suite. Il est peut-être impossible de creuser plus profond. Si l’on veut néanmoins creuser, il y a deux angles d’attaque qui paraissent particulièrement utiles pour notre connaissance de l’élaboration des cycles arthuriens. Il faudrait examiner le Merlin dans les manuscrits où il est transmis non pas avec les textes du Lancelot-Graal, mais avec le Joseph de la Trilogie et il faudrait chercher le chaînon manquant entre les versions α et ß de l’ensemble merlinien. Cela implique de creuser à deux endroits différents et dans deux directions différentes.  Mais en particulier le second forage permettrait à terme de voir plus clair dans la genèse du cycle de la Vulgate, car toutes les œuvres du cycle ont fait l’objet d’un lissage stylistique qui a débouché sur une » version courte «. Idéalement, il faudrait donc chercher les chaînons manquants aussi pour les autres composantes du cycle, en s’appuyant sur les travaux des éditeurs respectifs. Ce ne sera pas un petit chantier et la tâche ne sera pas brève. Mais, après tout, Camalot n’a pas été bâtie en un jour et cela fait longtemps que Merlin, retiré dans son esplumoir, n’est plus pressé.

Mouvance du texte et mouvance du sens dans les versions abrégées de La Queste del Saint Graal (XIIIe–XVIe siècles) Par Hélène Bouget La Queste del saint Graal, roman du XIIIe siècle, est une œuvre majeure et fascinante du Moyen Âge qui découvre et assume la fiction romanesque par la mise en scène d’un objet participant d’une entreprise de mythification chrétienne et littéraire. Elle constitue l’avant-dernière partie du cycle dit de la Vulgate, composé au plus tôt vers 1215–1220, qui retrace l’ensemble de l’histoire d’Arthur, depuis l’origine du Graal et le temps de la Passion christique jusqu’aux rivalités et guerres intestines qui ruinent son royaume.1 L’abondante bibliographie critique consacrée à la Queste aborde souvent celle-ci sous un angle spirituel, interrogeant le sens du Graal et les rapports que celui-ci entretient avec la Grâce, la théologie ou la mystique chrétienne.2 Dans une perspective plus littéraire, le Graal a aussi été défini comme un moteur romanesque, un » signe imaginé « à caractère littéraire et poétique.3 Les deux approches sont en réalité complémentaires et La Queste del saint Graal se donne volontiers à lire comme une fiction théologique.4 1  Dans sa version complète, le cycle donne à lire (dans l’ordre de lecture et non dans l’ordre chronologique de composition des œuvres): L’Estoire del saint Graal, Le Roman de Merlin, La Suite du Merlin [Suite-Vulgate], Le Lancelot en prose, La Queste del saint Graal, La Mort le Roi Artu. 2  Voir par exemple: Albert Pauphilet, Études sur la Queste del Saint Graal attribuée à Gautier Map, Paris 1921, rééd. Genève 1996; Étienne Gilson, » La mystique de la Grâce dans la Queste del saint Graal «, Romania 51 (1925), 321–347; Catalina Girbea, La Couronne ou l’Auréole. Royauté terrestre et chevalerie célestielle à travers la légende arthurienne (XIIe–XIIIe siècles), Turnhout 2007; Communiquer pour convertir dans les romans du Graal, Paris 2010; Jean-René Valette, La Pensée du Graal. Fiction littéraire et théologie (XIIe-XIIIe siècle), Paris 2008. 3  Voir par exemple: Alexandre Leupin, Le Graal et la littérature. Étude sur la Vulgate arthurienne en prose, Lausanne 1983; Mireille Séguy, Les Romans du Graal ou le signe imaginé, Paris 2001; Christine Ferlampin-Acher, Merveilles et topique merveilleuse dans les romans médiévaux, Paris 2003; Hélène Bouget, Écritures de l’énigme et fiction romanesque. Poétiques arthuriennes (XIIe–XIIIe s.), Paris 2011. 4  Les travaux d’Emmanuèle Baumgartner, L’arbre et le pain. Essai sur la Queste del Saint Graal, Paris 1981, ou ceux d’Alexandre Micha, Essais sur le cycle du Lance-

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Les manuscrits de la Queste sont nombreux: 53 en incluant les manuscrits fragmentaires, la quarantaine de manuscrits affiliés au cycle Vulgate5 et les versions dites » post-Vulgate «6, sans tenir compte, au-delà, des différentes versions remaniées et incorporées dans le Roman de Tristan en prose. Les recherches pionnières d’Albert Pauphilet dans le domaine de la tradition manuscrite de la Queste Vulgate fondent toujours grandement l’approche philologique et son stemma, qui discrimine les manuscrits de la Queste en deux grandes familles α et ß, n’a pas été remis en cause, mais a été complété par Fanni Bogdanow à qui l’on doit en 2006 la première édition d’un manuscrit de la famille ß.7 Pauphilet classe les manuscrits en fonction de leur proximité avec ce qu’il appelle la » version ordinaire «8 de la Queste, représentée pour lui par le manuscrit de Lyon, Palais des Arts, 77 (famille α) sur lequel se fonde son édition.9 Il établit la distinction entre lot-Graal, Genève 1987, envisagent successivement les deux aspects; Jean-René Valette propose une synthèse des deux approches dans La Pensée du Graal. 5  Recensés d’abord au nombre de 39 par Albert Pauphilet dans Études sur la Queste del Saint Graal: V–XXXV. Les classements les plus complets à ce jour ont été établis par Alison Stones pour l’ensemble du cycle: » The Lancelot-Graal Project «: http: /  / www.lancelot-project.pitt.edu / lancelot-project.html [consulté en novembre 2017] et par Christiane Marchello-Nizia avec la collaboration d’Alexei Lavrentiev: Queste del saint Graal. Édition numérique interactive du manuscrit de Lyon (Bibliothèque municipale, P.A. 77), »  Introduction  «: http: /  / txm.ish-lyon.cnrs.fr / bfm / pdf /  qgraal_cm_2013-07-intro.pdf [consulté en novembre 2017]. 6  La Version Post-Vulgate de la Queste del Saint Graal et de la Mort Artu, Troisième partie du roman du Graal, éd. Fanni Bogdanow, 5 vol., Paris 1991–2001; Fanni Bogdanow, The Romance of the Grail. A study of the Structure and genesis of a thirteenth-century Arthurian Prose Romance, New York 1966. L’existence de ce cycle, ardemment défendue par Fanni Bogdanow, est toujours discutée et la distinction, pour la partie consacrée à la Queste, avec la tradition des romans du Tristan en prose n’est pas toujours aisée. 7  Le manuscrit de Berkeley, Bancroft Library UCB 73: La Quête du saint Graal, éd. Fanni Bogdanow, trad. Anne Berrie, Paris 2006. 8  Pauphilet, Études sur la Queste del Saint Graal: XI. 9  La Queste del saint Graal. Roman du XIIIe s., éd. Albert Pauphilet, Paris 1923, rééd. 1984. Cette édition pose toutefois problème dans la mesure où Pauphilet apporte de nombreuses corrections au texte sans les signaler dans l’apparat critique, ou bien ne donne pas les variantes. Voir May Plouzeau, » Notice sur l’édition par Albert Pauphilet de la Queste del Saint Graal (Paris) et sur le texte numérisé correspondant de la base Textes de Français Ancien «, Université d’Ottawa, Faculté des Arts, Laboratoire de français ancien, 2004: https: /  / www.francaisancien.net / activites / textes / no tices / Graal.htm [consulté en janvier 2018]. L’édition numérisée, dirigée par Christiane Marchello-Nizia (»  Introduction  «: http: /  / txm.ish-lyon.cnrs.fr / bfm / pdf / qgraal _cm_2013-07-intro.pdf) à partir des mêmes manuscrits de base K et Z (Paris, Bibliothèque nationale de France, nouvelles acquisitions françaises, 1119), ne recense pas moins de 20000 différences avec l’édition Pauphilet.

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les familles α et ß à partir des variantes propres à l’épisode de la Nef du roi Salomon, mais considère que les manuscrits des deux branches dérivent d’un même archétype et » proviennent d’une même copie, déjà altérée «10. Il y aurait beaucoup à dire sur la tradition textuelle de la Queste, ce qui dépasse largement le cadre de cet article, mais il importe de rappeler que le raisonnement et le classement de Pauphilet reposent en grande partie sur la comparaison avec la leçon de L’Estoire del saint Graal qu’il considère comme antérieure à la Queste et qui lui permet donc de déterminer une leçon originale de l’épisode de la Nef. Dans cette configuration, il observe que les manuscrits ß partagent à cet endroit » dix fautes [qui] ne se trouvent que là «.11 Or l’argument peut être débattu: dès 1923, Mario Roques a remis en cause la relation entre la Queste et l’Estoire telle que l’établit Pauphilet et, partant, l’existence avérée du groupe ß.12 Plus récemment, Jean-Paul Ponceau a considérablement développé l’argument de l’antériorité de l’Estoire sur la Queste13, mais la validité du stemma de Pauphilet reste problématique dans la mesure où l’assimilation d’une partie des manuscrits de la Queste à la famille ß repose sur la collation de lectures communes acceptables, lesquelles peuvent toujours, comme le souligne Lino Leonardi, remonter à une version originale sans pour autant démontrer leur appartenance à un modèle commun spécifique.14 Quoi qu’il en soit, depuis l’édition de Pauphilet plusieurs fois réimprimée, le texte de La Queste del saint Graal est globalement perçu comme fixe et stable, surtout si on le compare au foisonnement des versions du Tristan en prose, de la post-Vulgate ou des compilations plus tardives comme celle de Rusticien de Pise15 ou de Michel Gonnot.16 Cette perception repose à la fois sur la préséance de l’édition Pauphilet et sur la relative Études sur la Queste del Saint Graal, XVI. Cit. XIX. 12  Compte-rendu de Mario Roques sur Albert Pauphilet, Études sur la Queste del Saint Graal, Romania 195 (1923), 441–444. 13  Jean-Paul Ponceau, » L’Estoire del saint Graal et la Queste del saint Graal. Un problème de chronologie relative «, Medieovo Romanzo 38 (2014), 251–286. 14  Lino Leonardi, » Stemmatics and the Old French Prose Arthurian Romance Editions «, Journal of the International Arthurian Society 5 (2017), 42–58: 47–49. 15  Eilhart Löseth, Le roman en prose de Tristan, le roman de Palamède et la compilation de Rusticien de Pise. Analyse critique d’après les manuscrits de Paris, Paris 1891, rééd. New York 1970; Il romanzo arturiano di Rustichello da Pisa, éd. Fabrizio Cigni, Pisa 1994; Les Aventures des Bruns. Compilazione guironiana del secolo XIII attribuibile a Rustichello da Pisa, éd. Claudio Lagomarsini, Firenze 2014. 16  Conservée dans le manuscrit de Paris, Bibliothèque nationale de France, français 112 et étudieé par Cedric Pickford, L’Évolution du roman arthurien en prose vers la fin du Moyen Âge, Paris 1960. 10  Pauphilet,

11  XVI–XIX.

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concordance des témoins manuscrits que les autres éditions de la Queste confortent plus qu’elles ne nuancent.17 La version Vulgate de La Queste del saint Graal est donc considérée comme une référence canonique, comme en témoigne la plupart des approches littéraires qui se fondent sur l’édition de Pauphilet, lequel relègue au second plan les versions dites contaminées, les remaniements, ce qu’il considère comme les » versions plus ou moins personnelles de la Queste «18, » intéressantes [seulement] pour l’histoire des déformations et des remaniements de nos romans en prose «19, comme celles des manuscrits de Paris, Bibliothèque nationale de France [BnF], français [fr.] 123, 112 et 343. Cependant, jusque à quel point peut-on parler de la version ordinaire de la Queste del saint Graal comme de la référence canonique de la Queste à partir de laquelle se détermineraient des versions de moindre importance ou des remaniements plus ou moins adroits? Je voudrais m’intéresser ici à quelques-unes de ces versions secondaires, par comparaison avec celle du manuscrit de Lyon (K) que Pauphilet considère comme la plus authentique. Ces versions, en particulier les versions abrégées de la Queste, apportent en effet des témoignages importants sur la réception de la Queste et nous invitent à repenser la notion de canon ou de modèle textuel. Entre le XIIIe et le XVIe siècles, le roman est en effet repris, adapté et parfois très abrégé, selon des modalités diverses, 17  La Queste del Saint Graal, éd. Frederick James Furnivall, London 1864 [d’après le ms. de Londres, British Library, Royal 14.E.III]; The Vulgate Version of the Arthurian Romances, edited from manuscripts in the British Museum, éd. Heinrich Oskar Sommer, The Carnegie Institute of Washington, 7 vol., 1906–1916, réimpr. New York 1969, 1979, vol. VI [d’après le ms. de Londres, British Library, Add. 10292-4]; La Queste del saint Graal. Roman du XIIIe s., éd. Pauphilet; La grant queste del Saint Graal. La grande ricerca del Santo Graal. Versione inedita della fine del XIII secolo del ms. Udine, Biblioteca Arcivescovile, 177, dir. Gianfranco D’Aronco, éd. Roberto Vattori et al., Tricesimo 1990; Le Livre du Graal, éd. Daniel Poirion et  al., 3 vol., Paris 2001–2009, t. 3 [d’après le ms. de Bonn, UB 526]; La Quête du saint Graal, éd. Bogdanow; La Queste del saint Graal (The Quest of the Holy Grail) from the Old French Lancelot of Yale 229 with essays, glossaries and notes to the text, éd. Elizabeth Moore Willingham, Turnhout 2012; La Queste del saint Graal. Édition critique et commentée du manuscrit BNF, français 339, éd. Catherine Scubla, thèse de doctorat, Université de Paris IV-Sorbonne 2012; Queste del saint Graal, éd. Marchello-Nizia. Mais comme le démontre Lino Leonardi, l’étude de la tradition textuelle de la Queste mériterait d’être reprise selon une méthode rigoureuse, fondée, entre autres critères – l’auteur en propose dix – sur le principe des fautes et non des lectures communes: » Stemmatics and the Old French Prose Arthurian Romance Editions «, 55–56.  18  Pauphilet, Études sur la Queste del Saint Graal, op. cit., XI. 19  XIII.



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dans le manuscrit BnF, fr. 123 (daté des années 1275–1280), les manuscrits jumeaux de la bibliothèque de l’Arsenal (Paris), 3350 (vers 1470) et de New York, Pierpont Morgan Library [PML], M. 038 (daté de 1479)20, puis dans L’Hystoire du Sainct Greaal imprimée à Paris en 1516. La diversité du contexte manuscrit ou éditorial et les différentes techniques d’abrègement mises en œuvre permettent en effet de considérer ces versions comme autant de témoins de réceptions possibles de la Queste, parfois très éloignées de la version ordinaire représentée par K. Dans une perspective axée sur la poétique et l’herméneutique du récit et par comparaison avec les versions abrégées, K peut donc être considérée comme une version pleine, c’est-à-dire une version contenant un ensemble d’informations narratives, descriptives ou explicatives qui ne se retrouvent pas dans toutes dans les versions abrégées. À partir de l’édition Marchello-Nizia de ce manuscrit, je souhaite donc ici étudier les modalités d’abrègement mises en œuvre dans ces différents témoins pour interroger la poétique du récit ainsi recomposé et sa réception, par comparaison avec la version ordinaire qui constitue un modèle sur le plan narratif et philologique et qui peut donc, dans cette perspective, représenter du point de vue littéraire une version canonique de la Queste. Certes, l’état des connaissances de la tradition textuelle de la Queste rend complexe la question des réécritures, dans la mesure où l’on ne peut établir encore avec précision à quoi se rattachent exactement les versions BnF fr.  123, Arsenal 3350 et PML M. 038, si bien que la comparaison avec K ne peut reposer que sur le statut archétypal ou canonique représenté  – et à ce jour non contesté  – par cette version. D’après le dernier classement des manuscrits établi par Christiane Marchello-Nizia et revu par Fanni Bogdanow, ces trois manuscrits abrégés appartiendraient à la famille α. Toutefois, les versions de l’Arsenal 3350 et PML M. 038 n’ont pas conservé l’histoire de l’Arbre de Vie et de la Nef du roi Salomon, ce qui rend problématique leur affiliation à l’une ou l’autre branche selon les critères de Pauphilet. De plus, la lacune commune aux manuscrits α dans l’épisode du Château Carcelois21 et absente des manuscrits ß ne se trouve pas dans ces deux manuscrits qui, bien que présentant une version abrégée de l’épisode, raccordent bien le discours du prêtre (du preudon dans K) au récit

20  Il faudrait ajouter à cette liste la version abrégée du manuscrit de Londres, British Library, Royal 19 C. XIII que je n’ai pu encore examiner en détail. 21  Voir K, éd. Marchello-Nizia, f°215c, § 279, 2: » […] que vos n’avez veu. [lacune]. Lors comence li preudons a plorer «. Il manque la transition entre le discours du vieil homme et la délivrance du comte Ernoul qui se met à pleurer à la vue de Galaad.

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de la mort du comte.22 L’on peut donc raisonnablement se demander si ces deux versions n’appartiennent pas plutôt à la famille ß, ou bien si la lacune n’a pas été comblée par un remanieur tardif à l’origine des versions du sous-groupe représenté par ces deux manuscrits.23 Outre les manuscrits et imprimés précédemment évoqués, j’inclurai dans le corpus le manuscrit de Berkeley, Bancroft Library, UCB 73  (Ba) édité par Fanni Bogdanow. Par comparaison avec le manuscrit de Lyon, il présente en effet des passages légèrement mais fréquemment abrégés, et il lui est surtout possiblement antérieur: Alison Stones situe en effet la composition de ce manuscrit vers 122024, tandis que pour Fanni Bogdanow, il daterait de la fin du XIIIe siècle.25 Or K daterait des années 1280–1300, ce qui signifie qu’une version légèrement abrégée du récit a pu circuler très tôt, avant même celle du BnF fr.  123 daté des années 1275–128026. Ainsi, bien que les manuscrits retenus relèvent des deux différentes familles établies par Pauphilet, on observera que le phénomène de l’abrègement concerne possiblement toute la tradition textuelle de la Queste et correspond donc à un mouvement général, sans pour autant que ces remaniements soient pratiqués à l’identique. Il faut en effet distinguer les abrègements qui interviennent au niveau de la copie, comme dans Ba et le BnF fr.  123, de ceux qui se situent manifestement au niveau du groupe ou du sous-groupe constitué par l’Arsenal 3350 et PML M. 038. Sur le plan de l’interprétation littéraire, la mouvance des textes a surtout ici pour conséquence immédiate une mouvance du sens, et non des moindres, dans la mesure où ces adaptations renoncent très souvent aux passages allégoriques ou bien les font passer au second rang, témoignant, dès le XIIIe siècle, d’une réception parfois très éloignée du modèle représenté par K. Mon approche sera donc double, considérant d’une part la dimension stylistique à travers les diverses techniques d’abrègement et, d’autre part, la dimension poétique des récits ainsi recomposés. Du point de vue mé22  Comparer avec Ars. 3350: » […] ung prestre leur vint d’une chambre qui leur dit que Dieu les avoit amenés celle part pour ocire celz mauldictes gens qui estoient pires que Sarrasins et qu’ilz en fussent certains. Et lors leur conta leur mauvaise vie et puis les mena ou le seigneur de leans estoit en prison […] « (f. 154b). 23  Pauphilet, Études sur la Queste del Saint Graal, op. cit., XX–XXI. Voir K, éd. cit. Marchello-Nizia, § 279, f°215c. 24  Alison Stones, Lancelot-Grail project: http: /  / www.lancelot-project.pitt. edu / LG-web / Arthur-LG-ChronGeog.html [consulté en novembre 2017]. 25  La Quête du saint Graal, éd. Bogdanow, 45. 26  Alison Stones, Lancelot-Grail project: http: /  / www.lancelot-project.pitt.edu /  LG-web / Arthur-LG-LibraryList.html [consulté en novembre 2017].



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thodologique, je distinguerai les textes selon leur date de composition et la manière dont ils abrègent la Queste: essentiellement par coupe et raccordement dans le cas des manuscrits du XIIIe s. (Ba et BnF fr.  123) où les interventions sont propres à la copie, par remaniement et réécriture dans les manuscrits du XVe s. (Arsenal 3350 et PML M. 38) qui constituent un sous-groupe uni par une pratique commune et comparable de l’abrègement. Les choix radicaux opérés par le remanieur de la version imprimée du XVIe siècle feront l’objet d’une dernière série d’observations.

I. Coupes et abrègement dans deux versions du XIIIe siècle: le manuscrit de Berkeley, Bancroft Library UCB 73 (ancien Philipps 4377) et le manuscrit de Paris, BnF fr. 123 Ces deux manuscrits présentent des versions abrégées de la Queste à des degrés très différents, dans la mesure où celui de Berkeley procède par petites touches, sans remanier le texte ni supprimer d’épisode, contrairement à ce que l’on observe dans le BnF fr.  123. Ils présentent par ailleurs des modes d’abréviation relativement comparables à ceux exposés dans les Arts poétiques médio-latins, sans que l’on puisse toutefois parler véritablement ici de technique, au sens des Arts poétiques qui exposent de façon théorique l’art de la brièveté et de l’abréviation.27 Comme Pierre-Yves Badel l’a démontré, » dans ces manuels, amplifier et dilater s’y oppose à abréger et raccourcir «28, en particulier chez Geoffroi de Vinsauf, dans la Poetria Nova et le Documentum de modo et de arte dictandi et versificandi.29 Parmi les procédés que ce dernier énumère, certains relèvent de la transformation syntaxique, d’autres du » bon sens « (éviter les répétitions),

27  Comme le rappellent dans leur préface Catherine Croizy-Naquet, Laurence Harf-Lancner et Michelle Szkilnik (éds.), Faire court. L’Esthétique de la brièveté dans la littérature du Moyen Âge¸ Paris 2011, 11: » Visant d’abord à donner des préceptes, à enseigner les moyens d’écrire, ils [les arts poétiques médiévaux] abordent la question de la brièveté non dans sa dimension esthétique mais en termes techniques. Ils énumèrent un certain nombre de procédés, de recettes pour faire court ou faire long selon les besoins de l’écrivain «. 28  Pierre-Yves Badel, » La brièveté au risque de l’obscurité. Poétique médio-latine et comique «, dans: Croizy-Naquet, Harf-Lancner et Szkilnik (éds.), Faire court, 19–33: 23. 29  Geoffroi de Vinsauf, Poetria Nova, dans: Edmond Faral, Les Arts poétiques du XIIe et du XIIIe siècle. Recherches et documents sur la technique littéraire du Moyen Âge (Bibliothèque de l’École des hautes études, Sciences historiques et philologiques 238), Paris 1924, rééd. 1962, 194–262; Documentum de modo et arte dictandi et versificandi, 263–320.

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d’autres encore de procédés plus complexes comme la recherche de sous-­ entendus.30 Certes, ces textes normatifs ne sauraient être appliqués tels quels à la littérature vernaculaire,31 mais certains procédés  – comme la proscription des descriptions, des circonlocutions et des outils propres à l’amplification qui agissent directement sur » les microstructures textuelles «32  – peuvent naturellement s’y retrouver et font partie des procédés utilisés par les remanieurs qui produisent des versions abrégées de la Queste. Une autre technique répertoriée par Geoffroi de Vinsauf consiste en une opération de condensation fondée sur la recherche de mots-clés à partir desquels on reformule le thème avec les verbes adéquats.33 Ces deux techniques d’abrègement sont par exemple appliquées par Jean de Vignay dans sa traduction en langue vernaculaire du libellus apologeticus de Vincent de Beauvais dans le premier quart du XIVe siècle.34 En ce qui concerne les manuscrits de Berkeley et BnF fr.  123 de la Queste, nous verrons que les copistes ont plutôt recours, à des degrés très variables, à la première technique qui consiste à prélever des fragments, voire à couper très franchement dans le texte, ou à supprimer des éléments qui peuvent s’apparenter à des amplifications, comme par exemple le deuxième élément d’un doublet synonymique.

30  Edmond Faral les résume ainsi: »  l’emphasis, l’articulus [fragmentation de l’énoncé], le participe absolu, la proscription de toute répétition, le sous-entendu (intellectio), l’asyndète (dissolutum ou disjunctum), la fusion de plusieurs propositions en une seule «, Les Arts poétiques, 85. 31  Edmond Faral considère par exemple que » cette théorie ne paraît pas intéresser beaucoup la littérature en langue vulgaire, non seulement parce que tous les procédés qu’elle recommande n’y sont pas applicables, mais aussi parce que la brièveté n’y est pas souvent recherchée «, Les Arts poétiques, 85. 32  Monique Goullet, » L’esthétique de la brièveté dans l’hagiographie latine médiévale «, dans: Croizy-Naquet, Harf-Lancner et Szkilnik (éds.), Faire court, 35–64: 52. L’auteure résume de façon plus détaillée que Faral les procédés énumérés par Geoffroi et ramenés à 5 dans le Documentum, 51–52. 33  Geoffroi de Vinsauf, Documentum, II, 2, 43. Pour le commentaire et la traduction, voir Goullet, » L’esthétique de la brièveté dans l’hagiographie latine médiévale «, 52. 34  Catherine Gaullier-Bougassas, » Jean de Vignay et sa traduction du libellus apologeticus de Vincent de Beauvais «, dans: Croizy-Naquet, Harf-Lancner et Szkilnik (éds.), Faire court, 91–103: 93–94.



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1. Le manuscrit de Berkeley, Bancroft Library UCB 73 (Ba) Le manuscrit de Berkeley est celui qui a subi le moins de coupes et de remaniements; il présente une version légèrement abrégée de la Queste avec des variantes qui, en ce domaine, sont sans doute davantage le fait du copiste qu’elles ne proviennent de la source à sa disposition. Nous verrons en effet, au gré des exemples proposés à l’étude, que les coupes opérées dans Ba ne se retrouvent pas dans les autres témoins de la famille.35 Cette situation pose d’ailleurs la question du choix éditorial très interventionniste de Fanni Bogdanow qui restitue entre crochets les passages omis, à partir des manuscrits textuellement les plus proches issus des deux familles α et β, dont le manuscrit K à partir de l’édition Pauphilet.36 Par comparaison avec les leçons de ces manuscrits, Ba livre pourtant un récit plus factuel sans omettre aucun épisode. Les techniques d’abrègement ont davantage une incidence stylistique, dans la mesure où le scribe procède le plus souvent par coupes, petites, mais fréquentes, qui peuvent cependant transformer le sens du passage. Les coupes les plus répandues touchent les procédés d’amplification tels que Geoffroi de Vinsauf, par exemple, les expose, notamment les redondances et doublets synonymiques, les antithèses ou les comparaisons.37 À la chapelle du roi Mordrain, un moine raconte ainsi à Perceval l’histoire de ce personnage: Ba: En cest païs avoit .i. roi que l’en apeloit Crudel, si estoit li plus cruels del monde (§ 99, 8–10) K:  Et en ceste terre avoit .i. roi que l’en apeloit Crudel, et estoit li plus fel et li plus cruiex dou monde sanz pitié et sanz humilité « (f°179c, § 113, 25–27)38

35  Fanni Bogdanow, dans son introduction à La Queste de saint Graal, semble toutefois attribuer ces variantes à la source de ßa: » […] il est fort probable qu’un certain nombre au moins des › variantes ‹ est attribuable au scribe du manuscrit à sa disposition, car, alors que pour la plus grande partie du manuscrit le copiste de Ba semble être fidèle à son modèle, pour certains passages il présente un texte quelque peu abrégé […] «, 58. 36  Voir le compte-rendu de Lino Leonardi sur l’édition de Fanni Bogdanow, Medieovo Romanzo 31 (2007), 413–415. 37  Geoffroi de Vinsauf, Poetria Nova, v. 220–689, dans: Faral, Les Arts poétiques, 204–218. 38  Leçon proche des mss. BnF fr. 342, 343, 751, fr. 339, fr. 12581; Ars. 3480; Ravenne, Classense, 454; Udine, Archivio Arcivescovile 177; Florence, Biblioteca Medicea Laurenziana, 121; Oxford, Bodleian Library, D. 874): La Quête du saint Graal, éd. Bogdanow, 689. Toutes les citations de Ba sont tirées de cette édition. Je souligne en italique, pour tous les manuscrits et dans toutes les citations, les passages soumis à la comparaison.

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Les informations principales sont conservées dans un style plus factuel et la suppression des redondances (adjectif superlatif et syntagmes prépositionnels) ne modifie pas le sens. Ce type d’occurrences est extrêmement fréquent, de même que la suppression des oppositions, comme dans ces propos que l’ermite tient à Lancelot: Ba: li servises ou vos estes entrez n’apartient de rien as terrienes choses (§ 140, 30–31) K: cist servises ou vos estes entré n’apartient de riens as terriennes choses, mes as celestiex « (f°187c  /  § 153, 34–36)39

D’une manière générale, sont fréquemment omis les adjectifs, les a­dverbes, les modalisateurs, les connecteurs, les verbes introducteurs de parole, les propositions subordonnées circonstancielles ou les relatives. ­ L’information narrative est maintenue, mais le discours procède davantage par juxtaposition des énoncés qui perdent en nuance et ne font ressortir qu’une valeur factuelle avec parfois des transitions abruptes, comme dans ce passage qui précède de peu la mort d’Yvain, blessé à mort par Gauvain: Ba: Et si tost com il fu couchiez, si demanda son Sauveor et l’en li aporte. Il comence a plorer trop durement, et joint les mains encontre, et se fet confés, oianz toz cels de la place, de toz ses pechiez, et cria merci a Deu. Et com il ot receu son Sauveor, si dist a monseignor Gauvain qu’il li traissist le fer del glaive qu’il avoit par mi le piz (§ 187, 11–19) K: […] et si tost com il fu couchiez si demande son sauveor, et l’en li aporte, et quant il le voit venir si comence a plorer trop durement, et tent ses mains encontre, et se fet confés oiant toz cels de la place de toz ses pechiez dom il se sent corpables vers son criator, et comence a plorer trop tendrement et a crier merci. Et quant il [a tot ce dit dom il se sent remembranz li prestres li done son sauveor, et il le reçoit o grant devocion, quant il] ot usé corpus domini il dist a mon seignor Gauvain qu’il li traie le glaive dou piz (f°196c, § 191, 17–27)

La comparaison montre clairement la tendance à l’économie de Ba par l’élimination de ce qui peut paraître redondant ou inutile du point de vue narratif. Fanni Bogdanow voit dans l’omission de la dernière partie de K (signalée entre crochets) dans Ba un saut du même au même. Cependant la phrase est en soi redondante avec ce qui précède  – le repentir des péchés – et ce qui suit – la communion – et l’on peut très bien admettre que le rédacteur de Ba l’ait sciemment éliminée par rapport à son modèle, ce d’autant plus que la leçon des manuscrits de Paris, BnF fr.  751, 339, 342, 344, 12581; naf. 1119; Florence, Biblioteca Medicea Laurenziana, 121; Ars. 39  Leçon proche des mss. Paris, BnF, fr. 751, 342, 12581, naf. 1119; Ars. 3480; Ravenne, Classense, 454. La Quête du saint Graal, éd. Bogdanow, 707.

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3480, à partir desquels F. Bogdanow établit les variantes du passage, est ici plus étoffée que Ba.40 D’une manière générale, les passages les plus souvent abrégés concernent l’expression de l’intériorité des personnages et les gloses. Pour illustrer le premier cas de figure, lorsque Perceval se retrouve seul et sans cheval dans la forêt, il demande en vain à un jeune homme, menant un destrier, de lui céder le cheval. Les manuscrits K et Z (Paris, BnF naf. 1119) ainsi que la plupart des manuscrits de la famille β conservent le passage où le narrateur rapporte les pensées, hésitations et scrupules de Perceval qui voudrait avoir le destrier mais ne saurait le prendre de force, ce qui illustre la disposition d’esprit charitable d’un élu de la Quête. Le copiste de Ba omet toute cette partie et se concentre sèchement sur la dimension factuelle, éliminant les motivations intérieures de Perceval et gommant ses qualités courtoises et chrétiennes. Or ce sont justement ces qualités qui contribuent à justifier le statut particulier de Perceval. Réduire la scène à un simple dialogue où une demande s’oppose à un refus restreint donc la portée de l’épisode: Ba: Et quant Percevax l’encontre, si ne set que fere. Car il vodroit volentiers cheval avoir por sivre le buen chevalier. Lors salue le vallet et cil dit Dex le beneie (§ 106, 6–14) K: Et quant Perceval le voit si ne set que fere. Car il voldroit volentiers le cheval avoir por sivre le chevalier, et mout en voldroit grant meschief fere par covent qu’il l’eust par la volenté au vaslet, car a force ne l’enmenroit il mie se trop grant besoing ne li fesoit fere. Et por ce que l’en nel tenist a vilain si salue le vaslet si tost com il l’aproche, et cil dist que Diex beneïe lui (f°180d, § 118, 13–21)

Les occurrences de ce type sont légion, mais les omissions les plus nombreuses et les plus signifiantes concernent les passages explicatifs; elles se manifestent essentiellement par la suppression des comparaisons, des expansions du nom et des propositions relatives explicatives. Elles concernent notamment l’exposé et la glose des songes et des visions, les explications liées au Graal et les discours de prêche et de conversion, c’està-dire les discours à valeur allégorique et herméneutique toujours considérés comme le trait le plus distinctif de La Queste del Saint Graal. La nature complexe de la relation entre semblance et veraie semblance est ainsi particulièrement atténuée dans l’épisode du Cerf Blanc et des quatre lions. Dans Ba, l’ermite établit toujours le lien entre la semblance du cerf et la senefiance du Christ, mais de façon brute, puisque le copiste omet la glose qui explicite l’analogie et permettrait de comprendre la valeur parabolique

40  720.

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de la vision. Disparaissent ainsi les embrayeurs habituels du discours de senefiance  que sont les locutions comparatives du type » tot (aussi) com «: Ba: Vos estes cil a cui Nostre Sires mostra ses secrez; que ce qu’il se mua de cerf en home celestiel vos mostra il la venjance qu’il fist en la Croiz ou il estoit coverz de coverture terriene, por ce vos aparut il en senblance de cerf (§ 282, 17– 29) K: […] vos estes cil a qui Nostre Sires a mostrez ses secrez et ses repostailles, si vos en a mostré partie, car en ce qu’il mua le cerf en home celestiel qui n’est pas mortiex vos mostra il la venjance qu’il fist en la croiz la ou il fu coverz de coverture terriane, ce est de char mortel vainqui il en morant la mort et ramena nostre vie, et bien doit estre senefiez par le cerf, car tot ausi com li cers se rajuenist en lessant son cuir et son poil en partie, tout ausi revint Nostre Sires de mort a vie quant il lessa le cuir terrien, ce est la char mortel qu’il avoit prise ou ventre de la beneoite virge, et por ce qu’en la beneoite virge n’ot onques point de pechié terrien aparoit il en guise de cerf blanc sanz tache (f°216a, § 282, 15–29)

Ce type d’omission touche aussi les passages qui traitent du Graal, notamment dans la scène finale de Corbenic. Dans K et l’ensemble des manuscrits proches de Ba, après la consécration de l’hostie, Josephé disparaît, cédant la place à la vision du Christ qui émane du Graal et révèle aux élus l’origine et le sens du mot » Graal «, sauf dans Ba qui abrège considérablement la scène en éliminant la comparaison qui permet d’identifier la figure émanant du Vessel au Christ sanglant et, d’autre part, le discours explicatif qui révèle les origines et la nature du Graal par l’intermédiaire du jeu de mot entre » Graal « et » gré «: Ba: Et lors escoutent si voient .i. home oissir del saint Vessel et lor dist: – Mi chevalier, mi loial serjant, mi fil, vos estes tel et vos avez tant fet que vos estes assis a la table ou onques chevalier ne manja puis le tens Joseph d’Arimacie. Del remanant ont il eu aussi come serjant, c’est a dire que cil de cest ostel et maint autre chevalier ont esté repeü de la grace del Saint Esperit et de cest saint Vessel, mais il n’ont mie esté ausi a meismes come vos estes orendroit. Or recevez la haute viande que vos avez tant desirree. Lors prist il meismes le saint Vessel et vint a Galaaz et as autres compaignons, si lor done la viande qui tant lor est douce qu’il lor estoit avis que totes les soatumes que l’en porroit dire lor fussent dedenz le cors. Cil qui les ot einsi repuz, si dist a Galaaz: – Filz si net de totes mauvestiez come huens terriens puet estre, or as tu veu ce que tu as tant desirré a veoir « (§ 322, 4–39). K: […] lors regardent li compaingnon et voient le saint vessel ou il avoit .i. home ausi comme tout nu, et avoit les mains saignanz et les piez et le cors, et lor dist: » Mi chevalier et mi loial serjant, et mi loial fil qui en mortel vie estes devenu esperitel, qui m’avez tant quis que je ne me puis plus vers vos celer, il covient que



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vos veoiz partie de mes repostailles et de mes secrez, car vos avez tant fet que vos estes assis a ma table ou onques mes chevalier ne menja puis le tens Joseph d’Arymacie, mes del remanant ont il eu ausi come serjant ont. Ce est a dire que li chevalier de ceenz et maint autre ont esté repeu de la grace de cest saint vessel, mes il n’ont mie esté a meesmes ausi com vos avez orendroit, or tenez et recevez la haute viande que vos avez si lonc tens desirree, et por quoi vos estes tant (sic: trant) travailliez «. Lors prist il meïsmes le saint vessel et vint a Galaad et cil s’agenoille, et il li done son sauveor, et cil le reçoit joieux et a jointes mains, et ausi fist chascuns des autres, ne n’i ot nus a qui il ne fust avis que l’en li meïst la piece en semblance de pain en sa bouche. Quant il orent tuit receu la haute viande qui tant lor sembloit douce et merveilleuse qu’il lor ert avis que toutes les soatumes que l’em porroit penser de cuer ne s’i poïssent acomparagier. Cil qui einsi les ot repeuz dist a Galaad: » Filz si nez et si espurgiez come hom terriens puet estre sez tu que je tieng entre mes mains?  – Nanil, fet il, se vos nel me dites.  – Ce est, fet il, l’escuele ou Jhesucriz menja l’aignel le jor de Pasques o ses deciples. Ce est l’escuele qui a servi toz çaux a gré que j’ai trovez en mon servise. Ce est l’escuele que onques hons mescreanz ne vit qui ele ne servist a gré. Et por ce que ele a servi a gré toutes genz.’ doit ele estre apelee le saint Graal. Or as veu ce que tu as tant desirré a veoir, et ce que tu as couvoitié […] (f°224b–c, § 343, 16–32, § 344, 33–40 et 1–14).41

La vision du Graal de Ba s’insère, comme dans les autres versions, dans une scène de messe où se manifeste le mystère de la transsubstantiation, mais la semblance christique, en soi, a disparu avec l’omission de la Croix et des plaies. Elle ne fait donc plus signe de façon aussi évidente vers l’Eucharistie, pas plus que le sang du Christ ne peut in absentia être mis en rapport avec le sang qui coule de la lance dans le saint Vessel.42 Le raccourci est tel que la demostrance de l’incarnation passe au second plan, au profit d’une messe où le mystère se manifeste de façon bien plus discrète aux élus. Le caractère visuel de la demostrance divine est aussi atténué par la disparition des formules du types il (ce) m’est avis et par la raréfaction du champ lexical de la semblance qui constitue l’indice habituel d’un sens à rechercher derrière la vision matérielle.

41  Les variantes relevées par Fanni Bogdanow sont proches: La Quête du saint Graal, 793–794. 42  Emmanuèle Baumgartner commentait ainsi la scène à partir de l’édition Pauphilet: » En un raccourci saisissant la deuxième messe déploie ainsi en pleine clarté toute l’économie chrétienne du salut, de l’incarnation du Dieu à son sacrifice sanglant, révèle concrètement non seulement les plaies de l’homme crucifié mais aussi l’aombrement du Dieu – et se feri ou pain (p. 269 118) – dans le créé, l’animation et la mise en forme de la matière par la divinité «, L’Arbre et le Pain, 129. Voir aussi Valette, La Pensée du Graal, 481.

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Dans l’ensemble, le manuscrit de Bancroft constitue donc une version légèrement abrégée de la Queste. Par comparaison avec la version ordinaire, il semble bien que les omissions opérées ne soient pas accidentelles. En effet, à quelques exceptions près, les coupes sont bien raccordées ou remplacées par une formule plus synthétique, si bien que l’information narrative est globalement préservée. Cependant, en raison même de ces omissions ou de ces abrègements, la scène du Graal de Corbenic ou bien la vision du Cerf Blanc se détachent sensiblement moins bien du » continuum narratif «43, ce qui infléchit légèrement la poétique du récit. 2. Le manuscrit de Paris, Bibliothèque nationale de France, français 123 L’abrègement de la Queste est beaucoup plus conséquent dans ce manuscrit du XIIIe siècle (1275–1280) qui contient une partie du Lancelot en prose, la Queste et la Mort Artu. En raison des coupures qu’il présente, Pauphilet le considère comme » un résumé dépourvu de tout intérêt pour la connaissance de la Queste «44, mais du point de vue de la réception, il est intéressant de mesurer à quel point ce manuscrit, contemporain de K et appartenant à la même famille (α), peut en être aussi éloigné. En effet, le fr.  123 va beaucoup plus loin que Ba dans l’abrègement des gloses allégoriques, des passages paraboliques, des dialogues et de ce qui relève de la dimension intérieure des personnages, ce qui produit un récit très factuel où l’information narrative n’est pas toujours maintenue. Contrairement à la poétique de la Queste qui se définit dans K par la rupture du continuum narratif, la poétique du récit dans le fr.  123 est beaucoup plus lisse, avec des démarcations discursives moindres en raison de la disparition des discours de senefiance. Il semble même que le remanieur se plaise davantage à conserver les passages qui traitent de la dimension humaine, terrestre, de la quête, plus que ceux qui mettent en avant sa dimension mystique. Il élimine ainsi la visite de Nascien qui interdit aux dames d’accompagner les chevaliers et insiste sur la nécessité de se confesser avant de partir. Disparaît ainsi le seul sermon de la Queste dispensé en public, devant une assemblée de 43  Jean-René Valette postule ainsi que dans les » Hauts livres du Graal « comme la Queste, les » scènes du Graal « forment » un corpus distinct au sein des romans arthuriens «, corpus que la notion de » transcendance « permet d’appréhender. Ainsi, » le concept de transcendance relève de la poétique des textes. Il renvoie à la façon dont les › scènes du Graal ‹ se détachent du continuum narratif pour apparaître comme en rupture vis-à-vis de l’action racontée «, 461. 44  Pauphilet, Études sur la Queste del saint Graal, XI.



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chrétiens.45 D’emblée, la portée morale et celestielle de la quête est donc amoindrie, comme l’illustre aussi la manière dont est traité l’épisode de l’épée fichée dans le perron de marbre, au début du roman. Le récit reste concentré sur l’action de Galaad, mais une fois que celui-ci a retiré l’épée, le remanieur passe directement au tournoi de Camaloth et supprime le passage où la messagère de Nascien confirme la déchéance de Lancelot et annonce l’arrivée imminente du Graal.46 Disparaît alors le discours de senefiance permettant d’appréhender le second degré de réalité de cette épreuve qui n’a initialement, dans le Roman de Merlin dont elle est héritée, qu’une valeur terrestre.47 L’aventure se cantonne dans le fr.  123 à la valeur chevaleresque initiale du motif, puisqu’il n’y a plus d’herméneute pour la transformer en demostrance divine. Dans cet épisode, la coupe a aussi pour conséquence de juxtaposer les deux prises de parole d’Arthur – initialement séparées par l’intervention de la demoiselle  –   où il annonce tour à tour que Dieu pourvoira un écu à Galaad, puis qu’un tournoi se tiendra à Camaloth: BnF fr.  123: » Beaus sire, fet li reis, escu vos enveirra Deus d’aucune part «. [omission] Lors dist li reis as barons de son ostel: » Beaus seignours, il est ensi ke jeo voil k’en la praerie de Camaalot seit orendreit comencez un tourneiment si enveisez ke aprés noz morz en facent remembraunce li eir ki aprés nos seront  … « (f°199b).

Dans cet enchaînement abrupt, l’épreuve que vient d’accomplir Galaad est placée sur le même plan que le tournoi dont la narration est, quant à elle, maintenue dans sa globalité sauf à la toute la fin où Arthur fait défiler Galaad dans les rues de Camaloth et où la reine devine qu’il est le fils de Lancelot. Le passage ainsi remanié et abrégé met donc paradoxalement l’accent sur l’appartenance de Galaad à la chevalerie terrestre. Plus loin, l’épée du roi Salomon, préfigurée par l’épée au perron, subit un traitement comparable qui réduit la portée analogique de l’épée de Salomon avec la Croix.48 Elle est toujours présentée sur la nef merveilleuse comme une aventure réservée à l’élu de la Quête, mais son histoire, abrégée et simplifiée, semble renouer elle aussi avec l’épreuve qualifiante tra45  K, éd. Marchello-Nizia, version courante, f°164b–164c, § 26–27. Cf. Girbea, Communiquer pour convertir dans les romans du Graal, 111. 46  K, éd. Marchello-Nizia, version courante, f°162d, § 17, l. 4–25 et § 18, 26–38. 47  Robert de Boron, Merlin. Roman du XIIIe siècle, éd. Alexandre Micha, Genève 2000, § 83–87, 268–280. 48  Christine Ferlampin-Acher, » L’épée du perron et la Croix dans la Queste del saint Graal «, Méthodes ! 7 (2004), 23–31. Voir l’épisode dans K, éd. Marchello-Nizia, version courante, f°207d–210a, § 231–245.

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ditionnelle de l’épée à empoigner. Sa présentation se réduit à une série d’observations très succinctes qui réduisent au minimum les inscriptions portées dans K et la plupart des autres manuscrits sur cet objet-livre. L’inscription sur l’enheudure a disparu; celle qui dans K figure sur la lame est réduite à: » Ja nus ne seit taunt hardiz k’il m’enpoigne se cil non a ki costé jeo dei pendre « (f°220a), sans mention du danger de mort ou de blessure qui menace celui qui oserait l’empoigner. Enfin, les lettres figurant sur le fourreau se limitent à cette phrase: » Ja nus ne me ceigne s’il n’est li mieudres chevaliers du monde « (f°220a), là où la version ordinaire définit le meilleur chevalier comme celui qui n’a jamais péché selon les valeurs de la nouvelle chevalerie celestielle. Disparaissent aussi les explications de la sœur de Perceval sur l’origine du coup douloureux  et, avec elles, les histoires de Lambar, de Nascien et du géant. Non sans quelque incohérence, le remanieur ne conserve que l’histoire du roi Parlan que l’en apele le rei mehaigné (f°220r°a) blessé entre les cuisses, si bien que des trois versions du coup douloureux présentes dans K, il n’est reste plus qu’une, expurgée toutefois du motif de la terre gaste et de toute autre connotation que celle d’une aventure merveilleuse profane. C’est toute la dimension énigmatique de l’épisode qui est atteinte, par comparaison avec K et la majorité des leçons, où les trois histoires du coup douloureux constituent les variantes d’un motif sans cesse reconfiguré et complexifié qui génère ainsi une surcharge interprétative.49 La réduction des aventures à leur sens littéral est encore plus radicale dans l’épisode du Château des Pucelles. La partie principale de l’épisode est traitée de façon très proche de la version ordinaire, mais il manque la suite donnée à l’histoire et la senefiance que prend l’aventure. Dans la version commune, Galaad épargne les sept frères qui martyrisaient les jeunes filles et les laisse s’enfuir après les avoir vaincus. Au moment où il remet les clefs du château, un messager lui apprend que Gauvain, Gaheriet et Yvain ont rencontré les sept chevaliers et les ont tués.  Mais il ne s’agit pas là d’une action à la gloire des chevaliers: un ermite reproche vivement à Gauvain ce meurtre, perpétré en raison de l’état de péché dans lequel il se trouve, tandis que Galaad, en épargnant les frères, leur aurait permis de se repentir. L’ermite glose ensuite l’aventure: le Château représente l’Enfer; les sept frères, les sept péchés capitaux et les demoiselles, les âmes prisonnières de l’Enfer délivrées par le Christ, figuré par Galaad. En omettant la dernière partie avec la glose50, le remanieur conserve uniquement la valeur terrestre de l’épisode. Comme l’épée du Écritures de l’énigme et fiction romanesque, 287–291. dans K, éd. Marchello-Nizia, version courante, f°171d–172d, § 66–75.

49  Bouget, 50  Voir

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perron flottant, l’aventure illustre les vertus chevaleresques de Galaad, sans lui conférer explicitement le statut de chevalier christique. Le sens de l’épisode, qui s’achève sur l’annonce de la mort des sept frères, est même radicalement changé puisque Gauvain, Gaheriet et Yvain semblent alors avoir achevé la mission de Galaad et non l’avoir pervertie … Dans cette perspective, la notion de dissemblance, qui régit dans la version ordinaire le fonctionnement de la Queste, n’est plus opérationnelle. La disparition des passages consacrés à Gauvain aplanit la poétique du récit puisque l’entrelacement cède la place à une structure plus linéaire, tandis que le système des personnages s’en trouve simplifié. Or ce système est lié à la notion de compagnie qui » postule celle de ressemblance «51. Comme l’explique Jean-René Valette: » le › milieu interpersonnel ‹ de la Queste est polarisé par le ciel et l’enfer, et les héros s’exposent constamment au risque de perdre la compagnie des chevaliers célestes «.52 Mais dans la version du fr.  123, le rôle de Gauvain se limite au meurtre: aucun ermite ne vient lui signifier sa dissemblance avec Galaad et il n’a pas ici l’occasion de formuler le désir de retrouver le chevalier christique.53 Du point de vue de la senefiance, l’épisode se limite au sens littéral: Galaad ne se distingue pas d’Yvain qui dans Le Chevalier au Lion délivre les prisonnières du Château de Pesme Aventure, si bien que l’aventure perd ici tout sens moral et anagogique.54 Le remanieur du fr.  123 réduit systématiquement le dispositif discursif et allégorique, comme l’illustre encore la partie du récit consacrée à Bohort, qui s’ouvre sur la rencontre avec un ermite. Dans la version ordinaire, Bohort est ensuite soumis à la vision du grand oiseau qui se sacrifie pour nourrir ses petits, puis il est hébergé chez une dame pour laquelle il combat le chevalier diabolique Priadan; au cours de la nuit, il fait preuve de véritable humilité en préférant dormir par terre plutôt que dans son lit et il fait enfin l’expérience de deux songes qui seront longuement glosés par la suite: le songe du cygne blanc et de la corneille noire et celui des 51  Valette,

La Pensée du Graal, 185.

52  186. 53  Or Jean-René Valette observe que » c’est dans l’absence que s’éprouve la dissemblance «. C’est pourquoi selon lui dans K » l’instant où Gauvain, Gaheriet et Yvain manquent l’occasion de rejoindre Galaad est souligné avec une emphase particulière: › Si ne tornent mie vers le Chastel as Puceles, ainz s’en vont tout lor chemin a destre; et par ce perdirent il Galaad ‹ (p. 53, l. 17–18 [d’après l’édition Pauphilet]) «, 190. 54  Baumgartner, L’Arbre et le Pain, 105–107; Emmanuèle Baumgartner, » Le château des pucelles, variations sur un motif arthurien «, dans: Christine Ferlampin-Acher et Denis Hüe (éds.), Le Monde et l’Autre Monde, Orléans 2002, 39–49.

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fleurs de lys et du bois pourri.55 Or le fr.  123 relie directement le récit abrégé du séjour chez l’ermite à l’épisode suivant, c’est-à-dire à la rencontre avec les chevaliers qui battent Lionel. Il mentionne en passant la nuit que Bohort passe chez une dame anonyme, mais élimine le récit des songes, des visions et du combat où Bohort se fait le champion de la cause divine. C’est pourtant le songe des lys et du tronc pourri qui permet ensuite de légitimer le choix de Bohort, qui préfère se porter au secours d’une demoiselle vierge que de sauver son frère, tandis que le songe du cygne et de la corneille fera l’objet de deux interprétations antithétiques, l’une délivrée par un faux herméneute qui tente de faire plonger Bohort dans la luxure, et l’autre, donnée par un moine blanc, qui rétablit la véritable senefiance. La coupe et le raccordement sont d’ailleurs un peu aléatoires, puisque le remanieur du fr. 123 conserve la glose abrégée des songes et visions délivrée par le moine blanc. La partie consacrée à Bohort élimine donc ici les aventures hautement signifiantes que sont dans K et la plupart des manuscrits les demostrances des signes divins. L’abrègement ou la suppression des songes et visions réduisent considérablement la valeur spirituelle de la Queste et atténuent la complexité du dispositif allégorique, en nivelant encore une fois l’échelle de valeur entre les chevaliers.56 Les sommeils sont pourtant d’une importance capitale dans la Queste car ils définissent l’homme dans son rapport à Dieu et permettent d’établir une hiérarchie entre celui qui a oublié Dieu, celui qui bénéficie  – comme Bohort  – de ses révélations, et celui qui fait  – comme Galaad  – l’expérience de la gloire future.57 Dans une perspective proche, Mireille Demaules souligne aussi la fonction discriminante des songes dans la Queste:  […] les songes de Perceval et de Bohort sont bâtis sur un même scénario onirique, fondé sur l’épreuve d’un choix, tandis que ceux des réprouvés justifient les exigences spirituelles de la quête conduisant à la hiérarchisation des chevaliers, et légitiment leur éviction de la chevalerie célestielle.58

Or dans le fr. 123 les coupes infligées aux songes de Bohort font disparaître leur portée oraculaire, réduisent le dilemme moral auquel le chevalier 55  K,

éd. Marchello-Nizia, version courante, f°200a-201d, § 200–205. Bouget, Écritures de l’énigme et fiction romanesque, 148–149; Mireille Demaules, La Corne et l’Ivoire. Étude sur le récit de rêve dans la littérature romanesque des XIIe et XIIIe siècles, Paris 2010, 372–373. 57  Jean-René Valette, » Triplex est somnus. Sommeil et itinéraire spirituel dans la Queste del Saint Graal «, dans: Christine Ferlampin-Acher, Elisabeth Gaucher et Denis Hüe (éds.), Sommeil, songes, et insomnies. Actes du colloque de Rennes, 28 et 29 septembre 2006 (Perspectives Médiévales 32), Gémenos 2008, 293–310: 309. 58  Mireille Demaules, La Corne et l’Ivoire, 310. 56  Cf.

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sera confronté et n’illustrent plus la capacité donnée à l’homme par Dieu d’estimer ce qui est bien ou mal. Le rêve semble ici moins perçu comme un » espace de révélation, où peut se mesurer […] le degré d’élection du héros [et] son degré de collaboration possible avec Dieu «59 que comme un lieu commun dont on peut faire l’économie sans entamer le sens du récit. Celui-ci est par conséquent ramené aux realia de l’aventure chevaleresque plus qu’à sa dimension spirituelle. Le traitement des scènes du Graal est enfin emblématique de l’évidement du sens que subit la Queste dans cette version. Dans la scène des retrouvailles à Corbenic, le remanieur conserve les éléments factuels essentiels à la compréhension de la fabula, mais la scène ne fait plus intervenir ni Josephé, ni le Christ: c’est une figure d’évêque anonyme qui apparaît dans la pièce, porté par quatre anges. Le texte ne précise plus que ceux-ci l’assoient à la table du Graal, ni qu’une toaille recouvre le saint Vessel, ni que le sang de la lance s’écoule à l’intérieur. La mise en scène est par conséquent trouée, marquée par l’absence de détails a priori primordiaux: » un home en semblaunce de eveske « célèbre simplement la messe et communie Galaad. De façon plus radicale que dans Ba, les secrets du Graal et la révélation des mystères chrétiens sont donc relégués au second plan, à moins de supposer que la scène et le sens qui s’en dégage soient bien connus de tous ou encore que ces développements ne paraissent un peu fastidieux.60 La fin du récit est elle aussi très abrégée et soumise à une narration happée par la succession rapide des événements. L’anonymat de l’homme » en semblaunce de eveske « qui célèbre la messe du Graal et invite Galaad à contempler l’intérieur du Vaissel n’est pas levé. Enfin, sont éliminées les ultimes paroles de Galaad qui, dans la version ordinaire, formule sa vision selon des termes antithétiques qui inscrivent le Graal dans la rhétorique de l’énigme.61  Le discours sur le Graal est purement et simplement éliminé et le processus qui consiste à réduire les aventures à leur sens littéral est alors achevé: BnF fr.  123, 228va: Lors se tret avaunt e regarde dedenz le seint vessel. Si tost com il out regardé dedenz comença a trembler. Lors fist sa preiere a Nostre Seignour ke il en ceu point ou il esteit le preïst a lui s’il li pleiseit.  Si tost com Galaad out fete sa preiere, li proudom ki devaunt l’autel esteit revestuz en semblaunce de eveske prist Corpus Domini sour l’autel e l’offri a Galaad. E il le reçut mout humblement. 59  323. 60  BnF fr. 123, f°227v°b–228a; K, éd. Marchello-Nizia, version courante, f°223d– 224c, § 338–345. 61  Bouget, Écritures de l’énigme et fiction romanesque, 32–34.

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BnF naf. 1119, f°191c, § 348–349, 11–31:  Et il se tret avant et regarde devant le seint vessel et si tost com il i ot regardé si commence a trembler mout durement si tost comme la mortel char commença a regarder les esperitex choses, lors tent Galaad ses meins vers le ciel et dit: » Sire toi ador ge et merci de ce que tu m’as acompli mon desirrier quar a ce voi ge tot apertement ce que langue ne porroit descrire ne cuer penser ici voi ge la commençaille des granz hardemenz et l’achoison des proeces, ici voi ge les merveilles de totes autres merveilles, et puis qu’il est einsi biax dolz Sires que vos m’avez acomplies mes volentez de lessier moi veoir ce que j’ai touz jors desirré, or vos pri ge que vos en cest point ou je sui et en ceste grant joie soffrez que je tres[passe] de ceste terriene vie en la celestiel. « Si tost com Galaad ot fete ceste requeste a Nostre Seignor li prodons qui devant l’autel estoit revestuz en semblance de evesque prist corpus domini sus la table et l’ofri a Galaad et il le reçut mout humilieusement et o grant devotion  […].62

Par comparaison avec le manuscrit de Bancroft et les manuscrits contemporains du fr.  123, il peut paraître étonnant de constater des remaniements si profonds dans un manuscrit pourtant ancien. Serait-ce le signe d’une lassitude, déjà, vis-à-vis d’un texte dont la dimension exégétique tranche avec l’aspect merveilleux traditionnel des romans arthuriens? Les passages supprimés sont-ils perçus comme superflus et non comme l’essence de la Queste, comme on a tendance à le penser? Le manuscrit aurait été composé à l’occasion du mariage de Blanche d’Artois et d’Edmond de Lancastre, frère d’Édouard Ier, roi d’Angleterre en 1276.  Mais, selon l’hypothèse de Catalina Girbea, on peut se demander s’il n’a pas plutôt été commandité plus tard par Marguerite de France qui épouse Édouard Ier en 1299, à une époque de grande tension entre la France et l’Angleterre. Catalina Girbea envisage en effet ce manuscrit comme un exemple de propagande capétienne où certaines images présentent, au contraire du texte, » une royauté qui passe nécessairement par la chevalerie «63 et illustrent » une volonté de glorifier la royauté capétienne [et] de la mettre en position de supériorité par rapport aux monarques anglais «64. Or en 1294, la rupture de l’hommage vassalique d’Édouard envers Philippe le Bel génère un conflit soldé en 1299 par le traité de Montreuil, qui stipule qu’Édouard reste le vassal du roi de France. Catalina Girbea souligne ainsi que » dans ce contexte, la question de la supériorité d’une dynastie sur l’autre peut se poser de manière plus ferme « que dans l’hypothèse 62  Éd.

Marchello-Nizia, version courante. L’hypothèse se fonde essentiellement sur l’analyse de la lettrine qui ouvre la Queste (f°197) et » met face à face les problèmes politiques et religieux soulevés par la Queste et lance un message de propagande capétienne et un hommage particulier à Louis IX et à sa mère «, 346. 64  349. 63  345.

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d’une commande de Blanche d’Artois qui, apparentée à Louis IX, aurait certes pu vouloir glorifier sa parenté, mais dont on comprend moins bien qu’elle ait pu satisfaire Edmond, à une époque où les relations entre la France et l’Angleterre sont équilibrées.65 Le manuscrit aurait ainsi été davantage commandité pour son programme iconographique que pour les romans qu’il contient66, ce qui, dans notre perspective, pourrait expliquer les coupes et les remaniements infligés au texte. Si, comme le montrent les enluminures, le message politique terrestre prime sur la conception d’une royauté céleste, il est en effet logique de ramener la Queste à un roman plus conforme à l’idéal chevaleresque fondé sur le pouvoir des armes et de la force. II. Compiler et résumer: la Queste del saint Graal dans les manuscrits du XVe siècle, Paris, Arsenal 3350 et New York, Pierpont Morgan Library, M. 038 Les manuscrits jumeaux de Paris, Arsenal 3350, et de New York, Pierpont Morgan Library, M. 038, copié à Bruges par Loÿs Daymeries en 1479, contiennent aussi une version très abrégée du cycle Vulgate.67 Chacun se présente comme un » livre du sainct Graal « qui oriente donc plus le récit vers l’histoire du Graal que vers celle du royaume arthurien.68 Dans le manuscrit de New York, on trouve à la suite de la table des ma65  Girbea,

Communiquer pour convertir, 350–51.

66  Ibid. 67  Fanni Bogdanow, » An Arthurian Manuscript: Arsenal 3350 «, BBSIA 7 (1955), 105–108; Fanni Bogdanow, » Another hitherto unidentified Arthurian manuscript: New York Pierpont Morgan Library M 38 «, BBSIA 28 (1976), 191–203. Bien qu’ils n’aient pas été copiés l’un sur l’autre, ils sont tous deux organisés en 113 chapitres introduits par des rubriques globalement identiques. À noter cependant que le ms. de l’Arsenal laisse la Mort Artu inachevée. Le ms. de New York présente un ex-libris de la main de Loys Daymeries qui pourrait être Louis Rolin d’Aymeries (mort en 1529), fils d’Ysembart Rolin à qui le volume a appartenu, premier vicomte de Hainaut. Il témoignerait donc, pour Céline Van Hoorebeeck, de l’intérêt de » la noblesse régionale bourgondo-habsbourgeoise « pour ce type de littérature: Livres et lectures des fonctionnaires des ducs de Bourgogne (ca 1420–1520), Turnhout 2014, 206. 68  Dans le manuscrit de Paris, la première rubrique de la table des matières présente ainsi l’ouvrage: » C’est la table du livre du sainct Graal qui contient dont le sainct Graal vint et que ce fut. Et dont les merveilhes vindrent au royaulme de Logres qui y commencerent despuis le temps de Joseph d’Arimathie et y durerent jusques au temps de Galaad le bon chevalier qui acheva toutes celles que les aultres chevaliers n’avoient peu achever devant lui. « (Ars. 3350, f°A, rubrique initiale). Sauf exception mentionnée, les citations sont tirées du ms. de l’Arsenal auquel j’ai pu avoir directement accès.

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tières, une rubrique où le remanieur explique pourquoi il en présente une version abrégée: En ce present livre sera demoustré par lectres la droite hystoire du sainct Graal abregiee pour cause de la myeulx retenir en memoire et pour eschever prolixité de parolles qui engendrent souvent ennuy aux lisans. Car plusieurs gens sont qui aiment mueulx les briefves parolles que les longues et la rayson peut estre pour ce qu’elles sont plus aisiees a retenir. Et c’est la principale cause qui m’a meu de emprendre a ceste oeuvre a parfayre a l’ayde de nostre Seigneur Jhesucrist qui par sa grace m’y vueille aidier et conduire jusques a la fin a sa digne loenge. (f°10)

Or si l’on observe les deux manuscrits, il faut bien admettre que la » prolixité de parolles « qui suscite l’» ennuy « des lecteurs résidait certainement dans les passages de glose et d’exégèse ou les discours de conversion, et ce autant dans la partie Estoire que dans la Queste. Comme dans le BnF fr. 123, la fabula est respectée: aucun nouvel épisode n’est introduit et rien n’est radicalement transformé, mais le remanieur opère des coupes franches et réécrit des passages entiers de façon extrêmement synthétique, ce qui constitue une modalité d’abrègement différente. Les coupes s’expliquent d’abord par la dimension cyclique du manuscrit. Les éléments communs aux parties Estoire del saint Graal (f°1–22v dans Ars. 3350)  – partie elle-même très abrégée par comparaison avec les versions traditionnellement intégrées à la Vulgate  – et Queste ne sont par exemple par repris dans cette dernière.69 C’est ainsi que l’épisode de la nef du roi Salomon et des trois fuseaux se trouve réduit à la portion congrue parce qu’il a déjà été raconté précédemment: Si monterent sour la roche et laisserent la premiere nef et vindrent a la belle nef. Et c’estoit la belle nef ou avoit escript au bourt que nul n’y entrast s’il n’estoit plain de foy, celle ou le beau lict estoit et la riche corounne au chevet, et la belle espee aux pieds ou les trois fuseaux estoient, ainssi comme il est contenu au commencement de ce livre plus a plain. Galaad y entra premier et les aultres aprés, si eurent grant merveilhe de toutes ces chouses. Mais la seur Perceval, qui savoit toutes les merveilhes de la nef et de tout ce qui estoit dedens, leur conta tout au long comment toutes ses chouses furent faictes et qui les fit et pour quoy, ainssi comme il est contenu cy dessus. Quant les trois compaignons eurent ouÿ toutes ces chouses raconter a la seur Perceval, Perceval leva la couverture du lict et y trouva une ausmoniere. Et dedans avoit ung escript qu’il en tira et le lut 69  Voir L’Estoire del saint Graal, éd. Jean-Paul Ponceau, 2 vol., Paris 1997 (version longue) et Le Livre du Graal, éds. Daniel Poirion et Philippe Walter, 3 vol., Paris 2001–2009 (éd. du manuscrit cyclique de Bonn, Universitäts- und Landesbibliothek S 526). Sur l’effet de répétition entre l’Estoire et la Queste dans le cycle Vulgate, voir Patrick Moran, Lectures cycliques. Le réseau inter-romanesque dans les cycles du Graal du XIIIe siècle, Paris 2014, 392–396.

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devant ses compaignons. Si trouverent en escript comment le roy Salomon et sa femme avoient fet fere celle nef et toutes ces aultres chouses pour le dernier chevalier qui de son lignage istroit, et de quoy toutes ces chouses estoient et a quoy elles serviroient; si en plourerent de pitié. (Ars. 3350, f°153vb)

La description de la nef, du lit, de l’épée et des fuseaux a disparu. Le lecteur est simplement renvoyé en quelques lignes au » commencement de ce livre «, à la partie Estoire qui la contient bien, mais où tout est déjà aussi très abrégé: suppression des descriptions et notations merveilleuses, réduction drastique de l’histoire d’Adam et Ève et simplification de l’histoire de Salomon. On observe d’ailleurs dans le passage cité l’emploi récurrent de l’article défini à valeur de notoriété endophorique: la nef, le beau lict, la riche couronne, la belle épée, les trois fuseaux, ce qui présuppose la lecture du début de l’ouvrage mais aussi, sans doute, la connaissance antérieure au remaniement de cette partie de l’histoire du Graal. Quant aux histoires de l’épée et du coup douloureux, elles sont rapidement et implicitement évoquées en une ligne à travers le discours narrativisé de la sœur de Perceval. À cet endroit, le processus narratif et énonciatif est d’ailleurs simplifié, par comparaison avec la version ordinaire où le discours de la jeune fille, consacré aux trois coups douloureux, est ensuite relayé par la voix du conte lorsqu’il s’agit de rapporter l’histoire des trois fuseaux: » Or dit li contes dou saint Graal que […] «.70 L’histoire n’est alors destinée qu’aux lecteurs; elle sort de la diégèse et n’y est réintégrée que dans un second temps, et encore de manière indirecte, quand les chevaliers découvrent dans le lit une aumosniere contenant un brief qui leur révèle ce que l’instance extérieure du conte a appris aux lecteurs. Rien de tel ici: la sœur de Perceval endosse la responsabilité totale du récit et fait disparaître la complexité du montage discursif initial, comme s’il n’était plus nécessaire de distinguer par les jeux énonciatifs le récit des aventures et leur exégèse. Ce qui, dans la version ordinaire, s’apparente à des révélations autorisées à valeur historique est perçu comme une digression que l’on peut épargner au lecteur. C’est en ce sens qu’il faut sans doute interpréter toutes les coupes que le remanieur fait subir à la Queste et qui réduisent les aventures au sens littéral. Sur ce point, les manuscrits de l’Arsenal et de New York sont très comparables au BnF fr.  123, même si les modalités d’abrègement sont différentes dans la mesure où les copistes du XVe siècle ne se contentent pas de couper et de raccorder le texte, mais le réécrivent dans le cadre d’une traduction-adaptation intra-linguale synthétique.71 70  K,

éd. Marchello-Nizia, version courante, f°210b, § 246, 13–14. qui dépasse le cadre de cet article et nécessite une étude complète à

71  Perspective

part.

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Parmi les multiples exemples, on peut retenir celui de la tombe habitée par le diable dans le cimetière de l’abbaye où Galaad a reçu le bouclier du roi Mordrain. L’aventure est d’abord maintenue dans les principaux détails: un cri effroyable émane d’une tombe dont seul Galaad ose s’approcher; il soulève la lame du tombeau et laisse ainsi s’échapper une figure hideuse dans les flammes et la fumée. On découvre dans la fosse le corps d’un chevalier armé qui est alors chassé du cimetière. Jusque-là, les différentes versions concordent, mais ensuite Ars. 3350 et PML. M 038 ne donnent pas la senefiance de l’épisode. Dans K, l’un des frères explique pourtant à Galaad que la tombe » senefie la durté du monde « (f°168d, § 51, 8), le corps » senefie le pueple qui desoz durté avoit tant demoré « (f°169a, § 53, 8–10), c’est-à-dire les pécheurs qui livrèrent le Christ à mort, et la voix » senefie la doulereuse parole que il distrent a Pilate le prevost: › Li sans de lui soit sor nos et sor noz enfanz ‹ « (f°169a, § 53, 26–28), avant de conclure: » Einsi poez vos veoir en ceste aventure la senefiance de la passion Jhesucrist, et la semblance de son avenement « (f°169a, § 53, 30–32), évoquant ainsi le signe » dans son entier et sous ses deux faces «, matérielle et conceptuelle.72 L’explication relève alors de l’interprétation typologique, puisque le Christ est post-figuré par Galaad.73 Du point de vue poétique, l’articulation de la semblance et de la senefiance conditionne dans la Queste toute la structure du récit qui alterne texte et méta-texte. Or dans cette version abrégée, le récit s’arrête aux faits  et à cette conclusion: le corps dans la tombe doit être exclu du lieu saint. L’interprétation du passage se réduit à cette phrase: » Si en fut mis deshors comme chouse mauldicte que le diable gardoit comme sa propre chouse « (Ars. f°146va) et Galaad ne pose pas la question de la senefiance. Peut-être l’aventure en elle-même suffit-elle désormais à démontrer son élection et à légitimer l’attribution de l’écu, c’est-à-dire à maintenir le récit dans une progression linéaire débarrassée du commentaire méta-textuel. Quant à l’aventure du château des Pucelles, il perd sa senefiance exactement comme dans BnF fr.  123, et l’intervention de Gaheriet, Yvain et Gauvain semble paradoxalement encore parachever l’action de Galaad. Les songes sont traités de façon encore plus radicale que dans le BnF fr.  123, notamment dans le chapitre 97 consacré à Bohort. La rencontre inaugurale avec l’ermite qui lui expose les vertus de la confession et de la chasteté est lestement traitée, avec omission des parties dialoguées et résumé drastique des exposés dogmatiques.  Mais par-dessus tout, songes et visions ont entièrement disparu. Le combat contre Priadan est maintenu 72  Valette,

La Pensée du Graal, 293.

73  294–295.



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dans sa seule dimension chevaleresque  où Bohort défend l’héritage d’une pauvre dame  spoliée par son ennemi. C’est un récit factuel, sans aucun élément qui appelle ou qui puisse faire signe vers une explicitation allégorique des faits. Bohort rencontre ensuite les chevaliers qui emmènent Lionel, choisit de délivrer la demoiselle, puis s’engage avec le faux homme de religion vers la chapelle sans croix ni eau bénite où il affronte la demoiselle tentatrice: autant de détails qui garantissent le déroulement de la fabula mais rendent caduque la nécessité de faire intervenir l’exégèse. Le remanieur conserve néanmoins le séjour de Bohort à l’abbaye de moines blancs, mais travaille la coupe de façon plus cohérente que dans le BnF fr.  123  en limitant l’exposé des songes à cette brève et vague allusion: Il vint a l’abbé qui estoit sage homme et bon cler, si se fit aconnoistre a luy et luy dit tout ce qui luy estoit advenu et mesmeiment d’aulcunes visions qu’il avoit veues en dormant ung pou devant. Quant l’abbe le ouÿst ainssi parler, il le prisa moult et le tint a preudomme. Et luy exposa moult bien tout ce qu’il avoit songé (Ars. 3350, f°152va).

Le discours de l’abbé est en revanche plus développé au sujet de Lionel et de la demoiselle que Bohort a secourue. Il peut en effet révéler l’état de péché de Lionel sans passer par la glose et en l’absence du songe prémonitoire à valeur morale, le sens de l’aventure peut être révélé par des éléments limités au premier degré de la narration. En revanche, par comparaison avec ce qui précède, le récit du combat entre Lionel et Bohort est particulièrement développé. C’est en effet une scène qui favorise la tension dramatique et crée un pathos intense, autant d’effets propres à séduire le lecteur et à fonder un horizon d’attente sur la seule perspective narrative. Certes, la dimension allégorique de la Queste constitue habituellement » une annexion éphémère de la matière romanesque «74, parce que le roman arthurien ne se fonde pas, au départ, sur une lecture typologique. Comment interpréter alors la réduction de cette dimension allégorique dans ces versions de la Queste? Faut-il y voir, à la fin du Moyen Âge, le retour ou la réaffirmation du romanesque pur75, partiellement dégagé de considération morale? Dans ces manuscrits comme dans le BnF fr. 123, le traitement des aventures de Bohort ou du château des Pucelles est emblématique 74  Armand Strubel, » Grant senefiance a «. Allégorie et littérature au Moyen Âge, Paris 2002, 156. 75  J’emprunte le terme » romanesque « à l’ouvrage dirigé par Danielle Bohler (Le Romanesque aux XIVe et XVe siècles [Eidôlon 83], Pessac 2009), selon le sens qu’elle lui confère: » On parlera du Romanesque comme d’un › style ‹, sans doute empreint d’une nostalgie des modèles passés, qui inscrit cependant la littérature dans l’espace d’une modernité. Remodelés et infléchis, les héritages sont un terreau fertile: le passé et les rêves qu’il nourrit assurent une moisson vitale «, 7.

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d’une poétique et d’une lecture qui relèguent, voire renient la moralisation du récit. Ou bien peut-on au contraire penser que l’amoindrissement du sens allégorique, notamment dans les épisodes qui éliminent songes et visions, altère profondément la poétique du roman qui perdrait ainsi en partie sa dimension merveilleuse et énigmatique? Comme Fabienne Pomel l’a démontré à propos des réécritures du Roman de la Rose, la disparition du double sens met peut-être aussi à mal le caractère romanesque de la Queste et son statut de fiction littéraire fondée sur » l’organisation d’une fascination par le miroitement d’une vérité ou d’une senefiance toujours fuyante «.76 Dans tous les cas, de tels remaniements soulèvent la question de la conception de la fiction romanesque à la fin du Moyen Âge. Dans ce contexte, le traitement du Graal dans les manuscrits de l’Arsenal et de New York est plus particulier. D’abord, la scène de la Pentecôte se caractérise également par des omissions notables: il n’est plus fait mention de la grâce du Saint-Esprit, ni du mutisme et de l’ignorance des chevaliers, ni de la distribution de la nourriture: Et si tost comme ilz furent assis, ouÿrent ung grand escroix de tonnerre. Et aprés le tonnerre entra en la salle si grant lumiere que onques si grant ne virent. Et avec la lumiere virent le sainct vaissel ou estoit le sainct Graal couvert d’un blanc samict aller tout autour le pallaix par devant les tables. Mais ne veoient point qui le pourtoit. Et quant il eust esté par tout et que chacun luy enclinoit, il s’en issit soubdainement que ilz ne sceurent qu’il devint. Et lors trouverent les tables remplies de toz biens et le pallaix plain de si bonne odeur comme si toutes les espices du monde y fussent, si en eurent tous grand merveilhe et grant joie et sceurent bien que ce fut le sainct Graal, mais ilz ne le virent pas si aiseement que ilz eussent voulu. (Ars. 3350, f°145vb)

Est-ce parce que la scène et la senefiance du Graal sont assez connues pour qu’on puisse se passer de les réécrire en entier? Sont-elles perçues comme des lieux communs qu’il suffit d’évoquer par quelques traits identifiables pour susciter, chez le lecteur de la fin du XVe siècle, leur vision pleine et entière? Mais à la fin, curieusement, la vision ineffable de Galaad est conservée dans toute sa dimension. En regard de l’abrègement systématique que le remanieur fait subir au récit, le passage est exceptionnel: il n’est pas tronqué et l’on retrouve dans leur intégralité les propos de Galaad au discours direct, avec les mêmes procédés rhétoriques (antithèses, formules tautologiques, énumérations) qui contribuent dans la version commune77 à la mise en énigme du Graal:

76  Fabienne Pomel, » L’allégorique, une voie de déni du romanesque? Le cas de quelques réécritures du Roman de la Rose « dans: Bohler, Le Romanesque aux XIVe et XVe siècles, 41–52: 52.



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Ars. 73350, f°158vb: » Sire, je te ahoure et crie mercy de ce que tu m’as acompli mon desir. Car ores voy je apertement que langue ne pourroit descripre ne cuer pensser. Icy voy je les commençailles des grans hardemens et l’achoison des prouesses. Jou voy les merveilhes de toutes aultres merveilhes  […] «. BnF naf. 1119, f°191c, § 348, 15–21: » Sire toi ador ge et merci de ce que tu m’as acompli mon desirrier quar a ce voi ge tot apertement ce que langue ne porroit descrire ne cuer penser ici voi ge la commençaille des granz hardemenz et l’achoison des proeces, ici voi ge les merveilles de totes autres merveilles […] «.

Il ne faut cependant pas oublier que le remanieur a dans l’esprit de recomposer un livre du Graal, abrégé certes, mais orienté vers l’histoire du saint Vaissel, ce qui peut expliquer ce maintien par comparaison avec le BnF fr. 123 qui, au contraire, élimine complètement le discours de Galaad. III. Réduire le texte et la perspective dans L’Hystoire du sainct Greaal de 1516 Les choix radicaux opérés par les copistes qui abrègent la Queste au point de lui ôter sa valeur spirituelle et théologique trouvent un ultime écho dans l’une des dernières versions du roman: L’Hystoire du Sainct Greaal, imprimée à Paris en 1516 par Galliot du Pré, Michel Le Noir et Jean Petit et réimprimée sans changement notoire par Philippe Le Noir en 1523.78 L’Hystoire du Sainct Greaal rassemble les » Hauts Livres du Graal «79: L’Estoire del saint Graal, le Perlesvaus (ou le Haut Livre du Graal) et La Queste del saint Graal, selon un agencement unique qui ne correspond à aucun manuscrit conservé.80 Le livre est composé de deux volumes: le premier correspond globalement à la version longue de l’Es77  Représentée pour cette partie par le manuscrit Z (BnF naf. 1119) puisque K est amputé de la fin: éd. Marchello-Nizia, version courante. 78  On a conservé L’Hystoire du Sainct Greaal dans 5 imprimés pour la version de 1516, dont Paris, BnF, Réserve Y2 23–24 [toutes les citations sont tirées de cette édition] et 4 imprimés pour celle de 1523. Le texte de 1516 est également disponible dans le fac-similé établi par C. E. Pickford à partir de l’imprimé de la British Library, Londres, (C.7.b.4), Scolar Press, London 1978. 79  Selon l’expression de Valette dans La Pensée du Graal, 19–25. 80  À l’exception, partiellement, d’une version en moyen-gallois de la fin du XIVe siècle qui rassemble une traduction et une adaptation de la Queste et du Perlesvaus: Y Seint Greal, éd., trad. Robert Williams, 2 vol., London 1876; Ystoriaeu Seint Greal. Rhan I. Y Keis, éd. T. Jones et al., Cardiff 1992 (pour la partie Queste uniquement). Pour une comparaison des versions française et galloise, voir la thèse de Ceridwen Lloyd-Morgan, A Study of Y Seint Greal in relation to La Queste del Saint Graal and Perlesvaus, University of Oxford, Bodleian Library 1978.

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toire del Saint Graal; le second rassemble le Perlesvaus et une version très abrégée de la Queste.81 Pour situer le contexte éditorial de la Queste, il faut cependant rappeler que le roman a déjà été publié dans son intégralité dans le Lancelot du Lac de 1488, le premier roman arthurien imprimé qui, lui, rassemble selon un agencement attesté dans les manuscrits, le Lancelot en prose, la Queste del saint Graal et la Mort Artu, ce qui peut expliquer que les imprimeurs de 1516 aient opté pour une version abrégée permettant d’éviter le doublon avec une impression somme toute encore récente.82 Inversement, il eût semblé curieux d’éditer ce qui s’apparente à une collection jusque-là inédite de romans sur le Graal (Estoire et Perlesvaus) sans y adjoindre la Queste, diffusée au gré des diverses éditions du Lancelot-Graal. Dans les deux cas, comme le suggère Jane Taylor, L’Hystoire du sainct Greaal est un témoin important de la réception des romans du Graal, en termes de lecture, d’interprétation et de (re)création, mais aussi un indicateur des enjeux et des stratégies dans le domaine naissant du commerce du livre.83 Pour revenir plus précisément à la partie Queste, la transition entre la partie Perlesvaus et la » derraine branche du sainct greaal «84 est assurée par un récit abrégé de la conception de Galaad, puis se poursuit avec la fin du Lancelot en prose et le début de la Queste del saint Graal qui sont fondus en un même paragraphe, centré sur l’adoubement de Galaad.85 L’assemblée de la Pentecôte se réduit ensuite en quelques lignes à l’arrivée de la demoiselle et au départ de Lancelot pour l’abbaye. L’édition omet, 81  Sur l’intégration du Perlesvaus et sur la compilation en tant que telle, voir Jane Taylor, Rewriting Arthurian Romance in Renaissance France, Cambridge 2014, 106– 118; Hélène Bouget, » Recomposer le roman arthurien au début du XVIe siècle. L’Hystoire du Sainct Greaal (1516 / 1523) dans le contexte éditorial d’Artus de Bretagne «, dans: Christine Ferlampin-Acher (éd.), Artus de Bretagne. Du manuscrit à l’imprimé (XIVe–XIXe siècle), Rennes 2015, 237–252; Hélène Bouget, » Le Perlesvaus de 1516. Des manuscrits à l’imprimé dans L’Hystoire du Sainct Greaal «, dans: Dominique Boutet, Catherine Nicolas (éds), La question du sens au Moyen Âge. Hommage au professeur Armand Strubel, Paris 2017, 229–244. 82  Lancelot du Lac, éd. Jean Le Bourgois, Paris 1488. Cf. Taylor, Rewriting Arthurian Romance in Renaissance France, 61–90. 83  117–118. 84  f. CCXIv. 85  Jane Taylor souligne que l’éditeur témoigne véritablement du souci d’agencer ces œuvres composites les unes aux autres: » We are not, in other words, being ­offered some unreflecting hotch-potch: the editor is conscious of creating a complex structure of meanings and is attentive to their place, and to their reception, in the socio-literary publishing history of Arthurian texts «, Rewriting Arthurian Romance in Renaissance France, 112.

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comme dans BnF fr.  123, l’intervention de la messagère de Nascien au bord de la rivière où flotte le perron de l’épée ainsi que le serment des chevaliers, si bien que l’aventure de l’écu du roi Mordrain succède immédiatement à l’épiphanie du Graal. D’une manière générale, les annonces, probablement senties comme redondantes dans l’agencement du récit, sont supprimées. Par la suite, les aventures de tous les chevaliers autres que Galaad sont systématiquement coupées: le séjour de Lancelot à la chapelle et sa conversion, les aventures de Perceval, la vision de Lancelot à Corbenic, la quête et les songes d’Hector et Gauvain, les aventures de Bohort et Lionel. La matière romanesque est par conséquent resserrée à l’extrême et son esthétique simplifiée, sans recours nécessaire ni possible à la technique de l’entrelacement que pratiquaient encore les précédents manuscrits. Seuls importent désormais le héros et l’objet de sa quête, Galaad et le Graal. Bien sûr, les coupes radicales ne sont pas sans entraîner quelques incohérences, mais la conséquence la plus importante est ici encore la disparition de la plupart des songes, visions et gloses allégoriques. L’épisode du Château des Pucelles dont l’interprétation est initialement différée, se trouve ainsi une nouvelle fois amputé de toute la partie explicative, liée au récit des erreurs de Gauvain. En revanche, l’aventure de la tombe à la voix infernale dans le cimetière de l’abbaye est maintenue dans son intégralité, ce qui constitue une rare exception par comparaison avec les deux manuscrits abrégés de la fin du XVe siècle. On y retrouve en effet les interprétations de la tombe, du corps et de la voix, selon le processus interprétatif propre à la Queste ordinaire, fondé sur la mise en perspective des semblances et des senefiances: Doncques la tombe signifie durté et le corps le peuple et leurs hoirs qui moururent en peché mortel dont ilz ne se povoient pas legierement oster. Et la voix qui yssoit de la tombe signifie la douloureuse parolle que les juifz dirent a pilate: » Le sang de luy soit sur nous et sur noz enfans «. Et par ceste parolle furent destruyz et perdirent tout ce qu’il avoient. Ainsi povez vous entendre en ceste chose la semblance de son advenement «.86

Mais le maintien du passage ne s’explique que parce que l’épisode fait intervenir Galaad dont le statut de chevalier élu favorise ailleurs l’économie des gloses, davantage réservées aux néophytes ou aux réprouvés. À l’échelle de toute l’Hystoire du Sainct Greaal, la dimension celestielle de la Queste s’est entièrement évanouie. Le resserrement de la matière autour des seules aventures de Galaad aboutit en effet à un évidement et à un nivellement du sens du récit, privé de l’interprétation allégorique qui lui

86  f.

CCXVII (je souligne).

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conférait sa profondeur. En ce sens, le choix de l’éditeur de concentrer la narration sur le personnage de Galaad marque bien l’écart avec le récit initial dont le cœur senefiant semble encore perçu comme une excroissance inutile ou fastidieuse, une » prolixité de parolles « pour reprendre les termes du copiste du manuscrit PML, M. 038.87 La filiation entre les différentes versions abrégées convoquées dans cette étude reste à déterminer. Mais est-il possible que les éditeurs de L’Hystoire du sainct Greaal aient disposé d’emblée d’une de ces versions manuscrites? Jane Taylor analyse en partie les modalités d’abréviation de la Queste del saint Graal dans l’imprimé par comparaison avec l’édition de Pauphilet. Dans l’épisode de la nef merveilleuse, elle attribue ainsi au remanieur de 1516 l’invention d’un stratagème qui permet de faire l’économie du conte des trois fuseaux. Dans l’imprimé, les chevaliers trouvent en effet sur le lit une gibeciere contenant un bref où Perceval lit l’histoire de la nef et des trois fuseaux.88 Or, comme je l’ai signalé plus haut, les manuscrits du XVe siècle Arsenal 3350 et PML M. 038 présentent exactement le même dispositif d’abrègement; simplement l’éditeur a substitué » gibeciere « à » aumosniere «, sans nuance de sens particulière. Dans les deux cas, le récit externalisé du conte des trois fuseaux est perçu comme redondant avec la partie Estoire et est éliminé, si bien que dans le contexte strict de la Queste, la seule source de l’histoire de la nef se trouve ici dans la lettre que trouvent les héros dans la gibeciere ou l’aumosniere. La comparaison entre l’imprimé et ces manuscrits antérieurs d’une quarantaine d’années seulement doit être poussée plus avant, mais il est tout à fait possible que l’éditeur ait ici eu recours à une autre version de la Queste que celle utilisée par les éditeurs du Lancelot-Graal de 1488, même s’il a pu connaître une version proche de K. Les manuscrits de l’Arsenal et de New York auraient en effet présenté l’avantage d’être déjà en grande partie abrégés et, surtout, d’être composés en une langue beaucoup plus proche de la sienne et de celle du texte qu’il avait l’intention de vendre et se soumettre à ses lecteurs. Par conséquent, l’éditeur de l’Hystoire du sainct Greaal a pu choisir délibérément d’imprimer une version de la Queste à partir d’une source qui se démarquait déjà des autres versions imprimées par ses contemporains. 87  Pour une analyse plus détaillée du traitement du Graal dans L’Hystoire du Sainct Greeal, voir mon article dont je reprends en substance ici quelques éléments: » Lecture du Graal dans L’Hystoire du Sainct Greaal (1516 / 1523) «, dans: Danielle Buschinger et al. (éds.), Le Graal. Genèse, évolution et avenir d’un mythe, Amiens 2014, 54–62. 88  Taylor, Rewriting Arthurian Romance in Renaissance France, 116. Voir L’Hystoire du Sainct Greeal, f. CCXXIIv.



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Sans doute ces versions abrégées restent-elles quantitativement secondaires par comparaison avec la version ordinaire que représente K, cependant trop systématiquement considéré comme le modèle, voire le canon de la Queste del saint Graal. La mise au jour de cette situation nous invite ainsi à reconsidérer la réception de la Queste dès le Moyen Âge, et pas seulement au moment du passage à l’imprimé où le changement de medium entraîne parfois de lourdes transformations. Il est vrai que la dimension allégorique de La Queste del saint Graal subit également de grandes pertes dans le cycle du Tristan en prose, composé vers 1235–40, qui constitue le modèle romanesque arthurien le plus en vogue jusqu’à la fin du Moyen Âge. La valeur mystique de la quête du Graal, intégrée au récit, y est grandement atténuée, en particulier dans la version dite courte du manuscrit de Paris, BnF fr.  75789, et l’on pourrait émettre l’hypothèse que les versions abrégées de la Queste Vulgate étudiées ici aient subi l’influence du Tristan en prose. Dans l’esprit, ce n’est pas impossible, mais celles-ci ne présentent rien de tristanien et quand elles s’intègrent à un manuscrit cyclique, il s’agit bien du cycle de la Vulgate et non de la post-Vulgate  – qui peut plus facilement être confondue avec la version tristanienne de la Queste. D’autre part, le Tristan en prose remanie la Queste de façon tout à fait différente des phénomènes analysés ici. Certes, comme dans L’Hystoire du sainct Greaal, le passage des aventures de Gauvain est par exemple supprimé et, comme dans le BnF fr. 123 et les manuscrits du XVe siècle, la chevalerie et les aventures terrestres sont réhabilitées au profit du romanesque, mais la technique et par conséquent l’effet poétique produit sont complètement différents. L’auteur du Tristan en prose procède par décloisonnement et émiettement de la Queste Vulgate, en éparpillant les séquences narratives séparées par les aventures de Tristan et des autres chevaliers.90 Les versions abrégées de la Queste aboutissent au contraire au resserrement du récit, même si la concentration narrative amoindrit le sens initial de l’œuvre. 89  Le Roman de Tristan en prose, éd. Philippe Ménard, 9 vol., Genève 1987–1997: les aventures de la Quête du Graal commencent dans le t. VI (éd. Emmanuèle Baumgartner et Michelle Szkilnik, 1993), elles se prolongent de loin en loin dans le t. VII (éd. Danielle Quéruel et Monique Santucci, 1994), et sont développées dans le t. VIII (éd. Bernard Guidot et Jean Subrenat, 1995); Le Roman de Tristan en prose. Version du manuscrit français 757 de la Bibliothèque nationale de France, éd. Philippe Ménard, 5 vol., Paris 1997–2007: le récit très abrégé et remanié de la Quête commence au t. IV (éd. Monique Léonard et Francine Mora, 2003) et s’achève au t. V (éd. Christine Ferlampin-Acher, 2007). 90  Pour une synthèse et une analyse détaillée de l’intégration de la Queste au Tristan en prose, voir Damien de Carné, Sur l’organisation du Tristan en prose, Paris 2010, 517–565.

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Ce qui retient enfin l’attention, c’est que se font concurrence au XVe siècle, dans la production de manuscrits, à fois des copies intégrales de la Queste et du cycle Vulgate et des versions remaniées extrêmement abrégées, ce qui conditionne deux types de lecture. Cette situation dépend sans doute aussi bien du statut du commanditaire que de l’enjeu de la commande. On peut toutefois raisonnablement supposer que les lecteurs des versions abrégées avaient connaissance d’une version intégrale plus proche de la version ordinaire, mais qu’ils préféraient peut-être une sorte de Reader’s Digest qui rende accessible un cycle presque impossible à lire dans sa totalité.

»Plain and positiue termes«: The Idea of a Perfect Language in Early Modern Utopian Narratives By Benjamin Kohlmann In an influential account of the development of utopian thinking in the early modern period, the historian Reinhart Koselleck observed that the utopian impulse emerged in response to the disruptive and disorienting effects of modernity. As traditional epistemic regimes and certainties began to crumble, Koselleck argues, present and future »experiences could no longer be inferred from previous experience […]. This challenge increased in scope during the whole of the period that is today called frühe Neuzeit.« The gap that opened up between the realm of (everyday) experience and the elusiveness of a seemingly unpredictable future created anxieties but it also came to »sustain[ ] a utopian surplus«.1 In this context, utopian thinking and writing helped to rein in the apparent unpredictability of progress by imagining alternative worlds: these alternative worlds held out the stable vision of a fully achieved modernity in which the confusions of the present were triumphantly overcome. In this connection, critics have not paid nearly enough attention to the role that is played by the idea of a perfect language in early modern literary utopias. As I show here, perfect languages came to occupy a central place in the early modern utopian imagination precisely because they offered a means of negotiating the fraught relation between cultural tradition, on the one hand, and an increasingly unknowable future, on the other. Finally, highlighting the cultural work of (imagined) perfect languages in the period can generate new insights into the ways in which early modern writers sought to come to terms with the disorienting forward momentum of 1  On this point, see Reinhart Koselleck’s observation that the forward-momentum of early modernity created a »utopian surplus« that made it impossible to »assimilat[e] experiences which could no longer be inferred from previous experience«. Koselleck, »Space of Experience and Horizon of Expectation: Two Historical Categories«, in: Koselleck, Futures Past: On the Semantics of Historical Time, New York 2004, 255–275, 268 f.

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modernity, including processes of globalization and the new opportunities for cross-cultural and linguistic contact which these processes created. Language schemes are an integral part of early modern renditions of imaginary voyages and utopian societies.2 Seminal works of the genre, such as Thomas More’s Utopia (1516), Francis Bacon’s The New Atlantis (1627), Francis Godwin’s The Man in the Moon (1638), Gabriel de Foigny’s La Terre australe connue (1676) and Denis Vairasse d’Allais’s Histoire des Sevarambes (1677), to name just some of the most familiar texts, accommodate more or less detailed accounts of the ideal languages in use among the inhabitants of their respective utopian realms. These authors’ preoccupation with language had little precedent in the utopian works of ancients like Plato and Euhemerus, whose writings they often referenced. Instead, their interest in language can be seen as a symptom of the rise in prestige and sophistication which Renaissance humanism brought to philological scholarship. As Robert Stillman notes, the period witnessed the production of »increasingly complex rhetorical manuals, philosophical grammars, dictionaries, orthographies, and cryptographies« along with an upsurge in translations from ancient and modern languages, research into hieroglyphs and sign languages, and an intense cultural fascination with languages of cultures perceived as exotic.3 In what follows, I explore three utopian prose narratives from the sixteenth and seventeenth centuries  – More’s Utopia, Bacon’s New Atlantis and Francis Lodwick’s A Country Not Named4  – that are connected by a complex web of intertextual references and by their approach to the idea of an ideal language. While More, Bacon and Lodwick composed their 2  By far the most comprehensive historical account of constructed languages is Arno Borst’s magisterial multi-volume Der Turmbau von Babel: Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, Stuttgart 1957–61. See also Umberto Eco, The Search for the Perfect Language, Oxford 1995. 3  Robert E. Stillman, »Radical Translation: Cultural Politics and England’s Universal Language Movement«, Babel 37.3 (1991), 168–176, 169. 4  The dating of A Country Not Named continues to be a somewhat moot question. In the introduction to their landmark edition of Lodwick’s writings, Felicity Henderson and William Poole argue that composition took place »no earlier than 1655«, while Vivian Salmon implies that Lodwick may have written the narrative in the years following the reprinting of More’s Utopia in 1639. See Henderson / Poole, »Introduction«, in: On Language, Theology and Utopia, Oxford 2011, 1–53, 31; and Salmon, »Introduction«, in: The Works of Francis Lodwick: A Study of his Writings in the Intellectual Context of the Seventeenth Century, London 1972, 1–156, 84. In an earlier essay, Poole notes that A Country Not Named »should be dated to the years of the interregnum«. See Poole, »A Rare Early-Modern Utopia: Francis Lodwick’s A Country Not Named«, Utopian Studies 15.2 (2004), 117–139, 120.



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utopian fictions in different political contexts and with diverging ends in mind, their texts can be productively read together because each writer engages with language as an important medium through which the perfectibility of society might be achieved. In their narratives, the language question becomes a way of considering the relationship between utopian fantasy and reality as well as the practicability of implementing aspects of these authors’ utopian visions in the real world. Émile Pons, whose pioneering work in the study of utopian languages remains relevant today, notes that More was »le premier des pionniers qui s’aventurerent dans le domaine des langues imaginaires« and the first modern writer to establish an organic link between the culture and social system of his utopia and the language of its population.5 As I show below, More’s discussion of the Utopian language compresses the distance between the fictional island of Utopia and the historical moment in which the book was conceived by engaging with some of the most hotly contested philological questions of his day. More takes up the idea of a mythical Ursprache and considers how this phenomenon might be reframed in the context of the humanists’ philological thinking. Bacon’s New Atlantis is in dialogue with More’s earlier text, and it reframes More’s ideal of perfect translatability between languages by gesturing towards the possibility of a single universal language. Unlike More, whose Utopian language is based on a phonetic alphabet, Bacon envisioned his language as a purely conceptual code which follows a set of abstract rules and is not grounded in the actual use of speakers. New Atlantis points to the real-world applicability of this kind of universal language by linking it to the contexts of trade and science, but it also begins to divorce the design of a utopian language from the realm of everyday social interaction. While Bacon did not invent a detailed plan for his universal language, later language planners of the seventeenth century published treatises which explicated their a priori universal language schemes.6 A prominent representative of this group, Francis Lodwick, a polyglot merchant and early member of the Royal Society, embedded his plan for a universal language in a utopian narrative, entitled A Country Not Named, which looks back to New Atlantis and More’s Utopia. A Country Not Named and Lodwick’s language primers create a universal language scheme that was detailed enough to 5  Émile Pons, »Les langues imaginaires dans le voyage utopique – Un précurseur: Thomas More«, Revue de littérature comparée 39 (1930), 589–607, 592. 6  Philosophical a priori languages are based on logical principles and constructed without the incorporation of elements from existing languages. In this respect, they differ from a posteriori languages which are also constructed but are based on existing languages.

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hold out the promise of actual implementation through language reform – of transporting a particular aspect of utopian perfectibility into the real world. Ironically, however, Lodwick’s highly abstract a priori scheme produced a sterile language that was unsuited for everyday (oral) communication and cut off from the social and historical contexts of language use which had been paramount for More. In Lodwick’s hands, the utopian dream of communication across linguistic boundaries was thus reduced to a language whose universal comprehensibility would be limited to a small intellectual elite. Language and Utopian Praxis in Thomas More’s Utopia More’s Utopia, first published in Latin in Louvain, helped to establish language and communication as central themes in the utopian tradition. Christine Rees has observed that »[f]rom More onwards, the invented language of a utopian fiction will be a key to its culture and politics«.7 The first edition of Utopia included ancillary philological material that immediately drew the reader’s attention to the fact that the Utopians’ cultural difference is mirrored in their linguistic difference: the edition contained a sample of Utopian poetry, described as »A Metre of Four Verses in the Utopian Tongue, briefly touching as well the strange beginning, as also the happy and wealthy continuance of the same commonwealth«, a Latin translation of the same, and a Utopian alphabet.8 These documents were designed to appeal to More’s educated humanist readers who were able to enjoy the elaborate hoax of More’s Utopian society as well as his ludic engagement with ongoing philological debates. Core features of More’s representation of the Utopian language reflect the methods and interests of Renaissance humanists, most notably of More’s friend, Erasmus of Rotterdam. The humanists, trained as philologists and intent on applying philological research to Scripture, promulgated an ap7  Christine Rees, Utopian Imagination and Eighteenth-Century Fiction, London 1996, 30 f. 8  Susan Bruce, a recent editor of Utopia, like most scholars who have recently written on language in More’s text, assume that these documents and other paratextual materials that were included, in varying combination, in early editions of More’s work were produced collaboratively by More and members of his circle. Peter Giles, Chief Secretary of Antwerp and a mutual friend of More and Erasmus, claims in a letter that was appended to the first edition of Utopia to have received the Utopian alphabet and poem from Hythloday. See Peter Giles, »To the Right Honourable Hierome Buslide«, in: Susan Bruce (ed.), Three Early Modern Utopias: Utopia, New Atlantis and The Isle of Pines, Oxford 2008, 124–128.



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proach to language that was keenly attuned to context and historical specificity. They also turned against the highly abstract conceptual analysis of language championed by scholastic theologians. Led by Erasmus, they focused instead on language as a dynamic praxis, on »language in action, language always in the process of exchange and negotiation«.9 The design of the Utopian alphabet, which seems to synthesize Greek, Hebrew and Persian letters, nods to the idea of an original pre-babylonic Ursprache  – an unfallen language which had been universally understood prior to the Babylonian confusion of tongues and which gave each object an inviolable, unequivocal name that was in perfect concordance with the object’s essential form.10 However, the notion that the Utopian language might constitute a prehistorical Ursprache is swiftly dispelled in the second book of Utopia, which contains Raphael Hythloday’s account of his experiences on the island. Hythloday provides a diachronic perspective on the Utopian language that follows the principles of humanist philology by paying attention both to the historical development of the Utopian tongue and to its imbrication with the social structures of the island population. Hythloday explains that the Utopian language has evolved over many centuries and he gives both outdated and current Utopian terms for various leadership positions among the Utopians. For instance, Hythloday observes that an officer »was once called their Tranibore, now the chief Philarch.«11 Hythloday also alerts the reader to the fact that the language in use among the Utopians exists in many different local variations: »The most part of all that side of the world useth the same language, saving that among the Utopians it is finest and purest, and according to the diversity of the countries it is diversely altered« (75). The Utopian tongue is thus rendered as a dynamic, worldly language. However, for More’s educated readers, Hythloday’s comment on 9  Mary Jane Barnett, »Erasmus and the Hermeneutics of Linguistic Praxis«, Renaissance Quarterly 49.3 (1996), 542–572, 545. For an overview of Erasmus’s approach to language see Manfred Hoffmann, »Erasmus on Language and Interpretation«, Moreana 27 (1991), 1–21; Marjorie O’Rourke Boyle, Erasmus on Language and Method in Theology, Toronto 1977; Salvatore I. Camporeale, »Da Lorenzo Valla a Tommaso Moro: Lo statuto della teologia«, Memorie domenicane, New Series, 4 (1973), 9–102. 10  Hythloday notes that the Utopian language »is not much unlike the Persian tongue« and »keepeth divers signs and tokens of the Greek language in the names of their cities and of their magistrates« (86). Pons supplies a detailed analysis of the alphabet. See Pons, »Les langues«, 593–607. See also J.D.M. Derret, »The Utopian Alphabet«, Moreana 12 (1966), 61–65. 11  Thomas More, Utopia, in: Bruce (ed.), Three Early Modern Utopias, 1–148, 55. All references are inserted parenthetically after quotes.

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the purity of the variety spoken on the island may also have established a historical relationship between the Utopian language and the lost Ursprache. Barbara Hosington has argued that Hythloday alludes to the »generally held belief that younger languages, the European vernaculars, resulted from varying degrees of corruption from Latin« and thereby suggests that »[a]s they [the vernaculars] stand in relation to Latin, so does Utopian to some Ur-sprache«.12 Hosington’s observation alerts us to the curious fact that More reroutes his argument about the relationship between his imaginary Utopian language and the mythical Ursprache through contemporaneous debates about the status of Europe’s vernacular languages. In what follows, I build on Hosington’s work to explore how More’s treatment of the Utopian language reflects on the new meanings accrued by a central feature of the Ursprache, its universal comprehensibility, in the context of humanist conversations about language performance and translation. By tethering his discussion of the Utopian language to issues that were of central interest to humanist philologists, More renders porous the boundaries between the Utopians’ linguistic practice and the linguistic praxis of his own contemporaries. While More was at work on the second book of Utopia during his ambassadorial mission to the Low Countries in 1515, he also penned his Letter to Dorp, a defense of Erasmus’s philological theology and More’s most sustained elaboration of his thoughts on language. Reading Utopia and Letter to Dorp alongside each other reveals not only that More’s thinking about language travelled easily between the genres of philological treatise and utopian fiction; it also sharpens our view for the ways in which More’s experimentation with the narrative possibilities of fiction enriched his theoretical reflections on language. In Utopia, More’s representation of the Utopian language replaces the Ursprache’s universal comprehensibility with two concepts derived from ongoing humanist conversations: the (unattainable) ideal of perfect translatability between languages and the principle of common usage. More was well aware that the act of translating was complicated by the ineradicable fact of cultural and temporal difference, and his Letter to Dorp addresses these difficulties.13 The purpose of Letter to Dorp was to 12  Brenda M. Hosington, »Thomas More’s Views on Language and Translation and their Place in the Classical and Humanist Tradition«, Moreana 40.153–54 (2003), 69–98, 86. 13  Like other humanists, More saw the difficulty of doing justice both to res and verba in translating. He also addresses the issue of corrupt sources and the need to collate different source texts in Letter to Dorp. For an overview of More’s views on translating see Hosington, »Views on Language and Translation«, 91–98.



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refute the theologian Maarten van Dorp’s attack on Erasmus’s Praise of Folly (1511) and on Erasmus’s plan to broadcast the disparities between the original Greek version of the New Testament and the Latin Vulgate translation.14 Theologians such as Dorp viewed attempts to alter the wording of the Scriptures as sacrilegious. By contrast, humanists such as Erasmus and More held that it was impossible to interpret the Scriptures without studying the original Greek manuscripts. More conceded that all translators are bound to make mistakes from time to time  – »I think that no human being, not even Jerome, has been so bold or so self-assured as to claim that he never missed anything at all as he translated« (83)  – but he also dreamed of »an end of translating«: »the easiest of ends, once it turns out that someone has translated so aptly or corrected another’s imperfect translation so well that as long as his work stays intact no one later will find anything he thinks should be changed«.15 Although More marshalled much polemical energy to persuade Dorp to learn Greek, the Letter to Dorp does not entertain hopes that competency in Greek will spread quickly among theologians. For this reason, More directed Dorp and his colleagues to the much improved Latin translations of Greek theological and secular texts provided by Erasmus, Thomas Linacre and other humanist luminaries. While in Letter to Dorp access to the heritage of the ancients remains contingent on processes of mediation, the uncanny linguistic skills of More’s Utopians facilitate the assimilation of classical learning into their culture. More’s own preference for Greek over Latin carries over into the fictive realm of Utopia. Hythloday is described as »a man not so well versed in Latin as in Greek« (5) and the Utopians are eager to learn Greek from him: »they began easily to fashion their letters, so plainly to pronounce the words, so quickly to learn by heart, and so surely to rehearse the same, that I marvelled at it« (86). The Utopians’ linguistic dexterity convinces Hythloday that the Utopian »nation took their beginning of the Greeks« (86). Greek, however, is not the only language which the Utopians master with ease. Hythloday relates how centuries ago [c]ertain Romans and Egyptians were cast on land, which after that never went thence. Mark now what profit they took of this one occasion through diligence and earnest travail. There was no craft nor science within the empire of Rome 14  For an excellent study of the Letter to Dorp, its humanist contexts and its critique of scholasticism see Daniel Kinney, »More’s Letter to Dorp: Remapping the Trivium«, Renaissance Quarterly 34.2 (1981), 179–210. 15  Thomas More, Letter to Dorp, in: Daniel Kinney (ed.), The Yale Edition of the Complete Works of Thomas More, 15 vols., New Haven 1986, vol. 15: In Defense of Humanism, 1–127, 83. Further references are inserted parenthetically after quotes.

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whereof any profit could rise, but they either learned it of these strangers, or else of them taking occasion to search for it, found it out. (47)

The passage suggests that knowledge and information can be trafficked across language barriers without significant loss. The Utopians are able seamlessly to transpose the achievements of the Romans into their own culture. Endowed with an innate talent for Greek and an intimate knowledge of Roman culture, the Utopians are presented as heirs to the heritage of classical antiquity  – a position which recalls the one the humanists of More’s circle claimed for themselves. As Harry Berger Jr. noted in a seminal essay, »[t]he hard-won accomplishments of Western culture are absorbed without sweat or struggle« by the Utopians.16 The »end of translating« that More’s Letter to Dorp looks forward to has become a reality in Utopia, and the design of the phonetic Utopian alphabet [Fig. 1], which was printed in the first edition of More’s work, underlined this notion. While the geometric shapes of the individual letters of the alphabet represent sound units and thereby provide a neutral medium for the notation of every spoken language, the quasi-mathematical form of the letter  – modeled on circles, squares and triangles  – accentuates the universality of the script.17 Critics including Marine Leslie and Gabriela Schmidt have pointed out that many passages of Utopia undermine the idea of perfect translatability between languages and thereby contribute to the fundamental ambiguity of the text.18 Leslie points for instance to the »doubling of Utopian names« which in their turn have »etymologically encoded double meanings«.19 However, the fact that More included a variety of language games that were designed to amuse his humanist readership with private jokes on familiar problems of translation does not cancel out the Utopians’ idealized linguistic abilities. In Utopia, More’s engagement with translation remains split between his construction of the utopian ideal and a deeply ironical account of the conflicts and compromises that determine the translator’s work. The distance between these contrary impulses means that  – unlike Bacon, Lodwick and other authors of seventeenth-century 16  Harry Berger Jr., »The Renaissance Imagination: Second World and Green World«, Centennial Review 9 (1965), 36–78, 68. 17  See Marina Leslie, Renaissance Utopias and the Problem of History, Ithaca 1998, 59. On geometry in Utopia see also Louis Marin, Utopics: Spatial Play, transl. Robert A. Vollrath, Atlantic Highlands, NJ 1984, 116–131. 18  Leslie, Renaissance Utopias, 61–80. Gabriela Schmidt, Thomas More und die Sprachenfrage: Humanistische Sprachtheorie und die translatio studii im England der frühen Tudorzeit, Heidelberg 2009, 187f., 197–207. 19  Leslie, Renaissance Utopias, 69.



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Fig. 1: Utopian alphabet, appended to the first edition of More’s Utopia.

utopian narratives – Utopia does not elaborate a universal language scheme that could find real-world application. As we will see below, the influence of Utopia on these later writers was nevertheless enormous. Indeed, while More bequeathed to Bacon and Lodwick the idea that the mythical Ursprache’s universality could be aligned with modern epistemological projects, he also inspired their concern with the question whether language was a form of public property or whether its use was restricted to the select few. In the Utopians’ communist social system language is treated as a common good, and no member of their society is allowed to demonstrate greater rhetorical facility than any of his peers.20 As Hythloday reports: [T]hey utterly exclude and banish all attorneys, proctors, and sergeants at the law, which craftily handle matters, and subtly dispute of the laws. For they think it most meet that every man should plead his own matter, and tell the same tale 20  The locus classicus for an approach that foregrounds the communist aspects of Utopian society is Karl Kautsky, Thomas More and His Utopia, New York 1959.

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before the judge that he would tell to his man of law. So shall there be less circumstance of words, and the truth shall sooner come to light […]. (94)

The services of professional groups known for their crafty manipulation of language are not required among the Utopians who »have very few laws, and the plainer and grosser that any interpretation is, that they allow as most just« (94). By depicting Utopian language practices as a system that guarantees equality in language competence among speakers, More created a fictional allegory that complemented his exposition of the principle of common usage in Letter to Dorp. More dedicated a substantial portion of Letter to Dorp to a rebuttal of scholastic dialectics, which Dorp and other theologians championed. Dialectics, also often referred to as logic in the sixteenth century, required mastery of a complex system of abstract rules and distinctions that assigned words meanings which often defied common sense and usage. Letter to Dorp argues that this use of language violates the idea of language as »public property«: I wonder by Jove, how these petty adepts ever reached the conclusion that those propositions should be understood in a way that no one on earth but themselves understands them. Those words are not technical terms on which these men can claim the monopoly, as it were, so that anyone wishing to use them must go and ask them for a loan. Such expressions are actually common language, though these men do return some of them in a worse state than they were in when they were appropriated from ordinary craftsmen. They have borrowed their words from the public domain; they abuse public property. (35)

The scholastics’ method of determining the meaning of words by subjecting them to a form of conceptual analysis that is based on transhistorical, abstract distinctions and categories is here represented as an illicit act that spirits words away from the public resource of language and transforms them into a private currency for the gain of a small elite. More contrasts this approach to language with the humanist approach to grammar which »invents no law of speech in defiance of custom; instead it simply sees which constructions appear the most often in speech and points these out to those who are unschooled in speech so that their speech will not flout common usage« (35). More’s celebration of the Utopians’ ideal language centres on a humorous comparison between the Utopian approach to language and that of the scholastics. The Utopian tongue is »for the utterance of a man’s mind very perfect and sure« which, More’s narrator Hythloday implies, is partly due to the fact that the Utopians »have not devised one of all those rules or restrictions, amplifications, and suppositions, very wittily invented in [Peter of Spain’s thirteenth-century tract] Small Logicals which here



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our children in every place do learn« and »they were never yet able to find out the Second Intentions« (75). As Susan Bruce explains, »second intentions« is a scholastic term that refers »to the mind’s capacity to make distinctions between abstract notions of objects by comparing one with another, or categorizing them by their properties into species or other kinds of type.«21 The Utopians’ use of language eschews abstraction of this kind. Reading Utopia alongside Letter to Dorp suggests that the principle of common usage, just like the ideal of perfect translatability, allowed More to reflect on the ways in which the notion of the Ursprache’s universality might be reconfigured – along the lines of humanist thought – in a fallen world. The language of the islanders is not universally understood, but it serves as a tool for universal translation. It is not only portrayed as a signifying system that allows for the ›perfect‹ expression ›of a man’s mind‹. Rather, the egalitarian ethos of the Utopians’ linguistic praxis also points to the utopian potential of the principle of common usage by holding out the promise of a language that is equally accessible to all of its speakers. More used the expansive narrative canvas of Utopia to explore aspects of the principle of common usage that could not be fitted into the more narrowly polemic framework of his Letter to Dorp. Most importantly, Utopia accommodates an examination of the social embeddedness of language performance that is variously alluded to but not discussed at any length in Letter to Dorp. More rendered the Utopians’ commonality in language as prerequisite for their social and cultural unity. At the opening of his report on the island, Hythloday notes: »There be in the island fifty-four large and fair cities, or shire towns, agreeing all together in one tongue, in like manners, institutions, and laws« (50). Prior to Hythloday’s arrival the Utopians were unfamiliar with the arts of paper production and printing, and therefore had to resort to »skins«, »barks of trees« and »reeds« (87)  – carriers of text that are unsuited for wide circulation. The dominance of the spoken word within the Utopian society becomes evident in the many passages that describe speech acts and modes of oral communication. Hythloday explains that an hour is set apart for exercise after supper during which the Utopians »exercise themselves […] in honest and wholesome communication« (58). The dissemination of knowledge is effected through »lectures [held] daily early in the morning« which are attended by »a great multitude of every sort of people, both men and women« (58). Conversation is an integral part of the ritualized public dinners, in which all Utopian men, women and children participate: 21  Editorial

note, in: Bruce (ed.), Three Early Modern Utopias, 223 f.

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[T]he elders take occasion of honest communication, but neither sad or unpleasant. Howbeit, they do not spend all the whole dinner time themselves with long and tedious talks, but they gladly hear also the young men, yea, and purposely provoke them to talk, to the intent that they may have a proof of every man’s wit and towardness or disposition to virtue, which commonly in the liberty of feasting doth show and utter itself. (67)

Conversation is here portrayed as a tool for the production and maintenance of social concord. Discourse provides not only a forum for the exchange of ideas; it also serves as a guarantor of social stability as each man’s »disposition« is examined in conversation.22 Placing Utopia in relation to Letter to Dorp reminds us that such conversations give rise to socially rooted conventions of common usage. However, such a perspective also suggests that the concept of »common usage« provides a potent metaphor for the ways in which language praxis creates social unity on the island. Conversations provide an opportunity for the elders to ascertain the younger men’s conformity to the values and norms of Utopian society: the only opinions that can be expressed in Utopian social discourse are those that are in accordance with dominant beliefs and the political status quo  – an idea that echoes the claim, in More’s Letter to Dorp, that the correct meaning of words is established by common usage.23 In Utopia More used the narrative medium to imagine the social application of a set of theoretical ideas about language. However, the fact that his rendition of the conversations between the young Utopians and their »elders« places the idea of common usage into uncomfortable proximity to discursive control provides an apt reminder that More did not intend Utopia  – a text that is notoriously filled with paradoxes and ethical ambivalences  – as a model for implementation in real-world societies. The complex dialogue between Utopia and Letter to Dorp reveals that More’s treatment of language in his utopian narrative was profoundly shaped by immediately contemporary humanist debates, but these points of contact between the fictional Utopian world and More’s humanist circle were generally of an abstract intellectual nature. The following sections of this 22  Many critics have addressed the coercive aspects of Utopian society. See for instance Stephen Greenblatt, Renaissance Self-Fashioning from More to Shakespeare, Chicago 1980, 33–59; Amy Boesky, Founding Fictions: Utopias in Early Modern England, Athens, GA 1996, 36–55; Hanan Yoran, »More’s Utopia and Erasmus’ No-Place«, English Literary Renaissance 35.1 (2005), 3–30. 23  On More’s concept of usus communis as the interface between the internal l­ogic of language as a signifying system and its real world contexts see Schmidt, Thomas More, 68–76.



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essay show that while More’s fictional projection of an ideal language was not designed to produce immediate social or political effects, seventeenth-century authors of utopian narratives became increasingly committed to imagining the shape which their (fictional) utopian projects might take in the real world. »Real Characters«: Language and / as Science in Bacon’s New Atlantis Bacon’s New Atlantis is best known for its depiction of the House of Solomon, an early form of research institution and one of the inspirations for the Royal Society (founded in 1660). However, the question of what constitutes an ideal language undergirds much of Bacon’s celebrated discussion of the nature of science and scientific progress in New Atlantis. Indeed, as I will show, Bacon’s text directs the discussion of ideal languages towards the idea of a »universal« language that came to occupy language reformers from the second half of the seventeenth century onwards. Bacon’s European travellers make first contact with the native islanders when a delegation of them arrives at their ship. The travellers are disconcerted when the islanders start »hast[ily] warning us away«, yet »on the other side, to find that the people had languages, and were so full of humanity, did comfort us not a little«.24 To the surprise of the travellers, the islanders are polylingual, speaking Spanish as well as several other modern and ancient languages. The islanders carry with them a scroll that bears a strange warning: In which scroll were written in ancient Hebrew, and in ancient Greek, and in good Latin of the school, and in Spanish these words: ›Land ye not, none of you, and provide to be gone from this coast within sixteen days, except you have further time given you; meanwhile, if you want fresh water, or victual, or help for your sick, or that your ship needeth repair, write down your wants, and you shall have that which belongeth to mercy.‹ (153)

It is revealed only later that, like More’s Utopians, Bacon’s islanders engage in an elaborate system of international espionage, travelling under cover to Europe to familiarize themselves with the continent’s languages, cultures, and most recent scientific and technological advances. However, while the opening pages of New Atlantis suggest that the communication between the European travellers and the islanders is enabled by the na24  Francis Bacon, New Atlantis, in: Bruce (ed.), Three Early Modern Utopias, 149–186, 153.

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tives’ fortuitous mastery of several languages, Bacon’s text also gestures towards forms of communication that supersede cultural and linguistic boundaries. Taking place after the Europeans have made up their mind to come ashore, these interactions rely on gestural rather than verbal signs. For example, one of the islanders »lifted up his right hand toward heaven, and drew it softly to his mouth (which is the gesture they use, when they thank God)«, and »divers of them, as we passed by them, put their arms a little abroad, which is their gesture when they bid any welcome« (155); finally when they are welcomed to a guesthouse, one of their guides »lift[s] up his cane a little (as they do when they give any charge or command«, instructing the European travellers that a three-day quarantine is mandatory for all newly arrived visitors to the island (156). The narrator’s parenthetical explanations serve to translate the utopians’ gestural signs. At the same time, however, the travellers intuitively grasp the meaning of these gestures, suggesting that they somehow manage to convey meaning ›naturally‹. The islanders’ gestural language appears to approximate near-universal validity, a process Bacon had previously described in The Advancement of Learning (1605). There, Bacon had noted that »we see in the Commerce of barbarous People, that vnderstand not one anothers language […]  that mens minds are expressed in gestures«.25 While some of these gestures seem to constitute an improvised trade pidgin, they also point to Bacon’s deeper search in New Atlantis for forms of verbal or non-verbal discourse that might enable communication in spite of conventional linguistic divides. There might even be a link between these gestural languages and Bacon’s description, in Advancement of Learning, of »hieroglyphics«, »gestures«, and so-called »real characters« as so many stages in the progression towards a genuinely universal language. As Umberto Eco pointed out in his landmark study of the idea of »perfect languages«, even the more arcane seventeenth-century attempts to construct a universal language were conceived with a view to the »encourage[ment]« of »commerce«. As Eco notes, these language schemes  – including Bacon’s own  – had their origins in »the accounts of the gestural languages through which the explorers conducted their first exchanges with the inhabitants of distant shores«.26 The opening pages of New Atlantis stress the multiplicity of ancient and modern languages by which the European travellers and indigenous in25  Francis Bacon, The Advancement of Learning, ed. Michael Kiernan, Oxford 2000, 120. 26  Eco, Search for the Perfect Language, 209.



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habitants communicate. As Bacon points out, the blossoming system of international trade has led to a cultural and linguistic »inter-knowledge« between different parts of the world. In the case of the islanders, however, such »inter-knowledge« has bred a hybrid mixture of different languages. As a recent editor of New Atlantis points out, the names of the island’s cities and tribes (»Renfusa«, »Altabin«, »Tirsan«), including the name of the island itself (»Bensalem«), incorporate Hebrew, Greek, and Arabic roots  – synthetic linguistic forms that echo More’s neologisms in Utopia. The confusion of tongues described at the beginning of Bacon’s narrative contrasts markedly with other passages which imagine forms of communication that possess validity across such linguistic boundaries. One of these moments is embedded in the story of Bensalem’s conversion to Christianity in the first century A.D. According to this myth, related by the utopians themselves, »a great pillar of light« appeared a few miles from the island extending from the sea »a great way up toward heaven; and on the top of it was seen a large cross of light« (159). Guided by one of the senior members of the House of Solomon, a group of islanders sailed out towards the pillar of light where they found a »small ark or chest of cedar« that contained »all the canonical books of the Old and New Testament« (160). Although the island’s inhabitants still lacked a common (spoken) language, the book could miraculously be read by all: There was also in both these writings, as well the book as the letter, wrought a great miracle, conform to that of the apostles, in the original Gift of Tongues. For there being at that time, in this land, Hebrews, Persians, and Indians, besides the natives, everyone read upon the book and letter, as if they had been written in his own language. (161)

Following Bacon’s intertextual cue, critics traditionally read this story of the revelation of true religion as a reprise of the Biblical report of the Pentecost and the descent of the Holy Spirit upon Christ’s Apostles. When we place it in relation to Bacon’s ideas for a universal language (as outlined in Advancement of Learning), a different reading of the passage becomes possible. The story of Bensalem’s conversion to Christianity signally relies on a distinction between the islanders’ spoken language, which is characterised by a multitude of different dialects and distinct languages, and the written word of the Scriptures, which enables the unobstructed transmission of biblical knowledge across linguistic barriers. Bacon’s own tentative outline of a universal language consisting of »real characters« limited its field of operation to the medium of written utterances. Both Bacon’s and Lodwick’s universal language schemes departed from More’s concern with (spoken) language as a medium of communication that was subject to diachronic change. For Bacon (as for Lodwick a

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few decades later), the apparent timelessness of writing seemed to emancipate language from the contingencies of everyday use. Disembedding language from its living contexts promised to turn it into a genuinely universal medium.27 The vision of the House of Solomon that lies at the heart of Bacon’s narrative offers an uneasy conjunction of religion and the new creed of natural science. Indeed, New Altantis can seem to fall into two distinct halves: one presenting the religious myth of Bensalem’s conversion to Christianity, the other detailing the workings of the House of Solomon. Instead of suggesting that Bensalem’s religious and scientific foundations contradict each other, however, Bacon is at pains to argue that the House of Solomon in fact advances the human search for »God’s first creature, which was Light« – a form of knowledge that will in turn enrich humans’ wonderment at the intricate complexity of nature’s laws. Crucially, in Bacon’s narrative the passage which describes Bensalem’s conversion to Christianity functions as a transition to the description of the House of Solomon: the party that sets out towards the pillar of light is led by »one of the wise men of the society of Solomon’s House«. It is his scientific knowledge that brings the utopian community closer to the Christian faith  – a process symbolized in Bacon’s narrative by the universally intelligible language of the scriptural text. In order to understand the special place Bacon attributes to a universally intelligible denotational system it is necessary to turn to Bacon’s non-literary works, in particular to his Advancement of Learning. In that work, Bacon discussed Chinese ideographic script, implying that this type of script  – because it was conceptual rather than phonetic  – was in many ways superior to denotational systems common in the West. »[W]e understand«, Bacon pointed out, that it is the vse of Chyna, and the Kingdomes of the High Leuant, to write in Characters reall, which express neither Letters, nor words in grosse, but Things or Notions: in so much as Countreys and Prouinces, which vnderstand not one anothers language, can neuertheless read one anothers Writings.28 27  Bacon’s utopian vision of a universally valid written linguistic code in New Atlantis in turn echoes the ideas about language articulated in Plato’s Critias. As Plato noted in Critias, the myth of Atlantis had been transmitted orally in various languages, but it was only with the rediscovery of »the original writing« (in Egyptian hieroglyphs) by Critias’s great-grandfather Dropides that the confusion about the name of Atlantis could finally be cleared up. See Plato, The Dialogues of Plato, transl. Benjamin Jowett, 5 vols., Oxford 1931, vol. 3: Republic, Timaeus, Critias, 113b. 28  Bacon, Advancement, 120. For a recent discussion of »Characters reall« in light of Bacon’s knowledge about China, see Jonathan E. Lux, »Characters reall: Francis



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Bacon went on to note a fundamental distinction between two kinds of ideographic script: The one when the Note hath some Similitude, or Congruitie with the Notion; The other Ad Placitum, hauing force only by Contract or Acceptation. Of the former sort are Hierrogliphickes, and Gestures. For as to Hieroglyphickes, (things of Ancient vse, and embraced chiefely by the Ægyptians, one of the most ancient Nations) they are but as continued Impreases and Emblems. And as for Gestures, they are as Transitorie Hierogliphickes […] [Of the other sort,] Ad Placitum, are the Characters reall before mentioned[.]29

Bacon’s speculations about a form of writing untainted by language differences were central to his sketch of a universal script in Advancement of Learning, and Bacon revisited his ideas – including the idea of a near-universal »gestural« language  – in New Atlantis. In New Atlantis, gestural language offers only an imperfect ersatz language which enables a rudimentary form of communication between the European travellers and the utopians. Similarly, the idea of an ideographic language whose signs are »congruous« or isomorphic with the things which they represent constitutes an intermediary step between the phonetic script of Western languages and a truly universal (written) language.30 In contradistinction to these »congruous« characters, the universally legible writing of the Scriptures in New Atlantis looks back to the characters Bacon had called »real characters«. As he pointed out in Advancement of Learning, these signs relied on an arbitrary and »contractual« link between visual representation and ideational content, but they could also claim universal validity because they were constructed according to philosophical principles that were themselves universally and transhistorically valid. Bacon believed that research into the »imposition of Names from Reason and Intendment« was as yet sadly »deficient«.31 And even though he did not himself sketch out the bare (grammatical) bones of such a philosophical language, its outlines are clear enough from his comments in Advancement of Learning. While Chinese script reBacon, China and the Entanglements of Curiosity«, Renaissance Studies 29.2 (2015), 184–203. 29  Bacon, Advancement, 120. On Bacon’s discussion of ideographic script, see the excellent discussion in Rhodri Lewis, Language, Mind, and Nature: Artificial Languages from Bacon to Locke, Cambridge 2007, 8–19. 30  Examples of such »congruous« signs include the »cherubim’s wings« (signifying Christianity) that are printed on the multilingual scroll presented to the travellers upon arrival (153). Similarly, the »small red cross« on the »turban« of certain islanders (157) and the »heavenly sign« of the »pillar of light« (159) function as near-universal ideographic tokens of Christian belief in spite of cultural and linguistic differences. 31  Bacon, Advancement, 120.

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lied too heavily on congruous signs or on historical convention, a truly »Philosophicall Grammar« would devise words according to strict classificatory rules which »are the foot-steppes and prints of Reason«.32 Beginning with Bacon, language projectors of the seventeenth century argued that a priori languages should ideally have one, and only one, word for each simple thing or notion, and that grammatical properties such as gender, number, case should be encoded in systematic fashion according to clear and pre-determined philosophical principles.33 Compared with Bacon’s hopeful vision of a universal written language, the phonetic scripts in use across the Western world  – and the idiosyncratic uses to which they were being put by individual writers  – offered examples of a dysfunctional denotational system: This portion of knowledge, touching the Notes of thinges, and Cogitations in generall, I finde not enquired, but deficient. And although it may seeme of no great vse, considering that Words, and Writings by letters, doe far excell all the other wayes: yet because this part concerneth, as it were the Mint of knowledge (for wordes, are the tokens currant and accepted for conceits, as Moneys are for values […]) I thought good to propound it to better Enquirie.34

In Bacon’s opinion, non-standardized phonetic script was dysfunctional because it stayed too close to the spoken word: it merely echoed the imperfections of spoken speech, rather than generalizing from them by denoting the abstract universal propositional content of individual utterances. Like Bacon’s belief in the universalizing potential of »real characters«, his philosophical distrust towards the contingencies of speech finds powerful articulation in New Atlantis. The House of Solomon contains several chambers in which experiments are conducted, and one of these chambers is referred to by the Europeans’ guide as the »sound-house«. There, we practice and demonstrate all sounds, and their generation. […] We have also divers strange and artificial echoes reflecting the voice many times, and as it were

32  Bacon, Advancement, 121. Commenting on the links between early modern artificial languages and the rise of taxonomic science, M. M. Slaughter notes that as »more advanced, specialized knowledge could not be accommodated in ordinary language«, the abstract classificatory patterns embodied in philosophical (written) languages promised a powerful means of ordering the influx of new empirical knowledge. Slaughter, Universal Languages and Scientific Taxonomy in the Seventeenth Century, Cambridge 1982, 69. 33  As David Cram observes, a »philosophical language« is »not just an ancillary translation mechanism […] but a language based on a prior logical analysis of the things to be represented«. See Cram, »Universal Language Schemes in Seventeenth-Century Britain«, Histoire Epistémologie Langage 7.2 (1985), 35–44, 38. 34  Bacon, Advancement, 120 f.



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tossing it; and some that give back the voice louder than it came; some shriller and some deeper; yea, some rendering the voice differing in the letters or articulate sound from that they receive. (182)

The »sound-house« dramatizes the acoustic distortions and disturbances which beset oral utterances. By contrast, as Bacon had observed in Advancement of Learning, universal script would act as an antidote of sorts against the »second generall Curse, (which was the confusion of Tongues)«. It was through the »the Art of GRAMMAR« that »Man still striueth to reintegrate himselfe in those benedictions, from which by his fault hee hath been depriued«.35 In New Atlantis, the work of abstraction that delivers written language from the erratic qualities of spoken speech is performed by the House of Solomon itself. In a celebrated passage, Bacon described the different stages through which empirical observations are refined to ever higher levels of intellectual abstractions.36 The House’s institutionalized generation of scientific knowledge also entails the creation of new and denotational systems (mathematical, physical, astronomical, and so on) capable of formalizing these new findings.37 This specialization of scientific inquiry and the perfection of a universal system of language paradoxically suggests that the speakers of Bacon’s supposedly ›universal‹ philosophical language will be limited to the small circle of scientists. As I suggested above, Bacon’s language scheme thus threatens to effect an isolation of this universal (written) language from the thick contexts of social and cultural life that are integral to More’s vision of an ideal language.38 Bacon himself acknowledged that many of his scientific projects required empirical testing and implementation: they called for local »Coastings along the shoare« explored in Advancement of Learning.39 These projects included Bacon’s vision of a »Philosophicall Grammar«, an ideal a priori language. Even so, Advancement, 121. many hierarchies of researchers include »Depredators« who »collect the experiments which are in all books« as well as »Pioneers or Miners« who »try new experiments, such as themselves think good […]. Lastly, we have three that raise the former discoveries by experiments into greater observations, axioms, and aphorisms. These we call Interpreters of Nature« (183 f.). 37  Renata Botvina notes that for Bacon »scientific communication must be characterized above all« by logical »brevity, precision, and plainness«. See Botvina, »Francis Bacon’s Natural Philosophy as a Universal Language«, Studies in Logic, Grammar and Rhetoric 8.21 (2005), 89–99, 94. 38  See also Judah Bierman, »Science and Society in the New Atlantis and Other Renaissance Utopias«, PMLA 78.5 (1963), 492–500, 496. 39  Bacon, Advancement, 89. 35  Bacon, 36  The

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Bacon never believed that his fragmentary sketch of a universal script should act as the blueprint for a new language to be imposed on society as a whole. It seems that Bacon’s idea of a universal (written) language was intended as a critical corrective to (what he considered) the muddled thinking of contemporary scientists. A few years before he wrote New Atlantis, Bacon had in fact elaborated on the useful intellectual work that could be performed by a rigorously philosophical language in the realm of science. Everyday language was unsuited to the purposes of science, Bacon pointed out in his Novum Organum (1620) because the overuse of words distorted their meaning. Such »shoddy and inept application of words lays siege to the intellect in wondrous ways«, and even »the definitions and explanations with which learned men« were »sheltering and defending themselves« did not »put things right in any way«: »words clearly force themselves on the intellect, throw everything into turmoil, and side-track men into empty disputes, countless controversies and complete fictions«.40 Bacon’s tentative delineation of a universal language in Advancement of Learning and New Atlantis thus remained an unfulfilled utopian vision.41 The difficulty of making good on Bacon’s philosophical promise fell to a number of intellectuals around the mid-seventeenth century, such as Lodwick, John Wilkins, and George Dalgarno. These self-professed language reformers were attracted by Bacon’s idea that an artificial universal language would play a central role in clearing up confused thinking. At the same time, they went beyond Bacon in devising grammars that might be capable of instituting this new universal language at the level of everyday social interaction itself. Francis Lodwick’s Universal Language Scheme in A Country Not Named As Gregory Claeys has observed, seventeenth-century utopian narratives can be read as responses to »the widespread acceptance of a new scientific and technocentric worldview« that culminated in the founding of the Royal Society in 1660.42 Lodwick is one of the now-forgotten am40  Francis Bacon, The Instauratio Magna, Part II: Novum Organum and Associated Texts, ed. Graham Rees and Maria Wakely, Oxford 2004, 81. 41  The programmatic utopian openness of Bacon’s narrative is discussed in Denise Albanese, »The New Atlantis and the Uses of Utopia«, English Literary History 57.3 (1990), 503–528, 504 f. 42  Gregory Claeys, Restoration and Augustan British Utopias, Syracuse 2000, xvii.



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ateurs whose wide-ranging scientific interests helped to lay the intellectual groundwork for the more systematic scientific programme of the Royal Society. A Flemish merchant living in London, the polyglot Lodwick was associated with the circle of intellectuals that gathered around the German-English polymath Samuel Hartlib around the mid-century.43 Lodwick was very much part of the intellectual ferment and religious sectarianism that characterized the early years of Commonwealth. Most notably, Lodwick’s thinking about a universal language combined a fascination with the new methods and taxonomies of science with a strong scepticism towards orthodox church dogma. As recent scholarship has pointed out, Lodwick’s attempt to construct a grammar for a universal language as envisioned by Bacon may have exerted an influence on the more prominent universal language schemes of Wilkins and Dalgarno, some of them conducted under the aegis of the Royal Society.44 On the one hand, Lodwick’s recently published, fragmentary theological writings point to his conviction that humans had existed before Adam, that the world’s nations had developed polygenetically, and that there was no common origin of languages. Lodwick thus resisted the more orthodox idea of Adamic naming according to which the words used by Adam and Eve were in perfect correspondence with the world of God’s creation. As Lodwick pointed out in Certain Queries, an unpublished manuscript containing key aspects of his theological thinking, there was reason to doubt »[w]hether Adams naming all Creatures signified not rather the power God gave him over them then anie knowledg he had of their nature, and so their names were rather giuen arbitrary then scientificall.«45 In other words, the Edenic Ursprache was imperfect because Adam had lacked the advanced knowledge of natural taxonomies developed by seventeenth-century scientists. However, it seems clear that Lodwick’s belief in the irreducible multiplicity of languages was derived as much from sectarian scepticism as from his practical experience as a trader and internationally operating merchant. Indeed, Lodwick’s theological writings frequently side with the heterodox set of beliefs known as Socinianism, which resisted the idea of Original Sin. According to the Socinian account, the plurality of languages was not the sign of an irredeemably fallen world, but 43  For biographical information on Lodwick and his place in the Hartlib circle, see Henderson / Poole, »Introduction«, 1–18. 44  See e. g. William Poole, »Introduction«, in: Francis Lodwick, A Country Not Named, ed. William Poole, Tempe 2007, 3–67, 28. 45  Francis Lodwick, »Certain Queries«, in: On Language, ed. Henderson / Poole, 249–252, 251.

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merely a fact of human life.46 For Lodwick, then, the fragmentation of human communication into an array of different languages was no cause for resignation; instead, it called for radical and active reform.47 The current state of human language was a cause for concern because, as Bacon had suggested in Novum Organum, it led to confused thinking.48 In the two primers that outline his grammar of a universal language, A Common Writing (1647) and The Groundwork […] for the Framing of a New Perfect Language and an Universall or Common Writing (1652), Lodwick mustered the resources of modern taxonomic science to set things right: »The proper names of things to give them signification« was not a matter of theological speculation; instead it »is the work, we suppose, of a sound Philosopher, who from the knowledge of things and their order in nature, should give them names accordingly, describing that in their name, by which in the naming they may be known«.49 Lodwick’s thinking about a universal language taps into the utopian aspirations articulated in Bacon’s writings, but his works also try to offer a blueprint for adapting these abstract schemes to everyday practice. Lodwick’s works, ranging from his grammar primers to his utopian narrative A Country Not Named, accordingly offer a strange hybrid of high philosophical idealism and practical linguistic advice. Like Bacon’s utopian vision of a universally intelligible script, Lodwick’s reformist endeavours focused on a form of universal writing. As he noted in Common Writing, he hoped to develop a denotational system »that may be common to all Languages, that is, that one skilled in the same, shall have no need, for what is written with this writing, to learne any other Language then his mother Tongue, which he already hath.« In this way, »what is once written with this writing, will be legible and intelligible, in all Languages whatsoever, although the reader in any Language, understood but his owne Language, provided as […]  he understood this 46  For these ideas, see e. g. Francis Lodwick, »After the First Creation«, in: On Language, ed. Henderson / Poole, 257–263. Similar ideas are expressed in Lodwick’s utopian narrative, A Country Not Named, where human language has fractured into a collection of loosely connected dialects. See Lodwick, »The Copy of Certain Loose Papers Pretending a description of a Country not Named […]«, in: On Language, ed. Henderson / Poole, 266–288. 47  On this point, see Stephen Hequembourg, »The Dream of a Literal World: Wilkins, Hobbes, Marvell«, English Literary History 81 (2014), 83–113, 87. 48  See Eco, Search for the Perfect Language, 209. The title of Wilkins’s An Essay towards a Real Character, and a Philosophical Language (1668) self-consciously invokes Baconian terminology. 49  Francis Lodwick, »The Ground Work […]«, in: On Language, ed. Henderson /  Poole, 91–101, 97.



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Fig. 2: Sample radicals; A Common Writing, p. 85.

Fig. 3: »The foure distinctions of the tenses«; A Common Writing, p. 85.

manner of writing.«50 The words that made up Lodwick’s universal writing would not make »reference to letters [i. e. sounds], or their Conjunction in words«; instead, following Bacon’s lead, they were to be »a kind of hieroglyphical representation of words«, composed of underlying radicals [see Fig. 2] and a variable set of »augmentative signs« (lines or dots) which were added to signify tense, case, gender, and so on [see Fig. 3]. All signs were to be inscribed into a grid of five lines that recalled the lines of a musical score sheet. Lodwick’s signs respond to Bacon’s call for a set of logically constructed ideographic »real characters«. As such, these linguistic units offer a series of abstract representations that represent the »universall« patterns governing all language use. Rather than translating between individual languages, Lodwick’s universal language drills down to the deep structural level of linguistic use in order to build up a new and a priori linguistic code. As in the case of Bacon’s New Atlantis, Lodwick’s utopian narrative A Country Not Named incorporates the ideas for language reform which its author had outlined in some of his earlier works. Yet while A Country Not Named features some of the staple trappings of the utopia genre (including European travellers and utopian islanders), Lodwick uses the form merely as vehicle in order to present his highly heterodox religious beliefs and his plans for a universal writing system.51 The main differ­ences between Lodwick’s printed works on universal grammar and the utopian narrative of A Country Not Named is that the latter pictures a social 50  Francis Lodwick, »A Common Writing«, in: On Language, ed. Henderson /  Poole, 68–90, 69. 51  See also Poole, »Introduction«, 28.

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dispensation in which this philosophical language has been implemented at a national level. The history of this utopian country reflects the course of human history as Lodwick had described it in his theological works: After the inundation [that created this utopian island] but a few of the people escaped on the mountaines here and there stragling these by degrees uniting in severall partyes as it were Colonoyes or distinct commonwealths by them selues and the country being large, they had roome enough to remain distinct without quarrell. […] They had also in each Colony a distinct dialect of the ould language used before the flood and so many words added by lenght [sic] of time as they understood not one another. (278)

The islanders respond to this multiplication of dialects by enforcing a regime of strict linguistic control that prescribes the use of a single standard language. Devised and constantly policed by a centralized government, this language is instantly recognized by the travellers as »the most perfect the world affordeth to expresse the mind by it« (278). The utopians, Lodwick’s traveller recalls, »drew up a Law of Language in rules not according to what they found used in the formed corrupted Language but what they found necessary upon a rationall account which collection was their Grammer« (279). The new linguistic signifiers [cp. Fig. 2 and 3] approximate the »real characters« anticipated in Bacon’s Advancement of Learning as well as the enigmatic and universally intelligible (scriptural) language evoked in New Atlantis. Indeed, Lodwick seems to allude to the »pillar of light« passage in Bacon’s utopia when discussing the islanders’ superior grasp of the problems implicit in Biblical exegesis. The utopians of A Country Not Named, Lodwick notes, recognize that the Letters of the Apostles »were written to particular Churches answering particular questions« and that, as a consequence, there is now »for want of the knowledg what those doubts and questions were […] so much difficulty in understanding the apostles« (277). The Bible’s true meaning gets lost in translation as linguistic transmission (from Hebrew and Greek to Latin and English) is tripped up by historically contingent, connotational meanings. Like the scriptural language envisioned in Bacon’s New Atlantis, Lodwick’s philosophical language promised to avoid such distortions by relying on »plain and positiue termes […] cleare of ambiguity« (284). Not quite coincidentally, A Common Writing featured as a sample of Lodwick’s universal writing the opening verses of John’s Gospel [Fig. 4]. The reform of vernacular and historically grown languages, as it is recounted by the islanders themselves, proceeds along recognizably Lodwickian lines. As far as verbs are concerned, [t]hey enumerated all the seuerall Actions then knowne or used among them and appointed monasyllables to signifie them, they appointed allso a form by addi-



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Fig. 4: Lodwick’s rendering of the opening verses of John’s Gospel; A Common Writing, p. 87. tion of letters or sillables to vary the Verb into moode and Tense and appointed also those seuerall nounes substantiue or adjectiue that might deriue from thence they also appointed other monasillables to signifie all those severall primitiue adjectiues with their deriuatiues. (279)

The universal quality of the utopians’ written language remedies the imperfections of existing languages, but it also drives it towards a realm of »semantic timelessness« that seems to make this universal language impervious to historical change: »Thus their Language was setled and thus it continued as I before said for many ages in its first instituted purity« (280).52 While Lodwick’s grammatical primers Common Writing and Ground Work were designed as practical and popular manuals, A Country Not Named places this universal language in a realm that is ostensibly removed both from historical change and the situational demands of everyday communication. In this sense, Lodwick’s utopian language differs markedly from the emphasis placed on language’s everyday use-value in More’s Utopia and the tantalizing openness of Bacon’s proposals in New Atlantis. However, like Bacon’s narrative, Lodwick’s utopia reverses 52  For the dubious »ideal of semantic timelessness« in the works of later language reformers, see Hequembourg, »Dream of a Literal World«, 90.

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the traditional precedence, derived from canonical Biblical texts such as Genesis, of the spoken over the written word. The (written) signs of Bacon’s and Lodwick’s universal languages, because they appear to exist outside time, seem capable of representing concepts directly, without the distracting interpolation of vocalised words.53 Lodwick’s utopian text is awkwardly lodged between two distinct, and potentially antithetical, impulses. On the one hand, as I have indicated, Lodwick attempted to imagine his universal writing as a medium of communication that might bridge the linguistic gaps that divided trade partners from different parts of the world. As such, the universal language  – as it was outlined in Lodwick’s Common Writing and Ground Work  – would fulfil an important task in facilitating trade and creating a public marketplace for the exchange of ideas.54 Regarding this side of his project, Lodwick could draw hope from the fact that in certain parts of the world, including England’s trade partner China, a form of ideographic script already existed. On the other hand, Lodwick’s universal language scheme seems singularly unsuited to everyday communication: because it is modelled on highly abstract, philosophical a priori principles, it seems to exist in a sphere that is detached from the thick social contexts of real-life communication. The quasi-musical denotational system which Lodwick used to write his invented characters recall the identical grid Godwin had used as the basis for the entirely fantastical musical language spoken by the lunar inhabitants of his science-fiction extravaganza The Man in the Moone [see Fig. 5]. And indeed, the perfect language described in A Country Not Named resembles nothing so much as the mode of communication used by Godwin’s superhuman race of Lunarians. Lodwick had hoped that his universal language would help to overcome linguistic barriers. However, the attempt to construct a rational language on the basis of abstract taxonomies may in turn indicate that a gulf was opening up between the linguistic requirements of everyday life and the more artificial modes of communication necessary for the pursuits of a small intellectual elite. The idea of a perfect language had travelled a long way by the time Lodwick sat down to write A Country Not Named. While the vision of an ideal language continued to carry a significant part of the utopian 53  For this reversal of the hierarchy between written and »vocalised words«, see Lewis, Language, Mind, and Nature, 62 f. 54  On the commercialist impetus of these schemes, see Denise Tillery, »Engendering the Language of the New Science: The Subject of John Wilkins’s Language Project«, The Eighteenth Century 46.1 (2005), 59–79.



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Fig. 5: The Lunarians’ language in Francis Godwin’s The Man in the Moone (London, 1638), p. 94.

charge of Bacon’s and Lodwick’s texts, I have also traced the tectonic shift from More’s imaginative preoccupation with oral discourse towards Lodwick’s more narrowly circumscribed rules for an exclusively written language. In the process, I have suggested, the vision of a utopian language became increasingly divorced from spontaneous everyday conversation and began to participate in the (supposedly timeless) realm of taxonomic abstraction and philosophical speculation. This development was partly motivated by a desire to control and harness the disruptive forward momentum of social, scientific and technological modernity. However, when these developments are seen from a literary historian’s perspective, they can also shed interesting light on the evolution of the utopia genre itself. Most notably, we can observe how a particular element of the early modern utopian tradition  – the intense interest in ideal languages  – becomes emancipated from the literary genre of the utopia. The idea of a perfect language thus constitutes a moment in the history of what Ernst Bloch describes as the »utopian impulse«  – a reforming or revolutionary élan that transgresses the boundaries of the merely imaginary and fictional in order to produce specific real-world effects.55 As Robert Appelbaum has recently observed, »[i]n contrast to the work of the previous century« utopian narratives of the seventeenth century »want to imagine how things might be done.«56 Bacon and Lodwick show little interest in the descriptive depth and complex narrative embedding of More’s Utopia. Indeed, their works suggest that the emancipation of the utopian impulse from the literary genre of utopia crucially entailed a change in textual medium: as I have demonstrated, the utopian impulse associated with the idea of a perfect language was beginning to migrate away from the literary text, finding new expression in a wide range of tracts, primers and treatises which we would today call »practice-oriented« or »scientific«. Ernst Bloch, The Principle of Hope, Oxford 1986. Appelbaum, »Utopia and Utopianism«, in: Andrew Hadfield (ed.), The Oxford Handbook of English Prose 1500–1640, Oxford 2013, 253–267, 263. Adopting Ruth Levitas’s useful distinction we might think of this development as the emergence of a split between utopia as a literary »form« and a distinct utopian »function« aiming at real-world change. Levitas, The Concept of Utopia, London 1990, 4–6. 55  See

56  Robert

El desenlace de La verdad sospechosa de Ruiz de Alarcón Otra revisión De Ignacio Arellano Somero estado de la cuestión Como se sabe, el desenlace de La verdad sospechosa – el mentiroso don García se ve obligado a casarse con la dama que no quiere  – es quizá el elemento de la obra más debatido por la crítica, que no acaba de decidir si se trata de un castigo moralizante, una lección regeneradora, la aplicación de la justicia poética, una frustración menor o incluso un paradójico final feliz… Un repaso de la bibliografía más relevante muestra las diferencias de opinión, y algunos desvaríos lectores, que conviene replantear antes de regresar al examen del final de la comedia. Para Riley (1959), que analiza la obra desde las teorías caracterológicas de la época, se echa en falta una lección moral explícita, y cree que es posible una enmienda del mentiroso, por lo que el final quedaría abierto y ambiguo, confuso, con varias posibilidades de lectura: the signs are hopeful […] There is enough discreción in his character to suggest the likelihood of reform […] the play is clumsily contrived in several respects (p. 296)

Fothergill–Payne (1971), en un artículo que dedica a la justicia poética en la comedia, reúne diversas opiniones de críticos precedentes: unos (Valbuena Prat) ven en don García un personaje simpático y vivaz, que recibe un castigo demasiado grave para su falta; otros (Castro y Calvo) señalan cómo el vicio despreciable del caballero le labra su desgracia… Para Fothergill–Payne »la obra, sin dejar de tener un propósito didáctico, contiene unas verdades más profundas, aunque encubiertas, de las que admite la interpretación tradicional« (p. 589), y esas son que el joven e imprudente protagonista merece más que castigo una amonestación que le enseñe có-

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mo ha de actuar en la corte, que es su destino vital1. Desde esta perspectiva lo que parece castigo no lo sería, ya que al andar del tiempo descubrirá don García que su esposa Lucrecia es preferible a Jacinta. Los verdaderos criticados serían los demás: El escarmiento que sufre García, por un tiempo, le parecerá grave, pero los años y la mayor experiencia le enseñarán que el aparente castigo acabará por tornarse en una merced puesto que su esposa Lucrecia, amiga de la Jacinta preferida, es infinitamente preferible a esta y a cuantas damas en la Corte »son, con almas livianas, / siendo divinas, humanas« […] Es la Lucrecia callada quien, a pesar de las apariencias desfavorables, enpieza a dar crédito a las palabras de García y, lo que es más, amarle de un amor sincero. (p. 589)

Esta vía interpretativa parece un tanto arbitraria al situar la clave de lectura en el futuro de los personajes en un mundo que no existe más allá del final de la obra. Por lo demás, la perspectiva dominante para establecer si el desenlace es o no negativo para don García es la del sufrimiento del personaje, no la de un crítico omnisciente capaz de adivinar lo que va a pasar en un más allá (inexistente, como se ha dicho, para los papeles dramáticos): don García, sin duda, pierde a la dama que deseaba. Mary M. Gaylord (1988) señala certeramente que las palabras finales de Tristán no corresponden a lo que ha visto el espectador, ya que »the results do not emerge organizally through a process seen« (p. 224), y considera en la acción dramática dos progresiones que no son paralelas: la temporal y la causal. Su análisis de los caminos del amor y el deseo no afectan a mis objetivos, y me limitaré a retener que en su opinión el final constituye un peculiar caso de ironía dramática en el que el engañador es engañado, y que, como en otras obras del Siglo de Oro, es »ultimately undecidable« (p. 238). Para King (1989) el final se entiende como castigo merecido por haberse don García »empedernido en el vicio« (p. 192), vicio que convierte al caballero en »estorbo de sí mismo, que impide el cumplimiento de su más profundo anhelo, que es obtener la mano de Jacinta« (p. 191)2. 1  Pero la corte, como apuntan otros estudiosos, y el mismo don Beltrán, el viejo padre de don García, no es precisamente el reino de la verdad. 2  Yerra en este punto, como veremos, King, y también yerra al atribuir la inclinación a la mentira a la influencia de una corte corrompida (1989, p. 193): su argumento de que la primera mentira de don García ocurre después de la visita a las Platerías es infundado y contra el texto: esa mentira es la primera solo en cuanto a la acción representada, pero recuérdese que don García lleva mintiendo toda su etapa de estudiante en Salamanca, antes de que comience la acción de la obra, como ha expresado claramente el licenciado ayo del joven cuando da su informe al viejo don Beltrán. Don García no miente porque la corte mentirosa lo corrompa.



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Whicker (2003) acepta también que el final es un castigo por mentiroso, dando por buenas las palabras epilogales de Tristán en las que el criado atribuye toda la culpa a las mentiras de su amo (vv.  3100–3112). Acudiendo a complejos comentarios sobre la teoría de la mentira y la doctrina sobre las virtudes en la época, contempla, en mi opinión, una profundidad de planteamientos morales excesiva para una comedia de capa y espada. No creo necesario para el espectador – ni para ningún receptor – reflexionar como el estudioso sobre las fallas de don García en términos de providentia, circumspectio o cautio: he lacks both memoria and entendimiento [intellectus] and […] he habitually subordinates reason (razón) to appetite (gusto). That he also lacks foresight [providentia], circumspection [circumspectio] and caution [cautio], is evident in his propensity to lie without thought to the consequences of his lies, and his tendency to lay himself open to discovery at every turn. (p. 70)

Por su parte Ribbans encuentra el final desconcertante. Subraya en su última revisión del asunto (2010)3 lo negativo de las mentiras de don García – quien llega a mentir sin ningún provecho a su propio criado, demostrando una irresistible inclinación al embuste  –, y opta por considerarlo, como King, »empedernido en el vicio«. Ribbans aprecia un detalle fundamental, que sin embargo no persigue en su trabajo: We should now return to the question posed by the dichotomy between García’s lies and the mistake of identity. Evidently there is a disconnect between the two, for, as critics from Antonio Castro Leal (136) onward have made clear, it is the mistake of identity, not García’s lying, that brings about the denouement. (2010, p. 150)

La conclusión que extrae es que se trata de un caso de »verdadera justicia poética«: un vicio es castigado, en virtud de un concepto superior de justicia, aunque la trama y sus episodios no lo justifiquen; pero Ribbans, que acaba de señalar certeramente ese importante detalle, insiste extrañamente en que la acción teatral explica y refuerza el final: »a certain inexorable sense of justice, clearly reinforced by the effective stage action« (2010, p. 151). Termina aceptando que se trata de un castigo »severe but no crippling« (2010, p. 153) en el marco de una crítica social generalizada que afecta a otros muchos personajes de la comedia.

3  Aduce también teorías clásicas, agustinianas, escolásticas y renacentistas, para explicar – a mi juicio excesivamente – el asunto de la mentira y sus categorías, en la línea de Riley, aunque discrepa de Riley en su valoración final. Ver también Ribbans 1973.

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La interpretación más arbitraria me parece la de Ara (1979), quien ve el desenlace como »el único posible4, de acuerdo con una justicia tanto humana como poética« (p. 83), desenlace que constituye un premio para don García5, ya que Lucrecia es una dama virtuosa, hermosa y rica, pero sobre todo desinteresada, de manera que el mentiroso se reconcilia con la sociedad6 »por medio del poder regenerador del amor desinteresado que le ofrece Lucrecia« (p. 94). En cuanto a la aceptación de tal matrimonio por parte de don García, es para el estudioso »expresión de resignación cristiana acorde con ese mundo barroco de engaño en que la vida, más que tal, es sueño« (p. 96), mezclando el estudioso categorías de valores impertinentes para el género dramático al que pertenece La verdad sospechosa y contradiciendo la cualidad de premio de una boda a la que debe enfrentarse el galán »con resignación cristiana« y conciencia de la vanidad de la vida humana. Todavía distingue Ara un segundo desenlace implícito que consiste en el descubrimiento de la verdad interior que conseguirá don García gracias a Lucrecia (p. 98), lo que es una nueva proyección injustificada de una acción que termina con el fin de la comedia. En una cosa acierta Ara: en calificar de »engañoso« el desenlace de la comedia. Tampoco me parece que ilumine especialmente el problema Serrano Deza (1994) al aplicar un complejo análisis infoasistido que le lleva a la extraña conclusión de que »don García no recibe en La verdad sospechosa el sambenito de mentiroso« (p. 51), conclusión que no puede aceptarse con el texto en la mano, pues las acusaciones de mentiroso son constantes en la obra7. Sí se puede aceptar que el final »no es pues tan duro como pudiera parecer« (p. 52)8. Visto este cúmulo de interpretaciones (al que pudieran añadirse algunas otras opiniones críticas que no cambiarían sustancialmente el panorama), llega quizá el momento de revisar algunos detalles de la comedia para es4  No lo creo; en realidad las convenciones de la comedia de capa y espada hubie­ ran permitido otro final: por ejemplo, perdonar las mentiras de don García, casándolo con Jacinta, y a don Juan casarlo finalmente con Lucrecia como consolación bastante habitual en las comedias cómicas. Nada imposible ni extraño. 5  No se sabe en virtud de qué méritos debe don García recibir un »premio«. 6  Una sociedad, por cierto, que el propio Ara en su análisis de la comedia caracteriza como corrupta y mentirosa también. En un marco semejante un mentiroso no necesita reconciliación ninguna. 7  Casi cincuenta veces se denuncian las mentiras o al mentiroso don García en la comedia. Ningún análisis infoasistido puede negar esta acusación: si un análisis niega una evidencia quizá deberían corregirse los criterios analíticos. 8  Aunque la verdad es que ni siquiera parece excesivamente duro desde las convenciones de la comedia. Ver infra.



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tablecer ciertos hechos textuales que puedan ayudar a percibir – si la hay – alguna solución. Los hechos textuales Mi lectura  – avanzo  – es que el desenlace de La verdad sospechosa es un castigo que cae sobre don García por mentiroso, pero que ese castigo no le viene impuesto  – como tradicionalmente ha considerado la mayor parte de la crítica  – por su conducta en la comedia, sino por la decisión superior del poeta, que »engaña« al público (quizá se engaña a sí mismo) justificando aparentemente un final que no se justifica por el desarrollo de la trama cómica, sino por una perspectiva moralizante »externa« a las propias convenciones del género. Para explicarlo mejor, convendrá examinar de nuevo algunos datos textuales. El protagonista es don García, aficionado a inventar historias y mentiras, unas veces por simple placer de admirar, otras para salir de un atolladero en el que casi siempre le han puesto las mentiras previas, de modo que se ve inmerso en una espiral de cuentos creciente. Cuando empieza la comedia, don García acaba de regresar a Madrid desde Salamanca, donde ha estado en la Universidad: encuentra a dos damas (Jacinta y Lucrecia) en una tienda y se enamora de Jacinta (a la que por un error de identificación asigna el nombre de Lucrecia). A partir de este error inicial se anudan las peripecias: cortejando a la dama (Jacinta) se inventa que viene del Perú, que la ama desde hace un año, que pone sus riquezas a sus pies… Más tarde asegura a su amigo don Juan que una fiesta que han hecho a unas damas en el río el día anterior, la ha dado él a su amada, provocando los celos de su amigo (pretendiente de Jacinta) con el que se bate en desafío. El padre del mentiroso galán le ha preparado un matrimonio (precisamente con Jacinta), para casarlo antes que la fama de su vicio se extienda. Pero don García que está convencido de amar a »Lucrecia«, se inventa una nueva mentira para impedir la boda ajustada por su padre: confiesa estar casado con una dama pobre, pero noble, con la que tuvo un hijo en Salamanca, y narra a su asombrado progenitor una estupenda historia llena de detalles concretos, con una habilidad para la invención verdaderamente notable. La mentira de García deshace este proyecto, y tras una serie de enredos, no tiene más remedio que casarse con Lucrecia, mientras Jacinta se casa con don Juan, una vez que este recibe un hábito de nobleza que estaba esperando y cuya demora tenía en suspenso esta boda.

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Los datos clave del desarrollo de la trama que se deben retener son los siguientes. 1) Cuando don García ve a dos damas hermosas juntas se enamora de una de ellas (Jacinta), y pide a Tristán que averigüe quién es. El criado pregunta al cochero (es el cochero de Lucrecia) y vuelve con la respuesta: TRISTÁN

»Doña Lucrecia de Luna se llama la más hermosa, que es mi dueño; y la otra dama que acompañándola viene , sé dónde la casa tiene; mas no sé cómo se llama«. Esto respondió el cochero. (vv.  551–557)

Don García se apresura a sacar una conclusión perfectamente arbitraria, que no apela a la lógica9 y que va a ser la raíz de sus problemas: GARCÍA

Si es Lucrecia la más bella, no hay más que saber, pues ella es la que habló, y la que quiero. (vv.  558–560)

A partir de este momento el error de identificación lo lleva a creer que Jacinta se llama Lucrecia y actuar en todos los casos con ese convencimiento, según un esquema de error de identidades que es típico de los enredos de las comedias de capa y espada. El resto de la comedia transita por dos caminos que aunque parecen unidos son paralelos y no se tocan: el motivo de la mentira y el vicio del embustero, por un lado; y por otro las peripecias del enredo que no son provocadas por las mentiras del protagonista, sino por azares propios de la estructura dramática concernida. El padre de don García ajusta un matrimonio de conveniencia con Jacinta, que queda medio concertado, con algunas excusas leves de Jacinta que quiere confirmar algunos detalles. En realidad Jacinta ya estaba comprometida con don Juan para una boda detenida mientras el novio no recibe un hábito de nobleza, pero por si acaso no rechaza la propuesta del viejo don Beltrán. Don García, que no quiere casarse con »Jacinta« sino con »Lucrecia« (nombre que por error ha atribuido a Jacinta) inventa lo de su falsa boda en Salamanca para evitar el matrimonio que él piensa indeseado. Esta es la única mentira de don García relacionada con la trama amorosa, y es una mentira que García deshará más tarde ante Jacinta, a 9  El cochero puede tener un criterio distinto al del galán, o considerar la más hermosa a su dueña por lealtad servil, y don García no sabe a cuál de las dos damas sirve el cochero…

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quien cuenta la verdad de la invención. Es cierto que Jacinta no le cree, pero también que la dama no ve en la mentira un obstáculo mayor; comentando las mentiras o verdades que cuenta el fingido indiano, Jacinta concluye: Al fin, como fuere, sea. De sus partes me contento, quiere el padre, él me desea; da por hecho el casamiento. (vv.  1375–1378)10

En posterior ocasión don García confiesa también a su padre que ha fingido la historia del matrimonio salmantino: cuenta de nuevo, pues »la verdad«, que el padre sí cree, de manera que  – aun irritado por los embustes previos  – acepta volver a renegociar el matrimonio de su hijo, para que se case finalmente con su amada »Lucrecia« (vv.  2920–2963). Así lo hace, pero antes de que se produzca el desenlace en el que don García descubrirá definitivamente que quien pensaba llamarse Lucrecia es precisamente la Jacinta amada, llega don Juan con su hábito concedido, lo comunica al tío de Jacinta, el cual da por hecho el matrimonio concertado previamente con esa condición, y la misma Jacinta acepta la mano de don Juan, como revela la conversación que trae con Lucrecia en la que comentan la novedad del hábito y de la boda: LUCRECIA

Al fin, tras tanto contrastes, tu dulce esperanzas logras. [don Juan]

JACINTA

Con que tú logres la tuya [don García] seré del todo dichosa. (vv.  3049–3052)

JUAN

Dadme, Jacinta, la mano, y daréis fin a estas cosas.

SANCHO

Dale la mano a don Juan.

JACINTA

A don Juan de Sosa Vuestra soy. (vv.  3088–3090)

La entrega de Jacinta a don Juan no guarda relación con la conducta de don García: es decir, que este pierde a Jacinta por razones de la conducta de los otros personajes, no por la suya propia. El resultado no está provocado por las mentiras del galán. Téngase también en cuenta que durante la comedia Jacinta traza por su parte una serie de enredos para hablar al indiano fingido, enredos que 10  Da por hecho el casamiento siempre que don Juan tarde demasiado en conseguir su hábito, o no lo consiga… Jacinta es bastante interesada y práctica, pero esto no afecta a la valoración del desenlace que cae sobre don García.

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confirman a los personajes (a don García especialmente) en su error. Para que esto sea posible el dramaturgo, entre otros mecanismos, hace que las dos damas aparezcan siempre juntas, a veces tapadas, y que un cambio de mano de una carta confirme la falsa identificación: todos elementos tópicos de las tramas de enredo, que son los que hacen posible que el error inicial de don García se prolongue y que no pueda poner ningún tipo de remedio  – caso de que fuere posible  – que impidiera la frustración final: frustración que proviene del enredo y de la conducta de los demás, y no se liga causalmente al vicio mentiroso. 2) Como se ha dicho, las mentiras no causan el fracaso amoroso de don García. En realidad las mentiras en el género de capa y espada no solo no suelen ser objeto de castigo, sino que constituyen una herramienta que permite a los amantes ingeniosos triunfar en sus empresas. Pudiera hacerse una comparación con piezas como Marta la piadosa o No hay peor sordo, de Tirso de Molina, y otras muchas en las que la mentira es una modalidad dentro de una gran abundancia de ardides, engaños, trazas, etc. sin que en ningún caso haya castigo11. Marta la piadosa se encuentra con un matrimonio concertado por su padre y reacciona inventándose un voto de castidad que le impide casarse. Ese enredo vertebral integrará las sucesivas peripecias en un esquema de aparente improvisación acumulativa, que procede de dos enredos complementarios: el de Marta, que con su fingida devoción evita el casamiento indeseado, y facilita la introducción de don Felipe en casa, y el del propio don Felipe, tan activo invencionero como su enamorada. Enredadores, »mentirosos«, que acaban triunfando, como era de esperar en el género. Dicho de otro modo: las mentiras y todo tipo de »engañosas quimeras« es la esencia del género de capa y espada, hecho de »mentiras y enredos« según expresión de don Gabriel en En Madrid y en una casa, y cuya estructura encadena »tanto eslabón de mentiras« según otro don Gabriel en La villana de Vallecas, comedias ambas de Tirso de Molina12. 11  Hay algunos castigos pero todos ofrecen su explicación: Hombre pobre todo es trazas de Calderón, es otro ejemplo de un galán, en este caso bastante interesado y embustero, que recibe un castigo por sus mentiras que más que a un logro amoroso se orientan a un logro de interés. Los demás casos de caballeros mentirosos castigados corresponden a figurones ridículos  – lo que no es don García  – como el don Hipólito de Mañanas de abril y mayo de Calderón, o a galanes cuyas mentiras fracasan no por mentiras sino por mostrar menos ingenio que sus oponentes, y cuyos »castigos« son muy leves: caso de don Gabriel en La villana de Vallecas tirsiana; o personajes secundarios cuyas mentiras ayudan a su fracaso pero que tampoco triunfarían sin ellas, porque están destinados a fracasar desde el comienzo frente a rivales más capaces, como le sucede al conde Carlos de Los balcones de Madrid, de Tirso.



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Si este 12tipo de comedias obedece a unas convenciones que las colocan fuera de los territorios de preocupaciones morales y las mentiras no procuran a sus autores ningún castigo, ¿por qué lo iban a justificar con don García? El caso de don García tiene, en efecto, la peculiaridad de que es un personaje que miente sin parar, pero de todos modos esa condición no produce su fracaso amoroso. Fracaso que por otro lado sería fácilmente evitable si así lo hubiera decidido el dramaturgo, pues contra lo que afirma Ara, que considera que el desenlace es el único posible, la comedia admitiría sin problemas en cuanto a sus convenciones genéricas, otra variedad de final. No habría grandes dificultades en que a última hora Jacinta aceptara la mano de don García y que al llegar don Juan con su hábito se le propusiera la boda con Lucrecia, quedando todos emparejados. ¿Cómo se fundamenta entonces el castigo de don García, pues perder a la dama que desea no puede interpretarse sino como un correctivo? Dos aspectos están involucrados en este asunto: la coherencia del castigo en sí mismo y su nivel de gravedad. Si lo queremos interpretar como efecto de una justicia poética provocada por el vicio de mentir, la disposición de la trama lo niega. Si lo interpretamos como castigo a la mentira, independientemente de la acción, puede aceptarse. En ese caso resulta un castigo ni necesario ni exigido por el género dramático ni por la acción concreta de la comedia. ¿Qué o quién lo exige entonces? A mi juicio lo exige la inclinación moralizante de Ruiz de Alarcón, según la cual un personaje mentiroso (como un maldiciente, etc.) debe recibir algún tipo de escarmiento. Ahora bien, queda otra pregunta por responder: si la pena no es coherente con el vicio exhibido en la acción de la comedia ¿por qué el público (y gran parte de la crítica) relacionan ambas cosas y entienden que el castigo se lo ha ganado el protagonista por mentiroso, estableciendo una inexistente relación causal? La respuesta creo que debe buscarse en el modo de recibir la información el público (y el crítico menos atento de lo necesario): el espectador13 12  Para el significativo ejemplo de Tirso y los ingeniosos enredos y mentiras en su obra ver Arellano 2004. 13  Lo mismo el lector ingenuo (y no tan ingenuo), aunque la lectura permitiría una más demorada consideración de la obra; sin embargo no se puede exigir un análisis crítico a la generalidad de los lectores.

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no analiza la estructura continua de la trama, sino que recibe »paquetes de información« discretos, muchos de los cuales en La verdad sospechosa contienen denuncias del vicio de la mentira. Esa omnipresencia se suma a la orientaciones extratextual e intratextual que contribuyen a dirigir la intelección de la comedia: la primera radica en los valores morales vigentes en la sociedad (al menos en teoría) según los cuales mentir está mal y por tanto es aceptable que el mentiroso reciba una penalización; la segunda corresponde a las críticas contra la mentira actualizadas y reiteradas en la obra, especialmente en el epílogo de Tristán que ofrece una lección explícita (aunque no justificada por la acción, como se ha visto): TRISTÁN

Tú tienes la culpa toda; que si al principio dijeras la verdad, esta es la hora que de Jacinta gozabas. Ya no hay remedio, perdona, y da la mano a Lucrecia, que también es buena moza.

GARCÍA

La mano doy, pues es fuerza.

TRISTÁN

Y aquí verás cuán dañosa es la mentira; y verá el senado que, en la boca del que mentir acostumbra, es la verdad sospechosa. (vv.  3100–3112)

No es cierto, pero parece cierto al receptor o a muchos receptores. Este funcionamiento de la recepción e interpretación de una obra dramática no es exclusivo de La verdad sospechosa. Ocurre en otras ocasiones, como en la famosa obra La prudencia en la mujer de Tirso. Como he estudiado en otra parte (Arellano 2017) en este caso la prudencia y otras virtudes de la reina no se desprenden de la misma acción, sino del discurso verbal, de la caracterización directa y del empeño previo del dramaturgo. El análisis de la trama y sus peripecias revela que en términos de estructura dramática las peripecias y su orden no conducen a la confirmación de la prudencia de doña María: su triunfo no viene condicionado por su conducta dramática. Viene provocado por una trayectoria histórica externa que define parte de la acción, y por el empeño de Tirso de hacernos creer (y creerse él mismo) en un modelo de perfecciones que no llegó a definir con la precisión de otras comedias suyas, dañado por el prejuicio antisemita y la contradicción que insertan en tal modelo pretendido la crueldad y la imprudencia. (Arellano 2017, p. 23)



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En el caso de La prudencia la reina recibe una exaltación incoherente con la trama, pero justificada por otros motivos; en el de La verdad sospechosa sucede lo mismo, pero en clave de castigo. En cuanto a la gravedad de la pena, que también ha dividido a los estudiosos, no parece que sea excesiva ni trágica. Lucrecia es una dama hermosa, discreta, virtuosa, noble y rica, con dos mil ducados de renta: CAMINO

Porque la habéis visto, dejo de encarecer que es hermosa; es discreta y virtüosa; su padre es viudo y es viejo; dos mil ducados de renta los que ha de heredar serán, bien hechos.

GARCÍA ¿Oyes, Tristán? TRISTÁN

Oigo, y no me descontenta.

CAMINO

En cuanto a ser principal, no hay que hablar; Luna es su padre y fue Mendoza su madre, tan finos como un coral. Doña Lucrecia, en efeto, merece un rey por marido. (vv.  1129–1142)

Don García, por su parte, aunque es mentiroso tiene muchas virtudes: es magnánimo, valiente, sagaz, ingenioso, liberal, piadoso, según su preceptor. El matrimonio de los dos no implica una violencia y frustración incomportables. Y ultimadamente el género de la comedia lúdica exige un final que no cause tampoco una frustración particular en el espectador. El desenlace de La verdad sospechosa solo puede parecer grave a una mirada posromántica y harto ingenua: se trata, en suma, de un correctivo no demasiado severo, cuya coherencia no hay que buscarla en la disposición de la trama, sino en conceptos morales sobrepuestos a la misma.

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Joseph von Eichendorff, Das Marmorbild. Eine autobiographische Novelle? Von Dietmar Kunisch I. Abschied von der Jugend und Neuanfang Das Jahr 1816 markierte einen tiefgreifenden Wendepunkt im Leben Joseph von Eichendorffs.1 Von seinen umtriebigen, turbulenten Jugendjahren  – Studium in Halle, Heidelberg und Wien sowie mehrere Reisen zusammen mit Bruder Wilhelm, diverse amouröse Abenteuer, Heirat mit Louise von Larisch im Jahr 1815, schließlich die Teilnahme an den Befreiungskriegen gegen Napoleon in den Jahren 1813 bis 1815  – musste er sich endgültig verabschieden. Zugleich stand Eichendorff vor einer grundlegenden Neuausrichtung seines Lebens. Bei seiner Rückkehr aus dem Krieg fand er eine junge Familie vor, für die gesorgt werden musste; er hatte jedoch noch keinen Beruf und außer einem kleinen Erbe kein Auskommen. Die Frage, ob seine Zukunft im väterlichen Lubowitz oder in einer Zivilanstellung liegen würde, musste demnach dringlich und endgültig geklärt werden.2 So viel war fehlgeschlagen: Vergeblich hatte er sich darum bemüht, »Lehrer […] der Geschichte« zu werden;3 vergeblich

1  Zu autobiographischen Aspekten in Eichendorffs Werk vgl. Dietmar Kunisch, »Glück, Entfremdung, Wahnsinn. Über die Brüder Eichendorff und das autobiographische Novellenfragment Das Wiedersehen«, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, N. F. 51 (2010), 173–198, und ders., »Zum Autobiographischen bei Eichendorff«, Aurora 49 (1989), 135–149. – Zitiert wird nach: Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff. Historisch-kritische Ausgabe, begr. Wilhelm Kosch u. August Sauer, fortgef. u. hg. Hermann Kunisch (†) u. Helmut Koopmann, Regensburg 1962– 1970, dann Stuttgart / Berlin / Köln / (Mainz), zuletzt Tübingen 1997 ff. (zitiert: HKA römische Band-, Seitenzahl). 2  Vgl. den Brief an Friedrich de la Motte-Fouqué vom 29. Januar 1816, in: HKA XII, 63–64, sowie den Brief an Philipp Veit vom Januar‑Februar 1816, in: HKA XII, 64. 3  Vgl. den Brief an Friedrich Carl von Savigny vom 8.  Mai 1817, in: HKA XII, 72–74, hier 73.

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hatte er sich um eine Landratsstelle im Kreis Rybnik4 und im Kreis Pleß beworben;5 die offenbar angestrebte Laufbahn als Berufsoffizier scheiterte.6 Die Kriegs­teilnahme überhaupt scheint als Leitmotiv zu beschreiben, wie weit diese Zeit die Grenze des Zumutbaren überschritt.7 Die Briefe, die Eichendorff in diesen Jahren schrieb, handeln von solchen Problemen nur sporadisch. Zur Sprache kommen vor allem das unerträglich-sinnlose Engagement in den Freiheitskriegen,8 die immer wieder aussetzende dichterische Inspiration9 und die grundsätzliche LubowitzFrage.10 Eine den Problemen angemessene »gesteigerte Selbstreflexion«11 zeigt sich jedoch weniger in den Briefen als in der – mit dem bevorstehenden Neuanfang auflebenden  – literarischen Produktivität in den Novellen Das Wiedersehen und Das Marmorbild. II. Das Wiedersehen Zu Eichendorffs dichterischen Vorhaben findet sich eine aufschlussreiche Passage in einem Brief an Fouqué vom 15.  Juni 1816: Ich habe durch langes, nur zu oft scheinbar zweckloses, Umtreiben im Leben einen weiten Umkreis von Aussichten gewonnen, aus deren Gemisch von Zauber, lächerlicher Dummheit, Freude und Schmertz ich mich manchmal kaum herausfinden kann, und eine unwiderstehliche Lust dabei, grade nur das alles,

4  Vgl. den Brief an Friedrich Carl von Savigny vom 30. Dezember 1817, in: HKA XII, 77–78. 5  Vgl. Günther Schiwy, Eichendorff. Der Dichter in seiner Zeit. Eine Biographie, München 2000, 394–395. Die Bewerbung um die Stelle im Kreis Rybnik scheiterte um die Jahreswende 1817 / 18, jene um die Stelle im Kreis Pleß Anfang 1819. 6  Vgl. den Brief an Otto Heinrich von Loeben vom 8. April 1814, in: HKA XII, 27–34, hier 30–33. 7  Vgl. ibid., 32–33. 8  Vgl. ibid. 9  Vgl. die Briefe an Carl Albert Eugen Schaeffer vom 16. Juni 1814, in: HKA XII, 35–37, hier 37; an Otto Heinrich von Loeben vom 10. August 1814, in: HKA XII, 38–41, hier 39–40; an Friedrich de la Motte-Fouqué vom 25.  Dezember 1814, in: HKA XII, 49–51, hier 49. 10  s. oben, Anm. 2. 11  Sibylle von Steinsdorff diagnostiziert für die Jahre 1816  /  17 eine mit der »einschneidende[n] Veränderung der äußeren Lebensverhältnisse« einhergehende »gesteigerte Selbstreflexion des Autors Eichendorff«. Sibylle von Steinsdorff, »Das Marmorbild«, in: Erzählungen der deutschen Romantik, hg. u. komm. Albert Meier, Walter Schmitz, Sibylle von Steinsdorff u. Ernst Weber, München ²1998, 418–432, hier 420.



Joseph von Eichendorff, Das Marmorbild197 was ich gesehen, gehört und durchlebt, einmal recht keck und deutlich zu frommer Ergötzung wieder darzustellen.12

Kein Zweifel, die hier angekündigten Projekte entspringen dem ›Durchlebten‹, dem tatsächlichen Leben  – sie haben autobiographischen Charakter.13 Mit Blick auf das Novellenfragment Das Wiedersehen lässt sich das eindeutig belegen. Der Text literarisiert die symbiotische Beziehung der Brüder Wilhelm und Joseph von Eichendorff, ihre Trennung im April 1813 und die anstehende Wiederbegegnung im Jahr 1817 in den Figuren der Freunde Leonhardt und Ludwig: gemeinsame Kindheit in der geliebten Heimat, zukunftsfrohe Jugendzeit, Zusammenwachsen zu inniger Einheit, gemeinsame Studien, gemeinsames Dichten, ihre gegensätzlichen Wesenszüge (poetisches vs. realistisches Temperament), ihre schmerzliche Trennung, das Versiegen der Kommunikation, Entfremdung, Weite und idyllische Enge  – dies alles ist autobiographisch belegt. Liest man das Novellenfragment also als literarische Verarbeitung einer persönlichen Krisensituation, dann erscheint als ihr Kern die Erkenntnis des unaussprechlichen Glücks dieser Brüderfreundschaft, die zum einen gekoppelt ist an die gleichsam in den Wahnsinn führende Einsicht der gegenseitigen Entfremdung, zum anderen an das Bewusstmachen eines Neuanfangs und einer realen Lebensperspektive in dem schöpferischen Idyll um die fiktionale Figur der Johanna bzw. die Braut Louise von Larisch. III. Das Marmorbild In Das Marmorbild sind die autobiographischen Bezüge weniger offensichtlich: Erst durch eine Spurensuche unterhalb der vordergründigen Polarität von Heidentum und Christentum und Florios schrittweisem Reifungsprozess von zügelloser Sinnlichkeit zu einem christlichen Lebensweg werden sie sichtbar. Sibylle von Steinsdorff hat hierzu konkrete Anhaltspunkte geliefert: Nicht nur die Namensähnlichkeit des jungen Dichters Florio im Marmorbild mit dem vom Autor bis 1815 benutzten Pseudonym »Florens« belegt die autobiographische Folie der Erzählung; deutlicher noch tut dies der mehrfach auftauchende Vermerk »Lubowitz« im Zusammenhang mit den Erinnerungen des Helden an seine frühe Jugend in handschriftlichen Notizen zum Marmorbild.14

12  Brief an Friedrich de la Motte-Fouqué vom 15. Juni 1816, in: HKA XII, 67–68, hier 68. 13  Das Folgende in Anlehnung an Kunisch, »Glück, Entfremdung, Wahnsinn«. 14  Steinsdorff, »Das Marmorbild«, 420.

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Geradezu frappierend ist die Entdeckung einer Anmerkung Eichendorffs in den Skizzen zur Konzeption der Novelle, die erkennen lässt, dass auch Donati und Venus Entsprechungen im wirklichen Leben hatten: In der berühmten Nacht erzählt vielleicht Aleßandro [erst später Florio genannt; DK] der Venus seine Kindergeschichte / : Lubowitz : / und erkennt auf einmal in Donati u. der Venus wirklichbekannte Personen aus jener Zeit.15

Dieser bisher nicht gesehene,16 eindeutige autobiographische Befund lässt sich mit einem Blick auf den Text noch erhärten. Der Bezug zu »Lubowitz« taucht nicht nur mehrfach in den handschriftlichen Notizen zum Marmorbild auf, sondern findet sich auch am Anfang der Novelle in Florios Andeutungen über seine Herkunft; diese korrespondieren bezeichnenderweise mit dem Anfang des zeitgleich begonnenen Wiedersehens, in dem von der gemeinsamen Heimat der Freunde erzählt wird. Unter den Figuren ist Florio am deutlichsten von der Macht der Erinnerungen geprägt.17 Aber auch Donati erinnert sich deutlich an die Gegend und die heimischen Plätze von Florios Heimat.18 Die Venus schließlich erscheint Florio wie eine »lang gesuchte […] Geliebte«, die aus der »träumerischen Stille seiner frühesten Jugend« auftaucht.19 Nicht im engeren Sinne autobiographisch hinterlegt, aber doch tief in der Biographie Eichendorffs verwurzelt ist Fortunato, der »frische klare Sänger«,20 wie er genannt wird. Er ist nach dem Vorbild des bewunderten und verehrten Achim von Arnim gezeichnet wie vor ihm schon Friedrich in Ahnung und Gegenwart und später Manfred in Dichter und ihre Gesellen.21 Als untrüglicher Vermittler zwischen dem Heute der Erzählung und dem Vergangenen ist sein Auftreten hervorgehoben durch das Leitmotiv ›klar‹,22 das am Ende  – so 15  Zit.

nach: ibid., 425. Kommentarteil der von W. Frühwald und B. Schillbach herausgegebenen Ausgabe zitiert Steinsdorff, ohne ihrem Befund weiter nachzugehen. Vgl. Joseph von Eichendorff, Ahnung und Gegenwart. Sämtliche Erzählungen I, hg. Wolfgang Frühwald u. Brigitte Schillbach (= Werke in sechs Bänden 2; DKV 18), Frankfurt / M. 22007, 759. – Ursula Regener, Joseph von Eichendorff: Das Marmorbild. Erläuterungen und Dokumente (RUB 16047), Stuttgart 2004, 103 führt den Aufsatz von Steinsdorff auf, ohne ihn in den Erläuterungen heranzuziehen. 17  Vgl. Eichendorff, »Das Marmorbild«, in: HKA V / 1, 32, 40, 51, 61, 70, 71. Vgl. Regener, Eichendorff: Das Marmorbild, 18 (Kommentar zu 13, 23). 18  Vgl. Eichendorff, »Das Marmorbild«, in: HKA V / 1, 40. 19  Ibid., 45. 20  Ibid., 55. 21  Vgl. die Kommentare in HKA III, 363–364. Vgl. Otto Eberhardt, Figurae. Rollen und Namen der Personen in Eichendorffs Erzählwerk, Würzburg 2011, 67–70 und 288–292. 22  Vgl. Steinsdorff, »Das Marmorbild«, 426. 16  Der

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genau ist die Novelle komponiert  – auch den Seelenzustand der beiden Hauptfiguren, Bianka und Florio, beschreibt.23 Eine derartige Berücksichtigung historisch-biographischer Kontexte lässt unterhalb der symbolisch-allegorischen und ambivalent strukturierten Bedeutungsschicht (Heidentum  – Christentum; Venus  – Maria) in den ›wirklichbekannten‹ Figuren eine autobiographische Schicht zu Tage treten, die die Novelle eng mit einem Lebenskonflikt des Dichters verbindet. Die bewusst getroffenen Entscheidungen für die erlösende Kraft der wahren Liebe (Bianka) und der reinen Poesie (Fortunato) korrespondieren mit Eichendorffs Abschied von der impulsiven, unsteten Jugendzeit sowie den Affären mit Madame Hahmann und der Wiener Choristin24 und dem Neuanfang mit Louise von Larisch. IV. Wer war Louise? Das überlieferte Portrait von Louise muss man wohl als unglücklich bewerten, da es eher entstellend als charakteristisch zu sein scheint.25 Die Frage nach Louises äußerer Erscheinung und ihrer Wirkung auf Eichendorff hat die Forschung bisweilen überaus spekulativ beantwortet und überdies Eichendorffs angebliches Zögern, sie zu heiraten, damit verknüpft: Es ist ein Zögern, das sich wesentlich aus Eichendorffs Überzeugung einer weitgehenden Unvereinbarkeit von Sinnen- und Seelenliebe in der Beziehung der Geschlechter gespeist haben dürfte. Durch Louise von Larisch wird diese Polarität initiiert.26

Eichendorff, »Das Marmorbild«, in: HKA V / 1, 81 und 82. dazu Schiwy, Eichendorff, 204–208, 303–314 und 332–335. 25  Vgl. die Wiedergabe des Portraits in: ibid., 356. 26  Jürgen Daiber, »›Ließ ich mich als schwarzer Ritter malen…‹. Zur Geschlechterdarstellung bei Eichendorff«, Aurora 66 / 67 (2007), 32–51, hier 39. Literarisch formulierte Liebeskonzeptionen können nur mit Vorsicht autobiographisch gelesen werden. Evokationen von Sinnlichkeit in einer sie begleitenden Naturszenerie bieten Eichendorffs Gedichte durchaus, vgl. Eichendorff, »Gruß«, in: HKA I / 3, 16. – Dazu Theodor W. Adorno, »Zum Gedächtnis Eichendorffs«, in: ders., Gesammelte Schriften 11: Noten zur Literatur, hg. Rolf Tiedemann, Frankfurt / M. 1974, 69–94, hier 77–78:  Gruß. […] »Ueber Wipfel und Saaten In den Glanz hinein – Wer mag sie errathen, 23  Vgl. 24  Vgl.

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Ob diese Vermutung anhand der überlieferten Quellen zu belegen ist und ob Eichendorffs künftige Ehefrau tatsächlich von einer »geringe[n] erotische[n] Anziehung« war,27 erscheint zumindest fraglich. Zwar hat Eichendorff durchaus gezögert, aber wohl aus anderen Gründen: Die bevorstehende Heirat drohte seine Freiheit, das unbeschwerte Studentenleben und nicht zuletzt erotische Erfahrungen und Abenteuer zu ersticken.28 Auch mag die Angst vor einem philiströsen Leben und dem Verlust der schöpferischen Kräfte eine Rolle gespielt haben, wie sie im Sonett Sommerschwüle zum Ausdruck kommt: »Auch dein Lenz, froher Sänger, ist vergangen, / An Weib und Kind ist nun der Sinn gebunden!«29 Doch zurück zu den Quellen, das heißt in diesem Fall zu dem einzigen unmittel­baren Zeugnis über Louise, dem Briefentwurf an Bruder Wilhelm vom März 1816. Es heißt dort über die junge Ehefrau: [G]roßer Kummer, u. das gewaltsame Herausreißen aus dem heimathlichen Boden u. Sauerteig hat [sic] ihre frühere […] Lebhaftigkeit in die Tiefe versenkt u. in eine unendlich-milde stille Lebenskräftige Güte verwandelt, welche ihr unter den kritischsten Menschen Europas […] zu Berlin, wo sie so lange einsam stand, eine aufrichtige Bewunderung u. Liebe verschafft […].30

In diesen Worten wird das Bild einer reifen Frau entworfen, eines der  schönsten lebensnahen Frauenbilder im Werk des Dichters, das im Wiedersehen seinen literarischen Widerhall gefunden hat.31 Aus anderen  Wer holte sie ein? – Gedanken sich wiegen,  Die Nacht ist verschwiegen,  Gedanken sind frei.« »Es räth es nur Eine,  Wer an sie gedacht Beim Rauschen der Haine,  Wenn niemand mehr wacht, Als die Wolken, die fliegen, Mein Lieb ist verschwiegen und schön wie die Nacht.« 27  Daiber, »Geschlechterdarstellung«, 40.  – Ein Urteil über die Beziehung zu Louise ist daraus nur bedingt abzuleiten. 28  So auch ibid., 39. 29  Eichendorff, »Sommerschwüle« [2.], in: HKA I / 1, 108, v. 7–8. 30  Entwurf eines Briefes an Wilhelm von Eichendorff vom März 1816, in: HKA XII, 66. 31  Johanna wird dort beschrieben als „eine unendlichfrische kräftig-weibliche Gestalt […] mit still verständigen Augen“; ihre „gantze Erscheinung“ habe „etwas unbeschreiblich vertrauliches, mildes und beruhigendes“. Eichendorff, »Das Wiedersehen«, in: HKA V / 4, 12.



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Zeugnissen ist zu entnehmen, wie zentral Louise in Eichendorffs Leben inzwischen, auf der Grundlage eines spontanen, erotisch impulsiven Ehelebens,32 geworden war. In einem Brief vom 18.  Juli 1816 an den Freund Schaeffer berichtet Eichendorff mit humorvollem, bitterem Realismus von seinen Berufsplänen beim preußischen Staat, dem dazu notwendigen Examen, seinen heftigen Vorbereitungen dazu und der Angst durchzufallen: Denn ich habe wenig Zeit, wenig Lust, wenig Kenntnisse, wenig Geld, wenig Protektion, wenig connaissances, liaisons, savoir vivre und andern solchen Teufelsdreck, und wenn mich meine brave Frau nicht noch stark, frisch und frei erhielt, wär’ ich längst schon fortgelaufen.33

In dem berühmten Gedicht An Louise. 1816 heißt es entsprechend: »[…] Wie du ein halbverwildertes Gemüthe / Dir liebend hegst und heilst auf tausend süße Weisen […]«.34 Das also war Louise. Mit einer zwar erfahrenen und verführerischen Madame Hahmann oder einer noch so sinnlich-attraktiven Choristin,35 das scheint hier impliziert zu sein, wäre das Leben Eichendorffs nicht zu meistern gewesen; Louise hingegen ermutigt, stärkt, beschwichtigt und heilt ihren Mann, sodass man aus dem Wiedersehen zitieren mag, wo die Figur Johanna Leonhardt »wie eine ruhig beschwichtigende Zauberinn« erscheint.36 Aber auch über die junge Braut Louise erfahren wir Wesentliches aus diesem Brief­entwurf. Von der menschlichen »Tiefe« der reifen Frau unterscheidet Eichendorff nämlich »die frühere sinnlichreitzende, muthwilligspielende Lebhaftigkeit« des Mädchens.37 Diese Attribute evozieren einen weiblichen Typus, zu dem er sich spontan hingezogen fühlte und den er in 32  Seit der Heirat am 7. April 1815 werden den Eichendorffs trotz äußerst prekärer wirtschaftlicher Lage vor Fertigstellung des Wiedersehens zwei Kinder geboren; Sohn Hermann bereits am 30. August 1815. 33  Brief an Carl Albert Eugen Schaeffer vom 18.  Juli 1816, in: HKA XII, 69–70; ähnlich selbstkritisch äußert sich Eichendorff im bereits herangezogenen Brief an Savigny vom 8. Mai 1817, in: HKA XII, 73. 34  Eichendorff, »An Louise. 1816«, in: HKA I / 3, 279, v. 3–4. 35  Vgl. dagegen Hartwig Schultz u. Christina Sauer, »Selbsterinnerung. Eichendorff in seinen autobiographischen und literarhistorischen Schriften«, Aurora 66 / 67 (2007), 8–31, hier 11. Schultz bemerkt, dass Eichendorff »die vergleichsweise brave Louise von Larisch ehelichte, nachdem es ihm nicht gelungen war – oder er den Mut nicht hatte  – die Wiener Choristin zu gewinnen, die als Schlüsselfigur seiner Vita gelten könnte. […] Diese Choristin verhält sich ansatzweise so wie die freizügigen Dianen und Venusfiguren seiner Dichtung«. 36  Eichendorff, »Das Wiedersehen«, in: HKA V / 4, 12. 37  Entwurf eines Briefes an Wilhelm von Eichendorff vom März 1816, in: HKA XII, 66.

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Gestalten wie der »kleinen Morgenröthe« und ihrer Wesensschwestern  – »Philippinchen« in Lubowitz und später in Heidelberg dem »Käthchen von Rohrbach«  – immer geliebt hat.38 Zu diesen gehören auch die rätselhafte »Angela« mit ihrem Lied aus den autobiographischen Fragmenten39 und vielleicht auch die wahre Aurora aus Viel Lärmen um nichts. Sie sind alle blutjung, fröhlich-spielerisch, natürlich-schön, voller unschuldiger Anmut (durchaus im Sinne von Kleists Marionettentheater) und – ohne es zu wissen  – »sinnlichreitzend[ ]«. Die ganze Innigkeit und Zärtlichkeit, Unbekümmertheit und Zuversicht solcher frühen Liebeserlebnisse kommt im Verhältnis zu der jungen Louise in dem Gedicht Das Flügelroß zum Ausdruck: […] O sterndurchwebtes Düstern, O heimlich stiller Grund! O süßes Liebesflüstern So innig Mund an Mund! Die Nachtigallen locken, Mein Liebchen athmet lind, Mit Schleier zart und Locken spielt buhlerisch der Wind. Und schlaf’ denn bis zum Morgen So sanft gelehnt an mich! Süß sind der Liebe Sorgen, Dein Liebster wacht für dich. Ich halt’ die blüh’nden Glieder, Vor süßen Schauern bang, Ich laß dich ja nicht wieder Mein ganzes Leben lang. […]40

V. Wer ist Bianka? Das Marmorbild hat in seiner Rezeptionsgeschichte vielfältige Deutungen erfahren.41 Die Analysen folgen durchgehend einem »komplexe[n] Polarisierungsprinzip«,42 das von einer heilsgeschichtlichen Auseinander38  Vgl.

Kunisch, »Glück, Entfremdung, Wahnsinn«, 175–176. HKA V / 4, 26–27, 38, 56–57 sowie 249 (Kommentar). 40  Eichendorff, »Das Flügelroß«, in: HKA I / 1, 253–256, hier 255–256, v. 49–64. 41  Das Folgende in enger Anlehnung an Daiber, »Geschlechterdarstellung«, 41 und 43 mit Anm. 47–51. 42  Ibid., 41 39  Vgl.



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setzung zwischen Heidentum und Christentum43 über eine allegorische Antithese von mythologischer und christlicher Bilderwelt44 bis zur Spannung von Eros und gesellschaftlicher Ordnung45 und der »mortifizierende[n] Imagination« des weiblichen Körpers durch den männlichen Blick der Begierde reicht.46 Bianka kommt dabei immer eine maßgebliche Rolle zu, wobei sie wie keine andere Figur den verschiedensten Zuschreibungen ausgesetzt ist: Sie wird als »Engelsbild«47 in die Nähe der Gottesmutter gerückt,48 als Allegorie der »wahren Poesie«49 oder als »hermaphroditisch entsexualisiert« und als »entkörperlichte[ ] Seelenbraut« beschrieben.50 Einige dieser Ansätze mögen plausibel sein; eine autobiographisch grundierte Lektüre der Novelle suggeriert jedoch, dass Bianka keine allegorische Figur ist und auch, anders als Florio, keine auffällige Entwicklung durchmacht.51 Sie ist die jugendlich-absolut Liebende und bleibt dies  – nach einer schweren Krise  – auch ihr Leben lang. Ihre Geschichte ist sehr einfach, folgt man nur dem Erzähler. Eingangs zieht sie »durch ihre zierliche, fast noch kindliche Gestalt und die Anmuth aller ihrer Bewegungen Florio’s Augen auf sich«.52 Es trifft sie die erste große Liebe, und in der Folge gerät sie so sehr in den Sog dieser absoluten Gefühle, dass sie immer wieder erotisch aufgeladene Signale aussendet.53 Es ist von »rothen heißen Lippen« die Rede,54 mehrfach vom Erröten55 und von ihren »tiefen dunkelglühenden Blicken«.56 Dies geht so weit, dass sie mit der verführeri43  Vgl. Klaus Lindemann, »Von der Naturphilosophie zur christlichen Kunst. Zur Funktion des Venusmotivs in Tiecks ›Runenberg‹ und Eichendorffs ›Marmorbild‹«, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, N. F. 15 (1974), 101–121. 44  Vgl. Manfred Beller, »Narziß und Venus. Klassische Mythologie und romantische Allegorie in Eichendorffs Novelle ›Das Marmorbild‹«, Euphorion 62 (1968), 117–142. 45  Vgl. Winfried Woesler, »Frau Venus und das schöne Mädchen mit dem Blumenkranze. Zu Eichendorffs ›Marmorbild‹«, Aurora 45 (1985), 33–48. 46  Vgl. Christian Begemann, »Der steinerne Leib der Frau. Ein Phantasma in der europäischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts«, Aurora 59 (1999) 135–159, hier 144. 47  Eichendorff, »Das Marmorbild«, in: HKA V / 1, 82. 48  Daiber, »Geschlechterdarstellung«, 41. 49  Steinsdorff, »Das Marmorbild«, 427. 50  Begemann, »Der steinerne Leib der Frau«, 145. 51  Vgl. dagegen ibid. 52  Eichendorff, »Das Marmorbild«, in: HKA V / 1, 33. 53  Vgl. dazu auch Daiber, »Geschlechterdarstellung«, 41–42. 54  Eichendorff, »Das Marmorbild«, in: HKA V / 1, 36. 55  Ibid., 33, 64. 56  Ibid., 35.

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schen Liebesgöttin Venus, der Florio mehr und mehr verfällt, in der Ballnacht zu einem irritierenden »Doppelbild« verschmilzt.57 Ihre weitere Geschichte fasst der Erzähler gegen Ende der Novelle wie folgt zusammen: Die Arme war mitten in ihren sorglosen Kinderspielen von der Gewalt der ersten Liebe überrascht worden. Und als dann der heißgeliebte Florio, den dunkeln Mächten folgend, so fremde wurde und sich immer weiter von ihr entfernte, bis sie ihn endlich ganz verloren geben mußte, da versank sie in eine tiefe Schwermuth, deren Geheimniß sie Niemanden [sic] anzuvertrauen wagte.58

Alleine kann sie sich nicht mehr helfen, nur ihr weltkluger Onkel Pietro hat ein Einsehen und beschließt, sie  – in Knabentracht (dies ist allein sein pragmatisch begründeter Wille!)  – auf eine Reise mitzunehmen und so vielleicht zu heilen. Biankas Geschichte – eine Liebesgeschichte zwischen unbeschreiblichem Glück und ebensolchen Schmerzen  – verkörpert also nichts ausdrücklich Christliches, Allegorisches oder Polarisierendes. Der Text lässt ihr Wesen in Attributen greifbar werden: Sie erscheint leitmotivisch als ›zierlich‹ und ›reizend‹; sie ist ›anmutig‹, ›mutwillig‹ (in der Bedeutung von ausgelassen, fröhlich) und kindlich-unschuldig.59 Und genau diese Eigenschaften machen sie zu einem Spiegelbild Louise von Larischs als Mädchen und erwählte Braut. Der autobiographische Gehalt der Novelle fußt demnach nicht nur auf den ›wirklichbekannten‹ Gestalten Fortunatos, Florios, Donatis und der Venus, sondern ebenso auf der Figur der Bianka, mit der Eichendorff ein  – freilich subtil verschlüsseltes  – literarisches Portrait seiner Braut geschaffen hat. Dass das Spiel der Verschleierung in ihrem Fall aufwendiger ist, mochte ihrem Schutz dienen (vor den lesenden Eltern, vor Wilhelm, vor den Freunden).60 57  Ibid.,

59. 81. – Schiwy, Eichendorff, 359 zitiert die erste Strophe des 1814 entstandenen Gedichts Die weinende Braut (im Erstdruck 1815: Klage) als Hinweis darauf, wie der Dichter sich mit der eigenen Untreue auseinandersetzt: Du warst so herrlich anzuschauen, So kühn und wild und doch so lieb, Dir mußt’ ich Leib und Seel’ vertrauen, Ich mocht’ nichts mehr, das meine blieb! Da hast du, Falscher, mich verlassen Und Blumen, Lust und Frühlingsschein, Die ganze Welt sah ich erblassen, Ach Gott, wie bin ich nun allein. (hier zitiert nach: Eichendorff, »Die weinende Braut«, in: HKA I / 1, 370–371, hier 370, v. 1–8). 59  Vgl. etwa Eichendorff, »Das Marmorbild«, in: HKA V / 1, 33, 35–36, 45, 57–59, 64, 81. 58  Ibid.,



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Mit 60gutem Recht hat die Forschung darauf hingewiesen, dass die Novelle sich nicht in einer Polarisierung archetypischer Grundmuster  – hier die magisch-dämonische Venus-Welt eines verabsolutierten Eros, dort die »entkörperlichte[ ] Seelenbraut«61 Bianka  – erschöpft, und zunehmend die Mehrdeutigkeit der Figurenzeichnung herausgestellt, besonders mit Blick auf die beiden Frauengestalten, die über weite Strecken der Erzählung kaum auseinanderzuhalten sind.62 Dies wird umso einleuchtender, wenn man das Wesen der Venus noch einmal anhand des Textes nachzeichnet. VI. Venus Gleich zu Beginn kommt sie Florio mit ihren »seelenvollen Augen« wie eine lang gesuchte Geliebte aus seiner frühesten Jugend vor.63 Sie singt mit einer »liebliche[n] Stimme«,64 deren »melodische[r] Klang« »an alles Liebe, Schöne und Fröhliche, was er im Leben erfahren«, rührt.65 Als Florio sie kühn bittet, ihm ihren Namen zu sagen, gibt sie ihm besorgt den erstaunlichen Rat: »Laßt das, […] nehmt die Blumen des Lebens fröhlich, wie sie der Augenblick giebt, und forscht nicht nach den Wurzeln im Grunde, denn unten ist es freudlos und still.«66 Das Schloss der Dame erfüllt Florios Seele mit einer »unbeschreiblichen Heiterkeit«,67 und sie schaut ihn »so unbeschreiblich lieblich an, daß es ihm durch die innerste Seele ging«.68 Als seine Erinnerungen übermächtig werden und ihn wehmütig stimmen, »streichelt[ ]« sie »beschwichtigend dem schönen 60  Der Kommentar des Erzählers, sie sehe »recht wie ein heiteres Engelsbild auf dem tiefblauen Grunde des Morgenhimmels aus« (HKA V / 1, 82), passt nicht zu dem hier skizzierten ›realistischen‹ Bild Biankas. Die Forschung zieht ihn häufig heran; im Sinne der hier vorgeschlagenen Deutung spiegelt er allein Florios frommgeläuterten Blick und hat darüber hinaus die Bedeutung, dass Bianka auch im Glauben mit Florio ganz eins ist. 61  Begemann, »Der steinerne Leib der Frau«, 145. 62  Vgl. Waltraut Wiethölter, »Die Schule der Venus. Ein diskursanalytischer Versuch zu Eichendorffs ›Marmorbild‹«, in: Michael Kessler u. Helmut Koopmann (Hg.), Eichendorffs Modernität (Stauffenburg Colloquium 9), Tübingen 1989, 171– 201; Begemann, »Der steinerne Leib der Frau«, 145; Daiber, »Geschlechterdarstellung«, 41–42. 63  Eichendorff, »Das Marmorbild«, in: HKA V / 1, 45. 64  Ibid., 59. 65  Ibid., 61. 66  Ibid., 62. 67  Ibid., 68. 68  Ibid., 69.

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Jüngling die braunen Locken aus der klaren Stirn«.69 Schließlich bemerkt die Dame, dass ihr Zauber schwindet, und so schaut sie Florio »wieder lächelnd an […], aber stillschweigend und wehmüthig, wie mit schwerverhaltenen Thränen«.70 Dies ist keine heidnische Gestalt, schon gar nicht eine antike Göttin, sie ist eine sehr menschliche Frau (die im biographischen Kontext an Madame Hahmann denken lässt), eine Geliebte mit anmutigen Augen und lieb­licher Stimme, die ihren Liebhaber umwirbt, ihn beschwichtigt, ihm besorgt den entsagungsvollen Rat gibt, den Augenblick fröhlich zu leben, und über ihr eigenes Vergehen und Schicksal in Wehmut versinkt.71 Das ist sehr bewegend und so wird verständlich, dass die Erinnerung an die »unbeschreibliche Schönheit der Dame« und ihre »anmuthigen Augen« im Untergehen Florio zurücklassen mit dem Wunsch, »hier zu sterben«.72 Der Text macht deutlich, wie tief Florio und mit ihm Eichendorff in die Zauberwelt der Venus und der von ihm geliebten Frauen eingedrungen ist. Diese Zauberwelt bringt sogar den »redliche[n] Dichter«73 Fortunato dazu, das lebensfrohe, dionysische Reich der Venus in seinem Eingangslied zu feiern. Es ist demnach bewusste Strategie des Dichters, das Dämonische und Seelenzerstörerische dieser Welt allein an Donati zu demonstrieren, während die Venus, das zeigen die Zitate, wie Bianka zu keiner Antithese taugt. Der Ballszene in Pietros Haus kommt daher zentrale, gesteigerte Bedeutung zu. Die beiden Frauen werden in Florios und des Lesers Wahrnehmung tatsächlich und absolut identisch, sodass Florio zu keiner Unterscheidung mehr fähig ist. Dies stürzt ihn in eine »Identitätsverwirrung«,74 die nach einer Bewusstseinsklärung verlangt.75 Es bedarf sogar eines Bewusstseinssprunges in eine ganz andere Welt, in die tiefsten Überzeugungen Eichendorffs: Fortunato singt ein »altes frommes Lied«,76 das ein Nachklang ist des verlorenen Paradieses.77 69  Ibid.,

71. 73. 71  Vgl. Woesler, »Frau Venus«, 44. 72  Eichendorff, »Das Marmorbild«, in: HKA V / 1, 75. 73  Ibid., 80. 74  Daiber, »Geschlechterdarstellung«, 42. 75  Woesler, »Frau Venus«, 44. 76  Eichendorff, »Das Marmorbild«, in: HKA V / 1, 80. 77  Vgl. Wolfgang Frühwald, »Das Marmorbild«, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Kindlers Literatur-Lexikon 5, Stuttgart 32009, 127; Steinsdorff, »Das Marmorbild«, 420 und 422. 70  Ibid.,



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Florio  – hier konsequent gesehen als autobiographische Spiegelfigur Eichendorffs  – muss sich entscheiden und tut dies mit Hilfe Fortunatos für Bianka, in der Louise verhüllt ist. Gegenüber dem vordergründigen Rausch und Glücksversprechen der Venus bieten sie in ihrer seelenvollen und zugleich ›sinnlichreizenden‹ Art den unschätzbaren Reichtum einer Einheit von Sinnen- und Seelenliebe. Dieser muss jedoch behütet, bewahrt und vor Täuschung geschützt werden78 und setzt voraus, dass die »Adoleszenzkrise«79 überwunden ist durch einen schrittweisen Erkenntnis- und Reifungsprozess.80 Davon handelt Das Marmorbild.81 Es geht nicht um Verdrängung, Neutralisierung oder Sublimierung der erotischen Welt,82 sondern um ihre Bejahung in der Einheit eines liebenden Menschen. Dieses ist die autobiographische Folie einer Erzählung, die für Eichendorff mehr war als die erneute Beschäftigung mit dem weitverbreiteten und allzu bekannten Venustopos,83 nämlich die aus dem Bewusstsein hervorgegangene Klärung einer gegen einseitig erotische Glücksversprechen getroffenen Entscheidung für Louise von Larisch. Für Leben und Werk Joseph von Eichendorffs markieren die beiden autobiographisch grundierten und motivierten Novellen Das Wiedersehen und Das Marmorbild eine Neuausrichtung von eminenter Bedeutung. Beide setzen Louise in den Figuren der Johanna bzw. der Bianka ein liebevolles Denkmal; zudem sind sie literarische Spiegelungen eines existenziellen inneren Konflikts des Dichters, bewältigt im Modus der literarisch 78  Vgl. Biankas rührende Bitte: »Täusche mich nicht wieder!« Eichendorff, »Das Marmorbild«, in: HKA V / 1, 82. 79  Vgl. Hartmut Böhme, »Romantische Adoleszenzkrisen. Zur Psychodynamik der Venuskult-Novellen von Tieck, Eichendorff und E.T.A. Hoffmann«, in: Klaus Bohnen (Hg.), Literatur und Psychoanalyse (Kopenhagener Kolloquien zur deutschen Literatur 3), Kopenhagen / München 1981, 133–176. 80  Vgl. Steinsdorff, »Das Marmorbild«, 423. 81  Das wird vereinzelt auch so gesehen. Schiwy, Eichendorff, 443 zitiert den Rezensenten der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung vom März 1819, der ausführe, dass die Novelle für den Verfasser »auch existentielle Bedeutung haben könnte« (so Schiwy) und zu »schönen Erwartungen« berechtige, »wenn er erst mit sich selbst ins Reine gekommen« (so der Rezensent). Vgl. auch Daiber, »Geschlechterdarstellung«, 41: »Unbestreitbar ist, dass ein Lebenskonflikt Eichendorffs […] in den Text einfließt«, sowie ibid., 42: »Mit Florio […] meint Eichendorff fraglos auch eine Facette seines eigenen Ichs«. 82  So Daiber, »Geschlechterdarstellung«, 42. 83  Vgl. Ludwig Tieck Der getreue Eckhart und der Tannenhäuser (1799); Clemens Brentano, Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter (1801 / 02); Wilhelm von Eichendorff, Die zauberische Venus (1816); vgl. weiterführend Schiwy, Eichendorff, 308.

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vermittelten, gesteigerten Selbstreflexion. Die Texte umkreisen das zwischen Glück und Entfremdung changierende Verhältnis zum Bruder sowie die Entscheidung für ein Liebesmodell, das  – gegen das verlockende Versprechen bloß rauschhafter Sinnlichkeit – das Erotische, das Seelische und das Religiöse vereint und in einen Lebensentwurf integriert.

Ausstieg aus der Geschichte? Über Fernán Caballeros Clemencia Von Lars Schneider Me han dicho que su novio es un ganso lugareño. Fernán Caballero, Clemencia, 1852.

I. An Cecilia Böhl de Faber (1796–1877) und ihrem Fernán Caballero scheiden sich die Geister. Von Konservativen geschätzt, von Liberalen geschmäht, leisten beide  – die reale Person und ihre fiktive Erzählin­ stanz  – gleichwohl einen Beitrag zur intensiven Debatte um die spanische Identität, die im 19. Jahrhundert u. a. in der Literatur ausgetragen wird.1 Die Tatsache, dass die Autorin die spanischen Sitten sowohl als Außenstehende als auch mit ausgeprägtem Interesse für die Spielarten der Volkspoesie betrachtet,2 mag erklären, weshalb sie das Spanische besser wahrnehmen und dokumentieren kann, als diejenigen, die es (quasi unbewusst) praktizieren. Andererseits ist es kurios, dass die vehemente Verfechterin einer authentischen spanischen Kultur eigentlich gar nicht an ihr partizipiert. Sie zählt vielmehr zu den Zugereisten, über die sich ihre Erzählin­ stanz, der Urspanier Fernán, zu mokieren weiß.3 1  Hans-Jörg Neuschäfer bezeichnet den spanischen Roman des 19. Jahrhunderts gar als ein Ersatzparlament. Vgl. ders., »Realismus und Naturalismus: die Literatur der Restaurationszeit«, in: ders., Spanische Literaturgeschichte, Stuttgart 2006, 274. 2  Cecilia wird in Hamburg auf einer französischen Schule sozialisiert und reist erst im Alter von 17 Jahren nach Spanien. Zu diesem Zeitpunkt ist sie des Spanischen nur eingeschränkt mächtig. Das romantische Interesse für die Poesie des Volkes hat sie von ihrem Vater, dem Kaufmann Nikolaus Böhl von Faber (1770–1836), für dessen Bibliothek sie u. a. Texte zusammenträgt. Zur Herkunft der Autorin vgl. u. a. Guillermo Carnero, Orígenes del romanticismo reaccionario español: el matrimonio Bohl de Faber, Burgos 1978. 3  Dies mag ein Grund für die Wahl eines betont spanischen Pseudonyms (Fernán) sein.

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Doch die Halbspanierin praktiziert in mehrerlei Hinsicht nicht, was sie predigt. Mit ihrer Vita, insb. ihrer schriftstellerischen Tätigkeit, fällt sie aus der traditionellen Geschlechterrolle, die sie bei zahlreichen Gelegenheiten verficht.4 Vergleichbare Widersprüche sind auch in ihrem Werk anzutreffen. So hat die jüngere Forschung gezeigt, dass ihr vorderhand monologisches Debüt La Gaviota (1849) im Kern dialogisch verfasst ist.5 Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden eine Relektüre von Clemencia (1852) unternommen werden, die sich nicht auf eine zwar naheliegende aber reduktionistische biographische Deutung beschränkt.6 Stattdessen soll es darum gehen, ausgehend von der Poetik der novela costumbrista die räumliche Struktur des Romans zu erschließen. Der ausgeprägte Stadt-Land-Gegensatz, so die These, kann über das Kriterium der Historizität epistemologisch gelesen werden.7 Clemencia ist ein Entscheidungsroman, der seine Titelheldin aus der Enge der Klosterschule in eine Welt im Umbruch führt. In Sevilla wird sie zwischen zwei Verehrern, zwei Ordnungen und deren Ortungen wählen. Wenn aber die Gunst der extrem gebildeten und selbstbewussten Schönheit einem Landjunker zuteilwird, den sie in sein andalusisches Dorf begleitet, handelt es sich nicht um den Lobpreis einer España eterna, deren Epistemologie Foucault ausgehend von Diego Velázquez’ (1599–1660) Las Meninas (1656) erläutert.8 Villa-María steht vielmehr Modell für ein Spa4  So vertritt sie den Standpunkt, dass die Schriftstellerei ein männliches Handwerk sei. Dies mag wiederum ein Grund für die Wahl eines betont männlichen Pseudonyms (Cabellero) sein. 5  Vgl. Susan Kirkpatrick, »On the Threshold of the Realist Novel: Gender and Genre in La Gaviota«, PMLA: Publications of the Modern Language Association of America 98.3 (1983), 323–40; dies., »La Negación del yo: Cecilia Böhl y La Gaviota«, in: dies., Las Románticas. Escritoras y subjetividad en España, 1835–1850, Ma­ drid 1991, 227–258; Horst Weich, »La Gaviota: Una lectura a contrapelo«, in: Wolfgang Matzat u. Max Grosse (Hgg.), Narrar la pluralidad cultural. Crisis de modernidad y funciones de lo popular en la novela en lengua española, Madrid 2012, 117–133. Lars Schneider, »Entre las dos Españas: sobre el lugar ideológico de La Gaviota de Fernán Caballero«, Iberoromania 79 (2014), 17–32. 6  Es wird gern betont, dass die Autorin in Clemencia ihre erste überstürzte Ehe mit dem Infanteriekapitän Antonio Planells y Bardaxí sowie eine leidenschaftliche Affäre mit dem englischen Aristokraten Frederic Cuthbert verarbeite. Fernerhin sei es ihr mit der Figur des Abad darum gegangen ihrem Vater Johann Nikolaus Böhl von Faber ein literarisches Denkmal zu errichten. 7  Michel Foucault beschreibt das epistemologische Feld der Moderne bekanntlich als Episteme der Geschichte: »[U]ne historicité profonde pénètre au cœur des choses, les isole et les définit dans leur cohérence propre, leur impose des formes d’ordre qui sont impliqués par la continuité du temps […].« (Foucault, Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris 1966, 14).



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nien, das 8sich innerhalb einer Ordnung verändert, die in der Konfronta­ tion mit der Moderne als solche erkannt wird. Diese ist ihr eigentlicher Bezugspunkt: Erst im Lauf der Geschichte kann Villa-María als eine idyllisch verklärte zeitlose Alternative erscheinen. II. Die mit Cecilia Böhl de Faber assoziierte novela de costumbres sitzt dem Genre der cuadros de costumbres auf, jenen populären »Sittenbildern«, die keine unerhörten, sondern alltägliche Begebenheiten, keine Individuen, sondern Typen dokumentieren und deren Autoren sich nicht als Chronisten, sondern als Maler des Lebens stilisieren, da sie dem Bildmedium eine größere Realitätsnähe als dem Text attestieren.9 Fabers literarische Leistung liegt darin, die Gattung  – womöglich ausgehend von einschlägigen Sammelbänden wie Los Españoles pintados por sí mismos (1843 / 44)  – zum Roman zu entfalten.10 Ihre fiktive Autor- und Erzähl­ instanz, Fernán Caballero, erklärt diesen Vorgang im Prolog von La Gaviota (1849). Das Prinzip bestehe darin, eine Serie von cuadros durch eine Erzählhandlung zu einem großflächigen »Bild« zu rahmen: »La parte que pudiera llamarse novela sirve de marco a este vasto cuadro.«11 Der novela  – das Zitat deutet es an  – wird hierbei kaum Bedeutung beigemessen; sie verfügt vielmehr über den Status einer anderweitigen Handlung, deren Funktion sich darin erschöpft, dem Werk Konturen  – Anfang und Ende – zu verleihen, einen Rahmen zu stiften, der es vor dem 8  Ebd.,

19–31. diesem Grund wird nicht zuletzt Baudelaire den Dichter zum peintre de la vie moderne stilisieren. Zur Weiterentwicklung der Beziehung von Dichtkunst und Malerei im frühen 20. Jahrhundert vgl. Rainer Warning u. Winfried Wehle (Hgg.), Lyrik und Malerei der Avantgarde, München 1982. Zum costumbrismo vgl. u. a. José F. Montesinos, Costumbrismo y novela. Ensayo sobre el redescubrimiento de la realidad española, Valencia 1960; José Escobar, »Costumbrismo: estado de la cuestión«, in: Centro Internacional de Estudios sobre el Romanticismo Hispánico, El costum­ brismo romántico (Romanticismo 6), Rom 1996, 117–126; Susan Kirkpatrick, »The Ideology of Costumbrismo«, Ideologies & Literature 2.7 (May–June 1978), 28–44; Michael Iarocci, »Romantic Prose, Journalism and Costumbrismo«, in: David T. Gies (Hg.), The History of Spanish Literature, Cambridge 2005, 381–391; Dolores Thion Soriano-Mollá (Hg.), El costumbrismo, nuevas luces, Pau 2013. 10  Die Vorlage zu diesem und weiteren äußerst populären Bänden stammt (einmal mehr) aus Frankreich. Die von Léon Curmer (1801–1870) edierte Sammlung Les français peints par eux-mêmes erscheint in den Jahren 1840–42. 11  Fernán Caballero, La Gaviota [1849], hg. Demetrio Estébanez Calderón, Ma­ drid 2008, 123. 9  Aus

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Auseinanderfallen in seine Einzelteile bewahrt. Im Falle von Clemencia hat man es mit einer simplen Liebes-(Heirats-)Handlung zu tun.12 Da die paradigmatische Handlungsfügung darauf angelegt ist, diversen cuadros den größtmöglichen Raum zu geben, beschreibt Eugenio de Ochoa (1815–1872) in seinem Juicio crítico das Verhältnis von Syntagma (Erzählung) und Paradigma (Beschreibung) wie folgt: En La Gaviota la acción es casi nula: todo lo que constituye su fondo puede decirse en poquísimas palabras; ¡rara prueba de ingenio en el autor haber llenado con la narración de sucesos muy vulgares dos tomos, en los que ni sobra una línea, ni decae un solo instante el interés, ni cesa un solo punto el embeleso del lector! Consiste esto en la encantadora verdad de sus descripciones, en la grande animación de sus diálogos, y más que todo, en el conocido sello de vida que llevan todos los personajes, desde el primero hasta el último.13

Die fiktionale Handlung, so wird deutlich, ist kaum mehr als ein Vorwand. Es bedarf ihrer, um von Bild zu Bild zu gelangen. Dabei darf sie so künstlich erscheinen, wie sie es von Natur aus ist14  – liegt doch das Augenmerk ausschließlich auf den Beschreibungen der costumbres, die in der zeitgenössischen Wirklichkeit beobachtet werden. Somit erklärt sich, dass der Erzähler nicht etwa seine Vorstellungskraft, sondern seine Beobachtungsgabe sowie sein malerisches Talent hervorhebt: Apenas puede aspirar esta obrilla [La Gaviota] a los honores de la novela. La sencillez de su intriga y la verdad de sus pormenores no han costado grandes esfuerzos a la imaginación. Para escribirla, no ha sido preciso más que recopilar y copiar. Y, en verdad, no nos hemos propuesto componer una novela, sino dar una idea exacta, verdadera y genuina de España, y especialmente del estado actual de su 12  Die Protagonistin und ihre beiden Cousinen befinden sich zu Beginn des Romans im heiratsfähigen Alter, sprich, im »Wartesaal zur Ehe«, die ihnen erst einen gesellschaftlichen Status verleiht. Entsprechend wird u.  a. Clemencia bedrängt: »–¡Qué se había de casar!  –decía el Abad, […]  –¡Qué se había de casar!  –opinaba doña Brígida, […] –¡Qué se había de casar! –pensaba Pablo […].« Fernán Caballero, Clemencia [1852], hg. Julio Rodríguez Luis, Madrid 1982, 174. Zum Status der unverheirateten Frau im 19. Jahrhundert vgl. Jean Claude Bologne, Histoire du célibat et des célibataires, Paris 2004. 13  Caballero, La Gaviota, 138. 14  Wie Roland Barthes hervorhebt, ist die literarische Handlung unweigerlich ästhetisch motiviert. Vgl. ders., »Les suites d’action«, in: ders., L’aventure sémiologique, Paris 1985, 207–217. In Clemencia wird dies ein ums andere Mal reflektiert. So stirbt Constancias Geliebter, der sich für romantische Schiffbruchliteratur begeistert, in einem betont romantischen Schiffbruch. Und Sir George kommentiert das abrupte Auftreten von Clemencias Ehemann mit den Worten: »Pero ¿quién es ese marido que ha surgido como por magia a sus pies en el momento oportuno?« (Caballero, Clemencia, 364).



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sociedad, del modo de opinar de sus habitantes, de su índole, aficiones y costumbres. Escribimos un ensayo sobre la vida íntima del pueblo español, su lenguaje, creencias, cuentos y tradiciones. […] Al trazar este bosquejo, sólo hemos procurado dar a conocer lo natural y lo exacto, que son, a nuestro parecer, las condiciones más esenciales de una novela de costumbres.15

Ein so definierter Sittenroman ist gleichwohl kein selbstgenügsames Genre. De facto versteht er sich als Replik auf eine außerliterarische Situation: die zahllosen Spanien-Klischees aus der europäischen Reise[führer] literatur, die die Realität z. T. bewusst verfälschen.16 Es geht mithin um eine (über-)fällige Korrektur von primär englischen und französischen Zerrbildern, die als Zumutungen empfunden werden: Doloroso es que nuestro retrato sea casi siempre ejecutado por extranjeros, entre los cuales a veces sobra el talento, pero falta la condición esencial para sacar la semejanza, conocer el original. Quisiéramos que el público europeo tuviese una idea correcta de lo que es España, y de lo que somos los españoles; que se disipasen esas preocupaciones monstruosas, conservadas y transmitidas de generación en generación en el vulgo, como las momias de Egipto. Y para ello es indispensable que, en lugar de juzgar a los españoles pintados por manos extrañas, nos vean los demás pueblos pintados por nosotros mismos.17

Das durch den fiktiven Spanier Caballero  – der ohnedies fragwürdige Anspruch wird also von Beginn an unterlaufen18 – formulierte Anliegen ist pädagogischer Natur. Demnach richtet sich die novela de costumbres primär an ein ausländisches Publikum, was sich nicht zuletzt an den Übersetzungen ins Französische, Englische und ins Deutsche ablesen lässt.19 Jedoch steht zu vermuten, dass diesen Lesern die ausdrücklich verschwiegene (innen-)politische Brisanz des Sittenromans entgeht. Die zeitgenössische spanische Gesellschaft ist zutiefst verunsichert und entsprechend polarisiert.20 La Gaviota, 123. besonders einflussreiches Reiseführerformat stammt bekanntlich aus Deutschland. Vgl. u. a. Susanne Müller, Die Welt des Baedeker. Eine Medienkulturgeschichte des Reiseführers 1830–1945, Frankfurt / M. 2012. Zudem kreiert v. a. die französische Literatur des 19. Jahrhunderts ein orientalistisch gefärbtes Spanienbild. Zum Orientalismus vgl. Edward W. Said, Orientalism, London 2003 [1978]. 17  Caballero, La Gaviota, 125. 18  Bekanntlich hat die Autorin das Manuskript zu La Gaviota mangels ausreichender Sprachkenntnisse auf Französisch verfasst und von José Joaquín de Mora (1783–1864) ins Spanische übertragen lassen. Zur Entstehung des Romans vgl. Caballero, La Gaviota, 71–79. 19  Dies zeugt von der Popularität der Romane, die es – auch wenn sie sich einem heutigen Leser nicht mehr ohne weiteres erschließen mag – ernst zu nehmen gilt. 20  Zum Konflikt der beiden Spanien vgl. u. a. Santos Juliá, Historia de las dos Españas, Barcelona 2005. 15  Caballero, 16  Ein

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Sofern die Frage nach der spanischen Identität höchst umstritten ist, ist die eingangs erwähnte kontroverse Rezeption der novela programmiert.21 Wenn Fernán Caballero folglich landestypische Szenen und Typen, die z. T. im Verschwinden begriffen sind, dokumentiert, wobei er sich ausschließlich der Wahrheit verpflichtet; wenn er jedwede Form der literarischen exageración verschmäht,22 ist seine Schreibweise gleichwohl nicht neutral. Es geschieht etwas mit den Elementen, die er ins Bild setzt. Sie werden ex- oder implizit ausgelegt und verhandelt.23 Von einer ungefilterten Mimesis kann demnach nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Doch zu den besonderen Eigenschaften dieses auktorialen Erzählers zählt, dass er seinen Wertehorizont explizit darlegt. So werden Ausländer, der ausgleichenden Gerechtigkeit halber, parodistisch ins Bild gesetzt.24 Und diejenigen, die ihre modernen Sitten nachahmen, werden dafür herb kritisiert. Auf der anderen Seite – das wird i. d. R. übersehen – werden aber auch die Figuren, die an einer längst überholten Tradition festhalten, dem Spott preisgegeben.25 Fernáns betont konservative, indes nicht reaktionäre Haltung, die er im Prolog von La Gaviota erläutert,26 gelangt in zahlreichen digresiones zu religiösen, moralischen und sozialen Themen zum Ausdruck. An ihnen hat sich die moderne Rezeption ebenso gestört, wie an den ›holzschnitthaften‹ Typen bar psychologischer Tiefe und den stets schwachen und artifiziellen Handlungen. Es ist indes darauf hinzuweisen, dass die novela de costumbres aller Verweise auf Balzac zum Trotz eben (noch) kein realistischer Roman ist.27 Sie hat eine eigene in der Taxonomie der cuadros de 21  Zur identitätsbildenden Funktion des costumbrismo vgl. u. a. Carol Lisa Tully, Creating a national identity, Stuttgart 1997. 22  »[…] el objeto de una novela de costumbres debe ser ilustrar la opinión sobre lo que se trata de pintar, por medio de la verdad; no extraviarla por medio de la exageración.« (Caballero, La Gaviota, 124). 23  Zum Begriff der Verhandlung vgl. Stephen Greenblatt, Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England, Oxford 1988. 24  »Los extranjeros se burlan de nosotros: tengan, pues, a bien perdonarnos el benigno ensayo de la ley del talión, a que les sometemos en los tipos de ellos que en esta novela pintamos, refiriendo la pura verdad.« (Caballero, La Gaviota, 126). 25  Vgl. Schneider, »Entre las dos Españas«. 26  Es geht ihm nicht um das kompromisslose Festhalten an, sondern um eine Weiterentwicklung der Tradition: »Quisiéramos que nuestra Patria, abatida por tantas desgracias, se alzase independiente y por sí sola, contando con sus propias fuerzas y sus propias luces, adelantando y mejorando, sí, pero graduando prudentemente sus mejoras morales y materiales, y adaptándolas a su carácter, necesidades y propensiones.« (Caballero, La Gaviota, 125).



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costumbres 27verankerte Poetik, die zudem sowohl außerhalb als auch innerhalb der Diegese ausgiebig thematisiert wird28 – und in deren Geltungsbereich sich die vermeintlichen Mängel als gattungsbedingt, und damit als notwendige Bausteine erweisen. Dies soll nicht nur in den folgenden Ausführungen eine Rolle spielen.29 III. Fabers Romane erscheinen zu einer Zeit des kulturellen Wandels. Mitte des 19. Jahrhunderts befindet sich Spanien auf dem Weg zur europäischen Moderne. Die Episteme der Geschichte, die Foucault in Frankreich dokumentiert, kann, so Wolfgang Matzat, für Spanien (noch) nicht veranschlagt werden.30 Das Land befindet sich vielmehr zwischen einer klassischen und einer modernen Wissenswelt, in einer Phase der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, eines Nicht-mehr (der Repräsentation) und Noch-nicht (der Historizität). Demzufolge bildet die novela de costumbres Alltag­ szenen aus einer Krisensituation ab. Und hierbei, so lässt sich zeigen, ist die Topographie der Texte von Bedeutung. Sie ist geprägt durch eine Stadt-Land-Opposition. Der literarische Raum von Clemencia ist – so wie der von La Gaviota  – indes nicht zwei-, sondern dreigeteilt.31 Auf der einen Seite steht mit Madrid eine europäische Metropole nach französischem Vorbild, deren Bewohner (afrancesados) am Puls einer mo27  Fabers spanischer Sittenroman rekurriert nicht auf die Naturwissenschaften. Daher verfügt er im Gegensatz zu Balzacs roman de mœurs nicht über den Status einer »epistemologischen Fiktion«. Vgl. Thomas Klinkert, Epistemologische Fiktionen: zur Interferenz von Literatur und Wissenschaft seit der Aufklärung, Berlin 2010. 28  So diskutieren Protagonisten aus La Gaviota die Grundlagen der novela de costumbres und machen sich daran, eine solche zu verfassen, womit sie Fernáns Tätigkeit en abyme führen (Caballero, La Gaviota, 340ff.). Diese und zahlreiche weitere Reflexionen der literarischen Praxis wären eine eigene Untersuchung wert. 29  Es wäre zu überlegen, ob die Poetik der novela de costumbres ein Modell für ein kostumbristisches Erzählen abgibt, das noch heute  – u. a. im Film  – praktiziert wird. 30  Wolfgang Matzat, »Natur und Gesellschaft bei Clarín und Galdós. Zum diskursgeschichtlichen Ort des spanischen Realismus / Naturalismus«, in: ders. (Hg.), Peripherie und Dialogizität. Untersuchungen zum realistisch-naturalistischen Roman in Spanien, Tübingen 1995, 13–44; vgl. ferner: Hedwig Herold-Schmidt, »Spanien im 19. und 20 Jahrhundert«, in: Joachim Born u. Robert Folger (Hgg.), Handbuch Spanisch, Berlin 2011, 469–481. 31  Vgl. Schneider, »Entre las dos Españas«.

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dernen (historischen) Zeit leben. Sie folgen begeistert den flüchtigen Moden und Vergnügungen, die aus dem Ausland importiert werden. So versammeln sie sich nicht (mehr) in der Kirche, sondern im Kunsttempel des Opernhauses, wo u. a. die Protagonistin aus La Gaviota ihre größten Erfolge feiert.32 Madrid ist überdies der Spielraum einer jungen kapitalistischen Ökonomie, die dem städtischen Bürgertum einerseits Aufstiegschancen ermöglicht, andererseits hingegen das Risiko des finanziellen Ruins birgt.33 Aus der wertkonservativen Sicht des Erzählers ist die Landeshauptstadt folglich ein Raum des nationalen Identitäts-, Standes- und Sittenverfalls.34 Und weil er ein Faible für seine Figur der Clemencia hat, bleibt ihr, im Gegensatz zu Alegría, ein Madrid-Aufenthalt erspart.35 Als Gegenpol zur Großstadt fungiert Villa-María, die Allegorie eines andalusischen Dorfes,36 ein der modernen Welt abgewandtes provinzielles Gemeinwesen, das unter der Herrschaft des antiguo régimen steht. VillaMaría ist ein Raum von existentieller Sicherheit. Im Rahmen der Ständehierarchie findet ein jeder von Geburt an seinen Platz. Zudem ist der lokale Herrscher, Don Martín Ladrón de Guevara, den Dorfbewohnern väterlich verpflichtet. So betreibt er eine vormoderne agrarische Haushaltsökonomie, die genug für seine ›Familie‹ abwirft. Das Prinzip der Kapitalakkumulation ist ihm, der seine Reichtümer gerecht verteilt, fremd.37 Auch das mit ihm einhergehende Phänomen der sozialen Mobilität ist ihm und den Seinen unbekannt. Und so erklärt es sich, dass die Dorfbewohner, im Gegensatz zu den Hauptstädtern, nicht über ein historisches, sondern über ein zyklisches Zeitverständnis verfügen.38 32  Der Opernstar María wird dementsprechend zum Objekt einer säkularen Anbetung durch das Publikum. 33  Zur Modernisierung als Auflösung von ständischen Traditionen vgl. u. a. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt / M. 1986. 34  Dies alles wird verkörpert von der Figur der Alegría, die sich mit Begeisterung den hauptstädtischen Moden – und dem Ehebruch – hingibt. 35  In Clemencia existiert die Hauptstadt allein in Erzählungen der Figuren sowie in Erzählerkommentaren. 36  Zu Böhl de Fabers andalusischen Dörfern Villa-María, Villamar etc. steht bislang ebenfalls noch eine Studie aus. 37  »Era don Martín caritativo como religioso; esto es, que daba a manos llenas, y sin ostentación, y era generoso como caballero, poniendo tan poco precio a sus beneficios y olvidándolos tan completamente, que se ofendía si se recordaban o encomiaban en su presencia, porque miraba sencilla y cristianamente el dar los ricos a los pobres, no como una virtud, sino como un deber. Dejar de hacerlo era para él una villanía.« (Caballero, Clemencia, 166). 38  Wenn in Villa-María die Zeit vergeht, so ändert sich gleichwohl nichts: »Suavemente se resbalaba el tiempo en aquella tranquila vida, en la que no había afán por



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Zwischen dem urbanen Madrid und dem ruralen Villa-María liegt jedoch die altehrwürdige Provinzkapitale Sevilla, die als ein Raum modelliert wird, in dem die spanische Tradition und die europäische Moderne (Peripherie und Zentrum) zusammentreffen und einander bespiegeln. Dies geschieht zunächst ihm Rahmen der tertulia der Marquesa de Cortegana und später auf den Abendgesellschaften ihrer Nichte Clemencia Ponce.39 Hier versammeln sich die Vertreter verschiedener Stände, Klassen  – mit Don Galo wird eigens ein Lohnarbeiter angeführt40  – und Generationen. Auch Ausländer französischer und englischer Nationalität haben Zutritt. Sofern hier Figuren und Werte aufeinandertreffen, die sonst entweder in Madrid oder in Villa-María  – sprich, in einer der beiden Españas  – zu verorten sind, entspricht Sevilla einem heterotopen Enklavenraum, den die Hauptfiguren aufsuchen (können) und wieder verlassen (müssen).41 Dieser Raum verdichtet sich vorerst  – cada casa es un mundo42  – im Hause der Marquesa, die, des Wirtschaftens unfähig,43 nach dem Tode ihres Mannes über ihre Verhältnisse lebt und ihr Haus vor dem Verfall apresurarlo, ni ansia por retenerlo. Más de seis años pasaron como seis noches de tranquilo dormir y monótonos sueños, y cual éstas, poco habían alterado en aquel pacífico interior. Don Martín y doña Brígida eran, al decir del primero, como el Padre nuestro y el Ave María, siempre los mismos.« (Caballero, Clemencia, 187). Dementsprechend zeigt Clemencia im Gegensatz zur Wahlmadrilenin Alegría auch keinerlei Spuren des Alters: »Cuando Alegría vio a Clemencia, que merced a su tranquila vida, a su feliz existencia, traía con el alma de una novicia la hermosura de una Hebe, le dijo: ¡Qué lozanía! ¡qué frescura! ¿en qué Edén has vivido? Ganas me dan de ir a pasar una temporada a Villa-María […].« (Caballero, Clemencia, 269). 39  Zur kulturellen Praxis der tertulia vgl. Andreas Gelz, Tertulia. Literatur und Soziabilität im Spanien des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt / M. 2006. Zu Fernán Caballero vgl. 321–342. 40  Dabei wird v. a. auf dessen extrem niedrige Einkünfte hingewiesen. So amüsiert sich Sir George über Don Galos Gehalt: »Señora –contestó sir George–, es exactamente la mitad del salario que doy a mi ayuda de cámara.« (Caballero, Clemencia, 328). Die neue Arbeitswelt ist mithin eine Welt der kapitalistischen Ausbeutung. 41  Den hiesigen Ausführungen liegt Lotmans Raummodell und dessen Erweiterung durch Mahler zugrunde. Vgl. Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, München 1986, 311–347; Andreas Mahler, »Welt Modell Theater. Sujetbildung und Sujetwandel im englischen Drama der frühen Neuzeit«, Poetica 30 (1998), 1–45; zur Heterotopie vgl. Michel Foucault, »Des espaces autres« [1967], in: ders., Dits et Écrits 1954–1969, Bd I, Paris 1994, 752–762; Rainer Warning, Heterotopien als Räume ästhetischer Erfahrung, München 2009. 42  Caballero, Clemencia, 73. 43  Die Figur wird wie folgt eingeführt: »Había quedado viuda hacía algunos años, disfrutando de pingües rentas, las que tenía la habilidad de gastar todas, y a veces tomándolas anticipadamente, sin que nadie, ni ella misma, pudiese decir en qué […].« (Caballero, Clemencia, 74).

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retten will, der sich u. a. an ihrer geliebten Merkurstatue ablesen lässt.44 Hierzu agiert sie sowohl aus Standesbewusstsein als auch aus monetärem Kalkül.45 Dass sie ihre 16-jährige Nichte aus dem Kloster zu sich holen muss, ist ihr nicht nur in finanzieller Hinsicht zuwider. Denn Clemencias beeindruckende Schönheit mindert den Wert ihrer beiden Töchter, Constancia und Alegría, auf ihrer u. a. als Heiratsmarkt fungierenden tertulia. Das Vorhaben, Constancia mit einem hijo de un Grande de España zu vermählen und zugleich das Erbe ihrer älteren Schwester als Mitgift einzustreichen, was die Lösung der existentiellen Probleme wäre, ist mithin nicht nur durch die Widerspenstigkeit der Tochter bedroht. Diese vertritt nach ausgiebigen Lektüren nämlich ein modernes romantisches Liebesideal und lehnt den Gedanken einer Konvenienzehe kategorisch ab.46 Folglich weist sie den Marqués de Valdemar im Kreise der Gesellschaft brüsk zurück, woraufhin sich dieser zum Schrecken der Marquesa Clemencia zuwendet. In dieser Situation kommt ihr das überraschende Werben des draufgängerischen Offiziers Fernando Guevara um ihre Nichte gerade recht. Im Anschluss an eine eilig verabredete Eheschließung begleitet die perplexe Clemencia ihren Mann nach Cádiz, wo dessen Regiment stationiert ist.47 Derart ist die Marquesa sowohl die finanzielle Belastung als auch die störende Konkurrenz los. Und obendrein ist der Weg frei für Alegría  – die Dritte im Bunde  –, die den Grafen an Stelle ihrer Schwester ehelicht, der Mutter den ersehnten Status und den finanziellen Rückhalt, sich selbst aber ein mondänes Leben in Madrid beschert …48

44  Der

Gott des Handels verliert im Zuge des Romans demonstrativ seine Flügel. zögert sie z. B. nicht, den günstigsten  – und unfähigsten  – aller Diener anzustellen. Die Graciosofigur Pepino ist fortan Auslöser zahlreicher heiterer Zwischenfälle. Ihr Pendant findet sie in der Figur der listigen Zigeunerin tia Latrana, die die Geduld des Landjunkers Don Martín hartnäckig auf die Probe stellt. 46  Die romantische Liebesgeschichte um Constantia und Bruno de Vargas übererfüllt jedes Klischee. So wird der Liebhaber romantischer Schiffbruchliteratur in einem romantischen Schiffbruch sterben. Seine Geliebte wird den leblosen Körper am Strand auffinden und einen Zusammenbruch erleiden. Im Anschluss findet sie ihre Liebe zu Gott. 47  Der draufgängerische Guevara denkt nicht daran, seine Militärlaufbahn aus Rücksicht auf seine Familie zu beenden. Er stirbt auf seiner folgenden Expedition und befördert somit Clemencia in den Witwenstand. 48  »¡Buena tonta es mi hermana –pensaba Alegría–, de perder semejante suerte! y ¡eso por ese cena a oscuras de Bruno, que es por cierto un novio a pedir de boca! Bien dice el refrán, que no es la fortuna para quien la busca, sino para aquél a quien se viene a las manos.« (Caballero, Clemencia, 91). 45  Daher



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Wenn der Erzähler nunmehr der Hauptfigur durch den literarischen Raum folgt, so sind deren Bewegungen bis zum Schluss jedoch nicht sujethaft, da sie jeweils von einem fremden Willen geleitet sind. Clemencia lässt sich von der Marquesa verheiraten und nach Cádiz abschieben; sie begleitet Constancia anstandshalber in deren Exil in der andalusischen Einöde; sie leistet dem Wunsch ihrer Schwiegereltern Folge und lässt sich in Villa-María nieder; sie kehrt nach Sevilla zurück, um sich um ihre mittlerweile sterbenskranke Tante zu kümmern etc. Es reicht eine Aufforderung um sie im Raum zu versetzen. Hierbei werden indes keine kulturellen Normen in Frage gestellt.49 Die paradigmatische Handlungsfügung bezweckt ja geradehin das Gegenteil: die Illustration verschiedener Wertesysteme vermittels zahlloser cuadros de costumbres.50 So gesehen dient die sujetlose Verschiebung der Hauptfigur als Mittel zum Zweck. IV. Nachdem der literarische Raum dergestalt vermessen ist, befindet sich Clemencia abermals in Sevilla  – zwischen der España moderna und der España eterna  –, nun allerdings als finanziell unabhängige Witwe und Gastgeberin einer tertulia, die ihrerseits Treffpunkt einer gemischten Gesellschaft ist.51 Unter den Stammgästen ragen zwei Personen heraus: der Engländer George Percy und der Franzose Carlos de Brian, deren cuadros wie folgt aussehen: El vizconde Carlos de Brian y sir George Percy eran dos bellos tipos de sus respectivas razas y países. Ambos eran altos. El vizconde, algo más grueso, tenía en sus maneras más elegancia, sir George, más distinción. En su porte tenía el vizconde más nobleza, y sir George más dignidad. El primero era más airoso, el segundo más natural. En su traje era de Brian más ataviado, y sir George llevaba

49  Zum Sujetbegriff vgl. Jurij Lotman, Die Struktur literarischer Texte, München 1989, 19–46 u. 311–346. 50  Beispielhaft hierfür sind die langen Episoden um den tollpatschigen Diener und die gewitzte Zigeunerin sowie die detaillierten Schilderungen des allabendlichen Lotteriespiels bei der marquesa. 51  »Tan luego como Clemencia estuvo establecida en su hermosa y bien alhajada casa, fue ésta en extremo concurrida. Su dueña poseía el don innato de bien recibir, puesto que éste, así como todo lo fino y delicado en el trato, tiene por base la bondad, y ésta era el fondo del carácter de Clemencia y el primer móvil de sus acciones; así es que todas las reglas de finura y delicadeza tienen por tipo la sencilla bondad, como el arte coreográfico tiene por norma las gracias de la infancia. Su casa se puso de moda, y la moda es una maga que nos convierte en una manada de carneros que lleva a su albedrío por montes y valles.« (Caballero, Clemencia, 273).

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la bellísima sencillez del vestir inglés a un extremo de indolencia que le hacía no notar que se ponía un chaleco de invierno en verano, lo que no impedía que fuese tan exclusivamente pulcro y delicado en su ropa, que regaló a su ayuda de cámara, a la mañana siguiente de haberlo estrenado, un vestido de baile que por no traerlo en su equipaje tuvo que mandar hacer al mejor sastre de Sevilla. Era sir George inmensamente rico y espléndido sin fausto, por lo que lo llamaban en Sevilla Monte-Cristo, así como al vizconde, en vista de su estatura y de ser muy realista, le habían puesto Carlo-Magno.52

Zu diesen beiden Männern von Welt gesellt sich ein abwesender dritter: der Landjunker Pablo Guevara, der das Erbe seines Onkels Don Martín angetreten hat und seither das Gemeinwesen in Villa-María führt. Sein (erstes) Porträt könnte gegensätzlicher nicht sein: Pablo Guevara, así se llamaba, tenía veinte y dos años, y había sido poco favorecido por la naturaleza. Era en extremo moreno, tenía facciones bastas, maneras toscas y aire común; pero tenía como tipo de la raza andaluza los ojos grandes y negros, los dientes chicos y blancos. Criado siempre en el campo, era corto de genio, y no tenía nada de fino ni de erudito; en cambio, sabía domar caballos como un picador, y derribar reses como el mejor ganadero.53

Indem diese drei tipos um die Gunst der Clemencia werben, wird die zweite Sevilla-Episode allegorisch lesbar als Gerangel der spanischen Tradition mit der englischen und französischen Moderne um die Gunst eines unentschlossenen, hin- und hergerissenen Landes. Dabei nimmt der Erzähler explizit Partei für den provinziellen aber aufrichtig liebenden Pablo, während er die Interessen der Ausländer als zutiefst egoistisch entlarvt.54 Obgleich damit die Weichen für den Ausgang der Liebeshandlung frühzeitig gestellt sind, lohnt es sich aber zu sehen, weshalb sich Clemencia am Ende gegen einen Engländer, für den ihre Leidenschaft entbrennt, und für einen Spanier, für den sie (zunächst) nur schwesterliche Zuneigung empfindet, entscheidet. In ihrer Argumentation  – so die im Folgenden vertretene These  – zeigt sich der epistemologische Graben, der Spanien Mitte des 19. Jahrhunderts von Resteuropa trennt. Wenn Clemencia die eindringlichen Avancen Sir Georges zurückweist, geschieht dies, weil sie auf dem Hintergrund einer Ordnung denkt, die nicht die gleiche Seinsweise wie die Ordnung hat, der dessen Denken entspringt. Derart ergibt sich ein unlösbares Kommunikationsproblem, dessen Facetten detailliert ausgebreitet werden. So mokiert sich der EngClemencia, 274 Clemencia, 170. 54  »En cuanto a Pablo, el honrado y enérgico español, lo hubiese, a saber sus ideas, ahogado entre sus manos.« (Caballero, Clemencia, 279). 52  Caballero, 53  Caballero,



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länder ein ums andere Mal über den altmodischen Glauben der Spanierin, was diese stets aus der Fassung bringt: –Sois una exaltada creyente  –dijo sir George. –¿Acaso lo dudabais?  –exclamó asombrada Clemencia. –No tenía sobre esto un juicio decidido, señora. Por un lado consideraba que sois mujer y española, cosas ambas propias a sentir toda clase de exaltaciones y admitir todo género de supersticiones; por otro lado, como sois tan ilustrada … Clemencia hizo un indicado gesto de indignación y de impaciencia. –Pero, señora  –se apresuró a añadir sir George–, yo respeto todas las opiniones, todas las creencias, todas las convicciones. –Poco os agradezco, pues, que respetéis las mías  –repuso Clemencia con animación–, y no puedo devolveros igual obsequio, pues en punto a las religiosas condeno las que no son las mías, porque sobre cuanto toca a las cosas de los hombres, es éste libre de su juicio y dueño de su fe; en cuanto a las de Dios, la disidencia es la rebeldía.55

Des Weiteren rühren seine modernas ideas humanitarias zur Lösung des Problems der Armut an den Grundfesten von Clemencias statischem Gesellschaftsbild: –Sir George, […] ¿Queréis confundir la santa voz cristiana que dice al rico: da, da; tus riquezas son un préstamo, y te harán la entrada en la mansión de los justos, difícil como al camello el pasar por el ojo de una aguja, y la voz que grita al pobre: fuera la pobreza, aunque es tu herencia; fuera la santa conformidad, aunque es tu galardón, tu mérito y tu virtud; fuera tu alegría y moderación, que son tu instintiva filosofía; hay ricos y tú no lo eres, pues rebélate, indígnate, desenfrena tus malas pasiones, la envidia, la soberbia, la ambición y la rabia; pierde todo respeto, roba, y si te lo impiden los gendarmes, roba con el deseo y el propósito; que el mandamiento de Dios que lo hace delito, yo lo anulo con mi gran poder?56

In diversen vergleichbaren Zitaten wird offenbar, dass Clemencia in den zeitlosen Kategorien von Religion und Monarchie denkt, während George die Historizität der Dinge betrachtet. Es ist folglich klar, dass sie das, was er als (revolutionären) Fortschritt feiert, als Gotteslästerung interpretiert: […] Clemencia, cuando la humanidad se levanta y da un paso adelante nada puede retenerla; lo que bajo su planta se halla, es triturado por ella; es un mal inevitable y aun necesario. –¿Con que  –dijo con triste sonrisa Clemencia–, lo que yo llamo altos castigos y sacudimientos con que el brazo de Dios despierta a la inerte humanidad, vos lo 55  Caballero, 56  Caballero,

Clemencia, 287. Clemencia, 320 f.

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llamáis pasos de adelantos de la humanidad? ¡Difícilmente se creerá que tales pasos sean dados en la senda del bien, sir George!57

Im Zuge ihrer allabendlichen Auseinandersetzungen erfährt Clemencia, dass er auch die Liebe als flüchtiges Phänomen betrachtet.58 Und so gelangt sie allmählich zu der Einsicht, dass sich zwischen ihrer (klassischen) und Georges’ (moderner) Seinsweise eine unüberbrückbare Kluft befindet: […]  este hombre que tiene una inteligencia superior, que es altamente culto, y que se ha formado alternativamente en los dos países que pretenden llevar el paso a los demás en todo progreso moral y material; este hombre que ha adquirido sus aspiraciones en el hogar del nuevo sol del siglo XIX, este hombre que todo lo ha visto, todo lo conoce y todo lo ha juzgado en esta nueva era que se denomina ilustrada, no sé con qué títulos ni con qué derechos, ni con qué ventajas a las anteriores; este hombre, tipo del espíritu de la época, ¿este es el fruto que ha sacado del moderno adelanto del espíritu humano? ¿Así desencanta, pues, su frío escepticismo la vida? ¿Así desprestigia la necia y orgullosa sabiduría del hombre las magníficas creaciones de Dios? […] ¡Ay! ¡sí! Sir George es el tipo del hombre que ha abjurado y roto toda relación con lo pasado, y que marchando sin faro hacia lo desconocido, sigue una senda que proclama por verdadera, y que no sabe dónde lo lleva. Así fue que la distancia inmensa que separaba sus almas y que cada día le parecía dilatarse, hoy se abría ante Clemencia como un abismo […].59

Clemencia erkennt, dass sie die Rede des Engländers nur hören, nicht aber selbst führen kann. In der Konsequenz trifft sie ihre erste (und einzige) sujethafte Entscheidung: Sie erteilt beiden Ausländern eine Abfuhr und heiratet den Spanier, dessen Wesen dem ihren gleicht. An Pablos Seite verlässt sie den Enklavenraum Sevilla, um das Erbe der Guevaras, mithin die Herrschaft über Villa-María, fortzuführen. Ihr spektakuläres Handeln, das umgehend zum Stadtgespräch wird,60 markiert das nach über Clemencia, 321. –contestó sir George con jovial sinceridad–, sólo un estudiante acabado de salir del colegio os sostendría lo contrario. El amor, que es lo más transitorio de la vida, es cabalmente lo que más pretensiones tiene a la inmortalidad; los amantes vulgares son los que tienen la romancesca candidez de jurarse ese eterno amor, esa utopía, ese mito, ese fénix, esa creación fantástica.« (Caballero, Clemencia, 337). 59  Caballero, Clemencia, 332. Sir George bedauert seinerseits Clemencias hoffnungslose Rückständigkeit: »–¡Qué dolor, Clemencia –exclamó éste–, que con vuestra superioridad y talento conservéis preocupaciones de convento!« (Caballero, Clemencia, 294). 60  Ihrem Intimus, Don Galo, wird das Privileg zuteil die Nachricht herauszuposaunen: »Es –respondió don Galo, dejando que se restableciese el silencio para dar todo su peso y solemnidad a la respuesta–, es inesperada, imprevista, sorprendente y extraordinaria.« (Caballero, Clemencia, 356). 57  Caballero,

58  »Clemencia



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400 Seiten fällige Ende der Geschichte. Sofern sich Clemencia nicht für die Moderne sondern für die España eterna entscheidet, sofern sie den Gedanken an ein Leben am Puls der historischen Zeit für ein zeitloses andalusisches Idyll verwirft, liegt es nahe, das Ende der Geschichte auch als Ausstieg aus der Geschichte zu lesen, deren Raum sie meidet. Bezeichnend dafür ist ein Ausschnitt aus einem Gespräch mit Sir George: –Clemencia […] no queráis hacer de la vida real un idilio o una leyenda de santos, sino impregnaos de las ideas y sentimientos del mundo en que vais a entrar. –¿Qué mundo? El gran mundo de la sociedad de París y Londres, que es el único teatro en que seréis apreciada todo lo que valéis. ¿Por ventura habéis pensado vegetar siempre aquí? […] –No apetezco esa vida, sir George, y os aseguro que en ella no me hallaría bien; y aunque os parezca imposible, no es menos cierto que sólo simpatizo con una vida quieta y tranquila, que prefiero a la agitada, donde goce de la amistad, que prefiero a la admiración, de la paz, que prefiero al ruido, de la naturaleza, que prefiero al tropel del mundo.61

Das stille und ruhige Leben findet sie in Villa-María. Hier, das stellt sie mit Freuden bei ihrer Rückkehr fest, hat sich über die Jahre hinweg nichts verändert.62 V. Obgleich ein derartiges Urteil naheliegt, zumal Pablo und Clemencia formal an die Stelle des verstorbenen Altadeligen und seiner Gemahlin treten, die, nachdem sie ihre weltliche Mission erfüllt hat, ins Kloster zurückkehrt, führen die frisch Vermählten ein Leben, das sich von dem ihrer Vorgänger in vielerlei Hinsicht unterscheidet. So ist Pablo im Gegensatz zu Don Martín kein betont unkultivierter, gelegentlich zur Selbstherrlichkeit neigender Herr. Und Clemencia verfügt über einen weiteren Wissenshorizont als die streng religiöse Dña Brígida. Ihrer beider Alltag zeugt von einer viel zeitgenössischeren Mentalität, deren Fundament von

Clemencia, 339. Pablo, ¿están aún como las dejé mis habitaciones? Nada hallarás variado, ni echarás de menos […]. ¿Y mis flores? Florecen en tu ausencia, ¿lo concibes? Yo no. ¿Y mis pájaros? Cantan, pues creo que con su delicado instinto presagiaban tu regreso.« (Caballero, Clemencia, 366). 61  Caballero, 62  »Dime,

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Don Martíns jüngerem Bruder, einem weltweisen Abt, gelegt wird, dessen Porträt wie folgt gestaltet ist: En su juventud lo había su padre enviado a Sevilla a estudiar, tanto por haberlo deseado su mismo hijo, como con el fin de que siguiese la carrera de la toga. Pero en la guerra de la independencia tomó un fusil y se fue a combatir al invasor coloso. Hecho prisionero, pasó a Francia, y aprovechó sus ocios en seguir sus estudios. Concluida la guerra, viajó por Alemania e Inglaterra, siempre aumentando sus conocimientos con su pasión por el saber, haciéndose un hombre eminente en conocimientos como en cultura. Acabó por pasar a Italia, donde permaneció mucho tiempo en Roma; allí maduráronse los tesoros con que había enriquecido su cabeza y su corazón. Como fruto sazonado de su variada experiencia del mundo, de las cosas y de los hombres, y como hija de su suave y elevado carácter, se desarrolló entonces su vocación a la carrera tranquila, espiritual y filantrópica de la iglesia, volviendo algunos años después a sus lares, siendo acogido con alborozo por su hermano, en cuya casa vivía, rodeado de sus libros y de sus pobres, gozando de la naturaleza como un poeta, y de la paz como un cenobita.63

Der Abt ist eine zentrale Figur, da er, nachdem er die moderne Welt kennengelernt hat, in den Schoß der Kirche gefunden hat. So umfasst seine Lebenserfahrung das Beste beider Sphären. Dies ermöglicht ihm, Pablo, einen tumben Mann der Tat,64 zu kultivieren und Clemencia, eine weltferne Klosterschülerin, lebensfähig zu machen.65 Er vermittelt ihnen ein Wissen, das sich zum Wohle der Gemeinschaft in Lebenspraxis umsetzen lässt.66 Dabei ist v. a. die Erziehung der Titelfigur von Bedeutung, denn im Gegensatz zu Pablo durchläuft sie eine Art doppelten Kursus, im Zuge dessen sich die klösterliche Lehre als merklich defizitär erweist. So ist Clemencia bei ihrem Eintritt in die weltliche Gesellschaft überfordert. Die 16-Jährige lässt die Dinge über sich ergehen und stützt ihre Passivität auf religiöse Lektüren, die ihr  – v. a. in ihrer glücklosen ersten Ehe  – die entsprechenden Durchhalteparolen liefern.67 Clemencia, 169. Anm. 54. 65  Fernán beschreibt die Protagonistin u. a. mit den Worten: »[…] Clemencia, criada en un convento, nada sabía de la vida ni de las pasiones […].« (Caballero, Clemencia, 135). 66  »¡Oh Clemencia! […] ten presente que el saber aislado es una hermosa estatua sin corazón y sin vida; así es que dice el profundo Balzac, que una bella acción encubre todas las ignorancias, y yo añado que vale más que todo el saber humano.« (Caballero, Clemencia, 184). 67  »Releía a menudo en uno de sus libros de devoción aquellas palabras que trataban de los deberes de las casadas, y se embebía de esta cita de san Agustín, que contenía: Mónica obedecía a su marido como una sirviente a su amo, y se esmeraba 63  Caballero, 64  Vgl.



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Die Erziehung des abad geht hingegen über das klösterliche Programm hinaus. Sie beinhaltet u. a. alte und neue Sprachen und Literaturen und riskiert sogar einen impliziten Bruch mit den Geschlechterrollen. Zwar formuliert der männliche Lehrer das Ideal einer weiblichen Bildung, die eher angenehm als nützlich zu sein habe.68 Zeitgleich räumt er jedoch die Möglichkeit ein, dass Clemencia einen Bildungsgrad erreichen könnte, der den eines (männlichen) Gegenübers übertrifft. In diesem Fall, so die praktische Rat, gelte es die Überlegenheit nicht auszuspielen, sondern diese wohlwollend zu kaschieren.69 Derart verhilft der Abt seiner Schülerin zu einem umfangreichen Wissen, das gleichwohl nicht den Rahmen seiner christlichen Weltanschauung verlässt. Clemencias Lektürekonzept bleibt folglich ebenso begrenzt wie ihre Lektüreliste. Sie soll  – anders als Constantia  – nicht zu einer passionierten Romanleserin werden: Ama la lectura, sin que llegue tu afición a pasión; mira a los libros como amigos apacibles y agradables llenos de buena enseñanza, sin caprichos ni falsías, que nada exigen y conceden mucho, que se suelen olvidar en la prosperidad y se vuelven a hallar en la desgracia, prontos a consolar, distraer y dirigimos; pero que no deben absorberte ni apasionarte como amantes.70

Und sie soll  – anders als Sir George  – die modernen Schriften zugunsten der Schrift meiden: No te ocupes en sistemas sociales, sueños de utopistas remontados hasta alcanzar al ridículo, y ten presente que es preciso ser ciego y dejar de ser religioso para creer posible la felicidad, en un mundo que por culpa del hombre y por la voluntad del que lo crió, dejó de ser paraíso.71

Der Effekt dieser konservativen Erziehung zeigt sich auf zweierlei Weise: Zunächst entfernen sich Clemencia und Pablo zunehmend von Dña en ganarlo a Dios, exhortándolo con sus ruegos y con sus buenas costumbres, cuya santa hermosura obligó a su marido a respetarla, y se la hizo grata y admirable. Toleró por mucho tiempo la mala conducta de su marido, sin hacerle reconvenciones, aguardando la hora de que obrase en él la misericordia de Dios.« (Caballero, Clemencia, 137). 68  »Tú no vas a poner cátedra, solía decirle: lo que te conviene es una idea exacta de cada cosa, sin que tus conocimientos sobre ellas lleguen a profundos en ninguna. Debes sólo formarte un ramillete con las flores del árbol del saber, puesto que, como mujer, tienes que considerar tus conocimientos, no como un objeto, una necesidad o una base de carrera, sino como un pulimento, un perfeccionamiento, es decir, cosa que serte debe más agradable que útil.« (Caballero, Clemencia, 179). 69  »Persuádete bien de esta verdad: la superioridad es una carga, como lo es para el gigante su estatura; gozar de ella y disimularla con benevolencia y no con desdén, es la gran sabiduría de la mujer.« (Caballero, Clemencia, 179). 70  Caballero, Clemencia, 180. 71  Caballero, Clemencia, 181.

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Brígida und Don Martín, was jene still, dieser entsprechend wortreich zur Kenntnis nimmt.72 Des Weiteren verfügt Clemencia nunmehr über ein Selbstbewusstsein, dass sie in den Diskussionen mit dem Freidenker Sir George bestehen kann. Sie weiß, wofür sie einsteht und weshalb. Zudem lässt sie den hohen Grad ihrer Bildung gelegentlich anklingen, wobei klar wird, dass sich hinter der Fassade der Salonherrin u. a. eine ernsthafte Kennerin des zeitgenössischen Literatur- und Theaterbetriebs verbirgt.73 Aufgrund ihrer zweiten Erziehung sehnt sich Clemencia nicht länger ­zurück ins Kloster. Sie ist vielmehr gewillt und in der Lage ihr Glück in der Gesellschaft zu finden. Deshalb tritt sie schließlich in die Sphäre des ­sujethaften Handelns. In Verkehrung der Geschlechterrollen fordert Clemencia Pablo auf, sich zu ihr nach Sevilla zu bewegen. Dort eingetroffen, hat er sich ihrem Heiratswillen zu beugen. Auch ist es Clemencia, die den gemeinsamen Wohnsitz nach Villa-María verlegt und somit  – fast zeitgleich mit ihren beiden verschmähten Verehrern  – den Sevillaner Enklavenraum verlässt.74 Wenn sie in Folge dieser spektakulären Entscheidung ihr Glück an der Seite Pablos findet, so weil sie gelernt hat, weder einer kopflosen Schwärmerei (Constantia) noch einem gefühllosem Kalkül (Alegría) zu folgen. Clemencia folgt dem Rat ihres väterlichen Lehrers und prüft ihre Leidenschaft für den englischen Adeligen mit Verstand.75 Es ist daher nur konsequent, wenn sie sich gegen ihn und für den Landjunker entscheidet. So bleibt ihr auch das Schicksal ihrer Cousinen erspart, deren Fehlverhalten explizit gemacht und exemplarisch sanktioniert wird.76 72  »Doña Brígida veía todo esto sin aplaudirlo, ni menos criticarlo. Esta señora, que no tomaba en cuenta pareceres ajenos, nunca imponía el suyo a los demás; rarísima y apreciabilísima cualidad. Pero no así don Martín, que no había cosa en que no se metiese. Así era que como lo que hacía su hermano le infundía respeto, y por otro lado el estudio no le inspiraba ninguna simpatía, solía decir al oído a Clemencia.« (Caballero, Clemencia, 184). 73  So hält sie u. a. aus dem Stegreif einen zitatreichen Vortrag zur Frage des literarischen Stils. 74  So formuliert Sir George: »Pero ¡vive Dios! ¿Qué hago? ¿Quedarme? no, sin ella me fastidia Sevilla; me iré al Caúcaso, que no he visto.« (Caballero, Clemencia, 364). 75  »No te cases, Clemencia; no te cases ahora, pues no serías feliz sino pasivamente, y tu felicidad satisfecha, cumplida y elegida por ti, es la que deseo sobre todas cosas. No obstante, cuando llegue el día en que fijes tu voluntad, antes de decidir de tu suerte, acuérdate del último consejo y del postrer deseo de tu padre: la pasión es ciega, la razón ve claro; si luchan, haz que venza ésta.« (Caballero, Clemencia, 260). 76  Die ehebrüchige Alegría wird von ihrem Mann verlassen, wohingegen die rebellische Constantia in die Verbannung geschickt wird und obendrein ihren Geliebten verliert.



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Die Rückkehr nach Villa-María ist keine Rückkehr ins Siglo de Oro. Nicht zuletzt, weil diese Ordnung im europäischen Vergleich nicht mehr fraglos gültig ist. Es ist eine Rückkehr in eine Ordnung, die sich im Rahmen ihres Möglichen verändern muss. Und das junge Paar steht für einen solchen Wandel, der die europäischen Verhältnisse zwar zur Kenntnis, nicht jedoch zum Vorbild nimmt. Derart erfüllt es exakt die Forderung, die Fernán Caballero aus dem Prolog zu La Gaviota aufstellt: Quisiéramos que nuestra Patria, abatida por tantas desgracias, se alzase independiente y por sí sola, contando con sus propias fuerzas y sus propias luces, adelantando y mejorando, sí, pero graduando prudentemente sus mejoras morales y materiales, y adaptándolas a su carácter, necesidades y propensiones. Quisiéramos que renaciese el espíritu nacional, tan exento de las baladronadas que algunos usan, como de las mezquinas preocupaciones que otros abrigan.77

Es geht also nicht darum, aus der Zeit zu fallen, sondern sich dieser anders zu stellen  – indem man einen spanischen Weg beschreitet, einen camino natural y conveniente, der das Land vor einem abrupten Identitätsverlust, kurz, den novedades und mudanzas bewahrt, die Clemencia in einer Ehe mit Sir George erwartet hätten. Wenn das Paar nun einerseits ein ruhiges Leben in Villa-María führt, sich andererseits jedoch durch Zeitschriftenlektüre über die Welt informiert, zeigt sich, dass die Dorfidylle in sehr engem Bezug zur urbanen Moderne steht und erst aus diesem Grunde als Alternative benannt werden kann.78 Clemencia kehrt in eine idyllische Mikrowelt zurück, nachdem sie einen Blick in eine große ihr fremde Welt geworfen hat, der sie zutiefst erschüttert hat. Villa-María ist mithin ein Raum, in dem die von der Modernisierung geschürten Existenzängste kompensiert werden. Die unaufhaltsame Auflösung der ständischen Agrargesellschaft  – die in Spanien Mitte des 19. Jahrhunderts noch immer dominiert  – findet hier nicht statt. Dennoch ist die Wahrung der spanischen Identität ein Reflex. Sie ist mithin Teil  der Geschichte, gegen die sie sich stemmt. Dass VillaMaría im Gegensatz zu London und Paris ein imaginärer Ort bleibt, leuchtet ein.

77  Vgl.

Anm. 27. Idylle vgl. Michail M. Bachtin, Chronotopos, Frankfurt / M. 2008; vgl. ferner: Hans Ulrich Seeber u. Paul Gerhard Klussmann (Hgg.), Idylle und Modernisierung in der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts, Bonn 1986. 78  Zur

Die Würde der Krankheit Thomas Manns Essay Goethe und Tolstoi, Schiller und die Menschenwürde Von Max Graff Goethe war für Thomas Mann, gerade in seinem essayistischen Werk, eine zentrale Orientierungs- und Identifikationsfigur. Auch in Goethe und Tolstoi, einem Text, dessen Er- und Überarbeitung Mann über zehn Jahre begleitete, steht er im Mittelpunkt.1 Indem die folgenden Überlegungen jedoch den Begriff der Menschenwürde als Folie wählen, verschieben sie den Fokus  – auf Schiller. Mann benutzt diesen so auratischen wie wirkmächtigen Begriff tatsächlich vor allem im Kontext seiner Bemerkungen zu Schiller, der  – und das fordert ein genaueres Hinsehen geradezu heraus – in der Nachfolge Kants den letzten umfassenden Versuch unternom1  Thomas Mann, »Goethe und Tolstoi. Fragmente zum Problem der Humanität«, in: ders., Essays II. 1914–1926, hg. u. textkrit. durchges. Hermann Kurzke unter Mitarbeit v. Joëlle Stoupy, Jörn Bender und Stephan Stachorski (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 15.1), Frankfurt / M. 2002, 809–936. Im Folgenden wird der Essay stets nach dieser Ausgabe zitiert; Seitenangaben erscheinen in Klammern im Text. – Für umfassendere Untersuchungen des Essays, die den Begriff der Menschenwürde meist kaum ausführlicher diskutieren, vgl. etwa Herbert Lehnert, Eva Wessell, Nihilismus der Menschenfreundlichkeit. Thomas Manns »Wandlung« und sein Essay Goethe und Tolstoi, Frankfurt / M. 1991; Hans Dieter Heimendahl, Kritik und Verklärung. Studien zur Lebensphilosophie Thomas Manns in Betrachtungen eines Unpolitischen, Der Zauberberg, »Goethe und Tolstoi« und Joseph und seine Brüder, Würzburg 1998, 215–276; Jürgen Lehmann, »Über die Gerechtigkeit von Vergleichen. Thomas Manns Essay ›Goethe und Tolstoj‹«, in: Sebastian Donat et al. (Hgg.), Poetische Gerechtigkeit, Düsseldorf 2012, 117–137. Die im vorliegenden Beitrag eingenommene, bewusst verengte Perspektive soll die bisherigen Analysen ergänzen.  – Der Text liegt in drei Bearbeitungsstufen vor: einer Redefassung (1921), einer Essayfassung (1925) und einer Buchfassung (1932). Vgl. dazu z. B. Lehnert, Wessell, Nihilismus der Menschenfreundlichkeit, 111–148. Der benutzten Ausgabe liegt die Essayfassung aus dem Jahr 1925 zugrunde, die am stärksten rezipiert wurde.  – Zur Bedeutung Goethes in Manns Werk vgl. überblicksartig Terence J. Reed, »Thomas Mann und die literarische Tradition«, in: Helmut Koopmann (Hg.), Thomas Mann-Handbuch, Stuttgart 32001, 95–136, sowie Rolf G. Renner, »Literarästhetische, kulturkritische und autobiographische Essayistik«, in: ibid., 629–677.

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men hat, die Menschenwürde zur Grundkategorie eines philosophischästhetischen Systems zu erheben und sie programmatisch ins Zentrum seiner theoretischen Schriften zu stellen. Aus diesem Grund verbindet der vorliegende Beitrag eine genaue Lektüre der einschlägigen Passagen in Manns Essay mit einem Blick auf die Menschenwürde bei Schiller und positioniert den Essay im Menschenwürdediskurs des frühen 20. Jahrhunderts  – für den er, so viel sei vorausgeschickt, nicht unbedingt repräsentativ ist. Auf diese Weise lässt sich Manns idiosynkratischer, eklektischer, ja provokativer Umgang mit der Menschenwürde nachvollziehen. 1. Das Wort Menschenwürde2 (oder verwandte Ausdrücke: Würde, auch als Teil  von Komposita, würdig usw.) benutzt Thomas Mann in seinem Essay mehr als zwanzig Mal, meist eher punktuell. Eine Passage ragt jedoch heraus: der Abschnitt »Krankheit«, in dem Mann ein eigentümliches Verhältnis zwischen Menschenwürde und Krankheit skizziert. Hier (wie auch an den anderen Stellen, an denen er auf die Menschenwürde referiert) fokussiert die Diskussion das Gegensatzpaar Goethe und Schiller, während Tolstoi und Dostojewski, die beiden anderen Dichter, die der Text beleuchtet, tendenziell in den Hintergrund rücken. Charakteristisch für Manns Argumentation ist zum einen seine Begriffswahl, die einschlägige Termini des anthropologischen Diskurses seit der Aufklärung anklingen lässt, dann aber umdeutet oder zumindest teilweise neu besetzt. Zum anderen verweist er bereits auf den ersten Seiten des Textes auf die »›aristokratische Frage‹, die Frage der Vornehmheit also«  – die Frage, welcher der in der Folge vorgestellten Typen gleichsam als Vertreter höchsten Menschtums zu betrachten sei. Zwar schiebt Mann sogleich hinterher, dass er diese Frage gar nicht beantworten wolle, dass vielmehr jeder sie »nach der Art seines Humanitätsbegriffs«, der zudem niemals ein objektiver Maßstab sein könne, zu beantworten habe; trotzdem entwickelt er die folgenden Ausführungen ostentativ vor der Folie der »Wertfrage« (816). Unmittelbar vor dem Abschnitt »Krankheit« konstatiert Mann mit Blick auf die Greise Goethe und Tolstoi und deren »Würde der Hochbetagtheit«, dass ihnen ein »natürlicher Adel« eigne und präzisiert, dass »Adel« stets »etwas Körperliches«  – und nicht etwa Geistiges  – sei (831). Dies ist der Ausgangspunkt für die Bemerkungen zu den jung gestorbenen Kranken Schiller und Dostojewski. Die Krankheit ist nun kein rein biolo2  Für eine Untersuchung des deutschsprachigen literarischen Menschenwürdediskurses vgl. Max Graff, Literarische Dimensionen der Menschenwürde. Exemplarische Analysen zur Bedeutung des Menschenwürdebegriffs in der deutschsprachigen Literatur seit der Frühaufklärung, Tübingen 2017.



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gisch-medizinisches Problem; vielmehr hat sie symbolische Kraft und verweist auf grundlegende anthropologische Axiome. Rhetorisch-suggestiv fragt Mann, ob nicht die Krankheit als »notwendiges und charakteristisches Zubehör ihres Typus« gelten müsse. »Und zweitens«, fährt er fort, scheint es uns nicht, daß es die Krankheit ist, die in ihrem Falle einen Adel, eine Vornehmheit zeitigt oder zum Ausdruck bringt  – sehr unterschieden von jenem autobiographischen Aristokratismus der Icherfülltheit und der »Liebe zu sich selbst«, [die Mann mit Blick auf Goethe und Tolstoi festgestellt hatte; MG] […], einen Adel, der eine ganz anders geartete Vertiefung, Erhöhung und Verstärkung ihrer Menschlichkeit, ja, ihrer Menschlichkeit, bedeutet, so daß uns angesichts ihrer die Krankheit geradezu als Adelsattribut höheren Menschentums erscheint? (832; Herv. i. O.)

Mann bringt hier nun, neben dem »natürlichen«, eine zweite Art des Adels ins Spiel  – und damit fast unweigerlich auch die Frage nach der Hierarchisierung, die er aber abwehrt. Vielmehr konstituiert er zwei Pole, die jeweils eine besondere Form der Auszeichnung, der »Steigerung des Menschlichen« bezeichnen: »eine ins Göttliche, von Gnaden der Natur, und eine ins Heilige  – von Gnaden einer anderen Macht, die der Natur entgegensteht, die die Emanzipation von ihr, die ewige Revolte gegen sie bedeutet: von Gnaden des Geistes« (832; Herv. i. O.).3 Die beiden Quellen der »Erhöhung« (832)  – Natur und Geist  – aktualisieren eine für Thomas Manns Denken grundlegende Dichotomie; daran gekoppelt ist die Qualifikation der beiden Typen als Göttliche und Heilige. Letztere rücken nun in den Vordergrund, und mit Blick auf sie wird der Begriff der Menschenwürde in die Diskussion integriert. Manns kurze »Philosophie der Krankheit«4 kreist um den seit der Antike etablierten, von Descartes mit neuer theoretischer Virulenz ausgestatteten Dualismus Körper–Geist. In Bezug auf die mit natürlichem Adel ausgestatteten Göttlichen scheint er zunächst kaum argumentative Relevanz zu haben; für den Typus des Heiligen mit dem Paradebeispiel Schiller ist er von zentraler Bedeutung. Der Zusammenhang von Krankheit und Würde, wie ihn Mann in der Folge darlegt, ist ein zutiefst ambivalenter: 3  Als entscheidenden Einfluss für diese Gegenüberstellung von Naturkindern und Geistessöhnen hat die Forschung die Studie Tolstoi und Dostojewski des russischen Schriftstellers Dmitri Mereschkowski (1865–1941) bestimmt. Vgl. dazu etwa Heimendahl, Kritik und Verklärung, 225–239. 4  Zum Begriff der Krankheit in Manns Werk vgl. z.  B. Fernand Hoffmann, »Kunst, Künstlertum und Krankheit«, in: ders., Thomas Mann und seine Welt, Hildesheim / Zürich / New York 1992, 1–64 sowie C. A. M. Noble, Krankheit, Verbrechen und künstlerisches Schaffen bei Thomas Mann, Bern 1970.

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Krankheit hat ein doppeltes Gesicht, eine doppelte Beziehung zum Menschlichen und seiner Würde. Sie ist einerseits der Würde feindlich, indem sie durch Überbetonung des Körperlichen, durch ein Zurückweisen und Zurückwerfen des Menschen auf seinen Körper entmenschlichend wirkt, den Menschen zum bloßen Körper herabwürdigt. Andererseits aber ist es möglich, Krankheit sogar als etwas höchst Menschenwürdiges zu denken und zu empfinden. Denn wenn es zu weit ginge zu sagen, daß Krankheit Geist, oder gar (was sehr tendenziös klänge), daß Geist Krankheit sei, so haben diese Begriffe doch viel miteinander zu tun. Geist ist nämlich Stolz, ist emanzipatorische Widersetzlichkeit […] gegen die Natur, ist Abgelöstheit, Entfernung, Entfremdung von ihr; Geist ist das, was den Menschen, dies von der Natur in hohem Grade gelöste, in hohem Maße sich ihr entgegengesetzt fühlende Wesen, vor allem übrigen organischen Leben auszeichnet, und die Frage, die aristokratische Frage ist, ob er nicht in desto höherem Grade Mensch sei, je gelöster von der Natur, das heißt, je kränker er sei. (833; Herv. i. O.)

Zunächst erscheint Manns Argumentation vor dem Horizont des Menschenwürdediskurses recht konventionell: Dass dem Menschen vom anfälligen Körper, von seiner Kreatürlichkeit Entwürdigung droht, ist ein geistesgeschichtlicher Topos, der schöne Körper bisweilen gar Signum der Menschenwürde.5 Dass gerade die Fähigkeit des Menschen, sich mithilfe seines Geistes  – Mann benutzt auffälligerweise nicht den einschlägigen Terminus Vernunft  – über die von Natur und Körper vorgegebenen Notwendigkeiten hinwegzusetzen, die Determination durch natürliche Faktoren zu durchbrechen und einen eigenen freien Willen zu bilden, Quelle und Grund der Menschenwürde ist, gehört ebenfalls zum geistesgeschichtlichen Grundinventar. Tatsächlich ist das vernunftphilosophische Begründungsmuster der Menschenwürde  – von Cicero bis Kant und darüber hinaus  – eines der wirkmächtigsten.6 Manns eigenwillige Umdeutung besteht nun darin, Krankheit nicht als lediglich entwürdigenden Faktor zu bestimmen, sondern ein alternatives Denkmodell zu entwerfen, indem er den Geist–Körper-Dualismus und die Krankheit kurzschließt: Wenn »Geist« die Emanzipation von der »Natur« (offenbar nun als Synonym zu »Körper« verstanden) ist, ja die Negation der oder die Trennung von der Natur, dann ist die Krankheit – verstanden als »Entfernung, Entfremdung« von der Natur – mit dem Geist verwandt, mehr noch: Dann ist die Krankheit die höchstmögliche Auszeichnung des Menschen, der durch sie vollkommen auf den Geist zurückgeworfen ist. 5  Vgl. dazu etwa Franz Josef Wetz, Illusion Menschenwürde. Aufstieg und Fall eines Grundwerts, Stuttgart 2005, 30–31 mit Hinweis auf Petrarca und Manetti. 6  Wetz unterscheidet drei »Bilder« der Menschenwürde: religiös-christliche, vernunftphilosophische und säkular-ethische Positionen. Vgl. Franz Josef Wetz (Hg.), Texte zur Menschenwürde, Stuttgart 2011, 16.



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Mit dieser argumentativen Pirouette gelingt es Thomas Mann, Krankheit gleichzeitig als Entwürdigung und als Würde zu definieren. Auf kleinstem Raum evoziert er gleich vier anthropologische Paradigmen: 1) den natürlichen, körperlich manifesten Adel; 2) die Überwindung des Körperlichen durch den Geist; 3) die Entwürdigung des Menschen durch den kranken Körper; 4) die Erhöhung des kranken Menschen durch seine Gebundenheit an den Geist. Dass Mann hier keine systematische, auf logische Konsistenz und Stringenz ausgelegte Bestimmung der Menschenwürde vornimmt  – der Untertitel des Essays spricht bezeichnenderweise auch von Fragmenten –, belegen nicht nur die markanten Widersprüche in Bezug darauf, was Würde oder Adel bedeuten, sondern auch die sprach­ liche Gestaltung: Mann formuliert nicht thesenhaft oder apodiktisch, sondern vorsichtig, fast relativierend (»ist es möglich«), er benutzt Verben wie »denken« und »empfinden«, dazu Konditionalkonstruktionen, Konjunktive und Fragen. Ganz augenfällig wird hier zunächst eine Denkbewegung, das produktive, sogar provokative Ausloten von Begriffen inszeniert. Dieses Ausloten führt dann zu einer auf den ersten Blick doch klaren Definition der Menschenwürde, die zudem die aristokratische Frage recht eindeutig entscheidet: »Im Geist also, in der Krankheit beruht die Würde des Menschen, und der Genius der Krankheit ist menschlicher als der der Gesundheit« (834). Das Komma nach »also« unterläuft jedoch die oberflächliche Selbstverständlichkeit der Aussage, lässt es doch die genaue logische Beziehung (Identität oder Verwandtschaft) zwischen Geist und Krankheit offen. Gleichwohl eröffnet Thomas Mann einen Assozia­ tionsraum, in dem Geist, Krankheit und Menschenwürde eng miteinander verknüpft sind und einen Gegenentwurf zum natürlichen, körperlichen Adel Goethes darstellen. In der Folge profiliert Mann diesen Gegensatz, indem er ihn mit zwei Begriffspaaren kombiniert, die auf die Weimarer Dioskuren selbst zurückgehen. Schillers einflussreicher dichtungstheoretischer Abhandlung entnimmt er die Begriffe des »Naiven« und des »Sentimentalischen« und ergänzt sie um Goethes mit Blick auf Schillers Dichotomie geprägte Unterscheidung des ›gesunden Klassischen‹ und des ›kranken Romantischen‹, sodass zwei parallele Begriffsreihen entstehen: gesund, naiv, klassisch, objektiv, Natur vs. krank, sentimentalisch, romantisch, subjektiv, Geist (834). Dieser zweiten Begriffsreihe ordnet Mann nun  – in dieser Absolutheit durchaus überraschend  – ›den Menschen‹ zu, der, »sofern er als geistiges Subjekt außerhalb der Natur steht und in dieser seiner sentimentalischen Abgetrenntheit, dieser seiner Zweiheit von Natur und Geist seine Würde und sein Elend findet«, gar als das »schlechthin […] romantische Wesen«, als ein »romantisch leidendes Geschöpf« (835) zu betrachten sei.

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Der Mensch als leidendes Geschöpf  – hier klingt deutlich das Menschenbild Schopenhauers an, das aber gerade mit Blick auf den Würdebegriff entscheidend modifiziert wird. Während für Mann das Leiden gleichsam metonymisch auf die gebrechliche Körperlichkeit und somit die überwindende Kraft des Geistes verweist und eben darum Kennzeichen einer durchaus ambivalenten, prekären Menschenwürde ist, lehnt Schopenhauer die Anwendung des Begriffs der Würde, den er (in seiner kantischen Prägung) sogar offen ridikulisiert, auf den Menschen ab: »[Mir scheint] der Begriff der Würde auf ein am Willen so sündliches, am Geiste so beschränktes, am Körper so verletzbares und hinfälliges Wesen, wie der Mensch ist, nur ironisch anwendbar zu sein.«7 Anders als Mann betont Schopenhauer auch die Mangelhaftigkeit des menschlichen Geistes; statt nach Begründungen der vermeintlichen menschlichen Würde zu suchen, postuliert er einen »Standpunkt des Mitleids« als Basis für Menschlichkeit und moralisches Handeln.8 Einen ähnlichen Schluss zieht allerdings auch Thomas Mann; aus der »Erkenntnis dieser seiner [i. e. des Menschen; MG] fast hoffnungslos schwierigen Situation« leitet er einen ethischen Auftrag ab, den er »Menschheitspatriotismus« nennt, der mit Schlagworten wie Empathie, Mitleid, ›Humanität‹ zu beschreiben wäre und dessen »Basis« die Fähigkeit zur Identifikation mit dem leidenden Mitmenschen ist.9 Mit diesem Gedanken endet der Abschnitt »Krankheit«. Manns Ausführungen zur Menschenwürde sind konzeptuell kaum präzise zu verorten  – und genau das ist seine Absicht: Zwar erweckt er bisweilen den Eindruck, anthropologisch fundierte Aussagen zum Wesen des Menschen 7  Arthur Schopenhauer, »Parerga und Paralipomena II. Zur Ethik«, in: ders., Sämtliche Werke, textkritisch bearbeitet u. hg. Wolfgang Frhr. von Löhneysen, Bd. 5, Darmstadt 1976, 239 (Herv. i. O.). – Zu Schopenhauers Auseinandersetzung mit der Menschenwürde vgl. Mario Brandhorst, »Würde des Menschen – ›hohle Hyperbel‹? Eine Fallstudie zu Schopenhauers Moralkritik«, in: Dieter Birnbacher, Andreas Urs Sommer (Hgg.), Moralkritik bei Schopenhauer und Nietzsche, Würzburg 2013, 155– 180; Peter Welsen, »Arthur Schopenhauer«, in: Rolf Gröschner, Antje Kapust, Oliver W. Lembcke (Hgg.), Wörterbuch der Würde, München / Paderborn 2013, 44–45 und Wetz (Hg.), Texte zur Menschenwürde, 284–285. 8  Schopenhauer, »Parerga und Paralipomena II. Zur Ethik«, 240. – Zur Bedeutung Schopenhauers für Manns Werk vgl. etwa Edo Reents, Zu Thomas Manns Schopenhauer-Rezeption, Würzburg 1998 und Thomas Klugkist, Der pessimistische Humanismus. Thomas Manns lebensphilosophische Adaption der Schopenhauerschen Mitleidsethik, Würzburg 2002. 9  Vgl. Mann, »Goethe und Tolstoi«, 835 (Herv. i. O.): »Beruht nicht alle Liebe zum Menschen auf der sympathievollen, brüderlich-mitbeteiligten Erkenntnis dieser seiner fast hoffnungslos schwierigen Situation? Ja, es gibt einen Menschheitspatriotismus auf dieser Basis: man liebt den Menschen, weil er es schwer hat  – und weil man selbst einer ist.«



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zu treffen, doch entwickelt er bei genauerem Hinsehen keinen inhärenten Würdebegriff, d. h. er erklärt die Menschenwürde nicht zu einer angeborenen, unverlierbaren Qualität eines jeden Menschen. Vielmehr bleibt die Menschenwürde kontingent, gebunden an bestimmte heteronome Vorstellungen, und überaus polysem. Mann begründet nicht die Würde des Menschen, sondern die Würde der Krankheit  – als einer Form des Menschlichen, mithin des gesteigerten Menschlichen, die nicht desavouiert oder delegitimiert, sondern mit großem rhetorischen Aufwand verteidigt wird. Auf der einen Seite unterläuft Mann so normative Definitionen des Menschen und seiner Würde; die über den Ausführungen schwebende »aristokratische Frage« sorgt jedoch andererseits dafür, dass der normative Gestus nicht vollständig verschwindet. 2. Im weiteren Verlauf des Essays greift Thomas Mann immer wieder auf die soeben dargelegten Konzepte zurück, besonders wenn er Goethe und Schiller einander gegenüberstellt. Seine Beobachtungen sind dabei weniger konkret ästhetischer Natur, sondern nehmen Persönlichkeit, Biographie und (ganz allgemein) Werk der Dichter in den Blick. Mann profiliert seine Beschreibung der beiden Klassiker als Gegensatzpaar  – das naturadlige »Gotteskind« Goethe (851) auf der einen, der »Sohn des Geistes« Schiller (842) auf der anderen Seite  –, indem er ohne Zögern Leben und Werk vermischt und sich zunächst auf zwei Aspekte konzentriert: ihre jeweilige Kunstauffassung und ihren Freiheitsbegriff. Wieder bedient sich Mann eines dichotomischen Modells: Im Gegensatz zum Moralisten Schiller habe sich Goethe gegen eine Instrumentalisierung der Kunst verwahrt; einen moralischen, gesellschaftskritischen Impetus und somit den Anspruch auf unmittelbaren Eingriff in soziale Belange lehnte er ab (842). Schiller dagegen repräsentiere einen »sentimentalen Idealismus«  – den Mann nicht ohne Abneigung in die Nähe des Expressionismus rückt  –, dessen »Wirklichkeit […] sich nur durch Handeln herstellt« (847–848). Goethe charakterisiert Mann daher als spinozistischen Plastiker, Schiller als kantischen Kritiker, wobei er selbst darauf hinweist, dass Kants Definition des ästhetischen Zustands als ›interesseloses Wohlgefallen‹10 der Goethe zugeschriebenen Auffassung einer zweckfremden Kunst entspricht. Die Unterscheidung von Plastik und Kritik ist wiederum rückgekoppelt an die Leitdifferenz von Natur und Geist:11 »Und ewig wird die Ruhe, 10  Vgl. hierzu etwa Horst-Jürgen Gerigk, »Kants Lehre vom Schönen und was damit zusammenhängt: das Angenehme, das Schöne und das Gute«, in: ders., Lesendes Bewusstsein. Untersuchungen zur philosophischen Grundlage der Literaturwissenschaft, Berlin / Boston 2016, 62–70. 11  Vgl. »Goethe und Tolstoi«, 841: »Plastik ist objektive, naturverbundene und schöpferische Anschauung, Kritik dagegen die moralistisch-analytische Haltung

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Bescheidenheit, Wahrheit und Kraft der Natur gegen die groteske, fieberhafte und diktatorische Kühnheit des Geistes stehen« (848). Nur wenig später verschärft Mann diesen konstruierten Konflikt erneut, indem er sich dem Begriff der Freiheit zuwendet  – und sich wieder explizit auf die Menschenwürde bezieht. Bemerkenswert ist zunächst die Schilderung der Goetheschen Einstellung zur Willensfreiheit: »Es ist zu wenig gesagt, daß er [Goethe; MG] an Willensfreiheit nicht glaubte, er negierte den Begriff, er leugnete, daß so etwas zu denken sei. ›Man gehorcht den Gesetzen der Natur,‹ sagte er, ›auch wenn man ihnen widerstrebt; man wirkt mit ihr, auch wenn man gegen sie wirken will.‹« (851) Diese an sich zutiefst philosophische Frage wendet Mann sofort ins Biographische, indem er vom »dämonischen Determinierte[n] seines Wesens« und der ­ »tellurische[n] Abhängigkeit« Goethes spricht, die sich etwa in seiner Wetterfühligkeit geäußert habe (851–852). Ebendiese Determiniertheit habe Goethe aber nicht als anthropologische Schwäche verstanden: »[E]s ist nicht anzunehmen, daß er eine solche Gebundenheit, die Verbundenheit bedeutet, je für seine Person als entwürdigend empfunden, je mit seinem Willen sich dawider gestemmt hätte« (852; Herv. i. O.) – eben weil Goethe jenen Menschentypus repräsentiert, der der Natur eher als dem Geist verbunden ist. Für diesen Typus ist der Begriff der Freiheit irrelevant, da seine Prämissen vollkommen andere sind: Denn Freiheit ist Geist, ist Loslösung von der Natur, Widersetzlichkeit gegen sie; sie ist Humanität, begriffen als Emanzipation vom Natürlichen und seinen Bindungen, diese Emanzipation als das eigentlich Menschliche und Menschenwürdige verstanden. Man sieht, wie hier das aristokratische Problem mit dem der Menschenwürde zusammenfließt! Was ist vornehmer und menschenwürdiger: Freiheit oder Gebundenheit, Wille oder Gehorsam, das Sittliche oder das Naive? Wenn wir es ablehnen, die Frage zu beantworten, so geschieht es aus der Überzeugung, daß sie endgültig niemals beantwortet werden wird. (852; Herv. i. O.)

An dieser Stelle spitzt Mann die Polarität Goethe–Schiller zu  – und zwar, indem er ihnen grundlegend verschiedene, gar konträre Menschenwürdebegriffe unterstellt. Goethe habe sich sogar an Schillers »Freiheitspathos« gestört, an seinem »Begriff der Menschenwürde, der durchaus geistesdiktatorischer, d. h. revolutionärer Art war; der alle Humanität, alle Vornehmheit, allen Menschenadel emanzipatorisch verstand und einem Wesen wie Goethe naturbeleidigend scheinen und zuwider sein mußte« (855).

zum Leben und zur Natur. Mit anderen Worten: Kritik ist Geist, während die plastische Gesinnung Sache der Natur- und Gotteskinder ist.«



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Für Goethe also  – so Thomas Mann!  – bedeutete Menschenwürde die Verbundenheit, gar die Übereinstimmung mit der Natur und ihren Gesetzen; diese Sympathie im naturphilosophischen Sinne ist körperlich codiert, körperlich erfahrbar und am ausgezeichneten Körper abzulesen. Zudem, führt Mann später im Kontext der Pädagogik Goethes aus, konfligiere die Vorstellung der Menschenwürde keineswegs mit der Betonung sozialer wie politischer Normierung und Hierarchisierung.12 Schiller hingegen habe Menschenwürde als stolze Überwindung der Natur definiert und genau an diesem Potential auch die Freiheit des Menschen festgemacht. Auffällig sind zwei Aspekte: Zum einen verzichtet Mann auf eine expli­zite Betonung der politischen Konnotationen des Begriffs der »Emanzipa­tion«; zum anderen ist hier das Konzept der Krankheit wieder deutlich in den Hintergrund getreten. 3. Hier drängen sich nun zwei literaturgeschichtliche Seitenblicke auf, um Manns Rückgriff auf den Begriff der Menschenwürde zu kontextualisieren. Zunächst rückt der Zusammenhang von Würde, Körper und Krankheit in den Fokus, im Anschluss der Würdebegriff Schillers  – nicht in seiner Vermittlung durch Thomas Mann, sondern mit Blick auf Schillers Werk. Manns Ausführungen verweigern sich vielfach bewusst der klaren begrifflichen Festlegung und eröffnen stattdessen gerade in der begrifflichen Ambivalenz Vorstellungshorizonte, innerhalb derer sich seine Argumentation bewegt. So beschreibt er, wie bereits erörtert, den Körper zugleich als Auszeichnung und potentielle Quelle von Entwürdigung sowie die Krankheit als erniedrigende Erfahrung menschlicher Prekarität und als Signum der auf der Kraft des Geistes beruhenden Menschenwürde. Als Thomas Mann die Arbeit an Goethe und Tolstoi beginnt, sind die Konzepte Körper und Krankheit durchaus bereits im literarischen Menschenwürdediskurs präsent. Dass die conditio humana, mithin der Status des Menschen zutiefst ambivalent sind, ist ein literarisch-philosophischer Topos, der sich in unterschiedlichen Variationen belegen lässt. Beispielhaft für das Menschenbild der Renaissance ist ein berühmter Monolog Hamlets:

12  Vgl. »Goethe und Tolstoi«, 921: Goethes »Begriff der Menschlichkeit, der Menschenwürde, Gesittung und Bildung« falle »so sehr mit dem der feierlichsten Ordnung und Stufung, mit einem so ausgeprägten Sinn für Ehrfurcht, Überlieferung, Symbol, Geheimnis, für Disziplin, Rhythmus, eine reigenartige, fast choreographische Gebundenheit in der Freiheit zusammen, daß man diesen Begriff wohl als staatsmännisch im höchsten und schönsten Sinn […] ansprechen kann«.

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What piece of work is a man – how noble in reason; how infinite in faculties, in form and moving; how express and admirable in action; how like an angel in apprehension; how like a god; the beauty of the world; the paragon of animals. And yet to me what is this quintessence of dust?13

Shakespeares Held zielt auf die unauflösliche Widersprüchlichkeit des Menschen ab: Er ist, als Geschöpf und Ebenbild Gottes, vernunftbegabt, schön, unendlich perfektibel. Seiner Größe und Würde stehen aber seine Vergänglichkeit und, aus ethischer Sicht, seine Fehlbarkeit gegenüber. In leichter Abwandlung findet sich diese Denkfigur auch bei markanten Vertretern der Aufklärung. Der Dichter, Mediziner und Naturforscher Albrecht von Haller etwa bezeichnete den Menschen als »[z]weideutig Mittelding von Engeln und von Vieh«, das »[h]alb zu der Ewigkeit, halb aber zum Verwesen« bestimmt sei  – eine Vorstellung, die Friedrich Schiller übrigens nahezu wortgleich aufgreift.14 Haller fokussiert die Zwischenstellung des Menschen zwischen Gott und Tier und impliziert, dass er an beiden Existenzformen teilhat. In Alexander Popes Essay on Man findet sich derselbe Gedanke, allerdings mit einer bedeutsamen Konkretisierung; der Mensch sei, so Pope, »[i]n doubt to deem himself a god, or beast; / In doubt his mind or body to prefer«.15 Der Grund der menschlichen Ambivalenz ist also nicht nur ›hierarchisch‹, sondern anthropologisch: Der Mensch ist ein Doppelwesen, hin- und hergerissen zwischen Geist und Körper. Nun sind in der deutschsprachigen Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts prägnante Versuche zu beobachten, anknüpfend an die ›literarische Anthropologie‹ des 18. Jahrhunderts16 den als naiv empfunde13  William Shakespeare, Hamlet, hg. Ann Thompson u. Neil Taylor (The Arden Shakespeare), London 2006, 257. 14  Albrecht von Haller, »Über den Ursprung des Übels (1734)«, in: ders., Die Alpen und andere Gedichte, Ausw. u. Nachw. v. Adalbert Elschenbroich, Stuttgart 1965, 53–74, hier Zweites Buch, 63, V. 106–107; vgl. ähnlich ders., »Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben«, in: ibid., 23–38, hier 24, V. 17. – Vgl. Friedrich Schiller, »Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen«, in: Schillers Werke. Nationalausgabe, begr. Julius Petersen, fortgef. Lieselotte Blumenthal u. Benno von Wiese, hg. im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik u. des Schiller-Nationalmuseums Marbach v. Norbert Oellers, Weimar 1943 ff., hier Bd. 20, 47 (»das unseelige Mittelding von Vieh und Engel«). Im Folgenden werden Schillers Texte stets nach der Nationalausgabe zitiert. Zitate werden im Text in der Form (NA Band, Seitenangabe) belegt. 15  Alexander Pope, Essay on Man, hg. Alexander Hamilton Thompson, Cambridge 1913 [urspr. 1734], »Epistle II«, V. 8–9. 16  Vgl. hierzu grundlegend Hans-Jürgen Schings (Hg.), Der ganze Mensch. An­ thropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, DFG-Symposion 1992, Stuttgart / Wei-



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nen Glauben an die Macht der Vernunft zu relativieren und anderen Faktoren, nicht zuletzt dem Körper, zu ihrem Recht zu verhelfen, ohne jedoch die Vorstellung einer besonderen Menschenwürde aufzugeben  – mit anderen Worten: Zu beobachten sind signifikante Modifikationen der »anthropologischen Prämisse«.17 Hierzu drei Beispiele: Georg Büchner stellt mit revolutionärer Dringlichkeit die Kreatürlichkeit des Menschen ins Zentrum seines Werks. Besonders Woyzeck exponiert den gesellschaftskritischen Impetus dieses Fokus auf den Körper: Der Protagonist, der zum Mörder seiner Geliebten wird, lebt in hoffnungsloser Armut, stellt sich und seinen Körper einer bewusst pathogenen Medizin für Ernährungsexperimente zur Verfügung18 (mit gravierenden psychischen Folgen) und schafft es trotzdem kaum, für sich und seine Familie zu sorgen. Woyzeck ist vollkommen auf seinen Körper, seine Kreatürlichkeit, seine Triebhaftigkeit zurückgeworfen; umso grotesker ist das Schwadronieren des Hauptmannes und des Doktors, die von Tugend, Moral und Freiheit des Menschen phantasieren. Büchner suggeriert auf drastische Weise, dass dies nur leere Begriffshülsen sind, die dazu dienen, soziale Ungleichheiten zu übertünchen, und klagt vehement Empathie und Mitleid für jeden Menschen ein  – und somit auch Respekt vor seiner Würde, die er gerade nicht normativ definiert und nicht an Konzepte wie Vernunft, Willensfreiheit oder Schönheit knüpft. Die naturalistische Programmatik verabschiedet ebenfalls das Postulat menschlicher Willensfreiheit und entwirft den Menschen stattdessen als von sozialen, physischen und psychischen Faktoren determiniert. Die »moderne Dichtung« wird auf den genauen, objektiven Beobachterblick verpflichtet; der Mensch soll »mit Fleisch und Blut und mit seinen Leidenschaften in unerbittlicher Wahrheit [ge]zeichne[t]« werden.19 So wird auch potentiell Tabuisiertes literaturfähig, und gerade physische und körperliche Degenerationsprozesse (etwa als Folge von Alkoholsucht) werden mit einer neuartigen Detailfülle festgehalten. Gleichzeitig weisen viele naturalistische Programme nachdrücklich darauf hin, dass die Idee der mar 1994 (bes. die Einleitung des Herausgebers, 1–6) und Alexander Košenina, Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen, Berlin 2008. 17  Zum Begriff der »anthropologischen Prämisse« vgl. Horst-Jürgen Gerigk, Entwurf einer Theorie des literarischen Gebildes, Berlin / New York 1975, 11–15. 18  Vgl. Harald Neumeyer, »›Hat er schon seine Erbsen gegessen?‹ Georg Büchners Woyzeck und die Ernährungsexperimente im ersten Drittel des 19. Jahrhundert«, DVjs 83.2 (2009), 218–245. 19  »Thesen der freien litterarischen Vereinigung ›Durch!‹« (1886), in: Manfred Brauneck, Christine Müller (Hgg.), Naturalismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1880–1900, Stuttgart 1987, 59.

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Menschenwürde keineswegs zu verabschieden sei; sie beschreiben das literarische Interesse am vermeintlich Würdelosen sogar explizit als Aufgabe im Dienst von Humanität und Menschlichkeit.20 Auch die expressionistische Literatur kennt die Hinwendung zum Körper, zum Hässlichen, Würdelosen und ganz explizit auch zum Kranken. Den Körper stellen z. B. – unter positiven Vorzeichen – Ludwig Rubiner21 oder – mit zynisch-nihilistischer Grundhaltung – Gottfried Benn (Morgue und andere Gedichte, Fleisch) in den Vordergrund. Programmatische Bedeutung hat die Krankheit etwa bei Georg Heym22 und bei Robert Musil. Während für Heym die Krankheit metonymisch auf die verkommene, saturierte und mit tiefster Ablehnung bedachte, ja verfallende, im Grunde würdelose bürgerliche Gesellschaft verweist und seine Texte entsprechend von Kranken, Irren, Krüppeln usw. bevölkert sind, legitimiert Musil in einem frühen Essay »das Unmoralische und Verwerflichste«, »das Unanständige und Kranke« nicht nur als künstlerisch darstellbares Thema, sondern erklärt, dass die Kunst es auch »lieben dürfe«, dass die Kunst mithin fähig ist, vermeintlich Unwürdiges zu würdigen.23 So kann die Figur des Kranken  – übrigens auch bei Heym  – unter vitalistischen Vorzeichen zu einer Quelle unmittelbareren, da unverstellteren und wahrhaftigeren Erlebens werden.24 Dieser Abriss lässt nun deutlich werden, worin Thomas Manns spezifische Akzentuierungen bestehen: Er nimmt ausschließlich die körperliche Krankheit in den Blick, nicht die psychische Krankheit oder das »Andere der Vernunft«.25 Zudem sieht er die Würde gerade in der Krankheit be20  Michael Georg Conrad formuliert als Ziel der naturalistischen Generation, einen »Tempel der Humanität« zu errichten und »das vernünftig verfasste […] Programm einer menschenwürdigen Existenz in unablässiger Arbeit an und um uns [zu] verwirklichen« (Michael Georg Conrad, »Der neue Mensch«, in: ibid., 54–55). 21  Vgl. Ludwig Rubiner, »Aktualismus«, in: ders., Der Mensch in der Mitte, Berlin 1917, 10–13, hier 10: »Der Leib des Menschen ist nur einmalig, aber diese Einmaligkeit ist sein höchster Wert.« 22  Vgl. Georg Heym, »Eine Fratze«, in: Thomas Anz, Michael Stark (Hgg.), Expressionismus. Dokumente und Manifeste zur deutschen Literatur 1910–1920, Stuttgart 1982, 204. In diesem Text beginnt Heym eine Vielzahl von Sätzen mit der eindrücklichen anaphorischen Formulierung »Unsere Krankheit […]«. 23  Robert Musil, »Das Unanständige und Kranke in der Kunst«, in: ibid., 594– 597. 24  Für ausführliche Untersuchungen der Menschenwürde bei Büchner, im Naturalismus sowie im Expressionismus vgl. Graff, Literarische Dimensionen, 152–274. 25  Zum Begriff des »Anderen der Vernunft« vgl. Hartmut Böhme, Gernot Böhme, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt / M. 1983.



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gründet und postuliert sie nicht trotz Krankheit und Kreatürlichkeit. Die Vorstellung der menschlichen Ambivalenz bzw. der menschlichen Doppeloder Mischnatur akzentuiert er neu, indem er zwei konträre Menschenwürdebegriffe  – repräsentiert von zwei Typen, Goethe und Schiller  – umreißt, die zunächst gleichwertig nebeneinander stehen. Schließlich verdient noch ein letzter Punkt Beachtung. Mit beiläufiger Selbstverständlichkeit zieht Thomas Mann, um seinen Rückgriff auf das Konzept der Krankheit philosophisch abzusichern, Nietzsche heran: »War es nicht Nietzsche, der den Menschen ›das kranke Tier‹ genannt hat? Und meinte er nicht damit, daß der Mensch eben nur insofern mehr sei denn Tier, als er krank sei?« (833–834). Manns Deutung ist gerade mit Blick auf Nietzsches Aussagen zur Menschenwürde ernsthaft zu bezweifeln. Tatsächlich ist diese Passage höchst merkwürdig. Zum einen mutet es einigermaßen überraschend an, dass Mann überhaupt positiv auf den Menschenwürdebegriff rekurriert, da doch Nietzsche, einer der wichtigsten Gewährsmänner nicht nur seines essayistischen Werks,26 die Vorstellung gründlichst demontiert hatte. Zum anderen ist Manns Rezeption selektiv, um nicht zu sagen fehlgeleitet. Wenn Nietzsche den Menschen als krankes Tier be­ zeichnet,27 dann impliziert er zunächst, dass er keineswegs die ›Krone der Schöpfung‹ ist, und setzt somit eine klassische, biblisch-christlich grundierte Begründung der Menschenwürde außer Kraft. Zwischen Mensch und Tier besteht, so Nietzsche, kein prinzipieller, hierarchischer Unterschied; trotzdem ist der Mensch auch kein gewöhnliches Tier, sondern, »relativ genommen, das missrathenste Thier, das krankhafteste, das von seinen In­ stinkten am gefährlichste abgeirrte  – freilich, mit alle dem, auch das interessanteste!«.28 Die Qualifikation als krank ist keineswegs eine Auszeichnung, sondern die Feststellung einer Verirrung. Inte­ressant bleibt der 26  Zur Bedeutung Nietzsches für Manns Werk vgl. etwa Thomas Körber, »Thomas Manns lebenslange Nietzsche-Rezeption«, Wirkendes Wort 52.3 (2002), 417–440 und Børge Kristiansen, »Thomas Mann und die Philosophie«, in: Koopmann (Hg.), Thomas Mann-Handbuch, 259–283, hier bes. 260–276. 27  Vgl. z. B. Friedrich Nietzsche, »Die fröhliche Wissenschaft«, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden (KSA), hg. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München / Berlin / New York 1980, hier Bd. 3, 588: Der europäische Mensch sei ein »krankes, kränkliches, krüppelhaftes Thier geworden«, das sich in die Moral »verkleidet«. Vgl. ebenfalls Nietzsche, »Zur Genealogie der Moral« (KSA 5), 367: »Denn der Mensch ist kränker, unsicherer, wechselnder, unfestgestellter als irgend ein Thier sonst, daran ist kein Zweifel, – er ist das kranke Thier: woher kommt das?« 28  Nietzsche, »Der Antichrist« (KSA 6), 180. Zur Bestimmung des Menschen als Tier vgl. Richard Reschika, Nietzsches Bestiarium. Der Mensch  – das wahnwitzige Tier, Stuttgart 2003.

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Mensch trotzdem, etwa als Objekt der Kunst oder der Philosophie: Obwohl er Würde nur als kontingente Eigenschaft gelten lässt, schließt Nietzsche die Möglichkeit einer Neudefinition des Begriffs nicht aus – sofern die tradierte Menschenwürdevorstellung überwunden wird. Zarathustra etwa verkündet, dass der Mensch nicht nur ein »Untergang«, sondern auch ein »Übergang« sei.29 Thomas Mann zitiert nun Nietzsches Schlagwort des Menschen als krankes Tier an, deutet es jedoch um, indem er sich lediglich für die Assoziation des Menschen mit der Krankheit interessiert und eine konträre Wertung vornimmt; den für Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Menschen und seiner Würde zentralen Gedanken der Tierhaftigkeit des Menschen ignoriert er indes vollständig.30 * Auf markante Weise hatte sich Thomas Mann bereits einige Jahre vor Goethe und Tolstoi mit der Menschenwürde auseinandergesetzt: in seiner großangelegten Reflexions- und Legitimationsschrift Betrachtungen eines Unpolitischen aus der Zeit des Ersten Weltkriegs (1918),31 hier im unprätentiös »Einiges über Menschlichkeit« betitelten Kapitel. Die Betrachtungen verdienten eine eigene, ausführliche Untersuchung; für die Zwecke des vorliegenden Beitrags seien lediglich drei Argumentationsstränge umrissen, mit denen Mann seine teilweise scharfen und polemischen Vorbehalte gegen den Menschenwürdebegriff untermauert. 29  Nietzsche, »Also sprach Zarathustra« (KSA 4), 17. – Zur Menschenwürde bei Nietzsche vgl. Stefan Lorenz Sorgner, Menschenwürde nach Nietzsche. Die Geschichte eines Begriffs, Darmstadt 2010 sowie Beatrix Vogel (Hg.), Umwertung der Menschenwürde – Kontroversen mit und nach Nietzsche, Freiburg / München 2014. 30  Dies gilt zumindest für den thematischen Komplex Körper–Krankheit–Menschenwürde. An einigen anderen Stellen spricht Mann das Verhältnis von Mensch und Tier an, allerdings vor der Folie der Dichotomie Natur–Geist. Vgl. etwa Mann, »Goethe und Tolstoi«, 905; hier werden wiederum Goethe und Schiller einander gegenübergestellt: »Man weiß, daß es Goethe war, der mit dem Gedanken, daß ›der Mensch aufs nächste mit den Tieren verwandt‹ sei, Ernst machte auf eine Weise, wie der Wissenschaft bis dahin nicht beigekommen war es zu tun; […] Sympathie mit dem Organischen. Schillers Humanität, sein Menschlichkeitsbegriff, der emanzipatorischer, im Grunde stolz-naturfeindlicher Art war, hätte wenig Gefallen an diesem Gedanken gehabt […]«. 31  Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, hg. u. textkrit. durchges. Hermann Kurzke (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 13.1), Frankfurt / M. 2009. Im Folgenden wird stets diese Ausgabe zitiert. Zitate werden im Text in der Form (B Seitenzahl) belegt. – Zu den Betrachtungen, die auch als Auseinandersetzung mit dem Bruder Heinrich zu lesen sind, vgl. einführend Hermann Kurzke, »Betrachtungen eines Unpolitischen«, in: Koopmann (Hg.), Thomas MannHandbuch, 678–695.



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(a)  Zunächst disqualifiziert Thomas Mann Menschenwürde und Menschlichkeit als »Parole[n]« (B 466), als ausgehöhlte Kampfbegriffe der »rhetorischen Demokratie« (B 484), die zum einen der »moralische[n] Verkitschung der Welt und des Lebens« (B 484) dienen, zum anderen – im konkreten Kontext der politischen und publizistischen Bewertung des Krieges  – das deutsche »Volk tyrannisieren, entehren, besudeln« sollen (B  484). Manns Feindbild ist klar definiert: »[d]er Politiker, der philan­ thropische Revolutionär und Zivilisationsliterat« (B 483), d. h. der Schriftsteller, der mit seinem Werk Anspruch auf politische Relevanz und Ak­ tualität erhebt  – und somit dem Ästheten, dem Dichter gegenübersteht. Doch auch national sind die Fronten klar: Die Kriegsgegner Frankreich und England sind für den Missbrauch und somit letztlich die Entwertung der Begriffe verantwortlich (B 484); in Frankreich, schimpft Thomas Mann, bilde Menschlichkeit einen »Lieblingsgegenstand rhetorischer Stilübungen« (B 490). Dabei stehe sie  – und mit ihr die Menschenwürde  – »als politische Philosophie und demokratisches Prinzip […] auf schwachen Füßen« (B 492). Der Vorwurf, die Menschenwürde drohe als Teil des politischen und sozialen Diskurses missbraucht oder inhaltsleer zu werden, existiert spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, als besonders die Sozialisten sich vermehrt auf sie beriefen.32 Mann begründet seine Ablehnung ähnlich: Wenn sich die Zivilisationsliteraten in das Zeitgeschehen einmischen und der Menschlichkeit das Wort reden, geschehe das auf »demonstrative«, »programmatische«, »reklamehafte« Weise (B 519)  – als vermeintlich ideologische, strategische Kategorie verliert sie für Mann jede Legitimation. Die heftigen Attacken gegen den »Literatengeist« erhalten nun eine aufschlussreiche Präzisierung: Manns Abneigung gründet auch darin, dass sie den Begriff der Menschlichkeit zu einem »Oppositionsprogramm […] gegen die geschichtlichen Ereignisse, gegen den Krieg« erheben (B 493). (b) Tatsächlich verknüpft Mann die Diskussion der Menschenwürde mit einer Apologie des Krieges. Für das »politisch-humanitäre[ ] Oppositionslamento gegen den Krieg« hat er kein Verständnis; auch vor dem Krieg, in Friedenszeiten, habe es – ein eher dünnes Argument – »›menschen­ unwürdige[s]‹ Elend« gegeben (B 518). Doch damit nicht genug: Mit Blick auf den Krieg, so formuliert er provokativ, müsse er sein »persönliches Bekenntnis zur Menschlichkeit« mit einem »sachliche[n] Bekenntnis gegen die Menschlichkeit« verbinden (B 485; Herv. i. O.). Aufgrund kultureller Vorprägungen, d. h. der »humane[n] Bildung«, die er als Deutscher nicht 32  Vgl. dazu etwa Albert Gombert, »Noch einiges über Schlagworte und Redensarten (Schluß)«, Zeitschrift für deutsche Wortforschung 3.4 (1902), 308–336, hier 319.

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zuletzt durch die »große[ ] Literatur« der Weimarer Klassik erhalten habe, sei ihm Menschlichkeit »selbstverständlich« (B 485–486; vgl. 498–499).33 Er empfinde also durchaus Empathie für Opfer des Krieges und das Leid der Soldaten; allerdings sei das kein Grund, den Krieg an sich abzulehnen. Vielmehr dreht Mann den Spieß um: Er referiert den Feldpostbrief eines jungen Soldaten und kommt zu dem Schluss, dass »die Seele des Menschen […] nicht zu entwürdigen ist«, dass sich gar »erst im Leiden« ihre »wahre Kraft und Hoheit« äußert, dass das Kriegserlebnis ein »Rausch« sein kann, »eine über alle Erfahrung des zivilisierten Lebens hinausgehende Steigerung des Lebensgefühls«. Der Krieg verroht den Menschen nicht, nein, er verfeinert das Individuum, das eine »Erhöhung, Steigerung, Veredelung des Menschlichen« erfährt. Aus diesem Grund stellt Mann der durch rhetorischen Missbrauch entwerteten Menschlichkeit die »exzentrische Humanität des Krieges« entgegen (B 500–502). (c) Schließlich kritisiert Mann die Menschenwürde in einem stärker gesellschaftspolitisch akzentuierten Kontext, um seine Skepsis gegenüber Demokratie und Gleichheitspostulat zu legitimieren. Zunächst verteidigt er  – gegen die Menschenwürde  – den Begriff der Ehre.34 Diese jedoch sei gebunden an die »aristokratische Ordnung«, an hierarchisch organisierte Gesellschaften. Im Vergleich mit der »konkreten und persönlichen Ehre«, die durch »freiwillige[ ] und stolze[ ] Unterordnung« entstehe, sei die »demokratische Menschenwürde […] das langweiligste und unlustigste Ding von der Welt«, »abstrakt[ ] und zweifelhaft[ ]« (B 524). Der Menschenwürde eignet in dieser Darstellung keinerlei emanzipatorisches oder progressives Potential, sondern sie wird als Ursache gesellschaftlicher Verfallsund Prekarisierungsprozesse stigmatisiert. Nicht nur habe der Begriff den »Instinkt der vornehmen Dienstbarkeit, der ritterlichen Knechtschaft […] überall gründlich ramponiert«, sondern, durch seine »verhetzende, verdummende und verhäßlichende Macht«, besonders in den Städten »die letzten Reste patriarchalischer Humanität zerstört« (B 525–526). Die Position der Betrachtungen ist eindeutig: Im Sinne der Leitdifferenz deutsch–französisch ist die Menschenwürde den französisch orientierten 33  Vgl. Mann, Betrachtungen, 486–487: Er sei »keineswegs Vernunftdemokrat« oder »Anhänger des Satzes von der ›Gleichheit der Menschen‹«, so Mann; vielmehr rühmt er sich eines »Demokratismus des Herzens«, der in einer unscharfen »unmittelbareren und wärmeren Empfindung« wurzele. Zudem könne ein Dichter, »ein Menschenbildner«, nicht »gleichgültig gegen den Menschen« sein. 34  Zuvor hatte Mann bereits behauptet, die Menschenwürde bleibe von der »Politik«, also auch von der Staatsform »[u]nberührt« (Betrachtungen, 475)  – dies als Spitze gegen Politiker und Intellektuelle, die versichern, Republik und Demokratie seien der Menschenwürde angemessener als z. B. die Monarchie.



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Zivilisationsliteraten zugeordnet und muss allein deshalb schon zur Zielscheibe der Polemik werden.35 Was Mann dem nun aber, gleichsam als deutsche Alternative, entgegensetzt, bleibt einigermaßen diffus: Den ebenfalls attackierten Begriff der Menschlichkeit will er jedenfalls in Anknüpfung an die deutschen Humanitätsdiskurse des 18. und frühen 19. Jahrhunderts als eine allgemeine, vom Individuum tief empfundene, dabei aber nicht die Gleichheit aller Menschen postulierende und einen Krieg auch nicht ausschließende Menschenliebe verstanden wissen. Der Grundimpetus von Goethe und Tolstoi unterscheidet sich dramatisch von jenem der Betrachtungen; entsprechend ist nun auch der Status des Menschenwürdebegriffs ein signifikant anderer. 4. Schiller ist im kollektiven Gedächtnis durchaus als »Kämpfer für Freiheit und Menschenwürde« präsent,36 was wohl vor allem seiner anfänglichen Begeisterung für die Französische Revolution und Dramen wie Die Räuber oder Don Karlos geschuldet ist. Diese gesellschaftlich-politische Perspektive sollte jedoch nicht verdecken, dass die Menschenwürde von zentraler Bedeutung für die großen ästhetischen Schriften Schillers ist und Schiller sie als ästhetische Grundkategorie bestimmt. Der programmatische Ausgangspunkt von Schillers Auseinandersetzung mit der Menschenwürde ist seine wiederholt und mit kultur- und zivilisationskritischem Impetus formulierte Diagnose des menschlichen Würdeverlusts. 1789 apostrophiert er im gleichnamigen Gedicht die Künstler: »Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, / bewahret sie! / Sie sinkt mit euch! Mit euch wird die Gesunkene sich heben!« (NA 1, 213, V.  443–445). Auch in den Briefen Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) spricht Schiller von der »tiefen Entwürdigung« (NA 20, 329) des zeitgenössischen Menschen und der »Menschheit«, die »ihre Würde verloren [hat]« (NA 20, 334). Konkretisiert Schiller in Die Künstler den Würdeverlust als Fehlen der in der Antike auf idealtypische Weise realisierten Harmonie von Erkenntnis und Schönheit, so konzeptualisiert er ihn in den Briefen, auch unter dem Eindruck der pervertierten Revolu35  Diese Zuordnung mag mit Blick auf die zeitgenössische Publizistik naheliegend gewesen sein; aus begriffsgeschichtlicher Perspektive ist sie zumindest zweifelhaft. Der Begriff der Menschenwürde spielt gerade im deutschsprachigen Raum  – auch heute noch – eine exponierte Rolle (vgl. dazu etwa Peter Kunzmann, »Würde – Nuancen und Varianten einer Universalie«, in: Christine Baumbach, Peter Kunzmann [Hgg.], Würde – dignité – godność  – dignity. Die Menschenwürde im internationalen Vergleich, München 2010, 19–40). Grund dafür ist nicht zuletzt die entscheidende Bedeutung Kants für den Menschenwürdediskurs. 36  Vgl. z. B. Benno Kettner-Agahd (Hg.), Friedrich v. Schiller, der Kämpfer für Menschenwürde und Freiheit, Dortmund o. J.

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tion in Frankreich, zum einen als Totalitätsverlust (vgl. NA 20, 322), zum anderen als »Verfall« des Menschen, der sich entweder in seiner tierischen »Verwilderung« oder seiner depravierten »Erschlaffung« manifestiert (NA  20, 319). Schillers Antwort auf diesen anthropologischen Befund ist eine ästhetische: Der Künstler muss »die Richtung zum Guten« (NA 20, 335) vorgeben. Nun ist die Menschenwürde in Schillers Werk ein multidimensionaler Begriff, der zudem nicht frei von Widersprüchen ist.37 Gleichwohl lassen sich drei Stoßrichtungen beschreiben: (a) eine anthropologische; (b) daran anknüpfend, eine poetologische; sowie (c) eine genuin ästhetische. (a)  Schillers gesamtes Werk durchzieht die Vorstellung von der geistigtierischen Doppelnatur des Menschen.38 Was dem Menschen ermöglicht, sich vom Tier (und somit auch von seinen natürlichen Trieben und Notwendigkeiten) abzuheben, ist sein Wille. Der Wille, der »Geschlechts­ charakter des Menschen« (NA 21, 38), ist Grund seiner Personalität, der Grund dafür, dass er »selbst Ursache, und zwar absolut letzte Ursache seiner Zustände« (NA 20, 262) ist. Äußerliches Kennzeichen dieser »Würde« und somit der Überlegenheit der vernünftigen Natur des Menschen über die tierische ist die Beherrschung der unwillkürlichen Bewegungen (NA 20, 297).39 Sie unterscheidet sich von der »Anmuth«, der »Schönheit der Gestalt unter dem Einfluß der Freyheit« (NA 20, 264) und der bloß »architektonischen Schönheit« eines Körpers (NA 20, 262). Aufgrund dieser Würde ist jedes einzelne menschliche Subjekt als Selbstzweck40 zu 37  Zur Menschenwürde in Schillers Werk vgl. Udo Ebert, »Schiller und die Menschenwürde«, in: Klaus Manger, Nikolas Immer (Hgg.), Der ganze Schiller  – Programm ästhetischer Erziehung, Heidelberg 2006, 131–154. Vgl. zudem Graff, Literarische Dimensionen, 68–71 und 104–120 (mit umfangreichen Literaturangaben).  – Die folgenden Bemerkungen beziehen sich v. a. auf Ueber Anmuth und Würde (1793) und Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen (1795). 38  Vgl. bereits die dritte medizinische Dissertation Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (NA 20, 37–75). 39  Die »anthropologische Würde« und die »Würde des Ausdrucks«, so die Bezeichnungen bei Ebert, sind a priori moralisch wertfrei. Erst in einem zweiten Schritt wird die moralische Bewertung einer durch den freien Willen vollbrachten Handlung relevant. Vgl. Ebert, »Schiller und die Menschenwürde«, 136–137. 40  Schillers Überlegungen zum Menschenwürdebegriff sind deutlich geprägt von Kants Würdeverständnis. Dieses beruht auf der Überzeugung, dass der Mensch als Vernunftwesen sich selbst jene Gesetze auferlegen kann, nach denen er autonom sittlich handelt, er deshalb einen absoluten inneren Wert besitzt und von sich selbst und anderen als Selbstzweck zu achten ist. Zur Menschenwürde bei Kant vgl. z. B. Joachim Hruschka, »Die Würde des Menschen bei Kant«, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 88 (2002), 463–480; Dietmar von der Pfordten, »Zur Würde des



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betrachten. Dies betont Schiller besonders im Kontext politischer Überlegungen; Würde versteht er hier als absoluten, unbedingte Achtung erfordernden Wert des Individuums, der durchaus mit politischen und Freiheitsrechten verbunden ist.41 (b) Eine genuin poetologische, genauer: eine dramenpoetische Kategorie ist die »erhabene Würde«.42 Zweck der Tragödie auf der Grundlage des Konzepts des Pathetisch-Erhabenen ist für Schiller die Inszenierung ebendieser erhabenen Würde des Menschen, d. h. der in seiner Vernunft wurzelnden Fähigkeit, sich angesichts sinnlicher Zwänge (Leid, Schmerz, Angst, Emotionen usw.) mit der Kraft seines freien Willens über die sinnliche Natur hinwegzusetzen und seine »moralische Selbstständigkeit« (NA 20, 205) zu demonstrieren. Diese Würde auf der Bühne beispielhaft darzustellen und für den Zuschauer ersichtlich zu machen, ist die Aufgabe des Tragödienhelden, dessen Erhabenheit  – verstanden als Widerstand gegen, als Erheben über sinnliche Zwänge  – den Primat der menschlichen Vernunft, d. h. seiner geistigen Natur, gegenüber dem bloß Sinnlichen, Körperlichen, Kreatürlichen beweist. (c)  Wenn Schiller diagnostiziert, dass der Mensch seine Würde verloren habe, meint er jedoch nicht unbedingt die bisher umrissenen Facetten der Menschenwürde. Vielmehr zielt er auf das ab, was als »ästhetische Würde«43 zu konzeptualisieren ist; diese ästhetische Würde und die Wege, sie (wieder) zu erlangen, bespricht Schiller in seinen Briefen Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen. Hier bestimmt er die »ästhetische Kultur« (NA 20, 377) als Mittel, den festgestellten Totalitätsverlust und die Aufspaltung menschlicher Existenzformen in von ihrer Sinnlichkeit  dominierte »Wilde« und von reiner Vernunft geleitete »Barbar[en]« (NA  20, 318) zu beheben  – und zugleich auch als ›Umweg‹, um zu »wahre[r] politische[r] Freyheit« (NA 20, 311) zu gelangen. Die ästhetische Erfahrung ermöglicht, so Schiller, einen »mittleren Zustand« bzw. eine »mittlere Stimmung« (NA 20, 366 bzw. 375); hier werden, dank des vermittelnden Spieltriebs, die Antagonismen zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, zwischen Stofftrieb und Formtrieb, zwischen Neigung und Pflicht vorübergehend harmonisiert und in ein fruchtbares reziprokes Verhältnis gebracht. Im ästhetischen Moment, im Spiel erfährt Menschen bei Kant«, in: ders., Menschenwürde, Recht und Staat bei Kant, Paderborn 2009, 9–26; Oliver Sensen, Kant on Human Dignity, Berlin et al. 2011. 41  Vgl. v. a. die historische Schrift Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon (1790; NA 17, 414–444, bes. 425). 42  Ebert, »Schiller und die Menschenwürde«, 138–140. 43  Ibid., 147–150.

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sich der Mensch nicht als Doppelwesen, sondern als »ganz« (NA 20, 359),44 als mit sich selbst versöhnt  – und somit als frei, sein gesamtes Potential zu nutzen und sich seiner Würde gemäß zu verwirklichen: Durch die ästhetische Kultur bleibt also der persönliche Werth eines Menschen, oder seine Würde, insofern diese nur von ihm selbst abhängen kann, noch völlig unbestimmt, und es ist weiter nichts erreicht, als daß es ihm nunmehr, von Natur wegen möglich gemacht ist, aus sich selbst zu machen, was er will – daß ihm die Freyheit, zu seyn, was er seyn soll, vollkommen zurückgegeben ist. (NA 20, 377–378)

Hier ist Würde nun also der ästhetisch vermittelte und durchaus utopisch gefärbte Ausgleich zwischen Körper und Geist, zwischen Trieb und Vernunft, als Voraussetzung dafür, überhaupt Mensch im vollen Sinne werden zu können. * Bereits diese kurzen Ausführungen lassen erkennen, dass Schiller die Menschenwürde einerseits als Eigenschaft des Menschen (im Gegensatz zum Tier) bestimmt, sie andererseits aber als Ideal, als »Gestaltungsauftrag«45 beschreibt, und dies wiederum mit zwei ganz unterschiedlichen Akzentuierungen: als erhabene und als ästhetische Würde. Diese doppelte Bestimmung der Menschenwürde spiegelt Schillers von Carsten Zelle so beschriebene »doppelte Ästhetik« des Erhabenen und des Schönen.46 Wie genau sich Schiller das Verhältnis von erhabener und ästhetischer Würde vorstellt, bleibt jedoch recht vage: Menschheitsgeschichtliches Telos ist tendenziell ein Zustand, in dem der Mensch sich nicht mehr als dualistisches Wesen erfährt und moralisch richtig handelt, ohne dass es eine Anstrengung bedeutet, d. h. ohne vernunftgestützt seine sinnliche Natur zu überwinden. Diese Vorstellung erinnert an die Idee der »schönen Seele«, »das Siegel der vollendeten Menschheit«, da in ihr »Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmoniren«. Diese »reifste Frucht [der] Humanität« (NA 20, 287–289) bleibt womöglich aber notwendigerweise Utopie. 44  Zur seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wirkmächtigen Vorstellung des ›ganzen Menschen‹ vgl. Schings (Hg.), Der ganze Mensch sowie Stefan Hermes, Sebastian Kaufmann (Hgg.), Der ganze Mensch – die ganze Menschheit. Völkerkundliche Anthropologie, Literatur und Ästhetik um 1800, Berlin et al. 2014. 45  Wetz unterscheidet zwei Konzeptualisierungen der Menschenwürde: Würde als abstraktes Wesensmerkmal auf der einen, Würde als konkreter Gestaltungsauftrag auf der anderen Seite. Vgl. Illusion Menschenwürde, 15. 46  Vgl. Carsten Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart / Weimar 1995, 147–184.



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* Es sei »a priori gewiß«, so Thomas Mann, dass Goethe Schillers Abhandlung Ueber Anmuth und Würde ablehnen, sie gar als »Affront« gegen sich und den von ihm repräsentierten Menschentypus verstehen musste (855–856). Goethe habe sich an dieser Schrift gestört, weil Schiller allein in der Sinnlichkeit gründende Bewegungen ebenso wenig wie die architektonische Schönheit als Äußerungen vollendeten Menschseins habe gelten lassen. Die Anmut, so Mann, könne in Schillers Deutung »kein der Menschheit würdiger Ausdruck« sein (856). Manns Ansatz ist nun in zweifacher Hinsicht problematisch: Zum einen bezieht er sich, um Goethes Ablehnung der Schillerschen Menschenwürdevorstellung zu begründen, eigentlich fast ausschließlich auf dessen Begriff der Anmut (und eben nicht auf den zweiten Teil  des Begriffspaars, die Würde), den er zum anderen auch noch recht eigenwillig deutet. Dass die Anmut »kein der Menschheit würdiger Ausdruck« sei, behauptet Schiller so nicht  – tatsächlich nähert sich die Anmut sogar eher der später so konzeptualisierten, mit utopischem Anstrich versehenen ästhetischen Würde an –, sondern er formuliert im Konjunktiv (!), dass dem so wäre, wenn die Anmut alleiniger Ausdruck der Sinnlichkeit wäre. Für Schiller ist die Anmut aber stets untrennbar verbunden mit dem Begriff der Freiheit, die wiederum undenkbar ist ohne die Vernunft  – im Fall der Anmut stimmen der freie, vernünftige Wille und die von der Sinnlichkeit induzierte Bewegung überein.47 Mann erwähnt nun ebenfalls Schillers Verbindung von Anmut und Freiheit, interessiert sich aber viel stärker für die daran gekoppelte Unterscheidung von »Talent« (architektonische Schönheit) und »Verdienst« (Anmut) – denn die Einführung dieser, wie er sagt, »sittliche[n]« Dimension sei ein Angriff auf Goethe. Hier erklärt sich nun Manns strategische Verkürzung der Schillerschen Anmut; sie dient, wieder einmal, der Profilierung des Gegensatzes Goethe–Schiller. Goethe nämlich stellt er gleichsam als Verkörperung der angeblich von Schiller geschmähten Anmut vor  – als Apologie der körperlichen Schönheit, des natürlichen Adels, ja des durch »angeborene[ ] Verdienste[ ]« (856; Herv. i O.) legitimierten Aristokraten, aber eben auch der damit verbundenen Sinnlichkeit und Körperlichkeit. 47  Vgl. noch einmal Schillers Definition der Anmut: Diese sei »die Schönheit der Gestalt unter dem Einfluß der Freyheit« (NA 20, 264); sie »liegt […] in der Freyheit der willkührlichen Bewegungen« (NA 20, 297). – Der Begriff der Anmut bleibt aber nicht ohne moralische Implikationen; vgl. dazu Anke Thyen, »Pflicht zwischen Anmut und Würde. Schillers Ästhetisierung der Sittlichkeit und ihre Folgen«, in: Siegfried Däschler-Seiler, Karlheinz Fingerhut (Hgg.), Des Gesetzes Gespenst steht an der Könige Thron, Freiburg i. Br. 2005, 15–37.

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Schillers Begriff der Würde, wie er ihn in seinen ästhetischen Schriften präzisiert, kommentiert Thomas Mann dann gar nicht mehr ausführlich; beide Begriffe (Anmut und Würde) trifft im Endeffekt aber der gleiche  – von Thomas Mann Goethe unterstellte  – Vorwurf: Sie werten den Geist (bei Schiller: die Vernunft) gegenüber der Sinnlichkeit, dem Körper, der Natur exzessiv auf und belegen somit Schillers »idealistische Geistesgehässigkeit gegen die Natur« (856). Wenn er wenig später von der »idealistischen Würde Schillers« spricht, dann verweist er ganz allgemein auf das, was er als die Essenz der Anthropologie Schillers begreift: den absoluten, auch sittlich konnotierten Primat der Vernunft vor der Sinnlichkeit. Mann greift demnach in Goethe und Tolstoi die in Schillers Schriften grundlegende Dichotomie von Sinnlichkeit und Vernunft auf, spitzt sie aber für seine Zwecke zu, insofern sie ihm als Beleg dafür dient, dass Schiller und Goethe nicht nur zwei grundlegend verschiedene Menschentypen repräsentieren, sondern auch grundlegend verschiedene Auffassungen von Menschenwürde vertreten. Die Vorstellung einer Harmonisierung der beiden Pole, des mittleren Zustandes, der ästhetischen Würde  – d.  h. den zweiten grundlegenden Impetus der Ästhetik Schillers – klammert Mann (in Bezug auf Schiller!) geradezu vollständig aus. 5. Doch wie ist nun am Ende von Goethe und Tolstoi das Verhältnis zwischen Natur- und Geistesadel, zwischen Goethe und Schiller? Die zweite Hälfte des Essays diskutiert nicht diese beiden Dichter, sondern die zwei titelgebenden, also zwei Repräsentanten des Naturadels, etwa mit Blick auf ihre pädagogischen Programme oder auf den Vergleich zwischen Deutschland (bzw. Westeuropa) und Russland (bzw. Asien).48 Nun wird der politische Kontext des Textes deutlich: Mann beklagt, in klarer Abgrenzung auch zu früheren eigenen Positionen (z. B. in den Betrachtungen),49 den »anti-liberale[n] Rückschlag« in Europa, die »Abkehr von Demokratie und Parlamentarismus«, den Aufstieg von »Diktatur«, »Terror«, »Faszismus« und Nationalsozialismus (928–932). Deutschland, dem »Volk[ ] der Mitte und der Welt-Bürgerlichkeit« (934) weist er nun eine ›geistespoliti48  Vgl. v. a. das Kapitel »Unterricht« (Mann, »Goethe und Tolstoi«, 912–933). Zur Opposition Osten–Westen vgl. allgemein Bernd Hamacher, »Norden–Süden / Osten–Westen«, in: Andreas Blödorn, Friedhelm Marx (Hgg.), Thomas Mann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2015, 259–261. 49  Heimendahl nennt den Essay das »Zeugnis einer zentralen Neuorientierung«, nicht zuletzt aufgrund einer entscheidenden Verschiebung: Anders als in den Betrachtungen, die nach dem Ort der Kunst zwischen Leben und Geist / Politik fragen, beleuchte Goethe und Tolstoi das Individuum zwischen Natur und Geist. Aus der ästhetischen werde somit eine philosophische Frage (Kritik und Verklärung, 215– 216). Zu Manns politischer Neuorientierung vgl. (durchaus kritisch) auch ibid., 250–276.



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sche‹ (vgl. 935) Aufgabe zu, die Pflicht, seine »großen humanen Überlieferungen mit Macht zu betonen und feierlich zu pflegen« (933)  – nicht zuletzt, um eine politische Annäherung an Frankreich zu ermöglichen.50 Annäherung, Ausgleich, Harmonie  – diese Denkfigur, die er in der Beschäftigung mit Schiller ausgeklammert hatte, prägt das Ende des Textes auch im Hinblick auf den anthropologischen Diskurs. Die Menschenwürde ist hier nur noch implizit Teil  der Argumentation, die ihrerseits aber Vorstellungen aus dem Menschenwürde- und Humanitätsdiskurs des 18. und frühen 19. Jahrhunderts aufgreift. Und auch die »aristokratische Frage« wird wieder virulent, die zunächst zugunsten des Geistes auszufallen scheint. Glück, verstanden als »Harmonie […] mit sich selbst«, sei für die »Söhne[ ] des Geistes« leichter zu erreichen als für die »Naturkinder«; im Gegensatz zum »menschenwürdig-menschenfreundliche[n] Geist« sorge die »indifferent[e]« Natur sogar für »Qual«, »Zweifel und Verwirrung« (870–871).51 In der Folge verschiebt sich jedoch der Bezug des Harmoniebegriffs vom Individuum auf die Menschheit an sich:52 Imaginiert wird eine Annäherung der beiden Typen. Die »Naturkinder«, so Thomas Mann mit Blick auf Goethes Werk, streben nämlich »zum Geiste«, so wie umgekehrt die »Geistessöhne zur Natur« streben (883). Und dies impliziert ein anthropologisches Ideal, eine menschheitsgeschichtliche Zielvorstellung, als Resultat einer Dialektik aus »Vergeistigung« und »Verleiblichung«: »Eine hohe Begegnung von Geist und Natur auf ihrem sehnsuchtsvollen Weg zueinander: Das ist der Mensch« (898). Dass diese Definition des Menschen eine utopische ist, belegt das »letzte[ ] Fragment« (933–936), das mit auratischen Begriffen operiert und nicht ohne Pathos die Vision einer (nicht religiös gedachten) »Erlösung des Menschengeschlechtes« (935) in Aussicht stellt. Ziel der deutschen »Geistespolitik« ist für Thomas Mann nicht weniger als eine »letzte[ ] Zusammenfassung und Harmonie«, die »reine[ ] Idee des Menschen«. Und ebendiese findet sich verwirklicht in der wechselseitigen Annäherung von Geistessöhnen und Naturkindern, in ihrer gegenseitigen Anziehung, die auf »eine höhere Einheit als Ziel der Menschheit« verweist, »welches sie, die in Wahrheit 50  Lehmann spricht von einer »kulturpolitischen Standortbestimmung, in deren Rahmen und Verlauf nach Möglichkeiten einer Rehumanisierung der europäischen Nationen gefragt wird« (Über die Gerechtigkeit, 119). 51  Später führt Mann gar aus, dass »überhaupt geistiges Leben das sinnlich-individuelle an Würde, Schönheit und Großartigkeit übertrifft« (»Goethe und Tolstoi«, 912). 52  Vgl. ibid., 889: Der »idealistische[ ] Individualismus, der deutsch ist«, so Thomas Mann, verlege »die menschliche Vervollkommnung in das Innere des Einzelnen«.

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alles Strebens höchste Trägerin ist, mit ihrem eigenen Namen, mit dem der humanitas belegt« (935). Die Humanität als Telos der Menschheit liegt jedoch noch im »Einst«, und genau diese utopische Dimension erklärt den »ironischen Vorbehalt[ ] angesichts letzter Wertfragen« und somit auch die fast formelhaft wiederholte Weigerung, die aristokratische Frage zu entscheiden: »[W]ir wissen wohl, daß niemand entscheidet, welche der beiden erhabenen Typen berufen ist zum höchstgeliebten Bilde vollendeter Humanität das Beste beizutragen« (936). So weit Thomas Manns Essay – dessen Ende nun gerade vor der Folie des Menschenwürdebegriffs einige abschließende Bemerkungen verdient. Zunächst ist, mit Blick auf Schiller, wie bereits angedeutet, eine klare Akzentverschiebung zu konstatieren: Sind es in dessen Konzept der ästhetischen Würde die beiden Teilnaturen, die gleichsam innerhalb jedes einzelnen Individuums konfligieren, die in einem durch die Kunst herzustellenden mittleren Zustand zu versöhnen, zu harmonisieren sind, so hat Mann gewissermaßen extrapoliert: Nicht mehr von den zwei Naturen des Individuums, sondern von zwei menschlichen Typen ist die Rede, deren Zusammenführung zu einem Idealtypus sich als Kompromiss präsentiert – auch als Kompromiss der beiden Typen Goethe und Schiller und der ihnen zugeschriebenen Menschenwürdebegriffe.53 Zudem, und das ist auffällig, argumentiert Thomas Mann zwar fast durchweg auf der Grundlage von Künstlerbiographien und unter gelegentlichem Verweis auf literarische Werke; die Harmonisierung der beiden Typen konzeptualisiert er aber nicht explizit als Aufgabe der Kunst. Wenn Mann am Ende des Essays, wie ja bereits vom Untertitel angekündigt, den Begriff der Humanität (und nicht die Menschenwürde) ins Zentrum stellt, dann mag das auch daran liegen, dass sein Essay zum großen Teil  Goethe gewidmet ist. Tatsächlich ist dieser Begriff sehr viel eher mit Goethe assoziiert, auch in der Forschung.54 Einschlägig ist er jedoch ebenfalls im Werk des für den spätaufklärerischen anthropologischen Diskurs eminent bedeutenden Johann Gottfried Herder, der damit nicht nur den Status des Menschen zwischen »Angelität« und »Brutalität« bezeichnet,55 sondern auch sein Entwicklungsziel, den »Zweck der Men53  Lehnert, Wessell weisen darauf hin, dass die Vorstellung einer Harmonie des naiven und des sentimentalischen Charakters auch in Schillers Über naive und sentimentalische Dichtung formuliert wird (Nihilismus der Menschenfreundlichkeit, 162). 54  Vgl. einführend Thomas Zabka, »Humanität«, in: Bernd Witte et  al. (Hgg.), Goethe-Handbuch, Bd.  4 / 1, Stuttgart / Weimar 2004, 498–501. 55  Zum Begriff der Humanität bei Herder vgl. Anne Löchte, Johann Gottfried Herder. Kulturtheorie und Humanitätsidee der Ideen, Humanitätsbriefe und Ad-



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schen-Natur«.56 Das Verhältnis zwischen Menschenwürde und Humanität variiert; mal benutzt Herder beide Ausdrücke quasi synonym, mal definiert er die Menschenwürde neben anderen als »Teilbegriff[ ]« der Humanität.57 In Manns Goethe und Tolstoi, so scheint es, ist dieses Verhältnis ganz ähnlich. Jedenfalls, das ist mehr als deutlich geworden, versteht Mann die Menschenwürde nicht als absoluten Wert, weder mit Blick auf das einzelne Subjekt noch in Bezug auf einen gesamtgesellschaftlichen Wertekanon. Lässt man Thomas Manns Ausführungen zur Menschenwürde noch einmal Revue passieren, dann verwundert doch das eklatante Fehlen jedes Hinweises auf die eingangs diskutierte Verbindung von Menschenwürde und Krankheit. Was ist also das Intentum der intrikaten, auch überraschenden Assoziation der beiden Begriffsfelder, wenn sie am Ende vollkommen aus dem Blickfeld verschwindet? Mann verfolgt eine doppelte Strategie: Zum einen dient der Rekurs auf die Menschenwürde und mit ihr verknüpfte Vorstellungen dazu, die beiden menschlichen Grundtypen zu profilieren. Zum anderen aber führt Mann in seiner Verwendung des Menschenwürdebegriffs gleichzeitig eine durchaus provokative Art und Weise vor, über den Menschen nachzudenken  – eine ironische,58 die geprägt ist von der »Politik der freien Hand« (850). Dies lässt nun die Rückgriffe auf Schopenhauer, Nietzsche, Schiller, Goethe und die Gedankenwelt der Weimarer Klassik in neuem Licht erscheinen. Diese fungieren auch als Stichwortgeber, als Reservoir von ­ Theo­remen, die Mann gleichsam in einen gemeinsamen Assoziationsrahmen fasst. Es ist weder sein Ziel, ein philosophisches System oder eine weltanschauliche Position exakt zu rekonstruieren noch solche selbst zu entwerfen. Sinn und Zweck des Essays sind vielmehr die Konfrontation und die Kombination von Welt- und Menschenbildern, die gerade hierdurch ihres Anspruchs auf Exklusivität beraubt werden.

rastea, Würzburg 2005, hier bes. 48–74. Zur Bedeutung des Begriffs für die Literatur bis ca. 1820 vgl. Thomas Berger, Der Humanitätsgedanke in der Literatur der deutschen Spätaufklärung, Heidelberg 2008. 56  Johann Gottfried Herder, »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«, in: ders., Werke in zehn Bänden, hg. Martin Bollacher et  al., Frankfurt / M. 1985–2000, Bd. 6, 630. 57  Herder, »Briefe zu Beförderung der Humanität«, in: ders., Werke, hg. Bollacher, Bd. 7, 147–148. 58  Zum Begriff der Ironie bei Thomas Mann vgl. einführend Jens Ewen, »Ironie«, in: Blödorn, Marx (Hgg.), Thomas Mann-Handbuch, 308–310, sowie Helmut Koopmann, »Humor und Ironie«, in: ders. (Hg.), Thomas Mann-Handbuch, 836–853.

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Die Ironie besteht in Goethe und Tolstoi – und das ist, bei aller sprachlichen Anlehnung, der entscheidende Unterschied zum Weimarer Humanitätsdiskurs  – gerade in der Unterminierung normativer Vorstellungen des Menschlichen, zunächst in Bezug auf die Menschenwürde, die in ihrer Assoziation mit der Krankheit geradezu gegen den Strich gedeutet wird, dann in Bezug auf die dichotomisch angelegten Menschentypen, über deren Rang ganz demonstrativ nichts Definitives gesagt wird. Gerade im oben umrissenen begriffsgeschichtlichen Kontext wird ersichtlich, dass Mann bewusst mit der Konkurrenz nicht nur unterschiedlicher Deutungsmuster, sondern auch mit Infragestellungen der Menschenwürde in der Moderne spielt. Dieses ostentative ›sowohl als auch‹ schließt die idealische Zielvorstellung offenbar nicht per se aus  – wenngleich auch sie stets unter dem ironischen Vorbehalt steht, der das letzte Wort hat. So inszeniert Thomas Manns Auseinandersetzung mit der Menschenwürde in Goethe und Tolstoi exemplarisch die systematische Unterwanderung dichotomischen und normativen Denkens und wirbt stattdessen für gedankliche Toleranz und Flexibilität,59 und dies gleichsam im Experimentierfeld der Geistesgeschichte.60 59  Lehnert, Wessell sprechen zu Recht von einem »kreativen Spiel mit Polaritäten«, von »Ideenpluralismus« (Nihilismus der Menschenfreundlichkeit, 149) und von einem »pluralistischen Humanitätsbegriff« (ibid., 166). 60  1955 – zu Schillers 150. Todestag und 30 Jahre nach der Essayfassung von Goethe und Tolstoi – beschäftigte sich Thomas Mann im Versuch über Schiller ein letztes Mal ausführlich mit dem Dichter (vgl. Thomas Mann, »Versuch über Schiller«, in: ders., Reden und Aufsätze 1 [Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. 9], Frankfurt / M. 1960, 870–951. Die Seitenangaben im Folgenden beziehen sich auf diese Ausgabe). Die Auseinandersetzung mit Leben und Werk Schillers ist nun viel ausführlicher als in Goethe und Tolstoi; gleichwohl nimmt Mann frühere Motive wieder auf. Auch im Versuch porträtiert er Schiller als ›Sohn des Geistes‹, der im Tod der »Schmach der Materie entrückt« (872); Schillers Geist sei gar »die Apotheose der Kunst« (873). Schillers schlechte physische Verfassung, seine Krankheit habe zudem zu »seelischer Verfeinerung« geführt (914) – ebenfalls eine bereits bekannte Denkfigur. Kurz berührt Mann das Menschenbild Schillers, der zwar »Freiheitsideologe[ ]« gewesen sei, mit Blick auf Politik und soziale Probleme aber eine bemerkenswerte »realistische Unverschwärmtheit« zeigen konnte (884), etwa in seinem Distichon Würde des Menschen (NA 1, 278). Manns ironischer Kommentar dazu: »Das ist ja sozialistischer Materialismus, Gott behüte!« (885). Er beleuchtet Schiller im Versuch mit und im Vergleich zu Goethe, übernimmt etwa Goethes Bedauern, dass sich Schiller so intensiv mit Philosophie und Ästhetik beschäftigt habe, und wiederholt Dichotomien aus Goethe und Tolstoi (Spinozist Goethe vs. Kantianer Schiller, Natur vs. Geist, Willensunfreiheit vs. Willensfreiheit, Naivität vs. Sentimentalität). Eine bedeutsame Akzentverschiebung nimmt Mann dann am Ende des Versuchs vor: Unter dem Eindruck der »Regression des Menschlichen« (949) und der intellektuellen wie moralischen »Zerrüttung« (950), die er mit Blick auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts diagnostiziert, stilisiert er Schiller zu einem Kämpfer für die Freiheit und



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die Vervollkommnung des Menschen an sich  – jenseits jedes Nationalismus. In Schiller erkennt er nun einen prototypischen Verfechter des »Gedanke[ns] an die Ehre der Menschheit« und der »Humanität« (949) von eminenter aktueller gesellschaftspolitischer und kultureller Relevanz; das Gedenken an ihn soll, so Mann, der Besinnung der Menschheit auf »ihre Ehre«, ja auf »das Geheimnis ihrer Würde« dienen (949). Kunst und Literatur (gerade der Aufklärung und der Klassik) als Retterinnen der Menschheit nach dem ›Zivilisationsbruch‹, als Retterinnen der verschütteten Menschenwürde – diese Vorstellung ist durchaus typisch für die unmittelbare Nachkriegszeit (vgl. etwa Martin Schulz [Hg.], Humanität und Menschenwürde. Aus Werken unserer großen Dichter und Denker. Mit einem Vorwort u. verbindenden Sätzen von Herbert Eulenberg, Düsseldorf-Kaiserswerth 1946).

Gezeichnete Tiere Transfers und Transformationen von Erzählmustern und Wissensbeständen aus Tierepos und Fabel in Benjamin Renners Fuchs-Comic Le Grand Méchant Renard Von Marion Darilek I. Einleitung: Von der Handschriftenillustration zum Fuchscomic Comic-Adaptationen des Renart-Stoffes nehmen im Bereich des frankophonen literarischen1 Mittelalter-Comics  – neben dem Komplex des Arthurischen und des Heroischen  – eine zentrale Position ein,2 wie die zahlreichen zeichnerischen narrativen Bearbeitungen des Roman de Renart und der Fuchsfigur bereits seit den 1940er Jahren deutlich machen.3 Die Faszination am visuellen Erzählen vom Fuchs reicht jedoch wesentlich weiter zurück und zeigt sich beispielsweise auch in den Illustrationen 1  Literaturcomics sind »Comic-Erzählungen, […] die sich auf ihnen vorangehende literarische Texte beziehen.« Vgl. Monika Schmitz-Emans, »Literatur-Comics zwischen Adaptation und kreativer Transformation«, in: Stephan Ditschke, Katerina Kroucheva u. Daniel Stein (Hgg.), Comics. Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums, Bielefeld 2009, 281–308, hier 283. Die Bezugnahme könne dabei »zwischen ganz offenkundiger Nacherzählung und verdeckter Anspielung« (ebd.) liegen. 2  Eine Unterteilung der schwer zu überblickenden Vielfalt an Mittelaltercomics nach ihrer Intention bieten Alain Corbellari u. Alexander Schwarz, »Moyen Âge et bande dessinée. Bibliographie (œuvres)«, in: dies. (Hgg.), Le Moyen Age par la bande. BD et Moyen Âge, Lausanne 2001, 135–146: 1.) humoristisch / komisch, 2.) ›realistisch‹ (d. h. historisierend), 3.) literarisch, legendär / sagenhaft, fantastisch, heroisch-fantastisch (d. h. stärker von der Literatur als der Geschichte des Mittelalters inspiriert), 4.) Fuchs-Stoff (»avatars de Renart«). 3  Corbellari u. Schwarz, »Moyen Âge et bande dessinée«, 136, fassen die Kategorie »avatars de Renart« in ihrer Systematisierung von Mittelalter-Comics bewusst weit (von der getreuen Adaptation bis zur bloßen Anspielung), um so alle Formen des kulturellen Topos zu erfassen, der auf der Fuchsepik des 12. Jh. basiert.

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mittelalterlicher Handschriften. Das generelle narrative Potenzial des Fuchses als literarischer Tierfigur und seine Attraktivität für die visuelle Narration führen insbesondere zwei Formen der mittelalterlichen FuchsIllustration eindrücklich vor Augen.4 Zum einen handelt es sich dabei um bildliche Darstellungen, die sich an die Beschreibung des Fuchses in der Physiologus-Tradition anlehnen. Indem der hungernde Rotpelz sich totstellt, lockt er Vögel an, die er fängt und frisst, sobald diese sich auf seinem vermeintlichen Kadaver niedergelassen haben.5 Das Bildmotiv der heimtückischen, ja teuflischen6 füchsischen Vogeljagd beschränkt sich jedoch nicht auf Illustrationen von Bestiarien, deren Texte in der Physiologus-Tradition stehen, sondern findet sich ebenso in ganz anderen Kontexten wieder.7 Zum anderen erscheinen Abbildungen, die den Fuchs als Geflügeldieb mit Gänsen, Hähnen oder Hühnern im Maul  – teils auch verfolgt von den empörten Geflügelbesitzern  – zeigen, in narrativer Hinsicht ausgesprochen spannungsreich.8 4  Eine ausführliche Darstellung der mittelalterlichen Fuchs-Ikonographie mit Fokus auf England bietet Kenneth Varty, Reynard, Renart, Reinaert and Other Foxes in Medieval England. The Iconographic Evidence, Amsterdam 1999. Varty führt elf verschiedene Bildtypen an, die sich nicht nur in Handschriften, sondern z. B. auch im Inneren und Äußeren von Kirchenräumen finden, darunter Fuchs und Hahn sowie der diabolische Fuchs des Physiologus. Zu den verschiedenen Typen von FuchsIllustrationen in Handschriftenmarginalien vgl. Lilian M. C. Randall, Images in the Margins of Gothic Manuscripts, Berkeley / Los Angeles 1966, 100–103. 5  Hierbei handelt es sich um ein tatsächlich bei Füchsen beobachtbares Verhalten. Vgl. Varty, Iconographic Evidence, 172–174, der als Beleg Ausschnitte aus einer Tierdokumentation aus den 1960er Jahren anführt. 6  So etwa im Millstätter Physiologus, Str. 110,1: Also tuot der tievil und alle ­irraere, die der Vohe bilde habent zware. Zitiert nach: Der Millstätter Physiologus, Text, Übersetzung, Kommentar von Christian Schröder (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 24), Würzburg 2004. 7  Für zahlreiche Beispiele vgl. Varty, Iconographic Evidence, 171–180. Zum sich totstellenden Fuchs auf Miserikordien und im Roman de Renart vgl. Kenneth Varty, »Playing Dead. The Bestiary Fox on Misericords and in the Roman de Renart«, in: Paul Hardwick (Hg.), The Playful Middle Ages. Meanings of Play and Plays of Mean­ing. Essays in Memory of Elaine C. Block, Turnhout 2010, 233–244. 8  Die Illustration zur Gans in einem Oxforder Bestiarium (zweites Viertel 13. Jh., MS. Bodl. 764, f. 83v) zeigt drei Gänse, die einen Fuchs anfauchen, der eine vierte Gans leblos im Maul hält. Eventuell markiert eine Pflanze zwischen Gänsen und Fuchs eine räumliche Grenze in Form einer Hecke, die jener zuvor erfolgreich unterlaufen hat. Der Gorleston-Psalter (1310–1324, British Library London, Add MS 49622, f. 190v) bildet einen Fuchs mit einer Gans im Maul ab. Diese scheint um Hilfe zu rufen, da neben ihrem geöffneten Schnabel die Interjektion queck zu lesen ist. Für weitere Beispiele vgl. Debra Hassig, Medieval Bestiaries. Text, Image, Ideology, Cambridge 1995, 69 f. Zu Interdependenzen zwischen ikonographischer und



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Worin also liegt der besondere narrative Gehalt dieser beiden Typen von Fuchs-Illustrationen? Im Fall des füchsischen Gänse- oder Hühnerdiebstahls impliziert die Abbildung des Fuchses mit seiner Beute das ­zuvor erfolgte Eindringen des rotbepelzten Wildtiers in den menschen­ gemachten Schutzraum9 für das domestizierte Geflügel und somit, mit Lotman gesprochen, eine Grenzüberschreitung als narratives Ereignis.10 Verfahren der visuellen Narration kommen speziell bei der gedoppelten Illustration des Vögel anlockenden scheintoten Fuchses und dessen anschließendem Beutezug zum Tragen, so z. B. im Rochester-Bestiarium der British Library London (ca. 1230 bis 14. Jh., Royal 12 F XIII, f. 26v). Die Fuchs-Illustration [Abb. 1] ist dort durch einen Rahmen mittig hori-

Abb. 1: Fuchs-Illustration aus dem Rochester-Bestiarium, ca. 1230 bis 14. Jh., südöstliches England, evtl. Rochester. © British Library Board (Royal MS 12 F XIII, f. 26v, Detail).

literarischer Tradition bei der Begegnung von Fuchs und Hahn vgl. Aurélie Barre, »La Rencontre du renard et du coq. Entre image et littérature au Moyen Âge«, in: Claude Lachet u. Guy Lavorel (Hgg.), Les oiseaux. De la réalité à l’imaginaire. Actes du colloque international des 1er, 2 et 3 juin 2005, Lyon 2006, 149–164. Vgl. dazu auch Varty, Iconographic Evidence, 31–54. 9  Vgl. Susanne Schul, »Von eime tiere wilde und vom ›Flamingo-Killer‹. ›Hegemoniale Tierlichkeit‹ im Tierepos und im Zoo-Krimi«, in: Jan Glück, Kathrin Lukaschek u. Michael Waltenberger (Hgg.), Reflexionen des Politischen in der europäischen Tierepik, Berlin / Boston 2016, 60–92, hier 78. Schul betrachtet die Umzäunung des Geflügels als eine Art Schutzversprechen an die innerhalb befindlichen Tiere. 10  Vgl. Juri Lotman, Die Struktur literarischer Texte, übers. Rolf-Dietrich Keil, München 1972, 327.

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zontal geteilt, sodass eine Sequenz von zwei Bildpanels und damit, ausgehend von McClouds weiter Comic-Definition, gleichsam die Minimalversion eines Comics vorliegt.11 Die obere Abbildung zeigt einen Fuchs, der mit nach oben gereckten Gliedmaßen und in den Nacken geworfenem Kopf auf dem Rücken liegt. Im Hintergrund sitzen einige Vögel, wohl weiße und graue Tauben, auf Bäumen, während andere auf den am Boden liegenden Fuchs zufliegen. Auf der unteren Abbildung sind im Hintergrund weiterhin auf Bäumen sitzende weiße Tauben zu erkennen, der Fuchs aber geht nun auf allen Vieren und hält eine graue Taube im Maul.12 Auch ohne zusätzlichen Text oder eine verbale Erzählerstimme stellt der Betrachtende mittels »Induktion«13 einen zeitlichen und kausalen Zusammenhang zwischen den beiden Bildern her: Im oberen Bild stellt der Fuchs sich tot und lockt so Vögel an, von welchen er einen, wie das zweite Bild zeigt, auch erfolgreich erbeutet, während die anderen Vögel auf die Bäume geflüchtet sind. Die Bildsequenz lässt also bereits für sich genommen eine Narration entstehen und ist somit in vollem Sinne narrativ. Beiden Darstellungsweisen bzw. Erzählmustern ist gemein, dass sie den Fuchs als kundigen Grenzgänger und Täuscher präsentieren. Mit dem scheintoten, listigen Fuchs auf Vogeljagd bieten der Physiologus und daran angelehnte Illustrationen gewissermaßen sowohl die Urszene als auch den 11  Vgl. Scott McCloud, Comics richtig lesen, aus dem Amerikanischen v. Heinrich Anders, Hamburg 1994. Aufgrund der teils missverständlichen Begrifflichkeit der deutschen Übersetzung wird, wo dies sinnvoll erscheint, die englische Originalterminologie mit angegeben. Vgl. Scott McCloud, Understanding Comics, New York 1993. Comics seien »zu räumlichen Sequenzen angeordnete, bildliche oder andere Zeichen, die Informationen vermitteln und / oder eine ästhetische Wirkung beim Betrachter erzielen sollen.« (ebd., 17). Hinsichtlich Stil, Qualität und Gegenstand sei diese Definition absolut neutral. Auch die Synthese von Schrift und Bild, eine beliebte Darstellungsform moderner Comics, gehört nicht zu McClouds Definitionskriterien. Vgl. ebd., 29. Entscheidend sei jedoch, dass es sich um eine Sequenz, d. h. eine Abfolge von mindestens zwei Panels handelt. Vgl. ebd., 28. 12  Ausführlich zu den Details der bildlichen wie textlichen Fuchs-Darstellung im Rochester-Bestiarium, die in einigen Punkten von den üblichen Darstellungen abweiche (z. B. verlockender Glanz der füchsischen Augen, verschiedenfarbige Tauben als Beutetiere), was aufgrund der auffallenden Uniformität der Fuchs-Illustrationen bedeutsam erscheine, vgl. Hassig, Bestiaries, 66 f. 13  Zum »Rinnstein« (»gutter«, McCloud, Understanding Comics, u. a. 66) zwischen den Panels, den es für den Comicleser mittels »Induktion« (»closure«, ebd., u. a. 63) zu füllen gilt, vgl. McCloud, Comics, 68–101, hier 75: »Comic-Panels zerlegen Zeit und Raum zu einem abgehackten, stakkatohaften Rhythmus getrennter Augenblicke. Aber die Induktion ermöglicht es uns, diese Augenblicke zu verbinden und gedanklich eine in sich zusammenhängende, geschlossene Wirklichkeit zu konstruieren.«



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Gipfel füchsischer Verstellungskunst, indem der Rotpelz, das eigene Ableben simulierend, die Grenze zwischen Leben und Tod unterläuft. Der Fuchs als Eindringling in den Bauernhof sowie als Geflügeldieb oder -mörder hingegen überschreitet die durch die menschliche Umhegung des Geflügels  – etwa durch einen Zaun, eine Hecke oder eine Stallkonstruktion  – räumlich ganz konkret markierte kulturelle Grenzziehung zwischen Natur und Kultur, zwischen tierlicher14 und menschlicher Sphäre, zwischen Wildnis und Zivilisation.15 Die Faszination am füchsischen Grenzüberschreiter und seiner Täuschungsfertigkeit bildet wohl nicht nur den Ausgangspunkt der europäischen Tierepik des Mittelalters im 12. Jh., die die genannten, auch in der Fabeltradition präsenten, basalen Formen der füchsischen Täuschung und Grenzüberschreitung aufgreift, variiert, erweitert und  – etwa durch den Fuchs-Wolf-Antagonismus oder die Reflexion zeitgenössischer politischer Ordnungen16 mittels der Erzählung vom Hoftag des Löwenkönigs  – in ihrer Komplexität erheblich steigert.17 Die Universalität und Zeitlosigkeit des vulpekulären Grenzgängertums und der damit verbundenen Erzählmuster sowie das besondere Potenzial der Fuchs-Figur zur Reflexion 14  Zum innerhalb der deutschsprachigen (Cultural Literary) Animal Studies inzwischen gebräuchlichen Begriff ›tierlich‹ vgl. Gabriela Kompatscher, Reingard Spannring u. Karin Schachinger (Hgg.), Human-Animal Studies. Eine Einführung für Studierende und Lehrende. Mit Beiträgen von Reinhard Heuberger und Reinhard Margreiter, Münster / New York 2017, 223: »Eine Analogiebildung zu weiblich (vs. weibisch), kindlich (vs. kindisch) etc., um die abwertende Konnotation des Begriffes tierisch zu umgehen.« 15  Generell zur Aushandlung kultureller Ordnungen (z. B. Tier und Mensch, Natur und Kultur, Nutztier und Schädling, Haus- und Wildtier) in und mit Tieren vgl. Roland Borgards, »Hund, Affe, Mensch. Theriotopien bei David Lynch, Paulus Potter und Johann Gottfried Schnabel«, in: Maximilian Bergengruen u. Roland Borgards (Hgg.), Bann der Gewalt. Studien zur Literatur- und Wissensgeschichte, Göttingen 2009, 105–142, hier 110 f. Den Zusammenhang von Tier- und Raumordnung bezeichnet Borgards als »Theriotopie«. 16  Allgemein dazu vgl. Glück, Lukaschek u. Waltenberger, Reflexionen des Politischen. 17  Zur Tierepik als Gattung vgl. Klaus Düwel, Art. »Tierepik«, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. Jan-Dirk Müller, Bd. 3, Berlin / New York 2003, 639–641. Zu qualitativen Unterschieden zwischen Tierepos und Fabel vgl. auch Michael Waltenberger, »Wortgewaltige Wolfsvernichtung. Aspekte des Politischen im lateinischen Ysengrimus (um 1150)«, in: Andreas Höfele u. Beate Kellner (Hgg.), Menschennatur und politische Ordnung, Paderborn 2016, 95–115, hier 97. Waltenberger betont die »konstitutive ontologische Inkonsistenz und semiotische Instabilität der erzählten Welt« im Tierepos, da das Verhältnis von Humanität und Animalität, Natur und Kultur »von Episode zu Episode, von Szene zu Szene, immer wieder neu narrativ justiert« werde.

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kultureller Grenzziehungen dürften auch ein wesentlicher Grund dafür sein, dass der Fuchs-Stoff im breiten Feld der gegenwärtigen Mittelalterrezeption noch immer eine wichtige Rolle spielt. Mit Benjamin Renners Le Grand Méchant Renard18 möchte der vorlie­ gende Beitrag einen Fuchs-Comic aus dem Jahr 2015 in den Blick nehmen, der seinen Ausgang just im Versuch des füchsischen Hühner­ diebstahls nimmt. Allerdings entwirft die Erzählung, indem sie diverse, jahrhundertelang tradierte Erzählmuster und Wissensbestände aus Tierepos und Fabel phantasievoll und originell aufgreift, kombiniert und variiert und zudem auch gegenwärtiges Tierwissen narrativ fruchtbar macht, eine ganz andere Art von füchsischem (Anti-) Helden: einen glücklosen und unbeholfenen Fuchs. Von einer Verortung des Werks im Feld des Fuchs-Comics und einem Handlungsüberblick ausgehend (II.), soll im Einzelnen nach dem Verhältnis von Fuchs und Federvieh (III.), von Wissen und Erzählen (IV.) sowie von Verstellung, Veranlagung und Veränderung (V.) gefragt werden, um so die Transfers und Transformationen von Erzählmustern und Wissensbeständen aus Tierepos und Fabel in Le Grand Méchant Renard unter Berücksichtigung von Verfahren der visuellen Narration offenzulegen. II. Fuchs-Comics und Le Grand Méchant Renard (Der Große Böse Fuchs) Während die verbale Tiererzählung recht frei mit den theriomorphen und anthropomorphen Anteilen ihrer Handlungsträger spielen kann, indem sie durch Unbestimmtheit oder lexikalische Ambiguität im Text Leerstellen entstehen lässt,19 ist die visuelle Tiererzählung bei der Figurendarstellung zu gewissen Festlegungen und Vereindeutigungen gezwungen.20 Der Fuchs18  Benjamin Renner, Le Grand Méchant Renard, Paris 2015. Im Folgenden zitiert im Fließtext mit der Sigle GMR und Seitenangabe. Der französische Comic ist kommerziell höchst erfolgreich und wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Prix jeunesse der Fauve d’Angoulême 2016. Eine Verfilmung kam im Juni 2017 unter dem Titel Le Grand Méchant Renard et autres contes (Regie: Benjamin Renner u. Patrick Imbert) in die französischen Kinos. 19  Generell zu Tieren in Tierfabel und Tierepos vgl. Benjamin Bühler, Zwischen Tier und Mensch. Grenzfiguren des Politischen in der Frühen Neuzeit (Trajekte), München 2013, 141 f.: »Die literarischen Tiere fungieren als Träger moralischer ­Lehren und verkörpern spezifische Charaktere, zugleich aber führen sie stets ihre tierische Natur vor Augen. Diese strukturelle Ambivalenz überträgt sich auf das Verhältnis zum Menschen: Denn die literarischen Tiere sind nicht theriomorph dargestellte Menschen oder anthropomorph dargestellte Tiere, sondern stets beides.«



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Comic 20der Gegenwart schöpft dabei, abhängig von Zielpublikum und Darstellungsintention, ganz unterschiedliche Möglichkeiten der Figurenillustration aus, wovon hier nur einige exemplarisch angeführt seien.21 Die zweibändige Comic-Reihe Le Roman de Renart von Bruno Heitz zeigt deutlich als Tiere zu erkennende Figuren in menschlicher Kleidung, deren Körperbau und Verhalten aber menschliche Anteile aufweisen.22 So bewegen die Tiere sich auf zwei Beinen fort, haben anstelle von Pfoten Hände und Finger, die sie z. B. zur Beutejagd oder auch zum Essen mit Messer und Gabel einsetzen, und die weiblichen Figuren (Füchsin und Wölfin) tragen lange Haare, die sie frisieren oder durch eine Haube verdecken. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Figurendarstellung im dreibändigen, ebenfalls literaturdidaktisch orientierten und an ein Jugend­publikum23 gerichteten Comic Le Roman de Renart von Jean-Marc Mathis und Thierry Martin.24 Umgekehrt verfährt die Roman de Renart-­Adaptation von JeanClaude Forest und Max Cabanes,25 die sich mit ihrer größeren erzählerischen, sprachlichen und zeichnerischen Komplexität26 sowie ihrer drasti20  Zur visuellen Figurengestaltung in den sieben illustrierten Roman de RenartHandschriften vgl. Beatrix Zumbült, »Approaching the Medieval Illustration Cycles of the Fox-Epic as an Art Historian. Problems and Perspectives«, Reinardus XV (2002), 191–204. 21  Für zahlreiche weitere Beispiele insbesondere zu französischen Fuchs-Comics seit den 1940er Jahren vgl. die Bibliographie bei Corbellari u. Schwarz, »Moyen Âge et bande dessinée«, 146. 22  Bruno Heitz, Le Roman de Renart, 2 Bde. (Collection Fétiche, Gallimard Jeunesse), Paris 2007–2008. 23  Nur zwei Comic-Adaptationen des Roman de Renart fänden sich in Sammlungen für Erwachsene; vgl. Corinne Denoyelle, »Le Roman de Renart en bandes dessinées. Des ambiguïtés de l’anthropomorphisme animalier«, in: Alain Corbellari u. Aurélie Reusser-Elzingre (Hgg.), Le Moyen Âge en bulles, Gollion 2014, 165–180, hier 166. Neben der Adaptation von Forest u. Cabanes handle es sich dabei um JeanGérard Imbar (Text) u. Jean-Louis Hubert (Zeichnungen), Le Polar de Renard, 3 Bde., Paris 1979–1984. Denoyelle vermutet, dass der Grund hierfür in der modernen Tendenz  – etwa im Disney-Film  – liege, Tiere einzusetzen, um die Härte der Realität zu kaschieren, während früher Tiere dazu dienten, die Welt in ihrer Unbarmherzigkeit und Grausamkeit darzustellen. Dies führe zu Spannungen zwischen der ursprünglichen Gewalt und Grausamkeit des Roman de Renart und der anthropomorphisierten, an Kinder gerichteten Tierdarstellung in den modernen ComicAdapta­tionen. Vgl. ebd., 179. 24  Jean-Marc Mathis (Text) u. Thierry Martin (Zeichnungen), Le Roman de Re­ nart, 3 Bde. (Delcourt Jeunesse), Paris 2007–2009. 25  Jean-Claude Forest (Text) u. Max Cabanes (Zeichnungen), Le Roman de Re­ nart, Genève 1985, Neuaufl. Paris 2012. 26  Der Comic führt z. B. einen Erzähler als bildlich dargestellte Figur ein, weist zahlreiche Perspektivenwechsel auf, mischt Anklänge an das Altfranzösische mit

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schen Darstellung von Sexualität und Gewalt an ein Erwachsenenpublikum richtet. Dort finden sich menschliche Figuren mit Tiermaske und, im Fall von Fuchs und Wolf, mit tierlichem Schweif.27 Die zeichnerische Darstellung in Benjamin Renners Le Grand Méchant Renard beschreitet ganz andere Wege als die bisher genannten FuchsComics. Während in jenen eine ›klassische‹ Paneleinteilung mit klaren Abgrenzungen zwischen den teils auch mit Linien umrandeten Panels gegeben ist,28 verzichtet Le Grand Méchant Renard ganz auf Linien zur Untergliederung und löst sich von der üblichen rechteckigen Gestaltung der Panels. Die Aufteilung der Seiten ist trotz des Fehlens von Panel­ umrandungen überaus gleichmäßig mit drei Zeilen, die jeweils zwischen ein und drei Panels umfassen. Es dominieren kleinschrittige Panelübergänge von Augenblick zu Augenblick sowie von Handlung zu Handlung.29 Größere räumliche oder zeitliche Sprünge bzw. das räumliche (z. B. Wald, Bauernhof, Innenräume und Außenräume) und zeitliche (z. B. Jahres- und Tageszeiten) Setting der verschiedenen Szenen sind oftmals durch größere, abgerundete und nicht scharf umgrenzte Tableaus markiert.30 Anschließend legt die Erzählung den visuellen Fokus meist ganz auf die handelnden Figuren und stellt diese nicht selten vor weißem Hintergrund frei; lediglich die Farbe des angedeuteten Bodens31 oder ein farbiger Hintergrund halten Ort und Zeit der Handlung visuell präsent.32 Die StrichfühArgot-Ausdrücken und die holzschnittartigen Schwarzweißdarstellungen sind visuell überaus dicht und detailreich gestaltet. 27  Zu den unterschiedlichen Formen der Anthropomorphisierung bei Heitz und Mathis u. Martin sowie in einer weiteren, in der Reihe Astrapi erschienenen Roman de Renart-Adaptation von Jean-Marie Renard vgl. Denoyelle, »Roman de Renart en bandes dessinées«, 171 f. 28  Bei Heitz und Forest u. Cabanes sind die Panels mit Linien voneinander abgegrenzt. Mathis u. Martin verzichten auf Umrandungslinien. Da der Panelhintergrund meist farbig gestaltet ist und ein weißer ›Rinnstein‹ vorhanden ist, ergibt sich dennoch eine klare Aufteilung der Seite in eine Abfolge von rechteckigen, deutlich begrenzten Panels. 29  Vgl. zu den unterschiedlichen Möglichkeiten des Panel-Übergangs McCloud, Comics, 78–82. 30  Diese Tableaus umfassen zumeist ein (z. B. GMR, 24 f.; 31; 36; 40; 50; 63; 126 f.) oder zwei Drittel (z. B. GMR, 3; 35; 86; 99; 140; 151) einer Seite, selten auch eine vollständige Seite (z. B. GMR, 58; 161). 31  Grün für den Wald im Sommer und Herbst, braun für den Wald im Winter, den Fuchsbau und den Bauernhof. 32  Ein gräulicher Hintergrund signalisiert das Eindringen des Fuchses in den Hühnerhof bei Nacht (GMR, 25–31), ein bräunlicher Hintergrund (z. B. GMR, ­32–35; 40) deutet stellenweise den Innenraum des Fuchsbaus an.



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rung ist skizzenhaft und unregelmäßig ohne scharf umrissene Konturen, verbunden mit einer aquarellhaften, zarten Farbgebung mit weichen, fließenden Übergängen. Der verbale Anteil des Comics konzentriert sich auf die Figurenrede, eine verbale Erzählerstimme fehlt nahezu vollständig.33 Die Dialoge sind stilistisch mehrheitlich34 dem konzeptionell mündlichen Nähebereich zuzurechnen.35 Sprechblasen sind nicht vorhanden; Striche signalisieren, wem die jeweilige Äußerung zuzuordnen ist. Auch die grafische Form der Schrift transportiert dabei Bedeutung.36 Die visuelle Figurengestaltung in Le Grand Méchant Renard mit langen, schlaksigen Körpern, platten Füßen, langgezogener Schnauze und großen, hervortretenden Augen erinnert speziell bei Fuchs, Wolf, Hund und Hase an die Cartoon-Figuren Road Runner und Wile E. Coyote37 oder das Faultier Sid aus dem Animationsfilm Ice Age.38 Die Figuren in Tiergestalt sind in der Regel nicht bekleidet, teilweise dienen aber Accessoires wie Schal und Mütze (z. B. GMR, 126 f.), Schlafmütze (GMR, 27–31) 33  Eine verbal markierte Raffung findet sich nur, als der als Huhn verkleidete Fuchs auf dem Bauernhof die ›100 Methoden, einen Fuchs auszunehmen‹, über sich ergehen lassen muss: »99 étapes plus tard …« (GMR, 146). 34  Eine Ausnahme bildet z. B. die formelhafte Behördensprache des Wachhunds, als er ein sofortiges hartes Durchgreifen gegen den Fuchs im Hühnerhof ankündigt: »Je vous promets de m’occuper de ce problème dans les plus brefs délais sous la forme d’une opération coup de poing!« (GMR, 11). 35  Vgl. generell zur Unterscheidung zwischen konzeptioneller und medialer Mündlichkeit und Schriftlichkeit Peter Koch u. Wulf Oesterreicher, Gesprochene Sprache in der Romania. Französisch, Italienisch, Spanisch, 2., aktual. u. erw. Aufl. (Romanistische Arbeitshefte 31), Berlin / New York 2011, 3–19. Zu den Kennzeichen der heutigen französischen Nähesprache vgl. ebd., 154–182. 36  Das Schriftbild gibt z. B. Auskunft über Lautstärke, Intonation, Intensität und Frequenz verbaler Äußerungen. Vgl. z. B. GMR, 33 f.: Im gleichen Maße wie der Fuchs gegenüber dem Wolf immer kleinlauter wird, nimmt auch die Schriftgröße ab. Vgl. GMR, 69 f.: Da die Küken keinen Schlaf finden, piepsen sie laut und anhaltend; der »pwi«-Laut überschreitet eine Seiten- und mehrere Panelgrenzen. Vgl. GMR, 100, Panel 2: Die Küken bestürmen den Fuchs mit ihren Bitten; der vielfach wiederholte Schriftzug »s’il te plaît« füllt den gesamten Panelhintergrund aus. Grundlegend zur Funktion der Schrift als Grafik im Comic vgl. Martin Schüwer, Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur, Trier 2008, 356–365. 37  Die von Chuck Jones entworfenen Figuren sind ab 1949 (Fast and Furry-ous, Regie: Chuck Jones) in Cartoons der Warner Brothers-Produktionen Looney Tunes und Merry Melodies zu sehen. Die knapp 50 Kurzfilme handeln davon, wie der Kojote erfolglos versucht, den Road Runner, einen rasend schnellen Laufvogel, zu erbeuten. 38  Ice Age, Regie: Chris Wedge u. Carlos Saldanha, Drehbuch: Michael Berg u. Michael J. Wilson, USA 2002. Bis 2016 kamen vier Fortsetzungen in die Kinos.

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oder Kaffeetasse (GMR, 36 f.) der Markierung von Jahres- oder Tageszeit. Alle Wald- und Bauernhoftiere sind sprachfähig und die Vierbeiner Fuchs, Wolf, Hund, Hase, Schwein und Dachs bewegen sich durchgängig auf zwei Beinen fort und verfügen über Hände anstelle von Vorderpfoten. Auch die Hühner gebrauchen ihre Flügelspitzen wie Hände. Ähnlich wie im Tierepos sind genuin tierliche (z. B. Beutejagd, Legen und Ausbrüten von Eiern) mit menschlichen Aktivitäten und Institutionen (z. B. Ackerbau, Beamtentum, Schulwesen, Gründung politischer Organisationen, Kindererziehung, Malen und Basteln, Dichten und Singen, Waffen- und Werkzeuggebrauch) verknüpft. Im Unterschied zur Tierepik tragen die Tiere jedoch keine Eigennamen, sodass der Comic in dieser Hinsicht der Fabeltradition nähersteht. Die Handlung von Le Grand Méchant Renard sei kurz umrissen. Als der linkische und erfolglose Fuchs zum wiederholten Mal daran scheitert, im Bauernhof Hühner zu erbeuten (GMR, 8–10), schlägt der Wolf ihm ein Bündnis und eine neue Taktik vor: Statt es mit den ausgewachsenen Hühnern aufzunehmen, solle der Fuchs doch besser deren Eier stehlen und ausbrüten, damit Fuchs und Wolf sich anschließend gemeinsam über die frisch geschlüpften Küken hermachen könnten (GMR, 22 f.). Der füchsische Eierdiebstahl gelingt und bleibt trotz Nachforschungen der Bauernhoftiere Hund, Schwein und Hase (GMR, 41–48) zunächst unaufgeklärt. Nach langer Bebrütung durch den Fuchs, wobei der Wolf sich aus der Affäre zieht (GMR, 32–35), schlüpfen die Küken, halten den Fuchs jedoch für ihre Mutter (GMR, 50 f.). Trotz seiner Überforderung angesichts der laut piepsenden Küken lässt der Fuchs sich auf den Vorschlag des Wolfs ein, die Junghühner vor dem Fressen erst noch etwas größer werden zu lassen und aufzuziehen (GMR, 54–58.). Obwohl dem Fuchs seine neue Mutterrolle widerstrebt und er versucht, seinen Status als emotional distanzierter Beutegreifer zu wahren, entwickelt sich allmählich doch eine gegenseitige affektive Bindung zwischen dem Fuchs und ›seinen‹ Kindern und das Raubtier mutiert zum Muttertier gegenüber seiner Beute (GMR, 114 f.). Als der Wolf schließlich den richtigen Zeitpunkt zum Verzehr der Küken gekommen sieht, verhindert der Fuchs die Tötung der Küken, indem er mit ihnen an den einzigen sicheren Ort flieht, zu dem der Wolf keinen Zutritt hat: den Hühnerhof (GMR, 124–126). Zwischenzeitlich hat die Henne, deren Eier der Fuchs geraubt hat, jedoch  – ernüchtert angesichts der halbherzigen Maßnahmen des Wachhunds gegen den füchsischen Eindringling (GMR, 11 f.; 49; 59–62)  – einen martialischen Verein zur FuchsAusrottung (»club d’extermination des renards«, GMR, 82–85) initiiert. Dies zwingt den Fuchs dazu, sich als Huhn zu verkleiden, um im Hüh-



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nerhof zu überleben (GMR, 135–137). Als die Tarnung des Fuchses aufgedeckt wird und die Henne ihre entführten Kinder wiedererkennt (GMR, 156–158), verhindern die Küken die Bestrafung des Fuchses und die Trennung von ihrer ›zweiten Mutter‹ durch einen Kompromiss (GMR, 178): Der Fuchs wird zum ›Versuchskaninchen‹ (frz. »cobaye«, wörtlich ›Meerschweinchen‹, GMR, 183) des Fuchs-Ausrottungsvereins und erhält im Gegenzug die Erlaubnis, weiterhin ›seine‹ Kinder auf dem Bauernhof zu besuchen (GMR, 179–183). III. Zum Fressen gern: Fuchs und Federvieh Das Erzählmuster des Fuchses als Hühnerdieb bildet in Le Grand Méchant Renard gleichsam den Rahmen der Handlung. Allerdings spielt das Werk dabei, wie nun zu zeigen ist, gekonnt mit der Lesererwartung, indem es in verschiedener Hinsicht eine Variation und Transformation der üblichen Figurenkonstellation und der damit verbundenen Hierarchien vornimmt. Gleich die erste Handlungssequenz setzt den Weg des Fuchses von seinem Bau im Wald zur Hühnerjagd im umzäunten Bauernhof und somit die eingangs genannte lebensweltliche Form der vulpekulären Grenzüberschreitung ins Bild (GMR, 3–5). Zwar gelingt dem Fuchs die Überwindung der Hühnerhofumzäunung,39 doch wird er von Beginn an zur komischen Figur: Als der Fuchs sich unter dem Zaun hindurchgegraben hat, bleibt er mit dem Schwanz zwischen den Zaunlatten hängen. Beim Versuch, sich zu befreien, überrascht ihn der Hofhund, der den erschrockenen und peinlich berührten Rotpelz völlig unbeeindruckt von dessen Drohgebärden vorwarnt, dass er die verursachte Unordnung dieses Mal selbst zu beseitigen habe (GMR, 5 f.); dabei hält der Hund es offenbar nicht für nötig, den Fuchs des Hofes zu verweisen. Auch die anderen Bauernhoftiere, darunter Gänse, Schwein und Hase, begrüßen den Fuchs wie einen 39  Im Roman de Renart oder im Reinhart Fuchs lassen die menschlichen Schutzmaßnahmen wie Zäune, Hecken und Mauern die füchsische Hühnerjagd zumindest stellenweise scheitern oder bringen den Fuchs in Bedrängnis. Zu Beginn der Brunnenepisode des Reinhart Fuchs wird etwa vom Scheitern Reinharts an der Klostermauer beim Versuch, Hühner zu erbeuten, erzählt; vgl. S2, v. 827–830. Zitiert nach: Heinrich der Glîchezâre, Reinhart Fuchs, Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, hg.,  übers. u. erl. Karl-Heinz Göttert (RUB 9819), Stuttgart 1976, bibliogr. erg. Ausg. 2005. Die Ausgabe bietet die Reinhart Fuchs-Fassungen der Heidelberger Handschrift Cpg 341 (Sigle P) sowie die Kasseler Bruchstücke 8° Ms. poet. germ. et ­roman. 1 aus der Murhardschen Bibliothek Kassel (Sigle S: S1 = v.  589–660, S2 = v. 697–980a, S3 = v. 1523–1796, S4 = v. 1831–1902).

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alten Bekannten (GMR, 6). Bei der Henne, die der Fuchs als Beutetier auserkoren hat, wird schließlich endgültig deutlich, dass der Fuchs zwar ein regelmäßiger und lästiger, jedoch nicht ernsthaft gefährlicher Unruhestifter ist.40 Als er es trotz aller Warnungen wagt, den Bürzel der Henne anzubeißen, verfolgt diese ihn zornentbrannt und verprügelt den Fuchs, den sie als rothaarigen Soziopathen (»espèce de sociopathe roux«, GMR, 9) beschimpft, mit einer Zaunlatte (GMR, 8 f.). Der Hund komplettiert die erneute demütigende Niederlage noch, indem er mit gelangweilter Geste einen Besen auf den ohnehin schon am Boden liegenden Beutegreifer fallen lässt (GMR, 9). Nur Hase und Schwein zeigen Mitleid mit dem Rotpelz, da sie bei der Verfolgung der Henne mit ihm mitfiebern (GMR, 8–10), bedauernd kommentieren, dass er wieder kein Hühnerfleisch zu fressen bekommen werde41 und den Gescheiterten, verbunden mit der Ankündigung, dass es nächstes Mal Rote Beete gebe, mit einem vorsorglich bereitgestellten (GMR, 6) Korb Steckrüben versorgen (GMR, 10). Mit diesem an komischen und slapstickhaften Elementen reichen Auftakt sind Ausgangskonstellation, Tonfall und Stil der weiteren Erzählung gesetzt: Protagonist ist entgegen der Tradition von Physiologus, Fabel und Tierepos kein listiger und geschickter, sondern ein unbeholfener und tollpatschiger Fuchs, der selbst der eigenen Beute unterlegen ist und durch sein iteratives Versagen bei der Hühnerjagd zum Objekt der Komik, aber auch des Mitleids wird. Im Vergleich zur basalen Figurenkonstellation des Erzählmusters vom füchsischen Hühnerdiebstahl fehlt in Le Grand Méchant Renard jedoch ein wesentliches Element: der Mensch als narrative Figur42 und damit einhergehend die unmittelbare erzählerische Fruchtbarmachung der Konkurrenz von Fuchs und Mensch um die Hühner als Beute- bzw. Nutztiere sowie die Ambivalenzen der menschlichen Geflü40  Als der Fuchs die in ihrem Stall brütende und dabei lesende Henne mit Droh­ lauten überrascht (»Graouaou!!!«, GMR, 7), reagiert diese in keiner Weise mit Furcht, sondern nur mit Gleichgültigkeit und Verärgerung auf den Eindringling: »Ah non, pas encore!! C’est la troisième fois cette semaine! Ça suffit, maintenant!« (ebd.). 41  Die lexikalische Unterscheidung zwischen dem Huhn als Tier (la poule) und dessen Fleisch (le poulet) im Französischen unterstützt hier zusätzlich die Sympathiesteuerung zugunsten des Fuchses: »Pauvre gars  … Ça sera pas pour cette fois qu’il mangera du poulet!« (GMR, 10). 42  Ein Bauer wird nur vereinzelt explizit in der Figurenrede erwähnt: Bei der Verkleidung des Fuchses als Huhn fragt der Hase den Hund nach Schwimmflossen des Bauern (GMR, 135). Indirekt ist eine menschliche Kontrollinstanz angedeutet, als die Henne ankündigt, selbst den Fuchs fangen zu wollen und der Hund besorgt ist, dass die Schuld für das Verschwinden eines Huhns wieder einmal auf ihn zurückfallen könnte (GMR, 38).



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gelhaltung, wie dies etwa im Tierepos43 oder im Kinderlied Fuchs, du hast die Gans gestohlen44 der Fall ist: Der Mensch zieht Geflügel auf, versorgt es und beschützt es vor Fressfeinden, um schließlich selbst über Eier, Fleisch und Federn und somit über das Leben der Tiere zu verfügen. Der Fuchs, in dessen Beuteschema Hühner und Gänse fallen, wird hierbei zum Dieb oder Mörder kriminalisiert,45 den es gewaltsam auszuschalten gilt. Die grundsätzlichen Ambivalenzen der Aufzucht, Haltung und Nutzung domestizierter Tiere durch den Menschen  – zwischen aufmerksamer Fürsorge und emotionslosem Fleischverzehr  – werden im weiteren Handlungsverlauf von Le Grand Méchant Renard nun aber in potenzierter Form auf die Ebene der tierlichen Figuren transponiert und narrativ funktionalisiert. Die Lösung des Wolfs für sein mit dem Fuchs geteiltes Dilemma, auf absehbare Zeit keine Beute im Hühnerhof zu machen  – der Fuchs aus grundsätzlicher Inkompetenz beim Jagen (GMR, 16–20), der Wolf gehindert durch Waffengewalt (GMR, 22)  – besteht darin, sich durch das Stehlen und Ausbrüten von Eiern gleichsam von der Geflügeljagd auf die Geflügelzucht zu verlegen. Tatsächlich geht die Taktik der Bündnispartner zunächst auf, da es dem Fuchs gelingt, von außen unterstützt durch das ablenkende Geheul des Wolfs,46 bei Nacht im Bauernhof unbemerkt Eier 43  So thematisiert etwa die erste Szene des Reinhart Fuchs die Hühnerverluste eines Bauernpaars durch den Fuchs. Die Schelte seiner Frau veranlasst den Bauern dazu, einin zvn […] vil gut (P, v. 37) anzufertigen, was den Fuchs jedoch nicht daran hindert, in den Hühnerhof einzudringen. Als der Fuchs unter dem lauten Geschrei der Henne Pinte mit dem kundig überlisteten Hahn Scantecler im Maul flieht, nimmt der Bauer die Verfolgung des Fuchses auf (P, v. 134–172). Zur Mensch-TierInteraktion im Reinhart Fuchs unter räumlichen Aspekten vgl.  Julia Weitbrecht, »Feld, Wald und Wiese. Kontaktzonen und Interaktionsräume von Mensch und Tier in der Fabel und im Reinhart Fuchs«, in: Glück, Lukaschek u. Waltenberger (Hgg.), Reflexionen des Politischen, 44–59, hier 52–57. 44  In dem Kinderlied von 1824 wird dem füchsischen Gänsedieb der blutige Tod durch die Schrotflinte des Jägers angedroht, sollte er sein Diebesgut nicht wieder hergeben (Str. 1 und 2). Am Ende des Lieds wird dem Fuchs geraten, sich anstelle von Gänsebraten doch mit einer Maus zu begnügen (Str. 3). Vgl. »Fuchs, du hast die Gans gestohlen«, Text: Ernst Anschütz, Melodie: volkstümlich, in: Friedhilde Trüün u. Andreas Moor (Hgg.), Die schönsten deutschen Kinderlieder, Stuttgart 2011, 112. 45  Zu Interferenzen zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen in diesem Zusammenhang vgl. Schul, »Flamingokiller«, 71–83. Schul geht von der Frage nach tierlicher Agency in den Human-Animal-Studies aus und spricht in diesem Kontext von der Infragestellung »menschliche[r] Dominanz« (ebd., 78) durch den Fuchs, dem es gelinge, »in der menschlich kultivierten Sphäre als tierlicher Akteur Einfluss zu nehmen.« (ebd., 79). 46  Als der Wolf sein Geheul anstimmt, zückt der Wachhund sogleich sein Gewehr (GMR, 28–31).

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zu stehlen (GMR, 25–31). Mit dem Schlüpfen der zarten, fleischigen und wohlschmeckenden (GMR, 54) Küken scheint das ersehnte Ziel erreicht. Der Wunsch des Wolfs, die nur kastaniengroßen Tiere erst noch für einige Monate zu mästen und zur Schlacht- bzw. Fressreife zu bringen (GMR, 54 f.), führt jedoch dazu, dass der Plan letztlich doch noch missglückt, da er nicht einkalkuliert, dass aus der Geflügelmast und -aufzucht eine affektive Bindung zwischen dem Fuchs und den Küken erwachsen könnte. Den Wandel der emotionalen Beziehung des Fuchses zu den Küken, vom heiß begehrten Fleisch zu den heiß geliebten Kindern, zeichnet die Erzählung über verschiedene Etappen nach und nutzt hierfür sowohl Anspielungen auf den menschlichen und tierlichen Fleischverzehr als auch Wortspiele basierend auf lexikalischer Ambiguität oder auf Metaphern. Als der Wolf den Fuchs dazu auffordert, sich das Fressgelage (»gueuleton«, GMR, 23) auszumalen, das sie nach dem Schlüpfen der Küken erwartet, lässt der bloße Gedanke an das Fleisch den Fuchs ohnmächtig werden: »Imaginer tant de viande  … C’est trop d’émotions  …« (GMR, 23). Das hühnergleiche Bebrüten der Eier empfindet der Fuchs als Schande und kostet ihn Überwindung (GMR, 32–35), doch als sich endlich das Schlüpfen der Küken abzeichnet, ist der Fuchs entschlossen, als gnadenlose Bestie zu agieren: »Je suis une bête cruelle et sans pitié, je suis une bête cruelle et sans pitié  …« (GMR, 50). Wild brüllend präsentiert er sich den frisch geschlüpften Küken als ihr schlimmster Alptraum (GMR, 51). Diese Inszenierung wird jedoch sogleich von der unbändigen Liebe der Küken unterminiert, die dem Fuchs ab dem Moment ihres Schlüpfens entgegenschlägt, da sie ihn für ihre Mutter halten, sodass er zur Richtigstellung gezwungen ist: »Je suis pas votre mère! Je suis votre pire cauchemar!« (GMR, 51). Obwohl die Liebe der Küken nicht zu bremsen ist, scheint es anfangs, dass sie gegen die Gefühlskälte der füchsischen Geflügelmast nichts auszurichten vermag: Das Picken bringt der Fuchs den Küken nur widerwillig bei und ermahnt sie, gut zu kauen  – nicht etwa der Bekömmlichkeit wegen, sondern damit sie ordentlich Fett ansetzen: »Et mâchez bien! Il faut faire de la bonne graisse!« (GMR, 58). Schlafen legt der Fuchs die Küken zur Gewöhnung (»C’est pour qu’ils s’habituent…«, GMR, 65) in einem Kochtopf, womit auf den rohen oder gegarten Fleischverzehr als Signum von Humanität oder Animalität angespielt wird.47 Bereits hier 47  Dies thematisiert auch die Brunnenepisode des Roman de Renart, indem der Fuchs ein erbeutetes Huhn roh verspeist, das andere aber mitnimmt, um es zu kochen. Vgl. Roman de Renart, Br. II, v. 137 f. Zitiert nach: Le Roman de Renart, édition bilingue établie, traduite, présentée et annotée par Jean Dufournet et al., 2 Bde.



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beginnt sich jedoch elterliche Sorge in die Geflügelaufzucht zu mischen, da der Fuchs, als die Küken endlich Ruhe geben, darauf besteht, den Deckel zum Kochtopf nochmals zu lüpfen, um sicherzugehen, dass sie nicht erstickt sind und es ihnen gut geht (GMR, 66–69). Obwohl bis in den Herbst hinein (GMR, 86) der Kontrast zwischen dem Bedürfnis der Küken nach elterlicher Zuneigung und der kühlen Zurückweisung des Fuchses dominant bleibt, zeigen die Annäherungsversuche der Küken hin und wieder Wirkung, wenn der Fuchs sich  – noch widerstrebend  – etwa auf kurze Streicheleinheiten einlässt (»On fait un câlin mais rapide, hein?«, GMR, 104) oder den Küken ausnahmsweise (»Et c’est que cette nuit, hein?«, GMR, 107) erlaubt, bei ihm zu schlafen. Auf die besorgte Frage der Küken, ob er sie denn möge (»Tu nous aimes bien, hein?«, GMR, 105), antwortet er, das wisse er nicht, da er sie noch nicht gekostet habe. Das Wortspiel mit der lexikalischen Ambiguität von »aimer bien«, das sowohl im Sinne von ›gerne mögen‹ in Bezug auf den Essensgeschmack als auch auf eine affektive Bindung gebraucht werden kann, antizipiert dabei bereits die Möglichkeit des Kippens vom einen ins andere. Die Umsorgung und Erziehung der Küken u. a. durch Gutenachtgeschichten (GMR, 71 f.), Kinderlieder und Rollenspiele (u. a. GMR, 73 f.; 108–111), Naturerkundungen (GMR, 75–79), Streitschlichtung (GMR, 78 f.) und Kuscheleinheiten (GMR, 104) machen jedoch nicht nur die Küken glücklich (GMR, 104), sondern zeitigen bis zum Winter (GMR, 108) auch beim Fuchs als ewigem sozialem Außenseiter emotionale Wirkung: Der »sociopathe roux« (GMR, 9) ist zu Tränen gerührt, als die Küken ihn als Zeichen ihrer Zuneigung mit selbst gemalten Bildern (GMR, 115), selbst gedichteten Liedern (GMR, 116) oder selbst gepflückten Blumen beschenken: »Il m’a offert des fleurs! C’est la première fois qu’on m’offre des fleurs!« (GMR, 114). Im Unterschied zum Wolf kann und will der Fuchs die liebgewonnenen Küken, als dieser sie nach einem halben Jahr der füchsischen Geflügelaufzucht verschlingen möchte (GMR, 112), nicht mehr fressen. Die Mahnung, keine Gefühlsduselei (»sensiblerie«, GMR, 114 f.) walten zu lassen, kommt zu spät, da der Fuchs die Küken insgeheim längst nur noch ›zum Fressen gern‹ hat  – eine Metapher, mit welcher der als Henne verkleidete Fuchs sich später angesichts der Behauptung der Küken, er wolle alle Küken im Bauernhof verschlingen (»dévorer«, GMR, 154), vor den anderen Hennen verteidigt: »Enfin, c’est une image  … Vous savez comme l’amour d’une mère peut être fort  …« (GMR, 154). Die nüchterne Nutztierhaltung zum Fleischgewinn ist auf (Champion Classiques, Moyen Âge 36 u. 40), Paris 2013–2015. Die Nummerierung der Branchen folgt dieser Ausgabe.

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Seiten des Fuchses in eine Relation liebevoller und selbstloser elterlicher Fürsorge umgeschlagen. Zur Rettung der Küken vor dem gefräßigen Wolf entwickelt der Fuchs eine bis hierhin ungekannte Sprachlist und Täuschungsfertigkeit. Am sofortigen Verzehr der Küken hindert er den Wolf, indem er, die erhöhte Anfälligkeit von Kindern für Magen-Darm-Infektionen ausnutzend, vorgibt, dass sie sich die ganze Nacht übergeben und den Fuchsbau so in eine Art Sumpf (»un vrai marais gastrique«, GMR, 118) verwandelt hätten. Obwohl er die Küken aus Zuneigung zu ihnen verschonen möchte, argumentiert er dem Wolf gegenüber gewitzt mit der Gefahr von verdorbenem Fleisch: »On va pas manger de la viande avariée, quand même!« (GMR, 118). Die Flucht gelingt, da der Fuchs dem Wolf anstelle der Küken unbemerkt einen Korb mit als Küken bemalten Steckrüben unterschiebt (GMR, 124 f.)  – eine nicht nur für den Wolf, sondern durch eine narrative Ellipse auch für den Rezipienten überraschende List, sodass man hier von einer visuellen Form der »vulpekulären Narrativik«48 sprechen könnte: Zu sehen ist, wie der Fuchs mit den vorgeblich erkrankten Küken in seinen Bau flieht, während der Wolf den Eingang zum Fuchsbau belauert. Im Inneren kündigt der Fuchs den Küken an, er habe einen Plan, und beginnt ein Loch zu graben (GMR, 122). Das folgende Panel zeigt wieder den Wolf vor dem Eingang zum Fuchsbau (GMR, 123). In den daran anschließenden Panels ist zu sehen, wie der Fuchs sich mit einem Korb in den Händen, worin sich offenbar die Küken befinden, in Sichtweite des Wolfs wieder aus dem Boden hinausgräbt. Es scheint, dass der Fuchs wieder einmal an seiner Ungeschicklichkeit scheitert und er seinem Feind geradewegs in die Arme läuft (GMR, 123 f.). Dass sich im Korb nicht die vom Wolf ersehnten »boules de viande« (GMR, 125) befinden, sondern ein täuschend echter Fleischersatz, erfährt auch der Rezipient erst, als dieser angewidert in die bemalten Steckrüben beißt: »Pouah! Pouah!« (GMR, 125). Das Erzählmuster des Fuchses als Hühnerdieb wird somit in einem letzten Schritt dahingehend modifiziert, dass der Fuchs nun derjenige ist, der versucht, die Küken im kulturell zivilisierten Schutzraum des Bauernhofs vor ihrem Fressfeind, dem Wolf, zu bewahren. Darüber hinaus greift hier ein weiteres, speziell für das Tierepos zentrales Erzählmuster, nämlich der hinterlistige Bruch des Bündnisses zwischen Fuchs und Wolf durch 48  Michael Schilling schlägt den Terminus einer »füchsischen Erzähltechnik oder auch vulpekulären Narrativik« aufgrund der »Doppelbödigkeiten des Erzählers«, die denselben Grundsätzen folgten wie Reinharts Handeln, zur Beschreibung des  Erzählverfahrens im Reinhart Fuchs vor. Vgl. Michael Schilling: »Vulpekuläre Narrativik. Beobachtungen zum Erzählen im Reinhart Fuchs«, ZfdA 118 (1989), ­108–122, hier 119.



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den Rotpelz.49 Darauf spielt der Text auch ironisch an, indem der Fuchs, als der Wolf eine Täuschung des Fuchses vermutet, antwortet, dies sei nicht seine Art: »C’est pas mon genre  …« (GMR, 124). Die scheinbar widernatürliche füchsische Fürsorge für und die Zuneigung zu den Küken bringt somit die listige und trügerische Natur des tierepischen Fuchses zum Vorschein und der zuvor nicht nur an Körperkraft, sondern auch an Wissen überlegene Wolf ist letztlich, dem tierepischen Muster entsprechend, doch der Düpierte und wird vom Fuchs um seine sicher geglaubte Beute betrogen. IV. Der Große Böse Fuchs: Wissen und Erzählen Wenngleich dem bisher betrachteten füchsischen Geflügeldiebstahl eine zentrale Funktion für Handlung und Struktur von Le Grand Méchant Renard zukommt, ist es  – die Allusion auf den tierepischen Fuchs-WolfAntagonismus deutete dies bereits an – die Kombination unterschiedlicher animalischer Erzählmuster und Wissensbestände, die den besonderen Reiz der Erzählung ausmacht. Das Werk reflektiert dabei, wie nun zu zeigen ist, zum einen seit Jahrhunderten überkommene Bestände von Tierwissen und deren narrative Generierung und Vermittlung, nutzt für die Narration und die Diskussion aktueller gesellschaftlich relevanter Fragen zum anderen aber auch jüngere Erkenntnisse der biologischen Forschung. Der Wolf hat nicht nur bereits seit urgeschichtlicher Zeit die mensch­ liche Imagination angeregt und zahlreiche Formen der kulturellen Repräsentation erfahren,50 sondern stellt auch ein herausragendes Beispiel für die Auswirkungen literarisch bzw. kulturell generierten Tierwissens auf 49  Im Tierepos geht das trügerische Bündnisgesuch zwischen wölfischer Kraft und füchsischer List meist vom Fuchs aus, so etwa im Reinhart Fuchs: wolt ir mich zv gesellen han? / ich bin listic, starc sit ir, / ir mochtet gvten trost han zv mir. / vor ewere kraft vnde von minen listen / konde sich niht gevristen […]. (P, v. 396–400). 50  Allgemein zur Kulturgeschichte des Wolfs in der westlichen Welt vgl. Gary Marvin, Wolf, London 2012, 7 f. Der Wolf stehe in der westlichen Kultur emblematisch für das bedrohliche Wilde. Eine moralisch neutrale Beurteilung des Tiers gebe es nicht, da der Wolf als räuberisch, reißend, gierig, täuschungsvoll, mörderisch und kriminell wahrgenommen werde. Eine neue Wertschätzung des Wilden, die den Wolf als Gewinn für Ökosysteme betrachtet, sei erst in jüngerer Zeit aufgekommen, wenngleich etwa in Bezug auf die Viehhaltung (Schafe) vormalige Ansichten fortbestünden. Vgl. auch Patrick Masius u. Jana Sprenger, »Introduction. Wolves and Humans in History«, in: dies. (Hgg.), A Fairytale in Question. Historical Interactions between Humans and Wolves, Cambridge 2015, 1–18, hier 2. Schon in Höhlenmalereien fänden sich Wolfsdarstellungen. Seither gebe es kultur- und epochenübergreifend Repräsentationen des Wolfs.

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reale Tiere dar.51 Denn die fortwährende Darstellung des Wolfs als räuberische und unersättliche, ja kriminelle und bedrohliche Bestie, deren Wurzeln einerseits in der realen Gefährdung durch den Wolf im Kontext der Haltung von Schafen und Ziegen, andererseits in dessen moralischer Verurteilung in der Bibel liegen,52 hätte nahezu dessen Ausrottung herbeigeführt. Ungeachtet dieses Negativbilds handle es sich bei der Wolfsangst, so Michel Pastoureau, eher um ein Phänomen des Spätmittelalters und der Moderne, was angesichts der Stupidität des Wolfs Ysengrin im lateinischen, französischen und deutschen Tierepos des Mittelalters kaum erstaune.53 Literarisch befeuert wird die Wolfsangst Ende des 17. Jahrhunderts durch Charles Perraults Märchen Le petit Chaperon rouge (Rotkäppchen, 1697), das den Wolf, wie Garry Marvin in seiner Kulturgeschichte des Wolfs herausarbeitet, nicht mehr nur als Schafe reißendes Raubtier, sondern auch als potenziellen Vergewaltiger, als lüsterne Kreatur mit sexuellem Appetit entwirft.54 Während der reale Wolf als »victim of human imagination«55 quasi ausgelöscht wird, lebt der literarische Wolf weiter und wird als »Kinder verschlingendes Ungetüm in Schreck- und Erzie51  Zu »Literatur als Akteur im Leben der Tiere« vgl. Roland Borgards, »Tiere und Literatur«, in: ders. (Hg.), Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2016, 225–244, hier 241. Die Literary Animal Studies tendierten zur Aufhebung der »traditionelle[n] Dichotomie zwischen den realen Tieren der wirklichen Welt und den fiktiven Tieren der Literatur« (ebd.). Rückwirkungen zwischen realen und literarischen Tieren seien in beide Richtungen möglich. Als ein Beispiel nennt Borgards Grimms Rothkäppchen, das »den Wölfen gewiss geschadet« (ebd.) habe. 52  Vgl. z. B. Julia Weitbrecht, »Lupus in fabula. Mensch-Wolf-Relationen und die mittelalterliche Tierfabel«, in: Hans-Jürgen Scheuer u. Ulrike Vedder (Hgg.), Tiere im Text. Exemplarität und Allegorizität literarischer Lebewesen (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik, N. F. 29), Bern u. a. 2015, 23–35, hier 25. Weitbrecht skizziert die Geschichte der Mensch-Wolf-Relation seit der Neolithisierung. Für die antiken Bauern- und Hirtenkulturen sei die ökonomische Gefährdung ihrer Herden durch den Wolf zentral gewesen. Eine religiöse Dimension gewinne die Wolfsgefahr im Christentum, da »das pastorale Mensch-Tier-Verhältnis auf das Kollektiv der Gläubigen übertragen wird« (ebd.). 53  Vgl. Michel Pastoureau, Bestiaires du Moyen Âge, Paris 2011, 72 f. Anders Weitbrecht, »Lupus in fabula«, 25 f., die auch in Bezug auf die antiken Bauern- und Hirtenkulturen sowie die pastorale Metaphorik des Christentums von der Angst vor dem großen bösen Wolf spricht. Marvin, Wolf, 35, betrachtet die Domestizierung von Schaf und Ziege als Wurzel des Mensch-Wolf-Konflikts. Ursprung der Wolfsangst sei die wölfische wie menschliche Grenzüberschreitung: »The fear only begins when wolves come out of the woods or when people venture into them. In either crossing of boundaries there is fear and the potential danger of an encounter« (ebd., 70). 54  Vgl. Marvin, Wolf, 64–70. 55  Ebd., 70.



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hungsmärchen […] zur Disziplinierung der jungen Zuhörer instrumentalisiert […].«56 Ab den 1930er Jahren erlangt die Figur des ›Großen Bösen Wolfs‹ (the Big Bad Wolf bzw. le Grand Méchant Loup) mit der DisneyAnimationsfilmreihe Silly Symphonies große Berühmtheit.57 Dort tritt der Wolf in verschiedenen Episoden in Verbindung mit den drei kleinen Schweinchen auf.58 Musikalisch unterlegt sind die Filme dabei mit dem eigens für den Cartoon komponierten und rasch populär gewordenen Lied der unvorsichtigen Schweinchen Who’s afraid of the Big Bad Wolf? bzw. Qui a peur du Grand Méchant Loup? (Musik: Frank Churchill).59 Auf den Großen Bösen Wolf als Kinderschreck spielt Benjamin Renners Fuchs-Comic zum einen im Titel an, bindet diese Form des Tierwissens zum anderen aber auch in die Erzählung ein. Eine ironische und komische Referenz auf den Großen Bösen Wolf signalisieren schon die grafische Gestalt des Schriftzugs und die Illustration des Titels von Le Grand Méchant Renard [Abb. 2]. Die Irritation darüber, dass der Fuchs und nicht wie zu erwarten der Wolf mit den Eigenschaften ›groß‹ und ›böse‹ belegt wird, ist im Schriftbild grafisch dadurch umgesetzt, dass der Schriftzug Renard in der Breite nur ca. ein Drittel, in der Höhe knapp die Hälfte des Raums der vorangestellten Epitheta grand und méchant einnimmt. Die komische Intention dieses Erwartungsbruchs bestätigt der Blick auf die Titelillustration. Diese zeigt einen erschöpft und resigniert blickenden Fuchs mit herabhängenden Augenlidern und hinter dem Rücken verschränkten Armen, dem drei fröhlich herumspringende und hochzufrieden 56  Werner Bies, Art. »Wolf«, in: Enzyklopädie des Märchens, hg. Rolf Wilhelm Brednich, Bd. 14, Berlin u. a. 2014, Sp. 912–923, hier 917. Zur Transformation dieses Wolfsbilds in der Kinderliteratur der Gegenwart vgl. Debra Mitts-Smith, Picturing the Wolf in Children’s Literature, New York / London 2010, 15–23. 57  Vgl. Waltenberger, »Wolfsvernichtung«, 95: »Film und Song waren sofort ­äußerst erfolgreich und haben sich in der Folge durch unzählige musikalische, literarische und filmische Allusionen dauerhaft dem gesellschaftlichen Imaginären ein­ geprägt.« 58  Three Little Pigs (1933, Regie: Burt Gillett), The Big Bad Wolf (1934, Regie: Burt Gillett), Three Little Wolves (1936, Regie: Dave Hand), The Practical Pig (1939, Regie: Dick Richard). Für detaillierte filmographische Angaben vgl. Russell Merritt u. J. B. Kaufman, Walt Disney’s Silly Symphonies. A Companion to the Classic Cartoon Series, Gemona 2006. 59  Zum Entwurf des Wolfs als Imagination des sozial und politisch Bedrohlichen in diesem Kontext vgl. Waltenberger, »Wolfsvernichtung«, 95 f. Zum Lied der Schweinchen vermutet Waltenberger, dass dieses nicht nur »Symptom ihrer mangelnden Vorsicht« (ebd., 96) sei, sondern es in dem Moment selbst zum »Mittel zur Bewältigung des Bedrohlichen« (ebd.) werde, als es zur Verspottung bei der Wolfsaustreibung wiederholt werde. In dieser Funktion liege möglicherweise auch ein Grund für die Beliebtheit des Lieds in den 1930er Jahren.

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Abb. 2: Titelseite zu Benjamin Renner, Le Grand Méchant Renard. © Editions DELCOURT 2015.

wirkende Küken buchstäblich auf der Nase herumtanzen, was die Ironie des verbalen Titels noch zusätzlich affirmiert.60 Innerhalb der Erzählung wird der Große Böse Wolf als Kinderschreck und als Mittel der erzieherischen Disziplinierung aufgegriffen. Denn der Fuchs versucht, die unaufhörlich piepsenden Küken mit Geschichten vom Großen Bösen Fuchs in Angst und Schrecken zu versetzen und so zum Einschlafen zu bewegen (GMR, 69–72). 60  Die deutsche Ausgabe von Le Grand Méchant Renard behält diese Gestaltung des Titelbilds bei. Vgl. Benjamin Renner, Der Große Böse Fuchs, übers. Benjamin Mildner, Berlin 2017. Ganz anders die englische Ausgabe, die auf den komischen Effekt durch das Schriftbild verzichtet und stattdessen den Fuchs und seine Küken umringt von allen weiteren handelnden Figuren abbildet, wobei insbesondere die grimmig und aggressiv wirkenden Hühner ins Auge fallen. Das ›o‹ von ›Fox‹, dem grafisch am größten dargestellten Begriff, umgibt zudem wie ein Rahmen das Küken, das auf dem Kopf des Fuchses auf und ab springt. Darüber hinaus macht die englische Titelseite die Allusion auf die Silly Symphonies deutlich, indem der Titel zu Who’s afraid of … The Big Bad Fox erweitert wird. Vgl. Benjamin Renner, The Big Bad Fox, übers. Joe Johnson, New York 2017.



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Fuchs: Je vous préviens, si vous continuez  … Le Grand Méchant Renard va venir vous manger!! [Er schreit.] Küken 1: Manger? Küken 2: Méchant renard? Fuchs: Ha ha! Ça vous fait peur, le Grand Méchant Renard? [Die Küken zittern vor Angst.] Eh bien, si vous êtes pas sages, il va vous entendre et il va venir avec ses grands crocs et ses grandes griffes! Il va se glisser tout doucement jusqu’au chaudron  … [Er schleicht geduckt auf den Kochtopf zu, der den Küken als Bett dient.]  …  Et il va vous croquer! Croc! [Er brüllt und springt vor den Küken mit aufgerissenen Augen, erhobenen Händen und weit geöffnetem Maul in die Höhe. Die Küken sind wie erstarrt vor Angst.] (GMR, 71)

Die furchterregende Wirkung (»A peur!«, GMR, 72) der Erzählung, über die der Fuchs noch jubiliert, hält jedoch nicht lange an. Denn die triumphierende Feststellung des Fuchses, dass die Küken nun endlich erkannt hätten, welch schreckenerregendes Geschöpf (»quelle créature terrifiante«, GMR, 72) er sein könne, wird sogleich wieder komisch unterlaufen, als die vor Angst zitternden Küken im Fell ihrer füchsischen ›Mutter‹ Zuflucht vor dem Großen Bösen Fuchs aus der Erzählung suchen: »Maman protège du Grand Méchant Renard!« (GMR, 72). Die an die nächtliche Szene im Fuchsbau anschließende Seite lässt den Eindruck entstehen, dass der Rotpelz nun doch als Großer Böser Fuchs in Erscheinung tritt und im Begriff ist, die Küken zu fressen: Die ersten beiden Panels zeigen die drei unbesorgt im Wald spazierenden und singenden Küken. Im dritten Panel rückt der im Gebüsch versteckte feixende Fuchs in den Blick, der im vierten Panel wild brüllend (»Graou!«, GMR, 73) aus seinem Versteck hervorspringt und im fünften und letzten Panel der Seite die Verfolgung der offenbar erschrockenen Küken aufnimmt: »Hiiii! Le Grand Méchant Renard!« (GMR, 73). Die folgende Seite jedoch löst die zuvor aufgebaute Spannung wieder komisch auf: Erst scheint es, dass der geifernde Fuchs die Küken tatsächlich verschlingt (»Mouhaaaha! Je vais vous dévorer!«, GMR, 74)  – bis die Küken ihn beim Blick in seinen aufgerissenen Schlund auf einen Essensrest zwischen seinen Zähnen hinweisen [Abb. 3]: »Ah zut, ça doit être un bout de navet d’hier soir.« (GMR, 74). Der Fuchs ist also nach wie vor auf Rübendiät, die Verfolgung der Küken nichts als ein Rollenspiel mit dem Fuchs in der Rolle des »renard cruel«61, das sofort nach der Beseitigung des Gemüse61  Die Küken fallen aus ihrer Rolle, indem sie den Fuchs als »Maman« (GMR, 74) ansprechen, und werden dafür sogleich getadelt: »Non, non et non! On a dit pas de ›maman‹ quand je fais le renard cruel!!!« (GMR, 75). Damit wird jedoch zugleich

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Abb. 3: Die Küken weisen den Fuchs auf einen Rübenrest zwischen seinen Zähnen hin. Benjamin Renner, Le Grand Méchant Renard, 74, Panel 4. © Editions DELCOURT 2015.

rests im Fuchsgebiss wieder aufgenommen wird (»Bien, on reprend!«, GMR, 74) und das Ziel verfolgt, aus den Küken ›gute Opfer‹ (»de bonnes victimes«, GMR, 75) zu machen. Das Lied der Küken im Wald  – eine Analogie zum Spottlied Who’s afraid of the Big Bad Wolf? der drei kleinen Schweinchen in den Silly Symphonies  – parodiert dabei auf eine weitere Art den Großen Bösen Wolf als Kinderschreck, da sie eine abgewandelte Version des bekannten französischen Kinderlieds Promenons-nous dans les bois (Loup y es-tu?) singen. Dieses fordert im Original zu einem Waldspaziergang in Abwesenheit des Wolfs auf, da jener die Spaziergänger ansonsten fressen würde.62 Wie schon beim ›Großen Bösen Wolf‹ im Titel und in der Gutenacht­ geschichte zuvor wird auch hier der Wolf durch den Fuchs ersetzt, der sich jedoch abermals als harmlos erweist.

deutlich, dass der »renard cruel« auch für den Fuchs selbst allmählich zur bloßen Rolle wird. 62  »Prom’nons-nous dans les bois / Pendant que le loup y’est pas / Si le loup y’était / Il nous mangerait, / Mais comm’ il y’est pas / Il nous mang’ra pas. / Loup, y’es-tu? / Que fais-tu? / Entends-tu?« Zitiert nach: Les plus belles Chansons de mon enfance (Hachette jeunesse  – Deux coqs d’or), Paris 2010, 11. Auf die Fragen antwortet der Wolf nach jeder Wiederholung, dass er ein anderes Kleidungsstück (Jacke Hose, Stiefel, Brille, Hut etc.) anlege, bis er ankündigt: »Je prends mon fusil. J’arrive.«, worauf alle »Sauvons-nous!« antworten.



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Die Schauergeschichten zeigen dennoch Wirkung, denn tatsächlich fürchten die Küken sich vor dem Großen Bösen Fuchs  – wenn auch anders als vom Fuchs intendiert. So stellen die Küken nicht die Verbindung zwischen dem bedrohlichen Fuchs aus Geschichte und Lied und dem Fuchs als ihrer ›Mutter‹ her, den sie ja sogar um Schutz vor dem Großen Bösen Fuchs bitten (GMR, 72). Vielmehr identifizieren sie das einzige ihnen bekannte furchterregende Wesen mit dem ›großen bösen Fuchs‹: den Wolf (GMR, 89).63 Thematisiert wird somit der Unterschied zwischen dem Fuchs als Literaturtier in Gutenachtgeschichte und Kinderlied und als realem Tier im Erzähluniversum von Le Grand Méchant Renard und damit verbunden auf einer Metaebene die kulturelle und speziell narrative Generierung von Tierwissen. Der Wolf in Le Grand Méchant Renard ist jedoch nicht nur Projek­ tionsfläche und Produkt von Tierwissensbeständen, sondern tritt auch  – entgegen der Einfalt der tierepischen, vom Fuchs immer wieder kundig hinters Licht geführten Wolfsfigur64 – gegenüber dem ahnungslosen Fuchs als Wissender in Erscheinung. So macht der Wolf den Fuchs zuallererst auf die Notwendigkeit aufmerksam, die gestohlenen Eier zu bebrüten, damit die Küken schlüpfen. Die freudige Erwartungshaltung und der Eifer des Fuchses weichen im Dialog mit dem Wolf, auch hinsichtlich der Körperhaltung, jedoch bald völliger Ernüchterung, als ihm klar wird, dass er die Eier »comme une poule« (GMR, 32) ausbrüten muss: »Mais c’est la honte  …« (GMR, 32). Dass es sich beim Brüten und der Brutpflege nicht nur um ein nicht raubtierhaftes, sondern auch um ein traditionellerweise nicht männliches Verhalten handelt, was sich auch in Redewendungen zeigt, die Henne bzw. Glucke mit (überfürsorglicher) Mütterlichkeit

63  Nicht nur die Körpergröße (GMR, 89), sondern auch die Stimme (»une voix grave et ténébreuse«, GMR, 88) macht den Wolf für die Küken zur »bête terrifiante« (ebd.). Die Stimme des Fuchses bezeichnen sie hingegen als näselnd, dünn, zittrig, flehend und klagend und vergleichen sie mit einer Ziege im Todeskampf (ebd.), was die jämmerliche Erscheinung des Fuchses noch um eine akustische Komponente ergänzt. Möglicherweise handelt es sich dabei auch um eine Anspielung auf Jean de La Fontaines Fabel Le Loup, la chèvre et le chevreau oder das Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein der Brüder Grimm, wo der Wolf seine raue Stimme verstellt, um die Geißlein zu täuschen. 64  Besonders eindrücklich etwa in der Brunnenszene des Roman de Renart und des Reinhart Fuchs. Der in einem Brunnenschacht gefangene Fuchs befreit sich aus seiner Notlage, indem er für den in den Brunnen blickenden Wolf ein auf dessen Begierden zugeschnittenes Schlaraffenland am Brunnengrund imaginiert, und belehrt ihn über den Zugang zum Paradies. Vgl. Roman de Renart, Br. II, v. 257–276 und 296–321 sowie S2, v. 823–958.

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assoziieren,65 wird nicht explizit thematisiert, dürfte aber auch eine Rolle spielen. Mit dem insbesondere durch Konrad Lorenz ab den 1930er Jahren bekannt gewordenen Phänomen der Nachfolgeprägung66 kommt ab dem Moment des Schlüpfens der Küken darüber hinaus eine speziellere Form des Tierwissens vom Huhn ins Spiel. Auch hier ist es der Wolf, der den unwissenden, über das Verhalten der Küken erstaunten Fuchs aufklärt:67 »À la sortie de l’œuf, le poussin considère la première personne qu’il voit comme sa mère.« (GMR, 53 [Abb. 4]). Die relativ junge soziobiologische Erkenntnis der Nachfolgeprägung, die sich innerhalb der Erzählung in Form der anhaltenden Zuneigung der Küken zum Fuchs manifestiert, den sie als ihre Mutter betrachten (GMR, 51), bildet gleichsam den Ausgangspunkt der gesamten weiteren Erzählung. Das Verhalten der Küken und deren Erziehung ab dem Moment der Prägung auf den Fuchs sind jedoch deutlich anthropomorphisiert und der menschlichen Kindererziehung angeglichen. Denn eigentlich handelt es sich bei Hühnern aus biologischer Sicht um Nestflüchter, die sich sofort selbst mit Nahrung versorgen können, wobei die Brutpflege sich im Wesentlichen auf das anfängliche Wärmen der Jungtiere sowie auf den Schutz vor Fressfeinden durch die Eltern beschränkt. Hier jedoch lernen die Küken etwa das Picken und die Nahrungssuche durch Nachahmung bzw. durch Lernen am Modell auf spezifisch menschliche Weise (GMR, 57 f.). 65  Im Französischen bezeichnet ›mère poule‹ bzw. ›père poule‹ Mütter bzw. Väter, die ihre Kinder in besonderer Weise behüten oder beschützen. ›Glucke‹ meint im Deutschen eine Mutter, die ihren Kindern übermäßige Fürsorge und Behütung entgegenbringt. Ein männliches Äquivalent existiert im Deutschen ebenso wie beim anderen Extrem, der ihre Mutterpflichten vernachlässigenden ›Rabenmutter‹ nicht. Gesellschaftliche Differenzen zwischen Deutschland und Frankreich in Bezug auf Mutter- bzw. Elternschaft und damit verbundene Erwartungen werden so auch sprachlich deutlich. 66  Berühmt sind insbesondere Lorenz’ Studien zu Gänsen. In einer sensiblen Phase kurz nach dem Schlüpfen bauen die Tiere innerhalb kürzester Zeit eine dauerhafte Beziehung zu Lebewesen oder Objekten in ihrer Umgebung auf, sofern diese sich bewegen und Laute von sich geben, unabhängig davon, ob es sich dabei um die Mutter oder einen Angehörigen der eigenen Spezies handelt oder nicht. Vgl. zu Lorenz’ Theorie und seiner problematischen Verbindung zur NS-Ideologie z. B. Alfons Schnase, Evolutionäre Erkenntnistheorie und biologische Kulturtheorie. Konrad Lorenz unter Ideologieverdacht (Epistemata 380), Würzburg 2005, knapp zusammenfassend zur Prägung vgl. 25 f. Zum Konzept der Prägung im Kontext von Lorenz’ Schriften vgl. auch Richard W. Burkhardt, Jr., Patterns of Behavior. Konrad Lorenz, Niko Tinbergen, and the Founding of Ethology, Chicago 2005, u. a. 167 f. 67  Der Fuchs flieht vor den zudringlichen Küken aus seinem Bau (GMR, 52) und sucht Rat für dieses unerklärliche Verhalten beim Wolf: »Pourtant, j’étais terrifiant! Je comprends pas ce qui s’est passé!« (GMR, 53).



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Abb. 4: Der Wolf belehrt den Fuchs über das Phänomen der Nachfolgeprägung. Benjamin Renner, Le Grand Méchant Renard, 53, Panel 4. © Editions DELCOURT 2015.

Den Höhepunkt der anthropomorphisierten Küken-Erziehung stellt schließlich die institutionelle Beschulung der Jungvögel im Bauernhof dar (GMR, 140). Le Grand Méchant Renard zielt dabei zum einen auf komische Effekte ab, wenn etwa der bis zur völligen Erschöpfung brütende Fuchs von Spinnen eingewoben wird (GMR, 50) oder die Küken gegenüber ihrer Mutter ein typisch kindliches Verhalten zeigen, wie z. B. intensive Fragen nach Naturphänomenen wie Herbstlaub (GMR, 77–79), Diskussionen über das Essen und Futterneid unter Geschwistern (GMR, 76–78) oder Schulunlust (GMR, 141). Zum anderen nutzt das Werk das Tierwissen von der Nachfolgeprägung aber auch, um Fragen der Geschlechterkonstellation im Allgemeinen sowie unterschiedliche Familienmodelle im Speziellen zu diskutieren. So spielt der Comic sowohl beim Brüten als auch bei der späteren Brutpflege auf ein konservatives menschliches Familienbild an, wonach die Verantwortung für Pflege und Erziehung der Kinder ganz bei der Mutter liegt. Denn der Wolf beschränkt sein Engagement beim Umgang mit den Eiern wie auch mit den geschlüpften Küken auf gute Ratschläge (GMR, 55–57), sodass der Fuchs wie ein Elternteil wirkt, bei dem der Partner keinerlei aktive Verantwortung für den gemeinsamen Nachwuchs übernimmt: »C’est moi qui m’occupe de tout depuis le début! […] On les voulait ensemble, ces poussins!« (GMR, 57).

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V. Vom Wolf im Schafspelz zum Fuchs im Federkleid: Verstellung, Veranlagung, Veränderung Das sowohl für die Physiologus-Tradition als auch für die mittelalter­ liche Tierepik zentrale Moment der füchsischen Fähigkeit, sich zu verstellen oder zu verkleiden, kommt in Le Grand Méchant Renard zum Tragen, als der Rotpelz mit seinen lieb gewonnenen Küken im Bauernhof Zuflucht vor dem Wolf sucht. Dabei kombiniert das Werk die generelle Täuschungsfertigkeit des Fuchses mit diversen tierlichen Verfahren der Verstellung und Verkleidung, die zu unterschiedlichen Zwecken und bei verschiedenen Tieren auch in Bibel, Fabel und Tierepos zur Anwendung kommen. Damit einher geht sowohl in den animalischen Prätexten der verschiedenen diskursiven Felder als auch im Fuchscomic der Gegenwart die Frage nach dem Wesen, nach der Natur der einzelnen Tiere und nach deren Konstanz oder Variabilität. Neue Antworten auf die altbekannten Fragen findet ­Le  Grand Méchant Renard dabei, wie zu zeigen ist, im Entwurf tierlicher Identität, artspezifischen Verhaltens und von Spezieszugehörigkeit als sozio­kulturellem Konstrukt und als performativer Kategorie. Unterstützt von Hase und Schwein verwandelt der Fuchs sich mithilfe von gelben Taucherflossen als Füßen, einem Federkissen als Gefieder, einem roten Gummihandschuh als Kamm und einem Besen als Schwanz in ein Huhn (GMR, 135–137), um auf diese Weise getarnt trotz des Fuchsausrottungsvereins mitsamt seinen Küken im Hühnerhof zu überleben. Zwar wundern der Hofhund und die Henne sich über die überdimensionale Größe der Fuchs-Henne, erklären sich die Sonderbarkeit jedoch durch genmanipuliertes Futter68 oder Radioaktivität (»du côté de Tchernobyl«, GMR, 139 [Abb. 5]), sodass die Täuschung gelingt.69 Wo also ist diese Form der Verstellung und des tierlichen Identitätswechsels innerhalb der diversen Tierwissensbestände und Erzählmuster zu verorten? Während der Fuchs sich in der mittelalterlichen Tierepik durch verschiedene Attribute und Accessoires unterschiedliche, besonders vertrauenswürdige menschliche Identitäten zulegt, indem er sich z. B. mithilfe eines Mantels und Stabs als Pilger oder mithilfe von Gewürzbüchsen als Arzt verkleidet,70 dienen hier menschliche, moderne Alltagsgegenstände 68  Vgl. GMR, 137: »Élevée aux OGM, alors …« Das Akronym steht für organismes génétiquement modifiés. 69  Die Bedingungen der modernen industriellen, von der traditionellen bäuerlichen stark unterschiedenen Geflügelhaltung scheinen in Le Grand Méchant Renard wie hier nur stellenweise in Form episodenhafter Komik auf und werden für die Handlung narrativ nicht weiter funktionalisiert. 70  So im Reinhart Fuchs (P, v. 1813–1830).



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Abb. 5: Die Henne erklärt sich die Statur der Fuchs-Henne durch den Einfluss von Radioaktivität. Benjamin Renner, Le Grand Méchant Renard, 139, Panel 2. © Editions DELCOURT 2015.

dazu, dem Fuchs eine andere animalische Identität zu verschaffen: Der Beutegreifer gleicht nun den eigenen Beutetieren, den Hühnern. Aufgrund der Verkehrung der Kräfteverhältnisse zwischen Fuchs und Hennen in Le Grand Méchant Renard weisen Art und Zweck der Verstellung dabei in zweierlei Richtungen. Zum einen ist, passend zur wiederholten Allusion auf den Großen Bösen Wolf, an den biblischen Wolf im Schafspelz71 zu denken, da mit dem Fuchs im Federkleid bzw. -kissen72 dasselbe Muster eines Karnivoren, der sich mimetisch der eigenen Beute angleicht, greift. Zum anderen kommt hier, da der Fuchs den Hühnern effektiv unterlegen ist, ein in der Fabeltradition verbreitetes Muster ins Spiel: das Anlegen fremder Felle oder Federn, um einen Zugewinn an Kraft73 oder Schön71  Vgl. die Warnung Jesu vor falschen Propheten in Mt 7,15: »Seht euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe« (Übersetzung: Lutherbibel 2017). 72  Hierin lässt sich zugleich eine Anspielung auf die Ambivalenz menschlicher Geflügelhaltung erkennen, da das Federkissen das vorhergehende Rupfen von Geflügel impliziert. 73  So etwa in der äsopischen Fabel »Der Esel im Löwenfell« (Babrios, 139). Durch seine Verkleidung versetzt der Esel Menschen wie Tiere in Angst und Schrecken, bis ihn ein Windstoß enttarnt und er mit Knüppelschlägen zurechtgewiesen wird: »Ein Esel bist du! Mach drum nicht den Löwen nach!« Zitiert nach: Antike Fabeln in einem Band, hg. Johannes Irmscher, Berlin / Weimar 1987, 314.

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heit74 zu simulieren. Wie auch in den Fabel-Prätexten wird die Tarnung des Fuchses schließlich durch Zufall aufgedeckt75 und die Mutter der Küken, zugleich die Anführerin des Fuchsausrottungsvereins, identifiziert den Rotpelz als Eierdieb (GMR, 156 f.). Ein wesentlicher Unterschied zum tierepischen Fuchs, dessen trügerische Natur trotz seiner vertrauenerweckenden Verkleidung anhält, zum biblischen Wolf, der unter dem Schaffell nach wie vor eine reißende Bestie ist und zu den Fabeltieren, die nur dem äußeren Schein nach kraftvoll oder schön sind,76 besteht darin, dass der Fuchs in Le Grand Méchant Renard tatsächlich eine Wandlung durchläuft: Zwar ist er der Körpergestalt nach noch immer Fuchs und Beutegreifer, doch haben das Ausbrüten, das Umsorgen und die Erziehung der Küken ihn dem Verhalten nach wirklich zur ›mère poule‹, zur ihre Küken liebenden, umsorgenden und beschützenden Glucke77 werden lassen, wie er den Küken nach seiner Enttarnung gesteht: »Je voulais vous dévorer tel un Grand Méchant Re­ nard, cruel et brave  … Mais je vous aimais trop  … J’ai pas pu vous manger … Je suis juste un Vilain Petit Renard, stupide et faible.« (GMR, 177). Während speziell die Fabeln vom Esel in der Löwenhaut und von der Krähe im Pfauenkleid das anmaßende Verhalten der Tiere verbal, körperlich und sozial sanktionieren und so den Status quo ante affirmieren, ist es eben jener, auf der gegenseitigen Zuneigung zwischen dem Fuchs und 74  Um das geradezu sprichwörtliche ›Schmücken mit fremden Federn‹ geht es in der äsopischen Fabel »Die hochmütige Krähe und der Pfau« (Phaedrus, I 3). Aus Stolz schmückt die Krähe sich mit verlorenen Federn des Pfaus und verachtet die eigenen Artgenossen, indem sie sich zu den Pfauen gesellt. Diese jedoch erkennen in ihr eine Hochstaplerin, reißen ihr die falschen Federn aus und jagen sie mit ihren Schnäbeln davon. Zurück bei der Krähenschar tadelt man die Krähe dafür, dass sie sich nicht mit dem Naturgegebenen begnügt habe, weshalb sie nicht nur in Schande geraten sei, sondern auch von ihren Artgenossen verstoßen werde. Vgl. Antike Fabeln, hg. Irmscher, 167. 75  Bei einer wegen der aggressiven Fuchs-Küken einberufenen Elternversammlung muss der unter Heuschnupfen leidende Fuchs niesen. Dabei verliert er Kamm und Schnabel und entblößt seine wahre Identität (GMR, 156). 76  Die Tierepik zeichnet laut Düwel, »Tierepik«, 639, (in Anlehnung an Lessings »Bestandheit der Charaktere«) eine »feste Typik der Figuren« aus; so etwa der schlaue und listige Fuchs und der dumme und gefräßige Wolf. 77  Bezeichnend erscheint hierbei der Vorwurf der Küken, dass der Fuchs seit der Ankunft im Bauernhof zur »chochotte« (GMR, 149) mutiert sei und Angst vor allem – Wald, Wolf und Hühnern – habe. Zum einen kann damit ein affektiertes, geziertes Verhalten gemeint sein, zum anderen handelt es sich bei »chochotte« als Variante von »cocotte« in Kindersprache aber auch um eine Bezeichnung für das Huhn. Vgl. auch GMR, 172. Dort spricht der Wolf die kampfeslustige Henne, bevor er ihre Bedrohlichkeit erkennt, abwertend als »cocotte« an.



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seinen Küken beruhende Gesinnungs- und Verhaltenswandel des Fuchses, der ihm das Leben rettet. Denn die drei Küken stellen sich schützend vor den Fuchs, als die Henne im Begriff ist, ihn mit der Keule zu traktieren (GMR, 177 f.). Der Kompromiss, der es dem Fuchs erlaubt, ›seine‹ Kinder auch weiterhin im Bauernhof zu besuchen,  – eine gewitzte Parodie auf Vereinbarungen zum geteilten Sorgerecht getrennter Eltern und eine unaufgeregte Thematisierung neuer Familienmodelle wie Patchwork- oder Regenbogenfamilien78  – besteht schließlich gleichsam in der Professionalisierung der füchsischen Opferrolle (GMR, 182), indem er sich als Versuchskaninchen des Fuchsausrottungsvereins zur Verfügung stellt. Als letzter Rest genuin ›füchsischen‹ Verhaltens bleibt dabei nur noch die Überwindung der Umzäunung des Bauernhofs erhalten (GMR, 179).79 Trotz der in dieser Funktion zu erduldenden physischen Gewalt80 wirkt der Fuchs nicht nur beim Zusammensein mit seinen innig geliebten Küken erschöpft, aber glücklich,81 sondern scheint schließlich auch Gefallen an seinen neuen ›beruflichen‹ Verpflichtungen zu finden, da die letzten beiden

78  Als Fuchs und Henne die Küken gemeinsam von der Schule abholen, begrüßen die Küken ihre beiden Mütter freudestrahlend als »Mamans!« (GMR, 182) im Plural. Die doppelte Besetzung der Mutterrolle erscheint in der Erzählung aus Kindersicht als völlig unproblematisch. Auffällig ist in der gesamten Erzählung die Abwesenheit einer Vaterfigur, die in negativer Form nur im Wolf angedeutet ist, als es um das Bebrüten der Eier und die Erziehung der Küken geht. Bei der Elternversammlung im Hühnerstall stellt die Henne sich und ihre Artgenossinnen als alleinerziehende Mütter dar: »Nous savons toutes à quel point il est difficile d’élever un poussin en tant que mère célibataire.« (GMR, 155). Die Polygamie im Hühnerhof, die im Tierepos immer wieder angedeutet wird (vgl. z. B. P, v. 58, wo gellen, d. h. Nebenfrauen, des Hahns erwähnt werden), wird hier quasi ausgeblendet. 79  Der Comic arbeitet hier nochmals mit einem Cliffhanger zum Spannungsaufbau. Nachdem Schwein und Henne ankündigen, dass man sicherlich einen Kompromiss für Fuchs und Küken finden werde (GMR, 178), zeigt eine ganze Seite, wie der Fuchs mit einem Sprung über den Zaun in den Bauernhof eindringt und sich an eine brütende Henne heranschleicht (GMR, 179). Erst nach dem Umblättern wird auf der nächsten Doppelseite nach und nach aufgelöst, dass es sich bei der Attacke und der Gegenwehr der angegriffenen Henne um eine von der Mutter der Küken geleitete und kommentierte Trainingseinheit des Fuchsausrottungsvereins handelt (GMR, 180 f.). 80  Zu erkennen sind ein blaues Auge sowie Linien, die körperliche Gewaltein­ wirkung oder Benommenheit anzeigen (GMR, 180; 182). Zu den Konventionen der Symbolsprache des Comics für die Darstellung von eigentlich Unsichtbarem wie  Gefühlen oder Aspekten der sinnlichen Wahrnehmung vgl. McCloud, Comics, ­135–139. 81  Das Schwein zeigt sich halb verwundert, halb amüsiert darüber, was der Fuchs mit sich machen lässt, um die Küken zu sehen: »Il doit vraiment les aimer, ces poussins …« (GMR, 183).

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Tableaus ihn freudig strahlend beim Abflug aus dem Anti-Fuchs-Katapult zeigen (GMR, 188 f.). Der Fuchs ist jedoch nicht das einzige Tier, das in Le Grand Méchant Renard im Laufe der Erzählung eine Verhaltensänderung durchläuft und sich ganz anders verhält, als es das Tierwissen aus Fabel, Tierepos und lebensweltlicher Erfahrung in Bezug auf einzelne Tierarten erwarten ließe. So verharren auch die Hühner nicht in der ihnen üblicherweise literarisch wie außerliterarisch zugeschriebenen Position der schutzbedürftigen Beute, sondern setzen sich mit der Gründung des Fuchsausrottungsvereins aktiv gegen den Fuchs zur Wehr, als der Wachhund in seiner Schutzfunktion aus Nachlässigkeit wiederholt versagt: »Puisque tu es incapable de nous protéger de ce satyre roux … nous montons ce club pour partager notre savoir sur la destruction des renards.« (GMR, 82 f.). Durch gezieltes körperliches Training in Verbindung mit systematischem theoretischem Wissenserwerb stellen die Hennen sich aktiv der Herausforderung der Fuchsausrottung (GMR, 127; 143–147; 179–181) und überwältigen so letztlich sogar erfolgreich den Wolf (GMR, 173–175). Nicht weniger deutlich stellen die Küken die Naturgegebenheit und Unveränderlichkeit vermeintlich angeborener Verhaltensmuster in Frage: Die Erziehung des Fuchses in Verbindung mit der Geschichte vom Großen Bösen Fuchs zielt eigentlich darauf ab, dass die Küken sich in ihre ›natürliche‹ Opferrolle fügen (GMR, 75). Nachdem die Küken zunächst den furchteinflößenden Wolf für den Großen Bösen Fuchs halten (GMR, 89 f.), überzeugt der Rotpelz sie durch einen Scheinkampf mit dem Wolf, aus dem er als Sieger hervorgeht, schließlich doch noch davon, dass er selbst das schreckenerregende, Küken verschlingende Raubtier aus Geschichte und Lied ist (GMR, 91–97). Hier nun nimmt die Erzählung aber eine unerwartete und über einen Seitenumbruch spannungsvoll als Cliffhanger inszenierte Wendung (GMR, 97 f.), denn die Küken ziehen eine ganz andere Schlussfolgerung aus Geschichte und Inszenierung als vom Fuchs beabsichtigt. Statt sich wie angsterfüllte Beutetiere zu verhalten, wie es zunächst den Anschein hat (GMR, 97), nehmen sie sich ihre füchsische Mutter zum Vorbild und agieren von da ab selbst in der Rolle des Beutegreifers: »Si maman c’est le Grand Méchant Renard, alors nous on est les Méchants Petits Renards! […] Allez! On va chasser du poussin! […] Tremblez, misérables poussins! Votre damnation arrive!« (GMR, 98). Der einzige Karnivore, der in seiner traditionellen Rolle verharrt und weder sein Verhalten noch seine Ernährungsgewohnheiten82 ändert, ist der 82  Der Fuchs unterstützt das Schwein schließlich sogar beim Steckrübenanbau (GMR, 186).



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Wolf. Taub für die Entwicklung, die seine Beutetiere wie auch sein einstiger Bündnispartner durchlaufen haben, ist letztlich er derjenige, den die geballte, eigentlich dem Fuchs zugedachte,83 überbordende Gewalt des Fuchsausrottungsvereins trifft (GMR, 172–175). In voller Überzeugung von der fortdauernden Gültigkeit der konventionellen Räuber-Beute-­ Hierarchien84 und trotz mehrfacher Warnungen der Hühner und des Fuchses85 provoziert er die Hennen verbal solange, bis ihre Kampfeswut sich gegen ihn statt gegen den Fuchs richtet und die mit Schwert, Axt, Knüppel und Zweizack schwer bewaffnete Hühnerschar sich in Forma­ tion eines gewaltigen Riesenhuhns auf ihn stürzt. Übel zugerichtet und um Gnade flehend, ergreift er schließlich die Flucht.86 Le Grand Méchant Renard führt so abschließend nicht nur, projiziert auf Hühner und Wolf, markant vor Augen, dass dem »theriotopen Gewaltenbann […] eine grundlegende Ambivalenz [unterliegt]«87, da die Verbannung der wölfischen Gewalt aus dem Kulturraum des Bauernhofs eine Gegengewalt erfordert, die über die zu verbannende Gewalt noch erheblich hinausgeht.88 83  Verärgert über die Verbote und Einschränkungen im Bauernhof sind die Küken in den Wald geflohen, um beim Wolf zu leben und Wölfe zu werden (GMR, 160). Als das Räuber-Beute-Spiel mit dem Großen Bösen Wolf bitterer Ernst zu werden droht (GMR, 167), bewahren Fuchs, Hase und Schwein die Küken in letzter Sekunde davor, gefressen zu werden. Der Fuchs jedoch fällt in die Gewalt des Wolfs (GMR, 170 f.). In diesem Moment kommen die Hennen hinzu mit der Absicht, den füchsischen Eierdiebstahl zu sühnen (GMR, 172). 84  Vgl. GMR, 53: »C’est pas la petite bête qui va manger la grosse!« Vgl. GMR, 173: »Des poules! Des poules partout! Quel festin!« Vgl. ebd. (zum Fuchs): »Ne me dis pas que tu as peur de quelques poules!« 85  Vgl. z. B. GMR, 172 (Henne): »Cher monsieur, je ne crois pas que vous soyez en position de me menacer  …« Vgl. z. B. GMR, 173 (Fuchs): »Mais c’est pas des poules normales! C’est les poules de l’enfer!« 86  Der Wolf flieht unter wiederholten »Pitié!«-Schreien mit blauem Auge und zerkratztem Fell (GMR, 175). Die Gewaltausübung zuvor ist nur angedeutet, da der Wolf zunächst gänzlich in der wütenden Hühnermasse verschwindet (GMR, 174), bevor sich der Fokus auf die Beobachter des Kampfs (Fuchs, Hase, Küken, Schwein) verschiebt und nur noch die Schreie des Wolfs aus dem Off erklingen (GMR, 175). Generell zur Gewaltdarstellung im Fuchs-Comic sowie im Roman de Renart vgl. Denoyelle, »Roman de Renart en bandes dessinées«. 87  Borgards, »Hund, Affe, Mensch«, 112. 88  Generell zum Entwurf des »Tier[s] als Figur aktueller Gewalt, die es aus dem entwilderten Raum der Kultur zu verbannen gilt« und dem ambivalenten Status der Gewalt vgl. Borgards, »Hund, Affe, Mensch«, 112: »Der so vorgenommene Ausschluss von Gewalt impliziert jedoch zugleich deren Einschluss, insofern der Akt des Ausschließens selbst gewalttätig ist, und dies notwendigerweise in einer Intensität, welche die verbannte Gewalt noch übersteigt.« Speziell zum Verhältnis von Mensch, Wolf und Hund hinsichtlich der Natur-Kultur-Grenze vgl. Roland Bor-

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Darüber hinaus demonstriert der von physischer Gewalt gezeichnete und sozial isolierte Wolf, der als einziger aus der Bauernhofgemeinschaft ausgeschlossen bleibt, auch das Scheitern des Beharrens auf vermeintlich unveränderlichen naturgegebenen Ordnungen. Soziokulturelle und biologische Grenzziehungen wie jene zwischen Räuber und Beute, zwischen Karnivoren und Herbivoren oder die geschlechtliche Rollenverteilung innerhalb der Familie erscheinen in Le Grand Méchant Renard damit nicht als natürlich determinierte Ordnungen, sondern als fluide und dynamische, durch performative Akte konstituierte und der Veränderung unterworfene Konstrukte; ein Konzept, das auch in den Schlusstableaus des Comics noch mehrfach aufgegriffen wird.89 Nur wer es vermag, sich jenen Veränderungen anzupassen  – möglicherweise ein Tribut an Darwins Evolutionstheorie  –, hat Erfolg. Die Erzählung erscheint so als Plädoyer für den Triumph erlernter und erworbener über angeborene Verhaltensweisen und gegen das Verharren in sozial, kulturell oder biologisch gesetzten Grenzen. Zugleich jedoch schreibt Le Grand Méchant Renard damit abermals das Stereotyp des gefräßigen und bedrohlichen, gewaltsam zu sanktionierenden Großen Bösen Wolfs fort, indem ihm allein der Verhaltens- und Gesinnungswandel und die soziale Rehabilitation verwehrt bleiben.

gards, »Wolf, Mensch, Hund. Theriotopologie in Brehms Tierleben und Storms Aquis Submersus«, in: Anne von der Heiden u. Joseph Vogl (Hgg.), Politische Zoologie, Zürich / Berlin 2007, 131–147, hier 132–141. 89  Das erste Tableau (GMR, 184) zeigt Fuchs und Küken im Rollenspiel mit dem Fuchs in der Rolle der Henne auf Fuchsjagd: »On dit que je fais la poule et vous les renards, ok?« (GMR, 183). Im zweiten Tableau (GMR, 185) agieren die Küken auf der Bühne des Schultheaters, wobei zwei in einem Kochtopf sitzen und eines als Fuchs verkleidet ist, während der Fuchs im Publikum stolz applaudiert. Im drittletzten Tableau (GMR, 187) ist die tierliche inter- und transspezifische Patchwork-­ Familie beim Karneval zu sehen, wobei der Fuchs als Henne, die Henne als Fuchs, die Küken als kleine Füchse, der Hase als Wolf und das Schwein als Dachs verkleidet sind.

KLEINER BEITRAG

Der Freie und der Knecht Von Bernhard Schlink I. Bevor das Law and Literature Movement1 Deutschland erreichte, gab es hier bereits ein Interesse an sogenannten Dichterjuristen, an Dichtern, die als Juristen ausgebildet oder beruflich mit juristischen Aufgaben beschäftigt waren. Das Standardwerk von Eugen Wohlhaupter von 1953 führt unter anderen Johann Wolfgang Goethe, Heinrich von Kleist, Joseph von Eichendorff, Heinrich Heine, Gottfried Keller auf – und Theodor Storm.2 Das Law and Literature Movement hat Storm noch nicht entdeckt. Zwar beschränkt es sich nicht auf englischsprachige Literatur, es beschäftigt sich mit fremdsprachiger Literatur aber nur bei hinreichender Prominenz. Prominent ist Storm in den USA heute nicht. Aber als Millionen 1  Richard Weisberg, The Failure of the Word. The Protagonist as Lawyer in Mod­ ern Fiction, New Haven u. a. 1984, die wegweisende Arbeit eines der Gründer des Law and Literature Movement, liegt auch auf Deutsch vor: Richard Weisberg, Rechtsgeschichten. Über Gerechtigkeit in der Literatur, Berlin 2013. Das dortige Nachwort »Das Bilderbuch des Rechts« von Bernhard Schlink, 275–289, informiert über die Geschichte und die Ziele des Movement zunächst in den USA, dann aber auch in Deutschland. Das Movement hat eine Zeitschrift, Law & Literature, die seit 1989 erscheint (seit 2014 im Verlag Routledge). [Die germanistische Forschung machte Storms Verhältnis zu Recht, Gerechtigkeit und einzelnen Rechtsfragen schon oft zum Gegenstand ihrer Untersuchungen, vgl. die jüngste Bestandsaufnahme bei Heiner Mückenberger, »Storm als Jurist«, sowie Hania Siebenpfeiffer, »Storms Rechtspoetik«, in: Christian Demandt, Philipp Theisohn (Hgg.), Storm-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2017, 28–32 sowie 367–370.] 2  Eugen Wohlhaupter, Dichterjuristen, hg. H[orst] G[erhard] Seifert, 3 Bde., Tübingen 1952. Die Stellung und Bezeichnung Storms als Dichterjurist hat auch 60 Jahre nach Wohlhaupters Standardwerk Bestand; vgl. Gideon Haut, »Theodor Storms ›Ein Doppelgänger‹ und das Strafrecht des 19. Jahrhunderts oder Warum John Hansen seinen Hals riskiert«, in: Yvonne Nilges (Hg.), Dichterjuristen. Studien zur Poesie des Rechts vom 16. bis 21. Jahrhundert, Würzburg 2014, 163–177.

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Deutsche in zwei Wellen nach der gescheiterten Revolution von 1848 und nach der Reichsgründung von 1871 nach den USA auswanderten, weil sie den antidemokratischen, antiliberalen Geist der Restauration und das militaristische preußische Gepräge des neuen Reichs bedrückend fanden, brachten sie eine große Liebe zu Storm mit. Seine Novellen und Gedichte atmeten einen liberalen, demokratischen, antipreußischen Geist und waren zugleich in einer Weise heimatgesättigt, die dem Heimweh der emigrierten Deutschen wohltat. Sein Werk wurde in den USA in vielen Ausgaben und Auflagen gedruckt und gehörte lange zum Kanon der deutschen Literatur, mit der sich die amerikanische Germanistik beschäftigte. Die Qualifikation als Dichterjurist bedeutet nicht, dass der Dichter gerne Jurist war. Zwar schrieb Storm gegen Ende seiner Tätigkeit als Richter einem Germanisten: Mein richterlicher und poetischer Beruf sind meistens in gutem Einvernehmen gewesen, ja ich habe sogar oft als eine Erfrischung empfunden, aus der Welt der Phantasie in die praktische des reinen Verstandes einzukehren und umgekehrt.3

Aber das war das harmonische Selbstbild, das er der Mit- und Nachwelt präsentieren wollte. In seinen Briefen an seine Eltern und seine Frau äußerte er sich anders: »Ich fühle jetzt recht, welchen Abscheu ich vor meinen amtlichen Geschäften habe […]. Aber nicht wegzuleugnen ist, daß diese mir fremde Beschäftigung doch mein ganzes Leben verdirbt.«4 Und: »Wie fremd meinem innern Wesen der Beruf ist, in den ich […] hineingeraten bin, fühle ich erst, wenn er mir eine Zeitlang ferngerückt gewesen ist. Ich empfinde ein förmliches körperliches Grauen davor.«5 Und: Es kann mich doch mitunter so etwas von Mitleid mit mir selber anwandeln, daß ich meine besten Kräfte an etwas hingeben muß, was tausend andre auch statt meiner tun könnten, und daß für meine individuelle Lebensaufgabe, die nur ich erfüllen kann, mir fast keine Zeit übrigbleibt und keine Stille und Gemütsruhe.6

Sein Beruf zunächst als Anwalt und später als Landvogt und Richter in Schleswig-Holstein ließ ihn dem Land und den Menschen seiner Heimat begegnen  – das mochte Storm, weil er seiner Heimat außerordentlich verbunden war, aber nicht den Beruf selbst. Umso mehr vergällte ihm in den Jahren, in denen er wegen der politischen Situation nicht in SchleswigHolstein bleiben konnte und als Richter zunächst in Potsdam und dann 3  Brief an Emil Kuh vom 21. August 1873, in: Theodor Storm, Briefe 2, hg. Peter Goldammer, Berlin 1984, 69–70. 4  Brief an Lucie Storm vom 24. Januar 1858, in: Theodor Storm, Briefe 1, hg. Peter Goldammer, Berlin 1984, 340. 5  Brief an Constanze Storm vom 28. Juli 1859, in: ebd., 370. 6  Brief an Johann Kasimir Storm vom 6. März 1861, in: ebd., 384–385.



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in Heiligenstadt arbeiten musste, die ungeliebte preußische Fremde den Beruf. Die Qualifikation als Dichterjurist bedeutet auch nicht, dass das Recht den Dichter über Ausbildung und Beruf hinaus beschäftigt und dass er über Rechtsthemen und -probleme geschrieben haben muss  – bei den einen war es so, bei den anderen nicht. Von Storm gibt es weder juristische Veröffentlichungen noch bedeutsame Schriftsätze oder Entscheidungen. Keiner seiner Novellen gebührt ein wichtiger Platz im Forschungs- und Lehrbereich von Law and Literature. Aber wieder und wieder blitzt in seinen Novellen und Gedichten das Recht als Zündstoff auf  – zumal in dem Spruchgedicht, von dem sogleich die Rede sein wird. Ein Spruchgedicht  – der Schatz von Storms Gedichten ist so reich wie der Vorrat seiner Novellen. Einige Novellen werden gelegentlich in der Schule gelesen; manche bleiben literaturgeschichtlich interessant, etwa Der Herr Etatsrat als mögliches Vorbild für Franz Kafkas Die Verwandlung; seine bekanntesten Novellen Immensee und Der Schimmelreiter wurden mehrfach verfilmt, und der aus zwei Novellen gefügte Film John Glückstadt von Ulf Miehe mit Dieter Laser und Marie-Christine Barrault, 1974 bei der Berlinale für den Goldenen Bären nominiert, besteht auch noch vor dem heutigen Blick. Aber Theodor Fontane, Thomas Mann, Georg Lukács und viele andere haben mehr als Storms Novellen seine Gedichte gerühmt, und Storm selbst hat seine Lyrik höher geschätzt als seine Prosa. In der Tat berühren seine Liebes- und Naturgedichte den heutigen Leser und die heutige Leserin mit einer größeren Frische als seine Novellen. Mehrere Storm-Gedichte wurden vertont, von heute vergessenen zeitgenössischen Komponisten, aber auch von Johannes Brahms, Alban Berg und Max Reger. Auch wenn das Spruchgedicht, von dem sogleich die Rede sein wird, nur vier Verse hat  – es hat in Storms Werk einen zentralen Platz. II. Theodor Storm wurde am 14.  September 1817 in Husum geboren. Sein Vater war angesehener, wohlhabender Anwalt, seine Mutter, nervös und kränkelnd, hatte noch sechs weitere Kinder und ebenso viele glücklose Schwangerschaften. Während der Schulzeit, zunächst in Husum und ab 1835 in Lübeck, förderten die Lehrer seine Freude am Dichten und die Mutter seine Freude am Singen. Sein Vater war das Vorbild, das ihn in Kiel Jura studieren und in Husum Anwalt werden ließ. Aus der Studienzeit stammte die Freundschaft mit Theodor Mommsen, dem Historiker

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und Literatur-Nobelpreisträger von 1902, die ihn wie die Freundschaften mit den Dichtern Theodor Fontane, Gottfried Keller, Eduard Mörike und dem Soziologen Ferdinand Tönnies als Nah- oder Brieffreundschaft das ganze Leben begleitete. 1846 heiratete er Constanze, seine lebensfrohe, selbstbewusste Cousine. Sie wurde ihm nach seiner von 1847 bis 1848 dauernden Affäre mit der 16jährigen Doris, einer Freundin seiner Schwester, eine bedrückte, fürsorgliche Ehefrau und er ihr ein dankbarer, anhänglicher Ehemann. Auf diese gedämpfte Weise liebten sie einander, aber Storms Traum einer Liebe blieb Doris, die er ein Jahr nach dem Tod Constanzes 1866 heiratete. Storm war ein anhänglicher Mensch; er hing an seiner Familie, an seiner Frau und seiner Affäre, an seinen Freunden, an seinen häuslichen Routinen und Ritualen, am Chor, den er gegründet hatte und leitete. Er hing vor allem an der Heimat, der Stadt und dem Land am Meer, und er hing daran so tief und so stark, dass die Freunde ihn als Provinzler verspotteten. Storms Leben in Husum und Tätigkeit als Anwalt wurden 1853 durch die politischen Ereignisse beendet. Die damalige komplizierte staats- und völkerrechtliche Situation Schleswig-Holsteins kann dahin vereinfacht werden, dass das vor allem von Deutschen bewohnte Land durch eine Personalunion mit dem dänischen König Dänemark, durch die Zugehörigkeit zum Deutschen Bund Deutschland verbunden war. Der im 19. Jahrhundert erwachte dänische Nationalismus wollte das Land Dänemark zuschlagen, die Schleswig-Holsteiner wollten bei Deutschland bleiben. 1848 kam es zu einer ersten kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Dänemark und den von der nationalen Begeisterung des revolutionären Deutschland emotional und von Preußen militärisch unterstützten Schleswig-Holsteinern; sie endete auf Druck Englands, Russlands und Österreichs mit einem Vertrag, der die Personalunion Schleswig-Holsteins mit Dänemark und zugleich dessen Zugehörigkeit zum Deutschen Bund anerkannte und festschrieb. 1863 versuchte Dänemark unter Bruch des Vertrags wieder, Schleswig-Holstein zu einem Teil  Dänemarks zu machen, und kam es zur zweiten militärischen Auseinandersetzung; nach ihrem Ende musste Dänemark alle Ansprüche auf Schleswig-Holstein aufgeben und wurde das Land eine Provinz Preußens. In der Zwischenzeit verfolgte Dänemark eine Dänisierungspolitik, die alle, die in der ersten kriegerischen Auseinandersetzung auf der Seite Schleswig-Holsteins gestanden hatten, ihrer Ämter enthob. Storm, der für die schleswig-holsteinische Sache eingetreten war, durfte nicht mehr als Anwalt arbeiten, emigrierte nach Preußen und arbeitete dort von 1853 bis 1864 als Richter. Nach seiner Rückkehr nach Schleswig-



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Holstein und in seine Heimatstadt Husum wurde er für zwei Jahre Landvogt, ein altes Amt, das Repräsentations-, Verwaltungs- und richterliche Aufgaben vereinte und deshalb im Zug der preußischen Reformen, die Verwaltung und Rechtsprechung trennten, aufgehoben wurde. Bis zu seiner Pensionierung 1880 arbeitete Storm wieder als Richter. Danach zog er aufs Land, glücklich, sich ganz seinen Gedichten und Novellen widmen zu können, unglücklich über seine immer schlechtere Gesundheit. 1886 wurde ihm eröffnet, er sei unheilbar an Magenkrebs erkrankt. Als die Nachricht ihn derart schwermütig machte und beim Schreiben blockierte, dass er mit seiner letzten Novelle Der Schimmelreiter, die er unbedingt vollenden wollte, nicht mehr weiterkam, rief sein Bruder, ein Arzt, zwei ärztliche Freunde zu einem medizinischen Scheinkonsilium, das Storm untersuchte und ihm versicherte, die Krebsdiagnose sei falsch gewesen und seine Beschwerden seien harmlos. Das gab Storm wieder Mut und Kraft; im Februar 1888 vollendete er die Novelle, im Juli desselben Jahres starb er. III. In Briefen beschrieb Storm sich als »wenig politischen Menschen« und »unpolitisches Tier«.7 An Politik hat er sich nicht beteiligt  – bis auf die beiden Auseinandersetzungen, bei denen es um seine Heimat ging, für deren Freiheit er in Gedichten und bei der ersten Auseinandersetzung auch in Auftritten und Aufrufen eintrat. In seinen Briefen ließ er seine liberale und demokratische Gesinnung, seine Ablehnung von Adel, Militär, Kirche und seine skeptische Einschätzung der Menschen und der Gesellschaft erkennen; er sah, dass der Mensch zur Bestie werden kann, und fürchtete, dass die menschliche Gesellschaft sich zur Raubtiergesellschaft entwickelt. Aber immer war der politische Gedanke mit der Liebe zur Heimat, zum Gewohnten und Vertrauten, zu Maß und Ruhe bei den notwendigen Entwicklungen und Veränderungen und zu bescheidener, behäbiger Bürgerlichkeit verbunden. In der Welt, von der Storm träumte, gehen die Menschen von gleich zu gleich und einigermaßen anständig miteinander um; dabei fehlen sie immer wieder und müssen ermahnt und bestraft werden, aber viel Staat und viel Militär und viel Politik braucht es

7  Brief an Laura Setzer vom 14. Oktober 1850, in: Storm, Briefe 1, hg. Goldammer, 130; Brief an Constanze Esmarch vom 27.  August 1845, in: Theodor Storm, Sämtliche Werke, hg. Karl Ernst Laage, Dieter Lohmeier, 4 Bde., Frankfurt a. M. 1987–1988, Bd. 1: Gedichte. Novellen 1848–1867, 961.

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dafür nicht. Schon gar nicht braucht es den preußischen Etatismus und Militarismus. Das spiegeln auch seine Novellen. Novellen, deren Handlung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts angesiedelt ist, zeigen den Adel auf der Höhe seiner Macht unmenschlich, zügellos, brutal. In später spielenden Novellen ist er hochmütig, habgierig, ungebildet. Seine Zeit ist vorbei, und seine einzige Chance wäre, bürgerlich zu werden und wie die Bürger und mit ihnen nach Bildung zu streben und dabei auf Adelsstolz und -dünkel zu verzichten – dazu sind nur wenige Adlige fähig. Die Kirche ist in den Novellen schon dadurch desavouiert, dass sie ein Instrument des Adels ist. Sie hält die Menschen ungebildet und unmündig. Beide, Adel und Kirche, lassen Liebe, die sich über die Grenze zwischen Adel und Bürgertum und zwischen Orthodoxie und Aufklärung hinwegsetzt, nicht zu. Aber Storm kritisierte in seinen Novellen auch die Grenzen, durch die sich das patrizische und reiche Bürgertum vom übrigen Bürgertum und dieses von der Unterschicht absetzt; auch diese Grenzen verbauen Bildungs-, Liebes- und Lebenschancen. Die Zugehörigkeit zum Bürgertum schützt ohnehin nicht gegen die Gier nach Geld und Aufstieg, gegen Vorurteile, Gleichgültigkeit und Rücksichtslosigkeit.8 Diesen Blick auf die Gesellschaft illustrierte Storm auch durch rechtliche Konflikte. In der Novelle Im Brauerhause schilderte er das Volk bei der Hinrichtung eines Mörders als »Bestie«, wie er selbst es bei der Hinrichtung eines von ihm verurteilten Mörders beobachtet hatte.9 In der Novelle Ein Doppelgänger beschrieb er, wie die Gesellschaft John Glückstadt, der nach einem Raub seine Strafe verbüßt hat, Arbeit und Ehre verweigert; auch das hatte er bei seiner Arbeit als Richter erlebt. Beide Male und auch sonst interessierten Storm die rechtlichen Konstellationen nicht als solche, sondern als Katalysatoren für gesellschaftliche Reaktionen. In der spät, unter dem Eindruck der eigenen Erkrankung geschriebenen Novelle Ein Bekenntnis hat ein Arzt seine krebskranke und schmerzgeplagte Frau auf ihren Wunsch mit Morphium getötet und lernt danach aus einem von ihm zwei Wochen davor unbeachtet zur Seite gelegten medizinischen Journal von einer Operationstechnik, mit der er seine Frau hätte retten können und mit der ihm auch die Rettung einer anderen Patientin gelingt. Auch hier interessierte Storm nicht das Rechtsproblem der Ster8  Vgl. dazu im Einzelnen das Kapitel zu den Novellen Storms in: Demandt, Thei­ sohn (Hgg.), Storm-Handbuch, 118–259. 9  Brief an Ludwig Pietsch vom 22. Februar 1862, in: Volquart Pauls (Hg.), Blätter der Freundschaft. Aus dem Briefwechsel zwischen Theodor Storm und Ludwig Pietsch, 2. Aufl., Heide 1943, 82.



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behilfe und auch nicht die Reaktion der Gesellschaft. Es ging ihm vielmehr um die Reaktion des Arztes selbst. »[S]oll eine Sühne sein, so muß ich sie selber finden«,10 lässt Storm ihn sagen, nach Afrika gehen und dort als Arzt wirken: »ein ernster und rechter Mann […], daran wird Niemand zweifeln«.11 Aber die Novelle dahin zu interpretieren, Storm habe nicht auf das Recht, sondern auf das Gewissen gesetzt, weil die Sühne nicht die Strafe des Rechts, sondern eine Linderung des Gewissens sein soll, ist heikel. Denn in den Novellen, in denen es um Liebe, Leidenschaft und Ehe geht, hat Storm die Ehe als sittliche und rechtliche Gestalt gegenüber freien Verbindungen statt oder neben der Ehe stets hochgehalten und dem Gefühl und dem Gewissen nie das letzte Wort gelassen. Worauf hat Storm letztlich gesetzt; auf das Recht oder auf das Gewissen? Oder hat er mal auf das eine und mal auf das andere gesetzt? Aber nach welchem Gesichtspunkt? Verlangt und verdient nicht Totschlag eher sittliche und rechtliche Verbindlichkeit und Strenge als Ehebruch und wilde Ehe? IV. Gibt das bereits angekündigte und endlich vorzustellende Spruchgedicht Auskunft? Der Eine fragt: was kommt danach? Der Andre fragt nur: ist es recht? Und also unterscheidet sich Der Freie von dem Knecht.12

Diese Verse werden meistens dahin interpretiert, dass es der Freie ist, der nur danach fragt, ob es recht ist, weil er sein Handeln zwar unter das Recht stellt, sonst aber nichts und niemanden über sich anerkennt, während der Knecht sein Handeln ängstlich von dem bestimmen lässt, was daraus wird und was es ihm an Vor- und Nachteilen bringt.13 Dabei gilt 10  Theodor Storm, »Ein Bekenntnis«, in: ders., Sämtliche Werke 3: Novellen 1881–1888, hg. Laage, Lohmeier, 620. 11  Ebd., 633. 12  Theodor Storm, »Sprüche«, in: ders., Sämtliche Werke 1: Gedichte. Novellen 1848–1867, hg. Laage, Lohmeier, 82. Das Spruchgedicht erschien zum ersten Mal 1864 in der 4. Auflage der Gedichte. 13  Zuletzt Horst Sendler, »Zur richterlichen Folgenberücksichtigung und -verantwortung«, in: Konrad Redeker (Hg.), Recht – Gerechtigkeit – Rechtsstaat, Köln u. a. 2006, 205–240, m. w. N.

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die Frage des Freien, was recht ist, nicht dem positiven Recht, sondern dem Recht als Inbegriff des Richtigen, in dem sich das Moralische und das Natur- oder Vernunftrechtliche vereinen. Es gibt aber auch eine andere Interpretation. Sie sieht den Knecht in Ehrfurcht vor seinem Herrn und dessen Geboten und Verboten ängstlich fragen, ob denn recht ist, was er tut, während der Freie sich der Richtigkeit seines Handelns nicht vor einer fremden Instanz versichern muss, sondern selbst die Verantwortung für das übernimmt, was er tut – und das heißt auch und gerade, dass er die Verantwortung für die Folgen seines Tuns übernimmt, für das, was danach kommt. Die zweite Interpretation verweist zunächst auf den Aufbau des Spruchgedichts.14 Es reiht den einen vor den anderen und den Freien vor den Knecht – über Kreuz den einen zum Knecht und den anderen zum Freien zu machen sei gekünstelt. Hätte Storm dies gemeint, hätte er unschwer dichten können: Der eine fragt: Was kommt danach? Dies Fragen ziemt dem Knecht. Der freie Mann mit freiem Sinn, der fragt nur: Ist es recht?

Die zweite Interpretation sieht auch den Sprachgebrauch mit der Frage »Ist es recht?« eher die Vergewisserung verbinden, ob ein Auftrag ordentlich besorgt wurde, als ein Bekenntnis zum Recht als Inbegriff des Richtigen. Ferner meint sie, einen Zeugen für ihre Interpretation in Thomas Mann zu haben, dem Storms Spruch vertraut war und der an ihn gedacht und ihn interpretiert haben müsse, als er in seinem Roman Joseph und seine Brüder Joseph zu Potiphars Weib sagen lässt, des Menschen »Vorzug und Ehrenmitgift [sei] gerade, daß er hinausdenke über den Augenblick und überlege, was danach kommt«.15 Und schließlich sei die durch das Handeln der Menschen bedrohte Welt nur zu retten, wenn die Menschen sich selbstkritisch der Frage nach dem, was danach kommt, stellten. Aber über Kreuz hat Storm immer wieder gedichtet, der Sprachgebrauch steht nicht fest, dass Thomas Mann in Joseph und seine Brüder Storms Spruch habe interpretieren wollen, liegt fern, und Storms Horizont

14  Zuletzt Hartmut Jäckel, »Die Unterscheidung«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.12.2008, Nr. 302, Z4, m. w. N. 15  Thomas Mann, Joseph und seine Brüder III: Joseph in Ägypten, hg. Peter de Mendelsohn (Gesammelte Werke in Einzelbänden, Frankfurter Ausgabe), Frankfurt a. M. 1983, 507; vgl. Jäckel, »Die Unterscheidung«.



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war nicht die Welt, sondern Schleswig-Holstein und dessen Bedrohung nicht durch die Menschen, sondern zunächst die Dänen und später die Preußen. Die Suche nach der Antwort auf die Frage, wer in Storms Spruch der Freie und wer der Knecht ist, muss näher am Leben des Autors, seinem Verhalten und seinen Äußerungen ansetzen. V. Storm hat den Spruch 1858 geschrieben. Schleswig-Holstein war wieder dem dänischen König unterstellt worden, Storm hatte die Bekundung der Ergebenheit gegenüber dem dänischen König, die seine Stellung als Anwalt und den Verbleib der Familie in Husum vielleicht hätte retten können, verweigert und vorgezogen, in die ungeliebte preußische Fremde zu gehen. Er hatte, wie er Freunden und Verwandten brieflich mitteilte, sein Eintreten für die schleswig-holsteinische Sache »am wenigsten jetzt verleugnen wolle[n], wo die Sache beendet und verloren«16 war; »in Kopenhagen auch nur den kleinsten Schritt zu tun«, hätte er als »persönliche[ ] Erniedrigung« empfunden.17 Er hat sich um das Danach nicht geschert, und in seinem Essay über Storm sah auch Thomas Mann ihn in seiner Unfähigkeit und Unwilligkeit, sich anzupassen und um der Folgen für Stellung und Familie willen in die neue Situation zu fügen, als einen »Freie[n]« mit »trotzige[r] Stirn«.18 Auch das Gedicht Für meine Söhne ist Strophe um Strophe die Ermutigung, staatlichen und gesellschaftlichen Zwängen nicht nachzugeben, auch wenn es Geld und Gut, Karriere und Aufstieg kostet, und das Gedicht Zur Erziehung mahnt zum Handeln »nur nach Gewissen und gänzlich nach Überzeugung«.19 In einem späten Brief an den Vater klagte er:

16  Brief vom 6. April 1851 an Hartmuth Brinkmann, in: Storm, Briefe 1, hg. Goldammer, 137. 17  Brief vom 4. Dezember 1852 an Ernst Esmarch, in: ebd., 167. 18  Thomas Mann, »Theodor Storm« [entst. 1930], in: ders., Gesammelte Werke. Reden und Aufsätze 1, Frankfurt a. M. 1960, 246–267, hier 264: »Er war ein Freier – trotz aller Weichheit und Sensibilität seiner Natur ein Mann der trotzigen Stirn, wie sich zu Anfang der fünfziger Jahre erwies, als Husum dänisch geworden war und rings um ihn her alles den Fremden diente, er aber, unfähig, sich anzupassen, den Staub der Heimat von den Füßen schüttelte und nach Preußen ging.« 19  Theodor Storm, »Für meine Söhne«, in: ders., Sämtliche Werke 1: Gedichte. Novellen 1848–1867, hg. Laage, Lohmeier, 66–67; Storm, »Zur Erziehung«, in: ebd., 260–261.

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Gleichgültigkeit, Bequemlichkeit, Feigheit oder Habsucht beherrschen immer die Menge, und unter Tausenden wird kaum einer sein, der unter schwierigen Verhältnissen das auch tut, was er für Recht erkannt hat.20

So stimmt denn die erste Interpretation. Frei ist, wer das tut, was recht ist. Was recht, das heißt in umfassendem Sinn moralisch und rechtlich richtig ist, sagt ihm sein Gewissen. Der Freie tut es auch dann, wenn ihm die Folgen unliebsam, beschwerlich und unbequem sind und ihn Geld, Gut und Erfolg und sogar die Heimat kosten. Und doch war Storm nicht einfach Gesinnungsethiker. Wenn er in seiner schon erwähnten Novelle Ein Bekenntnis zwar den Arzt, der seine Frau irrtümlich getötet hatte, seinem Gewissen überlässt, in seinem Verdikt über Ehebruch und wilde Ehe das Gefühl und das Gewissen aber nicht anerkennt, dann weil Storm die gewachsenen und gewordenen sittlichen und rechtlichen Lebensformen teuer waren – teuer wie die Heimat, auch sie ein Gewachsenes und Gewordenes, das es zu bewahren und beschützen gilt. Alles ist bei Storm in die Anhänglichkeit an die Heimat eingebettet  – seine politische Gesinnung und seine Gesinnungsethik. VI. Es bleibt die Frage, was in der Sache stimmt. Wer ist der Freie? Wer nur fragt, was recht ist, oder wer nach dem fragt, was danach kommt? Wer die Folgen vernachlässigt oder wer sie bedenkt? Der Gesinnungsoder der Verantwortungsethiker? Und wer ist umgekehrt der Knecht? Ein Zeitgenosse und Landsmann Storms, mit ihm Jurastudent in Kiel, mit ihm der schleswig-holsteinischen Sache verbunden, mit ihm Opfer der Dänisierungspolitik und mit ihm in die Emigration getrieben, war Lorenz von Stein. Vielleicht sind sie sich begegnet, gewiss wussten sie voneinander und von ihren ähnlichen Schicksalen. Als junger Professor in Kiel wurde Stein 1850 in die schleswig-holsteinische Landesversammlung gewählt und 1852 wegen seiner schleswig-holsteinischen Gesinnung vom dänischen König abgesetzt. Er wurde Professor in Wien, und seine Arbeiten über Sozialismus und Kommunismus in Frankreich, über die Notwendigkeit der Entwicklung vom Rechts- zum Sozialstaat, über Staats- und Finanzwissenschaft, Verwaltungs- und Volkswirtschaftslehre haben ihn zu einem Großen der deutschen Wissenschaft vom öffentlichen Recht im 19. Jahrhundert gemacht. In seiner Schrift Gegenwart und Zukunft der Rechts20  Brief vom 10.  Mai 1862 an Johann Kasimir Storm, in: Storm, Briefe 1, hg. Goldammer, 399.



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und Staatswissenschaft Deutschlands schrieb er, dem das Leben wie Storm die Entscheidung zwischen Gehorsam gegenüber dem Gewissen und Rücksicht auf drohende Folgen abverlangt hatte: »[D]er höchste Richter des Gedankens ist stets die letzte Folgerung die ich aus ihm zu ziehen vermag. Die Consequenzen allein sind das Gewissen des Princips […].«21 Das lässt sich als Versuch lesen, den Gegensatz von Gesinnungs- und Verantwortungsethik aufzulösen. Stein verlangt, dass wir die Folgen, zu denen die Verpflichtung des Gewissens auf ein Prinzip führt, verantworten und das Prinzip an ihnen messen, vielleicht auch korrigieren und modifizieren. Dabei geht es aber nur um die Folgen, die dem Prinzip innewohnen, nicht um die unliebsamen, beschwerlichen und unbequemen Folgen, die uns wegen oder gelegentlich der Verfolgung des Prinzips von außen auferlegt werden. Die innewohnenden Folgen stellen das Prinzip auf den Prüfstand, auf dem es besteht oder nicht besteht; die von außen auferlegten Folgen lassen das Prinzip und die Verpflichtung des Gewissens auf das Prinzip unangefochten. In diesem Sinn mussten sich beide, Storm und Stein fragen, worauf die schleswig-holsteinische Erhebung hinlief und ob die Freiheit, die sie versprach, die Opfer, die eine Erhebung nun einmal verlangt, rechtfertigte. Dagegen haben beide die Erhebung durch den Verlust von Heimat und Stellung und die persönlichen und familiären Belastungen nicht in Frage gestellt gesehen. Aber die Unterscheidung zwischen den einem Prinzip innewohnenden und den wegen oder gelegentlich der Verfolgung des Prinzips von außen auferlegten Folgen kann nicht völlig befriedigen. Welche Folgen wohnen einem Prinzip inne  – die, zu denen es stets, oder die, zu denen es regelmäßig, oder die, zu denen es in der Ausnahmesituation führt, in der man sich gerade befindet? Und können von außen auferlegte Folgen die Familie oder andere Menschen, denen man verbunden oder für die man verantwortlich ist, oder auch einen selbst nicht derart treffen, dass die Verfolgung des Prinzips zweifelhaft wird? So bleibt der Konflikt zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik offen, und offen bleibt auch die Frage, wer nun der Freie und wer der Knecht ist. Beide, der Gesinnungs- und der Verantwortungsethiker, können der Freie, und beide können der Knecht sein. Die in moralischen und recht­ lichen Prinzipien gründende Gesinnung kann den Handelnden von opportunistischen Ängsten, Vor- und Rücksichten befreien; und auch die Verantwortung für die Folgen kann ihn befreien  – zu der Selbständigkeit, in

21  Lorenz von Stein, Gegenwart und Zukunft der Rechts- und Staatswissenschaft Deutschlands, Stuttgart 1876, 103.

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der er nicht nur für seine Handlung, sondern auch für deren Folgen einsteht, sich selbst als Verursacher von Folgen anerkennt und als solcher anerkannt wird. Aber die Verpflichtung auf das Gewissen kann auch zur fundamentalistischen Knechtschaft werden, in der der Handelnde den Blick für das Unheil verliert, das er anrichtet; und das Bedenken und Berechnen von Folgen, die sich doch verlässlich oft gar nicht bedenken und berechnen lassen, kann zu einer Knechtschaft der Überforderung werden, aus der nur die Frage ›Was ist recht?‹ befreien könnte, die aber vor lauter Bedenken und Berechnen nicht gestellt wird. So drängt es uns denn manchmal, gegenüber einem vorsichtigen, vielleicht verantwortlichen, vielleicht opportunistischen Abwägen der Folgen schlicht auf dem zu bestehen, was recht ist, wie es uns auch drängen kann, den Gesinnungsrigoristen aufzuhalten, der ohne Rücksicht auf Verluste, auf seine Verluste, aber auch auf die Verluste der anderen, seinen Weg gehen will. In Zeiten opportunistischer Anpassung wünschen wir uns mehr Gesinnungsethiker, in Zeiten eines fundamentalistischen Rigorismus mehr Verantwortungsethiker. So ist die Entscheidung, wie gesinnungs- und wie verantwortungsethisch wir handeln wollen, selbst eine zu verantwortende Entscheidung. Dies verkennen sowohl der Gesinnungs- als auch der Verantwortungsethiker, wenn sie meinen, die Entscheidung verstehe sich von selbst, weil man ja entweder der Gesinnung folgen oder Verantwortung übernehmen müsse. Man muss entscheiden und man muss verantworten, ob die Stunde das eine oder das andere verlangt  – die Stunde, nicht die eigene Bequemlichkeit. Wenn aber die Beurteilung dessen, was die Stunde verlangt, zu kompliziert wird, dann ist allemal besser, im Gehorsam gegenüber dem Gewissen zu gewinnen oder zu verlieren, als sich im Bedenken und Berechnen von Folgen zu verheddern und zu gewinnen oder zu verlieren, ohne das Geschehen zu steuern. Freier oder Knecht  – Storm war die Ambivalenz seines Spruches nicht bewusst. Was er erfahren hatte, verstand sich für ihn von selbst: Das Rechte tun und die Folgen nicht scheuen  – das ist Freiheit. Freiheit ist nicht Glück, aber es gibt kein Glück ohne Freiheit. Das Rechte tun und in der Heimat und mit den Seinen und für das Schreiben leben  – das ist das Glück.

BUCHBESPRECHUNGEN Dieter Breuer / Jürgen Breuer, »Mit Wahrheit oder nach Sage«. »Nibelungenlied« und Kreuzzüge. Paderborn: Fink: 2014, 200 S.  Die These des Buchs ist weder neu noch ohne Widerspruch geblieben,1 doch wird sie hier noch einmal bündig und mit Bezug zur Kritik auf den Punkt gebracht. Und unabhängig davon, ob man ihr Glauben schenkt oder nicht, bereichert sie die Diskussion. Schon in früheren Publikationen hat Dieter Breuer die Auffassung vertreten, das Nibelungenlied spiegele die Situation im Reich zu Beginn des 13. Jahrhunderts wider, und zwar aus der Perspektive der Staufer nach dem katastrophalen Ausgang der Kreuzzüge, erzähle also mit dem Zug der Burgunden nach Südosten die Geschichte des staufischen Heereszuges in den eigenen Untergang. Mag der Blick auf zeitgeschichtliche Umstände aus der Mode gekommen und auch für Literaturwissenschaftler andere Bezugspunkte interessanter sein, die These hat doch erst einmal etwas für sich. Es ist durchaus reizvoll, das Nibelungenlied als Geschichte einer zeitgenössischen Kata­ strophe zu lesen, die möglicherweise auch verdeckte Kritik an den Kreuzzügen äußert, mit denen die Ehre des Reichs zerstört worden wäre. Die Evidenzen, die in der Auffassung der Autoren dafür sprechen, liegen vor allem im Bereich möglicher Bezüge zwischen den im Nibelungenlied beschriebenen Dynastien zu realen Herrscherfamilien, an denkbaren Parallelen zwischen literarischen und historischen Herrschaftsräumen sowie zwischen bestimmten Handlungselementen und den Stauferkreuzzügen. Diesen Feldern gelten die ersten drei Kapitel des Buchs. Ein viertes (kurzes) ist der ›Klage‹ gewidmet, das fünfte macht vor dem erarbeiteten Hintergrund Bligger II. von Steinach als Autor des Nibelungenliedes stark  – auch dies ist weder neu noch widerlegbar. Kapitel I (»Die Dynastien im Nibelungenlied«) beschreibt die im Epos vorkommenden Herrscherfamilien als Abbilder realer Familien der Zeitgeschichte. So kommen die Burgunden der Verbindung der Staufer und Burgunder durch Kaiser Barbarossa und Beatrix von Burgund nahe, ins1  Dieter Breuer und Jürgen Breuer, Mit spaeher Rede. Politische Geschichte im Nibelungenlied, München: Fink 1995; dagegen: Jan-Dirk Müller.

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besondere sehen die Autoren Parallelen zwischen den starken Frauen im Burgundergeschlecht und denen im Nibelungenlied, etwa Adelheid oder Beatrix auf der einen und Kriemhilt sowie Ute auf der anderen Seite. Die Figur Hagens, die große Parallelen zu dessen Pendant im Waltharius aufweist, möchten die Autoren als Abbild des Marschalls Heinrich von Kalden sehen, dessen Leben sich zur Ausgestaltung der Figur Hagens in ihrer Sicht bestens eignete. Die Dynastie der Nibelungen ließe sich auf das französische Königshaus beziehen und in der des Siegfried lasse sich jene der Normannen, welche die burgundische mit ihrer Übermacht real bedroht habe, erkennen. Vor diesem Hintergrund erhalte der Auftritt Siegfrieds in Worms eine gute Erklärung. Dietrich von Bern finde sein Vorbild in der Amaler-Dynastie und damit zur Zeit des Nibelungenliedes in jener der Zähringer; durch sein Überleben werde das Epos zu einer Hommage an die Grafenfamilie. Kapitel II widmet sich den Herrschaftsräumen. Für die Autoren sind in den jeweiligen Fürstentümern des Nibelungenlieds reale Herrschaftsräume verschlüsselt, die sich durch einen Abgleich der im Text beschriebenen geographischen Lage mit den historischen Gegebenheiten zu Zeiten der Staufer (62) erschließen lassen. So stehe ›Burgondenlant‹ »für das von der staufischen Dynastie beherrschte Deutsche Reich« (63), und zwar für das der Söhne und Enkel der Kaisertochter Agnes, also von König Konrad III. bis König Philipp. ›Nidelant‹ stehe für die englisch beherrschte Normandie, das nach dem Nibelungenlieddichter doppelt so weit (zwölf statt sechs Tagesritte) entfernte ›Nibelungelant‹ lasse sich mit den »angevinischen Reichsteilen im Westen und Süden Frankreichs« (68) identifizieren. Das normannische Königreich mit den Hauptstädten Palermo und Messina stehe hinter ›Islant‹; insbesondere die Alleinerbin Konstanze habe eine Stellung ähnlich jener der literarischen Königin Prünhilt. In ›Bechelaren‹ zeige sich ein Gebiet wie das der ungarischen Herrschaft in der österreichischen Mark im 10. Jahrhundert, also in etwa Ungarn. Das Reich Etzels mit seinen prächtigen Bauwerken hat dann demnach seinen Hauptsitz nicht im ungarischen Gran sondern in Byzanz, steht also für das byzantinische Reich, dessen Verträge mit islamischen Herrschern u. a. die im Dienst Etzels stehenden Völkerscharen erklären könnten. Kapitel III, das Hauptkapitel, zieht dann Parallelen zwischen der Handlung im Nibelungenlied und dem politischen Geschehen der in die Kreuzzüge verwickelten Herrscherhäuser. Auch hier seien es wieder verdeckte Anspielungen; am deutlichsten das Kreuz, das Kriemhild auf Siegfrieds Gewand näht, und das seinen Tod bedeute – ihn also zum dem Untergang geweihten Kreuzfahrer mache. Ohnehin kommen in dieser Perspektive weitere Parallelen zwischen der Figur Sîvrit und dem englischen König



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Richard Löwenherz in den Blick. In dessen Auftritt auf dem Reichstag in Speyer sehen die Autoren eine deutliche Parallele zum merkwürdigen Auftreten Siegfrieds in Worms, das so einen zeitgenössischen Hintergrund aufnehme und verarbeite. Die doppelte Brautwerbung allerdings spiegelt sich nach Auffassung der Autoren in der Heiratspolitik der Staufer wider, in den Hochzeiten Barbarossas mit Beatrix von Burgund und der seines Sohnes Heinrich mit Konstanze von Sizilien auf der einen und der seiner Tochter mit Richard Löwenherz auf der anderen Seite. »Für den Dichter lag nahe, diese spektakuläre Liebesbeziehung im Paar Sivrit und Kriemhilt in Szene zu setzen« (99). Natürlich passt es dann ins Bild, die zwei Sizilienfeldzüge Kaiser Heinrichs und die Niederwerfung des Normannenaufstandes, den er nur mit Hilfe von Richard Löwenherz  – unter der Tarnkappe des Pilgergewands  – bezwingen konnte, als Vorlage für die drei Kraftproben Gunthers zu sehen, die er nur mit unlauterer Hilfe besteht. Die Brautfahrt Kriemhilds zu Etzel wird dann zum Bild der Fahrt Berthas von Sulzbach im Jahr 1143 zu ihrem Gemahl, dem byzantinischen Kaiser Johannes, wo sie nach dessen Tod Kaiser Manuel heiraten sollte. Der Zug der Nibelungen nach Etzelland gleiche dann, so die Autoren, den Ereignissen vor und um Konstantinopel 1204 / 05, als die Kämpfe zwischen den Kreuzfahrerheeren und dem byzantinischen Reich ausbrachen. Die Aufnahme der Kreuzfahrer des dritten Kreuzzugs bei König Bela III. von Ungarn im Jahre 1189 spiegele sich in der 27. Aventiure, die vom Aufenthalt bei Rüdiger von Bechelaren erzählt. Das Kapitel IV möchte dann mit ähnlichen Argumenten die ›Klage‹ als Kommentar zur Situation im Reich nach dem Tode Heinrichs VI. 1197 lesen; also als Klage über den Niedergang des Stauferreichs, wobei  – so die Autoren  – der bischöfliche Auftraggeber Wolfger von Erla dafür gesorgt habe, dass hier u. a. mit Erwähnung zahlreicher Orte an der Donau eine »Passauer Perspektive« eingearbeitet wurde, die auch auf die ‚LiedFassung‘ in der Handschrift C eingewirkt habe, wohingegen in der ›NotFassung‹ (Handschrift B) die „Wormser Perspektive“ allein beibehalten sei. Anders gesagt: Man müsse von einem »Wormser Nibelungenlied« aber von einer »Passauer Klage« sprechen, wobei sich die Perspektiven in der Handschrift C vermischten (157 / 158). Das letzte Kapitel V macht abschließend die These stark, dass Bligger II. von Steinach als Autor des Nibelungenlieds zu sehen sei, dass das Lob, das Gottfried von Straßburg und Rudolf von Ems dem Verfasser des umbehangs spendeten, dem Nibelungenlied und seinem Dichter gelte. Das Lob Gottfrieds, das den umbehanc als von vrouwen an der ram, Damen am Webstuhl hergestellt preise, habe Bezug zu den Schneiderstrophen des

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Nibelungenlieds, welche die implizite Poetik des Nibelungenlieds darstellten. In der Poetik liege auch der Grund für den Namen. Die in der höfischen Kultur des Mittelalters bekannten Wandteppiche stellten als Bilderchroniken historische Ereignisse dar. Ihre teilweise Verschriftlichung lasse sich an lateinischen Beispielen der Prosachronik zeigen, doch sei das Nibelungenlied als erste gelungene »Versprachlichung der Bilderfolge zu einem epischen Umbehanc« zu sehen (162 f.). Als weitere Indizien für Bliggers Autorschaft wird dann die Nähe seiner Familie zur Nibelungendynastie und sein Verhältnis zu den Kreuzzügen dargestellt und herangezogen. Im Ganzen gesehen ist der Gedanke sehr reizvoll, das Nibelungenlied als verklausulierte Darstellung des Untergangs der tragenden Dynastie und damit des Reichs selbst, also letzten Endes als Kritik an den Kreuzzügen zu lesen. Die Nähe einzelner Protagonistinnen und Protagonisten zu bestimmten Herrscherfamilien und deren Rolle in der Reichspolitik ist auch kaum zu bestreiten, wenn man sich auf den Grundgedanken einlässt. Dem Rezensenten allerdings scheint es doch sehr weit gegangen, wenn man das Epos als regelrechten Schlüsselroman lesen und möglichst alle Details als Verweis auf nachweisbare historische Vorgänge deuten möchte, wie etwa die Ankunft Gunthers in Isenstein als Parallele zur komplizierten Inbesitznahme der Herrschaft über Sizilien durch Kaiser Heinrich VI. (103), das Verhältnis Siegfrieds und Gunthers nach der dänischen Kriegserklärung als Pendant der zweifelhaften amicitia Kaiser Heinrichs und Richard Löwenherz’ oder die Unsichtbarkeit Siegfrieds im Dreikampf als Verweis auf das Fehlen des als Finanziers dennoch wichtigen Richard Löwenherz beim Sizilienzug Heinrich VI. Vorausgesetzt, das Nibelungenlied wäre eine Kritik an aktuellen politischen Ereignissen auf der Folie historischer Figuren, würde sich seine literarische Funktion überdies darin nicht erschöpfen; es bestünde kein Zwang für den Verfasser, seine Figuren und ihre Handlungen auf historische Geschehnisse zu reduzieren. Nichtsdestotrotz wäre der Grundidee des Buchs eine ernsthafte Diskussion in der Forschung zu wünschen, die sich nicht an möglichen Schwachpunkten der These aufhält, sondern die grundsätzlich bedenkenswerten Seiten einbezieht. Michael Rupp, Leipzig



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Detlef Metz, Das protestantische Drama: Evangelisches geistliches Theater in der Reformationszeit und im konfessionellen Zeitalter. Köln: Böhlau, 2013. 906 S. Mit Das protestantische Drama legt Detlef Metz eine breitangelegte Studie zum protestantischen Theaterbetrieb von seinen Anfängen um 1520 bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges im Jahre 1618 vor. Die Arbeit entstand als Habilitationsschrift an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen, und Metz will folglich die neugläubige Vorliebe für die Inszenierung biblischer Stoffe, die schon oft Gegenstand germanistischer und theaterhistorischer Untersuchungen war, für kirchengeschichtliche Fragestellungen fruchtbar machen. Im Mittelpunkt steht die Frage nach der Bedeutung des religiösen Schauspiels für den frühneuzeitlichen Konfessionalisierungsprozess. Literar- bzw. kulturhistorische Fragen kommen bei Bedarf auch zur Sprache, geht es Metz doch um die Funktion des geistlichen Theaters bei der Herausbildung einer identitätsstiftenden Konfessionskultur, nicht nur bei Lutheranern, sondern auch bei Reformierten und Katholiken. In Metzens Analyse ist das geistliche Spiel wie kein anderes Medium in der Lage, Einblick in die gelebten Konfessionskulturen der Frühen Neuzeit zu gewähren, und bietet von daher den Schlüssel zum Verständnis einer dynamischen Konfessionsbildung, die zu gleichen Teilen von inneren und auch äußeren Kräften getragen wird. Die Untersuchung ist in vier Teile gegliedert. In »Teil A: Annäherungen« steckt Metz den Rahmen seiner Untersuchung ab. Nach einem einleitenden Überblick über die Hauptaspekte des protestantischen Theaterbetriebs sowie die Geschichte seiner Erforschung nennt er die Leitfragen seiner Analyse, die u. a. um die Leistung des Theaters für die Verbreitung der Reformation und die jeweilige Wiedergabe der reformatorischen Lehre in den Spielen kreisen (90–91). In »Teil B: Grundlegung« geht der Autor den zeitgenössischen Konzeptionen des religiösen Theaters nach; hier leistet Metz weitgehend Neuarbeit, indem er die oft herangeführten Stellungnahmen von Luther und Melanchthon Revue passieren lässt, um dann die aufschlussreichen Vorworte weniger bekannter Spieldrucke sowie den reichen Fundus von protestantischen Schulordnungen auszuwerten. Den Hauptteil der Untersuchung bildet »Teil C: Konkretion«, der drei repräsentative Stoffkreise, vertreten durch Abraham-, Stephanus- und LutherSpiele, auf ihre unterschiedlichen Funktionen und konfessionellen Akzentuierungen hin untersucht. »Teil D: Ertrag« bietet zum Schluss eine resümierende Auswertung der erbrachten Ergebnisse. Metz berücksichtigt hier neben der Verarbeitung der reformatorischen Lehre auch die Polemik der Spiele, vergleicht den protestantischen Theaterbetrieb mit dem ebenfalls

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neu entstandenen Jesuitentheater und setzt sich schließlich an Hand seiner Ergebnisse mit der Konfessionalisierungsthese auseinander. Sein Fazit: gerade die starke Einheitlichkeit unter den von ihm untersuchten Spielen, die keine nennenswerte Entwicklung ihrer Ziele und Funktion erkennen lassen, vermag die Auffassung nicht zu bestätigen, »dass der eigentliche realoder strukturgeschichtliche Wandel weniger von der Reformation selbst als von der Konfessionalisierung vorangetrieben worden sei« (816). Metz arbeitet gut 100 Jahre Theater-, Konfessions- und Kulturgeschichte auf. Bei der Fülle an Material hängen stichhaltige Ergebnisse natürlich von einer repräsentativen Auswahl passender Quellen ab. Da mag es auf den ersten Blick befremden, dass seine Analyse zum größten Teil  ohne Susanna, Joseph, Judith oder den Verlorenen Sohn auskommt, die Vorzeigefiguren protestantischer Bühnenkunst. Dennoch führen die von ihm gewählten Abraham-, Stephanus- und Luther-Spiele in zentrale religiöse Fragen des Zeitalters hinein und sind also gut geeignet, die unterschied­ lichen Funktionen des geistlichen Theaters in seinen lutherischen und reformierten Varianten zwischen 1520 und 1618 zu exemplifizieren. Da Metzens Analyse der drei Stoffkreise beinahe 400 Seiten einnimmt, seien hier seine Ergebnisse zu diesen z. T. kaum erforschten Spielen zunächst zusammengestellt. Wie Metz zeigt, sind die Bühnenbearbeitungen des Abraham-Stoffs unerlässlich für das Verständnis der zeitgenössischen Auseinandersetzungen um die Rechtfertigungslehre, galt ja Abraham schon Paulus im Römerbrief »als Urbild des aus Glauben Gerechtfertigten« (315). Seine neun AbrahamSpiele setzen schon 1533 mit Die Opferung Isaaks von Hans Sachs ein und reichen bis zur Comedia von dem frommen, gottfürchtigen und gehorsamen Isaac, 1606 von Joachim Schlue für die Kaufgesellen des Rostocker Hansekontors geschrieben. Dazwischen entstehen sieben weitere Bühnenwerke über den Erzvater, verfasst von Joachim Greff (1540), Andreas Lucas (1551), Jakob Frey (ca. 1550–60), Herman Haberer (1562), Georg Rollenhagen (1569), Christoph Stymmelius (1579), und Nathan Chytraeus (1595). Neben den gemeinsamen Tendenzen der Spiele, die dem Stoff innewohnen  – alle Dramen deuten Abrahams unerschütterliches Vertrauen in Gott als den reformatorischen Glauben an die Verheißung Gottes und fordern auch in Bezug auf Isaaks Verhalten zum Gehorsam gegenüber Gott, den Eltern und der Obrigkeit auf – geht Metz nach, wie die Dramen ihre reformatorischen Lehren in Szene setzen. Bei den früheren Dramen sind die konfessionellen Standpunkte der einzelnen Autoren meist offenkundig: so überrascht es nicht, dass die Behandlung der lutherischen Rechtfertigungslehre in Greffs Abraham nicht ohne eine gehörige Portion Polemik gegen die altgläubige Werkgerechtigkeit auskommt (371–373). Bei den späteren Spielen gelingt es



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Metz jedoch, auch die leiseren Töne innerprotestantischer Lehrstreitigkeiten aufzuspüren, wie z. B. bei De immolatione Isaac des MelanchthonSchülers Christoph Stymellius, wo Sara und Eleazar eine Diskussion um die Allgegenwart Gottes führen, die sich womöglich als versteckte Kritik an der Ubiquitätslehre verstehen lässt (466–467). Bei der Tragoedia von Abrahams Opfer von Nathan Chytraeus treten die Spannungen zwischen Lutheranern und Reformierten am Ende des 16. Jahrhunderts am deutlichsten hervor: Durch die Drucklegung des Stücks, einer deutschsprachigen Bearbeitung des 1550 entstandenen Abraham Sacrifiant von Theodor Beza, dem späteren Nachfolger Calvins in Genf, gab Chytraeus von Bremen aus seinen konfessionellen Wechsel zum Calvinismus öffentlich bekannt und verhöhnte seine früheren Dienstherren im lutherischen Rostock, wo er bis 1593 als Rektor der neugegründeten Stadtschule gedient hatte. Dennoch stellt Metz am Ende dieses Abschnitts fest, dass die von ihm analysierten AbrahamSpiele »eher das Gemeinprotestantische zum Gegenstand haben« (526). Die Stücke lassen zwar erkennen, ob sie von einem lutherischen oder reformierten Autor herrühren, aber die Unterschiede sind letzten Endes gering, und Polemik gegen die verwandte Schwesterkonfession bleibt als Teil der Handlung stets aus. Bei den Stephanus-Spielen geht es darum, wie die dramatischen Behandlungen des Protomärtyrers Stephanus die konfessionelle Identität im Luthertum mit formten. Alle vier von Metz herangezogenen Vertreter dieser Gattung stammen nämlich aus lutherischer Feder: Michael Saxos Tragödie von Stephanus (1564); Die Versteinigung Stephani von Sebastian Wild (1566); Zacharias Zahns Tragödie vom gesteinigten Stephanus (1589); und der Stephanus von Melchior Neukirch (1592). Auch wenn der Begriff »protestantisches Märtyrerdrama« vor allem an die Barockspiele von Andreas Gryphius erinnert, gibt Metz zu bedenken, dass sich ein Bewusstsein protestantischen Märtyrertums schon Mitte des 16. Jahrhunderts herauszubilden beginnt; neben seinem Hinweis auf den in Straßburg und Ulm tätigen Ludwig Rabus, Autor der Historien der Heiligen (1557), ließe sich für den europäischen Kontext vor allem John Foxes Actes and Monuments (1563) nennen, dessen Bedeutung für die englische Reformation kaum überschätzt werden kann. Die Stephanus-Spiele sind nach Metz ein Reflex dieses Bewusstseins, und er geht u. a. der Frage nach, ob diese Spielgruppe die Verfolger des Stephanus mit zeitgenössischen Katholiken gleichsetzt, um das von ihnen angesprochene evangelische Publikum im Bewusstsein seiner Auserwählung zu stärken. Hier kommt er zu dem überraschenden Befund, dass Saxo, Zahn und Neukirch die Peiniger des Stephanus eher als unfromme Glaubensgenossen charakterisieren. Es geht also schon um lutherische Identitätsstiftung, allerdings eher im Sinne der innerkonfessio-

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nellen Gemeindezucht, und Metz deutet die Stephanus-Dramen letzten Endes als »Ausdruck des Bedürfnisses eines angefochtenen Pfarrer- und Lehrerstandes nach Trost« (632). Ob sich dieses Ergebnis auf andere protestantische Märtyrerdramen des 16. Jahrhunderts übertragen lässt, wird sich vermutlich durch das neu gegründete DFG-Forschungsprojekt »Inszenierungen von Heiligkeit im Kontext der konfessionellen Auseinandersetzungen. Protestantische und katholische Märtyrerdramen des 16. und frühen 17. Jahrhunderts« an der Universität Gießen bald zeigen. Die Aufarbeitung dieser lang vernachlässigten Spielgattung durch das DFGProjekt belegt jedenfalls, dass Metz mit seinem Interesse an den StephanusDramen voll im Trend liegt. Das Lutherjahr 2017 hat noch einmal in Erinnerung gerufen, dass jede Generation ihr eigenes, stets neues Lutherbild pflegt. Die große Zahl an öffentlichen Aufführungen zum Leben des Reformators in diesem Jahr macht deutlich, wie sehr das Theater als lebendiges Medium geeignet ist, die anhaltende Bedeutung Luthers für Kirche und Politik zu verdeutlichen.1 Es ist daher umso kurioser, dass die von Metz analysierten biographischen Dramen bis jetzt kaum von der Luther-Forschung wahrgenommen wurden. Gerade solche Luther-Spiele, für einen breiten öffentlichen Rezipientenkreis gedacht, erlauben einen Blick auf »volkstümlichere Sichtweisen« des Reformators (636). Metz unterscheidet drei Typen von Luther-Spielen: 1) Dramen, die Biographisches aus dem Leben Luthers behandeln; 2) Dramen, die einen tradierten Stoff behandeln, bei dem die Figur Luthers eine tragende Rolle spielt; und 3) Dramen, in denen die Figur Luthers ebenfalls eine tragende Rolle spielt, deren Stoff bzw. Handlung allerdings vom Autor selbst herrührt. Metz identifiziert insgesamt zwölf Spiele aus dem Zeitraum 1580– 1624, die diese Kriterien erfüllen (639–662). Aus diesen wählt er dann je1   Ein Streifzug durch den von der Welt zusammengestellten Kalender zu Lutherjahr-Veranstaltungen im ganzen Bundesgebiet förderte vier Bühnen- bzw. Performance-Werke zu Tage, die eigens für das Lutherjahr geschaffen wurden: das in Eisenach aufgeführte Musical Luther  – Rebell wider Willen von Erich A. Radke und Tatjana Rese; das Schauspiel Luther von Felix Mitterer, das bei den Volksschauspielen Ötigheim bei Baden-Baden auf die Bühne kam; Robert Wilsons »genreübergreifendes« Werk Luther Dancing with the Gods, eine Zusammenarbeit mit dem Rundfunkchor Berlin; und last not least das Pop-Oratorium Luther von Michael Kunze und Dieter Falk, das neben 21 Auftritten in größeren Städten auch zahlreiche kleinere Orte besuchte, über 25.000 Laiensänger involvierte und bei seiner Ausstrahlung vom ZDF am Reformationstag ca. 1,7 Millionen Zuschauer erreichte. Vgl. https: /  /  www.welt.de / sonderthemen / luther-2017 / article163202498 / ReformationsjubilaeumAlle-Veranstaltungen-im-Ueberblick.html; http: /  / www.luther-oratorium.de / news /  details / das-war-die-tour-2017 /  (30 / 03 / 2018).



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weils einen Vertreter der oben genannten Typen: Andreas Hartmanns Erster Theil des Curriculi Vitae Lutheri (1600) gehört dem ersten Typus an; Der Eislebische Christliche Ritter von Martin Rinckart (1613) vertritt Typus 2 (von Metz als »Typ 2a« bezeichnet); und Friedrich Dedekinds Papista conversus (1596) steht für Typus 3 (bei Metz »Typ 2b«).Während andere eine Erstarrung des Lutherbildes gegen Ende des 16. Jahrhunderts feststellen, kommt Metz bei seiner Analyse zu dem Schluss, dass die Figur Luthers dynamisch bleibt, d. h. es gehe »stets um einen aktualisierten und damit instrumentalisierten Luther« (705). Der Vorzug dieser Dramen gegenüber anderen Arten der Erinnerungspflege sei, dass sie Luther im Umgang mit anderen Figuren auftreten lassen, was ihn als lebendigen, handelnden Menschen besser nachvollziehbar mache. Gerade für die Zeit nach der Konkordienformel konstatiert Metz ein neu entstandenes Inte­resse an der Person Luthers, das dramatische Werke am ehesten bedienen konnten. In ihrer aufeinander folgenden Behandlung von Forschungs- und Gattungsgeschichte ergänzen sich Teil  A & B der Untersuchung auf schöne Weise und eignen sich gut als Einführung in den protestantischen Theaterbetrieb des 16. Jahrhunderts. Auch die Anfänge des protestantischen Theaters in Sachsen und der Schweiz sowie die Fastnachtspiele aus der ersten Phase des Glaubenkampfs kommen hier zur Geltung. In seiner Liebe zum Detail nimmt Metz hier eine ganze Reihe von vernachlässigten Aspekten des protestantischen Schauspiels ins Visier, u.  a. vorbarocke Spielaufführungen an Fürstenhöfen (40–41) oder auch die französischsprachige Tradition neugläubiger Spiele (236–256). Trotz dieses umfassenden Überblicks gelten die Ergebnisse der Teile C & D in erster Linie für die Entwicklung des evangelischen Theaters im Reich. Lediglich ein Spiel unter den insgesamt 16 exemplarisch untersuchten Dramen stammt aus der Schweiz, nämlich das Spiel vom gläubigen Vater Abraham von Herman Haberer, Landschreiber in Lenzburg im Aargau. Metz ist sich zwar dessen bewusst, dass »reformiert« als Bezeichnung für die unterschiedlichen Ausprägungen der Reformation in Zürich, Genf und den Niederlanden (geschweige denn in der Kurpfalz und Nassau) problematisch ist: dem Mangel an einer »gänzlich überzeugende[n] Terminologie« versucht er u. a. durch eine zweieinhalb seitige Anmerkung (220–222) zu begegnen. Dennoch hätte im Teil  C die stärkere Einbeziehung von Spielen zwinglischer Prägung aus den 1530er und -40er Jahren zu aussagekräftigeren Ergebnissen zum Gang der konfessionellen Entwicklung unter Reformierten zwischen 1520 und 1618 geführt, auch wenn sie z. T. eine andere Stoffwahl erfordert hätte. (Überhaupt stellt sich die Frage, ob die empirische Beschränkung auf einzelne Stoffkreise die beste Lösung war, um in gleichem Maße lutherische wie auch reformierte Belange herauszuarbeiten;

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es gab durchaus unterschiedliche konfessionelle Vorlieben für bestimmte Stoffe, wie das Beispiel der Stephanus-Spiele zeigt.) Haberers Drama fällt jedenfalls in die Zeit nach dem Consensus Tigurinus, der 1549 zwischen Calvin und Heinrich Bullinger erreichten Einigung in der Abendmahlsfrage. Eine frühere Abfassung des Spiels hätte die Bedeutung der zwinglischen Tauflehre für die Beschneidungszene um Isaak, die Metz als Antwort auf die Ablehnung der Kindertaufe bei den Täufern deutet, vermutlich nicht wesentlich tangiert. Allerdings wäre das Œuvre des Zürcher Arztes und Dramatikers Jakob Ruf (gest. 1558) besser geeignet gewesen, Aspekte des zwinglischen Staatskirchentums zu erhellen, d. h. die für die deutschsprachige reformierte Schweiz typische Hoheit der weltlichen Obrigkeit in kirchlichen Dingen. Dieses staatskirchliche Verhältnis zwischen Klerus und weltlicher Macht unterschied sich diametral von den Vorstellungen Calvins, was für Argwohn auf beiden Seiten sorgte und den Konfessionalisierungsprozess in der Eidgenossenschaft stark beeinflusste. Gerade hier ist es bedauerlich, dass Metz anscheinend keinen Gebrauch gemacht hat von Hildegard Elisabeth Kellers fünfbändiger Arbeit Jakob Ruf: Leben, Werk und Studien (2008). Auch Heidy Greco-Kaufmanns Luzerner Theatergeschichte (2009), die neben dem 1574 dort einsetzenden Jesuitentheater der Weiterentwicklung eines mittelalterlichen bürgerlichen Spielbetriebs zu gegenreformatorischen Zwecken nachspürt, hätte Einiges zu bieten gehabt über nicht-jesuitische Formen des post-tridentischen katholischen Theaters. Der Hinweis auf die Studien von Keller und Greco-Kaufmann ist als Ergänzung zu einer beachtlichen Leistung zu verstehen und will zur weiteren Beschäftigung anregen. Das gilt hier abschließend auch für Metzens scheinbar unbewusste Ausklammerung der zahlreichen musikalischen Einlagen seiner Spiele, die gelegentlich nebenbei erwähnt werden (vgl. etwa 403, 451, 478). Da Luther, Zwingli und Calvin sich auch in ihrer Einstellung zum Gemeindegesang unterschieden haben, hätte eine Analyse der handlungsbegleitenden Chöre und Hymnen weitere Rückschlüsse auf die konfessionelle Funktion der Spiele erlaubt. Immerhin können wir seit Erscheinen der zweibändigen Arbeit von Irmgard Scheitler zur Schauspielmusik der Frühen Neuzeit, deren Ergebnisse Metz nicht zur Verfügung standen, erste allgemeinere Rückschlüsse über die Rolle von Kirchenliedern im protestantischen Drama ziehen, denen reformierte Autoren eher ablehnend gegenüber standen.2 Ein Blick auf Scheitlers Reper2  Vgl. den Abschnitt »Kirchenlied und Konfession« (Bd. 2, 367–375). Irmgard Scheitler, Schauspielmusik: Funktion und Ästhetik im deutschsprachigen Drama der Frühen Neuzeit, 2 Bde.; Bd. 1 (Würzburger Beiträge zur Musikforschung 2.1) Tutzing 2013, Bd. 2 (ortus studien 19) Beeskow 2015.



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torium zeigt, dass die Musik in mindestens zwölf der von Metz herangezogenen Spiele eine tragende Rolle spielte (vgl. Scheitler, Bd. 1, Nr. 239, 270, 397–399,450, 643, 738, 845, 873, 947, 965, 1216, 1225; es fehlen bei Scheitler die Spiele von Chytraeus und Stymmelius). Die vollständige Auswertung des protestantischen Schauspiels in Bezug auf seine konfessionelle Funktionalisierung muss in Zukunft auch seine Musik miteinbeziehen. Glenn Ehrstine, Iowa

Frédéric Ogée (Hg.), Sensing the World. Taste and the Senses in the Eighteenth Century (II), (Landau-Paris Studies in the Eighteenth Century, Bd. 5), Trier: WVT, 2017, 224 S., mit farbigen Illustrationen und Personenindex. Diese Sammlung von Konferenzbeiträgen (UCLA, Centre for seventeenth- and eighteenth-century studies, 2012) basiert auf der internationalen Zusammenarbeit in der Forschung zum 18. Jahrhundert zwischen der Universität Koblenz-Landau und der Université Paris Diderot. Ein erster Band  mit gleichem Titel erschien 2011. Wie der Herausgeber in seiner Einleitung im Rückgriff auf David Hume und Laurence Sterne herausstellt (der Titel des Bandes ist der Sentimental Journey entnommen), geht es in den vorliegenden Aufsätzen um das Gleichgewicht »between the demands of body and soul, of impulse and reason, of the sensorial and the sensible«, das durch den Begriff »sentimental« erfasst wurde. Dabei spielt das Erkennen und Beschreiben physiologischer Prozesse im Körper eine wichtige Rolle für die Bildung und Bewertung von Geschmack, einer Kategorie, die sowohl im wörtlichen Sinne (auf das eigene Empfinden gerichtet) zu verstehen ist, wie auch im übertragenen, wenn sie das Verhältnis zur Welt indiziert. Dass es aber nicht nur um ästhetische, sondern meist auch um soziale, politische bzw. moralische Fragen geht, wird bei der fortschreitenden Lektüre des Buchs immer deutlicher. Die Aufsätze fokussieren das Thema nicht durchweg mit der gleichen Stringenz, aber die Vielzahl der Fallstudien und der Zugänge garantiert eine anregende und fruchtbare Lektüre. Die Aufsätze beginnen mit einem programmatischen Aufsatz von Peter Hanns Reill (»Mediating between the Senses and Reason: Aesthetics and Vitalism in the High and Late Enlightenment«), der zum großen Teil  auf bereits veröffentlichten, umfangreichen Arbeiten zum Thema fußt. Für diesen Band  hilfreich, fasst er Erkenntnisse zur Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts zusammen und pointiert sie in einem Vergleich zwischen

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Wilhelm von Humbolds und William Blakes produktiver Rezeption des Vitalismus’. Beide, so argumentiert Reill, liefern Beispiele für den Einfluss des Vitalismus’ auf die Ästhetik der Aufklärung, indem sie den KörperGeist Dualismus überwinden und durch eine neue, positive Bewertung der Sinneswahrnehmung in eine höhere Dimension der Erkenntnis vorzudringen glauben als es rein rationale Denkprozesse vermögen. Damit ist der Grundstein für die folgenden fünf Kapitel gelegt: während drei Überschriften einen der Sinne (berühren, hören, sehen) benennen und damit einen direkten Bezug zum Titel der Sammlung und zur zentralen Fragestellung herstellen, beruhen die Überschriften der beiden anderen Kapitel auf der Metaphorik von Geschmack und Sinn. I. Tactility. Die beiden Aufsätze dieses Abschnitts loten die konkrete wie die übertragene Bedeutung von »touch« aus. Christoph Houswitschka (»›Do not touch me‹: The Politics of Touch in the Eighteenth Century«) eröffnet ein weites Feld. Die Berührung zwischen Lebewesen, so stellt er fest, ist immer von Reziprozität gekennzeichnet. Sie reicht von der (einvernehmlichen) Liebkosung mit den Fingerspitzen bis hin zur gewaltsamen Überschreitung der Körpergrenze im Akt der Folter oder der Vergewaltigung. Das Beispiel aus Samuel Richardsons Clarissa ist einschlägig; es hätte in einem weiteren Schritt verknüpft werden können mit der (in anderen Beiträgen aufgegriffenen) Diskussion über den Erkenntnisgewinn (sowohl von Lovelace als auch von Clarissa) auf der Grundlage ihrer jeweiligen Sinneswahrnehmung. Der Beitrag regt darüber hinaus Überlegungen an zum übertragenen Sinne von »touch« im Kontext des Rechts und der politischen Repräsentation. Er mündet in die These, dass die physisch Berührten grundsätzlich an Macht verlieren (oder nie welche hatten), die Berührenden aber ihre Macht durch diesen Akt untermauern, während der metaphorische Gebrauch von »touch« sowohl Respekt vor der Person als auch den Schutz des Körpers durch das Recht signalisiert. Hier stellt sich die Frage nach der Funktion und Bedeutung der heilenden Berührung, die Marcel Hartwig (»Palpitation and Knowledge: Touch in 18th-century English Literary and Medical Discourse«) aufgreift und zunächst auf der Grundlage ausgewählter literarischer Texte untersucht. Seine These lautet, dass Berührung (im wörtlichen wie im übertragenen Sinne) in der Regel nicht zum Wissen, sondern zum Gefühl führt, oder im umgekehrten Prozess von ihm ausgelöst wird: »tactile sensations in the above examples hint rather at sensibilities than at rational understanding« (47). Im Gegensatz dazu steht der medizinische Diskurs, vor allem in der Geburtshilfe. Hier führt die Berührung, genauer das Abtasten, zu wichtigen Erkenntnissen bezüglich des Körpers von Mutter und Kind: »touch fulfils primary functions such as the understanding of the idea of solidity«,



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»touch serves as a method of diagnosis« (53). Darüber hinaus erlaubt diese Diagnostik auch die Erkenntnis von Individualität des jeweiligen weiblichen Körpers. II. Hearsay. Alle drei Aufsätze dieses Kapitels setzen sich mit Rezep­ tionsprozessen von Musik auseinander, d. h. nicht nur mit dem spontanen Höreindruck, sondern auch mit der kontrollierten, erlernten, oder gesellschaftlich normierten Verarbeitung der sinnlichen Erfahrung. Pierre Degott (»Emotion, Affectation and Theatricality: the Ethics of Hearing as a Matter of Taste«) nimmt die Kritik an zur Schau gestellter emotionaler Rührung während der Aufführungen italienischer Opern und Händels Oratorien in den Blick. Laurel E. Zeiss (»›For whose Ear‹? The Reception of Mozart’s Music«) widmet sich dem Hörerlebnis, das für den Kenner ein anderes ist als für den Liebhaber, da komplexe Strukturen wiederholtes Hören erfordern, während einfache Melodien sofort den Weg zur Emo­ tion finden. Zeiss zeichnet nach, wie Mozarts Anspruch, ein breites Publikum zu erreichen, in Bezug auf musikalisch vielschichtige Opern wie die Entführung aus dem Serail, aber auch auf seine Kammermusik, erst in die Realität umgesetzt werden konnte, als das Publikum die neuen Anforderungen an das Hören von Musik akzeptierte. Christoph Heyl (»Handel’s Oratorios and the Taste of Eighteenth-Century London Audiences: Solomon as a Box Office Disaster«) interpretiert die Tatsache, dass es nur drei Aufführungen von Solomon am Ende der Fastenzeit von 1748 gab, als eindeutiges Zeichen für die Ablehnung des Oratoriums durch das Publikum. Er räumt ein, dass es keine kritischen Stimmen in der Presse dazu gab (wir wissen von sehr positiven Beurteilungen in privaten Dokumenten, vgl. auch die Hallische Händelausgabe des Solomon von 2014), wagt aber (im Einklang mit Joachim Carlos Martinis Einführung zu seiner CD des Oratoriums von 2004 mit der Jungen Kantorei – »worried the prudish sensibility of the audience«) die These, dass die protestantische Mittelschicht durch sinnliche, vorwiegend erotisch gefärbte, Partien des religiös konnotierten Oratoriums irritiert gewesen sei. Heyl schreibt dies vor allem den Liebesarien und -Duetten des ersten Akts zwischen Solomon und seiner Ehefrau zu (die sich, wie die Forschung feststellte, am Hohen Lied orientieren), sowie den im dritten Akt ausführlich gewürdigten und performativ inszenierten Effekten der Musik, die Solomon für den Staatsbesuch der Königin von Saba (die Anlehnung an die Court Masque ist in der Forschung unstrittig) arrangiert. III. Seeing Things through. Die beiden Aufsätze dieses Kapitels verhalten sich beinahe komplementär zueinander: während Amélie Junqua (»The Continuous Deception of Colours«) sich der Nahaufnahme des künstlich gefärbten, täuschenden menschlichen Gesichts zuwendet, schreitet Frédéric

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Ogée (»›A Work to Wonder at‹: Seeing the English Landscape Garden«) die Erkenntnisse eröffnenden Perspektiven englischer Gärten ab. Junqua untersucht die Beurteilung des (vor allem weiblichen) Gebrauchs von Farben in Kosmetik und Garderobe durch den Spectator und spätere, von ihm beeinflusste Wochenschriften. Sie zeigt auf, wie männliche Autoren versuchen, den Gebrauch von Farbe (die Emotionen erregt) durch Frauen in ihren Texten zu kontrollieren. Dabei stellt sie sowohl (erwartbare) satirische, aber auch bewundernde Äußerungen vor; letztere beziehen sich vor allem auf den zurückhaltenden bzw. formvollendeten Gebrauch von Farben, mit dem Frauen einen schlichten Stil pflegen und ihre gesellschaftliche Position (quasi durch ›Selbstkontrolle‹) stärken. Beim Durchschreiten der wechselnden Perspektiven des Landschaftsgartens, vor allem durch einen bewusst reflektierenden Kenner, wird der Akt des Sehens (begleitet von Hören, Riechen und Tasten) nicht nur von der Imagination begleitet und unterstützt, sondern dient auch als Illustration der Erkenntnisse empiristischer Philosophie: nur die wiederholte und jeweils als partiell erkannte Sicht auf die Teile des Gartens gerinnt zur kumulativen Erfahrung und somit zum Wissen, das sowohl Natur als auch Kultur (Kunst) umfasst und zueinander in Beziehung setzt. IV. The Sense of Otherness. In diesem Kapitel steht die Auseinandersetzung mit materiellen Manifestationen der Kunst Chinas (integriert in den heimischen Haushalt) und Italiens (auf der Reise erfahren und sprachlich verarbeitet) im Fokus. Vanessa Alayrac-Fielding (»The Aesthetics of Chinoiserie and the Economy of Taste in Eighteenth-century England«) konzentriert sich auf chinesische Tapeten und Porzellan, die in eigens dafür ausgestalteten Räumen zur Geltung gebracht werden und eine Vielzahl von Bedeutungen (Wohlstand, Geschmack, Eleganz, künstlerische Gestaltung, imperiale Macht) transportieren. Der Aufsatz bietet eine facettenreiche Interpretation der Funktionen dieser Räume und ihrer Inhalte besonders für Frauen. Sie konnten im chinesischen Zimmer einerseits ihre Kreativität und Kennerschaft unter Beweis stellen, andererseits sich aber auch  – wie im Spectator 37  – dem Vorwurf einer oberflächlichen Vergnügung aussetzen.Wenn sie nur den schönen Schein von Formen und Farben genossen und eine Schau im Stil des Rokoko zusammenstellten, erschienen sie bar jeder substantiellen Bildung und konnten keinen gesellschaftlichen Nutzen für sich in Anspruch nehmen. Unter diesen Vorzeichen musste selbst die englische Teezeremonie, bei der Frauen und Männer (aus unterschiedlichen Berufen) bei gepflegter Unterhaltung zusammenkamen, als »the perfect emblem of the fragile social edifice of concordia discors« (155) erscheinen. Im Gegensatz dazu erläutert Robert Mankin (»A Man of ­Sense Surveys Europe: Edward Gibbon abroad, 1764«) eine Bildungsreise. Er



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stellt einen Zusammenhang her zwischen dem sinnlichen (vor allem visuellen) und ästhetischen Erfahrungsprozess Gibbons im Laufe seiner Grand Tour, die er in französischer Sprache dokumentiert (leider sind in den Zitaten alle accents aigus durch accents graves ersetzt), und seinem magnum opus, Decline and Fall of the Roman Empire. Mankin sieht in Gibbons Auseinandersetzung mit der Kunst der Renaissance in Italien eine Quelle seiner Fähigkeit »to see and feel in multiple registers« (171), und dem Vermögen, den Sinneseindruck mit seiner analytischen Auswertung zu verbinden. V. The Politics of Taste. Das Kapitel führt von der konkreten Fallstudie zur Aktualisierung grundlegender Fragen, die im Hintergrund aller Aufsätze mitschwingen: welchen Stellenwert hat das Geschmacksurteil im Rahmen der Ethik einer Gesellschaft? Madeleine Descargues-Grant (»›From head […] to eyes‹: John Wilkes in the flight of taste«) untersucht die Art und Weise, wie der Whig Politiker Wilkes, vor allem in der Auseinandersetzung mit Lord Bute, eine Vielzahl von satirischen und polemischen Texten nutzt, um seine Ziele zu erreichen. Dabei führt er gleichzeitig einen Kulturkampf, in dem er vor schlechtem Geschmack und populären Formen der Unterhaltung nicht zurückschreckt und sich so eines breiten Publikums versichert, das in Wilkes’ Gegenspielern nicht zuletzt eine obsolete Tory Partei erkennen sollte, deren ›guter‹ Geschmack verstaubt und affektiert wirkte. Die These des Artikels lautet, dass die Vielzahl der Gattungen und der Stimmen aus verschiedenen sozialen Schichten einen Umbruch signalisiert: weg von einem (elitären) maßgeblichen Geschmacksideal, das als Prärogativ des Gentleman galt, hin zu einer lebhaften, politisch geprägten, medialen Auseinandersetzung, in der unterschiedliche Diskurse miteinander in Konkurrenz treten. Robert Maniquis (»From Deadly Dullness to Murderous Anarchy: Good Taste and Morality«) nimmt diesen Faden auf und spinnt ihn weiter. Er schlägt einen großen Bogen von Alexander Popes satirischer Warnung vor den Gefahren des schlechten Geschmacks, der zur völligen Lethargie der Gesellschaft führen kann und daher ein erhebliches politisch-moralisches Gefahrenpotential bildet, zu Autoren des 20. und 21. Jahrhunderts, die sich ebenfalls mit den Konsequenzen schlechten Geschmacks, bzw. schlechter Literatur, für die Gesellschaft und deren Moral auseinandersetzen. Auch wenn es keine Norm mehr für den guten Geschmack gibt, so geht Maniquis davon aus: »tastes can perhaps still grasp at what is right to do. And aesthetically inspired honesty may support the will to do what is right« (211). Das wäre Grund genug, dem Thema weitere Untersuchungen zu widmen. Sabine Volk-Birke, Halle

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Hebbel Jahrbuch, Bd. 71 / 2016. Herausgegeben im Auftrag der Hebbel-Gesellschaft e. V. von Martin Langner und Hargen Thomsen, Heide: Boyens, 151 S.  Das seit 1939 verlegte Jahrbuch der Hebbel-Gesellschaft (nicht erschienen zwischen 1944-1948) reflektiert die lange Rezeption und Forschung zu Biographie und Werk Hebbels und schlägt unerwartet aktuelle Verbindungen zur Gegenwart, hier am Beispiel des Dramas Judith. Als erster verfolgt Karol Sauerland (Warschau) die erschreckende Aktualität, die im Motiv des Kopf-Abschlagens bzw. der Enthauptung sichtbar wird, das in der Praxis des IS-Staates schockierend zurückkehrt. Das Kopfabschlagen war im Mittelalter Privileg der Adligen und verschwand mit der Erfindung der sog. Köpfmaschine (Guillotine). Zahlreiche Reflexe dieser mechanisierten Tötungsform verarbeiteten die Autoren des 19.  Jahrhunderts, Ch.  D. Grabbe in Napoleon oder die hundert Tage, H. Heine in den Englischen Fragmenten oder später in Deutschland, ein Wintermärchen und natürlich G. Büchner in Dantons Tod, als Dantons sarkastisch den Henker fragt: »Kannst du verhindern, daß unsere Köpfe sich auf dem Boden des Korbes küssen?«  – Kontinuität und Wandelbarkeit des biblischen Stoffes untersucht Julia Diestelhorst (Mainz) am Beispiel der Judith-Bearbeitung, die der Dramatiker und Hörspielautor Lothar Trolle (geb. 1944) verfasste und die Wera Herzberg an der Berliner Schaubühne inszenierte. Trolle folgt darin seiner lange geübten Technik des »Widerslesens« (27), mit der er verfemte Autoren gegen die Literaturdoktrin der DDR aktualisierte, auch auf die Gefahr hin, die Texte fast zu entstellen: Hebbels Judith zeigt im religiösen Kontext das Schicksal einer Frau, Trolles Judith ist das Sinnbild für das wiederkehrende Schicksal des jüdischen Volkes.  – Mit der Berliner Uraufführung der Judith am 6.  Juli 1840 beschäftigt sich Agata Gaczorek (Krakow), indem sie die  – mit Hebbels Einwilligung stark veränderte – Theaterfassung mit dem späteren Erstdruck von 1841 vergleicht. Die Inszenierung, so das Fazit dieser anschaulichen Rezeptionsstudie, musste der Zensur halber die schockierenden Elemente zurücknehmen und die Titelfigur zur tieffrommen Retterin erheben, möglicherweise um dem damaligen Publikum Hoffnung und Zuversicht in der unsicheren, krisengebeutelten Zeit vor der Revolution zu vermitteln.  – Von einem »heimlichen Verehrer« Hebbels handelt Walter Hettches (München) Beitrag und verweist in einer materialreichen, literarhistorischen Analyse auf die Beziehung zwischen Hebbel und Gaetano bzw. Cajetan Cerri (18261899) hin, einem Schriftsteller, Übersetzer und Beamten im österreichischen Außenministerium, der Hebbel mit den Worten ›Dem Giganten der deutschen Literatur‹ (61) seinen Gedichtband Glühende Liebe. Deutsche Lieder eines Italieners widmete (eine Widmung, die Hebbel nirgendwo



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nannte) und 1851 sogar ein Sonett An Friedrich Hebbel verfasste. Ähnliche Beweise der Bewunderung erfuhren Franz Grillparzer, und Anastasius Grün, die den Enthusiasten nicht vor Hettches Verdikt retten können: »Nicht nur in Cerris Lyrik, auch in seinen Feuilletons gehen Gedankenarmut und Geschwätzigkeit eine fatale Verbindung ein« (67). – Wertvolles literarhistorisches Material präsentiert Hargen Thomsen mit neu aufgetauchten Briefen als Nachtrag zum 1999 erschienenen Briefwechsel. Darunter sind Schreiben an den Verleger Friedrich Brockhaus und bisher ganz unbekannte Handschriften der Schauspielerin und Übersetzerin Zerline Gabillon.  – Zuletzt wird in der vorliegenden Ausgabe Christopher Ecker gewürdigt, dem 2015 der Hebbel Preis zuteil wurde (mit der Begründung der Jury und der Laudatio von Alban Nikolai Herbst); den erstmals verliehenen Förderpreis der Hebbelstadt Wesselburen erhielt die Nachwuchswissenschaftlerin Susanne Schul für ihre Dissertation HeldenGeschlechtNarrationen, in der sie Nibelungen-Adaptionen untersucht (erschienen 2014). – Fazit: Hebbels Werk lebt! Das belegt auch Hargen Thomsen, der Sekretär der Gesellschaft, mit einer Rezension eines Lexikons der HebbelZitate (v. Ernst Lautenbach, München: Iudicium 2014) sowie sein Bericht über das Museum in Wesselburen und seine Theaterumschau. Inszeniert wurden im Jahr 2015 die Nibelungen im Hamburger Thalia Theater, im Südthüringischen Staatstheater Meiningen, im Theater Lübeck, im Staatsschauspiel Dresden und im ETA-Hoffmann-Theater Bamberg sowie M ­ aria Magdalena im Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Anna Sawko von Massow, Heidelberg Hebbel Jahrbuch, Bd.  72 / 2017. Herausgegeben im Auftrag der Hebbel-Gesellschaft e. V. von Martin Langner und Hargen Thomsen, Heide: Boyens, 160 S.  Das aktuelle Jahrbuch der Hebbel-Gesellschaft schließt an eine lange Tradition an und zeigt immer wieder neue Herangehensweisen an das Schaffen des berühmten Dramatikers auf. Die vorliegende Ausgabe eröffnet ein Nachruf auf die Literaturwissenschaftlerin Barbara WellhausenStern (1918–2016) von Martin Langer (Kraków), die in den Jahren 1981 bis 1989 das Hebbel-Museum leitete und von 1986 bis 1990 den Posten der Präsidentin der Hebbel-Gesellschaft innehatte. Der Band  widmet sich insbesondere der Rezeption Hebbels, mit Ausnahme der zwei letzten Beiträge, die sich schwerpunktmäßig mit der Arbeitsweise des Dramatikers und Lyrikers befassen.  – Maria Kłańska (Kraków) geht in ihrem Aufsatz auf Friedrich Hebbel und Henrik Ibsen (1828–1906) ein, versucht teilweise auf die vorhandenen Vergleiche und Auffälligkeiten Bezug zu nehmen,

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in denen Ibsen vor allem als die vollkommene Verkörperung von Hebbels Ideen gilt (nach Leo Berg, 1889, 12), sie betont aber auch das »reziproke« Verhältnis (12) der beiden Autoren. Sie geht auf die Biographien der Künstler ein, betrachtet ihre Möglichkeiten, sich im Ausland aufzuhalten, vergleicht einzelne Werke und stellt fest, dass für beide insbesondere das Drama als die Gattung galt, in der sie sich entfalten und ihre Anschauungen unterbringen konnten, die hauptsächlich den Konflikt zwischen dem Individuum und der Welt, zwischen Mann und Frau thematisierten. Ähnlichkeiten sind in der Einstellung zum Schreibprozess festzuhalten; aus dem Inneren heraus und aus dem Erlebten heraus entstehen dramatische Figuren. Ihre weltanschaulichen Ansichten unterscheiden sich: Hebbel gilt als Beobachter und vorsichtiger Reformer, Ibsen als Revolutionär (28).  – Der Beitrag von Susanne Schul (Kassel) behandelt das Thema des heroischen Erzählens im Nibelungenlied und in den Nibelungen-Adaptionen, zeigt Hebbels Faszination für den Stoff und betrachtet ausgewählte Aspekte im Bezug zum Sujet heroisches Erzählen. Zuerst wird die medienkomparative Perspektive diskutiert und Hebbels Stück als »Wendepunkt« (39) in der Stoffrezeption der Nibelungensaga bezeichnet, da seine Fassung die Bearbeitungen des Stoffes bis in das 21. Jahrhundert geprägt hat. Eine aktuelle Brisanz zeigt Hebbels Werk, insbesondere Die Nibelungen, auch im Hinblick auf die Theorie der Intersektionalität (Sozialwissenschaften), deren Hauptprämisse in der Analyse der Überschneidungen und Wechselwirkungen liegt. Dabei gerät das Gros der Bearbeitungen unter die Lupe der Wissenschaftler, die aus dieser Fülle eine Kategorisierung anstreben. Des Weiteren wird die Theorie der Intersektionalität in Bezug auf die Genderproblematik und Transformation beleuchtet, wobei durch die Visualisierung des Stoffes neue Ansätze bzw. eine Bestätigung der alten Interpretationsversuche zutage gefördert werden.  – Xiaoqiao Wu (Beijing) beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Rezeption Hebbels in China seit dem letzten Jahrzehnt und bezieht die neuen Forschungsergebnisse mit ein, vor allem die Tätigkeit von Wang Guowei, einem Geisteswissenschaftler, der sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts intensiv mit Hebbel befasste. Wu konstatiert, dass die Bedeutung und die Popularität Hebbels in China leider im letzten Jahrzehnt ihren Tiefpunkt erreicht haben. Aktuelle Forschungsbeiträge erreichen das Land nicht und es mangelt an internationalem Austausch, der für die Fortsetzung der Rezeption notwendig wäre.  – Die Geschichte der Hebbel-Rezeption im 19. Jahrhundert findet sich im Beitrag von Martin Langer (Kraków), der auf die erste bedeutende Hebbel-Bibliographie von Hans Wütschke aus dem Jahr 1910 zurückgreift und eine Fortsetzung anstrebt. Seit 2015 in einem wissenschaftlichen Projekt verankert, ist der Verfasser bemüht, die Forschungsliteratur elektronisch zu erfassen und zu ergänzen, um die Publikationen über Hebbel, die In-



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szenierungen seiner Dramen, die Lyrik-Anthologien und schließlich Hebbels Rezeption in der Musik zusammenzutragen. Bereits nach der ersten Arbeitsphase stellt der Autor fest, dass die Rezeption Hebbels im 19. Jahrhundert immer noch nicht vollständig erschlossen ist.  – Eine neue Perspektive auf Hebbels Arbeitsweise bietet der Beitrag von Hargen Thomsen; er schildert die Ausgangssituation, von der aus Hebbel selbst sich in einen schöpferischen Prozess begab. Die Natur war für ihn eine Inspirationsquelle; das Erleben und den Einfluss der Natur auf seine Texte erschließt Thomsen chronologisch und zeigt die große Bandbreite der Naturbeobachtung und Naturwahrnehmung, die als Referenzpunkte gelten und Aussagen über das Leben in literarischen Texten ermöglichen.  – Oliver Pfau (Paris) sieht in Friedrich Hebbel einen Pionier der Moderne und belegt seine These am Beispiel der Lyrik. Nach ausführlicher Analyse wird das Gedicht Linde als paradigmatisch vorgeschlagen und seine in Form und Inhalt verschlüsselten Aussagen als Aufbruch in die Moderne gedeutet.  – In einem Theaterbericht schaut Hargen Thomsen auf 25 Jahre zurück, denn so viele Theaterberichte sind im Hebbel-Jahrbuch bis 2017 erschienen. Quer durch Deutschland und die deutschen Feuilletons berichtet Thomsen von den Inszenierungen und wirft einen Blick zurück auf die Vorlieben der Intendanten und der Regisseure, die zuerst hauptsächlich Hebbels Stück Maria Magdalena favorisierten. Die Gewichtung änderte sich mit den Jahren und zunehmend eroberten die Nibelungen die deutschen Bühnen. 2016 konstatiert Thomsen einen Einbruch in dieser Tradition  – auch wenn zwei Inszenierungen in Düsseldorf und in Münster zu erwähnen sind. Die Vorreiterrolle übernahm Judith, zuerst an der Berliner Volksbühne inszeniert, wenig später in Konstanz, Ulm und Bonn.  – Das Jahrbuch bietet auch einige Rezensionen zu folgenden Neuerscheinungen: Stephan Baumgartner: Weltbezwinger. Der ›große Mann‹ im Drama 1820–1850, erschienen 2015 im Aistheisis-Verlag in Bielefeld, von Magdalena Idzi; Renate Berger: Tanz auf dem Vulkan. Gustaf Gründgens und Klaus Mann, erschienen 2016 in Darmstadt (WBG), von Martin Langner; Zoë Ghyselinck: Form und Formauflösung der Tragödie. Die Poetik des Tragischen und der Tragödie als religiöses Erneuerungsmuster in den Schriften Paul Ernsts (1866–1933), erschienen 2015 bei De Gruyter in Berlin  /  Boston, von Hargen Thomsen, sowie die ebenfalls von Hargen Thomsen verfasste Besprechung von Paul Ernsts Polymeter. Gedichte, hg. von Ralf Gnosa bei Reinecke & Voß 2016 in Leipzig.  – Den Band  beschließen der Bericht des Sekretärs, Hargen Thomsen, und ein Museumsbericht von Rüdiger Möller. Anna Sawko von Massow, Heidelberg

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Klaus-Groth-Gesellschaft, Jahrbuch 2017. Herausgegeben im Auftrag der Klaus-Groth-Gesellschaft von Dieter Lohmeier in Verbindung mit Bernd Rachuth, Bd. 59. Heide: Boyens, 206 S.  Mit der aktuellen Frage »Wie gewinnen wir ein neues und junges Publikum für unsere Dichter-Häuser?« beginnt das neue Jahrbuch der Gesellschaft und berichtet von einem Podiumsgespräch auf der Jahrestagung 2016, an dem Christian Demandt (Husum), Birte Lipinski (Lübeck), Telse Lubitz (Heide), Bernd Rachuth (Heide), Ulrich Schulte-Wülwer (Flensburg) und Hans Wißkirchen (Lübeck) teilgenommen haben. Nach einem kurzen Abriss der gegenwärtigen Lage werden die Aussichten und die Integration der Jugendlichen in der musealen Arbeit diskutiert.  – Im ersten Beitrag von Jens Ahlers (Kiel) geht der Verfasser der Frage nach, welche Haltung Groth und Storm zur schleswig-holsteinischen Frage einnahmen und welche Auswirkungen der historische Wendepunkt 1864 für die beiden Schriftsteller und für die beteiligten Staaten Dänemark, Deutschland und Schleswig-Holstein hatte. Storms abweisende Haltung Preußen, aber auch dem Herzog Friedrich gegenüber, ist in seinem Brief an Theodor Fontane vom 19.  Dezember 1864 belegt. Aus Überzeugung plädierte er für die Zusammengehörigkeit der Herzogtümer und war gegen die Fremdbestimmung von Schleswig-Holstein. Dagegen gefiel sich Klaus Groth in der Rolle des Unterstützers, machte sich zum »Fürsprecher des Augustenburgers« (37) und wurde als patriotischer Dichter abgestempelt. Für beide war die preußische Annexion enttäuschend, für Storm sogar mehr als für Groth, der die neue Situation hinnahm. Die innere Emigration war dann für beide die Möglichkeit, sich aus dem politischen Geschehen zurückzuziehen. – Robert Langhanke (Flensburg) widmet sich in seinem Beitrag Groths Situation im Jahr 1867, einem Jahr, in dem der Schriftsteller zuversichtlich in die Zukunft blickte. Politische und gesellschaftliche Ansichten Groths kommen zur Sprache, sowie sein Umgang mit familiären und freundschaftlichen Beziehungen, z. B. mit Theodor Storm und Emanuel Geibel (1815–1884), der Kontakt zum plattdeutschen Dichter und Lehrer Joachim Mähl (1827–1909), für den Groth ein Ansprechpartner in verlegerischen Angelegenheiten war, sowie die Unterstützung für Ferdinand Freiligrath (1810–1876), der 1867 im englischen Exil in eine finanzielle Notlage geriet. – Von einem Briefwechsel in den Jahren 1857–1860 zwischen Groth und dem Übersetzer Richard Reinhardt (1820–1898), dessen übersetzerische Tätigkeit sehr fraglich ist, da die Übersetzung von Quickborn seine einzige Arbeit dieser Art war, berichtet Enzo Maaß. Aus einer kaufmännischen Familie stammend, widmete sich Reinhardt letztens Endes dem Beruf seiner Vorfahren. Wertvoll und inte­



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ressant sind die abgedruckten Briefe, die im Groth-Nachlass der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek verwahrt werden, auch wenn sie leider eher erfolgslose Bemühungen von Reinhardt belegen. Erst in den 1880er-Jahren finden Groths Texte in französischer Übersetzung Verbreitung: 1881 die Erzählung Detelf und 1885 Witen Slachters. Dabei tauchen Auffälligkeiten auf, die berechtigterweise nahe legen, dass Groth mög­ licherweise von derartigen Unterfangen gar nicht wusste: Die Übersetzungen stammen nicht aus Frankreich, sie beziehen sich nicht auf die Veröffentlichungen in der Revue Germanique, weder die früheren Werke von Groth noch die Namen der Übersetzer finden Erwähnung und umsonst sucht man sie im Verzeichnis der Privatbibliothek von Groth (107). Doch trotz dieser missglückten Verbreitungsversuche wird in den 1890er-Jahren Groth eine späte Ehre zuteil. Der Komponist Peter Benoit (1834–1901) schreibt eine Partitur zu Mijn Moederspraak und erobert die Bühnen Europas. – Zur zeitgenössischen Rezeption von Quickborn (1852) äußert sich in ihrem Beitrag Barbara Scheuermann (Göttingen) und verweist auf Claus Harms (1778–1855), den Verfasser des Vorworts für Quickborn, der sich als Theologe für das Plattdeutsche als Kirchensprache engagierte und Groths Gedichtband lobte. Harms selbst fand auch Bewunderung nicht nur unter seinesgleichen. Der Altphilologe Peter Wilhelm Forchhammer (1801–1894) pries seine Verdienste und ehrte das 25-jährige Dienstjubi­ läum.  – Die zwei weiteren Beiträge von Marianne Ehlers (Bordesholm) und Robert Langhanke (Flensburg) sind in Plattdeutsch verfasst und berichten über Johann Hinrich Fehrs’ (1838–1916) Leben und Werk. 1889 verfasste Fehrs ein Gedicht an Groth, das die Autorin hier zur Sprache bringt. Robert Langhanke ehrt Fehrs mit dem Vergleich, er sei der ›plattdeutsche Storm‹ (139) und allein durch diesen Vergleich versucht er sein Schaffen aufzuwerten.  – Der letzte inhaltliche Beitrag widmet sich dem Mythos Gorch Fock (1880–1916), einem Autor, der wie kein anderer in der deutschen Literatur für die Schilderungen der Seefahrt steht. Verschiedene Aspekte der Seefahrt stehen im Mittelpunkt, ihre Grenzüberschreitung, die Bedeutung der Fischerei, ihr kriegerisches Potential, die Existenz eines eigenes Traditionsraumes Finkenwerder und die Bedeutung von Hamburg als Heimat- und Erinnerungsort in seiner besonderen topographischen Lage.  – Reinhard Goltz (Bremen) stellt den Gewinner des Quickborn-Preises 2017, Hermann May, und seine Gedichte vor. – Schließlich folgen zwei Laudationes auf Hans Helge Ott, Gewinner des HeinrichSchmidt-Barrien-Preises 2016 (von Frank Gruppe) und auf Anni Heger, Gewinnerin des 26. Kappelner Literaturpreises (von Marianne Ehlers).  – Unter »Lütte Happen« finden sich Informationen aus der Region, ein Bericht von der Wiedereröffnung des Museums auf Lüttenheid und Im-

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pressionen von der Jahrestagung 2016 sowie ein Artikel der Dithmarscher Landeszeitung vom 26. April 2016, in dem über die Bedeutung der musealen Landschaft der Region berichtet wurde. Anna Sawko von Massow, Heidelberg Schriften der Theodor-Storm-Gesellschaft. Bd. 66 / 2017. Im Auftrag der Theodor-Storm-Gesellschaft herausgegeben von Dieter Lohmeier. Heide: Boyens, 128 S.  Der 66te Band  der Schriftenreihe beginnt mit einem Nachruf auf den herausragenden Wissenschaftler und Storm-Forscher Karl Ernst Laage (1920–2017). Dieter Lohmeier (Kiel) blickt zurück und zeichnet das Porträt eines Mannes, dessen Leben vom Krieg gezeichnet, eng mit der Schleswig-Holsteinischen Region und ihrer Kultur verbunden war. Als Präsident und Sekretär der Theodor-Storm-Gesellschaft kümmerte sich Laage ehrenamtlich um das Erbe des großen Schriftstellers.  – Der erste Beitrag des Bandes liefert einen Blick auf die Figuren, die die Texte von Storm bevölkern. Der Verfasser, Andreas Blödorn (Münster), beschäftigt sich mit den übernatürlichen Kräften, geisterhaften Gestalten, Doppelgängern und ihrer destabilisierenden Funktion in Storms Texten im Rahmen der Realitätskonzeption. Der Störfaktor, der durch diese manchmal zwielichtigen, manchmal kuriosen Gestalten entsteht, kann als Versuch gedeutet werden, der nach einer Auseinandersetzung mit dem Übernatürlichen die Rückkehr zur Realität ermöglicht, nachdem das Unbewusste im Selbstgespräch mit dem Metaphysischen zu einer Lösung gelangt ist. Das nachhaltige Interesse des Autors am Unheimlichen mag den Ausdruck und die Meinung von Strom vermitteln, dass die menschliche Seele weit mehr ist, als das was an der Oberfläche erscheint (z. B. in der Novelle Schweigen, 16), und dass ein literarischer Text durchaus eine therapeutische Funktion erfüllen kann.  – Auch die Frage der Schuldzuweisung im Schimmelreiter ist ein Problem des Gewissens und kann nach wiederholter Textanalyse neue Ansätze zur Konfliktlösung beisteuern, wie David A. Jackson (Cardiff) es in seinem Beitrag zu beweisen sucht. Er versucht persönliche Motive anzuführen, die den Kampf zwischen Hauke und Ole anfeuern, um einen Keil zwischen die Gemeinde und Hauke zu treiben. Die Entwicklung von Hauke und seine Charakterzüge ändern sich unter dem Einfluss von Oles Handlungen und Äußerungen. So sind die Beiden symbiotisch miteinander verbunden und ihre Reaktionen aufeinander bringen den Konflikt ins Rollen.  – Auf eine interkulturelle Spurensuche zu Storms Novellenfragment Die Armesünder-Glocke (1888) begibt sich im nächsten Artikel Erk F. Hansen (Überlingen) und versucht die Bezüge



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zu »(re?)konstruieren« (49)  – die Schreibweise ist ein Hinweis auf die doch recht spekulative Arbeit, wie es der Autor selbst eingangs betont. Die Schwierigkeit liegt im Mangel an Zeugnissen, die für eine derartige Spurensuche notwendig wären. Daher zieht er zwei andere Texte von Storm heran, an denen dieser in den letzten Jahren seines Lebens gearbeitet hat: ein Kapitel Wie den alten Husumern der Teufel und der Henker zu schaffen gemacht (1871) sowie Sylter Novelle (1887) und versucht in genauer Fragmentanalyse Motive und Figuren aufeinander zu beziehen.  – Auf das meist verfilmte Werk von Theodor Storm, Pole Poppenspäler, referiert in seinem Beitrag Hans Krah (Passau), analysiert die einzelnen filmischen Adaptationen der Novelle (1935, 1954 DDR, 1968 BRD, 1989) und kritisiert zugleich die doch recht einseitige Interpretation des Werkes, die auf eine Jugendlektüre verkürzt wird – eine Tendenz, die sich auch bei den Verfilmungen fortsetzt. Dabei ließe sich gerade das Motiv des Puppenspiels im literarhistorischen Kontext viel tiefgründiger erfassen und deuten. Die einzelnen Verfilmungen sind die Zeugen ihrer Zeit, lassen sich in den jeweiligen politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Umständen verorten und spiegeln den »Umgang mit dem kulturellen Erbe« (90) des jeweiligen historischen Moments. – Ein Zitat von Storm »Er reflektiert fast immer, ist der modernste aller Poeten« (107) greift in ihrem Beitrag Marianne Wünsch (Kiel) auf. Sie zeigt Storm als Kenner des berühmten Dramatikers und bezieht sich auf die psychologische Darstellung der Figuren und ihre Einstellung zur Sexualität hauptsächlich in Hebbels Judith und Gyges und sein Ring. Durch diese Verfahrensweise wird Hebbel eine Modernität attestiert, die bereits unter den Zeitgenossen nicht unbemerkt geblieben ist.  – Den Band  beschließen Buchbesprechungen zu Storms Arbeiten von Heiner Egge, Jean Leefbvre, Miriam J. Hoffmann und Heinrich Detering, die zwischen 2015 und 2017 erschienen sind, sowie Aktuelles aus der Storm-Forschung [(Storm-Bibliographie von Elke Jacobsen (Husum)] und Storm-Gesellschaft (Christian Demandt). Anna Sawko von Massow, Heidelberg Karl Ernst Laage, Theodor Storm zum 200. Geburtstag. Aufsätze – Untersuchungen – Dokumente, Heide: Boyens, 2017, 149 S.  Der 200.  Geburtstag von Theodor Storm bot dem kürzlich verstorbenen langjährigen Forscher Karl Ernst Laage (1920–2017) den Anlass, auf das Schaffen des großen Schriftstellers zu blicken und in chronologischer Reihenfolge Versatzstücke zusammenzustellen, die sowohl auf die privaten als auch die öffentlichen Aspekte in der Vita des Autors eingehen. Die meisten Schriftstücke und Einblicke in die Arbeitsfelder entstammen dem

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direkten Fundus, den der Verfasser im Laufe seiner 50-jährigen Beschäftigung mit Theodor Storm ersammelte und beforschte. Mit zahlreichen Bildern und Zitaten versehen, zeigt der Band  verschiedene Zugänge zum Werk, dessen Entstehungsmomente und Wirkung. Akzente werden gesetzt und sie ermöglichen einen Einblick in die einzelnen Lebensräume und Lebensphasen des bekannten norddeutschen Schriftstellers. Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, gewährt diese Publikation einen abwechslungsreichen Zugang zu Dichter und Werk und setzt sich mit seiner Heimatverbundenheit auseinander; gleichzeitig aber belegt Laage durch seine Auswahl, dass die Heimatnähe nicht mit Engstirnigkeit gleichzusetzen ist. Im Gegenteil: Storms kritische Auseinandersetzung mit der Situation von SchleswigHolstein in der Folge der Märzrevolution von 1848 zeugt von seinem Interesse und politischen Engagement. Seine kritische Einstellung der Kirche und dem Adel gegenüber äußerte er ohne Umschweife und hielt die beiden Institutionen »für die zwei wesentlichen Hemmnisse einer durchgreifenden sittlichen Entwicklung unseres sowie anderer Völker« (73). Unerwartetes und Überraschendes, aber auch Skurriles fördert Laage zu Tage und zeigt damit seine profunde Kenntnis der Materie. Die Geschichte um den Falscheintrag von Storms Geburtsdatum in das Husumer Kirchenbuch, seine ersten Erfahrungen in der Rechtsanwaltspraxis, die Bedeutung seines Großvaters Joachim Christian Feddersen (1740–1801) oder der Urlaubsaufenthalt in Fovslet gewähren Einblicke in Storms Privatleben. Begegnungen mit Theodor Fontane (1819–1898), der Storm 1984 in seiner Funktion als Kriegsberichterstatter besuchte, oder Paul Heyse (1830–1914), dem wiederum Storm 1872 eine Visite abstattete, um gemeinsam die Auswahl für die Sammlung Deutscher Novellenschatz zu treffen, belegen seine Rolle im Kreise der Intellektuellen der damaligen Zeit. Das Werk des Schriftstellers wird durch den Abdruck von Dokumenten und Materialien zu den einzelnen Texten gewürdigt (Sommernacht, Im Schloß, Viola tricolor, Carsten Curator, Ein Doppelgänger, Der Schimmelreiter). Auch das frühe Gedicht Sommernacht, mit einer kurzen Interpretation versehen, findet seinen Platz in dem Band, der für die Storm-Kenner sicherlich eine genussreiche tour d’horizon darstellt. Anna Sawko von Massow, Heidelberg

Namen- und Werkregister Von Ulrich Barton (Die Zahlen verweisen auf die Seiten, kursive Zahlen auf die Hauptstellen. Das Register wählt aus.) Arnim, Achim von  198 Augustinus  14 Bacon, Francis –– The Advancement of Learning  168–174, 178 –– The New Atlantis  156 f., 162, 167–174, 177–181 –– Novum Organum  174, 176 Benn, Gottfried  240 Blake, William  312 Bligger II. von Steinach  301, 303 f. Bloch, Ernst  181 Büchner, Georg –– Dantons Tod  316 –– Woyzeck  239 Caballero, Fernán (Cecilia Böhl de Faber) –– Clemencia  209–227 –– La Gaviota  210–216, 227 Caesarius von Heisterbach  55–57 Calvin, Johannes  307, 310 Cerri, Gaetano  316 f. Chrétien de Troyes  114 –– Le Chevalier au Lion  139 –– Le Conte du Graal  64, 85 f., 99 Chytraeus, Nathan  306 f., 311 Cicero, Marcus Tullius  12, 232 Darwin, Charles  288 Descartes, René  231

Disney, Walt –– Silly Symphonies  275, 278 Dostojewski, Fjodor  230 Eichendorff, Joseph von  289 –– Ahnung und Gegenwart  198 –– An Louise. 1816  201 –– Dichter und ihre Gesellen  198 –– Das Flügelroß  202 –– Das Marmorbild  195–208 –– Sommerschwüle  200 –– Viel Lärmen um nichts  202 –– Das Wiedersehen  196–198, 200 f., 207 Erasmus von Rotterdam  158–161 Fehrs, Johann Hinrich  321 Fock, Gorch  321 Foigny, Gabriel de –– La Terre australe connue  156 Fontane, Theodor  291 f., 320, 324 Forest, Jean-Claude (u. Cabanes, Max) –– Le Roman de Renart  263 Fouqué, Friedrich de la Motte  196 Geoffrey von Monmouth –– Historia regum Britanniae  108 Geoffroi de Vinsauf  129, 131 Gibbon, Edward  314 f. Godwin, Francis –– The Man in the Moon  156, 180

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Namen- und Werkregister

Goethe, Johann Wolfgang  229–231, 233, 235–237, 241, 249–253, 289 Gottfried von Straßburg  303 Grabbe, Christian Dietrich  316 Greff, Joachim  306 Grillparzer, Franz  317 Groth, Klaus  320 f. Grün, Anastasius  317 Gryphius, Andreas  307 Guiron le Courtois  109 Guy of Warwick  98 Haberer, Herman  309 f. Haller, Albrecht von  238 Händel, Georg Friedrich  313 Hebbel, Friedrich  316–319 –– Gyges und sein Ring  323 –– Judith  316, 319, 323 –– Linde  319 –– Maria Magdalena  317, 319 –– Die Nibelungen  317–319 Heine, Heinrich  289 Heinrich von dem Türlin –– Diu Crône  85 f. Heitz, Bruno –– Le Roman de Renart  263 Herder, Johann Gottfried  252 f. Heym, Georg  240 Heyse, Paul  324 Horaz  15 Humboldt, Wilhelm von  312 Hume, David  311 Ibsen, Henrik  317 f. Kafka, Franz –– Die Verwandlung  291 Kant, Immanuel  229, 232, 234 f. Keller, Gottfried  289, 292 Kleist, Heinrich von  289 –– Über das Marionettentheater  202

Lancelot (Vulgata-Zyklus)  105–121, 123–154 –– Merlin  105–121, 137 –– Suite du Merlin  105–121 –– La Queste del Saint Graal  106–154 Lodwick, Francis –– A Common Writing  176–179 –– A Country Not Named  156–157, 162, 169, 174–181 –– Ground Work …  176, 180 Lukács, Georg  291 Luther, Martin  305–310 Mann, Thomas  291 –– Betrachtungen eines Unpolitischen  242–245, 250 –– Goethe und Tolstoi  229–255 –– Joseph und seine Brüder  296 Marie de France –– Fables  108 Mathis, Jean-Marc (u. Thierry, Martin) –– Le Roman de Renart  263 Melanchthon, Philipp  305, 307 Mommsen, Theodor  291 More, Thomas –– Letter to Dorp  160–162, 164–166 –– Utopia  156–167, 169, 173, 179, 181 Mörike, Eduard  292 Mozart, Wolfgang Amadeus  313 Musil, Robert  240 Nibelungenlied  301–304, 318 Nietzsche, Friedrich  241 f., 253 Ovid  10 f. Perrault, Charles  274 Phaedrus  284 –– Wolf und Lamm  27–30, 50 Physiologus  258–260, 268, 282 Pope, Alexander  238, 315 Quintilian  12



Namen- und Werkregister

Reinhart Fuchs  30–35, 50, 269 Renner, Benjamin –– Le Grand Méchant Renard  262–288 Rhetorica ad Herennium  12 Richardson, Samuel –– Clarissa  312 Robert de Boron  106, 110 f., 121 Rochester-Bestiarium  259 Roman de la Rose  148 Roman d’Eneas  9–11, 16–23, 26 Roman de Renart  30–51, 257 Rubiner, Ludwig  240 Rudolf von Ems  303 Ruf, Jakob  310 Ruiz de Alarcón, Juan –– La verdad sospechosa  183–194 Salman und Morolf  97 Saxo, Michael  307 Schiller, Friedrich  229–231, 233, 235–237, 241, 250–253 –– Die Künstler  245 –– Don Karlos  245 –– Die Räuber  245 –– Über Anmuth und Würde  249 –– Über die ästhetische Erziehung des Menschen  245–248 Schopenhauer, Arthur  234, 253 Shakespeare, William –– Hamlet  237 f. Spinoza, Baruch de  235 Stein, Lorenz von  298 f. Sterne, Laurence  311

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Storm, Theodor 289–300, 320, 322–324 –– Die Armesünder-Glocke  322 –– Ein Bekenntnis  294 f., 298 –– Ein Doppelgänger  294, 324 –– Für meine Söhne  297 –– Der Herr Etatsrat  291 –– Im Brauerhause 294 –– Immensee  291 –– Paule Poppenspäler  323 –– Der Schimmelreiter  291, 293, 322, 324 –– Schweigen  322 –– Zur Erziehung  297 Tirso de Molina –– Marta la piadosa  190 –– La prudencia en la mujer  192 f. Tolstoi, Lew  230 f. Tönnies, Ferdinand  292 Tristan en prose  124 f., 153 Vairasse d’Allais, Denis –– Histoire des Sevarambes  156 Veldeke, Heinrich von –– Eneasroman  9–11, 15–24, 26 Vergil  14 –– Aeneis  9 f., 24 Vincent de Beauvais  130 Wace  108 Waltharius  302 Wolfram von Eschenbach –– Parzival  58–104 –– Willehalm  71, 80 Zwingli, Huldrych  309 f.