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German Pages 511 [513] Year 2012
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUE FOLGE, BEGRÜNDET VON HERMANN KUNISCH
IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON VOLKER KAPP, KURT MÜLLER, KLAUS RIDDER, RUPRECHT WIMMER, JUTTA ZIMMERMANN
DREIUNDFÜNFZIGSTER BAND
2012
D U N C K E R & H U M B L O T ∙ B E R L I N
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH Neue Folge, begründet von Hermann Kunisch
IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. VOLKER KAPP, PROF. DR. KURT MÜLLER, PROF. DR. KLAUS RIDDER, PROF. DR. RUPRECHT WIMMER, PROF. DR. JUTTA ZIMMERMANN DREIUNDFÜNFZIGSTER BAND
2012 Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch wird im Auftrage der Görres-Gesellschaft herausgegeben von Prof. Dr. Klaus Ridder, Deutsches Seminar, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Wilhelmstr. 50, 72074 Tübingen (Altgermanistik, federführend), Prof. Dr. Volker Kapp, Klausdorfer Str. 77, 24161 Altenholz (Romanistik), Prof. Dr. Kurt Müller, Institut für Anglistik / Amerikanistik, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Abbe-Platz 8, 07743 Jena (Anglistik / Amerikanistik), Prof. Dr. Dr. h.c. Ruprecht Wimmer, Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät, Katholische Universität Eichstätt, 85071 Eichstätt (Neugermanistik), Prof. Dr. Jutta Zimmermann, Englisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Olshausenstr. 40, 24098 Kiel (Rezensionen). Redaktionsanschrift: Prof. Dr. Klaus Ridder, Deutsches Seminar, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Wilhelmstr. 50, 72074 Tübingen. Redaktion Aufsatzteil: Ulrich Barton. Redaktion Rezensionsteil: Prof. Dr. Jutta Zimmermann, Englisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Olshausenstr. 40, 24098 Kiel. Merkblatt für die typographische Gestaltung: http://www.uni-tuebingen.de/LehrstuhlRidder/liwi-jahrbuch.html Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch erscheint als Jahresband jeweils im Umfang von etwa 20 Bogen. Beiträge sind in Dateiform auf Diskette und als Ausdruck an die zuständigen Herausgeber zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es wird dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig, entsprechend den im Merkblatt (s. o.) angeführten typographischen Richtlinien einzureichen. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausführung des Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Redaktion (Rezensionsteil) erbeten. Eine Gewähr für die Rezension oder Rücksendung unverlangt eingesandter Besprechungsexemplare kann nicht übernommen werden. Verlag: Duncker & Humblot GmbH, Carl-Heinrich-Becker-Weg 9, 12165 Berlin.
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH DREIUNDFÜNFZIGSTER BAND
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUE FOLGE, BEGRÜNDET VON HERMANN KUNISCH
IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON VOLKER KAPP, KURT MÜLLER, KLAUS RIDDER, RUPRECHT WIMMER, JUTTA ZIMMERMANN
DREIUNDFÜNFZIGSTER BAND
2012
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Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0075-997X ISBN 978-3-428-13838-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ∞
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Inhalt AUFSÄTZE Francesca Romoli (Pisa), Kniga naricaema Koz’ma Indikoplov. La Topografia Cristiana in area slava: Problemi di tradizione del testo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Thomas Haye (Göttingen), Die Geburt des Dichters aus dem Geist des Abschreibens. Ein Beitrag zu den poetischen Kolophonen mittelalterlicher Handschriften . . . . . . .
79
Marie-Sophie Masse (Amiens), Von Pflaster und Salbe. Überlegungen zur conjointure im Erec . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
Patrick del Duca (Clermont-Ferrand), Der religiöse und historische Hintergrund in Hartmanns Erec . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Ulrich Barton (Tübingen), Iweins Lob der Nacht. Tageszeiten-, Jahreszeiten- und Lebensalter-Metaphorik als Deutungsperspektive für Hartmanns Iwein . . . . . . . . . 147 Gert Hübner (Basel), Eulenspiegel und die historischen Sinnordnungen. Plädoyer für eine praxeologische Narratologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Norbert Lennartz (Vechta), Homo bestialis. Shakespeare’s ›Underreachers‹ and the Threat of Liminality . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Alexander Weber (London), Friedrich Spee und das Oxford Movement . . . . . . . . . . . .
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Martin Seidl (Mainz), Exempla, Apparitions and Transatlantic Protestantism: Cultural Narratology and Cotton Mather’s Short Narration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Jules Zanger (Frankfurt a. M.), »Tar and Feathers«: An American Literary Trope . . .
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Klaus Gerlach (Berlin), Berlin versus Weimar. Kotzebues gescheiterte Berliner Klassik 281 Rainer Hillenbrand (Pécs), Kleists göttliche Gewalt der Kunst in seiner Cäcilienlegende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Béatrice Jakobs (Kiel), Welche Macht hat die Musik? Satire und recreatio in Jacques Offenbachs Orphée aux Enfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Peter Sprengel (Berlin), Seelenwanderung oder Seelenwandlung? Wilbrandt, Dehmel, die Sphinx und die Entgrenzung des Ich um 1890 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Paul Goetsch (Freiburg), Orpheus in Modern British and American Self-Reflexive Poetry . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381
KLEINER BEITRAG Manfred Lossau (Trier), Mallarmés Sainte: Formbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt BUCHBESPRECHUNGEN
Martin Przybilski, Kulturtransfer zwischen Juden und Christen in der deutschen Literatur des Mittelalters (von Fritz Peter Knapp) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Gisela Seitschek, Schöne Lüge und verhüllte Wahrheit. Theologische und poetische Allegorie in mittelalterlichen Dichtungen (von Earl Jeffrey Richards) . . . . . . . . . . . . 417 Perrine Galand, Fernand Hallyn †, Carlos Lévy, Wim Verbaal (Hgg.), Quintilien Ancien et Moderne (von Stéphane Macé) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Jürgen Meyer, Textvarianz und Schriftkritik: Dialogische Schreib- und Lesekultur bei Thomas More, George Gascoigne und John Lyly (von Gerd Bayer) . . . . . . . . . . 427 Thomas Schölderle, Utopia und Utopie. Thomas Morus, die Geschichte der Utopie und die Kontroverse um ihren Begriff (von Wolfgang G. Müller) . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Ines Detmers, Wolfgang G. Müller (Hgg.), Don Quijotes Intermediale Nachleben / Don Quixote’s Intermedial Afterlives (von Norbert Lennartz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 Hélie Coignée de Bourron, Le Silène Insensé, édition critique par Stéphane Macé (von Volker Kapp) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 Michael Neumann, Kerstin Stüssel (Hgg.), Magie der Geschichten: Weltverkehr, Literatur und Anthropologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (von Paul Goetsch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 Barbara Handke, First Command: A Psychological Reading of Joseph Conrad’s »The Secret Sharer« and »The Shadow-Line« (von Hans Ulrich Seeber) . . . . . . . . . . . . . . 444 Eva-Christina Glaser, »Why don’t you read the way I write?« Zur Analogie des Ut Pictura Poesis bei Gertrude Stein oder wie bildende Kunst Literatur verstehen hilft (von Ulla Haselstein) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446 Tom Rogers, God of Rescue: John Berryman and Christianity (von Marcel Inhoff) . .
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Sophia Komor, Susanne Rohr (Hgg.), The Holocaust, Art, and Taboo. Transatlantic Exchanges on the Ethics and Aesthetics of Representation (von Till Kinzel) . . . . . . . 455 Stefan Rebenich, Barbara von Reibnitz, Thomas Späth (Hgg.), Translating Antiquity. Antikebilder im europäischen Kulturtransfer (von René Sternke) . . . . . . . . . . . . . . . . 460 Stefan Welz, Fabian Dellemann (Hgg.), Anglosachsen: Leipzig und die englischsprachige Kultur Elmar Schenkel (Hg.), Englisches Leipzig: Eine Spurensuche von A bis Z (von Jana Nittel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Jürgen Brokoff, Geschichte der reinen Poesie. Von der Weimarer Klassik bis zur historischen Avantgarde (von Gabriela Wacker) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 Michael Basseler, Ansgar Nünning (Hgg.), A History of the American Short Story. Genres – Developments – Model Interpretations (von Paul Goetsch) . . . . . . . . . . . . 474 Astrid Franke, Pursue the Illusion: Problems of Public Poetry in America (von Nassim W. Balestrini) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 Peter Wenzel, Sven Strasen (Hgg.), Discourses of Mobility – Mobility of Discourse. The Conceptualization of Trains, Cars and Planes in 19th- and 20th-Century Poetry (von Elmar Schenkel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480
Inhalt
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Günter Leypoldt, Bernd Engler (Hgg.), American Cultural Icons. The Production of Representative Lives (von Till Kinzel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 Merle Tönnies (Hg.), Das englische Drama der Gegenwart: Kategorien – Entwicklungen – Modellinterpretationen Janine Hauthal, Metadrama und Theatralität: Gattungs- und Medienreflexion in zeitgenössischen englischen Theatertexten (von Ewald Mengel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Susanne Bach (Hg.), Gewalt, Geschlecht, Fiktion: Gewaltdiskurse und Gender-Problematik in zeitgenössischen englischsprachigen Romanen, Dramen und Filmen (von Juliane Groh) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 Michael Basseler, Kulturelle Erinnerung und Trauma im zeitgenössischen afroamerikanischen Roman. Theoretische Grundlegung, Ausprägungsformen, Entwicklungstendenzen (von Joseph C. Schöpp) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 496 Dietmar Schloss (Hg.), Civilizing America: Manners and Civility in American Literature and Culture (Jutta Zimmermann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 Namen- und Werkregister (von Ulrich Barton und Daniela Czink) . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kniga naricaema Koz’ma Indikoplov La Topografia Cristiana in area slava: Problemi di tradizione del testo Di Francesca Romoli La Topografia Cristiana (d’ora in poi TC ) di Costantino di Antiochia, meglio noto come Cosma Indicopleusta, è un’opera del VI sec.1 che si è conservata all’interno della tradizione scrittoria greca e slavo-ortodossa, e che in area slavo-orientale ha conosciuto una diffusione veramente straordinaria. Sufficiente a misurare la fortuna dell’opera, insolita per l’ambito slavo, dove pochi altri libri (salvo i testi strettamente liturgici) hanno circolato tanto diffusamente, e inaspettato a confronto con la tradizione manoscritta greca appare il conteggio dei suoi testimoni: il testo in traduzione slava è attestato da sessanta codici che ne tramandano la versione integrale in dodici libri2, e da trentanove codici di attribuzione certa che trasmettono il testo in frammenti testuali e /o iconografici. Il dato numerico è tanto più impressionante, e dunque significativo, laddove si tenga conto che la tradizione manoscritta greca consiste di soli tre testimoni della versione integrale e di un certo numero di testimoni dell’opera in frammenti, che tuttavia, se messi a confronto con le attestazioni slave, rappresentano un fenomeno più ristretto e soprattutto più omogeneo. Anche con riferimento alla tradizione a stampa dell’opera emerge una marcata disomogeneità, seppure inversa, fra il numero e il tipo delle edizioni del testo greco e slavo. L’opera greca, infatti, è stata edita più volte a partire dal XVII sec.3 fino alla comparsa negli anni 1968 – 1973 della nuova e fonda1 Si ritiene che l’opera sia stata composta ad Alessandria fra il 547 e il 549 (cfr. Wolska-Conus, Topographie Chrétienne, I, 16). Per le notizie sull’autore e sulla temperie culturale dell’epoca in cui visse si può confrontare Wolska, Topographie Chrétienne … Théologie et science. Per le informazioni di carattere generale sui contenuti dell’opera si veda in particolare ead., Topographie Chrétienne … Théologie et science, 1 – 33. 2 Sulla tradizione manoscritta greca dell’opera in versione integrale e in frammenti e sul rapporto della traduzione slava con l’originale greco ci soffermeremo nella parte dedicata alla tradizione del testo slavo.
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Francesca Romoli
mentale edizione critica a cura di W. Wolska-Conus4. La tradizione manoscritta greca, inoltre, è stata oggetto di ripetute e approfondite ricerche, anche iconografiche5. Dall’altra parte, invece, per quanto la tradizione del testo slavo, con i suoi oltre novanta testimoni, sia decisamente più corposa e variegata, e malgrado anch’essa abbia costituito materia di indagine, i risultati finora raggiunti non possono che considerarsi parziali e solo moderatamente soddisfacenti. A oggi, infatti, sono state approntate ben due edizioni diplomatiche6 ma nessuna edizione critica del testo, mentre l’interesse suscitato dall’opera, la cui diffusione fa da sola intuire l’enorme rilevanza che ebbe per lo sviluppo culturale e letterario del medioevo e del tardo medioevo slavoorientale, non ha ancora portato a soluzione molte fondamentali questioni. La questione generale del ruolo della TC in area slavo-orientale, per esempio, la cui disamina permetterebbe di fare luce sulla funzione storicoculturale dell’opera, e dunque sulle ragioni della sua diffusione, non è ancora stata sviscerata. Manca del resto un’analisi completa del testo, che includa cioè gli aspetti filologico e artistico, storico e filosofico, lasciando del tutto o in parte irrisolti problemi di non poca rilevanza. Attendono ancora una soluzione definitiva la questione del rapporto fra originale greco e versione slava, i problemi del luogo e dell’epoca della traduzione, del numero delle versioni approntate e di quelle attestate, del ruolo dell’eventuale mediazione slavo-meridionale. La questione redazionale resta dunque ancora aperta, per quanto alcune ipotesi siano ormai ampiamente condivise: si ritiene cioè che i testimoni del testo in versione integrale risalgano tutti a un unico archetipo, mentre i frammenti di attribuzione certa risalirebbero tutti al testo noto in versione integrale. Si è inoltre affermata l’ipotesi che la tra3 Thévenot, Relation des divers voyages curieux; Montfaucon, »Cosmae Indicopleustae« (il testo edito, riproposto in Gallandi, »Christiana Topographia sive Christianorum opinio de mundo«, e in Migne, »Cosmae aegypti monachi Christiana Topographia«, segue il codice BML, plut. 9.28); Winstedt, Christian Topography (edita invece il testo del codice BAV, gr. 699). Per le edizioni e le traduzioni parziali si possono consultare Wolska, Topographie Chrétienne … Théologie et science, xi – xii; Wolska-Conus, Topographie Chrétienne, I, 119 – 123. 4 Wolska-Conus, Topographie Chrétienne, I – III. 5 Si veda l’ampia bibliografia offerta in Wolska, Topographie Chrétienne … Théologie et science, xii – xv e in Wolska-Conus, Topographie Chrétienne, I, 247 – 249. Per gli studi iconografici condotti sull’originale greco si possono citare, a titolo meramente esemplificativo e limitatamente all’ambito slavo, i seguenti manuali di storia dell’arte, che fra i materiali di indagine includono anche le miniature offerte dalla TC: Kondakov, Istorija vizantijskogo iskusstva i ikonografii; Ajnalov, Ellenističeskie osnovy; Lazarev, Istorija vizantijskoj živopisi; Lichačeva, Iskusstvo Vizantii IV – XV vv. 6 Kniga glagolemaja Koz’my Indikoplova (d’ora in poi OLDP); Golyšenko, Dubrovina, Kniga naricaema Koz’ma Indikoplov (d’ora in poi GD).
Kniga naricaema Koz’ma Indikoplov
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duzione slava sia stata approntata in area slavo-orientale, mentre si osserva una tendenza alla progressiva retrodatazione dell’epoca a cui tale traduzione dovrebbe farsi risalire. Esporremo ogni singola questione, sempre compatibilmente con la rilevanza di ognuna ai fini della ricostruzione della tradizione del testo, nella presentazione della storia degli studi dedicati all’opera in versione slava, approfondendo i temi di maggiore pertinenza nella parte centrale della presente trattazione. Le ricerche sulla TC in lingua slava sono state inaugurate nel 1867 da uno studio comparativo condotto da I. I. Sreznevskij7. L’eminente studioso metteva a confronto l’originale greco nell’edizione diplomatica di B. de Montfaucon, e dunque la versione greca attestata dal codice BML, plut. 9.28 dell’XI sec., con la versione slava attesta da cinque codici del XVI – XVII sec. Sulla base del confronto testuale, che privilegia l’aspetto contenutistico, l’autore segnalava lacune e aggiunte della versione slava, offrendo un materiale a suo avviso essenziale alla ricostruzione della tradizione del testo greco e della storia della sua trasmissione. Per quanto metodologicamente scrupoloso, il lavoro mostrava già alcune forti limitazioni, dal momento che Sreznevskij affermava di non poter ritenere soddisfacenti i codici a sua disposizione, subordinando la disamina completa della versione slava al rinvenimento di una copia più attendibile. L’attualità dei risultati allora raggiunti, già minata da tali pregiudiziali, ci sembra decada dopo che l’ultima edizione critica del testo greco ha chiarito l’effettiva distanza che separa la versione offerta dal BML, plut. 9.28 dall’originale, mentre alcuni recenti studi sulla tradizione manoscritta slava hanno mostrato l’esistenza di diverse famiglie di codici. Parallelamente, però, lo studioso si esprimeva anche sulla questione ancora aperta della datazione della traduzione slava: avendo rilevato in un codice del XIV – XV sec. (forse l’Archiv SPbII RAN Archeogr. komm. koll. 11 n. 245)8 un frammento di testo che nel confronto con il testo in versione integrale non palesava lezioni varianti apprezzabili, concludeva che la traduzione integrale dell’opera dovette essere disponibile in area slavo-orientale già nel XIV – XV sec. A qualche decennio dalla comparsa dello studio pionieristico di Sreznevskij, la questione della datazione della traduzione slava è stata riaperta, seppure indirettamente, da V. M. Istrin, che nel suo studio del 1898 dedicato alla composizione della Paleja commentata9 affronta invece direttamente il 7 Sreznevskij, »Svedenija i zametki o maloizvestnich i neizvestnich pamjatnikach XI«. 8 Si confronti anche Piotrovskaja, »Christianskaja Topografija«, 49 nota 70 (il codice corrisponde nella nostra numerazione al testimone N21). 9 Istrin, »Zamečanija o sostave Tolkovoj Palei I – IV«; idem, Očerk istorii, 49.
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Francesca Romoli
problema del numero delle traduzioni slave approntate e di fatto attestate. Lo studioso rileva infatti la presenza nella Paleja commentata10 e nel Cronografo dell’Archivio11 di una stessa citazione tratta dalla TC (il racconto sulla torre di Babele e sulla dispersione delle lingue e dei popoli, TC 3.2.10 – 4.1612), che a suo avviso proverebbe l’esistenza di due diverse traduzioni slave. E di fatto, se il confronto del passo della Paleja con il testo integrale nell’edizione OLDP non rivela lezioni varianti apprezzabili, se non qualche aggiunta che tradisce il ricorso congiunto ad altre fonti, il passo offerto dal Cronografo è invece abbastanza distante dal testo edito da giustificare l’ipotesi di una seconda traduzione13. Altra questione è stabilire se si tratti di una traduzione parziale o se il frammento in questione testimoni una seconda versione integrale ma non integralmente attestata. La presenza del suddetto passo nella Paleja e nel Cronografo riapre poi la questione della datazione della traduzione slava, senza tuttavia offrire elementi risolutivi. Per quanto sia stata espressa l’opinione secondo cui entrambe le opere dovrebbero farsi risalire al XIII sec., di fatto però la Paleja è tramandata da codici non anteriori al XIV sec.14, e il Cronografo da un unico testimone del XV sec.15. Così, anche qualora fosse accertata l’originalità slava o slavo-orientale di queste compilazioni, la presenza al loro interno di una citazione tratta dalla TC nulla aggiungerebbe all’ipotesi di datazione for10 La Paleja commentata è una compilazione che espone le vicende dell’Antico testamento interpretandole in parafrasi e citazioni alla luce del Nuovo, con tono polemico e orientamento antigiudaico. Si ritiene che rappresenti il nucleo redazionale più antico, dal quale poi si sarebbero originate le redazioni cronografica (lunga e breve) e storica. L’opera è attestata da oltre quindici codici, tutti di provenienza slavo-orientale. Il più antico è un testimone parziale che data al XIV sec., mentre la più antica delle copie integrali attualmente note fu redatta a Kolomna nel 1406. È stata a lungo considerata un’opera di traduzione, malgrado l’assenza di compilazioni bizantine di analoga fattura. La questione della sua originalità e provenienza resta aperta (cfr. Tvorogov, »Paleja tolkovaja«; Vodolazkin, »Istoriografija i ekzegeza«; idem, »Redakcii Kratkoj Chronografičeskoj Palei«; idem, »Kratkaja Chronografičeskaja Paleja [tekst]. Vypusk 1«; idem, »Kratkaja Chronografičeskaja Paleja [tekst]. Vypusk 2«; Kamčatnov, Mil’kov, Poljanskij, »›Paleja tolkovaja‹ [antropologičeskij razdel]«; Caudano, »Let there be lights«, 22 – 24). 11 Si tratta di una compilazione cronografica ispirata ai libri biblici e ad altre fonti. È testimoniata da una raccolta della fine del XV sec., copiata evidentemente da un codice più antico, e potrebbe dunque risalire al XIII sec. (cfr. Tvorogov, »Chronograf Archivskij«). 12 Il riferimento è alla partizione del testo nell’edizione di Wolska-Conus. 13 La corrispondenza è letterale nella Paleja di Kolomna e nella Paleja commentata del 1477 (cfr. Jacobs, »Kosmas Indikopleustes«, 192). 14 Cfr. Tvorogov, »Paleja tolkovaja«, 287. 15 Si tratta del codice RGADA MGAMID n. 279 / 685, fine XV sec. (cfr. Tvorogov, »Chronograf Archivskij«, 475).
Kniga naricaema Koz’ma Indikoplov
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mulata da Sreznevskij se parallelamente non si riuscisse a provare la loro effettiva antichità. La questione sembra inoltre ulteriormente complicata dall’ipotesi di un possibile influsso inverso, che si potrebbe rilevare soprattutto sul piano iconografico, della Paleja commentata sulla versione slava della TC16. Il problema dell’epoca della traduzione slava è stato poi ripreso nel 1910, a circa un decennio dalla comparsa del saggio di Istrin, da A. I. Sobolevskij17, che includeva il testo nel suo elenco delle opere tradotte in area slavoorientale nel periodo pre-mongolo, con ciò affrontando apertamente anche il problema del luogo della traduzione. Adottando un criterio lessicale, l’autore, dopo aver verificato la ricorrenza nel testo nell’edizione OLDP di lemmi tipicamente slavo-orientali, concludeva che la versione slava dell’opera era stata eseguita appunto entro i confini della Rus’. La prova dell’antichità nella traduzione, invece, risiedeva a suo avviso nella presenza di frammenti di testo nella Kormčaja kniga18 »intorno all’anno 1282«. Questo dato, che potrebbe essere risolutivo ai fini della datazione della traduzione slava dell’opera, non sembra tuttavia documentabile. Stando alle indicazioni di Sobolevskij, infatti, i frammenti in questione dovrebbero figurare nella Kormčaja di Novgorod del 1280 o nella Kormčaja Efremovskaja del XII – XIII sec.19, nelle quali tuttavia l’opera di Cosma non sembra aver lasciato traccia20. È pur vero che il passo dedicato alle vesti dei sacerdoti della Kormčaja di Novgorod palesa una qualche affinità con lo stesso passo della TC (5.45 – 49), ma è altrettanto vero che nella Kormčaja si tratta di un capitolo aggiunto assente dalla composizione originaria dell’opera21. Così, anche qualora si accertasse l’effettiva dipendenza di tale capitolo dalla TC, o qualora si provasse l’ipotetica interdipendenza nelle due opere del capitolo in questione, alla quale sembrano alludere alcuni 16 Cfr. Piotrovskaja, »Drevnerusskaja versija Christianskoj Topografii«, 141 – 142; ead., »Christianskaja Topografija«, 99. 17 Sobolevskij, »Osobennosti russkich perevodov domongol’skogo perioda« (in particolare 139). 18 La Kormčaja kniga (letteralmente »libro pilota«) è la raccolta delle norme giuridiche del diritto canonico cristiano e bizantino che fu compilata sulla base del Nomocanone. L’opera, nota in diverse redazioni, è trasmessa a partire dal XII sec. da un cospicuo numero di testimoni che provengono dai diversi centri dell’area slavo-orientale (cfr. Ščapov, Vizantijskoe i južnoslavjanskoe pravovoe nasledie). 19 Rispettivamente nei codici GIM Sin. n. 707 (132) e GIM Sin. n. 706 (227) (cfr. Jacobs, »Kosmas Indikopleustes«, 191 – 192). 20 Gli studi specialistici dedicati al testo della Kormčaja kniga, come Sreznevskij, Obozrenie, Ščapov, »K istorii teksta novgorodskoj Sinodal’noj Kormčej«, e idem, Vizantijskoe i južnoslavjanskoe pravovoe nasledie, non vi fanno alcun riferimento. 21 Cfr. Sreznevskij, Obozrenie, 110.
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dettagli testuali e iconografici22, il dato non avrebbe che scarsa rilevanza ai fini della datazione del traduzione slava, che non potrebbe comunque farsi risalire al XIII sec. Un impulso fondamentale agli studi sulla TC slava è stato dato sicuramente dall’ampia ricerca condotta da E. K. Redin nei primi anni del XX sec., e purtroppo pubblicata solo in versione parziale nell’edizione postuma del 191623. Nel titanico tentativo di ricostruire la storia del testo slavo nel suo rapporto con l’originale greco, di cui però indaga le vicende della trasmissione manoscritta solo a margine, lo studioso intraprende un’analisi comparativa basata sul confronto con l’originale greco di ventinove testimoni miniati dell’opera slava in versione integrale e in frammenti, che tiene conto in maniera pressoché esclusiva dell’aspetto iconografico. Ne risulta una ricerca ancora oggi fondamentale sia per la storia dell’arte bizantina e del medioevo slavo-orientale, sia per la storia del testo slavo. Come vedremo, infatti, Redin propone una classificazione dei codici dai lui esaminati che, con qualche modifica, resta ancora valida, e che, malgrado poggi su dati esclusivamente iconografici, si è rivelata almeno parzialmente applicabile anche alla tradizione strettamente testuale. Inoltre, pur non considerando la storia della trasmissione manoscritta dell’opera strictu senso, lo studioso offre tuttavia spunti di riflessione interessanti per l’epoca: accenna all’influsso della TC sulla letteratura del medioevo slavo-orientale, approfondisce il confronto testuale con l’originale greco, rettificando i risultati presentati da Sreznevskij, fa intuire l’esistenza di diverse redazioni anche testuali, lasciando intendere la sua accettazione dell’ipotesi di una traduzione eseguita in epoca antica, forse in ambito slavo-orientale. Allo studio della tradizione manoscritta dell’opera ha poi contribuito in modo significativo V. Jagić, che in un saggio del 1922 considerava l’insieme dei testimoni noti, segnalando in particolare l’esistenza di un testimone nuovo, il codice serbo di Pljevlja, manast. Trojica del 164924. Si trattava di 22 L’esistenza di un legame fra i capitoli sulle vesti sacerdotali nella TC slava e nella Kormčaja di Novgorod, o la loro dipendenza da fonti comuni, sarebbe testimoniata dalla presenza in entrambe le opere dell’elenco delle dodici pietre che ornano il pettorale della veste del sommo sacerdote Aronne. Tale elenco, infatti, che è assente dall’originale greco e dalla versione slava, in alcuni testimoni slavi accompagna però l’illustrazione della veste, testimoniando forse la dipendenza della TC slava e della Kormčaja da fonti comuni quali la Cronaca di Giorgio Amartolo, l’Izbornik di Svjatoslav del 1073, l’Esamerone di Giovanni Esarca e la Guerra giudaica di Giuseppe Flavio (cfr. Piotrovskaja, »Christianskaja Topografija«, 91 – 95). 23 Redin, Christianskaja Topografija. Parallelamente l’indagine iconografica veniva portata avanti dal discepolo di Redin, D. V. Ajnalov (»Očerki i zametki«). 24 Jagić, »Kozma Indikoplov«. Il codice corrisponde nella nostra numerazione al testimone IV 37. Nello stesso anno veniva dato alle stampe uno studio iconografico
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una scoperta di grande rilevanza, giacché l’attestazione della TC in un codice slavo-meridionale, l’unico finora noto, apportava elementi nuovi e potenzialmente risolutivi per le questioni del numero delle traduzioni slave eseguite, del loro luogo ed epoca. E di fatto, dall’analisi comparativa del testo con le testimonianze slavo-orientali e con l’originale greco nell’edizione di E. O. Winstedt, l’autore giungeva a conclusioni fondamentali per la storia della trasmissione manoscritta del testo, che, pur non risolvendo pienamente le questioni aperte, restringevano tuttavia la gamma delle possibilità. Se, infatti, l’attestazione del codice serbo avrebbe potuto dimostrare la provenienza slavo-meridionale della traduzione slava, o l’esistenza di diverse traduzioni dell’opera, dallo studio comparativo delle testimonianze note è invece emerso come in realtà il codice slavo-meridionale sia la copia di un antigrafo slavo-orientale, e come sulla base delle testimonianze note non si possa che ammettere l’esistenza un’unica versione slava. Così, in assenza di nuove attestazioni, l’ipotesi della provenienza slavo-meridionale della traduzione, e con essa l’ipotesi dell’esistenza di varie traduzioni slave, sembra di fatto decadere25. Ciò, d’altra parte, non restringe la gamma delle possibili datazioni. L’indagine filologica del testo in traduzione slava subisce poi un brusco arresto, per riprendere con alterna fortuna dalla fine degli anni Settanta. Accenni alla TC continuano a comparire in studi di vario genere, che tuttavia non sono incentrati sull’opera in sé. Se ne dà notizia, per esempio, nelle storie della letteratura russa, che riferiscono dell’opera nei capitoli sulla letteratura di traduzione26, e soprattutto negli studi dedicati alla letteratura di traduzione, che generalmente ripropongono vecchie ipotesi di datazione e collocazione ancora condizionate dall’appartenenza a diverse scuole nazionali e comunque non supportate da nuove ricerche né corroborate da dati nuovi. In un saggio del 1968 che indaga i rapporti letterari bizantino-slavi, per esempio, I. Dujčev afferma che la traduzione slava dell’opera sarebbe stata eseguita in Bulgaria nel X sec.27, avvalorando con ciò la vecchia ipotesi di M. Golubcov28, già condivisa da D. S. Angelov29 e poi riproposta da altri condotto sulle miniature dello stesso codice (Molé, »Miniature jednog srpskog rukopisa iz god. 1649«), che purtroppo non siamo riusciti a consultare. 25 Cfr. Golubcov, »Christianskaja Topografija Koz’my Indikoplova v slavjanorusskom perevode«; Istrin, »Zamečanija«; idem, Očerk istorii, 10, 49. 26 Si confronti per esempio Adrianova-Peretc, »Perevodnaja drevnerusskaja literatura«, che retrodata la traduzione slava all’XI – XII sec. 27 Dujčev, »Les rapports littéraires byzantino-slaves«, 13. La stessa ipotesi è riproposta a quasi due decenni di distanza da D. Petkanova (Starobălgarska literatura I, 375). 28 Cfr. supra, nota 25. 29 Angelov, Istorija na Vizantija, I, 171.
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studiosi bulgari fra i quali C. Blagoeva Čolova30. In anni più recenti la questione è stata nuovamente indagata anche dagli studiosi russi, che si sono espressi ora in opposizione alla tesi slavo-meridionale, ora in aperta polemica con la tesi di F. J. Thomson, che esclude la possibilità di traduzioni dal greco eseguite in ambito slavo-orientale31. Così, in due recenti saggi di storia della letteratura slavo-ecclesiastica di traduzione, che presentano alcuni nuovi criteri di distinzione fra traduzioni slavo-orientali e meridionali e offrono un catalogo e una periodizzazione delle stesse, si ripropone l’elenco di Sobolevskij, ribadendo con ciò la validità dell’ipotesi, già condivisa da Istrin e N. N. Durnovo32, secondo cui la traduzione slava della TC sarebbe stata eseguita in epoca e in area kieviana33. Notizie sull’opera, per quanto di carattere generale e comunque non rilevanti ai fini della storia e della tradizione del testo, compaiono anche in studi specialistici. Pensiamo per esempio al saggio di N. V. Pigulevskaja, che indaga i rapporti commerciali fra Bisanzio e l’Oriente nel IV – VI sec. sulla base di fonti coeve, offrendo notizie sul contesto di origine e sull’utenza della TC, insieme a qualche accenno all’influsso dell’opera sulla 30 Blagoeva Čolova, Estestvenonaučnite znanija v srednevekovna Bălgarija, 28. Propende per l’ipotesi slavo-meridionale anche I. Ševčenko (»Remarks on the Diffusion«, 602). 31 Thomson, »›Made in Russia‹« (in particolare 344 – 345). 32 A dimostrazione dell’antichità della traduzione slava, che fa risalire al XII-inizio XIII sec., Durnovo (Vvedenie v istoriju russkogo jazyka, 110) offre la stessa argomentazione addotta da Sobolevskij. 33 Si vedano per esempio Bulanin, »Drevnjaja Rus’« (in particolare 55), e Alekseev, »Koe-čto o perevodach v Drevnej Rusi« (in particolare 280). A. A. Alekseev motiva la sua posizione enunciando una serie di criteri che devono guidare all’individuazione delle traduzioni eseguite dal greco nella Rus’ kieviana. Secondo lo studioso, la fattura slavo-orientale di una data traduzione deve essere accertata in via prioritaria attraverso lo studio della tradizione manoscritta e la ricostruzione dell’archetipo. Tuttavia, laddove ciò non sia possibile, assumono rilevanza in primo luogo la provenienza slavo-meridionale o slavo-orientale dei testimoni e il loro rapporto genetico. Qualora tali parametri non escludano la fattura slavo-orientale della traduzione, dovrà allora essere valutata la ricezione dell’opera in area slavo-orientale, tanto più significativa quanto minore sarà la diffusione della stessa in area slavo-meridionale. Dovrà poi considerarsi indicativa la presenza di varianti lessicali, grammaticali e fonetiche tipicamente slavo-orientali, anche se la presenza di tratti slavo-meridionali non è di per sé indice della fattura slavo-meridionale della traduzione. Si dovrà quindi valutare lo stile della traduzione, accertandone la compatibilità con la maniera slavo-orientale (libertà di traduzione, arricchimento espressivo, drammatizzazione) e, nel caso di traduzioni integrali, verificando la presenza di errori linguistici (scambio di omografi, scarsa comprensione della polisemia dei lessemi greci, fraintendimenti grammaticali). A conclusione di questo iter si considereranno le eventuali testimonianze storiche sull’origine della traduzione.
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cultura artistica del medioevo slavo-orientale34. Pensiamo anche ai più recenti contributi di Z. V. Udal’cova, che trattano delle peculiarità di genere e dei contenuti dell’opera, della sua genesi e delle fonti, ma alla versione slava accennano soltanto con riferimento alla fortuna del testo35. Si tratta cioè di studi specialistici incentrati su questioni che hanno attinenza soprattutto con l’opera originale, proprio come all’inizio del XX sec. il saggio di D. V. Ajnalov36, per citare fra coloro che si sono occupati del testo greco solo gli studiosi della scuola slava. Negli stessi anni e in epoca più recente sono comparsi saggi che considerano l’opera anche nel contesto culturale del medioevo slavo-orientale, mostrando come fra gli studiosi si stia diffondendo una consapevolezza sempre maggiore dell’importanza che in tale contesto rivestiva la concezione dello spazio37. Si inserisce in questo filone di studi il saggio di V. Stavinskij, che mette in relazione la simbologia dello stato e dei principi kieviani con la cosmologia della TC, scorgendo un’affinità anche visiva fra i simboli statali della Rus’ e la rappresentazione del mondo di Cosma38. Rientra nel medesimo filone il più recente saggio di A. V. Grigor’ev, che ai fini della ricostruzione del pensiero »filosofico« della Rus’ considera la TC come una delle invarianti della visione del mondo dell’epoca kieviana, mostrando come le concezioni cosmologiche e ontologiche che si trovano alla sua base risentano fortemente dell’influsso della teologia antiochena39. Si inserisce nella stessa prospettiva il saggio di A.-L. Caudano, che indaga la concezione dell’universo affermatasi in area slavo-orientale fra il X e il XIII sec., proponendo una ricostruzione delle idee del cielo, del sole, della luna e degli astri anche sulla base della TC40. Nella parte dedicata alla presentazione delle fonti, la studiosa si sofferma sul problema della datazione e della Pigulevskaja, Vizantija na putjach v Indiju, 129 – 156. Udal’cova, »Stranička iz istorii vizantijskoj kul’tury«; ead., »Kos’ma Indikoplov i ego ›Christianskaja Topografija‹«. 36 Ajnalov, Ellenističeskie osnovy. Come si è accennato, tuttavia, sulla scia di Redin, Ajnalov si occupò anche delle miniature del testo slavo (cfr. idem, »Očerki i zametki«). 37 Cfr. Garzaniti, »Oriente e Occidente«; idem, »Alle radici della concezione dello spazio«. 38 Stavinskij, »Christianskaja Topografija Kos’my Indikoplova i drevnerusskaja knjažeskaja simvolika«. 39 Grigor’ev, »Kosmologičeskie i ontologičeskie idei v ›Christianskoj Topografii‹ Kos’my Indikoplova«. L’autore condivide l’ipotesi di una traduzione slava eseguita nel contesto storico-geografico della Rus’ kieviana. 40 Caudano, »Let there be lights«; Garzaniti, rec. a, Caudano, »Let there be lights«. 34 35
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provenienza del testo in versione slava, dimostrandosi consapevole che l’ipotesi di una traduzione approntata fra XII e XIII sec. in area slavo-orientale non è ancora definitivamente provata, proprio come non sono ancora definitive le soluzioni proposte per molte questioni di tradizione e trasmissione del testo. D’altra parte, Caudano affronta il problema limitatamente alle parti di contenuto astronomico, segnalando però alcune differenze dall’originale greco che, se contestualizzate, potrebbero sciogliere alcuni dubbi e chiarire per esempio il rapporto della TC con l’Esamerone di Giovanni Esarca, e di entrambe le opere con l’Esamerone di Severiano di Gabala41. Per quanto non trattino di questioni strettamente storico-testuali, gli studi che abbiamo ricordato offrono dunque alcuni elementi che potrebbero contribuire alla risoluzione del problema del luogo e dell’epoca della traduzione slava, fino forse a provarne l’effettiva antichità. Tornando alla storia degli studi pertinenti alla ricostruzione della storia e della tradizione del testo si deve riconoscere come a partire dalla fine degli anni Settanta siano stati compiuti importanti progressi dal punto di vista della sistemazione del materiale noto. L’indagine strettamente filologica della traduzione slava dell’opera, infatti, si è sviluppata e continua a svilupparsi parallelamente agli studi di carattere storico-culturale cui abbiamo accennato, incanalandosi nei tre filoni di indagine che si sono progressivamente delineati. Da una parte, cioè, la ricerca iconografica, che è finalizzata alla ricostruzione della tradizione delle immagini attraverso l’elaborazione di una classificazione dei testimoni in famiglie che tenga conto delle diverse redazioni iconografiche del testo. Dall’altra parte l’indagine del testo orientata alla recensio del materiale noto dal punto di vista strettamente testuale, volta cioè ad accertare l’esistenza di diverse redazioni anche testuali, ovvero finalizzata alla verifica dell’applicabilità della classificazione iconografica anche al materiale propriamente testuale. Questo lavoro è preliminare alla costituzione del canone e dunque del testo, che offrirebbe una base certa su cui condurre il confronto con l’originale greco dell’edizione di WolskaConus. In terzo luogo, infine, l’indagine del materiale iconografico e testuale attestato in frammenti, che potrebbe avere rilevanza ai fini della ricostruzione della storia della trasmissione manoscritta dell’opera. A partire dagli anni Settanta, dunque, l’indagine filologica dell’opera si è dispiegata su fronti diversi, sia con studi che hanno integrato la ricerca iconografica di Redin, sia con indagini volte a verificare l’applicabilità della classificazione iconografica allo studio della storia della tradizione e della trasmissione del testo. Così, la ricerca condotta da A. Jacobs alla fine degli anni Settanta segna una tappa fondamentale ai fini dell’indagine strettamente 41
Caudano, »Let there be lights«, 12 – 14, 47 – 51.
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testuale, ponendo le basi per la definitiva sistemazione del materiale noto e per la successiva costituzione del canone e del testo42. La studiosa, infatti, considerando la tradizione manoscritta nel suo complesso, ha potuto trarre alcune importanti conclusioni. In particolare, dalla disamina de visu degli oltre cinquanta testimoni del testo integrale e degli oltre quaranta testimoni dell’opera in frammenti, è emersa la parziale validità anche testuale della classificazione offerta da Redin, della quale sono mantenute tre delle sette famiglie originarie. Parallelamente Jacobs individua alcuni testimoni intermedi che confluiscono in gruppi di passaggio fra le famiglie di cui sopra, organizzando tutti i codici che attestano la versione integrale in cinque famiglie. La studiosa considera poi i testimoni dei frammenti, ordinandoli in base alla progressione dei libri citati ma indipendentemente dalla tipologia delle citazioni, e aggiunge considerazioni che, seppure isolate, potrebbero rivelarsi utili ai fini della ricostruzione della storia della trasmissione manoscritta dell’opera. Si deve purtroppo rilevare come questo lavoro e gli importanti risultati cui conduce non siano stati recepiti dagli studiosi russi se non in maniera approssimativa, forse a causa della limitata accessibilità della lingua in cui è presentato. Lo studio della tradizione del testo slavo ha poi ricevuto ulteriore elaborazione da parte di E. K. Piotrovskaja, che si è occupata dei frammenti testuali e / o iconografici dell’opera a partire dall’inizio degli anni Ottanta e poi a più riprese negli anni Novanta43, fino alla comparsa nel 2004 di un volume che presenta la questione in tutta la sua complessità, rielaborando tematiche che la studiosa aveva già affrontato in passato e aggiornando i risultati parziali cui era giunta44. Nella convinzione che lo studio anche isolato di questo ramo della tradizione del testo possa contribuire alla risoluzione delle questioni ancora aperte, l’autrice propone un elenco completo dei testimoni dell’opera in frammenti e un loro confronto a campione con la versione integrale dei testimoni editi. Pur non recependo i risultati raggiunti da Jacobs, se ancora nel 1993 poteva affermare che le sette famiglie iconografiche individuate da Redin erano da ritenersi valide anche per la tradizione del testo45, Piotrovskaja mutua l’ordine di presentazione dei codici proprio dal saggio di Jacobs, offrendo comunque un materiale aggiuntivo certamente rilevante ai fini della storia della trasmissione del testo. Si sofJacobs, »Kosmas Indikopleustes«. Piotrovskaja, »On the old Russian version of ›Christian Topography‹«; ead., »Christianskaja Topografija Koz’my Indikoplova«; ead., »K izučeniju drevnerusskoj versii ›Christianskoj Topografii‹«; ead., »Drevnerusskaja versija Christianskoj Topografii«. 44 Piotrovskaja, »Christianskaja Topografija«. 45 Piotrovskaja, »Drevnerusskaja versija Christianskoj Topografii«, 138. 42 43
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ferma infatti sulla composizione dei codici che tramandano i frammenti, ma d’altra parte omette di sottoporre tale materiale a sufficiente elaborazione, né intraprende un tentativo di interpretazione delle seppure isolate coincidenze compositive che si rilevano. Si sofferma inoltre sul rapporto del testo slavo con la Kormčaja di Novgorod e la Paleja commentata, con gli scritti dello starec Filofej e le opere di Massimo il Greco, limitandosi troppo spesso però a riproporre antiche ipotesi o a formularne di nuove senza tuttavia trarre conclusioni. Così, pur presentando un ampissimo materiale e interessanti spunti di riflessione, il saggio non apporta elementi decisivi alla risoluzione delle questioni testuali ancora aperte, per le quali la studiosa ripropone l’antica ipotesi di Sobolevskij, ribadendo l’idea di una versione eseguita in area slavo-orientale nel periodo pre-mongolo46. Possono considerarsi in certo modo attinenti alla storia della tradizione e della trasmissione del testo slavo anche gli studi storico-linguistici di L. A. Iljušina. L’analisi lessicale che la studiosa ha condotto su undici codici del XVI – XVII sec. che tramandano il testo in versione integrale, studiando in particolare i processi di formazione dei sostantivi e gli hapax legomenon, potrebbe infatti offrire spunti interessanti ai fini dell’indagine della tradizione del testo, se solo l’analisi potesse considerarsi definitiva ed esaustiva dal punto di vista delle fonti e degli strumenti di controllo47. Per quanto attiene la tradizione propriamente iconografica dell’opera, in anni recenti l’idea di Redin ha trovato continuazione nei lavori di E. I. Serebrjakova48. Esaminando un campione di codici miniati che trasmettono il testo in versione integrale, alcuni dei quali non erano ancora noti a Redin, la studiosa ha messo in luce alcune peculiarità iconografiche comuni a più testimoni, che le hanno consentito di riorganizzare la classificazione originaria. Tuttavia, malgrado anche questo ramo della tradizione dell’opera sia stato oggetto di nuove indagini, allo stato attuale di elaborazione vi hanno trovato collocazione solo alcuni dei molti testimoni miniati dell’opera. A 46 Piotrovskaja, »On the old Russian version of ›Christian Topography‹«, 152 – 153; ead., »Drevnerusskaja versija Christianskoj Topografii«, 139; ead., »Christianskaja Topografija«, 123. 47 Iljušina, Sistema slovoobrazovatel’nych tipov imen suščestvitel’nych v russkom knižnom jazyke XV – XVII vv. 48 Serebrjakova, »O dvuch licevych Indikoplovach«; ead., »Licevye Indikoplovy Istoričeskogo muzeja«; ead., »O vzaimootnošenijach ikografičeskich redakcij«. Per quanto la studiosa non si occupi direttamente della tradizione del testo, è comunque della massima evidenza che anch’essa non recepisce i risultati raggiunti da Jacobs, se ancora nel 1993 poteva dare per acquisito che i testimoni dell’opera, salvo rare eccezioni, tramandassero il testo in un’unica redazione (cfr. ead., »O vzaimootnošenijach ikografičeskich redakcij«, 42).
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differenza della tradizione testuale, dunque, la tradizione iconografica resta evidentemente parziale, mentre una sistemazione completa e definitiva di tutto il materiale noto sembra ancora abbastanza lontana. Anche sul piano delle edizioni del testo si deve rilevare come i risultati finora raggiunti siano parziali e solo parzialmente soddisfacenti. Come si accennava, infatti, le uniche edizioni disponibili, OLDP e GD49, sono entrambe edizioni diplomatiche che, per quanto editino testimoni appartenenti a famiglie diverse (rispettivamente i capostipiti delle Famiglie testuali dell’Archivio e di Uvarov)50, palesano tuttavia limiti evidenti e un’utilità assai limitata ai fini dell’ulteriore sviluppo dell’indagine filologica. Peraltro, se tali limiti sono giustificati nel caso dell’edizione OLDP, che risale a un’epoca in cui lo studio della tradizione del testo era ancora in fase embrionale, lo sono assai meno nel caso della più recente edizione GD, che è comparsa in anni successivi alla sistemazione dei testimoni in famiglie testuali. E ai fini dell’edizione GD tale sistemazione avrebbe dovuto avere rilevanza, ché, pur editando un unico codice, i redattori riportano le lezioni varianti offerte da alcuni altri testimoni, scelti però senza tener conto della redazione testuale che tramandano51. Sembra dunque auspicabile la preparazione di un’edizione critica, ai cui fini si rende chiaramente necessario uno studio approfondito e completo della tradizione manoscritta, che conduca prima alla costituzione del canone e poi alla costituzione del testo. Considerando tuttavia la vastità del materiale tradito e la parzialità degli studi disponibili, si deve comunque riconoscere l’utilità di un’edizione diplomatica, che però dovrebbe mutuare le lezioni varianti dal capostipite di ogni famiglia testuale. In mancanza di un’edizione critica dell’opera, e degli elementi necessari alla costituzione del testo, ci sembra che qualsiasi tentativo di confronto con l’originale greco, nell’edizione di Wolska-Conus o in una delle edizioni precedenti, perda parte del suo significato. D’altra parte, tuttavia, gli studi comparativi anche parziali finora elaborati52 potranno di certo facilitare il lavoro di confronto con il testo greco quando sarà disponibile l’edizione critica del testo slavo o un’edizione diplomatica che tenga conto dell’esistenza di diCfr. supra, nota 6. Per la suddivisione dei testimoni in famiglie testuali si confronti la parte dedicata alla tradizione del testo. 51 Per l’elenco dei testimoni considerati, il cui criterio di scelta non è tuttavia reso noto, si veda GD, 47 – 48. 52 Cfr. Sreznevskij, »Svedenija i zametki«; Redin, Christianskaja Topografija, 3, 42 – 43, 89 – 90, 105 – 108, 193 – 196; Jacobs, »Kosmas Indikopleustes«, 184 – 185; GD, 46 – 47. 49 50
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verse redazioni testuali. Riteniamo che un confronto di questo tipo avrebbe grande importanza ai fini della ricostruzione della storia della trasmissione manoscritta dell’opera in area slava. Come emerge dallo status quaestionis che abbiamo appena tracciato, malgrado l’abbondanza di bibliografia, l’indagine filologica dell’opera in traduzione slava è ancora a uno stato di ricognizione parziale, mentre le questioni aperte non presentano possibilità di soluzione che esulino dall’indagine specialistica da condursi direttamente sulle fonti. Stando così le cose, non riteniamo utile attardarci ulteriormente sui problemi ancora irrisolti, né ci sembra possibile prendere posizione, poiché, come altri in passato, non potremmo che riproporre qualche vecchia ipotesi senza peraltro addurre dati nuovi. Così non aggiungiamo nulla alla questione della datazione della traduzione, che è attestata a partire dalla fine del XV sec., anche se, come abbiamo visto, il confronto incrociato con alcune altre fonti sembra suggerire una sua più antica origine. Né insistiamo sulla questione della localizzazione del testo, limitandoci a constatare che la provenienza dei codici lascia ipotizzare un’origine slavo-orientale. Né, infine, torneremo ancora sulla questione del numero di traduzioni approntate, salvo prendere atto che i testimoni noti sembrano trasmettere l’opera in un’unica versione. Senza indagare oltre questi e simili problemi para-testuali, per quanto essi siano fondamentali per la ricostruzione della trasmissione manoscritta dell’opera in traduzione slava, ci concentreremo invece sulla tradizione del testo, cercando di dare un inventario quanto più possibile completo dei testimoni finora noti e una loro classificazione in famiglie sulla base dei risultati finora emersi dall’indagine filologica del testo. Proporremo una classificazione dei codici nella triplice prospettiva della tradizione iconografica, della tradizione testuale, e della tradizione dei frammenti testuali e / o iconografici, indicando ogni volta i criteri che sottendono agli elenchi presentati. Più in generale ci atterremo per la tradizione iconografica, e cioè per la sistemazione in famiglie dei testimoni miniati sulla base delle loro peculiarità iconografiche, sia alla partizione originaria proposta da Redin, sia alla classificazione rielaborata di Serebrjakova, cercando poi di dare collocazione anche ad alcuni dei testimoni che ne sono ancora privi. L’inventario che presentiamo è comunque parziale, poiché, come si accennava, molti testimoni miniati dell’opera in versione integrale e in frammenti non sono ancora stati oggetto di indagine iconografica, e d’altra parte, ai fini della loro inclusione in una delle famiglie note o in famiglie da quelle distinte, sono indispensabili la disamina de visu e il confronto con il capostipite di ogni famiglia.
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Per la tradizione propriamente testuale, invece, ci atterremo alla classificazione proposta da Jacobs, l’unica che tenga conto di tutto il materiale tradito, elevando allo status di famiglie i gruppi di testimoni con caratteristiche individualizzanti che la studiosa interpone fra le famiglie che hanno valenza sia iconografica sia testuale, ma alle quali, volendosi attenere alla classificazione di Redin, non dà un nome. Tenteremo poi di dare una collocazione ad alcuni dei testimoni che ne sono ancora privi, formulando ipotesi che tuttavia necessitano di verifica. Anche per la tradizione dei frammenti testuali e / o iconografici ci atterremo all’elenco elaborato da Jacobs e poi riproposto da Piotrovskaja, offrendo però il materiale secondo un ordine nuovo, che tiene conto della tipologia dei frammenti. Negli elenchi che presentiamo, offriamo di fianco alla descrizione dei manoscritti una tabella che ne indica la posizione nelle classificazioni di Redin e Serebrjakova per la tradizione iconografica, e nelle classificazioni di Jacobs e Piotrovskaja per i frammenti. Per la tradizione del testo manteniamo invece la numerazione proposta da Jacobs, rinumerando però le famiglie e indicando i codici contemplati nell’edizione GD. Nella tradizione iconografica segnaliamo inoltre la posizione che i singoli testimoni occupano nella tradizione del testo e dei frammenti, e viceversa, nella tradizione del testo e in quella dei frammenti la loro posizione iconografica. Offriamo questa griglia di corrispondenze, elaborata anche ai fini di una più immediata rintracciabilità, nella convinzione che la complessa correlazione fra immagini e testo, fra famiglie iconografiche e famiglie testuali, possa sciogliere in futuro alcuni nodi cruciali ai fini dell’ulteriore indagine della tradizione e della trasmissione dell’opera slava. Notizie tecniche che integrano la descrizione dei singoli manoscritti verranno offerte in nota. Qualora uno stesso manoscritto sia inventariato come testimone iconografico e testuale, tali notizie saranno presentate come note alla tradizione iconografica se di rilevanza iconografica, e come note alla tradizione del testo se di rilevanza testuale. Osservazioni aggiuntive che indichino l’esistenza di una relazione di dipendenza fra diversi testimoni o ne illustrino peculiarità potenzialmente rilevanti ai fini della storia della trasmissione del testo seguiranno nel corpo del testo l’elenco dei testimoni appartenenti a ogni famiglia. La numerazione che adotteremo per identificare i singoli manoscritti corrisponde all’identificativo che abbiamo assegnato loro nella tradizione del testo per i testimoni dell’opera in versione integrale (i numeri romani indicano le famiglie e i numeri arabi i codici), e nella tradizione dei frammenti per i testimoni dell’opera in frammenti (le lettere latine indicano i gruppi e i numeri arabi i codici). Per l’indicazione dei contenuti si fa riferimento alla partizione del testo greco nell’edizione di WolskaConus.
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I. La tradizione iconografica Una classificazione iconografica completa di tutti i manoscritti miniati che attestano l’opera in versione integrale e in frammenti attende ancora una sua elaborazione. Il tentativo di catalogazione che presentiamo tiene conto di trentasei testimoni databili fra il XV e il XVIII sec., che, salvo due eccezioni, offrono il testo in versione integrale. Allo stato attuale dell’indagine iconografica sembra ipotizzabile una partizione di questo materiale in otto famiglie che sono state isolate sulla base di criteri strettamente iconografici, considerando cioè il rapporto delle immagini del testo slavo con le miniature dell’originale greco e la stabilità delle illustrazioni sia della serie scritturale, con particolare riferimento alla rappresentazione del tabernacolo di Mosè nel Libro V, sia della serie cosmografica53. Come mostrano le tavole delle corrispondenze, la vecchia classificazione di Redin resta ancora sostanzialmente valida nel suo impianto generale. Cinque delle sette famiglie originarie, infatti, si conservano pressoché immutate, due sono invece state riorganizzate sulla base di alcuni più recenti dati, mentre una è stata aggiunta come ipotesi di lavoro. In particolare è mantenuta e ampliata la prima famiglia o Famiglia di Uvarov, con la precisazione che due dei suoi testimoni rappresentano in realtà un sottogruppo o ramo54. Si conservano del tutto immutate la sesta e la settima famiglia, rispettivamente la Famiglia occidentalizzante completa e abbreviata55. Si mantengono con alcune precisazioni e aggiunte la quarta e la quinta famiglia, ovvero la Famiglia composita e la Famiglia autonoma56. Sono invece state sottoposte a riorganizzazione la Famiglia sinodale e la Famiglia dell’Archivio57: la prima si smembra per confluire da una parte nella Famiglia del monastero di Kirill di Beloozero e dall’altra nella Famiglia delle Grandi Menee, che accoglie al suo interno come sottogruppo o ramo tutti i codici della Famiglia dell’Archivio58. È stata infine ipotizzata l’esistenza di una famiglia di passag53 Cfr. Redin, Christianskaja Topografija, xii; Serebrjakova, »Licevye Indikoplovy«, 143; ead., »O vzaimootnošenijach ikografičeskich redakcij«, 43. Con riferimento alla tipologia delle miniature dell’opera si è ammessa la distinzione, ormai invalsa in uso, fra illustrazioni bibliche e illustrazioni cosmografiche (cfr. WolskaConus, Topographie Chrétienne, I, 134 – 157). Riteniamo tuttavia che tale distinzione possa essere accolta unicamente a fini di utilità pratica, giacché la visione di Cosma, che pure accoglie al suo interno elementi dell’eredità classica, è da intendersi come una visione complessivamente biblica. 54 Cfr. Redin, Christianskaja Topografija, xii – xiii; Serebrjakova, »Licevye Indikoplovy«, 145 – 147. 55 Cfr. Redin, Christianskaja Topografija, xiv – xv. 56 Cfr. ibid., xiv. 57 Cfr. ibid., xiii – xiv.
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gio, intermedia fra le Famiglie del monastero di Kirill di Beloozero e delle Grandi Menee59. Dopo aver così illustrato la composizione in famiglie della tradizione iconografica, indichiamo ora i tratti individualizzanti e la composizione di ogni famiglia. Riportiamo fra parentesi quadre, dopo la descrizione dei singoli testimoni, il loro identificativo all’epoca di Redin. Nelle colonne di destra segnaliamo invece la posizione dei testimoni negli elenchi di Redin (R) e di Serebrjakova (S), e la loro sigla di identificazione secondo la numerazione che abbiamo adottato per la tradizione del testo (TT) o dei frammenti (TF). Osservazioni aggiuntive sui singoli testimoni che concernano l’aspetto iconografico sono offerte di seguito alla composizione di ogni famiglia o in nota, o presentate nella parte relativa alla tradizione del testo se di carattere più generale. 1. La Famiglia di Uvarov Questa famiglia prende il nome dal suo capostipite, il codice I 1, che allo stato attuale della ricerca deve considerarsi il testimone più antico e completo del testo slavo in versione integrale. Il codice è miniato esclusivamente nella parte che tramanda la TC, dove il testo è intervallato da quarantatré miniature a tutta pagina, a mezza pagina o a un quarto di pagina. Le illustrazioni palesano un’evidente dipendenza dai modelli bizantini dell’XI – XII sec., ma nella composizione delle figure si discostano sensibilmente dall’originale greco, forse a causa di un’ipotetica mediazione slavo-meridionale, o più probabilmente perché sottoposte a rifacimento in area slavo-orientale60. Lo stile pittorico, che è chiaramente orientato a preservare le peculiarità dell’originale, appare a tratti ostentatamente arcaicizzante e comunque ben individualizzato rispetto alla maniera moscovita della fine del XV sec. Alcuni dettagli rivelano il ricorso alla tecnica della trasposizione per calco. La pittura, stesa a più strati, offre un’ampia gamma di cromie. Caratteristica individualizzante dei testimoni di questa prima famiglia è l’introduzione nella rappresentazione del tabernacolo di Mosé della simbologia mariana nella forma della Madre di Dio del Segno61. Questa famiglia è 58 Cfr. Serebrjakova, »Licevye Indikoplovy«, 149 – 151; ead., »O vzaimootnošenijach ikografičeskich redakcij«. 59 Esporremo questa nostra ipotesi nel corso della trattazione. 60 Cfr. Redin, Christianskaja Topografija, xii – xiii. 61 Secondo Serebrjakova questa particolare realizzazione potrebbe essere ispirata a un’ipotetica Paleja commentata miniata che non si sarebbe conservata, alla quale alluderebbero anche alcuni altri dettagli delle illustrazioni della serie scritturale. La stu-
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rappresentata complessivamente da dieci testimoni dell’opera integrale del XV – XVII sec., e da due testimoni dell’opera in frammenti del XV – XVI sec. Due di questi costituiscono un sottogruppo autonomo, il Ramo A. I
R
S
TT
.
GIM Uvar. n. 566 (1731) (210), 1°, 365 ff., miscellanea, anno 1495 (1494?), semionciale, ff. 1 – 131v [Uvar. n. 1713 (566) (210)]
UR1
Ur
I1
.
RNB Busl. n. 44 (F I n. 738), salterio, XV – XVI sec., semionciale, ff. 23 – 37J / 23 – 33, 35 – 37P (n. 20 illustrazioni + corsiva62 XVI sec.) [Imp.publ.bibl. Busl. T I n. 738]
UR2
–
.
RNB OLDP f. 536 n. Q XX (399), 4° di piccolo formato, 276 ff., XVI sec., semionciale [Obščestv. ljub.drevn.pis’m. n. 339 XX]
UR3
–
I3
.
RGB Undol’. f. 310 n. 190, 1°, 253 ff., XVII sec., corsiva [Rumjanc.muz. Undol’. n. 190]
UR4
–
I6
.
RGB Undol’. f. 310 n. 191, 1°, 218 ff., XVII sec., corsiva [Rumjanc.muz. Undol’. n. 191]
UR5
–
I7
.
GIM Uvar. n. 60 (1732), 4°, 287 ff., XVI sec.R+J / fine XV-inizio XVI sec.S, semionciale [Uvar. n. 1732 (60)]
UR6
–
I2
.
RGB Ovčinn. f. 209 n. 798, 1°, 253 ff., ultimo quarto XVI sec., semionciale [Gorodec, Ovčinn.]
UR8
–
I4
.
RNB OLDP f. 536 F 91 (XCI) n. 1982, 1°, XVI sec., semionciale, ff. 11 – 36 [OLDP n. 1982]
UR10
–
.
GIM Muz. n. 3512, 1°, anni ’40 XVI sec., semionciale63
–
Ur
56
.
GIM Muz. 1152, 1°, anno 1553, semionciale64
–
Ur
60
TF
W31
M20
diosa avvalora questa ipotesi rilevando da una parte come la Paleja abbia esercitato un forte influsso sull’iconografia del XVI sec., e dall’altra il fatto che il testimone I 1 la tramanda insieme alla TC (cfr. Serebrjakova, »O dvuch licevych Indikoplovach XVI v.«, 72 – 73; ead., »Licevye Indikoplovy«, 144; ead., »O vzaimootnošenijach ikografičeskich redakcij«, 43). 62 Corrisponde alla definizione russa di skoropis’. 63 Il codice è un testimone difettato che conserva circa metà dell'opera: si interrompe all’altezza del Libro V e offre ventisette miniature. Circolò probabilmente nell’ambiente dei vecchi credenti (cfr. Serebrjakova, »O dvuch licevych Indikoplovach«, 73 – 75). 64 Il codice versa in cattivo stato di conservazione: l’umidità, l’annerimento e le macchie hanno alterato la gamma dei colori originari. Fu sottoposto a restauro già nel XIX sec., come dimostra la sostituzione della miniatura raffigurante Cosma con la
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Osservazioni Il codice I 2 è prossimo al modello del capostipite, di cui colma alcune lacune iconografiche. Si discosta tuttavia da tale modello per la quasi totale assenza di immagini nel Libro XI, dove il testo, evidentemente sull’esempio dell’antigrafo, è trascritto senza interruzioni. Lo stile pittorico non contraddice la maniera dell’epoca: i tratti sono leggeri, quasi abbozzati, e la colorazione tenue. La struttura di alcune composizioni complesse a più figure e la maniera individuale del miniaturista si richiamano al testimone W31. Il codice presenta una peculiarità iconografica che si ripete anche nei codici I 9 e I 10: una rappresentazione a tutta pagina della città di Egitto all’interno del ciclo Il passaggio del mar Rosso65. Dal punto di vista iconografico e stilistico il codice 56 concorda con il codice I 1 finanche nei dettagli e nella dimensione delle miniature, forse realizzate con la tecnica del calco. Resta tuttavia ancora da accertare se si tratti proprio di un codex descriptus del capostipite di questa famiglia. Si differenzia dal suddetto modello per le tinte più tenui e per la stesura del colore, che è più leggera e meno omogenea66. Il codice 60 si attiene nelle composizioni e negli schemi iconografici ai codici I 1 e 56, ma vi si discosta per la realizzazione delle immagini, il cui stile appare più prossimo alla maniera del XVI sec., forse rappresentata da una scuola pittorica interna al monastero di provenienza del manoscritto. Si perde, dunque, il sentore arcaicizzante che è proprio dei suddetti codici: le proporzioni sono più leggere ed eleganti e i tratti appaiono più morbidi e smussati; si rilevano una maggiore espressività e definizione delle figure, una maggiore razionalità nella presentazione degli spazi e l’uso di colori neutri e di cornici67. Le composizioni pittoriche dei codici della Famiglia di Uvarov influenzarono sensibilmente l’iconografia del XVI sec., servendo in particolare da modello per l’icona de La Trinità68. La Famiglia di Uvarov, il Ramo A I testimoni di questo ramo trasmettono una variante complessa della redazione iconografica di Uvarov. L’elaborazione artistica di alcune composilitografia dell’edizione fototipica OLDP. Alcune miniature hanno i contorni rimarcati, forse a causa della rilevazione di calchi (cfr. ibid., 77). 65 Cfr. Serebrjakova, »Licevye Indikoplovy«, 145. 66 Cfr. Serebrjakova, »O dvuch licevych Indikoplovach«, 73 – 75. 67 Cfr. ibid., 75 – 77. 68 Cfr. ibid., 77; ead., »O vzaimootnošenijach ikografičeskich redakcij«, 43.
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zioni, infatti, è autonoma e tradisce la conoscenza e l’uso sia di un’altra redazione iconografica, analoga forse a quella trasmessa dal codice IV 3069, sia di alcune altre fonti figurative70. Vi appartengono due codici del XVII sec. che nella classificazione di origine non erano distinti in seno alla Famiglia di Uvarov71. IA
R J
S
R+J
.
GIM Ščuk. n. 475, 1°, 290 ff. / 276 ff. , XVII sec. anni ’40 XVIS sec., semionciale [Moskva, Ščuk.]
.
GIM Muz. n. 331 (26094), 1°, 312 ff., anni ’30 XVII sec., semionciale e corsiva [Istor.muz. n. 26094]
/
S 7
TT A
UR
Ur
UR9
UrA
I9 I 10
Osservazioni Nel codice I 9 molti dei fogli miniati sono incollati, ma la filigrana della carta è identica a quella del manoscritto. La colorazione è trascurata talvolta fino a ostacolare la lettura del disegno, che tuttavia conserva l’eleganza del modello di origine, forse riprodotto per calco. Invero, una serie di dettagli stilistici, come l’uso di linee tratteggiate e di forme occidentalizzanti nell’architettura, nel disegno delle nuvole e dei raggi del sole, e una quantità di altri piccoli dettagli, rafforzano l’ipotesi che le miniature siano state realizzate con la tecnica del calco. Il modello di origine potrebbe essere analogo, o palesare caratteristiche iconografiche analoghe a quelle dell’Učitel’noe evangelie RGB f. 98 n. 80, che fu redatto negli anni ’40 del XVI sec. nella cerchia dell’arcivescovo di Novgorod e Pskov e futuro metropolita Makarij, le cui miniature sono ispirate nella composizione e nei dettagli alle incisioni tedesche72. Il codice I 10 si attiene a un modello iconografico assai prossimo al codice I 9, e trasmette la stessa variante iconografica della Famiglia di Uvarov. Le miniature colpiscono per la loro bellezza: la saturazione dei toni, amalga69 L’osservazione è di Serebrjakova (»Licevye Indikoplovy«, 145 – 147), che rileva la conoscenza e l’uso della redazione sinodale, salvo però poi negare l’esistenza di tale redazione. Crediamo che il riferimento debba allora intendersi alla Famiglia delle Grandi Menee, che ha appunto come suo capostipite il codice IV 30. Entrambi i manoscritti, infatti, furono redatti nella cerchia del metropolita Makarij, all’epoca ancora arcivescovo di Novgorod (cfr. ead., »Licevye Indikoplovy«, 147 – 148). 70 Cfr. ibid., 145 – 147. 71 Cfr. Redin, Christianskaja Topografija, xiii. 72 Cfr. Serebrjakova, »Licevye Indikoplovy«, 145 – 147.
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mati in felici combinazioni, quasi nasconde l’inespressività dei volti a malapena delineati. Particolarmente decorativa appare la rappresentazione a tutta pagina della città di Egitto, che palesa una marcata attinenza alla medesima illustrazione nel testimone I 9. Per quanto la provenienza del manoscritto sia incerta, lo stile iconografico si richiama a un’arte provinciale, più attenta alla resa del colore che alla nitidezza dei tratti73. 2. La Famiglia del monastero di Kirill di Beloozero Questa famiglia accoglie al suo interno alcuni dei testimoni che nella classificazione originaria rappresentavano la Famiglia sinodale, così chiamata dal nome del suo capostipite, il codice IV 30, che all’epoca era custodito nella Biblioteca Sinodale. Tale famiglia, trasmessa da sette testimoni, era stata distinta da quella che nella classificazione di origine era la Famiglia dell’Archivio in ragione di alcuni dettagli iconografici che, seppure marginali, si ripetevano in maniera costante74. In epoca più recente, tuttavia, con la scoperta di nuovi testimoni, si è potuto dimostrare come in realtà l’originaria Famiglia sinodale ospitasse due famiglie iconografiche distinte, la Famiglia del monastero di Kirill di Beloozero e la Famiglia delle Grandi Menee. L’affinità genetica e la consequenzialità temporale dei codici che rappresentano queste famiglie, unitamente al tardivo rinvenimento del capostipite di una di esse, giustificano la loro inclusione in un’unica famiglia all’epoca della prima classificazione. La Famiglia del monastero di Kirill di Beloozero prende il suo nome dal testimone IV 32, che ne costituisce il capostipite rimasto ignoto a Redin. Questo codice e i testimoni che vi risalgono sono legati al monastero di Kirill di Beloozero e si caratterizzano per la marcata attinenza alla rappresentazione del tabernacolo nell’originale greco e per alcuni altri tratti peculiari. Condividono in particolare la rappresentazione dell’arca di Noè in forma romboidale sulla linea dell’oceano, e palesano una marcata attinenza delle illustrazioni della torre di Babele, dei cori di David e del profeta Elia ai modelli della Famiglia di Uvarov, dalla quale però si discostano per le restanti immagini bibliche e per la realizzazione delle immagini della serie cosmografica75. Allo stato attuale della ricerca si ritiene che questa famiglia sia rappresentata da quattro testimoni.
73 74 75
Cfr. ibid., 147. Cfr. Redin, Christianskaja Topografija, xiii. Cfr. supra, nota 58.
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R
S
TT
.
RNB Kir.Bel. f. 351 n. 64 / 1141, 1°, 337 ff., XVI sec.J / anni ’70 – ’80 XV sec.S, semionciale
–
KBr IV 32
.
GIM Bars. n. 263 / 458 (24) (22), 4°, 274 ff., metà XVI sec., semionciale [Bars. n. 458 (24) (22)]
SinR15
KBr IV 34
.
RNB Novg.Sof. n. 1197, 1°, 345 ff., metà XVI sec., semionciale [SPbDA (Novg.sof.sobr.) n. 1197]
SinR16
KBr IV 31
.
GIM Muz. n. 2902, 1°, XVIII sec.J / fine XVIII-inizio XIX sec.S
–
KBr
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Osservazioni Il codice IV 34 è un codex descriptus, salvo la scarsa qualità delle miniature, del codice IV 32, capostipite di questa famiglia76. 3. La Famiglia delle Grandi Menee77 Questa famiglia, che non compare nella classificazione di Redin, nasce come la precedente dallo smembramento della Famiglia sinodale, di cui conserva il capostipite come proprio. I codici che la compongono si definiscono in rapporto ai codici della Famiglia del monastero di Kirill di Beloozero, di cui ricalcano i modelli iconografici, come dimostrano le illustrazioni dei Libri IV – V e l’immagine del tabernacolo, ma vi si discostano per la rielaborazione in chiave storico-narrativa delle immagini bibliche, con particolare riferimento alla rappresentazione dell’arca di Noè, della torre di Babele e della storia di Giona. Allo stato attuale delle ricerche, questa parziale affinità iconografica sembrerebbe testimoniare due fasi genetiche consecutive nella storia della trasmissione manoscritta del testo: per le copie della TC da includersi nelle Grandi Menee i miniaturisti dell’allora arcivescovo Makarij si sarebbero cioè orientati sul tipo iconografico che è attualmente rappresentato dai testimoni della Famiglia del monastero di Kirill di Beloozero, rielaborando però, forse su suggerimento dello stesso arcivescovo, le immagini Cfr. Serebrjakova, »Licevye Indikoplovy«, 149 – 150. Si intendono le Grandi Menee di lettura del metropolita Makarij. L’opera si è si conservata in tre redazioni: il Sofijskij spisok, redatto a Novgorod nel 1541, l’Uspenskij spisok, compilato nel 1552 per la biblioteca della cattedrale della Dormizione del Cremlino moscovita, e lo Carskij spisok, redatto nel 1554 per la biblioteca di Ivan il Terribile. Per maggiori dettagli sulla genesi e la composizione dell’opera si può consultare Droblenkova, »Velikie Minei Četii«. 76 77
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della serie scritturale affinché meglio si armonizzassero con la grandiosità dell’opera che le avrebbe ospitate78. Nella recente classificazione elaborata da Serebrjakova, questa nuova famiglia, i cui testimoni discendono dall’Uspenskij spisok delle Grandi Menee (codice IV 30), include come sottogruppo o ramo tutti i testimoni di quella che nella classificazione di Redin era la Famiglia dell’Archivio, che invece risalgono al Sofijskij spisok delle stesse Grandi Menee (codice V 46)79. Così composta, la Famiglia delle Grandi Menee è rappresentata complessivamente da otto codici. La partizione del materiale che proponiamo tiene conto di questa recente risistemazione, che tuttavia, per alcune ragioni di cui diremo più avanti, non riteniamo possa considerasi completa né definitiva. III
R J
S
.
GIM Sin. n. 795 / 997 (Sin. 999), Grandi Menee, Uspenskij spisok, 31 agosto, 1°, 1569 ff., anno 1542, semionciale, ff. 1179 – 1319J / 1079 – 1319vS [Sin.bibl. n. 997]
.
GIM Čertk. n. 160 (I ¾), 1°, 304 ff.J / 307 ff.S, anni ’70 XVII sec., semionciale [Čertk.bibl. n. 1 ¾]
in
S
TT
11
S R
VMr IV 30
SinR13
VMr IV 40
Osservazioni Il codice IV 30 presenta, salvo rare eccezioni, miniature dai tratti nitidi con figure allungate e intrecci di ombre. Sul piano stilistico le illustrazioni palesano una marcata affinità con quelle della Vita di Nifont (GIM Muz. 340), un’opera degli anni Trenta del XVI sec. che è attribuita alla scuola pittorica dell’allora arcivescovo Makarij. La parentela iconografica di questi manoscritti è a tal punto evidente da potervi riconoscere la mano di uno stesso miniaturista80, ovvero di uno dei sei artisti che miniarono la Vita di Nifont, che tuttavia non può essere identificato con il miniaturista del testimone V 46, redatto nello stesso scrittorio81. Il codice IV 40 non si discosta sul piano iconografico dal modello noto, ma presenta tuttavia illustrazioni il cui stile, che non appare riconducibile a una particolare scuola pittorica, si apre a una serie di considerazioni. Da una 78 Cfr. Serebrjakova, »Licevye Indikoplovy«, 150; ead., »O vzaimootnošenijach ikografičeskich redakcij«, 44. 79 Ibid. 80 Cfr. Serebrjakova, »Licevye Indikoplovy«, 148, 153 nota 16. 81 Cfr. ibid., 148.
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parte, infatti, in alcune composizioni bibliche a più figure il disegno è a tratti chiaramente primitivo, ma dall’altra parte il decoro complessivo del codice, che combina motivi di riempimento geometrici e floreali, può considerarsi unico nel suo genere. Il decoro è completato da tendine ornamentali che precedono le miniature di chiusura, riproponendo con ciò una delle peculiarità del codice IV 3082. La Famiglia delle Grandi Menee, il Ramo A Secondo la nuova classificazione di Serebrjakova confluiscono in questo ramo della Famiglia delle Grandi Menee tutti quei testimoni che nella classificazione di Redin rappresentavano la Famiglia dell’Archivio. Tale famiglia, che prendeva il nome dal suo capostipite, allora custodito nell’archivio del Ministero degli affari esteri, era stata distinta da quella che nella classificazione di origine era la Famiglia sinodale in ragione di alcuni dettagli iconografici che, per quanto marginali, si ripetevano in maniera costante. Redin riteneva che tale famiglia fosse trasmessa da sei codici83. La recente rielaborazione di Serebrjakova, che qui presentiamo, palesa alcune contraddizioni interne che, pur non pregiudicandone l’accettabilità come ipotesi di lavoro, sono comunque sintomo della sua ancora parziale elaborazione. La studiosa, infatti, dopo aver affermato che nella Famiglia delle Grandi Menee rientrano come sottogruppo tutti i testimoni della vecchia Famiglia dell’Archivio, che risalgono al codice V 46, precisa in una nota che il nucleo della Famiglia delle Grandi Menee (o del Ramo A?) sarebbe costituito dal testimone IV 30, già riconosciuto come capostipite della stessa, e dai testimoni V 46, V 47 e V 49, già identificati rispettivamente con il capostipite del Ramo A e con due testimoni di tale ramo in quanto già appartenenti alla Famiglia dell’Archivio. A complicare ulteriormente la classificazione del materiale contribuisce l’affermazione che il codice V 48, testimone del Ramo A, risalirebbe al modello iconografico del codice IV 30, capostipite della famiglia84. Ci sembra dunque della massima evidenza che i rapporti fra i testimoni delle Famiglie del monastero di Kirill di Beloozero, delle Grandi Menee e del Ramo A di questa seconda necessitino di ulteriori verifiche da condursi direttamente sui codici.
82 83 84
Cfr. ibid., 149. Cfr. Redin, Christianskaja Topografija, xiii – xiv. Cfr. Serebrjakova, »Licevye Indikoplovy«, 148, 150, 154 nota 22.
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Kniga naricaema Koz’ma Indikoplov III A
R
S
TT
.
RGADA Obol. f. 201 n. 161 (159) (51a), Grandi Menee, Sofijskij spisok, 23 – 31 agosto, 1°, anni 1539 – 1540, semionciale, ff. 378v – 497v (ed. OLDP) [AMID n. 159]
AR18
VMrA V 46
.
RGB MDA f. 173 I n. 102 (2), 38.525.3, 179 ff., anni 1530 – 1540, semionciale [MDA n. 2 (102)]
AR19
VMrA V 47
.
GIM Čud. n. 44 (346), 4430, 222 ff., XVI sec.R+J / anni ’30 XVII sec.S, semionciale [Čudov.monast. n. 44 / 346]
AR20
VMrA V 48
.
GIM Uvar. n. 528 (1815) (391), 4°, miscellanea, XVII sec., semionciale, ff. 1 – 589 [Uvar. n. 1815]
AR21
VMrA V 51
.
RNB F IV n. 683 Solov. (Bogd.) f. 717, 1°, 197 ff., XVI sec., semionciale [Publ.bibl. Bogd. (Solov. monast.) F IV n. 683]
AR22
VMrA V 49
.
RNB F XVII n. 23, 1°, miscellanea, XVII sec., corsiva e semionciale, ff. 321 – 454 [Publ.bibl. XVII F n. 23]
AR23
VMrA V 52
Osservazioni Il codice V 48 presenta illustrazioni tracciate con inchiostro marrone e con colori sbiaditi che seguono il modello iconografico del codice IV 30. Alcune composizioni presentano parti realizzate per calco, ma in molti casi l’elaborazione dei particolari è autonoma, con tendenza all’introduzione di tratti realistici in blocchi figurativi che nella tradizione precedente e nel codice IV 30 avevano carattere simbolico. Questa cura per i particolari anticipa una delle tendenze artistiche della seconda metà del XVII sec.85. Una nuova ipotesi di collocazione Il tentativo di riorganizzare la classificazione di Redin alla luce dei dati che sono emersi dall’analisi dei testimoni di più recente scoperta pone, in aggiunta ai problemi di cui abbiamo detto, un problema di collocazione per i codici IV 43, IV 33 e IV 39. Per quanto nella classificazione di origine questi codici rientrassero nella Famiglia sinodale, infatti, Serebrjakova, non ne tiene affatto conto, forse a causa della loro non appartenenza alle collezioni del GIM. Resta allora da stabilire se, accolta l’ipotesi di smembramento della Famiglia sinodale, che aveva come capostipite il codice IV 30, tali codici tro85
Cfr. ibid., 148.
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vino collocazione nella Famiglia delle Grandi Menee, che mantiene come capostipite il codice IV 30, o nel Ramo A della stessa famiglia, che adotta il capostipite della vecchia Famiglia dell’Archivio, ovvero nella Famiglia del monastero di Kirill di Beloozero, che trova invece il suo capostipite nel codice di più recente scoperta IV 32. ?
R
S
TT
.
RNB F I n. 220 Tolst., fogli di piccolo formato, 272 ff., anno 1601R / XVI sec.J, semionciale [Publ.bibl. Evfim. monast. n. 220]
SinR12
?
IV 43
.
RGB MDA f. 173 I n. 75 (3), 27.519.3, 277 ff., XVI sec., semionciale [MDA n. 3 (75)]
SinR14
?
IV 33
.
Kiev, Počaevsk.lavr. n. 42 (94), 1°, anno 1593 [KievDA (Počaevsk.lavr.) n. 212]
SinR17
?
IV 39
A questo proposito vogliamo avanzare un’ipotesi di collocazione iconografica del codice IV 43 e di alcuni altri testimoni a esso interrelati che ci sembra suggerita da alcune osservazioni di Jacobs di cui Serebrjakova non tiene conto. Già nel 1979, infatti, attenendosi alla classificazione di Redin, Jacobs osservava come sul piano iconografico il codice IV 43 fosse strettamente interrelato ai codici IV 44 – 45 e si distinguesse all’interno della Famiglia sinodale sia per alcune illustrazioni prossime al modello della Famiglia dell’Archivio, sia per una lacuna anche testuale causata dall’omissione di un foglio all’altezza di TC 4.15 – 16. La studiosa rilevava inoltre come i codici IV 43 – 45 condividessero tale lacuna con il codice IV 32, al quale erano legati da un rapporto di interdipendenza testuale ma non iconografica86. Alla luce di questi dati e tenendo conto da un parte della posizione di capostipite del codice IV 32 nella Famiglia del monastero di Kirill di Beloozero, e dall’altra dell’inclusione della Famiglia dell’Archivio nella Famiglia delle Grandi Menee, riteniamo sia ipotizzabile l’esistenza di una famiglia fra quelle intermedia, al cui interno troverebbero collocazione, oltre al codice IV 43, anche i testimoni IV 44 – 45, finora mai contemplati ai fini della classificazione iconografica. Questa ipotesi potrebbe costituire una linea guida per il necessario lavoro di verifica da condursi sui testi.
86
Cfr. Jacobs, »Kosmas Indikopleustes«, 190.
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Kniga naricaema Koz’ma Indikoplov II / III
Ipotetica famiglia di passaggio fra KBr e VMr
R in
12
S
TT
.
RNB F I n. 220 Tolst., fogli di piccolo formato, 272 ff., anno 1601R / XVI sec.J, semionciale
S R
?
IV 43
.
RGB Egor. f. 98 n. 1269, 1°, 255 ff., anno 1602, semionciale
–
–
IV 44
.
IRLI Drevlechran. koll. Velč. n. 25, 1°, 287 ff., XVII sec., semionciale
–
–
IV 45
Nel corso degli anni, dunque, le prime tre famiglie della classificazione iconografica originaria sono state oggetto di studi che hanno condotto a una loro ristrutturazione, seppure parziale e ancora non definitiva, alla luce dei dati che sono emersi dalla disamina dei nuovi testimoni disponibili. Le quattro famiglie iconografiche successive, al contrario, non hanno ancora ricevuto nessuna ulteriore elaborazione e, salvo alcune precisazioni, restano sostanzialmente immutate. Pur accettando la loro validità, riteniamo comunque che l’indagine iconografica debba accertarne la perdurante attualità anche ai fini dell’eventuale integrazione al loro interno dei testimoni di più recente scoperta. 4. La Famiglia composita La Famiglia composita deve il suo nome all’ibridismo delle miniature contenute nei codici che la rappresentano, che manifestano tratti comuni a diverse redazioni iconografiche. Si ispirano infatti ai modelli dell’antica Famiglia sinodale87, ma mutuano i materiali dalla Famiglia occidentalizzante completa. Per quanto nella classificazione di origine questa famiglia fosse costituita da un unico testimone, il codice III 2288, alcuni recenti studi lasciano ipotizzare che al suo interno trovi spazio anche il codice III 21. I codici III 21 – 22, che come vedremo appartengono alla medesima famiglia testuale, condividono infatti alcune caratteristiche peculiari di rilevanza anche iconografica. In particolare tali codici sono accomunati da una singolare rappresentazione del miracolo della Pentecoste, che non trova corrispondenza nel 87 Resta naturalmente da accertare se nella nuova classificazione il riferimento debba intendersi alla Famiglia del monastero di Kirill di Beloozero o alla Famiglia delle Grandi Menee. 88 Cfr. Redin, Christianskaja Topografija, xiv.
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Francesca Romoli
testo greco e che li distingue anche in seno alla loro famiglia testuale di appartenenza. Questa illustrazione biblica offre infatti un’immagine della Madre di Dio in trono (la Chiesa) che è sovrastata dalla colomba (lo Spirito) e circondata dagli apostoli in gruppi, raffigurati in prospettiva inversa fino al primo piano, dove compare l’immagine centrale del Cosmo personificato. Condividono inoltre la particolare collocazione di tale illustrazione, che al loro interno non occorre dopo TC 4.23 come negli altri testimoni della stessa famiglia testuale89, ma compare come antefixus. Condividono infine la sostituzione dell’immagine del sistema delle stelle e dei pianeti90 con una rappresentazione figurata dei sette pianeti, che è presente in otto su nove testimoni della loro famiglia testuale di appartenenza91. IV
R
.
RNB Pog. f. 588 n. 1088, fogli di grande formato, 252 ff., XVII sec., semionciale [Publ.bibl. Drevlechran.Pog. n. 1088]
.
RGB Egor. f. 98 n. 210, 1°, 308 ff., XVII sec., semionciale
lož
24
S R
–
S
TT
–
III 22
–
III 21
5. La Famiglia autonoma Nella classificazione di origine il codice I 12 compone una famiglia iconografica autonoma, distinta dalle altre per l’originalità delle miniature. Le illustrazioni ivi racchiuse si presentano infatti nella forma di schizzi dai tratti quasi infantili, che, salvo rare eccezioni, sembravano prescindere dai modelli noti e apparivano svincolate da qualsiasi scuola pittorica92. Alcuni recenti 89 Si tratta, come vedremo nella parte dedicata alla tradizione del testo, della Famiglia testuale allargata (testimoni III 21 – 29). 90 L’originale greco presenta l’illustrazione del sistema delle stelle e dei pianeti (i segni zodiacali come cerchio esterno al cui interno i sette pianeti circondano in cerchi concentrici la terra) in TC 4.15d e 7.89. Nella maggior parte dei testimoni slavi tale illustrazione compare una sola volta, ma almeno una volta in tutte le redazioni, anche se talvolta si osserva la stessa ripetizione che contraddistingue il testo greco (cfr. Jacobs, »Kosmas Indikopleustes«, 187). 91 Cfr. ibid., 186 – 187. La studiosa non precisa però da quale fra i testimoni della Famiglia testuale allargata tale illustrazione sia esclusa. Per quanto parziali, queste osservazioni isolate fanno già intuire la complessità dei rapporti che intercorrono fra i singoli codici e fra le famiglie della tradizione iconografica e testuale. 92 Cfr. Redin, Christianskaja Topografija, xiv. In questo caso e ogni qualvolta si trovi in presenza di illustrazioni che non siano riconducibili a una particolare scuola
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Kniga naricaema Koz’ma Indikoplov
studi hanno però dimostrato come la classificazione separata di questo codice sia giustificata solo in parte: il testimone in questione, infatti, è il frutto del lavoro di due copisti e di tre illustratori, dei quali soltanto uno rivela uno stile del tutto autonomo e originale93. Nell’attesa che indagini più approfondite chiariscano se i tratti individualizzanti del codice I 12 possano realmente giustificare una sua catalogazione iconografica separata, o se invece tale codice rientri in una delle famiglie note come caso particolare, manteniamo qui la classificazione proposta da Redin. V .
R RNB Pog. f. 588 n. 1091, 8°, 485 ff., XVI sec., semionciale e corsiva [Publ.bibl. Drevlechran.Pog. n. 1091]
am
25
S R
S
TT
–
I 12
6. La Famiglia occidentalizzante completa94 Questa famiglia tramanda una redazione iconografica fortemente individualizzata rispetto alle precedenti, sia per la resa espressiva e naturalistica di abiti, edifici, situazioni e paesaggi, sia per l’omissione della serie delle illustrazioni schematiche o per la loro rielaborazione pittorica. Questa particolare maniera tradisce l’influenza di modelli occidentali, che sono trasposti in miniatura con l’omissione di alcuni dettagli. Vi si riconosce in particolare l’influenza delle incisioni della Bibbia di Johann Fischer (Piscator) (16501 c. ca, 16742) e della Bibbia ceca del 1547. Nella classificazione di origine, che in mancanza di nuovi dati riteniamo ancora attuale, questa famiglia è rappresentata da tre codici95.
pittorica, lo studioso, in una visione ancora romantica che appare ormai superata, fa appello alla creatività popolare. 93 Cfr. Jacobs, »Kosmas Indikopleustes«, 185. 94 Presentiamo questa famiglia iconografica e la successiva nella loro definizione originaria, che riteniamo ancora valida. Dopo Redin, infatti, nessuno si è più occupato sul piano strettamente iconografico dei codici che le trasmettono. 95 Cfr. Redin, Christianskaja Topografija, xiv – xv.
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VI
R
S
TT
.
[Šefefr., 1°, XVII sec.] (RNB F IV n. 883, 1°, 222 ff., fine XVII-inizio XVIII sec., corsiva)
PR26
–
III 2796
.
RNB F IV n. 555, 1°, 387 ff., XVII sec., semionciale [Publ.bibl. IV F n. 555]
PR27
–
III 26
.
BAN 34.3.36 Petr. I n. 1 A. 68, 1°, 370 ff., anno 1681, semionciale [Akad.nauk 34.3.36]
PR28
–
III 24
7. La Famiglia occidentalizzante abbreviata Questa famiglia presenta illustrazioni che per esecuzione, composizione e soggetti seguono il modello iconografico della Famiglia occidentalizzante completa, ispirandosi anch’esse alle incisioni occidentali, di fattura moldava o ucraina97. Tuttavia, per la gamma limitata delle miniature che offre, rappresenta una redazione abbreviata rispetto alla precedente. Nella classificazione di Redin, che anche in questo caso, in mancanza di nuovi dati consideriamo ancora valida, questa famiglia è rappresentata da un unico codice98. VII .
R RNB Pog. f. 588 n. 1089, 1°, primo terzo XVII sec., semionciale, ff. 201 – 439v [Publ.bibl. n. 1089]
KR
29
S
TT
–
IV 38
Così, malgrado negli ultimi decenni l’indagine filologica del testo slavo abbia fatto registrare alcuni progressi, sul piano della tradizione iconografica molte questioni aperte non hanno ancora ricevuto sufficiente elaborazione. A nostro parere, gli studi iconografici dovrebbero chiarire in via prioritaria e in maniera definitiva il rapporto, apparentemente assai complesso, che intercorre fra i testimoni delle famiglie iconografiche II e III, e la questione dell’effettiva esistenza della famiglia V, per poi dare una collocazione ai testimoni che ne sono ancora privi. Crediamo che la classificazione che abbiamo presentato, per quanto parziale e provvisoria, possa offrire le 96 L’attuale collocazione del codice Šefefr. è di difficile identificazione. Riteniamo che possa trattarsi del testimone III 27, l’unico fra i testimoni già considerati da Redin per il quale non si è trovata corrispondenza. 97 Cfr. Jacobs, »Kosmas Indikopleustes«, 190. 98 Cfr. Redin, Christianskaja Topografija, xv.
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linee-guida per questo lavoro di verifica, che potrà condurre a una sistemazione iconografica definitiva di tutto il materiale noto. Questo risultato rappresenterà a sua volta un passo decisivo verso la ricostruzione della storia della trasmissione manoscritta del testo, che tuttavia non potrà prescindere dalla tradizione testuale, di cui andiamo ora a occuparci. II. La tradizione del testo La classificazione iconografica di Redin resta valida nel suo impianto generale anche sul piano strettamente testuale, rivelandosi di fatto applicabile, almeno in alcune sue parti, anche allo studio della tradizione del testo slavo in versione integrale. Come abbiamo già accennato, allo stato attuale dell’indagine filologica si deve ritenere che la tradizione manoscritta slava tramandi l’opera, miniata e non, in sessanta copie, all’interno di codici che, salvo un’unica eccezione, sono tutti di provenienza slavo-orientale. Il codice più antico data al 1495, ma, se complessivamente considerati, i testimoni del testo sono distribuiti in un arco temporale che dalla fine del XV sec. giunge fino agli inizi del XIX sec. Ciò testimonia del perdurante interesse che l’opera suscitò nel corso dei secoli, e soprattutto nel XVI – XVII sec., quando la Moscovia cercava una propria collocazione anche geografica all’interno del mondo conosciuto99. Sul piano strettamente testuale si ritiene che tutti i testimoni della versione slava risalgano a un modello corrotto, che si differenzia dal suo archetipo per una serie di lacune e di aggiunte, e per una diversa distribuzione del materiale in alcune parti. Tale modello segue in linea di principio il gruppo L – S dello stemma codicum offerto da Wolska-Conus100, mentre le lezioni 99 Sulla concezione e la fenomenologia dello spazio geografico e sacro nel mondo bizantino-slavo si può consultare Garzaniti, »Oriente e Occidente«; idem, »Alle radici della concezione dello spazio«. 100 Il testo greco è trasmesso in versione integrale da tre codici miniati: il BAV, gr. 699, IX sec. (V), il MSC, gr. 1186, XI sec. (S), e il BML, plut. 9.28, XI sec. (L). Questi testimoni compongono due famiglie che sono rappresentate rispettivamente da V (edito in Winstedt, Christian Topography) e da L – S (edito in Montfaucon, »Cosmae Indicopleustae Topographia Christiana«), e che si differenziano sia per l’impaginazione, sia per alcuni rimaneggiamenti coscienti che alterano lo spirito dell’opera. Tali differenze, come la presentazione dei profeti secondo l’ordine del testo ebraico e non della Septuaginta nei testimoni della famglia L – S, e come l’aggiunta di una parte alla fine del Libro X e dei Libri XI – XII nei testimoni della stessa famiglia, risalgono tutte a un codex interpositus da cui discende appunto la famiglia L – S (subarchetipo B). D’altra parte, il codice L presenta alcune altre peculiarità, che sembrano però potersi attribuire a un fraintendimento delle intenzioni dell’opera da parte del copista. Pur rappresentando due tradizioni distinte, i tre codici palesano tuttavia somiglianze tali
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Francesca Romoli
varianti che sottendono alla partizione dei codici in famiglie potrebbero ricondursi alle vicende trasmissione manoscritta in area slava101, qualora l’opinione ormai corrente dell’esistenza di un’unica traduzione slava fosse provata in via definitiva. Il legame della versione slava con la famiglia L – S, e in particolare con il codice MSC, gr. 1186, sebbene finora non sia mai stato indagato a fondo, non è forse privo di significato ai fini della ricostruzione della storia della trasmissione manoscritta del testo, anche con riferimento al luogo e all’epoca della traduzione. Alcuni indizi, infatti, potrebbero rivelarsi risolutivi ai fini della questione testuale. Pensiamo per esempio alla lezione vepreslonĭ (»cinghiale-elefante«) offerta dal codice V 46 e dal frammento Y 45, nella quale Piotrovskaja ha riconosciuto un calco della lezione variante χοιρέλεφαντα (»porco-elefante«) che il codice S presenta in corrispondenza di χοιρέλαφος (»porco-cervo«) del codice L (TC 9.8)102. Parimenti, riteniamo che debbano considerarsi potenzialmente rilevanti anche la presenza nello stesso S di una serie di note a margine redatte in lingua slava103, e la presenza in alcuni testimoni slavi di una rappresentazione a tutta pagina di Cosma ritratto sul modello degli evangelisti, che compare come antefixus. Il nome di Cosma e le sue introduzioni ai quattro vangeli sono infatti attestati in alcuni codici greci che della TC tramandano frammenti di contenuto biblico104. Sembra allora delinearsi la probabilità che la genesi da giustificare l’ipotesi di un più antico codex interpositus fra essi e l’originale (subarchetipo A). Presentano in particolare un numero di scoli (che possono essere distinti in sei gruppi) che dovevano essere assenti dall’originale e che all’interno delle due famiglie si collocano in maniera diversa: il codice V li inserisce nel corpo del testo facendoli precedere da titoli, mentre i codici L e S li conservano generalmente come scoli a margine, e, laddove li includano nel corpo del testo, ne omettono in modo sistematico i titoli, optando per una loro più corretta collocazione. Si deve dunque immaginare che dal subarchetipo A la tradizione manoscritta si sia biforcata originando da una parte la famiglia V, dall’altra parte il subarchetipo B, da cui poi è discesa la famiglia L – S. Volendo ricostruire le vicende della trasmissione manoscritta dell’opera dovremmo allora ipotizzare all’origine il testo di Cosma, redatto fra il 547 e il 549 ad Alessandria; in epoca immediatamente successiva la mediazione del subarchetipo A, contraddistinto dall’aggiunta degli scoli; da qui, quindi, il diramarsi della tradizione nel codice V e nel subarchetipo B, compilato intorno al 553 e caratterizzato dall’adozione dell’ordine del testo ebraico nella presentazione di profeti e dall’aggiunta della parte finale del Libro X e dei Libri XI – XIII; dal subarchetipo B, infine, discende la testimonianza dei codici L e S (cfr. Wolska-Conus, Topographie Chrétienne, I, 44 – 86). 101 Cfr. Jacobs, »Kosmas Indikopleustes«, 184; Piotrovskaja, »Christianskaja Topografija«, 74; GD, 47. 102 Cfr. Piotrovskaja, »Christianskaja Topografija«, 73 – 74. 103 Cfr. ibid., 123 – 130. 104 Cfr. infra, nota 131.
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della versione slava dell’opera possa essere messa in relazione non solo con la famiglia L – S, e forse direttamente con il codice S, ma anche con l’ambiente di origine di tale testimone e dei codici che conservano le introduzioni di Cosma ai vangeli, e dunque, in tutta probabilità, con Costantinopoli105. Offriamo questi dati, da comprovarsi attraverso verifica, come ulteriore spunto di riflessione ai fini di una futura elaborazione definitiva delle questioni della genesi e delle vicende della trasmissione manoscritta dell’opera slava. Tornando alla questione testuale, allo stato attuale dell’indagine filologica si deve ritenere che i sessanta testimoni dell’opera integrale si dividano in cinque gruppi, che sono stati isolati sia tenendo conto della loro vicinanza con l’originale greco, sebbene il lavoro di confronto attenda ancora una sua elaborazione definitiva, sia sulla base delle lezioni varianti che offrono. Questa classificazione, che rappresenta l’unico tentativo di sistemazione di tutto il materiale noto finora intrapreso, è stata approntata accogliendo come ipotesi di lavoro l’antica classificazione di Redin e verificandone l’applicabilità al piano strettamente testuale. Ne è emersa una sistemazione dei codici in tre famiglie che conservano l’antica denominazione secondo Redin, seppure accolgono al loro interno più di una famiglia iconografica, e in due gruppi fra esse interposti106. Nella presente trattazione offriamo una sistemazione del materiale testuale che ripropone nelle sue linee-guida la classificazione elaborata da Jacobs, elevando però al rango di famiglie i gruppi che la studiosa isola a prescindere dalla classificazione di Redin. Riteniamo infatti che anch’essi, al pari degli altri, presentino caratteristiche individualizzanti tali da giustificare la loro catalogazione separata. Il materiale testuale appare così diviso in cinque famiglie che di fatto palesano un’affinità solo marginale con le famiglie iconografiche secondo la classificazione di origine. Per i testimoni che Jacobs omette di collocare offriamo una nostra ipotesi di collocazione, formulata sulla base dei dati noti, che tuttavia non potrà che essere accolta 105 Non è chiaro su quali basi Piotrovskaja suggerisca come probabile luogo della traduzione slava il monastero di Santa Caterina del Sinai. La studiosa dà per acquisito che il manoscritto MSC, gr. 1186 sia stato compilato in tale monastero, mentre recenti studi ne dimostrano la provenienza da Costantinopoli (cfr. Anderson, »The Illustration of the Florence«), e fa poi riferimento a tre tetravangeli greci datati all’XI – XIV sec. (o al IX – XIV sec.?), che individua sulla base di un vecchio catalogo. A suo dire, questi codici tramanderebbero le introduzioni di Cosma ai vangeli e proverrebbero anch’essi dal monastero di Santa Caterina del Sinai (cfr. Piotrovskaja, »K izučeniju drevnerusskoj versii ›Christianskoj Topografii‹«, 110 – 111; ead., »Christianskaja Topografija«, 41 – 42). 106 Cfr. Jacobs, »Kosmas Indikopleustes«, 183 – 191.
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come traccia da seguire nel lavoro di verifica da condursi de visu sui singoli testimoni. Fatta questa premessa, offriamo ora l’elenco delle famiglie testuali e la loro composizione. A sinistra, sopra l’identificativo dei codici, la numerazione romana progressiva preceduta da J (Jacobs) indica la corrispondenza di ogni famiglia con le famiglie isolate da Jacobs. Le sigle nelle prime due colonne di destra indicano invece la posizione dei testimoni all’interno della tradizione iconografica secondo Redin e secondo Serebrjakova, che riproponiamo nella confermata convinzione che ai fini dell’ulteriore avanzamento dell’indagine filologica del testo non si debba prescindere dal rapporto fra famiglie iconografiche e testuali. Nell’ultima colonna di destra il simbolo indica i testimoni di cui tiene conto l’edizione GD, i simboli quelli da cui nella stessa edizione si riportano sistematicamente le lezioni varianti. Notizie di rilevanza iconografica sono state offerte a integrazione della descrizione dei singoli codici nella parte dedicata alla tradizione iconografica; la composizione di ogni famiglia verrà ora completata da alcune osservazioni che potremmo definire sparse, che, per i testimoni miniati ancora esclusi dalla tradizione iconografica, potranno avere rilevanza anche iconografica. Crediamo che di tali osservazioni, per quanto possano apparire isolate, si dovrà tenere conto ai fini di una futura sistemazione definitiva di tutto il materiale noto. Nel corso della trattazione continueremo ad avvalerci delle stesse sigle di identificazione dei codici di cui sopra. Per i contenuti il riferimento è sempre alla suddivisione del testo greco nell’edizione di Wolska-Conus, con l’indicazione dei libri, capitoli e versetti preceduta da TC. Per segnalare le aggiunte che sono assenti dal testo greco faremo riferimento, quando possibile, all’edizione OLDP, facendo seguire la sigla OLDP dal numero delle pagine e dei versetti a cui si rimanda.
1. La Famiglia di Uvarov Confluiscono in questa famiglia, che condivide il capostipite con la Famiglia iconografica di Uvarov, di cui prende il nome, tutti i testimoni di tale famiglia a eccezione dei frammenti M 20 e W 21 e dei codici 56 e 60 che, come vedremo, non hanno ancora trovato una propria collocazione all’interno della tradizione del testo. Vi confluiscono inoltre i testimoni I 9 – 10, che nella tradizione iconografica compongono il Ramo A della Famiglia di Uvarov, e il codice I 12, che nella tradizione iconografica rappresenta la Famiglia autonoma, ma che di fatto non ha ancora trovato una collocazione definitiva. Appartengono inoltre a questa famiglia i testimoni I 5, I 8 e I 11,
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Kniga naricaema Koz’ma Indikoplov
che finora non sono mai stati oggetto di indagine iconografica. Due di questi compaiono fra le fonti dell’edizione GD, che si basa sul codice I 1, e offre tutte le lezioni varianti del codice I 2, e alcune lezioni dei codici I 3 – 5, I 8 – 10 e I 12. La Famiglia testuale di Uvarov corrisponde alla prima famiglia della classificazione di Jacobs. I (J I)
R
S
GD
1
GIM Uvar. n. 566 (1731) (210), 1°, 365 ff., miscellanea, anno 1495 (1494?), semionciale, ff. 1 – 131v
UR1
Ur
2
GIM Uvar. n. 60 (1732), 4°, 287 ff., XVI sec.R+J / fine XV-inizio XVI sec.S, semionciale
UR6
–
3
RNB OLDP f. 536 n. Q XX (399), 4° di piccolo formato, 276 ff., XVI sec., semionciale107
UR3
–
4
RGB Ovčinn. f. 209 n. 798, 1°, 253 ff., ultimo quarto XVI sec., semionciale108
UR8
–
5
RGB Tich. f. 299 n. 426, 330 ff., XVI sec., semionciale
–
–
6
RGB Undol’. f. 310 n. 190, 1°, 253 ff., XVII sec., corsiva
UR4
–
–
7
RGB Undol’. f. 310 n. 191, 1°, 218 ff., XVII sec., corsiva
UR5
–
–
8
BAN 13.3.11 Ustjuž. f. 6 n. 11, 1°, 239 ff., fine XVII sec., semionciale
–
–
9
GIM Ščuk. n. 475, 1°, 290 ff.J / 276 ff.S, XVII sec.R+J / anni ’40 XVIS sec., semionciale
UR7
UrA
10
GIM Muz. n. 331 (26094), 1°, 312 ff., anni ’30 XVII sec., semionciale e corsiva
UR9
UrA
11
RGB Otdel.ruk. f. 218 n. 83, 1°, 272ff., XVII – XVIII sec., semionciale
–
–
–
12
RNB Pog. f. 588 n. 1091, 8°, 485 ff., XVI sec., semionciale e corsiva
SamR25
–
107 Nei ff. 1 – 8, 11 – 15, 267, 274 – 276 è evidente l’intervento di un restauratore del XVIII sec. (cfr. ibid., 185). 108 I ff. 184 – 191 sono stati completati in epoca successiva al XVI sec. (cfr. ibid., 196).
44
Francesca Romoli
Osservazioni Il codice I 1, come sappiamo, è il testimone più antico e completo del testo slavo in versione integrale. Dal colofone (f. 365v) si apprende che fu redatto dal d’jak Larion, che afferma di avervi lavorato, per volontà dell’archimandrita Venedikt del monastero della Trasfigurazione del Salvatore di Jaroslavl’ dal 14 giugno al 13 novembre dell’anno 7003 (1495). I dati codicologici e paleografici rivelano tuttavia l’influsso di convenzioni grafiche e ortografiche slavo-meridionali, che ne hanno fatta ipotizzare la dipendenza da un modello appunto slavo-meridionale. Resta inoltre da chiarire se realmente il lavoro di redazione si sia svolto a Jaroslavl’109. Di particolare interesse appare la composizione del codice, che si presenta come una raccolta miscellanea e tramanda insieme alla TC opere che al pari di quella offrivano un’interpretazione della storia e del destino del mondo e dell’umanità alla luce delle scritture. In particolare, dopo il testo della TC (ff. 1 – 131v) sono attestate la Paleja storica (f. 134), la Paleja commentata (f. 179) e l’Apocalisse di Metodio di Patara (f. 357v)110. Nel codice I 2, a causa della perdita dei primi quaderni, il testo della TC inizia dal Libro II111; presenta inoltre l’aggiunta di OLDP 22.32. Nel codice I 5 il testo della TC, privo dell’indice e del prologo, inizia dal Libro I. Il codice I 7 è strettamente imparentato con i codici I 5 – 6, rispetto ai quali presenta tuttavia una particolare aggiunta sui sette pianeti e sulle corrispondenti divinità pagane (ff. 155v-157v). Nel codice I 12 il testo della TC presenta l’omissione parziale dell’indice e l’omissione totale del prologo112. 2. La Famiglia di passaggio fra le Famiglie di Uvarov e sinodale Nella classificazione di Jacobs è evidenziato un gruppo di otto testimoni privi di illustrazioni – sebbene non di rado l’impaginazione del testo mostri come di fatto fossero previste –, che sul piano della tradizione testuale si colloca a metà strada fra la Famiglia di Uvarov e la successiva Famiglia sinodale113. Distinguiamo questo gruppo, i cui testimoni non rientrano nella Cfr. GD, 8 – 10, 40 – 42. Cfr. Serebrjakova, »O dvuch licevych Indikoplovach«, 72; ead., »Licevye Indikoplovy«, 144, 152 nota 8. 111 Cfr. ibid., 145, 152 nota 10. 112 Cfr. Jacobs, »Kosmas Indikopleustes«, 185. L’indicazione di V. S. Golyšenko, secondo cui il testimone I 12 sarebbe assente dall’inventario di Jacobs (GD, 48) è evidentemente errata. 113 Cfr. Jacobs, »Kosmas Indikopleustes«, 185 – 186. 109 110
45
Kniga naricaema Koz’ma Indikoplov
tradizione iconografica né sono stati considerati da Redin e Serebrjakova, in una famiglia autonoma, che alla luce dei dati noti riteniamo tramandi una redazione testuale intermedia, attestante cioè una fase di passaggio fra la Famiglia di Uvarov e la Famiglia sinodale. Nell’edizione GD sono offerte a campione le lezioni varianti dei testimoni II 13 – 15 e II 19 – 20. II
GD
13
RGB Egor. f. 98 n. 314, 4°, 387 ff., inizio XVI sec. (1514?), semionciale, ff. 1 – 124v
14
RGB Ios.Vol. f. 113 n. 557 (177), 21.515.5, 234 ff., XVI sec., semionciale
15
BAN 21.4.2 Plig. f. 39 n. 54, 4°, 449+4 ff., XVI sec., semionciale, ff. 1 – 226v
16
RGB Poljak. f. 448 n. 1, 4°, 244 ff., prima metà XVI sec., corsiva
–
17
Vil’njus, Publ.bibl. n. 77 (216), 1°, 191 ff., XVI sec., semionciale
–
18
Vil’njus, Publ.bibl. n. 78 (217), 1°, 222 ff., XVI sec., semionciale incipit f. 7v
114
–
19
BAN Archang. f. 1 n. D 475, 4°, 345 ff., XVII sec., corsiva
20
GIM Uvar. n. 31 (1733), 4°, 343 ff., XVII sec., corsiva
,
Osservazioni L’impaginazione dei testimoni II 13 – 14 e II 16 – 18 mostra come il testo della TC dovesse essere integrato da un apparato illustrativo, che al contrario non era previsto nei codici II 15 e II 19. Il testimone II 13 è fortemente lacunoso; fra le lacune più vistose si segnalano l’omissione di TC 2.79 al f. 22 e quella di TC 5.95 al f. 23 (sic!). Nei codici II 17 e II 20 il testo della TC è privo dell’indice e del prologo115. 3. La Famiglia allargata Raggruppiamo sotto questa famiglia nove testimoni che nella classificazione di Jacobs sono distinti dalle famiglie precedenti sia per la loro minore antichità, sia soprattutto in considerazione della particolare redazione testuale e iconografica che tramandano (da cui il nome di Famiglia allargata). 114 115
I ff. 1 – 46 risalgono a un’epoca successiva (cfr. ibid., 186). Ibid.
46
Francesca Romoli
Con riferimento alla classificazione iconografica, all’interno di questa famiglia trovano collocazione quattro testimoni che ne sono ancora esclusi e tutti i codici della Famiglia composita e di quella occidentalizzante completa. Dalla caratterizzazione che ne offriremo, tuttavia, emerge con chiarezza come sul piano generale della tradizione del testo si rendano necessarie nuove approfondite indagini che stabiliscano in via definitiva la validità e la composizione delle famiglie iconografiche finora individuate nel loro rapporto con le famiglie testuali. L’edizione GD considera a campione le lezioni varianti offerte dai codici III 23 e III 29. I testimoni della Famiglia allargata, il cui nucleo è costituito dai codici III 23 – 29, risalgono tutti a un modello corrotto carente di un foglio nel prologo, e tramandano il testo in una redazione allargata dal punto di vista sia testuale sia iconografico. Presentano infatti capitoli e illustrazioni aggiunte che non sono attestate nei codici delle altre famiglie, caratterizzandosi in modo particolare per la presenza di sei aggiunte testuali e / o iconografiche, nell’esposizione delle quali ci riferiremo a titolo esemplificativo al codice III 23. La prima aggiunta, che può comparire o come antefixus o in appendice, consta di una rappresentazione con didascalia delle sette età dell’uomo (III 23, ff. 8 – 15v). La seconda aggiunta, che segue TC 4.15 – 16, offre un passo di contenuto astronomico sulla divisione del tempo, sugli astri e i punti cardinali, che è introdotto da un riferimento a Dionigi Areopagita e corredato da quattro disegni schematici dei sette pianeti e dei segni zodiacali (III 23, ff. 104v – 108v). La terza aggiunta, che compare dopo TC 5.68, consta di una composizione di citazioni bibliche tratte da 1 e 2 Sam (1 e 2 Re) (III 23, ff. 166 – 170). La quarta aggiunta è più articolata delle precedenti e presenta un materiale esclusivamente illustrativo: dopo TC 5.154 un’immagine dei patriarchi e dei profeti dell’Antico testamento; dopo TC 5.175 un’immagine (che però potrebbe risalire all’originale) della Madre di Dio in trono con il Bambino, cinta da un lato da Elisabetta, Anna e Giovanni, e dall’altro da Zaccaria e Simeone; in posizione variabile, infine, alcune illustrazioni a tutta pagina dei quattro evangelisti. La quinta aggiunta, che segue TC 7.85, offre un discorso di insegnamento sui sette pianeti, forse ispirato a Giovanni Damasceno, e una loro rappresentazione figurata (III 23, ff. 253 – 254v). Lo stesso contenuto compare in forma mutata nel testimone I 7 (ff. 155v – 157v). La sesta aggiunta consta di un trattato sugli dei pagani che segue la fine dell’opera (III 23, ff. 340v – 351) e che potrebbe forse essere ispirato alla Praeparatio evangelica di Eusebio da Cesarea, già fonte del Libro XII 116.
116
Cfr. ibid., 186 – 189.
47
Kniga naricaema Koz’ma Indikoplov III
R
S
GD
–
–
–
RNB Pog. f. 588 n. 1088, fogli di grande formato, 252 ff., XVII sec., semionciale
SložR24
–
–
23
RGB Muz. f. 178 n. 10585, 1°, 354 ff., XVII sec., semionciale117
–
–
–
24
BAN 34.3.36 Petr. I n. 1 A. 68, 1°, 370 ff., anno 1681, semionciale
PR28
–
25
RNB F IV n. 891, 1°, 204 ff., inizio XVIII sec., semionciale
–
–
–
26
RNB F IV n. 555, 1°, 387 ff., XVII sec., semionciale
PR27
–
–
27
RNB F IV n. 883, 1°, 222 ff., fine XVII – inizio XVIII sec., corsiva
(PR26)118
–
–
28
BRD München, Bayerische Staatsbibliothek, Cod. slav. 40, 1°, XVIII sec., semionciale, ff. 1 – 113
–
–
–
29
BAN 24.6.8. Srezn. n. 134, 1°, 141+II ff., anno 1860, corsiva
–
–
21
RGB Egor. f. 98 n. 210, 1°, 308 ff., XVII sec., semionciale
22
Osservazioni Il testimone III 21 è lacunoso e presenta il prologo in forma abbreviata; sul piano iconografico è strettamente interrelato al codice III 22, tanto che ne abbiamo ipotizzato l’appartenenza alla stessa famiglia. Parimenti lacunoso è il testimone III 25, che presenta un prologo abbreviato e l’omissione di OLDP 7.46 – 9.2. Il testimone III 26 è privo della terza aggiunta, che è assente anche nel testimone III 27; quest’ultimo, inoltre, è privo della parte iniziale del testo fino a OLDP 30.7 e presenta anche altre lacune. Nel testimone III 28 l’inizio è riorganizzato ed è omesso TC 7.6; sono inoltre assenti la prima, la quinta e la sesta aggiunta119.
Il codice presenta aggiunte ascrivibili a una seconda mano (cfr. ibid., 187). Come si è già rilevato, la corrispondenza di questo codice nella classificazione di Redin non è certa (cfr. supra, nota 96). Riteniamo che possa trattarsi del primo testimone della Famiglia iconografica occidentalizzante completa (PR26). 119 Cfr. Jacobs, »Kosmas Indikopleustes«, 186 – 187. 117 118
48
Francesca Romoli
4. La Famiglia sinodale Confluiscono in questa famiglia, che prende il nome dalla seconda famiglia iconografica nella classificazione di Redin, tutti i codici dell’antica Famiglia sinodale, ovvero, secondo la più recente classificazione, tre su quattro testimoni della Famiglia del monastero di Kirill di Beloozero e tutti i codici che compongono la Famiglia delle Grandi Menee, escluso il Ramo A. Vi confluiscono inoltre la Famiglia occidentalizzante abbreviata, alcuni testimoni ancora esclusi dalla tradizione iconografica, e i codici IV 33, IV 39 e IV 43 che, pur contemplati nella vecchia classificazione iconografica, non hanno ancora trovato collocazione nella nuova, salvo l’ipotesi che abbiamo formulato con riferimento ai testimoni IV 43 – 45. La composizione stessa di questa famiglia testuale, che è trasmessa complessivamente da sedici testimoni, e il rapporto di corrispondenza univoca che la lega alle famiglie della tradizione iconografica ripropongono nella sua urgenza la necessità di un’indagine che chiarisca i complessi rapporti che intercorrono fra i singoli codici e fra le famiglie della tradizione testuale e iconografica. Questo lavoro potrebbe forse dare l’impulso alla preparazione di una nuova edizione dell’opera, che dovrebbe includere, sia pure fra i materiali di controllo, testimoni appartenenti a famiglie diverse. L’edizione GD riporta a campione le lezioni varianti dei codici IV 33 – 34, IV 40 e IV 44. IV (J II)
R
S
GD
30
GIM Sin. n. 795J / 997S (Sin. 999), Grandi Menee, Uspenskij spisok, 31 agosto, 1°, 1569 ff., anno 1542120, semionciale, ff. 1179 – 1319J / 1079 – 1319vS
SinR11 VMr
–
31
RNB Novg.Sof. n. 1197, 1°, 345 ff., metà XVI sec., semionciale121
SinR16
KBr
–
32
RNB Kir.Bel. f. 351 n. 64 / 1141, 1°, 337 ff., XVI sec.J / anni ’70 – ’80 XV sec.S, semionciale
–
KBr
–
33
RGB MDA f. 173 I n. 75 (3), 27.519.3, 277 ff., XVI sec., semionciale
SinR14
–
34
GIM Bars. n. 263 / 458 (24) (22), 4°, 274 ff., metà XVI sec., semionciale
SinR15
KBr
120 La datazione del codice è desunta dall’iscrizione apposta sul f. 1319v insieme alla firma del copista (cfr. Serebrjakova, »Licevye Indikoplovy«, 147, 153 nota 15). 121 Il codice apparteneva a Kassian, vescovo di Rjazan e Murom, che morì nel monastero di Kirill di Beloozero nel 1556 (cfr. ibid., 154 nota 21).
49
Kniga naricaema Koz’ma Indikoplov 35
RGB Egor. f. 98 n. 176 (109), 1°, 399 ff., seconda metà XVI sec., semionciale, ff. 140 – 339
–
–
–
36
RGB Rogož.kladb. f. 247 n. 791, 1°, 349 ff., fine XVI – inizio XVII sec., semionciale, ff. 156 – 343
–
–
–
37
Pljevlja, manast.Trojica, 4027.5, 240 ff., anno 1649, semionciale, ff. 103 – 236122
–
–
–
38
RNB Pog. f. 588 n. 1089, 1°, primo terzo XVII sec., semionciale, ff. 201 – 439v
KR29
–
–
39
Kiev, Počaevsk.lavr. n. 42 (94), 1°, anno 1593
SinR17
–
J
S
SinR13 VMr
–
40
GIM Čertk. n. 160 (I ¾), 1°, 304 ff. / 307 ff. , anni ’70 XVII sec., semionciale123
41
RGB Egor. f. 98 n. 159, 284 ff., XVI sec., semionciale124
–
–
–
42
RGB Muz. f. 178 n. 10336, 1°, 236 ff., XVII sec. (1652?), corsiva
–
–
–
43
RNB F I n. 220 Tolst., fogli di piccolo formato, 272 ff., anno 1601R / XVI sec.J, semionciale
SinR12
–
–
44
RGB Egor. f. 98 n. 1269, 1°, 255 ff., anno 1602, semionciale
–
–
45
IRLI Drevlechran. koll. Velč. n. 25, 1°, 287 ff., XVII sec., semionciale
–
–
–
Osservazioni Il testimone IV 37 si distingue in seno a questa famiglia per l’aggiunta di un passo esplicativo sulle quattro stagioni dell’anno, e di un’immagine che le rappresenta nella forma simbolica di quattro figure di sovrani (f. 238), e per una seconda immagine (f. 202) che non compare in nessun altro testimone. Per queste illustrazioni è stato ipotizzato l’influsso di modelli classici mediati da modelli occidentali, ovvero da modelli orientali o islamici. Il codice appare tuttavia strettamente interrelato al codice IV 35, che è privo di illustrazioni malgrado fossero previste, e al codice IV 36. Questi tre testimoni, infatti, palesano un’analoga composizione: si aprono tutti con l’Esa122 Per la descrizione paleografica e linguistica del testimone si può consultare Jagić, »Kozma Indikoplov«. 123 Un’iscrizione apposta sul f. 6 informa che il codice apparteneva al patriarca di Mosca e di tutta la Russia Adrian. La parte finale del codice mostra l’intervento di un restauratore del XIX sec. (cfr. Jacobs, »Kosmas Indikopleustes«, 190; Serebrjakova, »Licevye Indikoplovy«, 153 nota 18). 124 In alcune sue parti il codice è stato sottoposto a restauro (cfr. Jacobs, »Kosmas Indikopleustes«, 190).
50
Francesca Romoli
merone di Giovanni Esarca e poi offrono il testo della TC, ma, al contrario degli altri codici di questa famiglia, che alla TC fanno seguire un passo sul battesimo e un ulteriore capitolo, terminano tutti senza altre aggiunte. Condividono inoltre la particolare disposizione del materiale testuale nella parte iniziale della TC: il testo inizia da OLDP 4.1, prosegue fino a OLDP 4.53, e soltanto a questo punto compaiono l’indice e il prologo da OLDP 3.1 a OLDP 4.1, seguiti dal Libro I. Gli stessi testimoni condividono anche alcune altre peculiarità: presentano un’indicazione di inizio capitolo in corrispondenza di TC 2.108 e una nota a margine sulla nascita di Giovanni Battista all’altezza di TC 5.152. L’affinità del codice IV 37, che proviene dall’area slavo-meridionale, con i codici IV 35 – 36, che invece provengono dall’area slavo-orientale, non deve sorprendere se già nel 1922 Jagic´ ne aveva dimostrata la dipendenza da un originale slavo-orientale, ma dovrebbe piuttosto costituire una possibile pista di ricerca ai fini di una futura ricostruzione della storia della trasmissione manoscritta dell’opera. Nel codice IV 38 la parte iniziale della TC si attiene al testo noto, ma la fine della premessa è anticipata a OLDP 4.1. I testimoni IV 41 – 42 palesano una forte somiglianza reciproca. Similmente, i testimoni IV 43 – 45 appaiono strettamente interrelati sia dal punto di vista iconografico – tanto che se ne è ipotizzata l’appartenenza a una stessa famiglia iconografica –, sia dal punto di vista testuale. Sul piano testuale si caratterizzano in particolare per l’omissione di TC 4.20.9 – 10 e per una lacuna anche iconografica causata dall’omissione di un foglio all’altezza di TC 4.15 – 16. Tale lacuna è comune al codice IV 32, al quale i codici IV 43 – 45 sono legati anche per alcuni altri dettagli testuali. Dopo la suddetta omissione, i testimoni IV 44 – 45 riprendono la trattazione in maniera concorde, formando un inizio secondario125. 5. La Famiglia dell’Archivio Confluiscono in questa famiglia, che è rappresentata complessivamente da nove codici, tutti i testimoni dell’antica Famiglia iconografica dell’Archivio, di cui prende il nome, ovvero, secondo la nuova classificazione, tutti i testimoni del Ramo A della Famiglia iconografica delle Grandi Menee. Vi confluiscono, inoltre, due testimoni che all’interno della tradizione iconografica non hanno ancora trovato collocazione. L’edizione GD offre tutte le lezioni varianti rappresentate dal testimone V 46 e alcune lezioni tratte dai testimoni V 47 – 48 e V 50 – 51. 125
Cfr. ibid., 189 – 190.
51
Kniga naricaema Koz’ma Indikoplov V (J III)
R
S
GD
46
RGADA Obol. f. 201 n. 161 (159) (51a), Grandi Menee, Sofijskij spisok, 23 – 31 agosto, 1°, anni 1539 – 1540, semionciale, ff. 378v – 497v (ed. OLDP)
AR18
VMrA
47
RGB MDA f. 173 I n. 102 (2), 38.525.3, 179 ff., anni 1530 – 1540, semionciale
AR19
VMrA
48
GIM Čud. n. 44 (346), 4430, 222 ff., XVI sec.R+J / anni ’30 XVII sec.S, semionciale126
AR20
VMrA
49
RNB F IV n. 683 Solov. (Bogd.) f. 717, 1°, 197 ff., XVI sec., semionciale127
AR22
VMrA
–
50
RGB Stroev. f. 292 n. 8236, 4°, 224 ff., inizio XVII sec., semionciale
–
–
51
GIM Uvar. n. 528 (1815) (391), 4°, miscellanea, XVII sec., semionciale, ff. 1 – 589
AR21
VMrA
52
RNB F XVII n. 23, 1°, miscellanea, XVII sec., corsiva e semionciale, ff. 321 – 454
AR23
VMrA
–
53
RGB Ovčinn. f. 209 n. 0 / 534, 4°, 274 ff., XVII – XVIII sec., corsiva, ff. 95 – 234
–
–
–
54
RNB F 76 Vjaz. f. 166, 215 ff., inizio XIX sec., semionciale
–
–
–
Osservazioni Il testimone V 50 è privo di illustrazioni che, come nei codici II 15 e II 19, non erano previste. Nel testimone V 51, come già nel codice I 5, sono omessi L’indice e il prologo e il testo inizia dal Libro I; al f. 251 è inserita una nota a margine sulla torre di Babele. Il codice, solo parzialmente illustrato, difetta di molti fogli. Il testimone V 52 difetta di parecchi fogli dopo TC 7.90 e appare fortemente lacunoso; le illustrazioni dei ff. 379 – 380 (OLDP 107 – 110) presentano particolari note a margine. Il testimone V 53, ancora escluso dalla tradizione iconografica, costituisce un caso unico all’interno di questa famiglia, soprattutto sul piano iconografico: al suo interno, 126 Nel primo foglio di rilegatura un’annotazione in corsiva del XVII sec. informa che la copia era stata commissionata dal monastero dei miracoli. Nei ff. 1 – 8 una nota a piè pagina in semionciale del XVII sec. fa riferimento a un possessore del codice, tale Kornil Fedorov figlio di Opraksin (cfr. Serebrjakova, »Licevye Indikoplovy«, 153 nota 17). 127 La copia fu redatta da tale Silvestr e da suo figlio Onfim nel monastero di Solovki (cfr. ibid., 154 nota 22).
52
Francesca Romoli
infatti, la serie delle illustrazioni consta unicamente di due disegni privi di colore. Degna di menzione è anche la composizione del codice, che ai ff. 2 – 91 trasmette l’Esamerone di Severiano di Gabala, una delle fonti più probabili della TC128. Testimoni ancora privi di collocazione Fra i testimoni dell’opera slava in versione integrale attualmente noti, sei attendono ancora di essere collocati all’interno della tradizione del testo129. Allo stato attuale degli studi si può tentare di ipotizzare una collocazione per i testimoni 56 – 58 e 60, mentre poco si può dire con riferimento ai testimoni 55 e 59. La questione non potrà comunque trovare soluzione definitiva fino alla presa visione dei codici: solo allora, sulla base delle caratteristiche testuali di ognuno, se ne potrà stabilire l’appartenenza a una delle famiglie testuali finora individuate o a famiglie da quelle distinte. Del resto, alla risoluzione della questione non sembra poter contribuire la bibliografia disponibile, con particolare riferimento all’edizione GD. I redattori, infatti, pur attingendo anche ad alcuni codici di questo gruppo, nella scelta del materiale non tengono conto della tradizione del testo; in particolare, in aggiunta ai testimoni che abbiamo di volta in volta indicato, considerano anche il testimone 60, di cui riportano tutte le lezioni varianti, e i testimoni 56 – 58 di cui riportano le varianti a campione. Qualche indicazione si può invece trarre dalla composizione delle famiglie iconografiche nell’attuale classificazione. Come si è visto, infatti, alcuni recenti studi hanno permesso di distinguere in seno all’antica Famiglia sinodale i codici 57, IV 31 e IV 34, che offrono una redazione iconografica riconducibile al capostipite della nuova Famiglia del monastero di Kirill di Beloozero, il codice IV 32. Alla luce di questa sistemazione del materiale iconografico, e considerando che nella tradizione del testo i testimoni IV 31 – 32 e IV 34 non compongono una famiglia autonoma, ma continuano ad appartenere alla Famiglia sinodale, si deve ritenere che la peculiarità redazionale che condividono con il codice 57 sia giustificata solo sul piano iconografico. Sul piano testuale si potrebbe dunque dedurre l’appartenenza alla Famiglia sinodale anche del codice 57. Con riferimento ai codici 56 e 60, che hanno trovato collocazione nella Famiglia iconografica di Uvarov, riteniamo invece che si dovrebbe accertare in via prioritaria la validità testuale di tale collocazione.
128 129
Cfr. Jacobs, »Kosmas Indikopleustes«, 190 – 191. Cfr. ibid., 191.
53
Kniga naricaema Koz’ma Indikoplov R
S
GD
55
? Kiev, Muz.KDA n. 440 (Muz. 794), 4°, 366 ff., anno 1710, corsiva, ff. 1 – 194
–
–
–
56
GIM Muz. n. 3512, 1°, anni ’40 XVI sec., semionciale
–
Ur
J
57
GIM Muz. n. 2902, 1°, XVIII sec. / fine XVIIIinizio XIX sec.S
–
KBr
58
GIM Bars. n. 262, inizio XVII sec.GD / fine XVI sec.S
–
–
59
GIM Čud. n. 360, 8°, XVII sec.
–
–
–
60
GIM Muz. 1152, 1°, anno 1553, semionciale130
–
Ur
III. La tradizione dei frammenti L’indagine filologica sull’opera slava in frammenti versa in uno stato di ricognizione parziale, che per la tradizione dei frammenti offre un assetto non ancora definitivo e anche più provvisorio di quello finora elaborato per le tradizioni iconografica e testuale. Allo stato attuale delle ricerche sono noti trentanove testimoni dell’opera slava in frammenti testuali e, in certi casi, anche iconografici o esclusivamente iconografici. Tali frammenti sono documentati in codici non anteriori al XV sec., tutti di provenienza slavoorientale, mentre non si ha notizia della presenza di frammenti all’interno di codici di fattura slavo-meridionale. Parrebbe dunque trattarsi di una peculiarità della tradizione scrittoria slavo-orientale, se si considera che nella tradizione greca manoscritta il fenomeno, per quanto presente, appare più limitato ma soprattutto più omogeneo131. 130 Il codice non è contemplato nell’elenco di Jacobs. Dal colofone (f. 208) si apprende che fu redatto nel 7061 (1553) dal monaco Vassian Drakula del monastero di san Nicola sulla Pesnoška per volontà dell’egumeno Varsonofij, poi vescovo di Tver’ (cfr. Serebrjakova, »O dvuch licevych Indikoplovach«, 71). 131 I testimoni dei frammenti testuali e iconografici dell’opera greca si distinguono in due gruppi in base al contenuto, piuttosto stabile, dei passi che trasmettono. Appartengono al primo gruppo i codici che attestano frammenti di contenuto profano: il Fisiologo di Smirne (XI / XII sec.), che dell’opera offre illustrazioni con didascalie; il BN, gr. 2426 (anno 1562), che tramanda il Libro XI in parafrasi abbreviata; il BN, sup. gr. 864 (XVIII sec.), che presenta illustrazioni con didascalie; l’ÖNb, theol. gr. 9, che tramanda i frammenti TC 1.4, 2.1, 2.6 – 10, 2.12 – 21. Appartengono invece al secondo gruppo i codici che attestano frammenti di contenuto biblico: i tetravangeli BAV, gr. 363 (X / XI – XII sec.), BAV, gr. 756 (XI sec.), BAV, gr. 466, BodL, Crom. 15 (XI sec.), BodL, Seld. 54 (XIV sec.), e un codice custodito a Berlino, che offrono le introduzioni ai vangeli di Cosma indicandone di norma la fonte e l’autore (Matteo: TC 5.190 – 195; Marco: TC 5.196 – 197; Luca: TC 5.198 – 201; Giovanni: TC 5.202 – 205). Rientrano nello stesso gruppi anche i salteri, le catene o i commentari al salterio
54
Francesca Romoli
I frammenti dell’opera slava sono piuttosto omogenei dal punto di vista del modus citandi, che pertanto non sembra poter assurgere a criterio di distinzione. Generalmente, infatti, le attestazioni coincidono con il testo noto e, nel caso di frammenti di uguale consistenza, palesano una completa coincidenza reciproca, malgrado talvolta presentino varianti ortografiche e lessicali ed errori. Sul piano generale della storia della trasmissione manoscritta dell’opera, l’omogeneità testuale che si rileva fra i frammenti e la versione integrale e fra frammenti di analoga consistenza potrebbe forse testimoniare di come, all’atto dell’inclusione dei singoli passi nelle diverse raccolte, i copisti slavo-orientali attingessero a una traduzione slava integrale piuttosto che approntare ogni volta una nuova traduzione dall’originale. Del resto, solo in casi isolati i frammenti si discostano sensibilmente dal testo noto, presentando citazioni letterali alternate a passi dalla resa più libera. Pur costituendo casi particolari, che testimoniano cioè di un particolare modus compilativo, i frammenti non conformi al testo noto non sembrano comunque poter provare l’ipotesi dell’esistenza di una seconda traduzione che sarebbe andata perduta132. La composizione dei codici ospitanti appare a tal punto variegata che difficilmente si presta a generalizzazioni rilevanti ai fini di una loro catalogazione. Di regola si ha a che fare con raccolte di contenuto misto, che tramandano sia opere originali, sia letteratura di traduzione. Pur rientrando nella definizione generica di miscellanee, tali raccolte costituiscono ognuna un caso particolare e, non essendo rappresentati codici identici per composizione, appaiono difficilmente riconducibili a una tipologia133. La situazione appare ancora più variegata con riferimento al contesto dei singoli frammenti, che varia ogni volta, senza che emergano costanti apprezzabili ai fini della ricostruzione della storia della trasmissione manoscritta dell’opera in frammenti. BodL, Baroc. 15 (XII sec.), BAV, gr. 342 (anni 1087 – 1088), BAV, gr. 525 (XI sec.), BAV, gr. 752 (XI sec.), Esc, Ψ I.2 (XII sec.), BN, gr. 169 (XIV sec.), BN, gr. 2743 (XVI sec.), BN, gr. 3079, e BM, gr. 498 (XIV sec.), che tramandano l’introduzione di Cosma ai salmi (TC 5.116 – 119, 5.120 – 121). Parte dell’introduzione ai salmi è offerta anche in Niceta Coniata, Thesaurus Orthodoxae Fidei, libro 24. Citazioni dal Libro V compaiono inoltre nei codici BodL, Baroc. 223; BA, B.106 sup. (X sec.); BAV, gr. 1747 (X / XI sec.); Mosq. 358 (XI sec.); BNT, B.I.10; BV, 30 (C 4); BAV, gr. 711 (cfr. Wolska-Conus, Topographie Chrétienne, I, 94 – 116). 132 In polemica con Jacobs (»Kosmas Indikopleustes«, 192 – 193), Piotrovskaja (»Christianskaja Topografija«, 74) non esclude la possibilità che alcuni frammenti attestino una seconda traduzione, sebbene altrove anch’essa sembri propendere per l’esistenza di un’unica versione slava dell’opera (cfr. ibid., passim). 133 La tipologia ipotizzata da Piotrovskaja, che ammette tre tipi fondamentali di raccolte, non ci sembra in questo caso applicabile (cfr. ibid., 72 – 73).
Kniga naricaema Koz’ma Indikoplov
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A differenza dei parametri finora considerati, la consistenza dei frammenti, per quanto variegata per contenuto ed estensione, si presta meglio a un tentativo classificatorio. I frammenti, infatti, sono inclusi all’interno dei diversi codici ora nella forma di citazioni semplici, tratte cioè da un unico libro, ora invece nella forma di citazioni composite, che amalgamano cioè passi tratti da libri diversi, talvolta anche senza rispettare la cronologia della versione integrale. Le citazioni di quest’ultimo tipo offrono un’amplissima gamma di combinazioni, che solo in pochi casi si ripetono in combinazioni fisse. Dall’analisi comparativa della consistenza dei frammenti emergono così alcuni dati che ci permettono comunque di tracciare una prima tipologia. Tramandano citazioni semplici, tratte cioè da un unico libro, diciotto su trentanove testimoni di frammenti testuali e / o iconografici (frammenti A1 – K18). Dieci di questi offrono passi dal Libro II (frammenti A1 – E10), e sei su dieci presentano lo stesso passo (frammenti E5 – 10); quattro testimoni offrono passi dal Libro IV (frammenti F11 – G14), e tre di essi presentano lo stesso passo (frammenti G12 – 14). Due testimoni tramandano frammenti dal Libro V (frammenti H15 – I16), un testimone dal Libro XI (frammento J17) e un testimone dal Libro XII (frammento K18). Dei restanti ventuno testimoni, dodici attestano citazioni composite, tratte cioè da libri diversi (frammenti L19 – V30). Di questi, un testimone offre una composizione di citazioni che sono tratte nell’ordine dai Libri I e II (frammento L19). Cinque testimoni offrono composizioni tratte dal Libro II e da uno o più libri successivi (frammenti M20 – Q24). In particolare, il frammento M20 riunisce passi dai Libri II e V, il frammento N21 dai Libri II e III, VII – VIII, il frammento O22 dai Libri II e VII, X, il frammento P23 dai Libri II e III, V, VII – X, XII, e il frammento Q24 dai Libri II e III, V, VIII. Un testimone presenta invece una composizione di citazioni tratte in ordine inverso dai Libri III e II (frammento R25). Tre testimoni uniscono a citazioni tratte dal Libro IV frammenti di uno o più libri precedenti o successivi (frammenti S26 – T28). In particolare, il frammento S26 racchiude una composizione di citazioni tratte dai Libri IV e V – VI, mentre i frammenti T27 – 28 uniscono passi tratti nell’ordine dai Libri IV, VI – VII e II. Un testimone presenta poi una composizione di citazioni tratte dai Libri VI – VII (frammenti U29), e l’ultimo testimone di questo gruppo offre quattro diverse composizioni di citazioni: la prima dai Libri XI, II e VII, la seconda dai Libri X e VIII, la terza dal Libro VIII e la quarta dai Libri II, V, II e VIII (frammento V30). Dei restanti nove testimoni, quattro offrono frammenti testuali e iconografici o esclusivamente iconografici (frammenti W31 – 34). In particolare, il frammento W31 consta di venti illustrazioni che nella versione integrale
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Francesca Romoli
compaiono normalmente all’interno dei Libri II – V e VII; il frammento W32 consta di un’illustrazione che nel testo in versione integrale compare di regola all’interno del Libro I; il frammento W33 presenta illustrazioni che seguono la redazione della Famiglia iconografica di Uvarov; il frammento W34 offre tre illustrazioni che, come vedremo, potrebbero essere ispirate alla TC. I restanti cinque testimoni (frammenti X35 – 39) sono codici che secondo le descrizioni offerte dai cataloghi tramandano passi della TC134, ma che di fatto non hanno ancora trovato collocazione all’interno della tradizione dei frammenti. La risoluzione della questione della loro appartenenza ai gruppi che abbiamo appena descritto, o a gruppi da quelli autonomi, è necessariamente subordinata alla presa visione dei codici in questione e all’analisi del loro contenuto. I codici Y40 – Z50 sono invece erroneamente ritenuti testimoni di frammenti testuali della TC. In particolare, i codici Y40 – 47 presentano passi che la tradizione manoscritta ha attribuito alla penna di Cosma, ma che di fatto, salvo un’eccezione nel frammento Y40, non palesano corrispondenze con l’opera. I codici Z48 – 50 offrono passi sulla torre di Babele che sono stati attribuiti a Cosma, ma che in realtà discendono dalla Paleja. In particolare, siamo in presenza di citazioni dalla Paleja commentata nel codice Z48, che tuttavia ai ff. 11 – 36 tramanda una citazione dalla TC (frammento C3), e poi nel codice RGB Ios.Vol. f. 113 n. 535 (166), XVI sec., che al f. 142 offre la stessa citazione del codice Z48 preceduta però dall’indicazione corretta della fonte, e ancora nel codice Z49, che presenta la medesima citazione ampliata nella prima parte. Ci troviamo invece in presenza di una citazione letterale dalla Paleja storica nel codice Z50, che ai ff. 11 – 36 trasmette però una composizione di citazioni dalla TC (frammento M20). È invece indipendente dalla Paleja la nota a margine che nel testimone V 51 (f. 251) della tradizione del testo offre dettagli tecnici sullo stesso tema135. Volendo ridurre in sintesi la frequenza con cui i libri che compongono la TC sono citati in forma di frammenti, possiamo ordinarli in una scala decrescente che vede al primo posto il Libro II, citato in venti codici, al secondo posto il Libro V, citato in dieci codici, al terzo posto il Libro VII, citato in sei codici, al quarto posto i Libri III – IV e VIII, citati in cinque codici, al quinto posto i Libri VI e X, citati in tre codici, al sesto posto i libri XI – XII, citati in due codici, e solo all’ultimo posto i libri I e IX, che sono citati in tutto una sola volta. Offriamo questi dati, seppure in forma numerica, nella 134 Cfr. Jacobs, »Kosmas Indikopleustes«, 197; Piotrovskaja, »Christianskaja Topografija«, 71 – 72. 135 Cfr. Jacobs, »Kosmas Indikopleustes«, 193.
Kniga naricaema Koz’ma Indikoplov
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convinzione che possano servire a illuminare le vicende della trasmissione manoscritta dell’opera in frammenti, e soprattutto a indagare le motivazioni che sottendono alla sua diffusione. Dopo questa premessa, che illustra la tipologia e la composizione dei frammenti, definisce i gruppi in cui si suddividono e i principi che sottendono all’individuazione di tali gruppi, offriamo ora l’elenco e la descrizione dei testimoni. Come abbiamo chiarito, i codici che attestano l’opera in frammenti sono stati organizzati in gruppi sulla base della tipologia dei frammenti in essi contenuti. Presenteremo, quindi, prima i codici che attestano citazioni semplici, tratte cioè da uno stesso libro, e poi quelli che attestano citazioni composite, tratte cioè da libri diversi. Si considerano appartenenti allo stesso gruppo i codici che trasmettono uno stesso frammento (combinazione fissa). L’ordine di presentazione rispetta la progressione del libro o dei libri citati (da I a XII); in presenza di citazioni tipologicamente affini, i testimoni di frammenti integri precedono i testimoni di frammenti lacunosi. Nella prima tabella (1) si offre la descrizione dei testimoni, indicando, quando noto, il tipo di raccolta che rappresentano. Nelle colonne di sinistra si indicano i gruppi (A – Y), e l’identificativo numerico che abbiamo assegnato a ogni testimone (numerazione progressiva 1 – 48). Nelle colonne di destra si riporta invece la classificazione degli stessi secondo Redin (R), Jacobs (J) (numerazione progressiva 1 – 40) e Piotrovskaja (P) (numerazione progressiva 1 – 42). Nella seconda tabella (2) si descrive invece la consistenza dei singoli frammenti, tenendo conto di preferenza, e comunque dove non diversamente specificato, delle indicazioni di Jacobs136. Nelle colonne di sinistra si ripetono l’identificativo alfabetico dei gruppi e il numerico dei frammenti. Per l’indicazione dei contenuti si fa sempre riferimento alla partizione del testo greco secondo l’edizione di Wolska-Conus, segnalando poi le pagine corrispondenti nelle edizioni del testo slavo OLDP e GD. La descrizione di ogni frammento è integrata da notizie aggiuntive sul codice che lo trasmette, che offriamo in nota, e da osservazioni descrittive sul frammento stesso, che invece offriamo nel corpo del testo. Per la composizione dei codici e per il contesto dei frammenti si rimanda a Piotrovaskaja137, limitandoci a segnalare alcune particolari coincidenze o affinità contenutistiche che riteniamo rilevanti ai fini di una più completa indagine della tradizione dei frammenti.
136 137
Cfr. ibid., 193 – 198. Cfr. Piotrovskaja, »Christianskaja Topografija«, 58 – 72.
58
Francesca Romoli 1
A
1
B
2
C
3
D
4
E
5
6 7
139
RNB Sof. f. 573 n. 1449, miscellanea di scritti monastici con inserti di contenuto scientifico e storico, XVI – XVII sec., semionciale140, ff. 368 – 370v BAN 21.4.8 Plig. f. 39 n. 60, miscellanea, XVII sec., semionciale, ff. 220(255) – 222(257)141 IRLI Drevlechr. IMLI n. 3 (IV 5 n. 3)P, miscellanea, anno 1649, corsiva142, ff. 301 – 306.20 RGB Rogož.kladb. f. 247 n. 603, Azbukovnik, XVII sec., corsiva, ff. 322.1 – 16J; 349v – 352v.6J+P RGB OIDR f. 205 n. 215 (206), miscellanea di scritti edificanti143, anno 1681, corsiva, ff. 103.3 – 133.16 BAN 34.8.22, miscellanea, fine XVII sec., corsiva, ff. 119 – 133 RGB Bol’šak. f. 37 n. 391, miscellanea di scritti edificanti, anni 1709 – 1710J / 1701 – 1710P, corsiva, ff. 145vsgg.J / 145v–149P
R138 –
J 2
P 2
–
3
3
–
4
4
–
5
5
–
6
6
–
7
7
–
8
8
138 Oltre ai testimoni M20 e W31, nel suo lavoro Redin considera anche altri testimoni dell’opera slava in frammenti, senza tuttavia collocarli all’interno delle famiglie iconografiche da lui individuate, salvo in un caso (cfr. Redin, Christianskaja Topografija, vi – viii). Segnaliamo questi testimoni con , riportando per ognuno fra parentesi quadre l’identificativo all’epoca di Redin. 139 La definizione corrisponde al russo sbornik, e si applica genericamente alle raccolte di testi vari. 140 Dall’annotazione apposta sulla pagina iniziale (f. 1) e dal colofone si apprende che il codice apparteneva al monastero di san Cirillo e fu redatto dal monaco Evstafij nel 1602; si rilevano diverse calligrafie (cfr. Piotrovskaja, »Christianskaja Topografija«, 58 – 59). 141 La miscellanea è priva dell’inizio, mostra diverse calligrafie e presenta una doppia numerazione (con inchiostro nero e marrone). Non è chiaro, però, se questa doppia numerazione ricorra in tutto il codice o compaia solo nei fogli che corrispondono al frammento della TC (cfr. ibid., 60). 142 Il codice fu redatto da tale Parfenka Kondrat’ev della laura della Trinità di san Sergio (ibid.). 143 I codici del gruppo E palesano tutti un’analoga composizione. Si tratta di raccolte miscellanee di contenuto edificante che tramandano scritti tratti dal Velikoe Zerkalo e da altre fonti (cfr. Jacobs, »Kosmas Indikopleustes«, 194; Piotrovskaja,»Christianskaja Topografija«, 61 – 62). Sulla questione della loro composizione interna torneremo comunque nel corso della trattazione.
59
Kniga naricaema Koz’ma Indikoplov 8
RGB Šiban. f. 344 n. 235, miscellanea di scritti edificanti, metà XVIII sec., corsiva, ff. 336v – 342
–
9
9
9
Tver’, TA Tver.muz. (Kalin.muz.) f. 1409 n. 96 (3215), miscellanea di scritti edificanti, corsiva, inizio XVIII sec., ff. 188 – 193J / 188 – 190P [Tver. muz. n. 69 (3215)]
10
10
10
IRLI Drevlechr. Peretc n. 351, miscellanea di scritti edificanti, XVIII sec., corsiva, ff. 159sgg.J / 159P
–
11
11
F
11
IRLI Drevlechr. (24) n. 51, miscellanea, XIX sec., semionciale, ff. 143v – 145v.4J / 132v – 134vP
–
13
13
G
12
RGB MDA f. 173 I n. 145, XV sec., semionciale, ff. 351v – 352 [MDA n. 145]
14
14
13
RGB Rumjanc. f. 256 n. 358, miscellanea, XVXVI sec., semionciale, ff. 164 – 165v [Rumjanc. muz. n. 358]
15
15
14
RNB SPbDA Sof.bibl.J / Sof.P f. 573 n. 1461, miscellanea, XVII – XVIII sec., semionciale, ff. 157J / 157 – 157vP
–
16
16
H
15
BAN 32.16.19, miscellanea, ff. 1 – 81 fine XVII sec., ff. 82 – 316 anno 1780, corsiva, ff. 107v – 108 [IAN]
17
17
I
16
GIM Čud. 53 / 355, XVII sec., corsiva, ff. 332vJ / 332v – 333P
–
18
18
J
17
RGB Ios.Vol. f. 113 n. 530 (164), miscellanea di contenuto didattico, anni 1550 – 1560, semionciale144, ff. 590 – 594.2J / 590 – 593P [MDA n. 164 (530)]
26
26
K
18
RNB Solov. f. 717 n. 17 / 1476, cronografo, XVIII sec., corsiva145, ff. 21 – 22 [Kazan.DA n. 442 (17)]
29
29
L
19
RGB Egor. f. 98 n. 619 (106 / 107), miscellanea di contenuto scientifico e teologico, fine XV sec., semionciale, ff. 362 – 371v
–
1
1
M
20
RNB OLDP f. 536 F 91 (XCI) n. 1982, 1°, XVI sec., semionciale, ff. 11 – 36
UR10
19
19
E
Fortsetzung der Tabelle auf nächster Seite 144 Il f. 2v reca un’annotazione che identifica il copista del codice con tale Vasijanov, discepolo dell’archimandrita Bosov del monastero Votmickij (cfr. ibid., 67). 145 Un’annotazione apposta all'inizio del codice ne illustra brevemente la composizione (cfr. ibid., 68 – 69).
60
Francesca Romoli R
J
P
N
21
Archiv SPbII RAN Archeogr.komm. koll. 11 n. 245, miscellanea, XVI sec.J / fine XV – inizio XVI sec.P, ff. 62v, 81J / 62v – 97vP
–
34
37
O
22
RGB Ios.Vol. f. 113 n. 514 (151), miscellanea, anno 1563, corsiva e semionciale146, ff. 123v.7 – 124.8; 456.5 – 456v.18
–
25
25
P
23
RNB Tit. f. 779 n. 110 (2805), miscellanea con apocalisse commentata, XVIII sec., semionciale147, ff. 432v.11 – 438v.1 [n. 110 (2805)]
27
27
Q
24
RNB SPbDA Sof.bibl.J / Sof.P f. 573 n. 1450, miscellanea, XVI sec., semionciale, ff. 35 – 59
–
20
20
R
25
RGB Otdel.ruk. f. 218 n. 82, miscellanea di canoni, acatisti e preghiere, fine XVII sec. (1697?), semionciale148, ff. 305 – 305v
–
12
12
S
26
RNB Kir.Bel. n. 91 / 1168, miscellanea, XVI sec., semionciale149, ff. 266 – 279v
–
21
21
T
27
RGB Ovčinn. f. 209 n. 130, miscellanea di contenuto scientifico, prima metà XVII sec., corsiva, ff. 362v-376.6 [Ovčinn. n. 133]
23
23
28
(NB MGU n. 1377, fine XVII sec., semionciale, ff. 504 – 522v.9)150
–
24
24
29
RGB MDA f. 173 I n. 198, XV sec. (?), corsiva ff. 17 – 86v [MDA n. 15 (198)]
22
22
U
146 Dall’iscrizione apposta sul f.1 si apprende che il codice, definito sŭbornik ot mnogich knig (»raccolta da molti libri«), fu compilato nel 7070 (1563) nello scrittorio del monastero della Madre di Dio di Iosif da Volokolamsk su commissione dell’arcivescovo di Novgorod e Pskov Feodosij. In calce allo stesso foglio compare la dicitura Eufimiška Turkova (»di Evfimij Turkov«), che identifica il redattore del codice con Evfimij Turkov, egumeno del medesimo monastero (cfr. ibid., 66 – 67). 147 Dati linguistici e contenutistici dimostrano la provenienza rutena del codice (cfr. ibid., 68). 148 Il codice, che della TC tramanda un frammento testuale, include anche incisioni e miniature su soggetti sacri (cfr. ibid., 62 – 63). 149 Dal colofone si apprende che il codice, definito kniga sŭborničeska (»libro raccolta«), fu redatto dal monaco Isaia del monastero di san Cirillo (cfr. ibid., 65 – 66). Appartiene dunque allo stesso scrittorio di provenienza del testimone A1. 150 La catalogazione che offriamo per questo codice (cfr. Jacobs, »Kosmas Indikopleustes«, 195) non è più attuale. Attualmente sotto questa segnatura si conserva uno Zlatoust di soli 300ff. che del testo della TC non serba traccia (cfr. Piotrovskaja, »Christianskaja Topografija«, 66). La nuova collocazione del testimone a cui ci riferiamo, invece, non è nota.
61
Kniga naricaema Koz’ma Indikoplov V
30
BAN Archang. f. 1 n. C 138, miscellanea di scritti storici ed edificanti, fine XVII sec., semionciale e corsiva, ff. 95.6 – 95v.29J+P, 99.29 – 99v.1J, 170vP, 248 – 248vP, 254 – 255P
–
28
28
W
31
RNB Busl. n. 44 (F I n. 738), salterio, XV – XVI sec., semionciale, ff. 23 – 37J / 23 – 33, 35 – 37P (n. 20 illustrazioni + corsiva XVI sec.)
UR2
30
30
32
GIM Ščuk. n. 407, miscellanea, XVIII sec., f. 16 (n. 1 illustrazione) [Ščuk. n. 407]
33
33
33
BAN Archang. n. 50, salterio, XV – XVI sec. [Archang.semin. n. 50]
31
–
34
RGB Rumjanc. f. 256 n. 194, miscellanea, XVI sec.151, ff. 1 – 2 (n. 3 illustrazioni) [Rumjanc.muz. n. 194]
32
32
35
RNB? Sof.?, XIV – XV sec.
–
35
–
36
Jaroslavl’, GAJAO n. 462 (121), miscellanea, XVII sec., corsiva
–
36
38
37
Jaroslavl’, GAJAO n. 472 (419), miscellanea, XVII sec., corsiva
–
37
39
38
Jaroslavl’, JAKM n. 510 (211J / 21P), miscellanea, prima metà XVII sec., corsiva
–
38
40
39
Jaroslavl’, JAKM n. 514 (203), miscellanea, anni 1659 – 1666J / 1659 – 1662P, corsiva
–
39
41
40
RNB Solov. f. 717 n. 189 / 1525 (443), cronografo con sacre scritture, XVII sec., corsiva, ff. 20, 20v, 21vJ / 27v, 28, 52 – 53, 351v – 352vP
–
40
35
41
RNB Solov. f. 717 n. 9 / 1468, XVII sec., corsiva, ff. 1 – 1v
–
–
42
RGB Bol’š. f. 37 n. 402, fine XVII – inizio XVIII sec., semionciale, ff. 58 – 58v
–
–
43
RNB Kir.Bel. n. 11 / 1088, fine XV sec., ff. 221v, 233v, 227 – 227v
–
–
36
44
BAN Archang. n. D 176, miscellanea di scritti ascetici, XVI sec., f. 704v
–
–
31
45
Tver’, TA Tver.muz. (Kalin.muz.) f. 1409 n. 150 (3237), miscellanea, XVII sec., ff. 255 – 257
–
42
X
Y
Fortsetzung der Tabelle auf nächster Seite 151 La datazione del codice è stabilita sulla base di un’annotazione del d’jak Oleks che risale al 1594 (cfr. ibid., 69).
62
Francesca Romoli
Y
46 47
Z
48 49 50
GIM Uvar. n. 346 (1971) (461), miscellanea, XVIII sec., corsiva, ff. 242 – 242v GIM Simon. n. 59, XVII sec., semionciale, ff. 9 – 42v IRLI Drevlechr. IMLI n. 3 (IV 5 n. 3)P, miscellanea, anno 1649, corsiva, f. 306v.1 – 6 BAN Romanč. f. 5 n. 68, XVII sec., corsiva, ff. 70v.11 – 75v.4 RNB OLDP f. 536 F 91 (XCI) n. 1982, 1°, XVI sec., semionciale, ff. 6v – 7
R –
J
P 34
–
–
–
–
–
–
–
–
2
A B C
1 2 3
D
4
E
consistenza frammento / i (TC)152 2.24 – 26, 28 – 30, (37) – 42 2.24 – (33) 2.43 – 45 2.84 – 95 2.107.3 – 13 2.24 – 25, (38), (41) 2.6, (7), 8, (9), (17), (12), (19) 2.16 – () – 42
5 6 7 8 9 10 F 11 4.1 – 2.6 4.4 – 6 G 12 5.41 – 44 13 14 H 15 5.82.10 – 13 5.140.8 – 14 I 16 5 (13 / 14)
OLDP 14.34 – 18.24 14.34 – 15.51 21.1 – 28 29, 31 – 32.9 34.39 – 49 11.20 – () – 17.54
GD 64.18 – 69.32 64.18 – 66.15 70.1 – 79 80, 82.5 – 85.32 89.23 – 33 59.34 – () – 69.18
13.15 – () – 14.4 [13.14 – 16.18]P(sic!) [13.14 – 16.1]P(sic!) [13.14 – 16.18]P(sic!) [13.14 – 16.18]P(sic!) [13.15 – 14.4] 59.12 – 37 61 88.34 – 89.24 [88.34 – 89.24] [88.34 – 89.23]P(sic!) 115.3 – 6 130.3 – 7 77J
62.15 – () – 69 [62.18 – 69]P(sic!) [62.18 – 69.31]P(sic!) [62.18 – 69.31]P(sic!) [62.18 – 69.28]P(sic!) [62.18 – 63]P(sic!) 119.21 – 32 121 138.8 – 139.6 [138.8 – 139.6] [138.8 – 139.5]P(sic!) 158 174.12 – 16 129.10 – 14P
152 Dove non diversamente specificato, la consistenza dei frammenti è desunta dallo studio di Jacobs (cfr. supra, nota 136).
63
Kniga naricaema Koz’ma Indikoplov J 17 11.1 – () – 12 K 18 12.1 – () – 15 L 19 1.1 – 8.14, 20 – 22, 28.3 – 31 2.1 – 7 M 20 2.38 – () – 112 3.1 – () – 88 4.1 – 25 5.1 – () – 57 N 21 2P 3P 7P 8P O 22 2.94 – 95 8.21.5 – 22 10.37 P 23 2, 3, 5, 7, 8, 9, 10, 12 passim Q 24 2, 3, 5J+P, 8P passim R 25 3.27.2 – 29.9 3.33 – 33.15 2.84.5 – 85.3 2.87.1 – 89.10 S 26 4.1 – 6 5.34 – 38 5.255 – 257 6.1 – 11 T 27 4.1 – 16 6.1 – 11 7.83 – 85 2.35 – 37 28 U 29 6.1 – 34 7.1 – 95.7 V 30 a) ff. 95.6 – 95v.29, 99.29 – 99v.1 11.17 – 19 2.37 – 42 7.33 b)P f. 170v 10 8 c)P ff. 248 – 248v 8 d)P ff. 254 – 255 2, 5, 2, 8
227 – () – 233.7 235.46 – () – 239.19 3.3 – 11.41
287.9 – () – 293.6 297.7 – () – 301.20 51.3 – 60.17
18.7 – () – 105.30
68.5 – () – 150.27
21.1 – 27.54P 37P 171.52 – 172.41P 181.38 – 190P 31.46 – 32.9 186.7 – 25 217.38 – 46 14.34 – 223P – 45.22 – () – 46.54
70 – 79P 93P 231 – 232P 240 – 249P 85.17 – 32 246.21 – 247.3 276.29 – 277.4 64 – 302P – 99.34 – () – 102.6
29.35 – () – 30.39
82.9 – () – 83.27
59.13 – () – 149 119.21 – () – 201.3 150 (nota a margine)
59.16 – 69 147.49 – 150 174 – () – 177 16.25 – 17.4
119.21 – 124 198.6 – 201.3 233.28 – 234 67.7 – 68.4
147.8 – 180.16
198.5 – 238.22
(234.17 – 34) 16.54 – (18.6 / 7) 162.5 – 20
(294.29 – 295.22) 67.29 – (69) 217.29 – 218.7
– (184 – 185)P
(276)P (244 – 245)P
–
–
–
–
Fortsetzung der Tabelle auf nächster Seite
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W 31 32 33 34 X 35 36 37 38 39 Y 40 41 42 43 44 45 46 47 Z 48 49 50
Francesca Romoli consistenza frammento / i (TC) n. 20 illustrazioni (2, 3, 4, 5, 8)P n. 1 illustrazione (1)P illustrazioni UR n. 3 illustrazioni (?) ? ? ? ? ? 2.82 (2.94 – 95) (2.81 – 82) (2.94 – 95) (1, 5)P (5)P – – – – – –
OLDP – 6 – – ? ? ? ? ? 29.9 – 13
– – – – – – – – – – –
GD – – – – ? ? ? ? ? 81.18 – 24 – – – – – – – – – – –
Osservazioni Offriamo di seguito alcune notizie aggiuntive che integrano la descrizione dei frammenti e dei gruppi. Si illustreranno in particolare la consistenza e le peculiarità delle singole attestazioni, dando risalto al legame interno fra i frammenti di uno stesso gruppo ma anche a eventuali costanti che si rilevino nella composizione dei codici ospitanti, con riferimento sia al contesto dei frammenti, sia alla composizione interna di tali codici. Si segnaleranno, cioè, i casi in cui i frammenti siano attestati in contesti affini o in codici in cui ricorrano, contestualmente alla TC in frammenti, opere con analoga funzione. Emergerà allora che i frammenti possono presentare analogie di contesto o comparire in codici che palesano particolari analogie di composizione anche indipendentemente dal loro gruppo di appartenenza. Auspichiamo che queste indicazioni, per quanto allo stato attuale appaiano slegate, possano costituire un materiale preparatorio per future indagini che potranno da una parte chiarire le vicende della trasmissione dell’opera slava, dimostrando dall’altra la sua particolare valenza culturale.
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Nel codice C3 il frammento della TC è seguito ai ff. 306.21 – 306v da una citazione dalla Paleja commentata. Come vedremo, la stessa opera è citata dopo il testo di Cosma anche nei frammenti E6, E10 e T27 – 28. Nel codice C3, inoltre, la citazione dalla Paleja è completata al f. 306v.1 – 6 da un passo sulla torre di Babele che, sebbene sia stato attribuito a Cosma, proviene in realtà dalla stessa fonte (cfr. frammento Z48). Il frammento D4 è offerto nella forma di una compilazione autonoma: i passi ripresi dal Libro II della TC, infatti, in parte ripetono alla lettera il testo noto, mentre in parte sono rielaboratati e integrati con passi ispirati ad altre fonti153. Lo stretto legame che intercorre fra i frammenti E5 – 10 motiva la loro appartenenza allo stesso gruppo. Questi frammenti, infatti, offrono uno stesso passo della TC (composizione fissa) all’interno di raccolte miscellanee che palesano un’analoga composizione154. Il passo in questione ripete TC 2.16 – 42 in parte alla lettera, in parte invece in forma abbreviata o rielaborata sulla base della Paleja e di altre fonti. All’interno di questo gruppo, tuttavia, tenendo conto del contesto dei singoli frammenti, si possono distinguere due tipologie: da una parte i frammenti E6 ed E10, che si chiudono, come già il frammento C3, con citazioni tratte dalla Paleja commentata, e dall’altra parte i frammenti E5 ed E7 – 9, che invece terminano con una descrizione dell’arca di Noè e con un breve sunto della storia biblica da Adamo fino ad Abramo, nello stile delle cronache bizantine minori. Il frammento E8 presenta una doppia numerazione, forse indicativa della sua precedente inclusione in una diversa raccolta. Nel frammento E9 si rilevano forme grammaticalmente scorrette ed errori di sillabazione155. I testimoni G12 – 14 offrono lo stesso frammento (composizione fissa), e rappresentano dunque un unico gruppo. Il frammento I16 presenta come variante a margine, assente dall’originale greco, la citazione di Es 14:26 – 28, forse mediata dalla Paleja commentata. Il frammento J17 è lacunoso; la conclusione O aspidě zmei (Sull’aspide, ff. 594.2 – 595v.3), estranea alla TC, è tratta dal Fisiologo e corrisponde per contenuto a uno scritto di Damasceno Studita. Il frammento K18 è tipologicamente affine per modus citandi ai frammenti D4 ed E5 – 10: in parte, infatti, riproduce fedelmente il testo noto, mentre altrove la resa è libera156. Il frammento M20 presenta un mate153 Cfr. Jacobs, »Kosmas Indikopleustes«, 193 – 194; Piotrovskaja, »Christianskaja Topografija«, 60 – 61. 154 Cfr. supra, nota 143. 155 Cfr. Jacobs, »Kosmas Indikopleustes«, 194; Piotrovskaja, »Christianskaja Topografija«, 61 – 62. 156 Cfr. Jacobs, »Kosmas Indikopleustes«, 194 – 196; Piotrovskaja, »Christianskaja Topografija«, 67.
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riale misto, testuale e iconografico, anticipando con ciò la serie dei frammenti W31 – 34. La parte testuale è lacunosa. Come emerge dalla composizione della Famiglia iconografica di Uvarov, il codice è contemplato nella classificazione di Redin157. Anche nel frammento S26 il materiale offerto è misto: il testo è lacunoso ed è interrotto da disegni e spazi bianchi. I frammenti P23 e Q24 presentano invece una composizione di citazioni miste, che nel frammento Q24 non sono formalmente coincidenti con il testo noto158. I testimoni T27 – 28 attestano lo stesso frammento (combinazione fissa), che offre un materiale sia testuale, nella forma di una composizione di citazioni miste, sia iconografico. Dal punto di vista della tipologia dei materiali, dunque, possono essere accostati ai testimoni M20 e S26. Alla fine del frammento che trasmettono, inoltre, entrambi i codici, come già i codici C3, E6 ed E10, presentano l’aggiunta di un passo che concorda con la Paleja commentata, rispettivamente al f. 376.4 – 14 e ai ff. 522v – 523.2. Lo stesso passo, però, compare anche in alcuni testimoni del testo in versione integrale all’altezza di TC 7.86 / 90, come aggiunta rispetto al testo greco, e potrebbe quindi essere mediato dalla TC piuttosto che tratto direttamente dalla Paleja. I testimoni T27 – 28 offrono poi altri passi della Paleja commentata che sono invece evidenziati come tali. Si deve a questo punto ricordare che la collocazione del testimone T28 non è più attuale, e il codice attende ancora di essere fisicamente individuato159. Il testimone V30 rappresenta un caso particolare: tramanda infatti quattro frammenti distinti e fisicamente distanziati, che sono offerti nella forma di citazioni semplici o composite. Nel primo frammento (a) la formulazione del testo è originale nella parte centrale di TC 11.17 – 19 e nella parte finale di TC 2.37 – 42, mentre altrove la resa è letterale. Nei tre frammenti successivi (b – d) la resa è libera160. I frammenti W31 – 34 tramandano un materiale misto, offrendo in numero variabile miniature con o senza didascalie. Il frammento W31, che secondo la classificazione di Redin appartiene alla Famiglia di Uvarov, presenta venti illustrazioni con didascalie tratte Libri II – V e VIII. Il frammento W32 offre invece un’unica illustrazione, che nella versione integrale 157 Cfr. Redin, Christianskaja Topografija, xiii; Jacobs, »Kosmas Indikopleustes«, 195; Piotrovskaja, »Christianskaja Topografija«, 65. 158 Cfr. Jacobs, »Kosmas Indikopleustes«, 195 – 196; Piotrovskaja, »Christianskaja Topografija«, 65 – 68. 159 Cfr. Jacobs, »Kosmas Indikopleustes«, 195; supra, nota 150. 160 Cfr. Jacobs, »Kosmas Indikopleustes«, 196; Piotrovskaja, »Christianskaja Topografija«, 68.
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compare di regola nel Libro I. Tale illustrazione reca l’immagine della croce e sei medaglioni con gli apostoli Pietro e Paolo, i profeti Isaia e Geremia, san Giacomo e san Silvestro papa, ed è accompagnata da due didascalie. La prima, che è apposta in basso, recita »i primi maestri della chiesa«, mentre l’altra, che compare sul margine sinistro del foglio, indica la TC come fonte161. Questa seconda didascalia, che nomina lo starec Spiridon e suo figlio Onfim del monastero di Solovki, potrebbe forse testimoniare l’esistenza di un legame fra il frammento W32 e il testimone del testo integrale V 49162, o un codice da quello dipendente. Riteniamo che questa ipotesi, che necessita ovviamente di essere verificata sui testi, potrebbe contribuire a fare luce sui complessi rapporti che legano i testimoni dei frammenti a quelli del testo integrale, che crediamo dovrebbero essere indagati dal punto di vista sia testuale, sia iconografico. Il codice W33 offre alcune illustrazioni che seguono la redazione della Famiglia iconografica di Uvarov, ma che attendono ancora di essere precisate per numero e contenuto163. È invece incerta la fonte delle tre illustrazioni che nel codice W34 precedono il testo dell’Esamerone di Giovanni Esarca. Secondo un’ipotesi ancora non sufficientemente indagata, queste illustrazioni, che offrono nell’ordine una rappresentazione schematica della terra e del firmamento, i simboli della chiesa veterotestamentaria e i dodici segni dello zodiaco, potrebbero essere ispirate alle miniature della TC, del cui testo, però, il codice non serba traccia164. Come abbiamo già detto, i codici X35 – 39, che si annoverano fra i testimoni di frammenti della TC sulla base delle notizie offerte dai cataloghi, sono ancora privi di collocazione. I codici Y40 – 47 tramandano invece passi in cui si afferma trattarsi di opera di Cosma, ma che, salvo un’eccezione che andremo a illustrare, non palesano coincidenze testuali con il testo noto. Nel codice Y40 i passi attribuiti a Cosma trattano del paradiso terrestre, dei fiumi e dei quattro grandi mari. Il passo sul paradiso mostra una coincidenza tematica con TC 2.94 – 95, ma si discosta dal testo noto dal punto di vista formale; la frase di apertura ripete però alla lettera TC 2.82. Nel codice Y41 i passi attribuiti a Cosma trattano dei quatto grandi mari, del fiume Indio, e dei fiumi. Il passo sui mari in questo codice e nel codice Y40 è offerto in varianti diverse che, per quanto si possano ricondurre a modelli greci, non sembrano potersi considerare tracce del trattato di Cosma sulla geogra161 Cfr. Redin, Christianskaja Topografija, xiii; Jacobs, »Kosmas Indikopleustes«, 196; Piotrovskaja, »Christianskaja Topografija«, 69 – 70. 162 Cfr. supra, nota 127. 163 Cfr. Redin, Christianskaja Topografija, vi. 164 Cfr. Barankova, »Opyt lingvo-testologičeskogo analiza spiskov ›Šestodneva‹ Ioanna Ekzarcha Bolgarskogo«; Piotrovskaja, »Christianskaja Topografija«, 69 – 70.
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fia oggi andato perduto. Il passo sul fiume Indio nel codice Y41 palesa una coincidenza tematica ma non formale con TC 2.81 – 82. Nel codice Y42 i passi attribuiti a Cosma trattano del paradiso terrestre e dei fiumi. Come nel codice Y40, anche in questo caso il passo sul paradiso è tematicamente affine a TC 2.94 – 95 ma si discosta dal testo noto per la sua forma165. Nel codice Y43 i passi attribuiti a Cosma non manifestano corrispondenze con il testo noto salvo qualche analogia contenutistica con i Libri I e V. Il codice è ascrivibile alla penna del copista Efrosin, che verosimilmente si avvalse di fonti diverse dalla TC, citando il nome di Cosma per ragioni di prestigio. Similmente, nel passo ascritto a Cosma nel codice Y44 non sono rilevabili corrispondenze con il testo noto, salvo forse qualche analogia tematica con il Libro V166. Nel codice Y45, invece, il passo attribuito a Cosma, che tratta di terre, popoli e bestie, seppure assente dal testo slavo in versione integrale e dall’originale greco, presenta però la lezione variante vepreslonĭ che, come si è detto, lo porrebbe in relazione con il testimone V 46 della tradizione del testo167. Nel codice Y46 il passo attribuito a Cosma, ma che di fatto non trova corrispondenza nel testo noto, presenta una sintesi cronologica che si conclude con la notizia del battesimo degli Slavi meridionali e orientali. Il presunto frammento attestato dal codice Y47 offre invece il racconto della creazione secondo l’Esamerone168. I codici Z48 – 50, infine, offrono passi che sono stati attribuiti a Cosma, ma che in realtà, come abbiamo già detto, discendono dalla Paleja commentata nei codici Z48 – 49, e dalla Paleja storica nel codice Z50. Nel codice Z49, tuttavia, si possono ricondurre con certezza alla Paleja commentata soltanto i ff. 73.2 – 17, 74.2 – 7169. Offriamo a conclusione di questa parte descrittiva alcune considerazioni sulla composizione dei codici che attestano l’opera in frammenti, ai fini di evidenziare particolari costanti compositive che riteniamo di utilità ai fini dell’ulteriore disamina filologica dell’opera slava. Il dato numerico potrà comunque essere apprezzato nelle sue implicazioni solo in una fase successiva della ricerca, quando la tradizione del testo, la tradizione dei frammenti e quella iconografica avranno trovato un assetto definitivo o comunque più stabile di quello attuale. In questa sede ci limiteremo dunque ad alcune riflessioni. Cfr. Jacobs, »Kosmas Indikopleustes«, 197 – 198. Cfr. Piotrovskaja, »Christianskaja Topografija«, 69 – 70, 73 – 74. 167 A questo proposito si confrontino supra la parte dedicata alla tradizione del testo e la nota 102. 168 Cfr. Jacobs, »Kosmas Indikopleustes«, 198. 169 Cfr. ibid., 193, 198. 165 166
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Disponendo di una descrizione abbastanza puntuale della composizione di molti dei codici che tramandano l’opera in frammenti170 e, purtroppo solo in casi isolati, anche dei testimoni del testo in versione integrale, abbiamo tentato, per quanto ci consentono i dati a nostra disposizione, di rilevare fra le coincidenze compositive che presentano i diversi codici quelle abbastanza ricorrenti da potersi definire costanti. In primo luogo segnaleremo le coincidenze che accomunano i testimoni dell’opera in frammenti ai testimoni del testo integrale. Qualora corroborate da ulteriori dati, tali coincidenze potrebbero rivelare un legame di dipendenza fra un dato codice, famiglia o archetipo, che tramanda l’opera in frammenti, e il codice, il gruppo o l’archetipo corrispondente, che invece tramanda l’opera in versione integrale. Segnaleremo poi le coincidenze compositive comuni ai testimoni dell’opera in frammenti, che oltre a essere potenzialmente rilevanti ai fini della storia della trasmissione del testo, ci sembra possano contribuire anche alla sua contestualizzazione storico-culturale, offrendo dati che potrebbero chiarire o confermare la funzione culturale o l’influsso, in certi casi già accennato, che l’opera esercitò sulla letteratura coeva nelle diverse epoche della sua esistenza. Non si considerano gli pseudo-epigrafi, che come tali non concernono la storia del testo propriamente inteso. Fra gli scritti che sono attestati contestualmente alla TC sia nei testimoni dei frammenti sia nei testimoni della versione integrale si annovera in primo luogo l’Esamerone di Severiano di Gabala, che compare, in forma integrale o parziale, nel codice V 53 della tradizione testuale e nei frammenti G14 e Q24. Si tratta di una combinazione fortemente individualizzante se si considera che l’opera di Severiano di Gabala è fra le possibili fonti della TC la più probabile, che potrebbe forse alludere alla consapevolezza dei copisti dell’esistenza di un legame non solo tematico ma anche genetico fra le due opere. Parimenti rilevante, per affinità tematica, è la combinazione della TC con l’Esamerone di Giovanni Esarca, che è attestato, in forma integrale o parziale, nei codici IV 35 – 37 e nei frammenti L19, T27 – 28 e W34. Si deve poi segnalare la combinazione della TC con gli scritti di Metodio di Patara nei frammenti K18 e P23 e nel testimone della versione integrale I 1. Nello stesso testimone si registra inoltre la combinazione con la Paleja, che è di gran lunga la più ricorrente nei codici che attestano la TC in frammenti, comparendo nei testimoni C3, E6, E10, O22, P23, Q24, T27 – 28, e come fonte di contaminazione anche nei testimoni E5 – 10, I16. Come abbiamo accennato più volte, la Paleja è fra i testi che offrono un materiale potenzialmente risolutivo ai fini della datazione della traduzione slava della TC, e le combinazioni che abbiamo rilevato potranno forse aggiungere alcuni dati 170
Cfr. supra, nota 137.
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utili alla risoluzione del problema. Si deve poi rilevare la combinazione della TC in frammenti nei testimoni A1, F11 e G14 con gli scritti di Dionigi Areopagita, al quale si fa riferimento anche nei testimoni della Famiglia testuale allargata all’altezza della seconda aggiunta171. Si segnala, infine, la combinazione nel codice IV 30 e nei frammenti A1, F11, G14, O22, V30 della TC con alcuni scritti di Massimo il Greco, che recentemente sono stati messi in relazione con la TC (senza che però ne siano state tratte conclusioni apprezzabili)172. Fra le combinazioni compositive condivise dai codici che attestano l’opera in frammenti, quella maggiormente ricorrente è la combinazione con la Paleja che, come si accennava, oltre a servire da fonte di contaminazione nei frammenti E5 – 10 e I16, compare, presumibilmente in forma parziale, anche nei testimoni C3, E6, E10, O22, P23, Q24 e T27 – 28. Alcuni di questi attestano insieme alla TC e alla Paleja anche altre opere, che potrebbero avere rilevanza ai fini dell’ulteriore indagine del testo. Così nel codice Q24 la TC e la Paleja sono offerte in combinazione multipla con l’Esamerone di Severiano di Gabala, nei codici T27 – 28 con l’Esamerone di Giovanni Esarca, nel codice P23 con l’Esamerone di Basilio Magno, le opere di Metodio di Patara e la Kormčaja kniga, e nel codice O22 con gli scritti di Massimo il Greco. Ampiamente ricorrente appare poi la combinazione della TC in frammenti con gli scritti di Massimo il Greco, che è rappresentata dai testimoni A1, F11, G14, O22 e V30. Alcuni di questi codici offrono anche combinazioni multiple: nel codice A1 la TC compare in combinazione con con gli scritti di Dionigi Aropagita e di Severiano di Gabala, nel codice F11 con gli scritti di Dionigi Areopagita e con l’Esamerone di Basilio Magno, nel codice G14 sempre in unione con gli scritti di Dionigi Areopagita, l’Esamerone di Severiano di Gabala e con la Kormčaja kniga, e nel codice O22 in unione con la Paleja. I testimoni L19, T27 – 28 e W34 attestano con la TC anche alcuni passi dall’Esamerone di Giovanni Esarca, talvolta in combinazione con la Paleja (testimoni T27 – 28). Ricorrono con la stessa frequenza gli scritti di Dionigi Areopagita, che compaiono in combinazione con gli scritti di Massimo il Greco nei testimoni A1, F11 e G14, e anche in unione con gli scritti di Severiano di Gabala nel codice A1, con l’Esamerone di Basilio Magno nel codice F11, con l’Esamerone di Severiano di Gabala e la Kormčaja kniga nel codice G14. Ricorrono con uguale frequenza alcuni passi della Kormčaja kniga, che sono attestati dai codici G14, H15 e P23, e compaiono in unione con l’Esamerone di Severiano di Gabala, con gli scritti 171 Per la serie delle aggiunte condivise dai testimoni della Famiglia testuale allargata si confronti supra la parte dedicata alla tradizione del testo. 172 Cfr. Piotrovskaja, »Christianskaja Topografija«, 136 – 186, 189.
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di Massimo il Greco e Dionigi Areopagita nel codice G14, in unione invece con l’Esamerone di Basilio Magno, la Paleja e gli scritti di Metodio di Patara nel codice P23. Ricorrono invece con frequenza minore l’Esamerone di Severiano di Gabala e i suoi scritti, che sono trasmessi rispettivamente dai codici G14, Q24 e A1, G13, l’Esamerone di Basilio Magno, che è trasmesso in alcune sue parti dai codici F11, P23, e gli scritti di Metodio di Patara, che sono offerti dai codici K18, P23, di cui si sono già illustrate le possibili combinazioni. Resta forzatamente esclusa da questo primo tentativo di comparazione selettiva dei testimoni dell’opera in versione integrale e in frammenti la tradizione delle immagini, che, vista la scarsezza dei dati indiretti disponibili, presuppone un’indagine diretta sulle fonti. A conclusione di questo lavoro, in cui sulla base dei dati finora noti abbiamo tentato di offrire una sistemazione per quanto possibile completa della tradizione del testo slavo, distinguendo, come riteniamo sia necessario, la tradizione iconografica, la tradizione strettamente testuale e la tradizione dei frammenti, non possiamo che ribadire l’urgenza di un’indagine filologica che consideri l’opera in maniera complessiva. Solo quando si chiariranno in via definitiva i complessi rapporti testuali e iconografici che intercorrono fra i testimoni dell’opera integrale, e fra questi e i testimoni dell’opera in frammenti, infatti, si potrà ricostruire uno stemma codicum che porterà a soluzione le molte questioni ancora aperte, a cominciare dalla questione della genesi dell’opera. Riteniamo che l’indagine filologica debba essere preliminare anche agli studi sulla funzione culturale dell’opera, che appare già definibile, ma i cui itinerari si possono per ora soltanto intuire. L’interpretazione cristiana dello spazio geografico offerta da Cosma, con la concezione di una terra piatta circondata da oceani, in cui la diffusione del genere umano si era compiuta dopo il diluvio universale a partire dalle terre di Oriente, e con l’identificazione nel tabernacolo di Mosè della vera immagine del mondo (duplicata in scala terrena nella struttura delle chiese slavo-orientali, costruite sul modello di santa Sofia di Costantinopoli), furono infatti accolte in toto dagli Slavi orientali, che si percepirono così all’interno dello spazio orientale in opposizione allo spazio latino e a quello pagano, definendosi parte integrante del mondo cristiano-orientale173. Da qui, dunque, l’immensa fortuna del testo slavo, una fortuna che si accrebbe – qualora sia dimostrata la sua datazione all’epoca kieviana – alle soglie della nascita dell’impero russo. 173
Cfr. Garzaniti, »Oriente e Occidente«.
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Della suprema autorità attribuita all’autore dell’opera, del resto, testimonia in tutta evidenza il colofone che alcuni testimoni del testo slavo conservano in aggiunta all’originale greco, che recita: Si sono adoperati gli uomini per raccogliere l’oro, altri per possedere in eredità una gemma o una perla, o qualsiasi ricchezza, mentre l’autore di questo libro saggiamente cercò non una perla o una gemma preziosa, e non l’oro, ma una degna descrizione del mondo, raccogliendo una ricchezza imperitura. Tutto passa sulla terra, resterà solo la parola174.
Abbreviazioni AR18 – 23
(Archivskaja redakcija) Famiglia dell’Archivio secondo Redin; in apice la numerazione dei testimoni nella classificazione di Redin
KBr
(Kirillo-Beloozerskaja redakcija) Famiglia del monastero di Kirill di Beloozero secondo Serebrjakova
KR29
(Kratkaja redakcija zapadnogo charaktera) Famiglia occidentalizzante abbreviata secondo Redin; in apice la numerazione dell’unico testimone di questa famiglia nella classificazione di Redin
PR26 – 28
(Polnaja / rasprostranennaja redakcija) Famiglia occidentalizzante completa secondo Redin; in apice la numerazione dei testimoni nella classificazione di Redin
R, J, S, P
Nella descrizione dei manoscritti seguono in apice la datazione o l’indicazione della consistenza dei codici o dei frammenti secondo Redin (R), Jacobs (J), Serebrjakova (S) e Piotrovskaja (P), qualora gli studiosi offrano in proposito notizie discordanti (che dovranno essere accertate attraverso la disamina de visu dei singoli codici)
SamR25
(Samostojatel’naja redakcija) Famiglia autonoma secondo Redin; in apice la numerazione dell’unico testimone di questa famiglia nella classificazione di Redin
SinR11 – 17
(Sinodal’naja redakcija) Famiglia sinodale secondo Redin; in apice la numerazione dei testimoni nella classificazione di Redin
SložR24
(Složnaja redakcija) Famiglia composita secondo Redin; in apice la numerazione dell’unico testimone di questa famiglia nella classificazione di Redin
Ur
(Uvarovskaja redakcija) Famiglia di Uvarov secondo Serebrjakova
UR
1 – 10
UrA
(Uvarovskaja redakcija) Famiglia di Uvarov secondo Redin; in apice la numerazione dei testimoni nella classificazione di Redin Famiglia di Uvarov, Ramo A secondo Serebrjakova
174 Cfr. Sreznevskij, »Svedenija i zametki«, 5. Lo studioso omette di segnalare il codice da cui è tratta questa citazione.
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VMr
(Redakcija Velikich Minej) Famiglia delle Grandi Menee secondo Serebrjakova
VMrA
Famiglia delle Grandi Menee, Ramo A secondo Serebrjakova
Segnala a seconda della colonna in cui compare: (R) i testimoni considerati ma non classificati da Redin; (J) i testimoni considerati extra numerazione da Jacobs; (GD) i testimoni considerati a campione nell’edizione GD
Segnala i codici di cui nell’edizione GD si riportano sistematicamente le lezioni varianti
BAN
Biblioteka Rossijskoj Akademii nauk, San Pietroburgo
BAV
Biblioteca Apostolica Vaticana, Città del Vaticano
BM
Biblioteca Marciana, Venezia
BML
Biblioteca Medicea Laurenziana, Firenze
BN
Bibliothèque Nationale, Parigi
BNT
Biblioteca Nazionale, Torino
BodL
Bodleian Library, Oxford
BV
Biblioteca Vallicelliana, Roma
Esc
El Escorial, Real Biblioteca del Monasterio, Madrid
GIM
Gosudarstvennyj istoričeskij muzej, Mosca
IRLI
Institut russkoj literatury (Puškinskij Dom) Rossijskoj Akademii nauk, San Pietroburgo
MSC
Μονὴ τῆς Ἁγίας Αἰκατερίνης, Monte Sinai
Muz.KDA Muzej Kievskoj duchovnoj Akademii, Kiev ÖNb
Österreichische Nationalbibliothek, Vienna
RGADA
Rossijskij gosudarstvennyj archiv drevnich aktov, Mosca
RGB
Rossijskaja gosudarstvennaja biblioteka, Mosca
RNB
Rossijskaja nacional’naja biblioteka, San Pietroburgo
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Die Geburt des Dichters aus dem Geist des Abschreibens Ein Beitrag zu den poetischen Kolophonen mittelalterlicher Handschriften Von Thomas Haye Der mittelalterliche Schreiber genießt heutzutage nur eine geringe Reputation. Die moderne Philologie verachtet ihn vielfach als faul, müde, nachlässig und inkompetent. Editoren sehen sich gezwungen, mit Hilfe von Konjekturen zu emendieren, was er viele Jahrhunderte zuvor in den von ihm hergestellten Texten verbrochen hat. Seine Bewertung innerhalb der Überlieferungsgeschichte ist allerdings von einer fundamentalen Undankbarkeit geprägt: Begeht er keine Fehler, so wird dies als Selbstverständlichkeit angesehen und nicht weiter erwähnt. Hat er hingegen etwas übersehen oder fehlinterpretiert, so wird ein solches Versagen in den Praefationes der kritischen Ausgaben ausführlich behandelt und mit philologischem Tadel belegt. So erscheint der Kopist primär als »Problem«1 der Literaturgeschichte, obwohl doch nur seine Leistung dafür verantwortlich ist, dass uns die antiken und mittelalterlichen Texte überhaupt tradiert worden sind. Wo aber bleibt die Anerkennung dieses kopialen Verdienstes? Es ist bezeichnend für die Struktur der Bewertung, dass das höchste Lob – die vielzitierte Schrift De laude scriptorum des Johannes Trithemius (1462 – 1516) – gerade in jener Epoche zu vernehmen ist, in welcher der Buchdruck die Existenz des Schreibers am Stärksten zu bedrohen scheint.2 Wenn man hingegen in der vorhergehenden Zeit irgendwelche positiven Äußerungen über die Rolle des Schreibers liest, so stammen diese in der Regel von den Akteu1 Vgl. Paul Gerhard Schmidt, Probleme der Schreiber – Der Schreiber als Problem (Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main 31, 5), Stuttgart 1994; vgl. dort 17 f. auch die »Auswahlbibliographie« zum Thema. 2 Johannes Trithemius, De laude scriptorum. Zum Lobe der Schreiber, hg. Klaus Arnold (Mainfränkische Hefte 60), Würzburg 1973.
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ren selbst.3 Eigenlob scheint vielfach die fehlende gesellschaftliche Anerkennung zu ersetzen. Insbesondere in ihren Kolophonen äußern sich die Kopisten über ihr soziales Engagement, sie verlangen den Respekt ihrer Mitmenschen und erhoffen sich einen göttlichen Lohn (vermutlich da sie wissen, dass ihre Artgenossen ihnen die gebührende Anerkennung verweigern). Hier, in den – zumeist poetischen und in lateinischer Sprache verfassten – Kolophonen, mutiert insbesondere seit dem 11. Jahrhundert4 der Schreiber zum Autor und entwickelt ein eigenes literarisches Bewusstsein.5 Den technischen, wenngleich nicht den psychologischen Zusammenhang zwischen scriptor und auctor hat schon das späte Mittelalter thematisiert. So erläutert Bonaventura (1217 – 1274) im Vorwort zu seinem Sentenzenkommentar die Gemengelage von Fremd- und Eigenleistung in einer berühmten Typologie, billigt dabei allerdings nur jenen Personen den Titel eines Autors zu, die vornehmlich ihre eigenen Gedanken niederschreiben und die Gedanken einer anderen Person nur dann ergänzend anführen, wenn diese als bestätigende Zitate dienen können.6 Und Jean Gerson (1363 – 1429) sieht in seinem nicht minder bekannten Traktat De laude scriptorum die Identität von Autor und Schreiber ausschließlich im Autograph und im Diktat verwirklicht.7 Mit dem durchschnittlichen scriba, der nach Hunderten von Sei3 Vgl. Wilhelm Wattenbach, Das Schriftwesen im Mittelalter, 4. Aufl., Berlin 1896, hier insbes. 280 – 287; Richard Gameson, The scribe speaks? Colophons in early English manuscripts (H. M. Chadwick Memorial Lectures 12), Cambridge 2002; Tobias Burg, Die Signatur. Formen und Funktionen vom Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert, Berlin 2007, insbes. 20 – 47 u. 105 – 110. 4 Die Zahl der poetischen Kolophone steigt im 11. Jahrhundert sprunghaft an und erreicht ihren ersten statistischen Höhepunkt im 12. Jahrhundert; die beiden nachfolgenden Jahrhunderte erreichen ebenfalls hohe Werte, doch der quantitative Gipfel zeigt sich erst im 15. Jahrhundert; vgl. Lucien Reynhout, »Pro me quisque legas versus orare memento: une poétique des colophons?«, in: Manuel C. Díaz y Díaz, José M. Díaz de Bustamante (Hgg.), Poesía latina medieval (siglos V – XV). Actas del IV Congreso del »Internationales Mittellateinerkomitee«, Florenz 2005, 287 – 302, hier 289. 5 Zum Autor-Begriff in mittellateinischen Texten vgl. A. J. Minnis, Medieval Theory of Authorship. Scholastic literary attitudes in the later Middle Ages, 2. Aufl., Aldershot 1988, 10 – 12 (ohne speziellen Bezug zum Schreiber); Paul Klopsch, »Anonymität und Selbstnennung mittellateinischer Autoren«, Mittellateinisches Jahrbuch 4 (1967), 9 – 25; Christel Meier, »Autorschaft im 12. Jahrhundert. Persönliche Identität und Rollenkonstrukt«, in: Peter von Moos (Hg.), Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft, Köln u. a. 2004, 207 – 266, hier insbesondere die reiche Bibliographie zum Thema (207 – 211). 6 Bonaventura, Opera omnia, Tom. I: Commentaria in quatuor libros sententiarum Magistri Petri Lombardi, hg. P. P. Collegii a S. Bonaventura, Ad Claras Aquas (Quaracchi) 1882, 15: Aliquis scribit et sua et aliena, sed sua tamquam principalia, aliena tamquam annexa ad confirmationem; et talis debet dici auctor. Vgl. Schmidt, Probleme, 181.
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ten mühsamen Abschreibens am Ende des Codex in seinem Kolophon einige wenige topische Gedanken formuliert, hat die bei Bonaventura und Gerson gezeichnete Autor-Figur nur wenig gemein. Und dennoch stellt der Kolophon jenen Ort dar, in dem der Kopist aus der Funktion des rein instrumentellen Transmissionsriemens heraustritt, die Rolle des Überlieferungsknechts ablegt und zu einem Subjekt mutiert, das persönliche Ansprüche erhebt und ein literarisches Profil entwickelt. In der Regel nennt der Kopist seinen eigenen Namen und schüttelt auf diese Weise die Last der Anonymität ab, auch spricht er mitunter über seine Herkunft und fügt eine Datierung an. Nicht selten erwähnt er zudem die widrigen Umstände, welche die Herstellung des Textes begleitet haben (Kälte, Krankheit, Hunger etc.).8 Gerade da viele der Kolophone in Versen und mit einem gewissen formalen, sprachlichen und rhetorischen Aufwand gestaltet sind, verdienen sie es, als literarische Texte ernstgenommen zu werden. Nicht zufällig zeigt sich auf inhaltlicher Ebene eine Nähe der Kolophone zu den bio-bibliographischen Sphragides der Verfasser großer Dichtungen. Doch ist es tatsächlich sinnvoll, die Schreiber als individuelle Poeten anzusehen? Lucien Reynhout hat sich vor einigen Jahren auf die Suche nach einer »poétique des colophons« gemacht.9 Das Ergebnis seiner primär statistischen Studien ist ernüchternd:10 Die lateinischen Kolophone der mittelalterlichen Handschriften sind durch ein leicht überschaubares Arsenal literarischer Formeln, Motive, Junkturen und Topoi geprägt. Immer wieder begegnen dem Leser dieselben, zumeist recht armseligen Hexameter mit ihrem schmalbrüstigen Vokabular und ihrer nicht selten unklassischen Prosodie. Man könnte somit meinen, dass sich der Kopist als Autor auf diese Weise selbst erledigt habe und seine Verse allenfalls die Funktion einer mnemotechnischen Stütze aus7 Vgl. Jean Gerson, Œuvres complètes, hg. Palémon Glorieux, Vol. IX: L’œuvre doctrinale, Paris 1973, 423 – 434 (Nr. 454), hier 424: Sunt qui simul sunt dictatores et scribae et scriptores; talis laudatur fuisse divus Ambrosius libros scribens quos dictabat. 8 Vgl. z. B. den Kolophon des Kantors Girardus (geschrieben zwischen 1134 und 1150), Col., Nr. 5191, hier v. 12 – 14: Ut bene compleret, citius opus acceleraret, // Sole ruente cibum, potum capiebat et artum // Frigus et arta fames annos pressit iuveniles // […]. Dieses und alle folgenden Kolophone werden, sofern nicht anders vermerkt, zitiert nach: Colophons de manuscrits occidentaux dès origines au XVIe siècle, hg. Bénédictins du Bouveret, Bd. 1 – 6, Fribourg 1965 – 1982 (abgekürzt »Col.«). Bei den Zitaten erfolgt die Strophengliederung und Verszählung durch Haye. Um des besseren Verständnisses willen sind auch die Interpunktion und die Groß- / Kleinschreibung stillschweigend an die deutsche Rechtschreibung angepasst. 9 Vgl. Reynhout, Pro me quisque, 287 – 302. 10 Vgl. hierzu ausführlich Lucien Reynhout, Formules latines de colophons, Vol. I – II (Bibliologia. Elementa ad librorum studia pertinentia 25), Turnhout 2005.
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üben könnten. Der mitunter auftretende Humor beschränkt sich auf einige harmlose und wenig geistreiche Witze.11 So heißt es des Öfteren: Explicit expliceat, bibere scriptor eat.12 Oder ein Schreiber wünscht sich: Detur pro penna scriptori pulchra puella.13 Ein anderer notiert: Finiui librum, scripsi sine manibus ipsum (hier sind trotz der Prosodie die ›Hände‹, nicht die ›Manen‹ gemeint).14 Dass diese kleinen Späße wohl nicht selten aus dem schulischen Umfeld stammen, zeigt etwa der folgende Kolophon, den ein offenbar junger Kopist namens Adam im 13. Jahrhundert notiert (Col., Nr. 222, v. 1): Finito libro reddatur merda magistro! Es ist kaum angebracht, bei solchen nur aus zwei oder drei Versen bestehenden Texten von ›Poesie‹ zu sprechen. Und doch sollte man nicht übersehen, dass im weiten Meer der Formelhaftigkeit nicht wenige Schreiberinseln erkennbar sind, auf denen Einzelne nach poetischer Individualität streben; dass immer wieder einige literarisch ambitionierte Personen auftreten, die des geistlosen Abschreibens müde sind und endlich einmal zeigen wollen, was sie selbst im Reich der Dichtkunst zu leisten vermögen. Fast mag man dabei glauben, ihr Motto laute (in Anlehnung an Juvenal I 1): Semper ego scriptor tantum? Numquamne reponam …? »Soll ich immer nur Schreiber sein? Soll ich es [sc. den von mir abgeschriebenen Autoren und den Lesern] niemals zurückzahlen?« Die vielen poetisch anspruchsvolleren und umfangreicheren, in der Regel in lateinischer Sprache verfassten Kolophone, welche insbesondere seit dem hohen Mittelalter begegnen, stellen einen nicht geforderten, sondern freiwillig und oftmals ohne ausdrückliche Erlaubnis der Auftraggeber erbrachten Mehrwert dar, durch den nicht nur der jeweilige Codex, sondern auch sein scriptor weiteres Ansehen gewinnen kann. Im Kolophon schlüpft der Schreiber gleichsam durch die pergamentene Hintertür auf die Bühne der Literatur. Zwar haben anders als etwa Otloh von St. Emmeram15 oder Stephan von Rouen16, die in signifikantem Umfang sowohl als Kopist denn auch als Autor tätig gewesen sind, die meisten Personen, welche in den poetischen Kolophonen ambitioniertere Texte vorführen, nur einen einmaligen Vgl. Reynhout, Formules, I, 109 – 125. Reynhout, Formules, I, 109. 13 Reynhout, Formules, I, 115. 14 Reynhout, Formules, I, 229. 15 Vgl. die wichtigste Quelle zu dessen Schreibertätigkeit: Otloh von St. Emmeram, Liber de temptatione cuiusdam monachi, Untersuchung, kritische Edition und Übersetzung, hg. Sabine Gäbe, Bern u. a. 1999. 16 Vgl. Thomas Haye, »Ein ungeliebter Lyriker des 12. Jahrhunderts. Beobachtungen zu den kleineren Gedichten des Stephan von Rouen«, Wiener Studien, 113 (2000) 281 – 300. 11 12
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und zudem recht kurzen Auftritt; Serientäter begegnen selten. Dennoch lässt sich erkennen, wie die Kopisten – über die Wahl des Verses hinaus – immer wieder den Habitus des Literaten und Dichters zu imitieren suchen. In jenem beeindruckenden Corpus abendländischer Kolophone, das die Benediktiner von Bouveret zusammengestellt haben,17 begegnen hierfür zahlreiche interessante Beispiele. Ein erstes Indiz für das Streben nach eigenständiger Poesie stellt bereits der Umfang der Kolophone dar. So findet man des Öfteren Texte, die sich über eine ganze Seite, ja mitunter sogar über zwei Seiten erstrecken und bis zu vierzig Verse umfassen.18 Auf diese Weise wird das übliche Format eines eigenständigen lyrischen Gedichtes erreicht. Die Imitation der Poeten zeigt sich ferner vor allem in der Übernahme etablierter Techniken. So ist es zwar allen Kolophonen ein Anliegen, den Namen des Schreibers zu überliefern und ihn somit vor dem Vergessen zu bewahren, doch bemühen sich einige Kopisten um anspruchsvollere Methoden des ›Sich-Einschreibens‹ in den Text. Der fast rührende poetische Gehversuch eines Albertus aus dem 15. Jahrhundert lautet etwa (Col., Nr. 129): Ach ich war nye so fro Wan do ich schrib »finito libro«. Si AL ponatur et BER associatur et TUS addatur, qui scripsit, sic vocatur.
Im 12. Jahrhundert kodiert (wohl in Admont) ein Adelbero seinen Namen in ähnlich anagrammatischer Weise: Ora Rubent Eris, Bibulus Locus hEc Dat Arenis (Col., Nr. 107). Auf höherem Niveau bewegen sich die nicht wenigen Akrosticha, mit denen die Kolophone verziert werden. So schreibt zwischen 889 und 1008 ein Mann namens Heriveus einen umfangreichen Kolophon (Col., Nr. 7088), in dessen drittem Vers er sich selbst nennt (supplex Heriveus). Diese bescheidene Art der Selbstpräsentation und Verewigung scheint dem demütigen Kopisten jedoch nicht zu genügen. Denn darüber hinaus ergeben die Anfangsbuchstaben der 28 Verse seines Kolophons den Satz: Heriveus scripsit me sco Bertino. Einen noch größeren poetischen Ehrgeiz entwickelt im späten 12. Jahrhundert ein Rainerus, der in Liessies einen Text für Hautmont abschreibt. Seine Schlussschrift lautet (Col., Nr. 16400, v. 1 – 8):19 17 Colophons de manuscrits occidentaux dès origines au XVIe siècle, hg. Bénédictins du Bouveret, Bd. 1 – 6, Fribourg 1965 – 1982. 18 Vgl. z. B. Col., Nr. 96: 18 Verse; Nr. 381: 18 Verse; Nr. 5191: 18 Verse; Nr. 18590: 18 Verse; Nr. 231: 20 Verse; Nr. 1208: 20 Verse; Nr. 16405: 23 Verse; Nr. 16393: 25 Verse; Nr. 315: 26 Verse; Nr. 5491: 26 Verse; Nr. 7088: 28 Verse; Nr. 11988: 31 Verse; Nr. 2026: 40 Verse.
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em dominus laudat operando manus iuvenale ddere scripture, ne ludo sint puerile n quo vitandi mala causa fit atque cavend il dulce [!] lumen anime si sit quasi flume t quid florere prodest fructuque carer espice nos, Iesu, quoniam miseris pius es t t quos pro †nova† maceras iusto modo nut emper letari tecum prestoque bear
S S, I. N. E? V V. I.
Der Text zeichnet sich durch ein Akrostichon und ein Telestichon aus, die zusammen den Satz Rainerus iuvenis s[cripsit] ergeben. Auch ist das Gedicht zusätzlich durch Binnenreime verziert. Noch offensiver geht ein Kopist des 13. Jahrhunderts vor, welcher im Vorwort zu einem von ihm erstellten Dekretalenband mitteilt, dass sein Name in den Anfangsbuchstaben der einzelnen Titelverse verschlüsselt sei.20 Tatsächlich ergeben die Anfangsbuchstaben von 36 Buchseiten das Akrostichon: Wernherus, sancti Germani Spire Canonicus, cuius erat patria Schuscinrieth in Sweuia. Indem sich Werner auf diese Weise in den Text buchstäblich einschreibt, ahmt er die Technik einiger zeitgenössischer Poeten nach, welche ihren eigenen Namen oder denjenigen ihrer Widmungsnehmer in den Initialen der Buchanfänge verstecken. Die Motivik der Kolophone ist außerdem von den Pro- und Epilogen der großen Dichtungen beeinflusst. Der Schreiber verhält sich nicht selten wie ein Autor, der nach langer Mühe ›sein‹ Werk vollendet hat. Dabei bedient er sich insbesondere der bekannten Schiffsmetaphorik.21 So heißt es etwa: Ut gaudere solet fessus iam nauta labore Desiderata diu litora nota videns, Haud aliter scriptor optato fine libelli Exultat viso, lassus et ipse quidem.22
19 Verzeichnet bei Hans Walther, Initia carminum ac versuum medii aevi posterioris latinorum (Carmina medii aevi posterioris latina I, 1), 2. Aufl., Göttingen 1969, Nr. 16575a (im Folgenden stets abgekürzt zitiert als »Walther«); zum Kolophon vgl. Jean Leclercq, »Les manuscrits de l’abbaye d’Hautmont«, Scriptorium 7 (1953), 59 – 67, hier 59. Es folgt in der Handschrift noch ein zweiter, distichischer Text desselben Schreibers (Walther, Nr. 8463). 20 Vgl. Johannes Duft, Mittelalterliche Schreiber. Bilder, Anekdoten und Sprüche aus der Stiftsbibliothek St. Gallen, St. Gallen 1961, 21 – 27, hier speziell 23. 21 Vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 3. Aufl., Bern / München 1961, 138 – 141; Belege bei Reynhout, Formules, I, 90 – 94. 22 Belege bei Reynhout, Formules, I, 90; vgl. Walther, Initia, Nr. 8463.
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Wie der Verfasser eines umfangreichen literarischen Opus, so fährt auch der Schreiber nach vollbrachter Leistung in den sicheren Hafen ein. In einer noch deutlicher poetisch geprägten Sprache heißt es in einem ähnlichen Kolophon: Ut laetus ponti spumantis navita limphas Munere congaudet summi transnasse tonantis, Sic sacro calamo scriptor sulcante libellos.23
Die primäre Funktion so elaborierter Schlussverse besteht nicht in der Übermittlung einer nackten Information (Angabe des Schreibernamens, Datierung, Lokalisierung), sondern in der Demonstration literarischer Kompetenz. Es ist aufschlussreich, dass sich der Kopist hier im letzten Vers zwar selbst ›nur‹ als scriptor charakterisiert, seine Technik und Methode der Selbstpräsentation jedoch die etablierten auktorialen Strategien aufgreift. Zudem dürfte es kein Zufall sein, dass die ambitioniertesten Kolophone gerade in jenen Codices begegnen, welche die Abschriften von Großdichtungen enthalten. Den Kopisten juckt es nach wochenlanger Arbeit gleichsam in den Fingern, nun endlich einmal ihre eigenen Fähigkeiten vorstellen zu dürfen. Mit besonderem Ehrgeiz spielt im späten 9. Jahrhundert der Schreiber Agifredus in seinem 26 Verse umfassenden Kolophon nacheinander mehrere Varianten des in den Epilogen üblicherweise verwendeten ›Motivs des Ankommens‹ durch (Col., Nr. 315, v. 1 – 4): Dulcior ut portus nautis, ut meta quadrigis, Ut stabulum fessis, ut frigida limpha siti24, Sis mihi finalis, quem prebet pagina, versus, Ultima dum extrema tangit arundo notas.
Neben der Schiffs-, Hafen- und Zielmetaphorik begegnet auch die bekannte Tages- und Nachteinteilung, mit der die Verfasser epischer Dichtungen ihre Buchanfänge und Buchschlüsse zu markieren pflegen. So schreibt ein Antonius Guastaferro im Jahre 1436 (Col., Nr. 1082, v. 1 – 4; Walther, Nr. 12436): Nunc discede, dies, nunc, sol, tua plaustra remotis Finibus Oceani, nunc sint data tempora Phebe. Venimus ad metam, grates tibi reddo, polorum Alme decor princeps rerumque eterne creator.
In konzentrierter Form findet man hier sämtliche von den Epikern verwendeten Elemente (Sonne, Mond, Sonnenwagen, Ozean). Auch das Motiv des Neides, welches sich in den Epilogen vieler Dichtungen findet,25 wird von 23 24
Reynhout, Formules, I, 92; vgl. Walther, Initia, Nr. 19815. Konj. Haye; sitis im Druck.
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den Schreibern aufgegriffen. So notiert ein im 12. Jahrhundert in St-Evroult tätiger Kopist namens Walter von Jumièges am Ende seines 18 Verse umfassenden Kolophons (Col., Nr. 18590, v. 17 f.): At ne scriptoris nomen livore prematur, // Gemmeticensis in hac Galterus parte notatur. Mit dem ›Neid‹ ist hier die Missgunst der Mitbrüder und Leser gemeint, welche angeblich in der Versuchung schweben, dem im Kolophon dichtenden Schreiber den Namen zu ›rauben‹ und ihm somit den verdienten Ruhm seiner Leistung vorzuenthalten. Die Gefahr einer solchen ›Repression‹ wird durch den folgenden Fall illustriert: Um die Mitte des 12. Jahrhunderts schreibt der in Bec lebende Mönch Stephan von Rouen das Werk De synodis des Hilarius von Poitiers ab. Der neue Codex ist offenbar für die Klosterbibliothek bestimmt. Als die Handschrift fertig ist, lässt es sich Stephan nicht nehmen, einen Kolophon von immerhin 34 binnen- und endreimenden Hexametern anzufügen, in denen er Hilarius für dessen rhetorische und philosophische Begabung preist.26 Stephan sieht dieses Gedicht offenbar als eigenständige und der Überlieferung würdige poetische Leistung an, denn er überträgt seine Verse auch in einen gleichsam privat besessenen Codex, in dem er alle seine – in vielen Jahren entstandenen – Carmina sammelt.27 Dieser Abschrift der 34 Hexameter stellt er allerdings vier explikative Verse voran, aus denen hervorgeht, dass ein ›neidischer‹ Leser den Kolophon in der für die Bibliothek bestimmten Hilarius-Handschrift ausradiert hat: Librum de sinodis, quem fecit Pictaviensis Hilarius, Stephanus conscripsit Rothomagensis, Illius finem decoravit versibus istis, Quos tamen abrasit livor bona cernere tristis.
Der sogenannte Neid zielt offenbar darauf, den allzu selbstbewussten Kopisten in die Schranken der Anonymität zu weisen und ihm die Stellung eines eigenständigen Autors zu nehmen. In allen genannten Fällen parallelisieren die scriptores ihre eigene Leistung direkt oder indirekt mit derjenigen der Literaten. Es liegt daher nahe, dass sie stets ihre eigene Bildung und 25 Zum mittelalterlichen Neid-Topos vgl. Leonid Arbusow, Colores rhetorici, 2., durchgesehene und vermehrte Auflage, hg. Helmut Peter, Göttingen 1963, 107; Helmut Beumann, »Der Schriftsteller und seine Kritiker im frühen Mittelalter«, Studium generale 12 (1959), 497 – 511; Frederick Tupper, »The Envy Theme in Prologues and Epilogues«, The Journal of English and Germanic Philology 16 (1917), 551 – 572. 26 Vgl. Haye, Lyriker, 298 f. (Gedicht XI). 27 Vgl. Thomas Haye, »Die verlorene Bibliothek des Reiner von Lüttich. Produktion und Überlieferung lateinischer Literatur des Mittelalters in der Perspektive monastischer Individualisierungstendenzen«, Historisches Jahrbuch 125 (2005), 39 – 65, hier 62 f.
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Belesenheit zu demonstrieren versuchen. So zeigt etwa im Jahre 1469 ein namenloser Kopist nach vollbrachter Leistung seine Literaturkenntnis in folgender Weise (Col., Nr. 15280, v. 1): Improbus omnia vincit labor, ut Pamphilus inquit. Ein solcher Verweis auf eine der berühmtesten Elegienkomödien des hohen Mittelalters28 dient ausschließlich dazu, den Schreiber als einen in rebus poeticis erfahrenen Gelehrten zu präsentieren. In den Kolophonen zeigt sich die Dichterimitation vielfach auch in der Wortwahl. Nicht zufällig sprechen viele Kopisten – ähnlich wie die Autoren – von ihrem »Werk« (opus), das sie vollendet hätten: Hoc opus ingenti constat sudore peractum (Col., Nr. 3527, v. 1). Im späten 12. Jahrhundert bezeichnet sich der Schreiber Rudolfus sogar als auctor des gesamten von ihm produzierten Codex bzw. Textes (Col., Nr. 16265, v. 1; vgl. Walther, Nr. 2949): Codicis est huius Růdolfus presbiter auctor. Gemeint ist hiermit zwar primär der »Urheber« und »Schöpfer«, doch ist die semantische Nähe zum »Autor« unabweisbar. Ein vielleicht vor 1214 tätiger Schreiber namens Normandus geht in seinem Kolophon, welches die bezeichnende Überschrift Normandus scripsit hoc opus trägt, sogar soweit, das soeben fertiggestellte Buch zu personifizieren und sprechend auftreten zu lassen (v. 1: Missus ego venio […]).29 Der Codex bittet hier den Auftraggeber, er möge dem Kopisten wegen der verzögerten Übermittlung der Abschrift nicht zürnen. Nicht nur durch die Wahl des elegischen Distichons, sondern auch in der verwendeten Motivik stellt sich Normandus mit seinem Kolophon bewusst in die Nachfolge des römischen Dichters Ovid, welcher zunächst in Trist. I 1 sein nach Rom zu sendendes Buch anspricht und dann in III 1 dieses Buch bei der Ankunft in der Hauptstadt selbst sprechend auftreten lässt (III 1, 1: Missus in hanc venio […]). – Normandus sieht sich somit gleichsam als zweiten Ovid. Als weiteres Kennzeichen der poetischen Ambition ist der formale Versschmuck anzusehen. Wie die Dichter, so versehen auch die Schreiber ihre 28 Pamphilus de amore, hg. Stefano Pittaluga, in: Ferruccio Bertini (Hg.), Commedie Latine del XII e XIII secolo (Pubblicazioni dell’Istituto di Filologia Classica e Medievale 68), Bd. 3, Genua 1980, 11 – 137; zitiert wird v. 71: Tunc Venus hec inquit: labor improbus omnia vincit. 29 Col., Nr. 14686 (Walther, Nr. 11116): Missus ego venio, vereor tamen ipse venire, // Ne videar tardus sicque placere minus. // Perfectum volui non imperfectus adire, // Unde mihi ratio, non mora causa morae. // Munus amicitiae vobis me misit amicus // Optat et [Optat et Konj. Haye; Optabit im Druck], ut faciam, quod minus ipse facit. // Qui servire cupit vobis, ut serviat in me, // Me serviturum tempus in omne dedit. // Si gratus fuero, nihil illi gratius, a quo // Missus ego, cuius gloria vestra salus. Vgl. Michel Andrieu, »Le pontifical d’Apamée et autres textes liturgiques communiqués à Dom Martène par Jean Deslions«, Revue Bénédictine, 52 (1936), 321 – 348, hier 343 f.
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häufig hexametrischen Kolophone mit End- oder Binnenreimen.30 Konsequent binnengereimte und teilweise auch endgereimte Hexameter bietet etwa im 11. Jahrhundert ein Alardus.31 Der poetische Ehrgeiz treibt viele Schreiber allerdings zu sehr viel weitergehenden Anstrengungen. So bietet ein Mann namens Konrad im Jahr 1284 nicht nur kunstvolle Leonini caudati, sondern er beachtet bei den Reimen auch die grammatisch vorgegebene Abfolge aller Vokale (jeweils am Ende zweimal a, e, i, o, u) (Col., Nr. 2821): Quam pia, quam pura Christi remanet creatura, Nec est obscura, sed resplendens genitura. Kriste Iesu clare, fac nos te semper amare, tecum regnare studeas nos et renovare A vicio zeli, sed nos cum laude fideli Arma, ne queri valeamus fraude severi. De terre fundo ducas nos, Christe, profundo et patri summo reddas nos corde iocundo, Leto conductu cernentes te sine luctu, A vicii fluctu mundati nunc modo ductu.
Ähnlich anspruchsvoll gestaltet der zwischen 1134 und 1150 tätige Kantor Girardus den zweiten Vers seines Kolophons als dreifach reimenden Trininus saliens (Col., Nr. 5191, v. 1 – 2): Cantor Girardus probus ac probitatis amicus // Recta gerens perverse cavens male gesta perhorrens // […]. Als eine weitere Form der Verzierung verwenden manche Schreiber epanaleptische Distichen (so z. B. Col., Nr. 16672). Allerdings dürfte den meisten Kopisten bewusst sein, dass Hexameter und Pentameter wenig exquisite Metren darstellen. Es lässt sich daher bei den anspruchsvolleren scriptores eine deutliche Neigung zu eher ausgefallenen Versmaßen beobachten. So verwendet im 10. / 11. Jahrhundert ein Odo in Fleury für seinen umfangreichen Kolophon den Adoneer.32 Einen noch ungewöhnlicheren Weg wählt 30 Binnenreimende Hexameter z. B. in Nr. 108, 115, 132, 5191, 5668, 16260, 16393. 31 Col., Nr. 77: Iunctus in aethereo, Vedaste pater pie, regno // Sis licet aeterno regi trans omnia pulchro, // Cernis servorum tamen hic pia vota tuorum, // Nec tanti donum, quantum scis pondere votum. // Tu memor esto tui, non dedigneris, Alardi, // Ecce [Konj. Haye; Esse im Druck] sed hunc modicum cum voto suscipe librum. // Cum capis atque librum, cum libro nos cape, servum // Omnibus ut vitiis purges, des munera lucis. // Cum mors ingruerit et cum clamata iacebit // Materies, misero mihi tunc, pie presul, adesto. 32 Col., Nr. 14732 (Walther, Nr. 12517): O Benedicte, // nunc tibi, sancte, // PDP [= Odo] volumen // Hoc tuus offert, // te quoque poscit // omnipotenti // pectore Christo // ferre benigno // cumque fideli // munere pauca // addere verba // haec simul ipsi: // Hic liber iste // scriptus amice // huic pie nostro // prosit alumno // proque la-
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im Jahre 1182 ein Schreiber namens Iacobus: Er gestaltet seinen Kolophon in sapphischen Strophen und weist zudem explizit und nicht ohne Stolz an prominenter Stelle auf diese Wahl hin (Str. 1, v. 1: Saphico versu libet intimare).33 Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass dieser Kopist von den Benutzern des Codex als kompetenter Dichter gesehen werden möchte, der in formaler Hinsicht einem Horaz oder Prudentius nachzueifern vermag. Einen Höhepunkt poetischer Kunstfertigkeit erreicht im 12. Jahrhundert ein Schreiber namens Iordanis (Col., Nr. 11988): Sein nicht weniger als 31 Verse umfassender Kolophon setzt sich aus zwei Teilen zusammen: Der lange erste (v. 1 – 28) besteht aus sieben (teils katalektischen) daktylischen Tetrametern, der kurze zweite (v. 29 – 31) aus drei daktylischen Hexametern: Quem scribens, prior est liber iste, [De]34sudo libens, prior est liber iste. Suscipias, quas offero, Christe, Has primitias35, offero, Christe. Complaceat labor hic meus a te. [Simul]36 obtineat labor hic meus a te. Quod maneat, peto, sed mihi da te. Ne[que quod]37 pereat, peto, sed mihi da te.
bore // codicis huius // Lucis honore // iam pociatur. // Membra decore, // splendidus auro // regnet in aevum // prospere tecum. // Tuque Gregori // Magne, legenti // haec bona valde // mistica pande. // Quique libellum // hinc feras [Konj. Haye; ferte im Druck] istum // non cito reddens, // sit male vivens. // Quique videtis, // hunc memorate, // qui tibi scripsit // hunc, Benedicte. 33 Col., Nr. 7520: Str. 1: Saphico versu libet intimare, // Cuius hic factus liber est labore. // Quisque sollempni teneatur usu // Compotus anni. Str. 2: Mille sunt anni deciesque deni // Bis quater denos, quibus et bis unum // Addicis, lector, fuit ortus ex quo // Christus in orbe. Str. 3: Hac in annorum serie propinqua // Fovit Altus Mons iuvenem cluentem // Flore m(alarum?), Iacobum vocatum, // Scribere doctum. Str. 4: Inde servivit studio frequenti, // Cui Petrus caeli reserando portas // Letis [so Leclercq; Druckfehler in Col.: Latis] occurens [!] proprio probatum // Iungat ovili. Vgl. Walther, Nr. 17281a; Leclercq, Les manuscrits, 64 f.; nicht verzeichnet bei Peter Stotz, Sonderformen der sapphischen Dichtung. Ein Beitrag zur Erforschung der sapphischen Dichtung des lateinischen Mittelalters, München 1982. 34 Aus metrischen Gründen entweder zu athetieren oder als ›Auftakt‹ zu verstehen. 35 Poetische Lizenz. 36 Aus metrischen Gründen entweder zu athetieren oder als ›Auftakt‹ zu verstehen. 37 Zu athetieren.
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Thomas Haye Vita salus via! Quero fruar te. Te super omnia, quero fruar te. Grandia premia, si potiar te. Ditia xenia, si potiar te. Nil sapientius expeto quam te Atque salubrius expeto quam te. Nil precor amplius, ut videam te. Hoc mihi da prius, ut videam te. Hunc, tua viscera, prona precare, Virgo puerpera, prona precare, Ut mea vulnera det penetrare, Sanet et ethera det penetrare. Quodque laboris solvo statutis, Sedulus horis solvo statutis, Hoc mea spes, hinc certa salutis, [Hic]38 sit requies hinc certa salutis. Lector in hora pro misero me, Qua legis, ora pro misero me, Ut, quia sum reus, a barathro me Eripiat Deus a barathro me. Quem satis39 digne puniret vermibus, igne, Sanctorum turbae celesti migrat in urbe, Quod sic Iordanis non sit mercedis inanis.
Der formal unkonventionelle erste Abschnitt orientiert sich offenbar weniger an Horaz (in dessen Oden und Epoden der Tetrameter stets nur in Verbindung mit einem anderen Metrum verwendet wird) denn an Prudentius und Boethius (die das Versmaß stichisch einsetzen). Darüber hinaus schmückt Iordanis seine Verse mit Reimen. Dass hierbei der zweite Teil aus Leoninern besteht, ist angesichts der zeitgenössischen Mode wenig überraschend. Erstaunlich ist hingegen die Reimtechnik der Tetrameter: Durch den Binnenreim werden jeweils zwei Verse zu einem Paar, durch den Endreim jeweils vier Verse zu einer Strophe zusammengefasst. Außerdem werden in den reimenden Paaren jeweils die letzten zwei bzw. drei Wörter wiederholt, so dass ein eindringlicher Refrain entsteht. Durch den Wechsel des Versmaßes nach Strophe 7 wird markiert, dass das Gedicht sich eigentlich aus zwei funktional differenten Texten zusammensetzt: Nur die letzten drei Verse bilden im engeren Sinne einen Kolophon, in dem der Schreiber auftritt. In dem vorhergehenden, weitaus längeren Abschnitt präsentiert sich 38
hen. 39
Aus metrischen Gründen entweder zu athetieren oder als ›Auftakt‹ zu versteProsodische Lizenz.
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Iordanis hingegen als Autor und Dichter. Er versteht es somit, seine beiden gesellschaftlichen Rollen einerseits zu unterscheiden, andererseits auf der Textebene miteinander zu verknüpfen. Die poetischen Bemühungen der Kopisten manifestieren sich nicht nur in Metren, sondern auch in Rhythmen. Gleichsam einen Nucleus rhythmischer Dichtung bildet etwa der lakonische Dreizeiler eines Anonymus (Col., Nr. 76): Sit utenti gratia, // largitori venia, // fraudanti anathema. Die meisten rhythmisch arbeitenden Kopisten haben jedoch weitaus größere Ambitionen. So verfasst der Kantor Girardus zwischen 1134 und 1150 einen formal ausgeklügelten Kolophon,40 dessen erster Teil aus zwölf fallenden Achtsilblern besteht. Dabei lassen die Endreime einen achsensymmetrischen Aufbau entstehen: Nach zwei Verspaaren folgt ein Vierzeiler, den Abschluss bilden wieder zwei Verspaare. Den zweiten Teil des Gedichts bilden vier daktylische Hexameter (die prägende Zahl der Rhythmen wird somit aufgegriffen). Durch das zwischen den beiden Teilen befindliche Wort Amen wird ferner markiert, dass es sich bei diesem Kolophon eigentlich um zwei weitgehend selbstständige Texte handelt. Im umfangreichen ersten Text präsentiert sich Girardus als individueller Dichter, welcher ein persönliches Gespräch mit dem Kirchenlehrer Cyprianus führt; im konventionellen zweiten Text tritt er hingegen in der Rolle des Kopisten auf und bittet in topischer Weise um göttlichen Lohn. Von diesen sehr individuellen und persönlichen Gedichten sind jene zu unterscheiden, in denen nicht nur der Schreiber auftritt, sondern auch der Auftraggeber, der Empfänger oder weitere Personen, die an der Herstellung des Codex mitgearbeitet haben. So erwähnt der Schreiber Aldebaldus um die Jahrtausendwende in seinem langen distichischen Kolophon, dass ihm sein Abt Wilhelm den Auftrag zur Erstellung des Textes erteilt habe.41 Und 40 Col., Nr. 5190: Teil 1 (v. 1 – 12): Cyprianus velut fulmen // Mundi [Hier fehlt offenbar ein zweisilbiges Wort.] sternit culmen. // Dum formaret hoc volumen, // Reformabat cecis lumen. // Martyr felix Cypriane, // Mee non sint preces vane! // Letus ad te curro mane, // Quo celesti fruor pane. // Cantor orat hoc Girardus: // Esto velox, numquam tardus! // Sit in libro vite notus. // Nam descripsit hoc devotus. // Amen. Teil 2 (v. 13 – 16): Scripserat hunc cantor Girardus nec tamen ulla // Merces [pro; zu athetieren] pensa fuit, mercedem cum meruisset. // Non tulit hinc vestem, sed nec numerosa metalla, // Unde sibi digna serventur dona corone. 41 Col., Nr. 96: Hic utriusque gerit legis praecepta libellus, // Mystica gesta suis astruit indiciis. // Marthiris egregii vocitati iure Benigni // Deditus assiduis nam manet obsequiis. // Strenuus hunc Abbas Vuillelmus nomine dictus // Excerpi grammis iussit ab oppositis. // Aldebaldus et hoc complevit mente benignus // Fessis articulis nempe labore suis // Lectoremque humili rogitat sub voce fidelem, // Fundat vota deo propter eum supero. // Perlegis haec quisquis capiens pie commoda lucis, // Grates solve sacro multimodis domino, // Omnipotens cum sit caeli telluris et auctor. // Destinat haec fa-
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ein hexametrischer Kolophon des 11. Jahrhunderts erläutert,42 dass der vorliegende Codex zunächst von einem geistlichen Vater in Auftrag gegeben worden sei. Sodann habe Bruder Gerbertus einen Teil des Textes abgeschrieben. Der Dekan Albricus sei für die nachfolgende Verzierung des Buches verantwortlich gewesen. Schließlich habe Bruder Tedricus den zweiten Teil des Textes abgeschrieben. Und dieser Tedricus kann sich nicht den Hinweis darauf versagen, dass er auch der Verfasser des poetischen Kolophons sei (v. 7 f.): Tedricus pariter adiutor constitit alter. // Nam partem scripsit et eodem carmine compsit. Ähnliche Hinweise auf solche Aufträge findet man auch in den sehr ausführlichen Kolophonen des Kopisten Godemannus (Col., Nr. 5491; zwischen 963 und 984) und des bereits genannten Heriveus (Col., Nr. 7088; geschrieben zwischen 889 und 1008).43 Im 12. Jahrhundert verfasst der Beneventaner Schreiber Eustasius ein Gedicht,44 in dem jeweils vier Vagantenzeilen durch den Endreim zu einer Strophe zusammengefasst sind. Eustasius nennt hier entgegen der chronologischen Abfolge zuerst sich selbst als den Schreiber des Textes (3,2), erst danach wird Abt Johannes als Auftraggeber des Codex erwähnt (3,4), schließlich tritt Bruder Sipontinus als Figurenmaler auf (4,1). Nicht nur diese Reihenfolge, sondern auch die Junktur scriptor indevictus (3,2) deuten an, dass mulis quod super arva suis, // Hunc cunctos ideo peregrini ruris alumnos // Concelebrare suis condecet ingeniis. // Qui legis haec, Aldebaldi studeas reminisci, // Dicta refert scriptis talia qui propriis. 42 Col., Nr. 5327; cf. Monumenta Germaniae Historica, Poetae latini, V, 387 f.: Frater Gerbertus solo cognomine dictus // Hunc librum scripsit, ut patris iussio sancxit. // Omnipotens dominus sibi reddat propitiatus. // Istic Albricus meriti virtute decanus // Enituit maior prae cunctis auxiliator. // Ipse volumen idem decorans perduxit ad unguem. // Tedricus pariter adiutor constitit alter. // Nam partem scripsit et eodem carmine compsit. // Gratia celestis mercedem ponat et istis. // Hic, quicumque legis, ne dicere queso graveris: // Vivant actores, pereant per tempora fures. // Tum si quid scripto viciatum comperis illo [so MGH; illa Col.], // Abicito fumum, fac [!] et clarescere verum. // Certa tibi sit spes tua, numquam praemia perdes. // Sic perit omnis honor [so MGH; homo Col.], sic defluit omne decorum. // Posce deum, lector, ut me locet arce polorum. 43 Vgl. auch Col., Nr. 4876. 44 Col., Nr. 3974: Str. 1: Omnis huius operis decor quem delectat, // Dum inspectat oculis, manibus attrectat, // Aures eius monitis internas inflectat. // Lucra nam prudentibus maxima convectat [Konj. Haye; convectas im Druck – und wohl auch in Hs.]. Str. 2: Tetros [Konj. Haye; tetras im Druck] nam explicitum opus per auctores // Prava queque resecat instruitque mores. // Mulcet visum, litteras, nodos et colores // Ingerens optatibus excellentiores. Str. 3: Huius sacer edidit verba Benedictus. // Scriptor est Eustasius, scriptor indevictus. // Is, cuius imperio liber est conscriptus, // Prior monasterii Iohannes est dictus. Str. 4: Sipontinus denique, potens in sculturis, // Vividis coloribus, auro, celaturis, // Decoravit variis nodis et figuris, // Miris hunc efficiens mirum ligaturis.
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Eustasius seine eigene Leistung als Kopist für nicht gering erachtet. Aus dem Umstand, dass er mit seinem Versmaß dem formalen Muster der großen zeitgenössischen Autoren folgt, darf man allerdings schließen, das er darüber hinaus auch als Poet ernstgenommen werden möchte. Gerade in den kostbaren Evangeliaren und Psaltern des Frühmittelalters, welche im Auftrag oder zum Nutzen hochstehender Personen hergestellt werden,45 sind die Begleitgedichte der Kopisten natürlich keine randständigen oder gar persönlichen Kolophone, sondern offizielle Paratexte, in denen der Schreiber und Dichter mit Zustimmung aller Beteiligten eine vermittelnde Funktion ausübt. Im Zentrum solcher Texte steht das Lob des Herrschers, nicht die Gedankenwelt des scriptor. Mit den in der Regel nicht autorisierten und mitunter ganz ›privaten‹ Kolophonen des hohen und späten Mittelalters haben diese an den zukünftigen Besitzer gerichteten Widmungsgedichte funktional gesehen kaum etwas gemein. Doch auch in den persönlich gehaltenen Kolophonen der späteren Zeit kann die Figur des Auftraggebers so dominant sein, dass sie den Schreiber und Verfasser des poetischen Schlusswortes in den Schatten stellt. So referiert ein Kolophon in einem Prämonstratenser-Brevier des Jahres 1384 ausgiebig über die Person des Abtes Albertus, welcher die Herstellung des Textes veranlasst habe.46 Der Name des Schreibers wird hingegen unterdrückt. Und noch schlimmer: Der Leser wird lediglich aufgefordert, für den Abt zu beten. Das Schicksal des armen Kopisten spielt offenbar keine Rolle. Poetisch ambitionierte Schreiber findet man sowohl in repräsentativen als auch in schmucklosen Codices. Doch individuelle und persönlich gehaltene Schlussverse, die den Kopisten als Literaten erweisen sollen, begegnen fast nur in letzteren. Nur diese bieten einen (wenngleich eng begrenzten) Freiraum, welcher vom Schreiber nach eigenem Gutdünken mit ›privater‹ Poesie angefüllt werden kann. Gerade im späten Mittelalter ist allerdings zu beobachten, dass die Kopisten ihre Kolophone nicht nur zur Selbstdarstellung, sondern auch zur Kommunikation und Auseinandersetzung mit der Umwelt nutzen. Das wichtigste Thema stellt hierbei die Bezahlung des jeweils in Auftrag gegebenen oder zum Verkauf bestimmten Codex dar.47 Vgl. z. B. Col., Nr. 231, 3253, 5497, 18381. Col., Nr. 128: Hec ad divinum fabricata volumina cultum, // Que sint prelargis sumptibus acta, patet. // Ne tamen ignores, cuius sint munere scripta: // Frater erat nivea relligione sacer // Ordinis Albertus Premonstratensis, in albo // Stivagii claustro rite professus erat. // Rexerat ille domum, quam vulgo Alemania dicet // Winbach. Et hac scriptum est hoc breviare domo. // Hunc igitur librum quisquis successor habebis, // Alberto precibus auxiliare tuis. Amen. 47 Vgl. Thomas Haye, »Der Dominikaner Filippo della Strada – ein venezianischer Kalligraph des späten 15. Jahrhunderts im Kampf gegen den Buchdruck«, Archiv für Geschichte des Buchwesens, 48 (1997), 279 – 313, hier 282 – 284. 45 46
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Den Hinweis auf ein Entgelt findet man etwa bei dem zwischen 1134 und 1154 tätigen Schreiber Guido, in dessen 21 Verse umfassenden Kolophon es heißt (Col., Nr. 5668, v. 18 f.): […] // Guido, vir illustris, cui lux donetur in astris, // Vel per se scripsit vel sumptus dando peregit // […]. Ein unbekannter Schreiber des 14. Jahrhunderts wendet sich in einer vierzig Verse umfassenden Schlussschrift an einen säumigen Kunden und Mitbruder Bernhard (Col., Nr. 2026), welcher es offenbar versäumt hat, den vereinbarten Lohn zu bezahlen (vgl. v. 11 f.: Que spopondisti fratri mihi tradere tristi, // Mitte mihi merita donaque pollicita.).48 Dabei bedient sich der Kopist ganz selbstverständlich der üblichen poetischen Techniken (Synonyma, Wechsel des Metrums, Binnenreim etc.). Der metrische Kolophon wird hier als Forum der Auseinandersetzung genutzt, der Text selbst ist autoreferentiell (Codex als Thema), der Schreiber ein Autor. Die dichterische Form dient nur als Ausdrucksmittel und ist kein Selbstzweck. Neben der Bezahlung stellt die intellektuelle Einordnung des zuvor abgeschriebenen Textes das zweite zentrale Thema der Kolophone dar. Die Schreiber sprechen über den jeweiligen Autor, den Inhalt, das anvisierte Publikum und die Zielsetzung.49 Der Kolophon erhält auf diese Weise auch in funktionaler Hinsicht (d. h. nicht nur rein räumlich gesehen) den Status eines Paratextes, welcher den abgeschriebenen Haupttext aufschließt und ausdeutet. Der bereits genannte Kopist Walter von Jumièges verfasst im 12. Jahrhundert in St-Evroult einen Kolophon (Versus huius libri scriptoris), in dem er sich explizit an den Leser des voranstehenden Haupttextes wendet (v. 9 f.: Hac tu qui studiis sublimis philosophiae // Haeres, ferto gradum […]) und ihn für seine Bildungsanstrengungen, d. h. für die sorgfältige Lektüre des Textes, lobt.50 48 Überliefert in Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Perg. Aug. 263 (dort verteilt auf fol. 202r-204r); abgedruckt bei Alfred Holder, Die Pergamenthandschriften (Die Handschriften der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe 5. Die Reichenauer Handschriften 1), Leipzig 1906 / Ndr. Wiesbaden 1970, 619 f.; Beschreibung der Handschrift dort 613 – 622. 49 Vgl. z. B. Col., Nr. 5668. 50 Col., Nr. 18590: Quisquis [so bei Walther, Nr. 16135; Quisque Col.] ad egregios temptat conscendere mores, // Discat in hoc prato Senecae discerpere flores. // Nam nichil hic cernet conpendio [Konj. Haye; conpendo im Druck] preter [Konj. Haye; pretor im Druck] honestum, // Omne sed hic vicium discet miserabile, mestum. // Ornat multorum dictamina Philosophia, // Effert et proprios per carmina virgo Talia. // Hunc studium sapiens laudat per singula verba // Et, quibus est celebris, vix inveniuntur acerba. // Hac tu qui studiis sublimis philosophiae // Haeres, ferto gradum reserando clostra sophiae. // Morum discurrens hic invenies gravitatem // Et per prata viri vix concipies levitatem. // Haec animo memori studiosus conde frequenter, // Dignus et hac vita vives prorsus sapienter. // Iure virum talem laudamus versificando. // Laudet
Die Geburt des Dichters aus dem Geist des Abschreibens
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Dass sich die Schreiber nicht nur als literarische Führer, sondern im Speziellen auch als Dichter verstehen, zeigen die autoreferentiellen Hinweise auf die eigene poetische Leistung. Nachdem der oben erwähnte Schreiber Gerbertus im 11. Jahrhundert einen Text abgeschrieben hat, fügt er einen metrischen Kolophon an, in dem er explizit vermerkt, dieser sei von ihm im selben Versmaß geschrieben wie der Haupttext (Col., Nr. 5327, v. 8):51 Nam partem scripsit et eodem carmine compsit. Auch Agifredus stellt im 9. / 10. Jahrhundert seine eigene poetische Leistung heraus (Col., Nr. 315, v. 26 und folgende Prosa):52 Aspice, deus de supernis sedibus, quos Agifredus / condidit versiculum [!] de domo Azone […]. Einen ähnlichen Weg wählt Walter von Jumièges durch Benutzung des programmatischen Wortes versificando (Col., Nr. 18590, v. 15: Iure virum talem laudamus versificando). Bei allen diesen Äußerungen ist allerdings zu berücksichtigen, dass der poetische Anspruch mitunter in heftigem Widerspruch zur literarischen Wirklichkeit steht. Nicht jeder Schreiber ist dazu prädestiniert, die gänzlich anders profilierte Rolle des Autors zu übernehmen. Ein besonders schönes Beispiel bietet hier der spanische Handschriftenillustrator Antonius Sancii (Sancius Gontherii). Als er am 22. Januar 1401 einen vom (Anti-)Papst Benedikt XIII. (1394 – 1417) in Auftrag gegebenen Codex vollendet hat, lässt er es sich nicht nehmen, abschließend auch als Dichter aufzutreten (Col., Nr. 1208):
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Benedicti tercii decimi septimo anno, Qui est sal mundi, exemplar, lux et ymago, Aflictis scola, quos rethis zelat libertas,53 In quem sevire54 gaudet noverca potestas, †Verba bellaque dante demofone ventis Nec metuente Ite dicendum scelestis†55 Primoque Xpristi quadringentesimo nati Dieque vero56 secunda vicesima Iani Antonius dictus Sancii cognomine fultus Ispanus natu, Astigie fonte perunctus Hunc librum scripsit iussu sanctissimi patris, Qui cunctis pandit celestia regna beatis.
quisque magis factis sua dicta probando. // At ne scriptoris nomen livore prematur, // Gemmeticensis in hac Galterus parte notatur. 51 Vgl. Monumenta Germaniae Historica, Poetae latini, V, 387 f. 52 Vgl. Burg, Die Signatur, 60; Wattenbach, Schriftwesen, 281 f. 53 quos rethis zelat libertas ist zweifellos eine verdächtige und vermutlich sogar korrupte Formulierung, die sich jedoch grammatisch halten lässt. 54 So Katalog; servire Col. 55 Die beiden Verse sind zweifellos korrupt. 56 Konj. Haye; vere im Druck.
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Pro huius statu oret plebs Christi fidelis, Qui, ut eam salvet, pressuras subit in terris, Ymo ut plebis Christus abstergat peccata, Pius pastor oret, qui est dignus vita beata. Qui fecit hos versus, devotus est Benedicto. Sibi faventes salvet bonorum origo Nec huius precis sit expers virgo Maria, Adiutrix cunctis sit ipsa genitrix pia.
Man kann deutlich erkennen, wie sich Antonius darum bemüht, sein Gedicht zumindest abschnittsweise (v. 1 – 4 u. 11 – 16) als lyrisches Encomium papae zu gestalten.57 Dabei verknüpft er das Lob des Pontifex mit der Vorstellung seiner eigenen Person, charakterisiert diese jedoch nicht als einen Kopisten und Illuminator, sondern als einen Poeten (v. 17: Qui fecit hos versus […])! Auch die Wortwahl und der Einsatz von Binnen- und Endreim unterstreichen den dichterischen Anspruch. Jedoch sind die Verse aufgrund ihrer zahlreichen prosodischen Verstöße so erbärmlich, dass sich Benedikt XIII. von dieser literarischen Leistung wohl kaum geschmeichelt fühlen konnte. Zweifellos verfügt Antonius Sancii weder über eine solide poetische Ausbildung noch über ein entsprechendes Talent. Sein beklagenswertes Beispiel darf jedoch nicht den Blick auf die Vielzahl hoch- und spätmittelalterlicher Schreiber verstellen, welche nicht nur den Anspruch erhoben, sich in ihren Kolophonen als individuelle Dichter präsentieren zu dürfen, sondern aufgrund ihrer Kompetenz auch in der Lage waren, diesen Anspruch in überzeugender Weise einzulösen.
57 Zur literarischen Tradition vgl. Thomas Haye, Päpste und Poeten. Die mittelalterliche Kurie als Objekt und Förderer panegyrischer Dichtung, Berlin / New York 2009.
Von Pflaster und Salbe Überlegungen zur conjointure im Erec Von Marie-Sophie Masse »Mais que faut-il entendre par conjointure? Ce terme qu’on ne trouve nulle part avant Chrétien, chacun l’entend à sa façon.« 1
Im Prolog von Erec et Enide liefert der aus den Antikenromanen bekannte Topos, nach welchem der Besitz des Wissens zur Mitteilung verpflichtet, nicht nur die causa scribendi, sondern auch einen Vorwand für die oft zitierte Selbstinszenierung des romanischen Autors: Por ce dist Crestïens de Troies que reisons est que totevoies doit chascuns panser et antandre a bien dire et a bien aprandre; et tret d’un conte d’avanture une molt bele conjointure par qu’an puet prover et savoir que cil ne fet mie savoir qui s’escïence n’abandone tant con Dex la grasce l’an done: d’Erec, le fil Lac, est li contes, que devant rois et devant contes depecier et corronpre suelent cil qui de conter vivre vuelent. Des or comancerai l’estoire qui toz jorz mes iert an mimoire tant con durra crestïantez; de ce s’est Crestïens vantez.2 (v. 9 – 26)
Eugène Vinaver, A la recherche d’une poétique médiévale, Paris 1970, 106. »Darum sagt Chrétien von Troyes, es sei vernünftig, daß jeder immerfort darauf sinne und sich befleißige, Gutes zu reden und Nützliches mitzuteilen; und er bringt seinerseits eine Reihe von Ereignissen, wie sie erzählt werden, in einen wohlgeordne1 2
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Bekannt sind diese Verse insbesondere für den Ausdruck une molt bele conjointure – und für die zahlreichen Interpretationen, zu denen er Anlass gab. Einigkeit herrscht in der Forschung zumindest über die Herkunft des Terminus conjointure: Zum ersten Mal bei Chrétien und danach lediglich bei Marie de France und in der Genesisübersetzung des Dichters Evrat belegt, ist das Wort vom lateinischen Substantiv junctura hergeleitet, welches schon von Horaz verwendet wird und zur mittelalterlichen Zeit in den lateinischen Poetiken aus dem 12. – 13. Jahrhundert vorkommt.3 Der Begriff – auch in diesem Punkt sind sich die Forscher einig – bezeichnet ein ›Zusammenfügen‹ und verweist somit auf das ästhetische Gestalten der materia: Er setzt eine schöne dispositio voraus, welche einer sinntragenden Struktur entspricht. Indem Chrétien durch die molt bele conjointure seine eigene Erzählung charakterisiert und sie von einem conte d’avanture unterscheidet, bringt er sein Autorbewusstsein, das Bewusstsein eines gelehrten Autors, zur Sprache. Gleichzeitig stellt er sich als Vertreter einer neuartigen Literatur in der Volkssprache dar, welche die literarische Sinnbildung in den Vordergrund stellt und sich somit, wenn auch auf implizite Weise, von der Rückbindung an außerliterarische, wahrheitsverbürgende Instanzen löst.4 Gepriesen wird eine neue literarische Form, welche wiederum mit einem Wechsel der Medialität bzw. mit der Entstehung der Schriftlichkeit einhergeht. Durch die Reflexion über eine schöne und gleichzeitig sinnbildende Struktur distanziert sich Chrétien sowohl von einer an die historische oder religiöse Wahrheit gebundenen Literatur als auch von der mündlichen Tradition.5 ten Zusammenhang, damit man daraus zu erweisen und zu erkennen vermag, daß man nicht klug handelt, wenn man nicht sein Wissen mitteilt, solange Gott einem die Gnade dazu gibt. Von Erec, dem Sohne Lacs, handelt die Erzählung, welche die Leute, die vom Geschichtenerzählen leben wollen, vor ihrem Publikum von Königen und Grafen auseinanderzureißen und zu verderben pflegen. Sogleich will ich die Geschichte beginnen, die alle Tage in der Erinnerung der Leute bleiben soll, solange die Christenheit besteht; dessen hat Chrétien sich gerühmt.« Erec et Enide wird nach folgender Edition und Übersetzung zitiert: Chrétien de Troyes, Erec et Enide. Erec und Enide, altfrz. / dt., übers. und hg. Albert Gier (RUB 8360), Stuttgart 1987. 3 Douglas Kelly, »The Source and Meaning of conjointure in Chrétien’s Erec 14«, Viator 1 (1970), 179 – 200; ders., The Art of Medieval French Romance, Madison 1992, 15 – 31. 4 Siehe die grundlegende Studie von Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Eine Einführung, 2. Aufl., Darmstadt 1992, insbes. das Kap. »Chrétiens de Troyes Erec-Prolog und das arthurische Strukturmodell«, 91 – 107. Zur conjointure und Fiktionalität in Chrétiens Roman siehe zuletzt Brigitte Burrichter, »Fiktionalität in französischen Artustexten«, in: Harald Haferland, Matthias Meyer (Hgg.), Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven (Trends in Medieval Philology 19), Berlin / New York 2010, 263 – 280.
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Vor diesem Hintergrund entsteht die Frage, wie Chrétien in seinem eigenen Roman diese molt bele conjointure umsetzt, wie sich also der Diskurs in der Erzählung niederschlägt. In diesem Punkt teilen sich die Meinungen. Überspitzt formuliert kann man zwischen Befürwortern der Zweiteilung6 und Verfechtern der Dreiteilung7 unterscheiden, wobei die zwei Thesen, wie dies Donald Maddox zeigte, nicht unbedingt widersprüchlich sind, sondern sich sogar zum Teil decken: Zweiteilig oder dreiteilig erscheint der Roman je nach dem, ob die ›Krise‹ – als Erec nach seiner Hochzeit mit Enide seine Ritterpflichten vergisst und recreant wird (v. 2551) – als unabhängiger Teil des Romans oder als Komponente des ersten Teils betrachtet wird, oder auch je nach dem, ob die abschließende Joie de la Court-âventiure als Teil an sich oder als Komponente des zweiten Handlungszyklus angesehen wird.8 Unabhängig aber von der Frage nach der Zwei- oder Dreiteilung des Romans liefert der Text fruchtbare Hinweise zum Verständnis des Begriffs conjointure und zu seiner Umsetzung durch Chrétien. In dieser Hinsicht möchte ich im Folgenden zunächst auf zwei Stellen des Romans Erec et Enide zurückkommen. Ziel ist es hierbei, in komparatistischer Perspektive das Verständnis des Begriffs und seine Umsetzung durch Hartmann von Aue in seiner Bearbeitung des altfranzösischen Romans näher zu beleuchten. Dazu sollen Stellen aus dem Erec zur Geltung gebracht werden, welche im Zusammenhang mit der vom deutschen Autor entwickelten literatur5 Zum Zusammenhang zwischen Schriftlichkeit und conjointure siehe die kürzlich erschienene Studie von Volker Mertens, welcher unter Berufung auf Lernpsychologen anmerkt, dass Strukturen eher Kennzeichen schriftliterarischen Erzählens sind, während mündliches Erzählen an der Verknüpfung mit Orten und Affektzuständen orientiert ist (Volker Mertens, »Theoretische und narrativierte Narratologie von Chrétien bis Kafka«, in: Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven, 17 – 34, hier 19). Zum Zusammenhang zwischen fiktionalem Erzählen und Schriftlichkeit im 12. Jahrhundert siehe Klaus Ridder, »Fiktionalität und Medialität. Der höfische Roman zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit«, Poetica 34 (2002), 29 – 40, insbes. 33 f. 6 Unter anderem Reto Bezzola, Le sens de l’aventure et de l’amour (Chrétien de Troyes), Paris 1947, insbes. 73 – 247. 7 Unter anderem Jean Frappier, Chrétien de Troyes: l’homme et l’œuvre (Connaissance des Lettres), Paris 1957, insbes. 85 – 91. 8 Donald Maddox, »Trois sur deux: Théories de bipartition et de tripartition des œuvres de Chrétien«, Œuvres et critiques V.2 (1980 – 1981): Réception critique de l’œuvre de Chrétien de Troyes, 91 – 102. Eine Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstandes zu dieser Frage findet sich in folgendem Aufsatz: Corinne CooperDeniau, »Conjointure et relation analogique dans Erec et Enide«, in: Patrick del Duca (Hg.), Un transfert culturel au XIIe siècle: ›Erec et Enide‹ de Chrétien de Troyes et ›Erec‹ de Hartmann von Aue, Clermont-Ferrand 2010, 21 – 42; zu Hartmanns Erec siehe im selben Band Michael Stolz, »›Une mout bele conjointure‹. La structure des romans d’Erec et sa critique dans la recherche«, 99 – 113.
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theoretischen Reflexion ebenfalls als Indizien für die conjointure des Textes gelten können, bevor im Anschluss eine poetologische Interpretation des phlaster-Motivs versucht wird. I. Zum Verständnis des Begriffs conjointure in Chrétiens Erec et Enide Bekanntlich beginnt die Handlung von Erec et Enide damit, dass König Artus zu Pfingsten in Karadigan Hof hält und einen alten Rechtsbrauch seines Vaters wiederbeleben will: die Jagd auf den Weißen Hirsch, welche damit ihren Ausgang findet, dass der erfolgreiche Jäger die schönste Dame am Hof mit einem Kuss auszeichnen darf. Im weiteren Verlauf der Handlung wird der Hirsch von Artus erlegt, der dann vor dem vereinten Hof Enide den Kuss gibt. An dieser Stelle wird die Handlung auf folgende Weise abgeschlossen und zugleich weitergeführt: Li rois, par itele avanture, randi l’usage et la droiture qu’a sa cort devoit li blans cers: ici fenist li premiers vers. Quant li beisiers del cerf fu pris a la costume del païs, Erec, come cortois et frans, fu de son povre ost an espans […].9 (v. 1793 – 1800)
Die Aussage ici fenist li premiers vers fand in der Forschung wenig Beachtung, obwohl sie einen wichtigen Hinweis auf die Struktur des Romans liefert. Dies betonte Brigitte Burrichter in einem Aufsatz, in welchem sie die zitierte Stelle als Ausgangspunkt ihrer Untersuchung nahm und deren strukturierende Funktion herausarbeitete: Die Aussage erfolge an der Stelle, an der eine ursprüngliche Bedrohung der Artuswelt von dem Helden entfernt werde, der im weiteren Verlauf der Handlung seine eigenen Probleme löse. Daraus lasse sich ein kompositorisches Prinzip ableiten, das ebenfalls in Chrétiens späteren Romanen wirksam sei: Aus dem exponierten Ausgangsproblem einer ersten Erzähleinheit heraus entwickle Chrétien die Geschichte des Protagonisten, welche dann im Anschluss daran und bis zum Ende des Romans weitergeführt werde.10 Im Falle von Erec et Enide 9 »Der König erfüllte auf diese Weise den Brauch und genügte der Regel, die an seinem Hof bei der Jagd auf den weißen Hirsch bestand. So fand die erste Episode schließlich ihr Ende. Als nach der Landessitte der Kuß des weißen Hirsches erteilt war, dachte Erec, höfisch und edel, wie er war, an seinen armen Gastgeber«.
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bestehe die Drohung darin, dass die Jagd auf den Weißen Hirsch bzw. die Wahl der schönsten Dame einen Streit unter den Rittern auszulösen und somit die Harmonie des Hofes zu gefährden drohe (wie dies übrigens im Text von Gauvain betont wird); diese Gefahr werde insofern von Erec abgewendet, als alle sich auf die Wahl Enides zur Schönsten einigen können. Auf diese Weise finde die eröffnende Episode einen glücklichen Ausgang, bevor gleich darauf, das heißt unmittelbar im Anschluss an die Aussage zum premiers vers, die in der ersten Erzähleinheit einsetzende Geschichte Erecs weitergeführt werde. Der Terminus vers, welcher eine Texteinheit bezeichnet, verweise also auf eine Artikulationsstelle des Textes bzw. auf die Verknüpfung zweier miteinander eng verbundenen Erzählstränge, eben auf die conjointure des Romans. Auf letzteren Aspekt möchte ich nun zurückkommen und Brigitte Burrichters These in Bezug auf Erec et Enide vertiefen, indem ich auf den Inhalt der von ihr bestimmten ersten Erzähleinheit zurückkomme. Wenn Erec Enite erkämpfen und schließlich zum Artushof bringen kann, erfolgt dies dadurch, dass er im Rahmen der Sperber-âventiure den Ritter Yder besiegt; auf diese Weise rächt er sich gleichzeitig für die Schande, welche er am Romananfang, nach Eröffnung der Hirschjagd, durch Yders Zwerg erleiden muss. Die Erzählung der Hirschjagd umrahmt die Sperber-âventiure auf solche Weise, dass letztere abgeschlossen werden muss, damit erstere ihren Ausgang findet: Dies wird dadurch betont, dass am Artushof der Kuss des Weißen Hirsches solange verschoben wird, bis Erec von seiner âventiure zurückkehrt. Möglicherweise verweist die Aussage ici fenist li premiers vers auf die Verknüpfung dieser zwei Erzählstränge: Der Reim des Terminus vers auf das Substantiv cers im vorangehenden Vers lädt dazu ein, auf die Verbindung von Form und Inhalt aufmerksam zu werden, genauer gesagt auf die Art und Weise, wie Chrétien innerhalb der vorangehenden Erzählung durch die schöne Verschachtelung zweier Erzählstränge eine conjointure schafft. Gleichzeitig besteht seine Kunst darin, wie er innerhalb dieser Erzählung zwei Motive, die der keltischen Tradition entlehnt sind, in einen neuen Kontext einbettet: einerseits das Motiv des weißen Tiers, das, durch eine Fee geschickt, einen Sterblichen in die andere Welt führt, andererseits das Motiv des Ritters, welcher sich jedes Jahr in einem Sperberkampf auszeichnen soll, um der Minne einer Fee würdig zu bleiben. In Erec et Enide werden Hirschjagd und Sperberkampf in den Kontext des höfischen Romans transponiert und fungieren als höfische Unterhaltung.11 Auf diese 10 Brigitte Burrichter, »›Ici fenist li premiers vers‹ (Erec et Enide) – noch einmal zur Zweiteilung des Chrétienschen Artusromans«, in: Friedrich Wolfzettel (Hg.), Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze, Tübingen 1999, 87 – 98.
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Weise lässt sich die Textstelle ici fenist li premiers vers in zweierlei Hinsicht deuten: Die Aussage markiert die gelungene Verknüpfung zweier Erzählstränge innerhalb des Romans, aber sie verweist wahrscheinlich auch auf die Art und Weise, wie Chrétien in der ersten Erzähleinheit zwei Motive zusammenfügt, in einen neuen Kontext transponiert und in eine neue literarische Form einbettet. Eine solche poetologische Deutung der Stelle wird durch ein weiteres Indiz im Roman bestätigt, welches diesmal in einer metaphorischen Form und gegen Ende des Textes zu finden ist. Als der Abenteuerweg des Protagonisten seinen glücklichen Ausgang findet, widmet Chrétien Erecs Krönung eine ausführliche Darstellung und dem Krönungsmantel eine eingehende descriptio, welcher er folgende Aussage voranstellt: Lisant trovomes an l’estoire la description de la robe, si an trai a garant Macrobe qui an l’estoire mist s’antante, qui l’antendié, que je ne mante. Macrobe m’anseigne a descrivre, si con je l’ai trové el livre, l’uevre del drap et le portret.12 (v. 6674 – 6681)
Während Chrétien in seinem Prolog auf eine mündliche Tradition verweist, um sie abzulehnen und sich durch das ästhetische Prinzip der conjointure von ihr abzugrenzen, beruft er sich hier auf eine schriftlich-gelehrte Tradition. Dabei dürfte die Nennung von Macrobius als halb-fiktive Quellenberufung zu verstehen sein. Es ist eher unwahrscheinlich, dass der spätantike Autor, wie dies Chrétien behauptet, die unmittelbare Quelle der descriptio lieferte – es ist zumindest keine solche descriptio von ihm überliefert.13 Vielmehr dürften hier, wie dies Barbara Haupt zeigte, Macrobius’ 11 Siehe Frappier, Chrétien de Troyes, 92 – 93; Jean-Guy Gouttebroze, »La chasse au blanc cerf et la conquête de l’épervier dans Erec et Enide«, in: Maurice Accarie, Ambroise Queffelec (Hgg.), Mélanges de langue et de littérature médiévales offerts à Alice Planche, 2 Bde. (Annales de la Faculté des Lettres et Sciences Humaines de Nice 48), Paris 1984, Bd. 1, 213 – 224, insbes. 222 – 223. 12 »Wir fanden beim Lesen in der Vorlage die Beschreibung des Gewandes, und ich ziehe als Garanten Macrobius heran, der seine Aufmerksamkeit auf die Schilderung richtete und der sich darauf verstand, so daß ich nicht lüge. Macrobius lehrt mich, die Arbeit des Stoffes und die Bilddarstellung zu beschreiben, wie ich sie in dem Buch gefunden habe.« 13 Die Frage nach den Quellen dieser descriptio ist angesichts der langen Tradition der Kunstwerkbeschreibung schwer zu lösen. Chrétien dürfte volkssprachliche Muster bevorzugt haben (Barbara Haupt, »Literarische Bildbeschreibung im Artusroman – Tradition und Aktualisierung. Zu Chrestiens Beschreibung von Erecs Krönungs-
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poetologische Ausführungen in seinem Kommentar zu Ciceros Somnium Scipionis eine Rolle spielen: Dort erwähnt er drei Kategorien von erfundenen Geschichten, unter anderem die narratio fabulosa, welche »durch Komposition und Erfindung eine Wahrheit darstellt« (haec ipsa veritas per quaedam composita et ficta profertur).14 Die Berufung auf die antike auctoritas als Garanten für den eigenen Text, eine übliche Legitimierungsstrategie in der volkssprachlichen Literatur der Zeit, könnte also eine Anspielung auf den fiktionalen Charakter des Romans enthalten, so wie er unter anderem in der descriptio des Krönungsmantels zum Ausdruck kommt (man denke nur an die berbioletes, jene sonderbaren, wahrscheinlich von Chrétien erfundenen Tiere, von denen das Pelzwerk des Mantels stammt [v. 6732 – 6741]). Dass die descriptio des Krönungsmantels eine solche selbstreflexive Ebene enthält, ist um so plausibler, als der gewobene Stoff im Zusammenhang mit der Etymologie des Substantivs Text (textus) eine seit der Antike weit verbreitete Metapher für den literarischen Schaffensprozess liefert.15 Gerade der als pallium bezeichnete Mantel fungiert als Metapher für einen Text, welcher eine verhüllte Wahrheit einkleidet. Es ist wahrscheinlich, dass Chrétien in seiner descriptio die Produktion des eigenen Textes versinnbildlicht und die Arbeit des Autors durch die Figuren der Feen reflektiert, welche das Prachtstück mit Kunst und Meisterschaft (par grant sans et par grant mestrie, v. 6683) verfertigt haben sollen. Von ihnen stammt die in den Stoff eingewobene Darstellung der Geometrie, Arithmetik, Musik und Astronomie, womit der beschriebene Gegenstand eine keltische Herkunft mit einer auf die antike Tradition verweisenden Darstellung der Artes Liberales in sich vereint.16 Somit kann die descriptio des Krönungsmantels vor mantel und Zepter«, Zeitschrift für Germanistik IX.3 [1999], 557 – 585, insbes. 565 – 570). Möglich ist aber, dass er für die Darstellung der Artes Liberales aus dem De nuptiis Philologiae et Mercurii des Martianus Capella schöpfte (Marc-René Jung, Etudes sur le poème allégorique en France au Moyen Age [Romanica Helvetica 82], Bern 1971, 51). 14 Ambrosii Theodosii Macrobii commentarii in ›Somnium Scipionis‹, hg. James Willis, 2. Aufl., Leipzig 1970, I, 2, 6 – 12, Zit. I, 2, 9. Dazu Haupt, »Literarische Bildbeschreibung im Artusroman«, insbes. 570 – 576. 15 Siehe Sonja Glauch, »Inszenierungen der Unsagbarkeit. Rhetorik und Reflexion im höfischen Roman«, ZfdA 132 (2003), 148 – 176, hier 167 – 168. Zur textilen Metaphorik allgemein (in Hinblick auf ihre Formen in der älteren Literatur und deren Auswirkungen auf die Konzeptgeschichte des Textbegriffs im 20. Jh.) siehe Erika Greber, Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik (Pictura et Poesis 9), Köln / Weimar / Wien 2002. 16 In anderer Perspektive versteht Eckart Conrad Lutz die Darlegung des Quadriviums in der descriptio des Krönungsmantels als »Festlegung auf die Kosmologie, zu der die Berufung auf Macrobius vorzüglich paßt.« (Eckart Conrad Lutz, »Verschwie-
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dem Hintergrund der Stoff-Metaphorik, in Anlehnung an Volker Mertens, als »Umsetzung von Chrétiens literarhistorischer Position in einem Bild« verstanden werden.17 In den keltischen Stoff seiner Vorgänger webt Chrétien die durch die Macrobius-Berufung evozierte Tradition aus der Antike, in welche er sich als gelehrter Autor einreiht, auf kunstvolle Art ein – so dass die Verfertigung des Krönungsmantels als Metapher für die schöne conjointure gelten kann. Als Pendant zur Aussage ici fenist li premiers vers erfolgt zum Abschluss der mit dieser Aussage einsetzenden Erzähleinheit eine metaphorische Anspielung auf die Kunst des Zusammenfügens verschiedener materiae durch den gelehrten Autor in Verbindung mit einer Reflexion über den fiktionalen Charakter seines Textes. Solche intratextuellen Indizien für die conjointure als schönes und sinnschaffendes Zusammenfügen verschiedener Erzählstränge oder Traditionsstränge haben ihr Pendant in Hartmanns Bearbeitung des Chrétienschen Romans. II. Indizien für die conjointure in Hartmanns Erec Der Ausfall des Textanfangs im Ambraser Heldenbuch erlaubt nicht zu wissen, ob Hartmanns Erec einen Prolog enthielt und der deutsche Autor darin Chrétiens Reflexion über die molt bele conjointure übernahm und weiterführte. Fest steht, dass der überlieferte Erec-Text keine descriptio von Erecs Krönungsmantel aufweist, aber ein Pendant dazu anbietet: Seine poetologische Reflexion entfaltet Hartmann in der descriptio des Zelters, welchen Enite vor ihrem letzten Aufbruch zum Artushof von den zwei Schwestern des irischen Königs Guivreiz erhält.18 Das poetologische Potential der Stelle wurde in der jüngeren Forschung intensiv erarbeitet. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Hartmann, insbesondere im inszenierten Dialog mit einem fingierten Zuhörer19, weiterhin mit der Behauptung, er gene Bilder – geordnete Texte. Mediävistische Überlegungen«, DVjs 70 [1996], 3 – 47, hier 43). 17 Mertens, »Theoretische und narrativierte Narratologie«, hier 21. 18 Hierbei dürfte Hartmann in seiner Zelter-descriptio aus Chrétiens descriptio des Krönungsmantels geschöpft haben: siehe Haiko Wandhoff, Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters (Trends in Medieval Philology 3), Berlin / New York 2003, insbes. 157 – 179. 19 Zum fingierten Dialog siehe Johannes Singer, »›nû swîc, lieber Hartman: ob ich ez errâte?‹ Beobachtungen zum fingierten Dialog und zum Gebrauch der Fiktion in Hartmanns Erec-Roman (v. 7493 – 7766)«, in: Gert Rickheit, Sigurd Wichter (Hgg.), Dialog. Festschrift für Siegfried Grosse, Tübingen 1990, 59 – 74; Peter Kern, »Leugnen und Bewußtmachen der Fiktionalität im deutschen Artusroman«, in: Volker Mertens,
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habe den beschriebenen Sattel des Zelters nie gesehen20, die Rückbindung an eine faktische bzw. historische Wahrheit verleugnet, den fiktionalen Charakter seines Textes herausstellt und die Schaffung einer literarischen Wahrheit proklamiert, für welche er von seinen Rezipienten eine unbedingte Akzeptanz beansprucht. Vor diesem Hintergrund möchte ich nun Friedrich Wolfzettel (Hgg.), Fiktionalität im Artusroman. Dritte Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Artusgesellschaft in Berlin vom 13.–15. Februar 1992, Tübingen 1993, 11 – 28, insbes. 13 – 14; René Pérennec, »›dâ heime niht erzogen‹ – Translation und Erzählstil. ›Rezeptive Produktion‹ in Hartmanns Erec«, in: Hartmut Kugler (Hg.), Interregionalität der deutschen Literatur im europäischen Mittelalter, Berlin / New York 1995, 107 – 126; Geoffrey See, »›Wes möhten sie langer bîten?‹ Narrative Digressions in Hartmann von Aue’s Erec«, Neuphilologische Mitteilungen 96 (1995), 335 – 343, insbes. 341; Bernd Schirok, »›ein rîter, der gelêret was‹. Literaturtheoretische Aspekte in den Artusromanen Hartmanns von Aue«, in: Anna Keck, Theodor Nolte (Hgg.), Ze hove und an der strâzen. Die deutsche Literatur des Mittelalters und ihr ›Sitz im Leben‹. Festschrift für Volker Schupp zum 65. Geburtstag, Stuttgart / Leipzig 1999, 184 – 211, insbes. 201 – 205; Klaus Ridder, »Fiktionalität und Autorität. Zum Artusroman des 12. Jahrhunderts«, DVjs 75 (2001), 539 – 560, insbes. 546 – 552; Mireille Schnyder, »Der unfeste Text. Mittelalterliche ›Audiovisualität‹«, in: Barbara Sabel, André Bucher (Hgg.), Der unfeste Text. Perspektiven auf einen literatur- und kulturwissenschaftlichen Leitbegriff, Würzburg 2001, 132 – 153, insbes. 141 – 152; Horst Wenzel, »Repräsentation und Fiktion«, in: Ursula Schaefer, Edda Spielmann (Hgg.), Varieties and Consequences of Literacy and Orality. Formen und Folgen von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Franz H. Bäuml zum 75. Geburtstag, Tübingen 2001, 49 – 70, insbes. 53 – 59; Walter Raitz, »Literarische Unterweisung. Über Erzählerintervention und Rezeptionssteuerung in Hartmanns von Aue Erec«, in: Monika Hahn (Hg.), ›Spielende Vertiefung ins Menschliche‹. Festschrift für Ingrid Mittenzwei (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 37), Heidelberg 2002, 359 – 370; Ridder, »Fiktionalität und Medialität«, insbes. 33 – 34; Gerhard Wolf, »›bildes rehte brechen‹. Überlegungen zu Wahrnehmung und Beschreibungen in Hartmanns Erec«, in: Peter Klotz, Christine Lubkoll (Hgg.), Beschreibend wahrnehmen – wahrnehmend beschreiben. Sprachliche und ästhetische Aspekte kognitiver Prozesse (Rombach Wissenschaften, Litterae 130), Freiburg i. Br. 2005, 167 – 187, insbes. 170 – 179; Susanne Bürkle, »›Kunst‹-Reflexion aus dem Geiste der descriptio. Enites Pferd und der Diskurs artistischer meisterschaft«, in: Manuel Braun, Christopher Young (Hgg.), Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters (Trends in Medieval Philology 12), Berlin / New York 2007, 143 – 170, insbes. 163 – 167; Alexander Lasch, »›Eingreifendes Denken‹. Rezipientensteuerung aus pragmatischer Perspektive in Hartmanns von Aue Erec«, in: Horst Wenzel, Kathryn Starkey (Hgg.), Imagination und Deixis. Studien zur Wahrnehmung im Mittelalter, Stuttgart 2007, 13 – 31, insbes. 28 – 30. Siehe auch die grundlegende rhetorische Studie von Franz Josef Worstbrock, »Dilatatio materiae. Zur Poetik des Erec Hartmanns von Aue«, Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), 1 – 30, insbes. 25 – 27. 20 Dazu Wenzel, »Repräsentation und Fiktion«, insbes. 55; Glauch, »Inszenierungen der Unsagbarkeit«, 151 – 155; Marie-Sophie Masse, »Von Camillas zu Enites Pferd. Die Anfänge der deutschsprachigen descriptio im Spannungsfeld der Kulturen«, in: Jean-Marie Valentin (Hg.), Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005 (Jahrbuch für internationale Germanistik 7), Bern 2008, Bd. 7, 13 – 20.
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im Besonderen auf eine der zwei Künstlerfiguren zurückkommen, durch welche Hartmann im Rahmen der descriptio sein eigenes Schaffen reflektiert: Es handelt sich um Meister Umbrîz, der jahrelang kunstfertig an Enites Sattel arbeitet und ihn schließlich so vollbringt, wie er ihn ausgedacht hatte (v. 7467 – 7475) – so wie der Dichter den zunächst von ihm imaginierten Gegenstand dann zum literarischen Artefakt gestaltet.21 Vom Verb umberîzen (»entwerfen«) abgeleitet22, ist der Name Umbrîz wohl nicht auf ein Unverständnis der entsprechenden Stelle bei Chrétien (Uns brez taillierres, »ein bretonischer Elfenbeinschnitzer«, v. 5301) zurückzuführen. Wahrscheinlich ist von einer spielerischen Erfindung Hartmanns und, wie kürzlich in der Forschung formuliert wurde, von einer intertextuellen Beziehung zur zeitgenössischen volkssprachlichen Literatur auszugehen: Das Prinzip des sprechenden Künstlernamens erinnert an den Architekten Geometras, der im Eneasroman das wunderbare Grabmal der Amazonenkönigin Camilla errichtet.23 Dass Hartmann seinen Meister in Anlehnung an 21 Die erste Künstlerfigur ist ein werltwîser man (v. 7368), der sich in acht Jahren intensiven Nachsinnens kein besseres Pferd als das beschriebene ausdenken könnte. Dadurch wird die Kunst des Dichters gepriesen, der in seiner Vorstellung einen Gegenstand zu konzipieren weiß. Zu den Meisterfiguren der Zelterbeschreibung und ihrer poetologischen Bedeutung siehe Corinna Laude, »Quelle als Konstrukt. Literatur- und kunsttheoretische Aspekte einiger Quellenberufungen im Eneasroman und im Erec«, in: Thomas Rathmann, Nikolaus Wegmann (Hgg.), ›Quelle‹. Zwischen Ursprung und Konstrukt. Ein Leitbegriff in der Diskussion (Beihefte zur ZfdPh), Berlin 2004, 209 – 240; Christoph Huber, »Merkmale des Schönen und volkssprachliche Literarästhetik. Zu Hartmann von Aue und Gottfried von Straßburg«, in: Braun, Young (Hgg.), Das fremde Schöne, 111 – 141, insbes. 120 – 126. Meister Umbrîz als Metapher für den poeta faber Hartmann und der intertextuellen Dimension der Autorreflexion in der Zelterbeschreibung widmet Joachim Hamm eine eingehende Studie: Joachim Hamm, »Meister Umbrîz. Zu Beschreibungskunst und Selbstreflexion in Hartmanns Erec«, in: Dorothea Klein (Hg.), Vom Verstehen deutscher Texte des Mittelalters aus der europäischen Kultur. Hommage à Elisabeth Schmid (Würzburger Beiträge zur Germanistik 35), Würzburg 2011, 190 – 218. Meister Umbrîz wurde auch als Metapher des Autors Chrétien gedeutet und mit Kyot parallelisiert: Will Hasty, »Theorizing German Romance: The Excursus on Enite’s Horse and Saddle in Hartmann von Aue’s Erec«, Seminar: A Journal of Germanic Studies 43.3 (2007), 253 – 264. 22 Zum Namen Umbrîz als Nomen agentis zum Verbum umberîzen: Lutz, »Verschwiegene Bilder – geordnete Texte«, hier 42. 23 Die Hypothese wurde gleichzeitig von Volker Mertens und Joachim Hamm geäußert (Mertens, »Theoretische und narrativierte Narratologie«, hier 25 – 26); siehe auch ders., »Enites Sattel und andere Bezüge auf den Eneasroman – oder: Kein Stil ohne Semantik«, in: del Duca (Hg.), Un transfert culturel au XIIe siècle, 129 – 140, hier 138; Hamm, »Meister Umbrîz«, insbes. 214 – 218. Corinne Laude hatte Meister Umbrîz und Geometras parallelisiert, ohne aber auf intertextuelle Beziehungen näher einzugehen (Laude, »Quelle als Konstrukt«).
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Veldekes Meister einführte, ist um so plausibler, als die von Umbrîz geschnitzten Sattelbögen Eneas’ Geschichte zur Schau tragen. Nun findet sich unmittelbar vor der Wiedergabe der Eneas-Erzählung in der Zelter-descriptio eine in der Forschung weniger kommentierte Stelle, welche ausführt, wie Umbrîz den Sattel aus Elfenbein, Edelsteinen und Gold verfertigt: von disen mâterjen drin sô hâte des meisters sin geprüevet diz gereite mit grôzer wîsheite. er gap dem helfenbeine und dâ bî dem gesteine sîn gevellige stat, als in diu gevuoge bat. er muosete dar under den goltlîm besunder, der muoste daz werc zesamene haben. an disem gereite was ergraben daz lange liet von Troiâ.24 (v. 7534 – 7546)
Mehrere lexikalische Indizien laden zu einer poetologischen Deutung der Stelle ein: zuerst das Wort meister, mit welchem Hartmann an zwei Stellen in der Zelterbeschreibung auf Chrétien hinweist,25 weiterhin das Wort mâterje, welches an den rhetorischen Terminus materia erinnert, schließlich das den künstlerischen Sinn bezeichnende Wort gevuoge, welches unter anderem an eine Stelle im Prolog des Liet von Troye anklingt, an welcher Herbort von Fritzlar die gelungene fuge seiner romanischen Vorlage lobt.26 Im Übrigen findet sich das Verb gefuogen in der descriptio von Camillas Grab im Eneasroman (v. 948527): Im Zusammenhang mit dem Verb muosen (v. 9479), welches ebenfalls im oben zitierten Erec-Passus vorkommt, bezeichnet es die Kunst des Mosaiks, welche von Geometras wie von Umbrîz beherrscht wird. In beiden Fällen dürfte somit auf die 24 Zitiert wird Hartmanns Erec nach folgender Ausgabe: Hartmann von Aue, Erec, mhd. / nhd., hg., übers. und komm. Volker Mertens (RUB 18530), Stuttgart 2008. 25 »Des hôrte ich im den meister jehen«, v. 7299; »als uns der meister seite«, v. 7462. Zum Diskurs über meisterschaft in der Zelter- und Sattelbeschreibung siehe Bürkle, »›Kunst‹-Reflexion aus dem Geiste der descriptio«. 26 »Diz buch ist franzoys und walsch / Sin fuge ist gantz und ane falsch« (Herbort’s von Fritslâr Liet von Troye, hg. Ge. Karl Frommann [Quedlinburg / Leipzig 1837], Nachdr. Amsterdam 1966, v. 47 – 48). 27 Ich beziehe mich auf folgende Edition des Eneasromans: Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Die Berliner Bilderhandschrift mit Übersetzung und Kommentar, hg. Hans Fromm. Mit den Miniaturen der Handschrift und einem Aufsatz von Dorothea und Peter Diemer (Bibliothek des Mittelalters 4), Frankfurt a. M. 1992.
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Kunst des Autors verwiesen werden.28 Indem Veldeke das schöne Grabmal mit seinen harmonischen Proportionen lobt, bringt er sein eigenes Schaffen zur Geltung: Als Bearbeiter des Roman d’Eneas ist er tatsächlich ein Architekt der Erzählung, der Parallelismen und Spiegeleffekte hervorhebt oder hinzufügt und somit die schöne dispositio seiner Vorlage herausarbeitet bzw. eine neue dispositio schafft.29 Ebenso erscheint die Kunst des Elfenbeinschnitzers Umbrîz als eine Metapher für das literarische Schaffen: So wie Umbrîz verschiedene mâterjen zu einem schönen Mosaik zusammenfügt, gestaltet Meister Hartmann aus verschiedenen literarischen Stoffen und Traditionssträngen eine molt bele conjointure.30 In poetologischer Hinsicht besteht der Unterschied zu Veldekes Position darin, dass Letzterer sich – zumindest explizit – nicht von der Bindung an eine historische Wahrheit loslöst, während Hartmann seine metaphorische Darstellung des literarischen Schaffensprozesses in seine Reflexion über Fiktionalität einbettet. Ferner fungiert die über fünfhundert Verse umfassende Zelter-descriptio als Pendant zu einem anderen Passus des Romans: Sie erscheint als amplificatio der kurzen Beschreibung, welche Hartmann in Anlehnung an Chrétien dem Pferd widmet, das Enite zum Schluss der Sperber-âventiure von einer Cousine erhält, bevor sie sich mit Erec auf den Weg zum Artushof macht. Auf der inhaltlichen Ebene übertrifft das zweite Pferd das erste in Hinsicht auf seine Schönheit und seinen wunderbaren Charakter. Auf der Metaebene steigern die in die zweite descriptio eingebetteten Kommentare die Erzählerauftritte innerhalb der ersten: Auf die der ersten Beschreibung vorangestellte Bemerkung, niemand habe zuvor ein schöneres Pferd erhalten, antwortet zu Anfang der zweiten descriptio die einem fiktiven Zuhörer zugeschriebene rhetorische Frage, ob das zweite Pferd schöner sei als das erste (v. 1423 – 1425 und 7286 – 7289), und während die tatsächlich kurze Beschreibung des ersten Pferdes mit einer Brevitas-Formel schließt, wird 28 Zur Mosaikkunst als Metapher der Schreibkunst im Roman des 12. Jahrhunderts siehe Emmanuèle Baumgartner, »Benoît de Sainte-Maure et l’art de la mosaïque«, in: Luciano Rossi (Hg.), ›Ensi firent li ancessor‹. Mélanges de philologie médiévale offerts à Marc-René Jung, 2 Bde., Alessandria 1996, Bd. 1, 295 – 307. 29 Siehe Marie-Sophie Masse, La description dans les récits d’Antiquité allemands (fin du XIIe–début du XIIIe siècle). Aux origines de l’adaptation et du roman (Nouvelle Bibliothèque du Moyen Age 68), Paris 2004; und in einer ergänzenden Perspektive dazu: Mertens, »Enites Sattel und andere Bezüge auf den Eneasroman«. 30 Eine solche Interpretation der Figur findet sich im Ansatz in Barbara Haupt, »Literaturgeschichtsschreibung im höfischen Roman. Die Beschreibung von Enites Pferd und Sattelzeug im Erec Hartmanns von Aue«, in: Klaus Matzel, Hans-Gert Roloff (Hgg.), Festschrift für Herbert Kolb zu seinem 65. Geburtstag, Bern u. a. 1989, 202 – 219, hier 215 – 216.
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der Topos von Hartmann in der zweiten descriptio im Laufe der überaus langen Sattelbeschreibung in spielerisch-ironischem Modus wieder eingesetzt (v. 1446 – 1453 und 7487 – 7492). Auch durch den Kontext, in welchen die zweite descriptio eingebettet ist, erscheint sie als Steigerung der ersten. Enite erhält ihr Pferd jeweils vor ihrem ersten und ihrem letzten Aufbruch mit Erec zum Artushof31: Im ersten Fall markiert die descriptio den Abschluss der Sperber-Episode und somit der ersten âventiure von Erec, im zweiten Fall befindet sich die descriptio zum Schluss des zweiten Handlungszyklus.32 Bezeichnenderweise findet sich an beiden Stellen, wenn auch keine explizite Aussage zur Struktur des Werkes wie in Chrétiens Roman am Ende des premiers vers, so doch, wie mir scheint, jeweils ein Indiz für die conjointure – diesmal als schönes Zusammenfügen zweier Erzählstränge innerhalb des Romans. Es ist nämlich beim ersten Aufbruch von Erec und Enite nach der descriptio des ersten Pferdes folgender Kommentar zum neuen Paar zu lesen: ir herze wart der minne vol: si gevielen beide ein ander wol und ie baz unde baz. dâ envant nît noch haz ze blîbenne dehein vaz: triuwe und stæte si besaz. (v. 1492 – 1497)
Die Stelle ist deshalb bemerkenswert, weil sie einen der insgesamt fünf Vierreime innerhalb des Erec aufweist33, aber auch weil der Paarreim haz:vaz zwei weitere Male in Hartmanns Werk vorkommt: zunächst in seinem frühen Minnetraktat Die Klage34, dann im späteren Iwein, in welchem er als wiederkehrender Reim den Passus unmittelbar vor dem Kampf zwischen Iwein und Gawein durchflicht35. Es scheint so, als möchte Hartmann hier 31 Auch wenn das Paar im zweiten Fall sein Ziel erst nach einem langen Umweg über Brandigan erreicht. 32 Ich greife hier auf die von Hugo Kuhn eingeführte Terminologie zur Struktur des Erec zurück (Hugo Kuhn, »Erec«, in: Festschrift Paul Kluckhohn und Hermann Schneider, gewidmet zu ihrem 60. Geburtstag, Tübingen 1948, 122 – 147). 33 Siehe Wolfgang Achnitz, »Die Bedeutung der Drei- und Vierreime für die Textgeschichte des Erec Hartmanns von Aue«, Editio 14 (2000), 130 – 143, insbes. 135 – 137. 34 Der Reim taucht im Zusammenhang mit der Allegorie des krutzouber auf: und swem also gelinget / daz er si [die Kräuter, d. h. die Tugenden] zesamen bringet, / der sol si schütten in ein vaz: / daz ist ein herze ane haz. (Hartmann von Aue, Die Klage. Das [zweite] Büchlein aus dem Ambraser Heldenbuch, hg. Herta Zutt, Berlin 1968, v. 1319 – 1322).
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unsere Aufmerksamkeit auf eine wichtige jointure seines Textes bzw. auf die Verknüpfung zweier Erzählstränge innerhalb seines Romans lenken – und zwar an der Stelle, an der Erecs Weg von nun an Enite mit einschließt. Diese Hypothese wird dadurch untermauert, dass ein weiterer auffälliger Reim, diesmal im Moment des letzten Aufbruchs nach der descriptio des zweiten Pferdes, begegnet. An dieser Stelle lobt Hartmann die zwei Schwestern von Guivreiz, von welchen Enite das Pferd erhält, mit folgenden Worten: swâ mite ein wîp gedienen sol daz si gote und der werlde wol von schulden muoz gevallen, des phlâgen si âne gallen, mîn vrouwe Filledâmûr und ir swester Genteflûr. (v. 7782 – 7787)
Der deutsche Autor reimt zwei französisch klingende Namen miteinander, die er nicht von Chrétien übernimmt, sondern wahrscheinlich selbst erfindet: Auch dies könnte ein spielerisches Indiz für die conjointure des Romans sein – an der Stelle, an der Enites Weg mit dem ausführlich beschriebenen Zelter seinen Höhepunkt erreicht. Dieses Indiz dürfte kein Zufall sein, insofern die Figuren der zwei Schwestern mit einem weiteren Motiv verbunden sind, welches meines Erachtens im Zusammenhang mit der von Hartmann entwickelten Reflexion über conjointure und Fiktionalität gedeutet werden kann. III. Das phlaster als Metapher für die conjointure im Erec Während der Penefrec-Episode, welche mit der Zelterbeschreibung und dem darauf folgenden letzten Aufbruch zum Artushof schließt, wird Erec von den zwei Schwestern des Guivreiz gepflegt, welche seine ihm vom irischen König zugefügte Wunde heilen. In Erec et Enide wird der Heilungsprozess genau beschrieben: Chrétien erwähnt, wie die Schwestern zunächst das tote Fleisch abschneiden, Pflaster und Verbände (antrait et tante, v. 5159) auflegen, dann regelmäßig die Wunde waschen und wieder Pflaster darauf legen, wie sie Erec viermal am Tag ernähren und ihn dabei vor Knoblauch und Pfeffer bewahren (v. 5158 – 5166). Hartmann geht nicht auf solche konkreten Einzelheiten ein, dagegen fügt er zwei Erzählerkommen35 v. 7015 – 7054 (Hier und im Folgenden beziehe ich mich auf folgende Edition: Hartmann von Aue, Gregorius. Der arme Heinrich. Iwein, hg. und übers. Volker Mertens [Bibliothek des Mittelalters 6], Frankfurt a. M. 2004).
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tare hinzu.36 Der zweite von ihnen betrifft das von den Pflegerinnen verwendete phlaster – wobei man sich unter dem mittelhochdeutschen Substantiv, wie unter dem altfranzösischen Wort antrait oder unter der Kombination antrait et tante eine mit einer Salbe bestrichene Binde vorzustellen hat37: si heten des phlasters ein teil dâ von ich ê gesaget hân, daz dâ Fâmurgân hâte gemachet mit ir hant. des hâte in ze gebe gesant vrouwe Ginovêr ein teil. daz was ouch dises mannes heil. (v. 7225 – 7731)
Unabhängig von Chrétien verweist Hartmann auf einen früheren Passus im Roman, an der Artikulationsstelle zwischen der ersten und der zweiten Abenteuerreihe innerhalb des zweiten Handlungszyklus, als Erec nach seinem ersten Kampf gegen Guivreiz bei einer Zwischeneinkehr am Artushof von der Königin geheilt wird. An dieser Stelle verwendet Ginover das phlaster von Artus’ Schwester Feimurgan, welcher Hartmann, eine entsprechende Stelle von Chrétien erweiternd, eine lange digressio widmet. Gegenüber der Zauberin, welche in Widerspruch zu Gott lebe und eine Gesellin des Teufels sei, nimmt Hartmanns Erzähler zunächst eine kritische Haltung ein, bevor der Exkurs einen lobenden Ton annimmt: sît daz Sibillâ erstarp und Erictô verdarp, von der uns Lûcânus zalt daz ir zouberlîch gewalt swem si wolde gebôt, der dâ vor was lange tôt, daz er erstuont wol gesunt, von der ich iu hie zestunt nû niht mêre sagen wil,
36 Der erste Kommentar besteht in einer rhetorischen Frage zur Identität von Erecs Arzt: wer solde nû sîn arzât sîn, / der heilte sîne wunden? (v. 7207 – 7208). 37 Zum Wort phlaster siehe Christine Wand-Wittkowski, »Die Zauberin Feimurgan in Hartmanns Erec. Ein Beispiel für phantastisches Erzählen im Mittelalter«, Fabula 38 (1997), 1 – 13, hier Anm. 1, 1. Das altfranzösische Substantiv entrait kann entweder ein mit Salbe bestrichenes Wundpflaster oder eine Salbe, das Wort tente einen Scharpiebündel oder ein Pflaster bezeichnen: siehe Adolf Tobler, Erhard Lommatzsch, Altfranzösisches Wörterbuch, Bd. 3, Wiesbaden 1953, 619 und Bd.10, Wiesbaden 1974, 234 – 235; Frédéric Godefroy, Dictionnaire de l’ancienne langue française et de tous ses dialectes du IXe au XVe siècle, Bd. 3 [Paris 1881], Nachdr. Genf / Paris 1982, 274 – 275.
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wan es würde ze vil: sô gewan daz ertrîche, daz wizzet wærlîche, von zouberlîchem sinne nie bezzer meisterinne danne Fâmurgân, von der ich iu gesaget hân. (v. 5216 – 5231)
Im Zusammenhang mit der Figur des Meisters Umbrîz regt die Verwendung des Wortes meisterinne zu einer poetologischen Interpretation an, welche durch die seit der Antike immer wieder thematisierte Beziehung zwischen Dichtkunst und Zauberkunst unterstützt wird.38 Im Übrigen steht fest, dass Hartmann hier – unabhängig von Chrétien – Berufungen auf die antik-gelehrte Tradition mit der aus der keltischen Tradition stammenden Figur der Feimurgan in Verbindung bringt.39 Vor diesem Hintergrund möchte ich das phlaster-Motiv als eine Metapher poetologischer Art verstehen: Der die Gewebe zusammenhaltende Verband könnte wohl auf die Kunst des Autors verweisen, welcher im Textgewebe den keltischen Stoff und sein an die antike Tradition anknüpfendes gelehrtes Wissen40 zusammenhält. Ähnlich wie Chrétien in der descriptio des Krönungsmantels versinnbildlicht Hartmann auf metaphorische Art seine Kunst der conjointure als schönes Zusammenfügen verschiedener Traditionsstränge.
38 Man denke nur an die weit verbreitete Vorstellung des Dichters als Zauberers, zum Beispiel in Horaz, Ep. II, 1, »Ad Augustum«, v. 210 – 213. Siehe zu diesem Punkt Kathrin Kohl, Poetologische Metaphern. Formen und Funktionen in der deutschen Literatur, Berlin / New York 2007, insbes. 389 f. Eine solche Interpretation kann im Übrigen mit den Namen Sibilla und Erichtho näher in Einklang gebracht werden. Als gelehrte Figur, welche Eneas durch die Hölle den Weg zeigt, wurde die Sibilla des Roman d’Enéas als Spiegelfigur des mittelalterlichen gelehrten Autors gedeutet, welcher sein Publikum durch seinen Text führt (Francine Mora-Lebrun, L’Enéide médiévale et la naissance du roman [Perspectives littéraires], Paris 1994, 189). Die grausige Zauberin Erichtho aus der Pharsalia ihrerseits kann als Verkörperung einer von Lukan vertretenen Poesie und Poetik des Ungeheuren gelten (JeanChristophe De Nadaï, Rhétorique et poétique dans la ›Pharsale‹ de Lucain. La crise de la représentation dans la poésie antique [Bibliothèque d’études classiques 19], Löwen / Paris 2000, 151 – 172). 39 Gleichzeitig schöpft Hartmann hier sowohl aus antiken Quellen (Vergil, Lukan, Ovid) als auch aus der Vita Merlini von Geoffrey of Monmouth (siehe dazu den Kommentar von Manfred Günter Scholz in seiner Edition: Hartmann von Aue, Erec, hg. Manfred Günter Scholz, übers. Susanne Held [Bibliothek des Mittelalters 5], Frankfurt a. M. 2004, 811 – 813). 40 Dieses Wissen schlägt sich sowohl in einem rhetorischen Können als auch in einer inhaltlichen Kenntnis der antiken Literatur nieder – was Hartmann wiederum mit seinem Vorgänger Veldeke verbindet.
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Gleichzeitig ist das phlaster von Feimurgan genauso wie die Figur von Meister Umbrîz mit der Reflexion über Fiktionalität verbunden. In Chrétiens Roman ist das Heilmittel durch seine feenhafte Herkunft und durch seine kurierende Kraft, welche jegliche Wunde innerhalb einer Woche unfehlbar heilt (v. 4195 – 4202), eindeutig dem Bereich des Wunderbaren zuzuordnen. Hartmann scheint in diesem Punkt etwas zurückhaltender, wie dies Manuela Niesner in einem Aufsatz zur poetologischen Aussage des Feimurgan-Exkurses herausstellte.41 Im Erec kuriert das phlaster nicht alle Wunden, sondern nur »manche« (manec, v. 5135), seine Kraft ist zeitbefristet – Erecs Wunde bricht kurz danach in der Cadoc-Episode wieder auf (v. 5716 – 5719) –, außerdem heilt es niht ze sêre, / wan ze rehter mâze genuoc (v. 5139 – 5140): Die gängige, in dem Kontext etwas sonderbar anmutende Idealisierungsformel lasse auf eine ironische Diskrepanz zwischen Rhetorik und Inhalt schließen, die den gesamten phlaster-Exkurs charakterisiere. Insgesamt erscheine das phlaster zwar als ein gutes, wirksames, aber kein wunderbares Heilmittel. Hartmann, welcher in seinem ganzen Roman die mirabilia eher sparsam einsetze, lege eine distanzierte Haltung zum wunderbaren Stoff an den Tag, um als Kontrast dazu dessen literarische Verarbeitung durch die conjointure zur Geltung zu bringen: Der Exkurs zeige den Unterschied zwischen einem Erzählen, das das wunder um seiner selbst willen als bloße Effekthascherei einsetzt, und einem Erzählen, in dem das Wunderbare Träger der fiktionalen Sinnstruktur ist. Damit demonstriert Hartmann zugleich den Unterschied zwischen ›Lüge‹ als einer ihrem Sinngehalt nach nichtigen Erfindung und fiktionaler Dichtung, die von einer inneren Wahrheit und Folgerichtigkeit getragen wird […].42
Nun wird das von Hartmann verantwortete Erzählen nicht nur im Exkurs reflektiert, sondern, wenn man meiner Hypothese folgen mag, am phlaster selbst veranschaulicht, welches die im Rahmen der conjointure gelungene Verknüpfung zwischen dem wunderbaren Stoff aus der keltischen Tradition und der Einschreibung in eine antik-gelehrte Tradition veranschaulicht.
41 Manuela Niesner, »Das Wunderbare in der conjointure. Zur poetologischen Aussage des Feimurgan-Exkurses in Hartmanns Erec«, ZfdA 137 (2008), 137 – 157. Siehe auch Jeff Rider, »De l’énigme à l’allégorie: l’adaptation du ›merveilleux‹ de Chrétien de Troyes par Hartmann von Aue«, Romania 112 (1991), 100 – 128, insbes. 101 – 111: Jeff Rider deutet das Zaubermittel im Erec – zusammen mit der Salbe im Iwein – in thematischer und struktureller Hinsicht, aber auch als Zeichen für den artifiziellen, erfundenen, fiktionalen Charakter des Romans. 42 Manuela Niesner, »Das Wunderbare in der conjointure«, hier 156.
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Ein solches Erzählen kann nur von einem gelehrten Autor hervorgebracht werden, so wie sich Hartmann unter anderem zu Anfang seines Iwein darstellt: Ein rîter, der gelêrt was / unde ez an den buochen las, […] der tihte diz mære (v. 21 f. und 30). Man weiß, dass der selbstbewusste Autor im weiteren Verlauf des Prologs seines zweiten Artusromans auf die Eigenart des mære zurückkommt, indem er den prologus ante rem des Yvain umdeutet. Chrétien bedauert, dass die höfische Liebe, die zur ArtusZeit würdige Anhänger und Schüler hatte, zu seiner Zeit zum Gegenstand von Fabeln und Lügen (fable et mançonge, v. 2743) geworden sei: Aus diesem Grund solle von den höfisch Liebenden aus der damaligen Zeit erzählt werden. Hartmann nimmt zwar den Topos der laudatio temporis acti wieder auf, indem er das damalige höfisch-ritterliche Leben am Artushof lobt, fügt aber gleich hinzu: mich jâmert wærlîchen, unde hulfez iht, ich woldez clagen, daz nû bî unsern tagen selch vreude niemer werden mac, der man ze den zîten pflac. doch müezen wir ouch nû genesen. ichn wolde dô niht sîn gewesen, daz ich nû niht enwære, dâ uns noch ist ir mære sô rehte wol wesen sol: dâ tâten in diu werc vil wol. (v. 48 – 58)
Das Lob der Vergangenheit wird durch die inszenierte »Verflechtung von werc und mære, von lebensweltlicher Faktizität und literarischer Fiktionalität«44 dialektisch aufgehoben: Gegenüber den Fakten gilt die Erzählung der Fakten als überlegen. Implizite Voraussetzung dafür ist, dass die Fakten in einen sinnschaffenden und deshalb auch schönen Deutungszusammenhang – in eine molt bele conjointure – gebracht werden.45 Gepriesen wird die literarische Fiktion, welche von der kurz zuvor dargestellten Figur des gelehrten Autors hervorgebracht wird. Im Laufe der Erzählung wird dann die Reflexion über das fiktionale maere auf bemerkenswerte Weise im Zusammenhang mit dem Motiv der 43 Ich beziehe mich auf folgende Edition von Yvain: Chrétien de Troyes, Yvain ou le chevalier au lion, hg. Karl D. Uitti, übers. Philippe Walter, in: Chrétien de Troyes, Œuvres complètes, hg. Daniel Poirion (Bibliothèque de la Pléiade), Paris 1994. 44 Ridder, »Fiktionalität und Autorität«, hier 458. 45 Ich stütze mich hier auf Volker Mertens’ Kommentar zu seiner Übersetzung des Iwein (Hartmann von Aue, Gregorius. Der arme Heinrich. Iwein, 978).
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Salbe von Feimurgan inszeniert. Man erinnert sich, dass Iwein sein Versprechen an seine Frau Laudine vergisst, innerhalb eines Jahres von seinen ritterlichen âventiuren zurückzukommen, von ihr deshalb verstoßen wird, in Wahnsinn verfällt und sich in diesem Zustand zurückgezogen im Wald aufhält: Dort wird er von einer Dame der Gräfin von Narison entdeckt und mit der Zaubersalbe geheilt. Als er dadurch wieder zu sich kommt, findet sich ein langer Selbstmonolog, der von Hartmann hinzugefügt wird: Der Protagonist, der in diesem Moment überzeugt ist, ein armer Bauer zu sein, erzählt sich selbst, wie er geträumt hat, als Artusritter ein ruhmreiches Leben zu führen, Gawein als Gesellen zu haben, sich ein Land und eine Frau erkämpft zu haben und sein Versprechen an seine Frau, nicht länger als ein Jahr fortzureiten, gebrochen zu haben. Zum Schluss kommentiert Hartmanns Erzähler: Alsus was er sîn selbes gast, daz im des sinnes gebrast, ob er ie rîter wart unde alle sîn umbevart die heter in dem mære als ez im getroumet wære. (v. 3563 – 3568)
Der Protagonist hält das für einen Traum und eine Erfindung, was im Rahmen von Hartmanns Erzählung als ›wahr‹ gilt: Die Erzählung des intradiegetischen Erzählers Iwein reproduziert die ›Wahrheit‹ der vom gelehrten Autor hervorgebrachten Fiktion.46 Hierbeit fungiert die Salbe als Auslöser des mære bzw. einer Erzählung, welche schließlich als ›wahre Fiktion‹ erscheint. Auf diese Weise wird das poetologische Potential des Feimurgan-phlaster im Erec – so meine These – rückwirkend durch den Iwein bestätigt. Hartmann, der in seiner Bearbeitung des phlaster-Exkurses eine spielerische Distanz zur Erzählweise ohne conjointure andeutet, versinnbildlicht darüber hinaus am phlaster selbst seine eigene literarische Tätigkeit. Der die Gewebe zusammenhaltende Verband verweist auf die conjointure, auf das schöne und sinnbildende Zusammenfügen des keltischen Stoffs mit der schriftlich-gelehrten Tradition, welches von der im Iwein-Prolog dargestellten Figur des gelehrten Autors hervorgebracht wird. Auf diese Weise entsteht, ähnlich wie durch die Wirkung der Feimurgan-Salbe auf 46 Siehe Manfred Kern, »Iwein liest Laudine. Literaturerlebnisse und die ›Schule der Rezeption‹ im höfischen Roman«, in: Matthias Meyer, Hans-Jochen Schiewer (Hgg.), Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag, Tübingen 2002, 385 – 414, insbes. 411.
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Iwein, ein fiktionales mære, das heißt eine literarische wahrheitstragende Erzählung. Vielleicht lässt sich auch dadurch erklären, warum im Erec die mit dem phlaster geheilte Wunde beim ersten Mal gleich danach wieder aufbricht: Erst beim Wiederauftauchen des Motivs im Zusammenhang mit der Zelterbeschreibung, in welcher die Wahrheit der literarischen Fiktion proklamiert wird, kann das literarische phlaster auch tatsächlich wirken. Ausgehend von Chrétiens Erec et Enide-Prolog und von seiner Aussage ici fenist li premiers vers lässt sich die conjointure gleichzeitig als schöne und sinnschaffende Verknüpfung zweier Erzählstränge und als Zusammenfügen verschiedener Traditionsstränge verstehen. Vor diesem Hintergrund sind im Erec mehrere Indizien für die conjointure und für ihr Verständnis durch Hartmann zu finden: einerseits die auffälligen Reimspiele am Ende der Sperber-âventiure und am Ende des zweiten Handlungszyklus als Hinweise auf die schöne und sinntragende Verknüpfung von Enites Schicksal mit der Erec gewidmeten Erzählung, andererseits die von Umbrîz beherrschte Kunst des Mosaiks in der Zelterbeschreibung sowie das phlaster von Feimurgan als Metaphern für das Zusammenfügen des keltischen Stoffs mit der schriftlich-gelehrten Tradition aus der Antike. Beide Metaphern sind weiterhin mit der Reflexion über Fiktionalität verbunden, genauer gesagt mit der Behauptung einer gelehrten Autorfigur, welche allein eine schöne und sinntragende Struktur, und damit zusammenhängend eine wahrheitstragende Fiktion zu schaffen weiß. Vor dem Hintergrund des Iwein lässt sich am phlaster-Motiv die Verflechtung von conjointure und Fiktionalität und somit das Neuartige der damals im Entstehen begriffenen schriftlichen Literatur in der Volkssprache ablesen. Auf bemerkenswerte Weise radikalisiert Hartmann die poetologische Reflexion seines romanischen Vorgängers unter anderem dadurch, dass er sie auf andere Metaphern transponiert: Während Erecs Krönungsmantel bzw. seine Krönung in Nantes durch Artus mit dem sozio-historischen Kontext eng verbunden ist und möglicherweise ein historisches Indiz für die Genese des Chrétienschen Romans liefert,47 sind der 47 Erecs Krönung kann als Anspielung auf den Hoftag Heinrichs II. Plantagenêt 1169 in Nantes verstanden werden: siehe Beate Schmolke-Hasselmann, Der arthurische Versroman von Chrestien bis Froissart. Zur Geschichte einer Gattung (Beihefte zur ZfrPh 177), Tübingen 1980, insbes. 190 – 201; dies., »Henry II Plantagenêt, roi d’Angleterre, et la genèse d’Erec et Enide«, Cahiers de Civilisation Médiévale 24 (1981), 241 – 246; und neulich William Henry Jackson, Chivalry in Twelfth-Century Germany. The Works of Hartmann von Aue (Arthurian Studies 34), Cambridge 1994, insbes. 14 – 15; Volker Mertens, Der deutsche Artusroman (RUB 17609), 2. Aufl., Stuttgart 2007, 42 – 43; Eckart Conrad Lutz, »Herrscherapotheosen. Chres-
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wunderbare Zelter von Enite sowie das phlaster von Feimurgan endgültig im Bereich der Fiktion verankert.
tiens Erec-Roman und Konrads Karls-Legende im Kontext von Herrschaftslegitimation und Heilssicherung«, in: Christoph Huber, Burghart Wachinger, Hans-Joachim Ziegeler (Hgg.), Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters, Tübingen 2000, 89 – 104, insbes. 97 – 102.
Der religiöse und historische Hintergrund in Hartmanns Erec Von Patrick del Duca Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist folgende These: Um Chrétien de Troyes zu verstehen, muss man die Conjointure und die Suche nach einem Gleichgewicht zwischen Liebe und Tapferkeit, individuellem Glück und sozialem Engagement berücksichtigen. Chrétiens erster Artusroman, Erec et Enide, bleibt vom Anfang bis zum Ende durchaus logisch und kohärent. Der französische Autor erzählt immer konsequent und unterscheidet sich somit grundsätzlich von jenen Berufsdichtern, die er in seinem Prolog kritisiert, weil sie ihre Geschichten nur zerstückeln und verderben. Hartmann verfährt seinerseits ideologisch: Er setzt andere Akzente als Chrétien und entwirft ein ideales Bild des Rittertums, das an Erec exemplifiziert wird. Ihm geht es darum, einen Mittelweg zwischen einer weltlichen und einer geistlichen Perspektive zu finden. Der moderne Leser sollte also von dieser religiös geprägten Ideologie und von der neuen ideologischen Ausrichtung des Stoffes (und eben nicht primär von der Struktur des Textes) ausgehen, um sowohl Erecs Entwicklung als auch gewisse Veränderungen zu verstehen, die Hartmann am französischen Text vorgenommen hat. I. Erec als vorbildlicher Ritter 1. Erec und Iders: Kritik an der schlechten Ritterschaft und Vorwegnahme der Konfrontation mit Mabonagrin Schon die erste Konfrontation zwischen Erec und Iders verläuft ganz anders als bei Chrétien: Hartmann verzichtet auf die symbolische Gegenüberstellung von zwei Trios: Im französischen Roman wird ein Kontrast zwischen Schönheit und höfischem Verhalten einerseits, sowie Bosheit, Gewalt und Hochmut andererseits symbolisch herausgearbeitet. Der deutsche Bearbeiter verzichtet auf diese symbolische Opposition (im deutschen Roman wird die Königin von mehreren Hofdamen begleitet) und er verlegt die
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Handlung auf eine Heide, während bei Chrétien die erste Begegnung mit Ydiers in einem Wald stattfindet. Darüber hinaus hat er aus einem fünfundzwanzigjährigen Ritter, der sich schon bewährt hat und am Hofe hochgeschätzt wird, einen jungen, unerfahrenen Mann gemacht, der noch keinen ritterlichen Kampf zu bestehen hatte. Auf die Bedeutung dieser Veränderungen werde ich später zurückkommen. Dem aufmerksamen Leser fällt ein weiterer Unterschied auf: Bei Chrétien tritt Ydiers als überheblicher, hoffärtiger Ritter auf. Als Erec sich für die erlittene Demütigung vor der Königin rechtfertigt, verweist er ausdrücklich auf den Hochmut dieses Ritters, der nicht davor zurückgeschreckt wäre, ihn aus Anmaßung zu erschlagen: tot m’oceïst par son orguel (v. 244, »In seinem großen Hochmut hätte er mich schnell erschlagen«). Dieser Ritter sei hinterlistig und vermessen (molt felon et desmesuré, v. 228). Bei Chrétien verkörpert dieser Ritter dennoch nicht jene schlechte Ritterschaft, die die Kirche seit dem zehnten Jahrhundert und dem Beginn der Treuga Dei-Bewegung (Gottes Waffenruhe) regelmäßig anprangert: Trotz Erecs Furcht wird der hochmütige Ritter nicht zum potentiellen Mörder stilisiert. Bei Hartmann trägt am Anfang der Episode vor allem der Zwerg den größten Teil der Schuld. Dem Ritter wird nur vorgeworfen, dass er das unhöfische Treiben des Zwerges duldet (v. 66 ff.): Somit sei er kein vrumer man. Bei dieser ersten Begegnung gewinnt der Leser den Eindruck, dass Hartmann das Rittertum schonen will, indem er kein allzu schlechtes Bild von ihm zeichnet. Auf jeden Fall wird die Kritik im Moment – und auch nur vorläufig – entschärft oder wenigstens gemildert. Die eigentliche Opposition zwischen zwei Auffassungen von der Ritterschaft wird auf später verschoben. Wichtig ist in dieser Hinsicht auch die Szenerie. Bei Chrétien findet die Begegnung mit dem hochmütigen Ritter im Wald statt, bei Hartmann spielt die gleiche Szene auf der Heide. Die Heide erscheint als neutrales Gebiet, wo sonst typisch ritterliche Kämpfe ausgetragen werden: Auch die Tjost gegen Iders, sowie das Turnier, das auf das Hochzeitsfest folgt, und der erste Kampf gegen Guivreiz finden auf einer Heide statt (v. 930; v. 2455; v. 4416 / 4510). Die Heide bildet die höfische Antithese zum Wald, der als gefährlicher, wilder Ort fungiert, wo allerlei Außenseiter und Monster potentiellen Opfern auflauern (auf die symbolische Bedeutung des Waldes bei Hartmann hat schon Françoise Salvan-Renucci hingewiesen;1 Sie zieht jedoch eine Parallele zwischen Erecs Entwicklung und der Behandlung des Wald-Motivs, die dem Sinn des Textes nicht entspricht). Erec verlässt die 1 Françoise Salvan-Renucci, »âne holz niwan heide: Der Wald im Erec Hartmanns von Aue«, Etudes Médiévales 9 – 10 (2008), 69 – 95.
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Heide, bevor er in den Wald eindringt, wo Räuber wohnen, und bevor er nach Brandigan kommt: Die Heide ist hier die Übergangsstation zwischen der Zivilisation und einer gefährlichen Sphäre, wo der Mensch unberechenbaren Mächten ausgeliefert wird. Obwohl während dieser Episode die Beziehungen zwischen Erec und Enite sehr gespannt sind, bleibt die Heide ein Ort relativen Friedens, ein Ort, der nicht finster ist, sondern vom Mond beleuchtet wird (schône schein der mâne, v. 3110). Auf einer Heide tauschen Erec und Enite ihre ersten Liebesblicke (v. 1485): Auch hier erscheint die Heide als höfische Szenerie, die den idealen Hintergrund für eine entstehende Minne abgibt. Diese Unterscheidung zwischen Heide und Wald fehlt bei Chrétien: Im französischen Roman bekämpft Erec die beiden Riesen auf einer Heide, zwischen zwei Wäldern (v. 4405). Dort wird die lande nur einmal erwähnt, als Erec nach dem Kampf gegen die Raubritter sich unter einem Baum auf einer Heide ausruht (v. 3099). Die Veränderung scheint ihren Grund in Hartmanns besonderem Anliegen zu haben: Bei Hartmann ist von vorneherein jegliche Parallele zwischen einem – wenn auch nicht tadellosen – Ritter wie Iders und gemeinen Räubern oder brutalen Riesen ausgeschlossen. Iders tritt also in einer Umgebung auf, die seiner und seines ritterlichen Status würdig ist. Die gleiche symbolische Bedeutung der Heide findet sich auch im Iwein: Vor dem Abenteuer, das auf der Burg zum Schlimmen Abenteuer stattfindet, sucht eine Botin nach Iwein. Sie muss zunächst einen schrecklichen Wald durchqueren, der dunkel und kalt ist. Hier wird sie von Regen und Wind geplagt und von großem kumber überfallen, so dass sie Gott anruft, damit er ihr zu Hilfe kommt. Die Rolle der göttlichen Vorsehung ist übrigens ein Zusatz Hartmanns. Gleich darauf wird sie erhört und ein Horn erklingt. Nachdem sie Iwein gefunden hat und dieser ihr versprochen hat, ihrer Herrin, der jungen Gräfin vom Schwarzen Dorne zu Hilfe zu kommen, schiebt Hartmann eine Parenthese ein, die auf einer Heide spielt und durchaus höfischen Charakter besitzt: Alle Sorgen der Botin haben sich aufgelöst und ûf ter heide erzählen sich die beiden Figuren gegenseitig viele Geschichten und vertreiben sich die Zeit mit Neuigkeiten (V. 6073 ff.). Erst bei der zweiten Konfrontation zwischen Iders und Erec, also beim Kampf um den Sperber, wird Iders eindeutig negativ charakterisiert. In mancher Hinsicht unterscheidet sich die Behandlung der SperberkampfEpisode bei Hartmann von der französischen Vorlage. Der deutsche Bearbeiter zielt darauf ab, seinen Helden zu idealisieren. Der Kontrast zwischen Erec und seinem Gegner wird deshalb deutlicher herausgearbeitet als im französischen Roman, so dass Erecs moralische Überlegenheit hervorgehoben wird. Dieses Verfahren ist typisch für Hartmanns Erzähltechnik: Er
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greift zu Oppositionen, zu Antinomien, um ein Ideal und dessen Gegenbeispiel zu veranschaulichen. Im deutschen Roman wird die Handlung anders eingeführt als im französischen Werk: Nicht Iders’ Dame greift als erste nach dem Sperber, sondern Erec bittet Enite, den Sperber auf die Hand zu nehmen, woraufhin Iders sich ihm entgegenstellt. Bei Chrétien gehen beide Ritter höflicher miteinander um. Als Erec ihm den Sperber streitig macht, sagt der Text lediglich, dass Ydier das nicht recht ist (A l’autre chevalier en poise, v. 824; »Dem anderen Ritter war das nicht recht«). Dann versucht dieser sogar, Erec von einem Kampf abzubringen, indem er ihm rät, ihm den Sperber zu überlassen und weiterzuziehen, als wolle er das Leben dieses Ritters verschonen: Fui! fet li autres, ce n’iert ja; / folie t’amené ça (v. 847 f., »Flieh!«, sagte der andere, »Das darf nicht sein. Deine Torheit hat dich hierher geführt«). Wie bereits eingangs gesagt, verkörpert er keine mörderische Ritterschaft. Bei Hartmann dagegen verhält sich Iders grob und verächtlich: Er beschimpft Enite und nennt sie eine Bettlerin (eine dürftiginne v. 694), selbst der Erzähler betont, dass er unwürdig zu ihr spricht (unwirdeclîchen, v. 691). Die gleiche Arroganz charakterisiert auch die Worte, mit denen er Erec anspricht: Voller Verachtung spielt er auf Erecs Alter an: jungelinc (v. 708), iuwern kintlîchen strît (v. 711), er wânde ein kint bestanden hân (v. 765). Die schon von der Königin erwähnte Jugend des Ritters wird von Iders hier ausdrücklich als Beleidigung aufgefasst. Darüber hinaus droht er Erec an, ihm das Leben zu nehmen, wenn er ihn besiegt, obwohl eine solche Haltung den Regeln der Tjost und des Rittertums widerspricht. Bei einem Turnier geht es nicht darum, den Gegner zu töten, sondern nur darum, ihn zu besiegen und ein Lösegeld für seine Freilassung zu verlangen. Gerade diese Möglichkeit weist Iders explizit von sich: er wolle kein Lösegeld für Erecs Leben annehmen, v. 719 f. Dieser Kontrast zwischen Erec und Iders wird durch die Beschreibung ihrer jeweiligen Ausrüstung noch verstärkt. Iders’ Rüstung ist besonders prächtig, er trägt sogar eine Helmzier, was zu dieser Zeit in Deutschland sehr selten gewesen sein dürfte. Sein Waffenrock ist aus grünem Samt, was auf den Reichtum und den Hochmut des Ritters hinweist, da die Farbe Grün bei der Herstellung von Kleidern schwer zu erzielen war und eindeutig als Zeichen für Luxus galt: sîn wâpenrock alsam was, / samît grüene als ein gras (v. 740 f.). Ein schönes, helles Grün war nämlich sehr schwer zu fixieren2. Auch sein Pferd ist gezieret / mit rîcher kovertiure (v. 737 f.). Dagegen trägt Erec nur, was er hat finden können: 2 Vgl. Michel Pastoureau, Une histoire symbolique du Moyen Âge occidental, Paris 2004, 183 ff.
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zehand schieden si sich dâ unde wâfenten sich sâ, der ritter als im wol tohte, Êrec als er mohte (v. 728 – 31)
(»Sogleich gingen sie auseinander und bewaffneten sich, der Ritter im Vollbesitz seiner Möglichkeiten, Erec so gut er konnte«, übers. von Volker Mertens3). Allmählich entwickelt sich diese Tjost zu einem symbolischen Kampf der Armut gegen den Reichtum, der Einfachheit gegen Arroganz und Hoffart, der Jugend gegen die Erfahrung, der guten, neuen Ritterschaft gegen die schlechte, mörderische Ritterschaft. Der Sperberkampf besteht aus mehreren Phasen und ist klar strukturiert: es wird zunächst die Tjost beschrieben (d. h. das zu Pferd ausgeführte ritterliche Kampfspiel, bei dem nur zwei Ritter gegeneinander kämpfen), dann wird ein stehend ausgeführter Zweikampf dargestellt; darauf folgen eine Pause und das Ende des Zweikampfes (Erecs Sieg). Schon die erste Phase zeigt, dass Erec sich keineswegs als »Kind« verhält, sondern klug und entschlossen handelt. Zum Beispiel ist er ständig darauf bedacht, seine Kraft für später aufzusparen (v. 795 ff.). Wichtig ist auch die symbolische Rolle, die die gute alte Lanze des Koralus spielt: Erst als er zu ihr greift, gelingt es Erec, seinen Gegner aus dem Sattel zu heben. Sie symbolisiert hier den Sieg der Tugend und der Tradition und nimmt schon Erecs endgültigen Sieg über Iders vorweg. Im Gegensatz zum französischen Text werden hier nicht beide Ritter aus dem Sattel gehoben, sondern nur Iders. Diese Änderung soll nicht nur Erecs kriegerische Gewandtheit demonstrieren, sie erlaubt dem deutschen Bearbeiter auch, Erecs ethische Überlegenheit zu veranschaulichen. Als sein Rivale am Boden liegt, respektiert Erec den ritterlichen Kodex und schlägt nicht auf einen Ritter ein, der sich nicht wehren kann (v. 827 – 832). Er steigt sogar von seinem Pferd, um nun stehend zu kämpfen, was ebenfalls den ritterlichen Umgangsformen entspricht. Ständig ist Erec auf seinen Ruf und seine êre (d. h. sein Ansehen in der Gesellschaft, v. 831; v. 843) bedacht, so dass er sich davor hütet, einen schutzlosen Ritter anzugreifen und irgendeine schändliche Tat zu begehen. Nach seinem Sieg über Iders tut Erec so, als wolle er seinen Gegner erschlagen, obwohl dieser wehrlos ist und um Gnade bittet. Während bei Chrétien Erec wirklich nahe daran ist, Yders den Kopf abzuschlagen 3 Hartmann von Aue, Erec, mhd. / nhd., hg., übers. und komm. Volker Mertens (RUB 18530), Stuttgart 2008.
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(v. 986 f.: la teste li eüst colpee / se il n’eüst merci criee), gehört diese Bedrohung bei Hartmann zu einer ausgeklügelten Strategie, die Iders’ Bekehrung zum Guten ermöglicht. Wichtig ist hier die Wendung als solde er erslagen sîn in Vers 953 (= er tut so, als sollte Iders erschlagen werden), die diese Handlung von vornherein als unbegründete Hypothese erscheinen lässt. Indem Erec sich des Ritters erbarmt und ihn leben lässt, unterstreicht er noch einmal seine moralische Überlegenheit und seinen Edelmut: nû wil ich iuch leben lân: des enhetet ir mir niht getân (v. 1012 f.)
(»Ich will euch jetzt das Leben lassen – das hättet Ihr mir nicht gemacht«, übers. von Volker Mertens). In dieser Hinsicht spielt Erecs Jugend eine besondere Rolle: Er verkörpert die neue Ritterschaft, eine Ritterschaft, die rein von jeder Sünde ist. Deshalb liegt Hartmann daran, seine ganze Entwicklung, eine Entwicklung ab ovo, zu beschreiben. Iders erkennt seinen Fehler, bereut ihn aufrichtig (v. 1002) und erklärt sich bereit, dafür zu büßen und das getane Leid wieder gutzumachen (v. 1008). Diese Entwicklung zum Guten entspricht dem christlichen Schema der Buße, die den Sünder von seinen Fehlern befreien soll. Deshalb wird der Ritter wieder in die höfische Gesellschaft integriert. Als er der Königin zu Füßen fällt, seine Bosheit sowie seine Torheit gesteht, seine Reue ausspricht und sich zur Wiedergutmachung bereit erklärt, wird ihm keine Strafe auferlegt: dem reuigen Sünder, der seine Schuld und sein hoffärtiges Verhalten erkannt hat, wird ohne Vorbehalt verziehen. Auch hier wird deutlich auf das Schema der Buße hingewiesen und das Wort buoze (Wiedergutmachung, Genugtuung, Buße) wird dreimal erwähnt: v. 1222, v. 1246, v. 1289. Der Ritter, der gefehlt hat, wird wieder in die höfische Gesellschaft eingegliedert, wie der reuige Sünder wieder zum Kreis der Gerechten zählen darf: ich wil daz ir hie bestât und unser ingesînde sît (v. 1281 f.)
(»Ich will, dass Ihr hierbleibt und zu uns gehört«, übers. von Volker Mertens). Der Kampf gegen Iders bildet die erste Konfrontation des Protagonisten mit einem Vertreter der schlechten Ritterschaft und nimmt somit den Kampf gegen Mabonagrin vorweg, jenem roten Teufel, der am Ende des Romans die grausamste Form der schlechten Ritterschaft verkörpert. Schon René Pérennec hat auf diese Opposition zwischen Mabonagrin als Vertreter einer pervertierten Ritterschaft und Erec, dem miles christianus, hingewiesen:
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Dans le feu du combat, Mabonagrin apparaît, […] comme l’incarnation de la fureur homicide et comme un représentant des forces diaboliques […]. Quand l’adaptateur montre la compassion qu’éprouve Erec pour les épouses des victimes de Mabonagrin, il semble faire référence aux devoirs du chevalier envers ceux que leur état prive de tout pouvoir de résistance. La condamnation de la mauvaise chevalerie, de la militia-malitia, (mais il faut rappeler que Mabonagrin n’est pas appelé ritter quand il est présenté comme un démon sanguinaire), la défense des pauperes, ce sont deux grands thèmes de la longue campagne menée par Cluny et les réformateurs pour christianiser la fonction militaire.4
Tatsächlich wird Mabonagrins Figur diabolisiert: seine Stimme ist starc und grimme (v. 8993), er wird mit einem risen (v. 9013), einem übelen man (v. 9026) und noch häufiger mit einem vâlant verglichen, der kein Erbarmen kennt (v. 9197 ff.). Während bei Chrétien nur seine Rüstung rot ist, dient in der deutschen Fassung die Farbe Rot – oder genauer gesagt das Blutrot – dazu, sein ganzes Wesen zu charakterisieren: Er ist der rôte man schlechthin (v. 9068). Sogar sein Pferd ist hellrot wie Zunder (starc rôt zundervar, v. 9016), wobei dieser Vergleich gleichzeitig auf Hölle und Mord verweist5. Diese Verurteilung der schlechten Ritterschaft wird an drei Versen besonders deutlich: ich wæne sîn herze bluote swenne er nicht ze vehtenne vant: sô mordic was sîn hant. (v. 9021 – 9023)
(»Ich glaube, sein Herz blutete, wenn er keinen Kampf fand. So mordlustig war seine Hand«, übers. von Volker Mertens). Nicht nur das Adjektiv mordic verweist eindeutig auf die mörderische Ritterschaft. Die ganze Passage bildet die Umkehrung von Christi Martyrium: Das Bild des blutenden Herzens ist ein Hinweis auf Christi fünfte Wunde. Während aber Christus aus Liebe zu der Menschheit den Märtyrertod erlitt, blutet Mabonagrins Herz, wenn er keine Gelegenheit zum 4 René Pérennec, Recherches sur le roman arthurien en vers en Allemagne aux XIIe et XIIIe siècles (GAG 393), Göppingen 1984, Bd. 1: Hartmann von Aue, ›Erec‹, ›Iwein‹. Adaptation et acclimatation, hier 143. 5 Mit dieser offensichtlichen Reminiszenz an das zweite Siegel der Johannes-Offenbarung wird hier eindeutig eine Parallele zwischen dem apokalyptischen Reiter und Mabonagrin gezogen; vgl. Apc. 6,4: et exivit alius equus rufus et qui sedebat super illum datum est ei ut sumeret pacem de terra et ut invicem se interficiant et datus est illi gladius magnus (Biblia Sacra iuxta vulgatam versionem, hg. B. Fischer u. a., 4., verb. Aufl., Stuttgart 1994): »Da erschien ein anderes Pferd ; das war feuerrot. Und der, der auf ihm saß, wurde ermächtigt, der Erde den Frieden zu nehmen, damit die Menschen sich gegenseitig abschlachteten. Und es wurde ihm ein großes Schwert gegeben« (Neue Jerusalemer Bibel, dt. hg. Alfons Deissler und Anton Vögtle in Verb. mit Johannes M. Nützel, neu bearb. u. erw. Ausg., Freiburg / Basel / Wien 1985).
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Kampf findet. Sein blutendes Herz ist kein Zeichen für Liebe und Erbarmen, sondern es zeugt von seinem Hass auf die Menschen. Diese religiöse Dimension und die Kritik an der schlechten Ritterschaft fehlen in Chrétiens Roman, in dem Mabonagrain kein unbarmherziger Teufel ist, sondern dem Protagonisten lediglich seine Torheit vorwirft und ihm sogar rät zurückzuweichen (Estez arriers, v. 5910). Während bei Chrétien die Joie de la Court-Episode nur eine Parallele zur recreantise-Episode bildet, haben wir bei Hartmann einen doppelten Spiegeleffekt: Einerseits verweist dieses letzte Abenteuer auf die verligen-Problematik, andererseits auf die Brandmarkung der schlechten Ritterschaft und den Kampf gegen Iders.
2. Erec und Guivreiz Noch aufschlussreicher ist Erecs Reaktion, als ihm Guivreiz zum ersten Mal begegnet. Auch hier muss der französische Text zum Vergleich herangezogen werden. Bei Chrétien dient der Kampf gegen Guivret eindeutig als Bewährungsprobe. Als Erec und Enide über eine Drehbrücke vor einem hohen Turm reiten, werden sie vom Herrn des Turms erblickt. Dieser will sich mit Erec messen, er greift sogleich zu seinen Waffen und greift Erec an, indem er eine Anhöhe hinabsprengt und sich mit großer Geschwindigkeit auf Erec stürzt (v. 3689 ff.). Nachdem Enide ihren Mann vor der bevorstehenden Gefahr gewarnt hat, beginnt ein heftiger Kampf, ohne dass die beiden Ritter sich überhaupt angesprochen hätten. Im französischen Text entspricht dieser Kampf der Conjointure: Er soll Erecs ritterlichen Wert bestätigen, da dieser Wert von Enide in Frage gestellt wurde. Im deutschen Roman wird die Entwicklung des Einzelnen zugunsten einer Betrachtung über richtige und falsche Auffassung des Rittertums in den Hintergrund gedrängt, so dass der Kampf ganz anders eingeführt wird. Der zwerghafte König ist auf der Suche nach ritterlichen Kämpfen (ûf ritterschefte wân, v. 4371). Er hat sich schon bei zahlreichen Turnieren als der Beste hervorgetan. Der Erzähler fügt sogar hinzu, er habe noch kein Turnier versäumt (dehein ritterschaft er versaz, v. 4314). Ihm liegt nur daran, seinen ritterlichen Ruhm zu mehren. Deshalb freut er sich auf die bevorstehende Tjost mit einem Gegner, der ihm ebenbürtig ist. Guivreiz verkörpert eine unvollkommene Auffassung von der Ritterschaft und nimmt schon die Figur des Kalogrenant im Iwein vorweg, der in der âventiure lediglich die Suche nach einem Mann sieht, mit dem man kämpfen kann, um seinen prîs zu mehren (Iwein, v. 528 ff.). Nachdem Guivreiz Erec höflich gegrüßt und in ihm einen degen erkannt hat, fordert er ihn zum Kampf heraus.
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Überraschend ist das Verhalten des deutschen Helden: Während bei Chrétien Erec sofort auf seinen Gegner losreitet, zeigt der deutsche Protagonist keine feindliche Absicht und scheint sich vor dem Kampf drücken zu wollen. Im deutschen Roman wird alles ambivalenter beschrieben: Erec antwortet durch sînen spot (v. 4348). Bald wird der Leser entdecken, dass dieser Spott durch Erecs moralische Überlegenheit gerechtfertigt wird. Tatsächlich ist Guivreiz’ Herausforderung zum Kampf der Situation völlig unangemessen. Erec führt dann drei Argumente an, die gegen einen Kampf mit Guivreiz sprechen: – erstens erklärt er, die Absicht seines Gegners sei unvereinbar mit der höfischen Begrüßung, mit der der kleine König ihn eben geehrt habe. – er behauptet dann, er habe seinem Gegenüber kein Leid zugefügt, so dass ein Kampf entbehrlich sei: ir sult ez durch got tuon / und mich mit gemache lân, / wan ich habe iu niht getân (v. 4359 – 61) – und drittens fügt er hinzu, er sei erschöpft, er sei von weither geritten und habe große arbeit erlitten.
Diese Antwort wird von Guivreiz als Zeichen der Feigheit verstanden, aber eigentlich verhält sich Guivreiz unhöfisch und nicht Erec: Ohne es zu wissen, schickt er sich an, einen erschöpften Ritter anzugreifen, was gegen den ritterlichen Kodex verstößt. Normalerweise würde man den Kampf auf den nächsten Tag verschieben, damit beide Ritter über dieselben Chancen verfügen. Eine derartige Lösung findet sich im Parzival von Wolfram: König Gramoflanz verschiebt einen Kampf gegen Gawan auf den nächsten Tag, da sein Gegner erschöpft ist6. Würde Guivreiz die Situation richtig einschätzen, so müsste er auf jeglichen Kampf verzichten oder das Risiko eingehen, selbst für einen Feigling gehalten zu werden. Es wäre wahrscheinlich falsch, das Wort gemach als Zeichen für Erecs Rückfall in die Bequemlichkeit zu interpretieren. Im Gegenteil: Diese Episode dient dazu, die moralische Überlegenheit Erecs hervorzuheben: Er ist nicht wie jene Ritter, die sehr leicht zornig werden und ohne Grund miteinander kämpfen (vgl. Bernhards von Clairvaux Kritik an der weltlichen militia). Erec kämpft nicht grundlos, sondern nur wenn es nötig ist, ansonsten verzichtet er eher auf brutale Gewalt. Wichtig ist der Satz: wan ich habe iu niht getân. Unbegründete Gewalt ist sinnlos. Diese Lobrede auf den Vertre6 wiltu morgen wider ûf den plân / gein mir komn durch strîten, / des wil ich gerne bîten. / ich bestüende gerner nu ein wîp / dan dînen kreftelôsen lîp. (Wolfram von Eschenbach, Parzival, Bd. 2, nach der Ausgabe Karl Lachmanns, rev. u. komm. Eberhard Nellmann, übertr. Dieter Kühn, Frankfurt a. M. 2006, 692,22 – 26).
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ter einer neuen Ritterschaft, die sich an christlich geprägte Gebote hält, steht aber in Widerspruch zur Bedeutung des Romans: Nach der Krise ist Erec plötzlich aufgebrochen, um âventiure zu suchen und sich als Ritter erneut zu behaupten. Als er sie aber findet, versucht er, einer Tjost auszuweichen. Bei Chrétien gibt es diesen Widerspruch nicht. Dem deutschen Autor scheint es manchmal schwerzufallen, geistliche und weltliche Ideale miteinander in Einklang zu bringen. Immerhin verurteilt er den ungerechtfertigten Gebrauch von Gewalt: Sein Held kämpft vor allem, um den Schwächeren zu helfen, und nicht aus Spaß am Kampf und an nackter Gewalt wie die meisten Ritter dieser Zeit. Erst am Ende des Kampfes hätte Erec fast eine Sünde begangen, als er sich anschickt, dem besiegten Gegner den Gnadenstoß zu versetzen (v. 4439 ff.). Dieser Fehler bildet ein Pendant zu Guivreiz’ Vergehen nach dem zweiten Kampf mit Erec (er wird seinen Freund nicht erkennen und sich anschicken, ihn zu erschlagen). Die Wiederholung dieses Motivs zeugt auch von Hartmanns pädagogischer Absicht: Er will sein adelig-kriegerisches Publikum von dem inakzeptablen Charakters dieses Vergehens überzeugen, das der Sünde der homicidia gleichkommt. II. Das Turnier und Erecs Idealisierung Im Roman findet sich ein Element, das typisch für das Motiv des dreitägigen Turniers ist: Erec hat drei Schilde, also einen Schild für jeden Tag. Hartmann hat seiner Erzählung eine andere Richtung gegeben und das Turnier auf zwei Tage reduziert. Die Zweiteilung des Turniers in Tjosten am ersten Tag und Massenkämpfe am zweiten Tag spiegelt eine narrative Steigerung wider7 und erlaubt dem Erzähler, die Persönlichkeit des Protagonisten jeweils in ein besonderes Licht zu rücken. Während die Tjosten sich gut dazu eignen, den Wert eines einzelnen Ritters hervorzuheben, können die Buhurte Erec unter seinen Kampfgefährten zeigen. Diesmal geht es nicht nur um den persönlichen Wert eines Kriegers, sondern um Solidarität unter Rittern, die demselben Verband, derselben Schar angehören, d. h. es geht um Solidarität unter Kampfgefährten. Dennoch zielt die ganze Beschreibung des Turniers auf die Idealisierung des Helden. 7 Vgl. Joachim Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, 5. Aufl., München 1990, Bd. 1, 360 f.: »Erst bei Hartmann von Aue im ›Erec‹ begegnet die Tjost als eine Form des Turniers […]. Danach begann endlich das eigentliche Turnier mit dem Anritt der geschlossenen Verbände. Nach dieser Darstellung wurde die Tjost, die dem einzelnen Ritter Gelegenheit gab, sich vor den anderen Rittern auszuzeichnen, in zeitlicher und räumlicher Verbindung mit dem Turnier beziehungsweise mit der Vesperie veranstaltet, ohne selbst Teil des Turniers zu sein.«
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Im Rahmen dieses Vortrags werde ich mich aber auf die religiösen Aspekte des Turniers beschränken. Bis jetzt wurde die Vorbereitung auf das Turnier von der Forschung kaum beachtet, daher möchte ich an dieser Stelle näher darauf eingehen. Wichtig sind zunächst einmal die beiden Tage, an denen dieses Turnier stattfindet: am Sonntag und am Montag, obwohl die Kirche im Rahmen der treuga Dei jeglichen Kampf am Sonntag verbietet. Von vornherein scheint Hartmann daran zu liegen, einen Mittelweg zwischen dem Standpunkt der höfisch-aristokratischen Gesellschaft und der Perspektive der Kirche zu finden, die das Abhalten von Turnieren verbietet und solche Manifestationen als detestabiles nundinas8 verurteilt. Deshalb spielt der Sonntag eine so wichtige Rolle: Als wolle Hartmann ausdrücklich darauf hinweisen, dass unter bestimmten Umständen eine solche militärische Übung mit einer christlichen Lebensführung durchaus vereinbar ist und somit von Gott geduldet werden kann. Gerade dieses ideale Gleichgewicht wird an Erecs Verhalten exemplifiziert. Interessant ist zunächst, dass Erec ein Fremdling an diesem Hof ist, und nicht über den Reichtum verfügt, der seinem Rang und seinen Wünschen entspricht: Dô enwas er niht sô rîche daz er volleclîche mohte mit dem guote volziehen sînem muote […]. sîn harnasch enwas niht sô guot noch selh sîn gesellschaft, als ob er hete des guotes kraft nâch sîner maht vienc erz an. (v. 2262 – 2284)
(»Nun war er damals nicht so reich, dass er mit seinem Besitz völlig seinen Wünschen entsprechen konnte […]. Seine Rüstung war nicht so gut, auch sein Gefolge nicht, als wenn er Reichtümer besessen hätte. Nach seinen Möglichkeiten ging er die Unternehmung an«, übers. von Volker Mertens). Wie früher bei Koralus dient Erecs relative Mittellosigkeit dazu, sowohl seine moralische als auch seine kriegerische Überlegenheit zu betonen. Auf die Großzügigkeit Artus’, der bereit ist, ihm alles Mögliche zu geben, antwortet Erec mit Bescheidenheit und Zurückhaltung (mit scham, v. 2273). Der königlichen largitas entspricht hier die modestas des jungen Ritters.
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Vgl. zweites und drittes Laterankonzil.
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Das Bescheidenheitsmotiv wird später wieder aufgenommen und weiter entwickelt: Erec verzichtet auf jedes prächtige Auftreten und hält sich abseits, weil er sich nicht für kampferprobt genug betrachtet. Im Gegensatz zu allen Rittern nimmt er an der höfischen Freudenatmosphäre nicht teil, sondern verhält sich zurückhaltend, da er es nicht wagt, sich unter erfahrene Ritter zu mischen. Er hält sich also vom festlichen Treiben fern, wobei der Gebrauch des Adverbs ungiudeclîchen (v. 2382) aufschlussreich ist: Er verzichtet auf jede Prahlerei, auf jedes prahlerische Auftreten (giudens urloup möhte er hân, v. 2386), auf die Demonstration von Macht und Reichtum, auf Verschwendung und geräuschvolle Freude. Er lebt im Grunde wie ein Asket und mäßigt sich daher beim Essen und Trinken: ein lützel âz er unde tranc: vil enliez in der gedanc den er hin wider hâte. (v. 2544 – 46)
(»Nur wenig aß und trank er, mehr ließen seine Gedanken nicht zu, die wieder beim Kampf waren«, übers. von Volker Mertens). Die Vorbereitung auf den ritterlichen Kampf begründet also dieses asketische Verhalten: Die ritterlich-militärische Übung verlangt, dass der Ritter sich mäßigt! Zudem kann er keine Reichtümer verteilen, sondern verhält sich sogar wie ein geiziger Mann (v. 2381). In diesem Sinne ist er das positive Pendant zur Figur eines hochmütigen Ritters. Wie bei Koralus hindert ihn seine Mittellosigkeit jedoch nicht daran, andere Ritter herzlich und höfisch aufzunehmen, auch wenn er ihnen nichts anderes anzubieten hat als seinen guten Willen (v. 2391 ff.). Schon hier wird implizit eine Antwort auf die Vorwürfe der Kirche formuliert, die solche Turniere scharf verurteilt: Während die Kirche behauptet, die an Turnieren teilnehmenden Ritter seien Sünder, die aus Hochmut handeln, wird an Erec exemplifiziert, dass solche Ritter sich durchaus vorbildlich verhalten können. Erecs Demut wird auch an seinem Verhalten gegenüber Soldaten niedrigen Ranges aufgezeigt: Bei dem Söldner, der ihm beim Absteigen hilft, bedankt er sich höflich: und seite ims genâde und danc (v. 2636). Obwohl es sich um einen Soldaten handelt, der gegen Sold Kriegsdienste leistet, verhält sich Erec weder arrogant noch verächtlich. Interessant ist, dass in diesem Passus nicht der Artusstoff christianisiert und spiritualisiert wird, sondern dass äußere Umstände, etwa die Entfernung von der Heimat, zum Grund für Tugenden werden, die normalerweise Geistliche, Mönche und Asketen auszeichnen. Auch als er sich anschickt, gegen Mabonagrin anzutreten, zeugt Erecs Verhalten von großer Frömmigkeit und mâze: Er steht früh auf, besucht die Messe, ruft Gott an, bittet ihn, sein Leben zu schützen und empfängt das Abendmahl. Obwohl man ihm viele Speisen anbietet, isst er sehr wenig und der Erzähler fügt so-
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gar hinzu, dass er nur drei Bissen von einem Huhn zu sich nimmt (v. 8635 ff.). Erecs Lebensführung bildet somit das positive Pendant zu der Maßlosigkeit und den Ausschweifungen, die die meisten Ritter der weltlichen militia an den Tag legen. In Bezug auf die Autobiographie von Guibert de Nogent9 und das ideale Porträt, das Guibert von einem gewissen Thibaud entwirft (einem Ritter, der auf die Ritterschaft verzichtet und beschließt, bei den Armen zu leben), schreibt Dominique Barthélemy Folgendes: »Parmi les péchés de la chevalerie, la brutalité guerrière ne tient pas ici le premier rang, mais plutôt, décidément, la fête, la parure, la fatuité.«10 Was Guibert der weltlichen Ritterschaft vorwirft, ist also nicht so sehr ihr Hang zur Gewalt, ihre Brutalität, sondern ihre Vorliebe für Feste und kostbare Aufmachungen, sowie ihre Überheblichkeit. Die Disziplin, die Erec an den Tag legt, erinnert nicht zuletzt an die Disziplin, die Bernhard von Clairvaux in seinem De laude novae militiae von den Tempelrittern fordert. Der Vergleich mit diesem Traktat verstärkt den Eindruck, dass Hartmann auf der Suche nach einem Gleichgewicht zwischen kirchlicher und profaner Perspektive ist. Einerseits verlangt Bernhard von den neuen Rittern Gottes, dass sie ihrem Vorgesetzten bedingungslos gehorchen, sich in Nahrung und Kleidung vor jedem Überfluss hüten, und in Gemeinschaft in froher und nüchterner Geselligkeit leben. Andererseits verurteilt er die kostspieligen Kleider und Tücher der weltlichen Ritter: Ihr bedeckt eure Pferde mit seidenen Decken und eure Panzer mit allen möglichen Überhängen und Tüchern; ihr bemalt die Speere, die Schilder und die Sättel; die Zügel und Sporen schmückt ihr ringsum mit Gold und Silber und Edelsteinen; mit so großer Pracht eilt ihr in beschämender Raserei und schamlosem Stumpfsinn in den Tod.11 9 Zu den Berührungspunkten zwischen Hartmanns Werk und lateinischen Heiligenviten, vgl. Karl Heinz Borck, »Adel, Tugend und Geblüt. Thesen und Beobachtungen zur Vorstellung des Tugendadels in der deutschen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts«, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 100.3 (1978), 423 – 457, hier 442: »Einige Einzelmotive in der Handlung des ersten deutschen Artusromans finden im ›Ruodlieb‹ und in der ›Vita Geraldi‹ gewisse Entsprechungen. Daß Hartmann der mit diesen beiden Werken benannten Tradition verpflichtet ist, bezeugt der ›Iwein‹, denn das Ethos des ritters mittem leun hat wesentliche Züge mit dem Leitbild gemeinsam, das die Reformbewegung im Rückgriff auf die Herrscherethik für den weltlichen Adel entworfen hat«. 10 Dominique Barthélemy, La chevalerie. De la Germanie antique à la France du XIIe siècle, Paris 2007, 248. 11 Operitis equos sericis, et pendulos nescio quos panniculos loricis superinduitis; depingitis hastas, clypeos et sellas; frena et calcaria auro et argento, gemmisque circumornatis: et cum tanta pompa pudendo furore et impudenti stupore ad mortem properatis. (De Laude novae militiae ad milites templi liber, Caput II: »De militia saeculari«, PL 182, 0923b – c).
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An der Figur des Erec will Hartmann den richtigen Kompromiss verdeutlichen: Zwar verhält er sich demütig und bescheiden, aber er vergisst nicht im Namen seiner Dame und Frau zu kämpfen: Er hängt einen Ärmel Enites an jeden seiner drei Schilde (v. 2290 ff.). Hartmann verleiht seinem Text eine religiöse Dimension, die bei Chrétien nur angedeutet ist und den idealen Typus des miles christianus, so wie er am Ende des Romans dargestellt wird, schon vorwegnimmt. Von Bedeutung ist auch, dass der Held unter Gottes Schutz steht – was in Bezug auf ein Turnier dem traditionellen Standpunkt der Kirche völlig widerspricht: Er wird der sælege genannt (v. 2402), zwei göttliche Gaben verhelfen ihm zum Sieg (sælde und grôze werdekeit, v. 2438), er vertraut auf Gottes Hilfe, wobei Gott als Beschützer seiner ritterlichen êre erscheint (v. 2498 ff.); der Erzähler fügt sogar hinzu, dass Gott ihm heil gewährt, wann immer er es braucht (v. 2531). Er betont auch, dass nicht nur Erec vor dem Kampf die Messe hört (v. 2489 f.), sondern dass alle Ritter so handeln (v. 2540 f.). Insofern kann man diesen Rittern nicht vorwerfen, dass sie Gott zugunsten ihrer Kampfspiele vernachlässigen und sich der Sünde der acedia (mhd.: tracheit an gotes dienst = Trägheit des Herzens, des Geistes, Faulheit) schuldig machen. Hartmann unterstreicht außerdem, dass die Messe eine selbstverständliche Ritterpflicht ist und dass der regelmäßige Besuch der Kirche zum höfischen Kodex gehört: sîn êrste vart was ritterlich: zuo der kirchen er gie (v. 2489 f.)
(»Zuerst ging er nach ritterlichem Brauch in die Kirche«, übers. von Volker Mertens). Somit besteht keine Diskrepanz zwischen christlichem und ritterlichem Leben. Die Idealisierung des Ritters wird jedoch weiter ausgeführt. Normalerweise haben die Turniere eine finanzielle Funktion. Der Zweck eines Massenturniers besteht darin, so viele Gefangene wie möglich zu machen und sie gegen ein – möglichst hohes – Lösegeld freizulassen. Bei solchen Turnieren konnte ein Ritter alles verlieren, insbesondere sein Pferd und seine Rüstung, oder im Gegenteil sich an seinen Gefangenen bereichern. Gerade dieser finanzielle Aspekt wird in den Vordergrund gerückt und positiv gedeutet: Erec verzichtet auf jegliche Beute und lässt die Pferde der Ritter, die er besiegt hat, wieder frei (was nicht dem ritterlichen Usus entspricht): Diu liez er von der hant sâ, daz er ir deheinez nam, wan er dar niene kam ûf guotes gewin dar an kêrte er sînen sin, ob er den prîs möhte bejagen (v. 2617 – 22)
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(»Die Pferde ließ er frei und nahm keines, denn er war nicht gekommen, um Beute zu machen. Darauf war er aus, den Siegespreis zu erkämpfen«, übers. von Volker Mertens). Noch einmal wird sein tugendhaftes Verhalten durch seine Ritterlichkeit, sein Streben nach ritterlicher Vollkommenheit gerechtfertigt. Während die Krieger seiner Schar große Beute machen, verschenkt er sogar sein drittes Ross, wodurch seine ethisch-moralische Überlegenheit noch hervorgehoben wird: daz dritte roz gab er hin […]. groz was ir bejaget (v. 2704 – 2710)
(»Sein drittes Pferd verschenkte er […]. Groß war ihre Beute«, übers. von Volker Mertens). Der Kontrast mit den anderen Rittern verstärkt natürlich die Idealisierung des Protagonisten. Hier hat Hartmann den französischen Text grundsätzlich verändert, obwohl er das gleiche Motiv wieder aufnimmt. Auch im französischen Roman verzichtet der Held zunächst auf jegliche Beute, aber dieser vorläufige Verzicht wird anders begründet: Erec ne voloit pas entandre a cheval n’a chevalier prandre, mes a joster et a bien feire por ce que sa proesce apeire; (v. 2159 – 62)
Er will also keine Zeit damit verlieren, Pferde zu gewinnen und Ritter gefangen zu nehmen, sondern er will kämpfen und sein Bestes tun, damit seine Tapferkeit von allen anerkannt wird. Nachdem er durch seine Tapferkeit den Rittern seiner Schar neuen Mut gegeben hat, erobert er nun Pferde und nimmt Ritter gefangen, um die Gegner dadurch noch mehr zu entmutigen: chevax et chevaliers prenoit / por cez de la plus desconfire (v. 2166 f.). Hartmann betont aber, dass Erec keineswegs habgierig ist: er ist nicht auf Gewinn und auf Beute aus. Anhand des idealen Porträts, das hier von Erec entworfen wird, werden die traditionellen Vorwürfe der Kirche als ungerechtfertigt dargestellt (man denke hier etwa an eine berühmte Predigt des Jakob von Vitry, in der er zeigt, wie Ritter, die an Turnieren teilnehmen, alle sieben Todsünden begehen): Erec ist kein Sünder, er macht sich weder der Sünde der superbia (Hochmut, Hoffart), noch der der avaritia (Geldgier, Habgier), der invidia (Neid) und der gula (Gefräßigkeit) schuldig. Interessant ist auch, dass er sich ständig beherrscht; es ist daher wohl kein Zufall, wenn der Text auf die Erwähnung des kriegerischen Zorns – jener Dynamik, die dem Helden aus einer kritischen Lage heraushilft – verzichtet, da der Zorn ebenfalls zu den
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sieben Todsünden gehört. Auch die Sünde der luxuria (Wollust, Unzucht) kann man dem Protagonisten nicht unterstellen: Er kämpft nicht, um Frauen zu gefallen und sie zu verführen, sondern nur im Namen seiner Dame, die zugleich seine Ehefrau ist. Erec bleibt ein weltlicher Ritter, hat sich aber christliche Tugenden angeeignet, die sich im Prinzip auf Geistliche, etwa auf Rittermönche, beziehen, so als wolle Hartmann seinem Publikum zeigen, dass auch ein weltlicher Krieger sein Heil erlangen kann, wenn er sich an bestimmte christliche Tugenden hält. Diese religiöse Dimension der âventiure ist ein Zusatz von Hartmann und fehlt fast völlig bei Chrétien. In dieser Hinsicht stellt Erec einen möglichen Kompromiss dar, der in anderen mittelalterlichen Werken eindeutig zurückgewiesen wird. Hier sei etwa auf den französischen Zyklus von Guillaume d’Orange hingewiesen: Sowohl in der Moniage Guillaume (um 1170 – 1190) wie auch in der Moniage Rainouart wird der Eintritt des Helden in das Kloster auf grotesk-humoristische Weise behandelt und dient dazu, die geradezu unüberbrückbare Kluft zwischen ritterlichem und christlich-mönchischem Leben zu veranschaulichen. Ein weiterer Hinweis auf diese Unvereinbarkeit findet sich in Hartmanns Gregorius, und zwar im Gespräch zwischen dem Abt und dem jungen Gregorius. Beide Figuren sind in ihren eigenen Vorurteilen befangen und vertreten einen falschen Standpunkt, einen Standpunkt, der zwar der allgemeinen Meinung entsprach, nicht aber Hartmanns Perspektive. Wenn Gregorius sich für das Rittertum entscheidet und auf sein Leben als Mönch verzichtet, kann er in der Perspektive des Abtes nur sein Leben und seine Seele verwürken (v. 1521). Der Abt assoziiert die Ritterschaft mit maniger missetat, mit manchen Verbrechen, die das Seelenheil des Ritters gefährden. Gregorius überträgt seinerseits die verligen-Problematik auf das Mönchtum und sieht in dem kontemplativen Leben einen Ausdruck der Bequemlichkeit, des gemaches (V. 1675 ff.). Im Erec zielt der Autor auf eine Idealisierung des Rittertums, auf ein ideales Gleichgewicht, das an seinem Helden verschaulicht wird. In dieser Hinsicht ist es wohl kaum ein Zufall, wenn er auf das Auftreten von Raubrittern verzichtet und Chrétiens chevaliers brigands durch einfache Räuber ersetzt: Diese negative Rolle der Ritter als Unruhestifter war mit der allgemeinen Aufwertung des Rittertums im Roman kaum vereinbar. Übrigens wäre in dieser Hinsicht ein Vergleich zwischen Hartmanns Erec und Passagen aus der Historia Ecclesiastica des Ordericus Vitalis aufschlussreich. Im fünften Buch seiner Chronik beschreibt Ordericus das vorbildliche Leben eines Ritters aus der Normandie, namens Ansoldus, Herr von Maule. Der Autor hebt Tugenden hervor, die auch für Erec charakteristisch sind: Ansoldus besuchte regelmäßig die Kirche, raubte und stahl nicht und
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erscheint somit als Gegenbild zum Raubritter. Vor allem aber betont Ordericus seine große Mäßigkeit im Essen, seine Genügsamkeit, die mit seinem Leben als Krieger kontrastiert. Er schreibt, dass Ansoldus sehr häufig fastete, so dass er sogar den Mönchen als Vorbild dienen konnte.12 In seinem Baumgarten aß er keine Äpfel, im Weinberg keine Trauben und im Wald keine Haselnüsse. Seine Mahlzeiten nahm er nur zu den kanonischen Stunden zu sich, weil – sagte er – nur wilde Tiere fressen, was der Zufall ihnen schenkt, ohne auf den Ort und die Tageszeit zu achten, nicht aber die Menschen. Er legte großen Wert auf ein keusches Leben und hatte keine Konkubine13. Und dann fügt Ordericus noch Folgendes hinzu: »Er verzichtete auf jeglichen Diebstahl.«14 Derartige Parallelen bekräftigen die Vermutung, dass Hartmanns Werk stark vom Denken reformkirchlicher Kreise geprägt wurde. III. Demut und Erbarmen In der Buhurt-Episode haben wir gesehen, dass das Bescheidenheitsmotiv eine wichtige Funktion bei der Charakterisierung des Helden erfüllt und dass die modestas des jungen Ritters der königlichen largitas Artus’ entspricht. Die Begegnung zweier christlichen Tugenden, die eine Annäherung zweier Menschen oder Menschengruppen ermöglicht, ist charakteristisch für Hartmanns Erzählkunst: Im Iwein greift der deutsche Bearbeiter zum gleichen Verfahren. Hier verweise ich auf die Episode, die in der Burg stattfindet, wo dreihundert adlige Frauen vom Burgherrn gezwungen werden, Kleider aus Gold und Seide zu weben. Während die Gefangenen sich ihrer Armut schämen und sich demütig verhalten, empfindet Iwein Mitleid mit ihnen und bietet ihnen seinen Dienst an (v. 6297 ff.): Nicht Stolz und 12 Frugalitate sua militaris vir cunctos sibi cohaerentes ad honestatem provocabat, parcimoniaeque modesta restrictione regularibus etiam personis exemplum portendebat. Nunquam poma in viridario comedit, nunquam uvas in vinea, nec avellanas in silva gustavit. Canonicis solummodo, ad mensam quae apponebantur, sumebat horis, dicens brutorum animalium esse, non hominis, comedere quidquid fors suggereret, absque consideratione loci et temporis. (MPL 188, Pars II, Lib. V, Sp. 437 B – C.). 13 Legali connubio contentus, castitatem amabat […] (MPL 188, Pars II, Lib. V, Sp. 437 C.). 14 A rapinis omnimodo abstinebat. (MPL 188, Pars II, Lib. V, Sp. 437 C.) In Bezug auf die Vita Geraldi des Abtes Odo von Cluny betont Borck, »Adel, Tugend und Geblüt«, 432, ähnliche Tugenden: »Mönchisch-asketische Züge wie Ehelosigkeit, Maßhalten im Essen und Trinken, Armenfürsorge und die Liebe zum studium runden das Bild ab«.
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Selbstbewusstsein, oder auch Sippensolidarität und Solidarität unter Kampfgefährten (wie etwa im Lanzelet Ulrichs von Zatzikhoven), sondern Demut, Schamgefühl und Erbarmen fungieren als Bindemittel innerhalb dieser adligen Gesellschaft. Für den Artusroman ist diese Orientierung etwas sehr Neues, das Chrétien völlig fremd war. Im Yvain empfinden die dreihundert Gefangenen zwar große Scham über ihr Schicksal, aber vor allem fürchteten sie um den Ritter, der bereit ist, sein Leben für sie einzusetzen. Gerade die Scham, die die Gefangenen über ihre tiefe Armut empfinden, zeugt im deutschen Roman von ihrer hohen Herkunft, da sie an ein derartiges Leben nicht gewöhnt sind. Die Armut wird hier als etwas Unverdientes, Ungerechtes und Erniedrigendes empfunden. Sie dient aber zugleich dazu, die noble Gesinnung und die adlige Herkunft der Gefangenen hervorzuheben, da es ihnen gelingt, sich trotzdem würdig und höfisch zu verhalten. Der Held, der schon viele Leiden am eigenen Leibe erlebt hat, lässt sich zu den armen Frauen herab und erbarmt sich ihrer Not: ouch muot in sêre ir arbeit (»Ihre unglückliche Lage tat ihm herzlich leid«, v. 6303, übers. von Thomas Cramer15). Der Hunger und der Durst, unter denen die Frauen leiden, sowie ihre großen Entbehrungen erinnern nämlich an Iweins Aufenthalt im Wald und an sein Leben als wilden Menschen. Dieser Prozess kann mit der Begegnung von Koralus und Erec verglichen werden: Der alte Koralus, der im deutschen Roman sehr stark an die biblische Figur des Hiob erinnert (obwohl er alles verloren hat, fügt er sich in sein Schicksal und sieht in ihm eine Prüfung, die von Gott gewollt ist, v. 535 ff.), schämt sich seiner Armut, während Erec, der in diesem Augenblick selbst weder Waffen noch Rüstung besitzt und sich für die Beleidigung durch den Zwerg schämt, sich seiner erbarmt. Demut und Einsicht in die eigene Not ermöglichen hier die Annäherung beider Männer. Ich verweise auf Pérennec, der als Erster auf die Bedeutung der Demut bei dieser Begegnung hingewiesen hat: L’unification du groupe s’opère grâce à un mouvement inverse de celui que l’on observe chez Chrétien, c’est le fils de roi qui va se pencher sur un homme éprouvé par le sort, mais soumis à la volonté divine. Les deux personnages se rejoignent dans une commune humilité, dans un comportement qui vient gommer la disparité de condition16.
15 Hartmann von Aue, Iwein, Text der siebten Ausgabe von G. F. Benecke, K. Lachmann und L. Wolff, Übersetzungen und Anmerkungen von Thomas Cramer, 4. durchg. und erg. Aufl., Berlin / New York 2001. 16 Pérennec, Recherches sur le roman arthurien en vers en Allemagne aux 12ème et 13ème siècles, Bd. 1, 138.
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Nur wer selbst gelitten hat, kann sich demütig verhalten und sich seiner Mitmenschen erbarmen. In diesem Sinne ist ein Satz aus dem Iwein besonders aufschlussreich: Swer ie kumber erleit, den erbarmet des mannes arbeit michels harter dan den man der nie deheine nôt gewan (v. 4389 – 92)
(»Wer je Kummer erlitten hat, den erbarmt die Not eines Menschen viel mehr als den, der niemals in Not gewesen ist«, übers. von Thomas Cramer). Diese Betrachtung ist programmatisch für Hartmanns Werk und die besondere Rolle, die er der Demut und der Barmherzigkeit verleiht. Diese Auffassung der misericordia, die den eigenen Leiden eine derartige Bedeutung beimisst, ist natürlich sehr christlich geprägt. Vielleicht ist hier sogar der Einfluss der Zisterzienser zu spüren: Für Bernhard von Clairvaux kann der Mensch erst Mitleid empfinden, nachdem er sich seines eigenen tiefen Elends bewusst geworden ist, eines Elends, das der conditio humana angeboren ist, das also intrinsisch zur conditio humana gehört: quia vere miser es, et sic discas misereri, behauptet Bernhard in seinem Traktat über die Zwölf Stufen der Demut und des Stolzes (»Nur wenn du selbst wirklich elend bist, kannst du auf diese Weise Barmherzigkeit lernen«). Wobei die Parallele zwischen miser (elend) und misereri (misereor: sich erbarmen) auf Lateinisch viel deutlicher ist als auf Deutsch. Diese besondere Auffassung der misericodia ist nur bei Bernhard von Clairvaux und seinen Schülern sowie bei seinem Freund Hugo von Sankt Viktor – wiewohl in anderer Form – zu finden.17 Ein ähnliches Schema scheint auch bei Hartmann erkennbar zu sein. Es liegt die Vermutung nahe, dass Hartmann in seiner besonderen Auffassung der misericordia vom Gedankengut der Zisterzienser beeinflusst wurde. Auch in der Cadoc-Episode wird Erecs Erbarmen explizit als christlicher Akt dargestellt, da weder eine soziale noch eine verwandtschaftliche Bindung existiert, die Erecs Eingriff bedingt, und Cadoc ihm völlig fremd ist. Gerade auf ein solches familiäres Verhältnis nehmen die Riesen in ihrer Spottrede Bezug: nû nim dir in ze mâge / und hilf im: des ist im nôt genuoc (v. 5485 f., »Nimm ihn doch als Verwandten an und leiste ihm Hilfe, das 17 Was diesen Aspekt betrifft, verweise ich auf die Dissertation von Katharina Mertens Fleury, Leiden lesen. Bedeutungen von ›compassio‹ um 1200 und die Poetik des Mitleidens im ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach, Berlin 2006, sowie auf folgenden Artikel: Andreas Kraß, »Die Mitleidfähigkeit des Helden. Zum Motiv des compassio im höfischen Roman des 12. Jahrhunderts (›Eneit‹ – ›Erec‹ – ›Iwein‹)«, Wolfram-Studien XVI (2000), 282 – 304.
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kann er brauchen«, übers. von Volker Mertens). Da Erec selbstlos handelt, exemplifiziert er ein christliches Konzept und wird somit zum Erlöser stilisiert. Wichtig ist nicht nur, dass er sich der Leiden eines fremden Ritters erbarmt und diesem zu Hilfe kommt, sondern auch, dass er am Ende der Episode die Situation geradezu in ihr Gegenteil verkehrt: Nicht Cadoc ist seinem Retter zu Dank verpflichtet, sondern Erec bittet Cadoc um einen ehrbaren Dienst: nû muote ich einer êre / von iu und ouch niht mêre (v. 5688 f., »Nun wünsch ich einen Ehrerweis von Euch und sonst keinen«, übers. von Volker Mertens). Erneut hat Hartmann seine Vorlage grundsätzlich verändert. Bei Chrétien weigert sich Erec, dem geretteten Ritter seine Identität zu enthüllen. Er erwartet von Cadoc, dass er sich an den Artushof begibt, um von dieser neuen Heldentat Zeugnis abzulegen. Erst auf diese Weise wird Cadoc den Namen seines Retters in Erfahrung bringen können. Dies entspricht dem Sinn des Romans und der conjointure. Aufgrund der vollzogenen Heldentaten kann der Protagonist seinen Namen und seinen Wert wieder erlangen. Hartmann verzichtet auf diese zeitliche Verschiebung der Identitätsenthüllung. Dem befreiten Cadoc wird kein Zwang auferlegt: Wichtig ist zunächst, dass Cadoc sich an den Artushof begab, als er von den Riesen überfallen wurde. Erec übt keinen Druck auf ihn aus, da Cadocs Reiseziel schon der Artushof war. Erec liegt daran, den Ritter zu trösten (mit dirre rede trôste er in, v. 5675), und bezieht sich dabei auf die Leiden und die Schande, die er früher selbst erfahren hat, um Cadoc Mut zuzusprechen: wie dicke ich wirs gehandelt bin (v. 5674, »wie oft ist es mir schlechter ergangen«). Erneut ermöglicht die eigene Not das Erbarmen, die compassio. Im Gegensatz zum französischen Helden strebt Erec nicht nach Ruhm und Anerkennung, sondern bittet Cadoc nur darum, die Königin seines, (d. h. Erecs) Dienstes zu versichern (und saget ir den dienest mîn, v. 5693). Auch wenn er hinzufügt, Cadoc solle seine Geschichte erzählen, dient dies nicht primär dazu, Erecs Wert hervorzuheben, sondern Cadocs Integration in den Hof zu ermöglichen: kündet ir iuwer sache gar, / unde daz ich iuch ir dar / ze ingesinde habe gesant. (v. 5694 ff., »Erzählt ihr Eure Geschichte und dass ich Euch zu ihr als Gefolgsmann geschickt habe«, übers. von Volker Mertens). Und gleich darauf nennt er seinen Namen: Êrec bin ich genant. Die gleiche Demut bestimmt seine Beziehung zu Guivreiz: Nach dem zweiten Kampf gegen den zwerghaften König nimmt Erec die ganze Schuld auf sich. Als er sieht, dass Guivreiz sich Sorgen wegen der Wunden macht, die er seinem Freund zugefügt hat, nennt sich Erec einen Toren und behauptet, er habe aus Hochmut gehandelt, obwohl das weder Erecs sonstigem Verhalten noch dem wahren Tatbestand entspricht (Erec hatte den furchterregenden Lärm einer sich nähernden Ritterschar gehört, sich
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bedroht gefühlt und hatte sich lediglich wehren wollen). Auch hier zielt er nur darauf, den Freund zu trösten, und schreckt dabei nicht vor einer Selbstanklage zurück. Interessant ist, dass diese Betonung von christlichen Werten und eine Aristokratisierung des Rittertums Hand in Hand gehen. Gewöhnlich betont die Kirche eine grundsätzliche Unvereinbarkeit zwischen nobilitas carnis und Demut bzw. nobilitas morum. Abaelard etwa erklärt in einem seiner Briefe18, Adelsgeblüt mache die Menschen eitel (gloriantes), hochmütig (praesumtuosae) und hoffärtig (superbae). In seinem Artikel zum Verhältnis zwischen Adel, Tugend und Geblüt in der mittelalterlichen Literatur19 bemerkt Karl Heinz Borck in Bezug auf eine Predigt von Notker (Vom Rehte) Folgendes: »Tugend, nicht geburt entscheidet über Wert und Würde des Menschen«20. Wenn der Tugendadel sich als oberste Stufe der Tugend behauptet, wird die nobilitas carnis in den Hintergrund gedrängt: Christliche Ethik beruht auf dem Gedanken der Gleichheit aller Menschen und setzt die moralische Verantwortung des einzelnen im voraus. Die im Schöpfungsakt begründete dignitas hominis befähigt alle Kinder Gottes, Gutes zu tun und im rechten Gebrauch der Willensfreiheit ihren ursprünglichen Adel zurückzugewinnen.21
Im Gegensatz zu dieser traditionellen Perspektive zeigt Hartmann, dass Tugend- und Geblütsadel eng miteinander verbunden sind: »[die] Anerkennung der nobilitas carnis und des auf ihr beruhenden Selbstverständnisses schließt für Hartmann freilich die Verpflichtung zu ethisch vorbildlicher Lebensführung ein.«22 Hartmanns Perspektive ist aristokratisch und zugleich stark religiös geprägt. Die Suche nach êre sowie die Ausübung der königlichen Macht werden erst durch Demut, humilitas, legitimiert: Adel zwingt zur Tugend23 und Tugend ist ohne Adel nicht denkbar. Auch Joachim Bumke24 hat darauf hingewiesen, dass der Ritter-Begriff an ethische Werte und Normen gebunden ist, die dem Adel eigen sind. Deshalb spielt der sælde-Begriff eine so bedeutende Rolle in Hartmanns Roman, da die sælde eine göttliche Gabe ist, die nur demjenigen geschenkt wird, der sie
Petrus Abaelardus, Epistolae, MPL 178, hier Sp. 269 D. Borck, »Adel, Tugend und Geblüt«. 20 Ibid., 438. 21 Ibid., 437. 22 Ibid., 442. 23 »[…] daß nobilitas zur virtus verpflichtet.«, ibid., 439. 24 Joachim Bumke, Studien zum Ritterbegriff im 12. und 13. Jahrhundert, Heidelberg 1964, 88 – 118. 18 19
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verdient. Es besteht somit eine unleugbare Beziehung zwischen geburt, tugent, êre und sælde.25 Für Guivreiz ist die adlige Herkunft seines Gegners mehr als wünschenswert (v. 4520 – 34); für Mabonagrin wäre eine nicht-adlige Herkunft Erecs ein derartiger Skandal, dass Mabonagrin eher den Tod wählen würde, als dass er eine Niederlage hinnähme, die ihm von einem unadligen Gegner zugefügt würde: hâtz ein unadels man getân, sô enwolde ich durch niemen leben. hât aber ez mir got gegeben daz irs wert von gebürte sît, sô geruochet lâzen den strît, wan sô tuon ich iu sicherheit daz ich gerne bin bereit allem iuwerm gebote. (v. 9349 – 56)
(»War es ein Unadliger, dann bringt mich nichts dazu, weiterleben zu wollen. Hat mir Gott jedoch gewährt, dass Ihr von hoher Geburt seid, so gebt bitte nach, denn dann ergebe ich mich Euch und bin gern bereit, allen Euren Befehlen zu gehorchen«, übers. von Volker Mertens). Mit Erec haben wir ein literarisches Zeugnis für ein historisches Phänomen, eine lange Entwicklung, die schon von einigen Historikern untersucht wurde. Im ausgehenden 12. Jahrhundert ist die Scheidungslinie zwischen Rittern und reichen Bauern noch relativ durchlässig: »Vorgänge von sozialem Auf- und Abstieg« sind noch durchaus möglich und »Bauern können noch ohne größere Schwierigkeiten zu Rittern aufsteigen und Ritter wieder in den Bauernstand absinken«26. Aber gerade diese Aufstiegsmöglichkeiten werden in den adligen Kreisen in zunehmendem Maße als unak25 Diese Bedeutung von Geburt und Blut hängt auch mit dem Begriff des Charismas zusammen, jener Gabe des Geistes, die einem Menschen oder einer Menschengruppe geschenkt wird (vgl. Paulusbriefe: 1 Kor. 12; Röm. 12) und Heil mit sich bringt: »Das sakrale Charisma seines Blutes hat sich in seinen Ahnen als wirksam erwiesen und lässt ihn wie seine Nachfahren teilhaben an der segenspendenden Kraft des Sippenheils« (Borck, »Adel, Tugend und Geblüt«, 426). Was Erec und dessen Rolle als Ritter und König betrifft, kommen folgende Gaben in Betracht: Tapferkeit, Weisheit, Gerechtigkeits- und Friedensliebe, Gottesliebe (caritas), Demut und Barmherzigkeit. All diese Tugenden lassen sich aus seiner nobilitas morum ableiten und tragen zur sakralen, heilbringenden Mission des Königs bei. 26 Werner Rösener, »Bauer und Ritter im Hochmittelalter. Aspekte ihrer Lebensform, Standesbildung und sozialen Differenzierung im 12. und 13. Jahrhundert«, in: Lutz Fenske, Werner Rösener, Thomas Zotz (Hgg.), Institutionen, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter. Festschrift für Josef Fleckenstein zu seinem 65. Geburtstag, Sigmaringen 1984, 665 – 692, hier 671.
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zeptabel empfunden und der Ritterstand schließt sich allmählich nach unten ab: »Cette chevalerie qui, au XIe siècle, était en quelque sorte ›la noble corporation des guerriers d’élite à cheval‹ tend à devenir […] ›la confrérie des nobles chevaliers de l’élite sociale«27. Gerade in den 80er und 90er Jahren – also in der Zeit, als der Erec ins Deutsche übertragen wurde – vollzieht sich diese Wandlung, die aus der noblen Kaste berittener Krieger eine Kaste adliger Ritter gemacht hat. Das Zögern von Guivreiz sowie die Frage von Mabonagrin verweisen auf diesen Prozess, der noch nicht abgeschlossen ist. Dies bildet eine Art Freeze Frame, das den Blick auf eine Phase der Entwicklung fokussiert. Zugleich ist die Ritterschaft zur notwendigen Übergangsstation für den königlichen Adel geworden. Man denke etwa an das berühmte Mainzer Hoffest von 1184, bei dem Friedrich I. Barbarossa seine beiden Söhne eigenhändig zu Rittern geschlagen hat. Dies entspricht genau dem Schema, das dem ganzen Roman zugrunde liegt und das von René Pérennec ausführlich untersucht wurde: Erec wird zunächst Fil roi Lac genannt, dann ritter und letztendlich künec. IV. Gewalt gegen Frauen Die christlich-didaktische Absicht des Autors erschöpft sich jedoch keineswegs in der hier gezeigten Christianisierung der ritterlichen Ideologie. Schon mehrere Forscher, wie Alexandra Sterling Hellenbrand und Albrecht Claassen haben darauf hingewiesen, dass Hartmann von Aue »nicht unbedingt eine juristische Perspektive« verfolgt, sondern sein Publikum auffordert, »insbesondere eheliche Liebe als das höchste Ideal anzusehen, den anderen nicht als Besitz zu betrachten, sondern als geliebten, damit gleich geachteten Partner«28. Dabei berufen sich Alexandra Sterling Hellenbrand und Albrecht Claassen vor allem auf das seltsame Verhalten Erecs seiner Frau gegenüber und auf die Oringles-Episode. Tatsächlich ist Erecs Reaktion in Karnant der Situation völlig unangemessen. Während im französischen Roman der Wert des Helden von Enide ausdrücklich in Frage gestellt wird, bleibt in Hartmanns Fassung Enite schuldlos, da sie sich nur über die Jean Flori, Richard Cœur de Lion. Le roi-chevalier, Paris 1999, 280. Albrecht Claassen, »Diskursthema Gewalt gegen Frauen in der deutschen Literatur des hohen und späten Mittelalters. Mit besonderer Berücksichtigung Hartmanns von Aue Erec, Wolframs von Eschenbach Parzival und Wirnts von Grafenberg Wigalois«, in: Albrecht Greule u. a. (Hgg.), Studien zu Literatur, Sprache und Geschichte in Europa. Wolfgang Hauberichs zum 65. Geburtstag gewidmet, Sankt Ingbert 2008, 49 – 62, hier 53. 27 28
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Gerüchte beklagt, die am Hof kursieren. In dieser Hinsicht ist die Strafe, die Erec ihr auferlegt, unbegründet und ungerecht und dies umso mehr, als der Text suggeriert, dass er sein Wort nicht gehalten hat: Enite hat ihm den Grund ihrer Klage unter der Bedingung enthüllt, dass er ihr verspräche, nicht zornig zu werden (v. 3047 – 49). Im französischen Text beklagt sich Enide in sehr kruden Worten über Erecs Verhalten und formuliert folgenden Tadel: Amis, con mar fus (v. 2503, »Mein Freund, was für ein Unglück über dich hereingebrochen ist«). Dieser Tadel ist im Grunde eine direkte Beleidigung, die Erecs heftige Reaktion erklärt: Seine Frau spricht ihm seine Ehre ab und stellt seinen ritterlichen Wert in Frage. Folglich nimmt er sie auf Abenteuerfahrt mit, um sie zu bestrafen und zugleich auf die Probe zu stellen. Während bei Chrétien jeder Ehepartner einen Fehler begeht, so dass sie gemeinsam auf Abenteuer reiten, um für ihren jeweiligen Verstoß gegen die gesellschaftliche Ordnung zu büßen, was durchaus logisch und kohärent ist, beruht die ganze Szene bei Hartmann auf dem Missverhältnis zwischen Enites Schuldlosigkeit und Erecs blinder Wut. Diese tief greifende Änderung, die der inneren Kohärenz und der schönen conjointure sehr schadet, dient zur Idealisierung der Protagonistin. Enite stellt den Typus der gehorsamen, geduldigen Ehefrau dar, die ihrem Mann vorbehaltlos ergeben ist, so dass sie im Gegensatz zu Enide keine Entwicklung durchmacht und am Ende des Romans die gleiche ist wie am Anfang. Der zweite Abenteuerzyklus wird nur ihre Treue, ihre Geduld und ihren Altruismus auf die Probe stellen und letztendlich auf eklatante Weise demonstrieren. Ihr Opfergeist und ihre Unterwerfung unter den Willen ihres Mannes – über dessen Befehle sie sich nur hinwegsetzt, wenn es darum geht, ihm das Leben zu retten – sind geradezu vorbildlich, so dass sie zum Maßstab wird, an dem man Erecs Entwicklung messen kann. In einer Perspektive, die derjenigen der Kirche durchaus entspricht, werden an ihr alle Tugenden aufgezeigt, die die vollkommene Ehefrau auszeichnen. Bevor sie heiratet, werden ihr Schamgefühl, ihre große Zurückhaltung (schame, v. 1725; 1732) sowie ihre Schüchternheit (sie handelt bliulîch, v. 1320; 1489) hervorgehoben, während Chrétien an dieser Stelle schon auf Enides erotische Anziehungskraft und auf die Entstehung der Leidenschaft verweist (Chr., v. 1462 – 1486). Nach der Hochzeit werden ihre güete (v. 3449) und ihre diemuot (v. 3453) betont. Sie ist also zunächst die ideale maget, um später zum idealen wîp stilisiert zu werden. Zahlreiche Metaphern, die der Bibel oder dem Marienkult entnommen sind, rücken sie in die Nähe der Heiligen Jungfrau (hier sei nur auf die Lilienmetapher oder die Vergleiche mit dem Mond hingewiesen), so dass der Leser den Eindruck gewinnt, dass ihre Idealisierung und die damit zusammenhängende christliche Ideologie die Oberhand über Handlungslogik und textimmanente Kohärenz gewonnen haben. Der Entstehung der Leidenschaft widmet Hartmann eine einzige, wenn auch ziem-
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lich lange Passage (v. 1847 – 85), so dass die Krise in Karnant unerwarteter eintritt als bei Chrétien. Eine andere Episode scheint die oben erwähnte Verurteilung der männlichen Gewalt zu bestätigen: die Konfrontation mit dem ersten Grafen. Als der Graf Enite Avancen macht, reagiert Erecs Frau ganz anders als die französische Heldin, die dem Grafen seine niederträchtige Gesinnung vorwirft und sich weigert, ihrem Mann untreu zu werden (Chr., v. 3333). Die deutsche Protagonistin antwortet zunächst, dass sie sich vor übler Nachrede fürchtet (v. 3804 ff.). Dieses Argument entspricht durchaus dem Sinn des Textes: schon in Karnant hatte Enite unter böswilligen Gerüchten zu leiden. Vor allem legt sie große Klugheit und Vorsicht an den Tag und greift zur Waffe des Schwächeren, d. h. zur List: Sie handelt durch schœnen list (v. 3842), durch schœnen wîbes list (v. 3940), um ihre êre und das Leben ihres Gatten zu schützen. Am Ende des Gesprächs mit dem Grafen fügt der Erzähler hinzu, sie habe nur aus Treue zu ihrem Mann gelogen (v. 3940 – 47). Zwar habe sie den Grafen hintergangen, aber sie hat âne sünde gelogen (v. 4027): An der Aufrichtigkeit und Reinheit der Heldin darf nicht gezweifelt werden. Sie scheint sich der schwächeren Position ihres Geschlechts durchaus bewusst zu sein und greift zur einzig möglichen Waffe, d. h. zur Lüge. Sie behauptet zunächst, sie sei nicht von hoher Geburt, sie besitze weder Land noch Leute und könne somit nicht die Frau eines Grafen werden. In einer zweiten Lüge prangert sie die verräterische Gesinnung mancher Männer an, denen nur daran liegt, Frauen zu betrügen und zu belügen. Es geht hier offensichtlich um die Verurteilung jener Frauenverführer, die den Frauen allerlei versprechen, ohne es wirklich zu meinen (daz ir uns vil ze guote / geheizet wider iuwerm muote, v. 3853 f.). Der latente Impuls für dieses Argument findet sich schon bei Chrétien, aber hier begnügt sich Enide mit folgender Ausrede: Sie habe erfahren wollen, ob der Graf sie aufrichtig (de boen cuer, v. 3363) liebe. Bei Hartmann erfüllt die fiktive Lüge eine andere Funktion: Sie dient zur Enthüllung der Wirklichkeit. Was in der Fiktion lediglich eine Lüge ist und auf Enites Situation nicht zutrifft, entspricht den außerliterarischen Verhältnissen. Davon legt Enite selbst Zeugnis ab: dâ von ich dicke hân gesehen / wîben michel leit geschehen (v. 3854 – 55). Enite geht von einer angeblich persönlichen Situation aus und verallgemeinert sie, so dass sie im Namen aller Frauen spricht, die von Männern lediglich als manipulierbare Lustobjekte betrachtet werden: daz ir uns armiu wîp dâ mite / vil gerne trieget. Auch die dritte Lüge gehört in diese besondere, beinahe feministische Perspektive: Enite macht den Grafen glauben, Erec habe sie am Hofe ihres Vaters entführt, und spart dabei nicht mit Details: Erec habe sie, als sie noch ein Kind war, vor das Tor gelockt, sie auf sein Pferd gezogen und fortge-
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führt (v. 3870 ff.). Seither zwinge er sie zu einem elenden, schändlichen Leben: sie lebe in schaden und schande (v. 3885). Eine derartige Frauenentführung, auf die meistens auch Vergewaltigung folgte, war im Mittelalter trotz juristischer Repression keine Seltenheit: Wenn Ginovere das literarische Modell für einen solchen Fall liefert, war in der Wirklichkeit wohl Eleonore von Aquitanien die berühmteste Frau, die beinahe zweimal entführt worden wäre. Nach ihrer Scheidung von Ludwig VII. galt sie als schönste Partie in Frankreich und zog viele gierige Blicke auf sich. Gleich nachdem sie Beaugency verlassen hatte, um zurück nach Poitiers zu fahren, versuchte zunächst der Graf von Blois, Thibaut V., sie zu entführen. Eleonore konnte ihm nur knapp entkommen, indem sie die Abtei von Blois überstürzt verließ. Gleich darauf geriet sie in eine zweite Falle, die ihr Geoffroy Plantagenêt – der jüngere Bruder ihres künftigen Ehemannes – in der Nähe von Port-de-Piles gestellt hatte. Auch diesmal konnte sie ihrem Entführer nur mit knapper Not entkommen. An diesem Beispiel sieht man, dass Enites Lüge nur in der Fiktion eine Lüge ist und der prekären Situation der Frauen im Mittelalter – und nicht zuletzt derjenigen, die dem höheren Adel angehörten – durchaus entspricht. Somit wäre Albrecht Claassen zuzustimmen, der in Anlehnung an Ann Marie Rasmussen betont, dass die mittelalterliche Perspektive nicht immer und grundsätzlich patriarchalisch und frauenfeindlich ist. Hier ergreift Hartmann eindeutig Partei für Frauen und plädiert gegen die Gewalt, die ihnen angetan wird. Dieser Standpunkt ist nicht der patriarchalische Standpunkt der feudalen Gesellschaft, sondern entspricht wohl eher dem der Kirche, die häufig versuchte, Frauen vor männlicher Gewalt zu schützen. V. Schlussbetrachtung Abschließend sei auf eine Parallele zwischen Licoranz und Koralus hingewiesen. Wie schon erwähnt, erinnert Koralus in mancher Hinsicht an die biblische Figur des Hiob. Er wird von Gott auf die Probe gestellt, er ist übermächtigen Gegnern (sînen übergenôzen und einer überkraft) zum Opfer gefallen, hat ohne Selbstverschulden, ohne jegliche bôsheit alles verloren und ist in Armut geraten. Bei Chrétien wird an der Figur des armen »vavasseur« das Los vieler Ritter veranschaulicht: tant ai esté toz jorz an guerre, tote en ai perdue ma terre, et angagiee, et vandue (v. 515 ff.)
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Wegen der vielen Kriege, die er geführt hat, hat er seinen ganzen Landbesitz verloren: Alles ist verpfändet oder verkauft. Somit entwirft Chrétien bereits in seinem ersten Roman ein pessimistisches Bild des Rittertums und prangert die prekäre Finanzlage an, die das Leben mancher Ritter kennzeichnet. Dieser Ritter konnte also nur der unteren Schicht des Adels angehören, da die plötzliche Verarmung eines mächtigen Grafen oder Fürsten wenig glaubwürdig gewesen wäre. Indem Hartmann Enites Vater mit einer biblischen Figur gleichsetzt, kann er aus ihm einen ehemals mächtigen Grafen machen und somit die soziale Kluft zwischen Enite und Erec verringern. Die Armut des »vavasseur« ist kein Zeichen des sozialen Versagens, sondern sie wird als Schicksalsschlag betrachtet, der jeden treffen und dem ein Ritter kaum entkommen kann: povretez fet mal as plusors / et autresi fet ele moi (V. 510 f., »Die Armut wird vielen Leuten zum Verhängnis und so auch mir«). Diese düstere und zugleich realistisch anmutende Auffassung des Rittertums wird das ganze Werk Chrétiens leitmotivisch durchziehen, man denke etwa an den Conte du Graal, in dem das Rittertum eindeutig unter dem Zeichen des Todes steht. Dieser Auffassung ist Hartmanns Ideologie diametral entgegengesetzt: Hartmann entwirft das durchaus utopische Bild eines christlichen Rittertums, das in der Welt verankert bleibt. Vielleicht hat er aus genau diesem Grund den Conte du Graal nicht adaptiert. Auf jeden Fall ist es ihm im Erec und Iwein gelungen, die Kluft zwischen ritterlichem und christlichem Leben zu überbrücken.
Iweins Lob der Nacht Tageszeiten-, Jahreszeiten- und Lebensalter-Metaphorik als Deutungsperspektive für Hartmanns Iwein Von Ulrich Barton Iweins letzte beiden Aventiuren – die Burg zum Schlimmen Abenteuer und der Gerichtskampf gegen Gawein – haben für den Gesamtroman die gleiche Bedeutung wie die Joie de la curt-Episode und der Kampf gegen Mabonagrin für den Erec-Roman: Im jeweiligen Szenarium ist das Grundproblem der Handlung auf symbolisch-allegorische Weise versinnbildlicht, und der jeweils letzte Kampf gilt einem Gegner, der den zu überwindenden Krisenstatus des Protagonisten spiegelt.1 Darin folgt Hartmann von Aue seiner französischen Vorlage, dem Yvain Chrétiens de Troyes. Er hebt jedoch die Programmatik der beiden Schlussaventiuren durch zwei markante, von der Forschung bisher wenig beachtete, geschweige denn in ihrer Zusammengehörigkeit gesehene Zusätze hervor, die auf jeweils unterschiedliche Weise eine Deutungsperspektive auf den gesamten Roman eröffnen. Einerseits Teil der Handlung, andererseits über sie hinausragend, werfen sie ein Licht auf die in der Forschung kontrovers diskutierten Fragen nach Iweins Schuld, der Idealität des Artushofes und dem Verhältnis zwischen Artusroman und Mythos. I. Sommer und Winter auf der Burg zum Schlimmen Abenteuer Der Name der Burg – Pesme Aventure –, den nur Chrétien, nicht Hartmann nennt, zeigt die programmatische Bedeutung der hier zu bestehenden 1 Vgl. Gert Hübner, Erzählformen im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im ›Eneas‹, im ›Iwein‹ und im ›Tristan‹, Tübingen / Basel 2002, 166 f. – Ein, letztlich nicht ins Gewicht fallender, Unterschied zum Erec liegt darin, dass die programmatische Aventiure und der Schlusskampf in keinem direkten Verhältnis zueinander stehen.
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Aventiure bereits an: Er erklärt sich daraus, dass das ›unselige Aventiurestreben‹ bzw. der ›schlechte Ausgang der Aventiure‹ eines erst 18jährigen Landesherrn 300 adlige Damen in die erbärmliche Lage versetzt hat, hier gefangen gehalten und als Arbeiterinnen missbraucht zu werden. Der Landesherr der sog. ›Jungfraueninsel‹ war im Kampf den beiden Riesen der Burg unterlegen und hat sich, um sein Leben zu retten, dazu verpflichtet, jedes Jahr 30 Jungfrauen von seiner Insel als Zins hierher zu schicken. Unschwer lässt sich in diesem verantwortungslosen, nur nach Aventiure strebenden Landesherrn ein Spiegelbild Iweins erkennen, der selbst seine Frau Laudine und das ihm unterstellte Quellenreich im Stich gelassen hat, um zusammen mit den anderen Artusrittern auf Aventiure und Turniere auszureiten. Dass dies die charakteristische Lebensform der Artusritter ist, zeigte sich gleich zu Beginn des Romans, als Kalogreant von seiner gescheiterten Quellenaventiure berichtete und dabei den Begriff âventiure auf bezeichnende Weise definierte: Ein Ritter zieht aus, um im Kampf gegen einen anderen Ritter seine manheit unter Beweis zu stellen und prîs zu erwerben (v. 530 – 537).2 In genau diesen Spuren wandelte Iwein, als er daraufhin selbst zum Quellenreich auszog und die Aventiure auf die Weise bestand, dass er den Quellenherrn umbrachte und dafür dessen Frau und Land gewann. Zweimal also machte Iweins Aventiurestreben das Quellenreich schutzlos: zum ersten Mal, als es dessen Herrn das Leben kostete; zum zweiten Mal, als es Iwein, der ihn nun zu ersetzen hatte, zurück zum Artushof trieb. Das Schicksal der 300 Damen führt Iwein vor Augen, in welche Lage Laudine seinetwegen hätte kommen können.3 Das Aventiurerittertum erweist sich als Kernproblem des Iwein-Romans. Nachdem Iwein von den 300 Damen den Grund ihres Elends erfahren und sein Mitleid bekundet hat, geht er zusammen mit seinem Löwen und seiner Begleiterin, der Botin der jüngeren Schwester vom Schwarzen Dorn, weiter, um die Burgbewohner zu suchen. Als er im Palas niemanden finden kann, folgt er einem wanke (v. 6430), d. h. einem Seitenweg, der ihn am Palas vorbeiführt hin zu einer Treppe, über die er in einen als locus amoenus dargestellten boumgarten gelangt. Dort findet er einen in einem prächtigen Bett liegenden altherre[n] (v. 6441), dessen neben ihm sitzende, wohl gleichaltrige Frau sowie ihre gemeinsame Tochter, die ihnen vorliest, um ihnen die Zeit zu vertreiben. In den folgenden hundert Versen, die nur diese viere (v. 6517) in den Blick nehmen, scheinen der Löwe und die Begleiterin 2 Alle Iwein-Zitate aus: Hartmann von Aue, Gregorius, Der arme Heinrich, Iwein, hg. u. übers. Volker Mertens (Bibliothek des Mittelalters, Bd. 6), Frankfurt a. M. 2004, 317 – 767. 3 Vgl. Oliver Bätz, Konfliktführung im ›Iwein‹ des Hartmann von Aue, Aachen 2003, 238 – 240.
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völlig verschwunden zu sein. Es scheint so, als habe Iwein auf seinem wanke die eigentliche Romanhandlung verlassen, als habe der Seitenweg ihn in ein Jenseits der Geschichte geführt, von wo aus auf sie reflektiert werden kann. Angezeigt ist das dadurch, dass hier gerade nicht gehandelt, sondern gelesen wird. Das ist zwar bei Chrétien schon angelegt, doch erst Hartmann macht sich diese Gelegenheit ganz zunutze, um im folgenden ein geradezu allegorisches Bild zu entwerfen, das ›neben‹ der Handlung zu stehen und sie auf höherer Ebene zu reflektieren scheint.4 Die Vierergemeinschaft teilt sich in zwei Zweiergruppen auf, die sich des willen sam der jâre (v. 6521) unterscheiden: auf der einen Seite die beiden alten Eheleute, auf der anderen die beiden Jungen Iwein und die Tochter. diu zwei jungen senten sich vil tougen in ir sinne nâch redelîcher minne, unde vreuten sich ir jugent, unde redten von des sumers tugent unde wie si wolden, ob si leben solden, guoter vreude walten. dô redten aber die alten, si wæren beidiu samt alt unde der winter wurde lîhte kalt: sô solden si sich behüeten mit rûhen vuhs hüeten vor dem houpt vroste. si schuofen ir koste ze gevüere unde ze gemache: si ahten ir sache nâch dem hûs râte. (v. 6524 – 6541)
Der Seite der Jugend sind der Sommer, die minne und die vreude zugeordnet, dem Alter der Winter, die Sorge um das angenehme Leben (gemach) und die Hausverwaltung (hûs rât). Nicht nur werden hier die Lebensalter in topischer Weise mit den Jahreszeiten verknüpft;5 die Lebensalterbeschrei4 Die meisten Interpretationen dieser Textstelle nehmen nur das Idyllische der Szenerie in den Blick und deuten dieses als scheinhafte Fassade der schlimmen Kehrseite: des Arbeitshauses und des Riesen-Kampfes (so z. B. Peter Kern, »Interpretation der Erzählung durch Erzählen. Zur Bedeutung von Wiederholung, Variation und Umkehrung in Hartmanns ›Iwein‹«, ZfdPh 92 [1973], 338 – 359, hier 356; Bätz, Konfliktführung, 237 f.). Hartmann jedoch hat dieser Szene einen neuen Schwerpunkt gegeben, nämlich die im Folgenden ausgeführte Gegenüberstellung von Jugend und Alter.
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bungen klingen auch an entscheidende Stellen des Romans an. So erinnert die Beschreibung der Jugend an die Darstellung des Artushofs, mit der der Roman beginnt: dô man des pfingestages enbeiz, männeclîch im die vreude nam der in dô aller beste gezam. dise sprâchen wider diu wîp, dise banecten den lîp, dise tanzten, dise sungen, dise liefen, dise sprungen, dise hôrten seitspil, dise schuzzen zuo dem zil, dise redten von seneder arbeit, dise von manheit. (v. 62 – 72)
Das Artusfest findet zu Pfingsten, d. h. im Frühling / Sommer statt; jeder geht dem nach, was ihm vreude bereitet, und die Liebe spielt eine große Rolle (wider diu wîp sprechen, senediu arbeit). Der Artushof erscheint als der Ort der Jugend, des Sommers, der vreude. Die Beschreibung des Alters dagegen hat ihre Parallele in Gaweins verhängnisvollem Rat, mit dem er Iwein nach der Hochzeit mit Laudine davor warnt, sich wie Erec zu verligen bzw. zu einem trägen Hausmann zu werden: Erec habe sich ganz auf die Bequemlichkeit (gemach, v. 2791) ausgerichtet und dadurch seine ritterliche êre verloren; der träge hûs wirt zieht weder auf Aventiure aus noch veranstaltet er höfische Feste: er giht er sül dem hûse leben. er geloubet sich der beider, vreuden unde cleider die nâch rîterlîchen siten sint gestalt unde gesniten. unde swaz er warmes an leit, daz giht er ez sîn wirtes cleit. er treit den lîp swâre, mit strûbendem hâre, barschenkel unde barvuoz. (v. 2812 – 2821) 5 Weitere Belege für diesen schon aus der Antike stammenden Topos bei Franz Boll, »Die Lebensalter. Ein Beitrag zur antiken Ethologie und zur Geschichte der Zahlen« (1913), in: ders., Kleine Schriften zur Sternkunde des Altertums, hg. Viktor Stegemann, Leipzig 1950, 156 – 224, hier 162 – 165, 173 – 175; John A. Burrow, The Ages of Man. Study in Medieval Writing and Thought, Oxford 1986, 12 – 20. Zur Lebensaltertopik allgemein vgl. Dorothee Elm, Thorsten Fitzon, Kathrin Liess, Sandra Linden, »Einleitung« in: dies. (Hgg.), Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie, Berlin / New York 2009, 1 – 18.
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Er verzichtet auf die höfischen vreuden, nimmt grôz sorge (v. 2838) um das Haus auf sich und zieht sich warme, unritterliche Kleider an – etwa die rûhen vuhs hüete. Die beiden Alten verkörpern also das, was Gawein seinem Freund Iwein als abschreckendes Beispiel ausgemalt hat. In der allegorischen Baumgarten-Szenerie dagegen wirken die beiden Alten keineswegs abschreckend: si ne mohten beidiu niht baz / von sô alten jâren / getân sîn noch gebâren. (v. 6452 – 6454) So wie die beiden Lebensalter hier dargestellt sind, haben sie beide ihr Recht und ihre Zeit6 – genau wie die Jahreszeiten. Was Gawein in zwei Lebensmodellen kontrastierte, wird hier in zwei Lebensalter überführt und darüber hinaus mit dem natürlichen Jahreszeitenzyklus verbunden. Iwein ist Gaweins Rat gefolgt, hat sich nicht verlegen, sondern als Artusritter weiter êre erworben, und dementsprechend sitzt er nun im Baumgarten zusammen mit der Tochter auf der Seite der Jugend. Doch das harmonische Bild trügt: Wegen Gaweins Rat hat Iwein Laudine verloren, und um Laudines willen wird er am nächsten Tag die Hand der Tochter ablehnen, obwohl die so vollkommen ist, dass sie sogar einen Engel dazu verleiten könnte, aus dem Himmel zu ihr herabzusteigen (v. 6500 – 6503). Die Baumgarten-Szenerie mit ihrer Gegenüberstellung von Jugend und Alter wirkt wie eine zeitlose Allegorie, doch über ihr liegt ein warmer âbent (v. 6489), der schon anzukündigen scheint, dass der eine Tag vorübergeht und ein nächster bevorsteht. Allmählich bricht die Nacht herein; das isoliert stehende Bild wird in die Handlung zurückgeleitet, und ebenso wenig, wie die Handlung stillstehen kann, wird Iwein auf der Seite der Jugend bleiben können.
6 So deutet auch Sullivan diese Gegenüberstellung: »in the passage’s handling of both youth and older age, the intent appears to be merely that of pointing out that to each age of life certain things (emotions, habits, wants, fears) belong, that those things occur naturally, and that they are not in and of themselves either negative or positive. Indeed, the text would seem to be saying, in general, that both older age and youth are equally worthy stages of human life.« (Joseph M. Sullivan, »Youth and Older Age in the Dire Adventure of Chrétien’s Yvain, the Old Swedish Hærra Ivan, Hartmann’s Iwein and the Middle English Ywain and Gawain«, Arthurian Literature 24 [2007], 104 – 120, hier 116) Diese neutrale Bewertung der beiden Lebensalter unterscheide Hartmanns Text von demjenigen Chrétiens: In diesem nämlich, der keine solche allegorische Gegenüberstellung der Lebensalter enthält, verkörpert sich die Jugend allein in dem jungen Landesherrn der Jungfraueninsel, und der werde von einer der gefangenen Frauen scharf kritisiert, so dass Sullivan Chrétiens Darstellung als »criticism of youthful foolishness in undertaking adventure« (110) versteht.
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II. Tag und Nacht beim Kampf zwischen Iwein und Gawein Der Kampf, den Iwein und Gawein gegeneinander ausfechten müssen, ist auf der Handlungsoberfläche ein Rechtsstreit zwischen den beiden Schwestern vom Schwarzen Dorn um das väterliche Erbe. Die ältere Schwester beansprucht das Gesamterbe für sich, während die jüngere eine Teilung des Erbes zu erreichen sucht; um dies durchzusetzen, beabsichtigt sie, am Artushof einen Ritter zu finden, der für sie eintritt. Die ältere Schwester kommt ihr zuvor und kann Gawein, den besten Artusritter, für sich gewinnen. Damit hat die jüngere Schwester schlechte Karten, und ihr bleibt nichts anderes übrig, als nach dem berühmten Löwenritter als Beistand zu suchen. Der sagt ihr seine Hilfe zu, und so kommt es, dass die beiden besten Freunde einander im Kampf gegenüberstehen, ohne einander zu erkennen. Wenn Iwein nun für die jüngere Schwester kämpft, so steht er zum einen an Gaweins Stelle, da Gawein der beste Artusritter gewesen wäre, den die jüngere Schwester hätte gewinnen können; zum andern stellt sich spätestens nach dem Kampf durch Artus’ Fangfrage heraus, dass Iwein auf der Seite des Rechts gekämpft hat (v. 7655 – 7670).7 Wenn Iwein und Gawein sich dann im Kampf als einander ebenbürtig erweisen, hat Iwein den Vorzug, für das Recht zu kämpfen, und ist damit dem besten Artusritter zwar nicht in der Kampftüchtigkeit, dafür aber in seiner moralischen Integrität überlegen. Diese Deutungen des Zweikampfes betreffen die Handlungsoberfläche. Auf einer tieferen Ebene empfängt Gawein hier gewissermaßen seine ›Strafe‹ für den Rat, der zu Iweins ungevelle (v. 3030) ausschlug.8 Doch die beiden Freunde stehen einander zu nahe (vgl. v. 2697 – 2713), als dass der Kampf nur eine Bestrafung Gaweins bedeuten könnte: In Gawein steht Iwein sich selbst gegenüber, der er ja Gaweins Rat gefolgt und immer wieder als Gawein-Stellvertreter in Erscheinung getreten ist.9 Wie Erec in Mabonagrin, überwindet Iwein in Gawein seine eigene Krise. Als die beiden Freunde den ganzen Tag lang ohne Entscheidung gekämpft haben, schiet si beide diu naht (v. 7349). In gegenseitigem Respekt
7 Darauf, dass die rechtliche Situation nicht so klar ist, wie sie aufgrund der vom Text vollzogenen Sympathielenkung erscheint, weist Mertens, Laudine, 100 – 104, hin. 8 Vgl. Wolfgang Harms, Der Kampf mit dem Freund oder Verwandten in der deutschen Literatur bis um 1300, München 1963, 134 f. 9 Im Kampf für Lunete, für Gaweins Verwandte und jetzt für die jüngere Schwester vom Schwarzen Dorn.
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setzen sie sich zusammen, und Iwein beginnt ein Gespräch mit seinem Gegner, in dem er Folgendes bekennt: [I]ch minnet ie von mîner maht den liehten tac vür die naht: dâ lac vil mîner vreuden an, unde vreut noch wîp unde man. der tac ist vrœlîch unde clâr, diu naht trüebe unde swâr, wande si diu herze trüebet. sô der tac üebet manheit unde wâfen, sô wil diu naht slâfen. (v. 7381 – 7390)
Wie bei der Baumgarten-Allegorie wird hier ein Gegensatz deutlich herausgestrichen: dort der zwischen Sommer und Winter, hier der zwischen Tag und Nacht. Der Tag ist dabei gekennzeichnet durch vreude, manheit und Kampf, die Nacht durch Trübsal und Schlaf. Das liehte und clâre des Tages wird man wohl auf den Glanz der êre beziehen können, während die Nacht gerade deswegen trüebe sein dürfte, weil man im slâfen und sich verligen keine êre gewinnt.10 Auch diese programmatisch scheinende Stelle hat eine Parallele im Artusfest am Beginn des Romans: Gâwein ahte umbe wâfen: / Keiî legte sich slâfen / ûf den sal under in, / ze gemache âne êre stuont sîn sin. (v. 73 – 76) Mit Gawein und Keie sind der glanzvollste und der zweifelhafteste Vertreter des Artushofes einander gegenübergestellt; dem entsprechend scheint der Gegensatz zwischen wâfen und slâfen zu werten zu sein. Wenn slâfen gleichbedeutend ist mit gemach âne êre, dann lässt sich auch die hier entworfene Gegensätzlichkeit von Tag und Nacht, von Licht und Finsternis auf Erec beziehen:11 Man denke nur an die Schlafzimmer-Episode, in der die Sonne das – offenbar zuvor dunkle – Gemach mit Licht erfüllt, so dass Erec und Enite einander sehen und sich ihres êre-losen Lebens bewusst werden können.12 Sie haben den Tag zur Nacht gemacht13 10 Eine solche Geringschätzung und Vernachlässigung der Nacht prägt das ganze Erzählverhalten des höfischen Romans, vgl. Mireille Schnyder, Topographie des Schweigens. Untersuchungen zum deutschen höfischen Roman um 1200, Göttingen 2003, 225: »Diese Ausklammerung der Nacht als Ort der Ruhe, deren Zeit nicht gezählt wird [dadurch dass man bei Zeitangaben nur die Zahl der Tage nennt, U. B.], ist im höfischen Roman die Regel. Die Nächte werden nicht er-zählt, meistens gar nicht erwähnt, so dass die Erzählung in einer eigentlichen Ruhelosigkeit durch die Tage zieht«. 11 Schnyder, Topographie, die Hartmanns Erec eine »eigentliche Nachtgeschichte« (236) nennt, stellt fest, dass bei Hartmann die Nacht eine größere Rolle spielt als bei Chrétien, indem Hartmann Erecs erste Aventiuren nach der Krise bewusst in die Nacht verlegt (236 f.).
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und damit ihre êre verloren. Die Nacht scheint also für Erecs Fehler zu stehen, den Iwein unbedingt vermeiden wollte. Um so auffälliger und bezeichnender ist es, wenn Iwein jetzt, im Kampf gegen den für tac und wâfen stehenden Gawein, die Nacht lobt und dieses Lob noch mit folgenden Worten erweitert: ich minnet unz an dise vrist den tac vür allez daz der ist: deiswâr, edel rîter guot, nû habt ir den selben muot vil gar an mir verkêret. der tac sî gunêret: ich hazze in iemer mêre, wander mir alle mîn êre vil nâch het genomen. diu naht sî got willekomen: sol ich mit vreuden alten, daz hât si mir behalten. (v. 7391 – 7402)
Iwein sagt, sein Gegner habe ihm seine Vorliebe für den Tag ins Gegenteil verkehrt – ausgerechnet Gawein, der für den Tag steht und Iwein zum entsprechenden Verhalten überredet hat, hat ihn nun die Liebe zur Nacht gelehrt! Iwein spricht dem Tag die êre ab, da der ihm beinahe seine ganze êre genommen hätte. Aus der konkreten Situation heraus ist das so zu verstehen, dass Iwein besiegt worden wäre, wenn die Nacht nicht rechtzeitig hereingebrochen wäre. Später, nach der gegenseitigen Erkennung der Freunde, sagt Iwein sogar: ich verwâze swert unde den tac (v. 7552) – hier sind wiederum Tag und Kampf zusammengedacht. Diese Verfluchung des Tages und Wertschätzung der Nacht sind zu emphatisch und zu programmatisch gesprochen, um nicht noch eine tiefere Bedeutung zu haben: Dass der Tag Iwein fast die ganze êre genommen habe, lässt sich denn auch gut auf seine Krise beziehen, die ja darin bestand, dass er der tage ze vil vertreip (v. 3050). Iwein hat sich übermäßig dem Tag hingegeben. Wie Erec den Tag 12 Hartmann von Aue, Erec, v. 3016 – 3022: nû gezam des wol der sunnen schîn, / daz er ir dienest muoste sîn: / wan er den gelieben zwein / durch ein vensterglas schein / und hete die kemenâten / liehtes wol berâten, / daz si sich mohten undersehen. (dieses und alle weiteren Erec-Zitate nach: Hartmann von Aue, Erec, hg. Manfred Günter Scholz, übers. Susanne Held [Bibliothek des Mittelalters, Bd. 5], Frankfurt a. M. 2004) Hartmann scheint besonderen Wert auf diese Licht-Dunkelheit-Metaphorik gelegt zu haben, denn sie hat keine Parallele bei Chrétien (vgl. den Kommentar der Ausgabe zu v. 3016 – 3024). 13 Vgl. Barbara Nitsche, Die Signifikanz der Zeit im höfischen Roman. Kulturanthropologische Zugänge zur mittelalterlichen Literatur (Kultur, Wissenschaft, Literatur 12), Frankfurt a. M. 2006, 48 – 50.
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zur Nacht, so hat Iwein die Nacht zum Tag gemacht. Die Fristversäumnis ist weniger zeitlich als symbolisch zu verstehen: Die Verabsolutierung des Tages als Lebensform war der Fehler. Dazu hatte ihn Gawein, der MusterArtusritter und Vertreter des Tages, gebracht. Der Artushof, der Ort des Sommers und der Jugend, lässt sich also auch verstehen als der Ort des ›ewigen Tages‹. Nach der hier formulierten Logik der Gegensätzlichkeit würde daraus folgen, dass Laudines Quellenreich als Ort der Nacht zu gelten hätte. Doch das wäre wohl zu kurz geschlossen, so wie Iwein hier zu kurzschlüssig erklärt, den Tag von nun an zu hassen und nur noch die Nacht zu lieben. Dieser Schluss würde direkt in den Erec-Fehler zurückführen, der ja ebenfalls vermieden werden soll. Das Laudinereich, der Zielpunkt von Iweins Aventiurenweg, müsste für den Ausgleich und damit den regelmäßigen, gewissermaßen natürlichen Wechsel von Tag und Nacht stehen. Um dorthin zu finden, muss Iwein zunächst den Wert der Nacht kennenlernen und anerkennen, was sich hier in einem übermäßigen Bekenntnis zu ihr ausdrückt. Die Erkenntnis, die Iwein aus dem Kampf mit Gawein gewinnt, entspricht strukturell (nicht inhaltlich!) der Erkenntnis, die Erec Mabonagrin mitteilt, nachdem er ihn besiegt hat: Es sei sowohl für die êre als auch für die Liebe das Beste, wenn der Ritter nicht permanent bei seiner Liebsten ist, sondern sie dann und wann verlässt, um sich ritterlich zu betätigen, wenn er also nicht den Tag zur Nacht macht und diese verabsolutiert.14 Erec sagt zwar, er habe das heimlich von den Frauen selbst gehört (Erec, v. 9425 – 9428), aber da der zweite Handlungszyklus nichts von einem solchen Belauschen der Frauen erzählt und Erec zur Zeit seiner Krise von dieser Weisheit offenbar noch nichts wusste, scheint es nach der Logik der Romanstruktur so, als werde ihm die Erkenntnis erst im Kampf mit seinem Spiegelbild zuteil. Ähnlich verhält es sich hier bei Iwein: Es ist der Kampf mit seinem Spiegelbild Gawein, dem er die Erkenntnis vom Wert der Nacht verdankt, und dies nun aber dadurch, dass er Gawein gerade nicht besiegt, dass also der Kampf nicht durch ihn, sondern durch die Nacht beendet wird. Ein Sieg läge nur in der Logik des Tages und könnte nicht aus ihr herausführen – es sei denn durch die schreckliche Konsequenz, dass der Sieg in diesem Fall die eigene Niederlage und den Verlust aller êre bedeuten würde, da der eine Freund den anderen umbrächte. Diese Konsequenz stellt der Erzähler eindringlich vor Augen: sweder den sic dâ kôs, / der wart mit sige sigelôs. / in het unsælec getân / aller sîner sælden wân, / er hazzet daz er minnet, / unde verliuset sô er gewinnet. (v. 7069 – 7074) Der Kampf der bei14 Hartmann, Erec, v. 9417 – 9431. Im Iwein wird diese Erkenntnis sogar von Gawein selbst formuliert, wenn er Iwein vor dem Erec-Fehler warnt (v. 2869 – 2872).
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den ›Tages-Ritter‹ Iwein und Gawein zeigt, in welche Katastrophe ein Tag ohne Nacht, d. h. der Tag als Lebensform führen kann. Er bringt die Ritter in eine tragische Situation, die sie aus ihrer Lebensform heraus nicht selbst lösen können.15 Zwei Wege gibt es, die die Ritter zu der Erkenntnis zu führen vermögen, dass in der Logik des verabsolutierten Tages die absurde Konsequenz eines sigelôsen siges liegt: die tragische Katastrophe oder die Gnade eines deus ex machina. Hier ist es der deus ex machina in Form der Nacht, der die Katastrophe verhindert und den beiden Rittern die Erkenntnis schenkt. Die Nacht als göttliche Gnade zu verstehen bzw. als Symbol für sie, erscheint um so berechtigter, wenn man die Lösung einer anderen tragischen Situation betrachtet, in der sich Iwein zuvor einmal befand und die er aus eigener Kraft nicht hätte lösen können: als er nämlich auf den Riesen Harpin warten musste, um die Familie von Gaweins Schwester vor ihm zu beschützen, und zugleich rechtzeitig aufbrechen sollte, um Lunete vor der Hinrichtung zu bewahren. Die Aussichtslosigkeit seiner Lage war ihm bewusst: ich bedarf wol guoter lêre. / unde weiz wol, swederz ich kiuse, / daz ich daran verliuse. / […] nû ne mag ich ir beider niht bestân / unde getar ouch ir dewederz lân / nû gebe mir got guoten rât, / der mich unz her geleitet hât (v. 4876 – 4878, 4887 – 4890). Dass der Konflikt gelöst wird, beruht nur auf der glücklichen Fügung, dass der Riese rechtzeitig kommt, und diese Fügung schreibt man nach Iweins Worten unwillkürlich Gott zu. Wenn Iwein sich hier verstrickt hat zwischen seiner Freundschaft gegenüber Gawein (und damit auch dessen Verwandten) einerseits und seiner Verpflichtung gegenüber Lunete andererseits, dann spiegelt diese Situation wiederum seine Krise, in der er sowohl Gawein als auch Laudine verpflichtet war, nur dass er sich der Tragik dieser Situation erst durch die Katastrophe bewusst wurde: Er entschied sich für den ›Tag‹ und gegen die ›Nacht‹, woraufhin diese ihn in der Verstoßung durch Laudine und dem daraus folgenden Wahnsinn (sozusagen als geistiger Umnachtung) einholte. Die Krise wird im Kampf zwischen Iwein und Gawein bewältigt, und zwar dadurch, dass Iwein den Wert der Nacht und damit die Relativität des Tages (an-) erkennt. Selbstverständlich darf man die Tag-Nacht-Motivik nicht überstrapazieren, da Tag und Nacht offenbar als Metaphern für die ›eigentlichen‹ Probleme (die Vereinbarkeit von minne und êre, von Rittertum und Landesherr15 Das komische Gegenstück zur Tragik des Freundeskampfes findet sich nach der gegenseitigen Erkennung der beiden: Nun ringt jeder nicht mehr nach dem eigenen Sieg, sondern nach der eigenen Niederlage (pointiert: v. 7565 gegenüber v. 7578). Hier wird die Logik des Tages in eine komische Absurdität getrieben.
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schaft) verwendet werden. Jedoch zeigt sich hier, wie glücklich diese Metaphorik gewählt ist, weil sie mehreres zu verbinden vermag, was nur schwer auf einen Begriff zu bringen wäre. Eine Schwierigkeit der Iwein-Interpretation besteht bekanntlich in der Frage, was Iwein denn auf seinem zweiten Aventiurenweg ›lernt‹, das sein Rittertum vervollkommnen und ihn vor einer weiteren Krise schützen könnte. Mögliche Antworten darauf sind: erbarmen und triuwe als Hilfe für andere statt des eigenen êre-Strebens16, triuwe als herrscherliche Verantwortung17, alternative Konfliktlösungsstrategien anstelle des Kampfes18. Wenn man jedoch bedenkt, dass er Lunete nur deswegen beistehen kann, weil der Riese glücklicherweise rechtzeitig erscheint, oder dass nur die Nacht ihn vor der Freundestötung bewahrt, dann kann man mit gutem Grund sagen, dass, was immer er auf dem zweiten Aventiurenweg lernen sollte, dies ihn offenbar nicht vor weiteren Krisen und möglichen Katastrophen zu schützen vermag.19 Gleichwohl würde man wiederum nicht behaupten wollen, Iwein, der Artusritter, der eigenmächtig eine Aventiure provoziert und den Gegner um der eigenen êre willen erschlägt, und Iwein, der Löwenritter, der aus triuwe, aus erbarmen und für das Recht kämpft, wären nicht zu unterscheiden. Beide Interpretationsansätze sind durch den Text gerechtfertigt, und das wird gerade durch die Tag-Nacht-Metaphorik bestätigt, die beide zusammenzudenken erlaubt: In dem hier vorgestellten Nacht-Verständnis liegt sowohl eine Relativierung des Tages – und d. h. des Gebrauchs der wâfen, des Strebens nach prîs und êre –, die der Protagonist durchaus selbst zu leisten hat, als auch der Aspekt der Unverfügbarkeit, der Gnade, die er nur annehmen, nicht selbst durch Kampf oder guten Willen erzwingen kann. Die Bewältigung der Krise liegt also weniger im Erwerb bestimmter Tugenden und Fertigkeiten als in der Vgl. z. B. Kraft, Triuwe. Vgl. z. B. Mertens, Laudine. 18 Vgl. Bätz, Konfliktführung. 19 Zu dieser Position kommen aus verschiedenen Richtungen Hubertus Fischer, Ehre, Hof und Abenteuer in Hartmanns ›Iwein‹. Vorarbeiten zu einer historischen Poetik des höfischen Epos, München 1983, und Walter Haug, »Chrétiens ›Yvain‹ und Hartmanns ›Iwein‹: Das Spiel mit dem arthurischen Modell«, in: ders., Die Wahrheit der Fiktion, Tübingen 2003, 223 – 238. Aus sozialgeschichtlicher Perspektive argumentiert Fischer dafür, dass der Iwein eine grundsätzliche Aporie der feudal-höfischen Ideologie vor Augen führe, nämlich die doppelte Verpflichtung des höfischen Ritters zu materiellem Grundbesitz und zugleich zur Teilhabe an der ideellen, unbedingt auf die êre ausgerichteten ritterlichen Kultur. Haug dagegen interpretiert den Iwein als intertextuelles Spiel mit dem Erec, genauer als dessen bewusste Fehllektüre, die glaube, das dem Erec zugrundeliegende Problem lasse sich einfach dadurch lösen, dass man Erecs Fehler vermeidet; wenn Iwein dennoch in die Krise gerät, beweise das, dass das nicht zu lösende Grundproblem beider Romane im absoluten Anspruch des Eros liegt. 16 17
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Vertiefung und Verinnerlichung des Rittertums und in der Einsicht in eine letztlich unaufhebbare Grundwidersprüchlichkeit, die die Krise ausgelöst hat. Beide Aspekte sind durch die Nacht versinnbildlicht. III. Folgen für die Gesamtinterpretation Wenn man die beiden hier behandelten Textstellen mit ihrer korrespondierenden Bipolarität von Jugend und Alter, Sommer und Winter, Tag und Nacht zusammennimmt und sie als verständnislenkende Kommentare zur Haupthandlung wertet, ist zu fragen, welches Licht von ihnen aus auf bestimmte kontrovers diskutierte Punkte der Iwein-Interpretation fällt. 1. Das Bild des Artushofes Es löst immer wieder Irritationen aus, dass einerseits der Prolog behauptet, König Artus sei ein Vorbild für jeden, der sælde und êre (v. 3) erlangen wolle, und dass die Romanhandlung andererseits ein eher fragwürdiges Bild des Artushofes zeichnet:20 Artus und seine Frau ziehen sich am helllichten Tag ins Schlafzimmer zurück; Kalogreant scheitert an der Quellenaventiure; Lunete wird von keinem Artusritter außer Iwein freundlich behandelt; Gaweins Rat stürzt Iwein in die Krise; Artus kann die Entführung seiner Frau nicht verhindern; die Artusritter stehen bei Hilfsbedarf bisweilen nicht zur Verfügung, so dass der Löwenritter einspringen muss; Gawein kämpft zuletzt auf wenn nicht rechtlich, so immerhin moralisch fragwürdiger Seite. All diese Punkte lassen sich als Kritik am Artushof interpretieren, etwa an einem veräußerlichten Begriff von êre, an der Gedanken- und Verantwortungslosigkeit, die gerade Kalogreant und Iwein, bei der Entführung der Königin auch alle anderen Artusritter an den Tag legen. Wird der Artushof also einer Kritik unterzogen und als defizitär dargestellt? Die Interpretation der Baumgarten-Allegorie und des Freundeskampfes hat gezeigt, dass der Artushof als das Reich des Tages, dem manheit, wâfen 20 Zum Bild des Artushofes und zur Artushofkritik im Iwein vgl. Horst Peter Pütz, »Artus-Kritik in Hartmanns ›Iwein‹«, GRM 53, N.F. 22 (1972), 193 – 197; Bernd Schirok, »Artûs der meienbære man. Zum Stellenwert der ›Artuskritik‹ im klassischen deutschen Artusroman«, in: Rüdiger Schnell (Hg.), ›Gotes und der werlde hulde‹. Literatur in Mittelalter und Neuzeit (FS Heinz Rupp), Bern / Stuttgart 1989, 58 – 81; Klaus Grubmüller, »Der Artusroman und sein König – Beobachtungen zur Artusfigur am Beispiel von Ginovers Entführung«, in: Walter Haug, Burghart Wachinger (Hgg.), Positionen des Romans im späten Mittelalter (Fortuna vitrea 1), Tübingen 1991, 1 – 20.
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und êre zugeordnet sind, und als das Reich des Sommers21, zu dem vreude und minne gehören, verstanden werden kann. Diese Zuschreibungen sind stimmig und passen in das gängige Bild vom Artushof. Es sind dies eigentlich durchweg positive Werte, für die der Artushof steht; wenn er dennoch frag- oder kritikwürdig erscheint, dann wohl deshalb, weil er diese positiven Werte veräußerlicht oder verabsolutiert. Doch woran liegt das? Die entscheidende Zuschreibung, die zunächst nicht so klar auf der Hand liegt und die erst die Baumgarten-Allegorie leistet, ist die Jugend: Wie der Artushof als der Ort des ewigen Tages und des ewigen Sommers erscheint, so kann er auch als Ort der ewigen Jugend gelten, genauer: als »Ort der politisch verantwortungsfreien Lebensform ritterlicher Jungmannschaft«,22 wie Mertens sagt, wobei er die Lebensform des von Duby23 beschriebenen jeune bzw. juvenis vor Augen hat. Der ist dadurch charakterisiert, dass er, im Unterschied zum Kind (puer), »die vorbereitenden Übungen, die ihn zur Kriegführung ertüchtigen, abgeschlossen hat. […] Der ›Junge‹ ist folglich ein reifer Mann, ein Erwachsener. Seine Aufnahme in die Gruppe der Krieger ist vollzogen; er ist mit Waffen gerüstet; er hat die Schwertleite empfangen. Er ist ein Ritter.«24 Der juvenis ist zwar kein puer mehr, aber auch noch kein Mann (vir): »Der Krieger gilt […] in der ritterlichen Welt erst dann nicht mehr als ›jung‹, wenn er etabliert, verwurzelt ist, wenn er einen Hausstand gegründet und für Nachkommenschaft gesorgt hat. Demzufolge läßt die ›Jugend‹ sich als die Phase des Lebens definieren, die zwischen der Schwertleite und der ersten Vaterschaft liegt.«25 Genau in dieser Zwischenphase scheinen Iwein, Gawein, Kalogreant, ja der ganze Artushof zu stehen.26 Es lässt sich zwar diskutieren, inwiefern es erlaubt ist, die aus kri21 Folgerichtig wird in Wolframs Parzival Artus der meienbære man (281,16) genannt, und es ist tatsächlich eine auffallende Kontrastierung, wenn in seinem Bereich zeinen pfinxten (281,18) Schnee fällt (zitiert nach: Wolfram von Eschenbach, Parzival, nach der Ausg. Karl Lachmanns rev. u. komm. Eberhard Nellmann, übertr. Dieter Kühn [Bibliothek des Mittelalters, Bd. 8], Frankfurt a. M. 1994). 22 Volker Mertens, »Iwein und Gwigalois – der Weg zur Landesherrschaft«, GRM N.F. 31 (1981), 14 – 31, hier 16. 23 Georges Duby, »Les ›jeunes‹ dans la société aristocratique dans la France du Nord-Ouest au XIIe siècle«, in: ders., Hommes et structures du moyen âge, Paris 1973, 213 – 225; ders., »Die ›Jugend‹ in der aristokratischen Gesellschaft«, in: ders., Wirklichkeit und höfischer Traum. Zur Kultur des Mittelalters, übers. Grete Osterwald, Berlin 1986, S. 103 – 116. 24 Ebd., 103. 25 Ebd. 26 So auch William H. Jackson, Chivalry in Twelfth Century Germany. The Works of Hartmann von Aue, Cambridge 1994, 215 – 221, und Bätz, Konfliktführung, 26 – 28.
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tisch-tendenziösen Quellen und sogar aus der Literatur selbst konstruierte Gruppe der jeunes für eine soziale Realität und darüber hinaus für den eigentlichen Träger der höfischen Literatur zu halten;27 zumindest für den Iwein lässt sich aber – gerade aus der Perspektive der Baumgarten-Allegorie, die dezidiert Jugend und Alter einander gegenüberstellt – festhalten, dass eine spezifische Lebensform der Jugend ein zentrales Thema des Romans zu sein scheint und dass diese Lebensform, die der von Duby aus anderen Quellen rekonstruierten in vielen Punkten entspricht, hier dem Artushof zugeschrieben wird. Der Jugend wurde in der Baumgarten-Allegorie das Alter mit seinen Sorgen, seinen Bedenken und den an Nutzen und Bequemlichkeit orientierten Überlegungen entgegengestellt. Die Jugend gibt sich ›gedankenlos‹ der vreude und der minne hin. Nimmt man nun die Charakterisierung des Tages hinzu, d. h. manheit und wâfen, von denen Iwein explizit sagt, dass sie die höfische vreude ausmachen,28 dann kann auch das hierin gezeigte gedankenlose, nicht auf einen praktischen Nutzen ausgerichtete Verhalten als Kennzeichen der Jugend gewertet werden. Am deutlichsten zeigt sich das in Kalogreants Aventiure-Definition: Dem Waldmenschen, dem Aventiuren und überhaupt höfische Sitten fremd sind, der aber eine nützliche Tätigkeit – das Hüten wilder Tiere – ausübt, erklärt Kalogreant, sein Streben gehe danach, einen geeigneten Ritter zu finden, mit dem er kämpfen könne; denn wenn er ihn besiege, sô hât man mich vür einen man (v. 536). Die Aventiure bedarf keines praktischen Zwecks; sie dient nur dem Nachweis von manheit. Diese manheit ist zum einen als Tapferkeit zu verstehen, zum anderen aber, gerade in Kalogreants Worten, als Bezeichnung für den ausgewachsenen Ritter, den man im Unterschied zum kint. Der Aventiureritter vom Schlag eines Kalogreant muss also (noch und eigentlich auch immer wieder) unter Beweis stellen, dass man ihn vür einen man zu nehmen hat. Wenn das repräsentativ für die Artusritter ist, dann lässt sich die am Artushof herrschende Überbetonung der êre erklären: Jeder Artusritter muss sich überhaupt erst als man profilieren – und genau das charakterisiert die Artusritter als jeunes. An Kalogreant zeigt sich auch die Gefährlichkeit des Profilie27 Vgl. dazu Ursula Peters, »Von der Sozialgeschichte zur Familienhistorie. Georges Dubys Aufsatz über die Jeunes und seine Bedeutung für ein funktionsgeschichtliches Verständnis der höfischen Literatur«, in: dies., Von der Sozialgeschichte zur Kulturwissenschaft. Aufsätze 1973 – 2000, hg. Susanne Bürkle, Lorenz Deutsch u. Timo Reuvekamp-Felber, Tübingen / Basel 2004, 153 – 177; sie kritisiert Dubys Gleichsetzung der ideologisch gefärbten Darstellung innerhalb der zeitgenössischen Quellen mit der historischen Realität, würde aber zumindest die »literarische Figur des Jeune« nicht bezweifeln (177). 28 dâ [am Tag, der kurz darauf durch manheit und wâfen charakterisiert wird] lac vil mîner vreuden an, / unde vreut noch wîp unde man. (v. 7383 f.)
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rungszwangs: Der Artusritter wird selbst zum Provokateur, der fremde Länder angreift.29 Am wenigsten scheint Artus selbst von diesem Profilierungszwang getrieben zu sein. Ein Beispiel dafür ist die Entführung der Königin: Artus formuliert bei seinem ›rash boon‹ gegenüber Meljakanz die entscheidende Einschränkung, die die Königin vor der Entführung bewahrt hätte: ist daz ir betlîchen gert (v. 4546). Es sind die auf die êre bedachten Artusritter, die Artus daraufhin zur bedingungslosen Zusage überreden. Artus hat verantwortungsvoll und vorausschauend gehandelt; seine Ritter orientieren sich allein an der êre und bewirken dadurch das Unheil. Von den anderen Tafelrundenmitgliedern unterscheidet sich Artus schon zu Beginn des Romans, als er sich, wie erwähnt, während des Festes, am helllichten Tag mit seiner Frau ins Schlafgemach zurückzieht. In Chrétiens Version löst dieses Verhalten bei den Rittern Erstaunen, bei einigen von ihnen sogar Empörung aus;30 Hartmann erwähnt eine solche Reaktion der Ritter nicht, obwohl sie derjenigen, die die Entführung der Königin nach sich zieht, sehr gut entsprechen würde. Bemerkenswert ist der Zusammenhang, in den Hartmann Artus’ Rückzug stellt, denn der wird unmittelbar nach der genannten Gegenüberstellung von Gawein, der sich um wâfen kümmert, und Keie, der sich slâfen legt und sich dem gemache âne êre hingibt, erzählt. Wenn Artus sich ebenfalls schlafen legt, scheint ihn das in die Nähe von Keie und damit implizit sogar Erec zu rücken. Offenbar um dem gegenzusteuern, versichert der Erzähler, Artus habe sich mêr durch gesellekeit […] / danne durch deheine trâcheit (v. 83 f.) schlafen gelegt. Dieses slâfen soll also von Keies slâfen abgehoben werden, wie es sich zugleich von Gaweins Beschäftigung mit wâfen unterscheidet. Von Iweins Lob der Nacht aus blickend, könnte man sich überlegen, ob Artus’ unkonventionelles und scheinbar anstößiges slâfen während des Festtags die vorbildliche Mitte zwischen Gaweins Tages- und êre-Verhaftetheit und Keies êre-loser Trägheit bildet. Wenn man Artus’ Verhalten nicht negativ bewerten möchte – ein negativ zu bewertendes slâfen wäre bereits durch Keie vertreten –, könnte man es, gerade aus 29 Vgl. Duby, »Jugend«, 106 f.: »Die Trupps der ›Jungen‹ bildeten die Vorhut der feudalen Aggressivität. Immer auf der Suche nach Abenteuern, die ›Ehre‹ und ›Preis‹ versprechen, von denen man möglichst ›reich zurückkehren‹ kann, immer mobil und zum Aufbruch bereit, unterhalten sie die kriegerische Agitation. Sie schüren die Unruheherde in unsicheren Gebieten und stellen die besten Kontingente bei allen Expeditionen in die Ferne. […] Ihrer hitzigen Unbeherrschtheit überlassen, stellt die ›Jugend‹ in der ritterlichen Gesellschaft das Organ der Aggressionen und der Unruhen dar.« 30 Chrétien, Yvain, v. 42 – 48 (zitiert nach: Chrestien de Troyes, Yvain, übers. u. eingel. Ilse Nolting-Hauff [Klassische Texte des romanischen Mittelalters 2], München 1962).
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diesem Zusammenhang heraus, als Zeichen von Artus’ Souveränität, Reife und wîsheit betrachten. Doch um das zu erkennen, muss man den Artushof verlassen und Iwein durch die Lektüre auf seinem Weg begleiten. Beim Vergleich zwischen Artus und seinen Rittern fällt darüber hinaus auf, dass Artus der einzige verheiratete Mann am Hof zu sein scheint: Wer sich bindet, verlässt den Hof – das sieht man an Erec, während man bei Iwein verfolgen kann, wie das gegensätzliche Verhalten geradezu in die Krise führt. Jugend ist hier mit Junggesellentum zusammengedacht.31 Auch in dieser Hinsicht ist der Artushof der Ort der ›Unverbindlichkeit‹ und ›Verantwortungslosigkeit‹. Artus ist das reife, damit offenbar einhergehend aber auch das untätige Zentrum dieses ›Reichs der Jugend‹.32 Wie vertragen sich die Interpretation des Artushofes als Reichs der Jugend und die Kritik am Artushof, sei es die an seinen Normen überhaupt oder die an seiner Umsetzung dieser Normen? Die Antwort hängt von der Bewertung der Baumgarten-Allegorie ab: Ist das Stadium der Jugend dort negativ oder defizitär gezeichnet? Dafür lassen sich keinerlei Anhaltspunkte finden; Jugend und Alter sind einander wertungsfrei gegenübergestellt: Die Jugend ist eben so, dass sie nur minne, vreude und – wenn man Iweins Lob der Nacht hinzunimmt – manheit und wâfen im Kopf hat; man scheint es ihr nicht vorwerfen zu können. Jugend und Alter haben beide ihre Zeit und ihr Recht. Beide lassen Defizite erkennen, aber man kann sie ihnen nicht als Schuld anrechnen. Der Artushof als Gemeinschaft junger Ritter mag einen mangelhaften und gefährlichen Aventiuren- und êren-Begriff haben, aber er wird ihn aus sich selbst heraus nicht korrigieren können, da er gerade das Kennzeichen der Jugend ist, die eben den Artushof ausmacht. Das Bild vom Artushof im Iwein vereint zwei Vorstellungen von Jugend: 1. die der sozial problematischen, gefährlichen jeunes, 2. die des paradiesartigen Ursprungszustandes. Deshalb fällt es unvermeidlich ambivalent aus.33
31 Vgl. Duby, »Jugend«, 103: »Der Krieger gilt also in der ritterlichen Welt erst dann nicht mehr als ›jung‹, wenn er etabliert, verwurzelt ist, wenn er einen Hausstand gegründet und für Nachkommenschaft gesorgt hat. Demzufolge läßt die ›Jugend‹ sich als die Phase des Lebens definieren, die zwischen der Schwertleite und der ersten Vaterschaft liegt.« 32 Damit gleicht der Artushof dem, was Duby als compagnie oder maisnie, d. h. als Gruppe von umherziehenden jeunes, beschreibt: »Meist schart die Gruppe sich um einen Anführer, der die ›Jungen‹ an sich bindet, der ihnen Waffen und Denare gibt, der an ihrer Spitze ins Abenteuer zieht, um den Preis zu erobern. Gelegentlich kommt es vor, daß dieser Anführer ein Mann ist, der bereits einen Hausstand gegründet hat, aber gemeinhin gehört auch er der ›Jugend‹ an.« (Duby, »Jugend«, 106) Der Anführer, der als erster ins Abenteuer zieht, wäre im Artusroman jedoch eher Gawein als Artus.
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Wer am Artushof lebt, ist jung; wer erwachsen ist – und das meint hier: wer Frau und Herrschaft gewonnen hat –, muss dem Artushof fernbleiben. Was passiert, wenn er das nicht tut, zeigt Iweins Geschichte. 2. Iweins Schuld Eng mit der Bewertung des Artushofes hängt demzufolge die Bewertung von Iweins Verhalten und die Frage nach seiner Schuld bzw. seinem Fehler zusammen. Die wird in der Forschung unterschiedlich beantwortet. Die einen34 sehen seine Schuld bereits in der Ermordung Ascalons und müssen letztlich doch eingestehen, dass der Erzähler sich jedes moralischen Kommentars enthält.35 Die anderen sehen seine Schuld im Terminversäumnis36 bzw. eher in den diesem zugrundeliegenden Ursachen, etwa in seiner wie auch immer zu verstehenden untriuwe,37 die ihm aus Lunetes Mund vorgeworfen wird. Zunächst zur Ermordung Ascalons: Wenn hier ein individuelles Fehlverhalten der Figur Iwein dargestellt werden soll, muss es irritieren, dass der Erzähler darauf in keiner Weise hindeutet und dass es durch die (eigentlich schon zu) problemlos eingefädelte Hochzeit zwischen Iwein und Laudine vergessen gemacht wird.38 Bei der gesamten Quellenaventiure lernt man Iwein als einen durch den Artushof Getriebenen kennen: Dass er überhaupt vorzeitig und unabhängig von den anderen Artusrittern zur Quelle aufbricht, liegt daran, dass er fürchtet, Gawein als dem besten Artusritter werde das Vorrecht auf diese Aventiure eingeräumt, so dass ihm, Iwein, sîn rîterschaft benomen (v. 913) würde. Der Preis seines heimlichen Losreitens 33 Vgl. Jackson, Chivalry, 271: »this court, as the main forum of knightly ›youth‹, has an inherently ambivalent position, is both an affirmed focus of aristocratic values and also a stage in life which the hero has to leave behind him in order to become husband and ruler.« 34 Vgl. Thomas Cramer, »sælde und êre in Hartmanns Iwein«, Euphorion 60 (1966), 30 – 47; Peter Wapnewski, Hartmann von Aue, Stuttgart 71979, 74 f. 35 Um sich auf eine kritische Erzählerbemerkung stützen zu können, muss man die Formulierung, Iwein jagte Ascalon âne zuht (v. 1056), moralisch-wertend verstehen, was aber problematisch ist, vgl. Mertens’ Kommentar zur Stelle in seiner IweinAusgabe. 36 Vgl. Kurt Ruh, Höfische Epik des deutschen Mittelalters, Erster Teil, 2., verb. Aufl., Berlin 1977, 156 f. 37 Vgl. Mertens, Laudine; Kraft, Triuwe. 38 Hübner, Erzählformen, zeigt, dass eine Schuld hier durchaus im Raum steht, dass sie aber zunehmend »entsorgt« (188) wird durch Laudines zweckrationale Überlegungen (182 – 190).
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ist, dass es keine Augenzeugen für seine Tat gibt; deshalb braucht er einen Beweis, den er am Hof vorzeigen kann – andernfalls drohe Keies Spott: sô spræche er im an sîn êre (v. 1071). Iweins Verhalten ist also ganz von den Artusrittern bestimmt – bezeichnenderweise nicht von Artus selbst, sondern von Gawein und Keie. Im Grunde wiederholt sich das nach der Hochzeit, wenn Iwein Gaweins Rat befolgt und zurück an den Artushof geht, statt bei seiner Frau zu bleiben. Das führt zum Fristversäumnis und damit zu einem Fehlverhalten, das ihm nun auch auf der Handlungsebene, durch Lunete, vorgeworfen wird. In beiden Fällen handelt Iwein als typischer Artusritter und d. h. jeune, wie er durch Kalogreant vorgestellt wurde: Er muss sich in seiner manheit profilieren und um êre bemühen.39 Es ist bezeichnend, dass Iweins Handeln erst dann problematisiert wird, als er schon Teil der nicht-arthurischen Sphäre geworden ist: Innerhalb des arthurischen Systems löst es keine Krise aus, weil es ihm konform ist; durch den Erwerb von Frau und Herrschaft hat er jedoch dieses System verlassen, und wenn er dennoch weiter nach dessen Normen handelt, muss es zum Konflikt mit seiner neuen Sphäre kommen. Deutet man den Artushof als Ort der Jugend und das Laudinereich dementsprechend als Ort wenn nicht gerade des Alters, so doch immerhin des Erwachsenseins, zu dem Verantwortung, Ehe, Herrschaft gehören, liegt Iweins ›Schuld‹ darin, dass er sich, eigentlich erwachsen geworden, noch immer wie ein Jugendlicher verhält. Wenn man hier überhaupt von Schuld sprechen möchte, so wird sie noch dadurch abgemildert, dass der Roman genau den Übergang von der Jugend ins Erwachsensein thematisiert und problematisiert. Damit behandelt er die Probleme, die in einer Schwellensituation, beim Übertritt von der einen in die andere Sphäre – hier der Lebensalter – unvermeidlich eintreten müssen. Der Umschlagspunkt vom Jugend- ins Erwachsenenalter wird hier offenbar nicht durch Schwertleite und Waffenfähigkeit markiert, sondern durch die Liebe:40 Sie ist es, die Iwein nach der Tötung Ascalons am Laudinehof hält, obwohl er dadurch in Lebensgefahr schwebt. Der Erzähler betont, selbst wenn Iwein nicht in der Burg eingeschlossen wäre und die Burgbewohner ihn freisprechen und ziehen lassen würden, müsste er aus Liebe zu Laudine dort bleiben.41 In die andere Sphäre eingedrungen ist er aufgrund seines arthurischen Aventiure- und êre-Strebens (um sich als man zu erweisen); Teil dieser Sphäre ist er jedoch durch die Liebe geworden. Das So auch Jackson, Chivalry, 244 f. Das entspricht ganz Dubys Eingrenzung der juventus: »zwischen der Schwertleite und der ersten Vaterschaft« (Duby, »Jugend«, 103). 41 wan ob ietweder porte wære / ledeclîchen ûf getân, / unde wærer ledec dâzuo lân / aller sîner schulde / alsô daz er mit hulde / vüere swar in dûhte guot, / sô ne stuont doch anders niht sîn muot / niuwan ze belîben dâ. (v. 1710 – 1717) 39 40
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bedeutet nicht, dass er sich dadurch schon völlig verwandelt hätte: Er ist ein Artusritter, der aber im nicht-arthurischen Bereich bleiben möchte, weil er dort die Liebe entdeckt hat. Doch vielleicht liegt nicht einmal darin das Hauptproblem. Zur Krise führt, dass die Liebe zu beiden Bereichen gehört. Das kann man an der Baumgarten-Allegorie sehen: Die Jugend spricht von redelîcher minne (v. 6526), die Alten immerhin davon, dass sie beidiu samt alt (v. 6533) seien, also von einem gemeinsamen Altsein / -werden. Dass die Liebe schon in die Jugend- und damit arthurische Sphäre gehört, zeigte sich auch in der Beschreibung des Pfingstfestes zu Beginn des Romans: dise sprâchen wider diu wîp (v. 65), dise redten von seneder arbeit (v. 71). Liebe umgreift also beide Sphären, tritt in ihnen aber auf unterschiedliche Weise in Erscheinung. Bei der Beschreibung des Pfingstfestes erscheint sie bezeichnenderweise entweder als Flirt (wider diu wîp sprechen) oder als Sehnsucht (senediu arbeit), d. h. in jedem Fall als (noch) unverbindlich und unerfüllt. Die erfüllte Liebe, als deren Ausdruck hier die Ehe fungiert, macht aus einem jugendlichen schlagartig einen erwachsenen Ritter.42 Wenn Iwein trotzdem zunächst noch wie ein jugendlicher Ritter handelt, indem er wie früher mit seinen Freunden auf Turniere zieht, dann nicht zuletzt deswegen, weil die Liebe nicht etwas dem Artushof Fremdes ist, das ihn seiner alten Sphäre hätte entfremden können; vielmehr muss er von einer jugendlichen zu einer erwachsenen Art von Liebe finden.43 Die konnte er am Artushof als dem Ort der Jugend von vornherein nicht lernen. Deswegen kann man den zweiten Aventiurenweg nicht als Bußfahrt verstehen, der eine Schuld bereinigen würde. Er führt Iwein ins Erwachsenenalter.44 Der Artusritter ist per se jugendlich; Iwein muss also eine andere Art von Ritter werden, und die ist hier als Löwenritter gekennzeichnet. So 42 Das ist allein von Iwein her gedacht und hängt nicht von der umstrittenen Frage ab, inwiefern man bei Laudine von Liebe sprechen darf (vgl. zu dieser Frage Mertens, Laudine, 14 – 16). Entscheidend ist, dass Iwein von einer Liebe getroffen wird, die so stark ist, dass sie ihn in den Stand des Ehemanns versetzt. 43 Das kann man mit den beiden triuwe-Verständnissen verbinden, die Mertens, Laudine, 42 f., unterscheidet: triuwe als Affektminne, in der Iwein nicht schuldig wird, und triuwe als rechtsverbindliche Herrschaftsverantwortung, die verletzt zu haben Laudine ihm zu Recht vorwerfen kann. 44 Vgl. Ruth Sassenhausen, »Grenzen und Grenzüberschreitungen in der Periodisierung menschlicher Lebensalter. Zu ›Schwellenzuständen‹ in der Artusepik des hohen Mittelalters«, in: Ulrich Knefelkamp und Kristian Bosselmann-Cyran (Hgg.), Grenzen und Grenzüberschreitung im Mittelalter, Berlin 2007, 200 – 212, hier 208: Nachdem die klassischen arthurischen Helden Erec, Iwein und Parzival in ihrer jeweiligen Geschichte durch die Hochzeit in einen neuen sozialen Status versetzt werden, für den sie innerlich noch nicht reif seien, beginnen sie »ihre Queste, durch die sie die notwendige Lebenserfahrung und charakterliche Reife nachholen, die sie für ihre neuen Aufgaben als Erwachsene benötigen.«
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wie das Erwachsensein sich nicht ganz und gar von der Jugendlichkeit unterscheidet, sondern bereits in ihm angelegt ist,45 so ist auch Iweins Löwenrittertum nicht völlig vom Artusrittertum verschieden: Das Artusrittertum bleibt als unerreichbares Ideal bestehen – die Pracht des Festes im ›erwachsenen‹ Laudinereich vermag derjenigen der arthurischen Feste nicht gleichzukommen46 –; nur bedeutet Erwachsenwerden eben, dass man aus diesem Idealzustand, diesem wunsch leben (v. 44), diesem ›Paradies‹ herausfallen muss. Gleichwohl bleibt das Ideal ein Orientierungspunkt.47 Diese ernüchterte, aber nicht entmutigte Einstellung zu Jugend und Erwachsensein gleicht derjenigen, die der Erzähler bezüglich Vergangenheit und Gegenwart im Prolog vertritt, wenn er sagt: mich jâmert wærlîchen, unde hulfez iht, ich woldez clagen, daz nû bî unsern tagen selch vreude niemer werden mac, der man ze den zîten pflac. doch müezen wir ouch nû genesen. (v. 48 – 53)
Das Höchstmaß der vreude liegt in der Vergangenheit, ist verloren; doch das ist kein Grund zu verzagen, denn man kann ouch nû, bî unsern tagen 45 Das zeigt sich an den Romanen, die der Haupthandlung die Enfance-Geschichte des Protagonisten voranstellen, z. B. Parzival, Tristan. Vgl. James A. Schultz, The Knowledge of Childhood in the German Middle Ages, 1100 – 1350, Philadelphia 1995; Annette Gerok-Reiter, »Kindheitstopoi in Gottfrieds Tristan. Anspielungen, Überlagerungen, Subversionen«, in: Dorothee Elm u. a. (Hgg.), Alterstopoi, 113 – 136. 46 wan dem [dem Artushof] was et niht gelîch, / unde ist ouch unmügelîch / daz im ûf der erde / iemer iht gelîches werde. (v. 2659 – 2662) 47 Da Haug den Artushof, von dem die Handlung ausgeht und zu dem sie auch zurückführt, als Utopie versteht, die als solche erst durch den zweimaligen Gang des Protagonisten in die Gegenwelt zum Bewusstsein der arthurischen Gesellschaft wie auch der Rezipienten gebracht werde, schließt er den Gedanken einer biographischen Entwicklung des Helden für den Artusroman aus. »Insbesondere hat hier ein Lebensstadium, das durch ein Kindsein von eigenem Wert gekennzeichnet ist, keinen Ort. Und so ist es denn auch nicht das Kindsein, mit dem die Vorstellung einer spielerischen Existenz verbunden ist, sondern sie markiert […] eine Zielform des Daseins, dies jedoch im Sinne einer Utopie, die gerade durch ihren Spielcharakter als solche zum Bewußtsein gebracht wird. Kindheit und Spiel können unter diesen Voraussetzungen nicht zusammengesehen werden.« (Walter Haug, »Kindheit und Spiel im Mittelalter. Vom Artusroman zum ›Erdbeerlied‹ des Wilden Alexander«, in: ders., Positivierung von Negativität. Letzte kleine Schriften, hg. Ulrich Barton, Tübingen 2008, 465 – 478, hier 469). Wie gezeigt, könnte das Lebensstadium der jugent als spielerisch-utopische Lebensform zumindest im Iwein doch einen Ort haben, nämlich den Artushof, wenn man die Baumgarten-Allegorie für die Interpretation fruchtbar macht.
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sein Glück finden, eben auf eine andere Weise.48 Wie in der BaumgartenAllegorie jedes der beiden Lebensalter seine Zeit und sein Recht hat, so hier jedes der beiden ›Zeitalter‹. Die Gegenwart hat das wunsch leben von Artus’ Lebzeiten hinter sich lassen müssen; das mære davon zeigt, wie ein Artusritter es ebenfalls hinter sich lassen und selbst ›zeitlich‹ ins Erwachsenenalter voranschreiten muss, in dem er zwar nicht mehr die arthurische vreude genießen, in dem er aber doch genesen kann: Hier ist das guot leben zwar nicht wie am Artushof garantiert, aber immerhin wænlîch (v. 8159). Die Artuszeit ist eine vergangene Epoche: für die Hörer / Leser des Romans ein vergangenes Zeitalter, für Iwein ein vergangenes Lebensalter. Den Hörern / Lesern bleibt das mære, Iwein der troum vom Artusrittertum. Hierbei sollte man nicht, wie es nahezuliegen scheint, mære und troum durch Fiktionalität kurzschließen: Vorgeführt werden beide als Medien der Erinnerung an etwas Vergangenes, dem man in irgendeiner Weise entwachsen ist. Dieses Vergangene ist als Vergangenes zu akzeptieren; wer versucht, es unmittelbar in die eigene Gegenwart zu überführen, wer das Alter zur Jugend, die Nacht zum Tag macht, gerät in die Krise, fällt aus der Zeit und in den Wahnsinn. Die Romanhandlung entfaltet im Grunde erzählerisch die Schwelle zwischen Jugend und Alter.49 Die beiden Pole sind eigentlich Ruhezustände, wie man an der Baumgarten-Allegorie sehen kann: Sie lassen sich in einem Bild einfrieren, das jenseits der Handlung steht. Die Jugend kann man nur so beschreiben, wie es der Romananfang beim Pfingstfest tut; das Alter stellt sich im schlimmsten Fall wie Gaweins Beschreibung des hûs wirtes dar. Beide Zustände sind handlungslos. Das erzählerisch Interessante, das – mit Lotman50 gesprochen – Sujet besteht im Übergang vom einen in den 48 Das ist im Prolog auf das Verhältnis zwischen (vergangenem) werc und (gegenwärtigem) mære bezogen, konkret zwischen dem historischen Menschen und der literarischen Figur Artus, was natürlich zu Reflexionen über die poetologische Selbstdeutung des Romans einlädt, vgl. Volker Mertens, »Imitatio Arthuri. Zum Prolog von Hartmanns ›Iwein‹«, ZfdA 106 (1977), 350 – 358; Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter, 2., überarb. u. erw. Aufl., Darmstadt 1992, 119 – 133. 49 Treffend Sassenhausen, »Grenzen«, 210: »Hartmanns aetas-Auffassung wird in seinen Romanen exemplarisch an der Grenzüberschreitung von der adolescentia zur iuventus evident, die er als zeitweise Verschränkung und Überlagerung der Eigenschaften einer jeden aetas schildert und als eine Transgression, die nicht sprunghaft geschieht, sondern über die Dauer der Gesamthandlung hinweg. Die Protagonisten der Romane sind während dieses Übergangs, in dem sie sich sozusagen ›in der Schwebe‹ zwischen beiden Altersstufen befinden, Grenzgänger oder Schwellenwesen.« Was Sassenhausen hier adolescentia nennt, wäre in Dubys Terminologie iuventus, bei Hartmann jugent im Gegensatz zu alter. 50 Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, übers. Rolf-Dietrich Keil (UTB 103), München 1972, 329 – 340.
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anderen Zustand. Der Roman handelt von einem Ritter, der nicht mehr jung und noch nicht alt ist. Ein solcher weder-noch-Zustand kann nur als eine Schwellenübertretung, eine Grenzüberschreitung dargestellt werden, die deswegen nicht moralisch zu werten ist, weil die beiden Sphären sich einer Aufteilung in Gut und Böse, Richtig und Falsch entziehen,51 indem sie zwei zeitlich aufeinanderfolgende Phasen markieren. Der Artushof und das Laudinereich lassen sich als Chronotopoi52 bezeichnen: Sie repräsentieren weniger zwei unterschiedliche Gesellschaftsformen als die zwei Lebensalter des Protagonisten. 3. Das Verhältnis zwischen Artusroman und Mythos In den letzten Jahren wurde verstärkt das Verhältnis des Iwein-Romans zu mythischen Denk- und Erzählformen in den Blick genommen.53 Dabei stand meistens die Quellenaventiure im Zentrum der Aufmerksamkeit, weil gerade hier die Artusromanstruktur und das Feenmärchenschema unmittel51 Vgl. Hübner, Erzählformen, 198: »Es gehört zu den bemerkenswertesten Aspekten des Romans, daß er das arthurische Junggesellenrittertum, dessen unbekümmerte Sorglosigkeit er offenlegt, nicht einfach auf einer niederen Moralstufe ansiedelt, die man in einem widerspruchsfreien Aufstieg überwinden könnte.« Dadurch, dass das Artusrittertum nicht gegenüber dem Löwen- oder Quellenrittertum abgewertet wird, zeige sich die »Relativität der moralischen Qualität mancher Handlungen« (197). 52 ›Chronotopoi‹ in dem Sinn, wie Michail Bachtin ihre »gestalterische Bedeutung« beschreibt: »Die Zeit nimmt in ihnen sinnlich-anschaulichen Charakter an; die Sujetereignisse werden im Chronotopos konkretisiert, mit Fleisch umhüllt und mit Blut gefüllt. Von einem Ereignis [hier: dem Erwachsenwerden – wenn man das als ›Ereignis‹ bezeichnen darf, U. B.] kann man Mitteilung machen, über ein Ereignis kann man informieren, man kann dabei Ort und Zeit seines Verlaufs exakt angeben. Doch wird das Ereignis nicht zum Bild. Der Chronotopos nun liefert die entscheidende Grundlage, auf der sich die Ereignisse zeigen und darstellen lassen. Und das eben dank der besonderen Verdichtung und Konkretisierung der Kennzeichen der Zeit – der Zeit des menschlichen Lebens, der historischen Zeit – auf bestimmten Abschnitten des Raumes.« (Michail M. Bachtin, Chronotopos, übers. Michael Dewey [stw 1879], Frankfurt a. M. 2008, 188). 53 Vgl. Andreas Hammer, Tradierung und Transformation. Mythische Erzählelemente im ›Tristan‹ Gottfrieds von Straßburg und im ›Iwein‹ Hartmanns von Aue, Stuttgart 2007; Friedrich Wolfzettel, Cora Dietl u. Matthias Däumer (Hgg.), Artusroman und Mythos (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft, Bd. 8), Berlin / Boston 2011, darin zum Iwein: Florian Kragl, »Land-Liebe. Von der Simultaneität mythischer Wirkung und logischen Verstehens am Beispiel des Erzählens von arthurischer Idoneität in Iwein und Lanzelet« (3 – 39); Claudia Lauer, »Der arthurische Mythos in medialer Perspektive. Boten-Figuren im Iwein, im Parzival und im Lanzelet« (41 – 68).
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bar aufeinanderstoßen und sich miteinander verbinden:54 Ein Artusritter verlässt die arthurische Sphäre und gelangt über die Schwelle der Gewitterquelle in eine Art Jenseits- oder Feenwelt. Vom Artusschema her gesehen, fungiert die Quelle als Aventiure bzw. Provokation, vom Feenmärchenschema her als mythische Grenze zur Anderswelt. An diesem Punkt lässt sich fragen, welches Schema im Folgenden das andere dominieren wird: Wird der Artusroman durch das Feenmärchenschema ›(re-)mythisiert‹, oder wird das Feenmärchen durch den Artusroman ›rationalisiert‹? Die Antworten auf diese Frage gingen eher in die letztere Richtung: Volker Mertens weist darauf hin, dass das Laudinereich, das man vom Handlungsverlauf her zunächst für ein Feen- und Zauberreich halten würde, sich schließlich als die Welt der realen gesellschaftlichen Verhältnisse entpuppt, wohingegen das Artusreich als weltfremde Utopie erscheint;55 auch Andreas Hammer stellt fest, dass die ursprünglich mythischen Elemente des Romans zunehmend ›rationalisiert‹ und schließlich die beiden voneinander abgegrenzten Bereiche, unter der Dominanz der Artuswelt, miteinander versöhnt werden, was einen Bruch des Feenmärchenschemas bedeute.56 Es ist nicht zu leugnen, dass eine Pointe des Iwein-Romans darin liegt, dass das vermeintliche mythische Jenseitsreich sich als die Welt des Erwachsenseins und der sozialen Realität herausstellt und sich auf diese Weise ›entmythisiert‹. Wenn man jedoch die metaphorischen Aussagen der beiden Schlussaventiuren stark macht, kann man erkennen, dass die Bildlichkeit von Sommer und Winter, von Tag und Nacht die Grundlage für eine Remythisierung auf tieferer Ebene bereitet: Die beiden Reiche bzw. Iweins Entwicklungsweg vom einen zum anderen Status werden mittels der Vorstellung zyklischer Zeitlichkeit beschrieben; d. h., Iweins linearer, individueller Weg wird in Bezug gesetzt zur zyklischen, universalen Abfolge der Tages- und Jahreszeiten. Man kann einwenden, die Tages- und Jahreszeiten seien doch nur Metaphern für das, worum es ›eigentlich‹ geht, nämlich unterschiedliche Gesellschaftsmodelle und Lebensformen. Aber erstens lässt sich eine Rückwirkung der Metaphorik auf das, was durch sie beschrieben wird, gerade in literarischen Texten gar nicht verhindern, und zweitens ist der Handlungsverlauf selbst durch solche zeitlichen Vorstellungen geprägt: Es wurde schon darauf hingewiesen, dass Iweins krisenhaftes ›der tage ze vil vertrîben‹ sowohl das konkrete Terminversäumnis als auch, aus dem Blickwinkel seines programmatischen Lobs der Nacht, eine spezifische 54 Vgl. dazu Ralf Simon, Einführung in die strukturalistische Poetik des mittelalterlichen Romans. Analysen zu deutschen Romanen der matière de Bretagne, Würzburg 1990, 47 – 64. 55 Mertens, Laudine, 65. 56 Hammer, Tradierung, 272.
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Lebensform oder ein Lebensalter bedeutet. Es ist wohl auch kein Zufall, dass die Wirkung des Quellengusses darin besteht, dass der liehte tac57 (v. 644) sich verfinstert und alles Leben dieses sommerlichen locus amoenus abstirbt: Das dürfte den Artus- bzw. Tages-Ritter schon darauf hinweisen, dass er hier seine êre (Kalogreant) oder seine Jugend (Iwein) verlieren wird. Darüber hinaus spielt die Sommersonnenwende, d. h. der Umschlag von der Sommer- zur Winterzeit, eine entscheidende Rolle für den Romanverlauf: Am Tag der Sommersonnenwende empfängt Iwein als frisch vermählter Ehemann von Laudine und neu gekrönter Herrscher des Quellenreiches die Artusritter auf seiner Burg; an diesem Tag besiegt er Keie, der eine treibende Kraft hinter Iweins Quellenaventiure war (seinetwegen erschlug er Ascalon). Iwein steht also als eigenständiger König und Verteidiger des Quellenreiches den Artusrittern gegenüber. An diesem Tag vollzieht sich ein Wechsel der Jahreszeiten, wie sich auch ein Wechsel in Iweins Leben vollzieht oder vollziehen sollte. Sein bisheriges Leben war das Leben des Artushofes und damit des Sommers; nun hat er die Schwelle zum Winter und damit zur Reife überschritten. Laudines Jahresfrist gilt bis zum achten Tag nâch sunwenden (v. 2941) oder bis zur Sonnenwende selbst.58 Wenn Iwein dann über diese Frist hinaus fernbleibt, zeigt das, wie sehr er noch dem Sommer verhaftet ist, obwohl der Winter, und das meint insbesondere: ›sein‹ Winter, bereits angebrochen ist.59 Auf das Artusschema übertragen bedeutet das: Der erste Handlungszyklus bis zur Krise ist die Zeit des Sommers, wie er auch die Zeit des Tages ist; der zweite Handlungszyklus ist die Zeit des Winters und der Nacht – dementsprechend wird er durch einen (vermeintlichen) Traum eingeleitet und durch den Kampf gegen den Sommer- und Tages-Ritter Gawein sowie durch Iweins Lob der Nacht abgeschlossen. Die Krise bedeutet dann den 57 Diese Formulierung greift Iwein auf, wenn er dann die Nacht gegenüber dem liehten tac (v. 7382) hervorhebt. 58 Mertens, Laudine, 45 f., vermutet letzteres, da die Sonnenwende bzw. der St. Johannis-Tag der übliche Termin für Rechtsfristen war. Auch aufgrund dieser Tatsache kommt Mertens zu dem Schluss, dass Hartmanns Bemühen insbesondere dahin ging, den Iwein-Roman an die zeitgenössische Realität anzubinden. Dem lässt sich hiermit hinzufügen, dass Hartmann darüber hinaus aus dieser realen Rechtspraxis auch noch mythisch-poetisches Kapital zu schlagen wusste, indem er aus der vorgegebenen Sonnenwend-Frist die Bildlichkeit von Sommer und Winter heraus entwickelte und sie in der Baumgarten-Allegorie toposgemäß mit den beiden Lebensaltern verband. 59 Philippe Walter, Canicule. Essai de mythologie sur Yvain de Chrétien de Troyes, Paris 1988, 47, weist darauf hin, dass das Sternbild der Sommersonnenwende der Löwe ist (22. Juli bis 23. August); demzufolge lässt sich der chevalier au lion als der ›Ritter der Sommersonnenwende‹ verstehen.
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Umschlagspunkt der Sonnenwende bzw. des Mittags60. Der arthurische Doppelweg wird überblendet durch die Tages- und Jahreszeitenabfolge.61 Wenn man den Tages- und Jahreszeitenzyklus als spezifisch mythische Zeitform begreift,62 kann man von einer (Re-)Mythisierung der Artusroman-Struktur sprechen. Die Baumgarten-Allegorie und Iweins Lob der Nacht öffnen die soziale Problematik des Romans (zwei einander gegenüberstehende und schwer vereinbare Gesellschaftsmodelle) auf einen Horizont hin, in dem sich die Gegensätzlichkeit der beiden Positionen auf mythisch-zyklische Weise aufhebt. Erst innerhalb dieses mythischen Horizontes gelingt eine wirkliche Zusammenführung der beiden Bereiche – dies gegen Hammer, der die Entmythisierung des Iwein-Romans u. a. gerade darin sieht, dass »[a]m Ende des Romans […] Artus- und Laudinereich, die in der Eingangsaventiure noch so deutlich voneinander abgegrenzt waren, miteinander in Einklang gebracht« würden.63 Iwein wird zwar als vollgültiges Mitglied der Tafelrunde wiederaufgenommen, bevor er heimlich zu Laudine, seinem eigentlichen Ziel, weiterreitet, so dass er schließlich sowohl am Artushof als auch bei Laudine seine êre wiederhergestellt hat; aber wenn Artushof und Laudinereich tatsächlich miteinander in Einklang gebracht wären, müsste es möglich sein, dass Iwein nach seiner Aussöhnung mit Laudine zeitweise wieder 60 Zum Mittag vgl. Schnyder, Topographie, 254: »Als Wendepunkt zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang wird diese Zeit des kleinsten Schattens und der größten Hitze […] deutlich als Zeit des Übergangs wahrgenommen.« 61 Zu den narratologischen Implikationen zyklischer Lebensalter-Modelle und der mit ihnen verbundenen Tages- und Jahreszeiten-Metaphorik im philosophischen, im (humoral-)medizinischen und im astrologischen Diskurs des Mittelalters vgl. Udo Friedrich, »Altersstufen als Narrative und Metaphern in mittelalterlichen Wissensund Erziehungsdiskursen«, in: Thorsten Fitzon, Sandra Linden, Kathrin Liess, Dorothee Elm von der Osten (Hgg.), Alterszäsuren. Zeit und Lebensalter in Literatur, Theologie und Geschichte, Berlin 2011, 49 – 76, insbes. 51 – 59. 62 Vgl. dazu Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 2. Teil: Das mythische Denken, 5. Aufl., Darmstadt 1958, 135: »Den Wandel des Tages in die Nacht, das Erblühen und Vergehen der Pflanzenwelt, die zyklische Folge der Jahreszeiten: dies alles begreift das mythische Bewußtsein zunächst nur dadurch, daß es alle diese Erscheinungen auf das Dasein des Menschen projiziert und in ihm wie im Spiegel erblickt. In dieser wechselseitigen Bezogenheit entsteht ein mythisches Zeitgefühl, das zwischen der subjektiven Lebensform und der objektiven Anschauung der Natur die Brücke schlägt.«; Hammer, Tradierung, weist selbst auf die Zyklizität der mythischen Zeit hin, ohne jedoch die entsprechenden Konsequenzen für den Iwein daraus zu ziehen: »Die zyklischen Ereignisse von Regeneration, Vernichtung und Neuentstehung der Zeit (und der Welt) können verglichen werden mit Naturereignissen wie Tag und Nacht, den Mondphasen, Jahreszeiten etc. Diese vollziehen den mythischen Grundgedanken nicht nur nach, sondern verkörpern ihn ganz und gar.« (33) 63 Hammer, Tradierung, 278.
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an den Artushof zurückgehen könnte – davon wird zumindest nichts gesagt, und es fragt sich, ob das überhaupt denkbar wäre, ohne dass sich seine Krise wiederholen würde. So wenig, wie Iwein wieder jung werden kann, kann er nach der Aussöhnung mit Laudine an den Artushof zurückkehren. Der Gawein-Kampf markiert den endgültigen Abschied vom Artushof und damit Iweins Eintritt ins Erwachsensein. Da ist es nur folgerichtig, dass Iwein nun den Quellenguss noch einmal vollzieht, denn die Quellenaventiure fungierte ja zu Beginn als die Schwelle von der Jugend zum Alter, und zwar als äußere Schwelle: In seinem Überschreiten dieser Schwelle war Iwein innerlich noch vom arthurischen êre-Streben getrieben (er wollte sich gegen Gawein profilieren!); nun überschreitet er die Schwelle, nachdem er sich innerlich von Gawein und von der Tages-Ideologie gelöst hat.64 Die Krise, die notwendig beim Übertritt von der einen in die andere Sphäre erfolgt (ob von der Jugend zum Alter, vom Tag zur Nacht oder vom Sommer zum Winter), kann sich nicht wiederholen – wohlgemerkt: nicht an Iwein! Ansonsten nämlich wiederholt sie sich überall und permanent – darin liegt ja gerade die mythische Qualität der Lebensalter-, Tages- und Jahreszeitenmetaphorik. Die Schwelle der Gewitterquelle erscheint nicht deswegen als mythisch, weil das Laudinereich ein mythisches Feen- oder Jenseitsreich wäre, sondern weil sie die Grenze zwischen Jugend und Alter, Sommer und Winter, Tag und Nacht markiert. Von den Stellen, die die besagte Metaphorik entfalten, her gedacht, erscheint die Iwein-Geschichte als Exemplifizierung eines universalen, natürlichen Gesetzes, das sich an jedem Wesen in der Natur immer wieder neu vollzieht, trägt sie also insofern Kennzeichen eines Mythos.65 Wenn der Artushof zurückgelassen werden muss – ob auf 64 Man könnte Iweins erste Schwellenüberschreitung als voreilig deuten: Artus hatte sie passenderweise für die Sonnenwende angesetzt, doch Iwein wollte darauf nicht warten und überschritt die Grenze, als er innerlich noch nicht reif dafür war; den Reifungsprozess muss er dann auf dem zweiten Aventiurenweg vollziehen; vgl. dazu Sassenhausen, »Grenzen«, 208. Es würde aber in die Irre führen, ihm das als krisenverursachenden Fehler anzurechnen, da er am Artushof als dem Ort der Jugend gar nicht hätte reifen können; die Krise tritt beim Wechsel von der einen in die andere Sphäre notwendig ein. Iweins individuelle Voreiligkeit geht, obwohl sie auf der Handlungsoberfläche gegen Artus’ Gebot verstößt, in ihrem jugendlich-übereifrigen êre-Streben ganz konform mit der Lebensweise des Artushofes, unterstreicht seine Jugendlichkeit, die Thema des Romans ist. 65 Die hier dargelegte Interpretation des Artushofes als Reichs des Tages und des Sommers scheint sich mit Forschungspositionen zu treffen, die hinter Artus einen indogermanischen, mindestens keltischen Sonnenmythos vermuten (so z. B. Walter, Canicule; ders., Arthur. L’ours et le roi, Paris 2002). Das soll hiermit zwar nicht ausgeschlossen, aber auch nicht belegt werden, denn die mythische Perspektive ergibt sich hier allererst aus der nur von Hartmann verwendeten Metaphorik (wenngleich das ihm korrespondierende Sonnenwend-Motiv schon auf Chrétien und vielleicht noch weiter zurückgeht). Eine Differenz läge jedenfalls darin, dass die sonnenmytho-
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Handlungsebene durch Iwein oder auf Erzählebene durch Erzähler und Rezipienten –, bedeutet das nicht seine Abwertung, sondern seine Einbindung in den unumgehbaren Prozess des Werdens, der sich in der natürlichen Abfolge von Tag und Nacht, Sommer und Winter, Jugend und Alter wiederfindet. IV. Schlussbemerkungen Die hier vorgestellte, von der Tageszeiten-, Jahreszeiten- und Lebensalter-Metaphorik her gedachte Iwein-Interpretation kann nicht beanspruchen, andere Interpretationsansätze, die in Artushof und Laudinereich unterschiedliche Lebensformen, Sozialisationsstufen, Gesellschaftsmodelle usw. sehen, zu widerlegen; sie verlieren nichts von ihrer Gültigkeit, zumal Chrétiens Text, dem Hartmann weitgehend gefolgt ist, diese Metaphorik gar nicht aufweist. Sie ist eine deutende Hinzufügung und Akzentsetzung Hartmanns, die in den Schlussaventiuren jedoch so prominent und programmatisch ausgeführt ist, dass man sie nicht ignorieren kann. Die vorliegende Interpretation versucht, diese Akzentsetzung ernst zu nehmen und die Konsequenzen für das Verständnis des Gesamtromans zu ziehen – Konsequenzen, die allerdings nicht mit allen sonstigen Iwein-Interpretationen vereinbar sind. Die allegorisierenden und metaphorisierenden Zusätze Hartmanns bewirken, wie gezeigt, eine Mythisierung der Löwenrittergeschichte, oder, um noch weiterzugehen: sie legen eine ihr vielleicht immer schon inhärente (mythische) Tiefenschicht frei, die den besonderen Zauber dieser Geschichte (auch schon bei Chrétien) ausmacht. Die Deutung des Artushofes als Instanz des Tages, des Sommers und der Jugend kann wohl nicht ohne weiteres auf andere Artusromane übertragen werden. Nimmt man den Erec als nächstliegendes Vergleichsobjekt in den Blick, muss man sagen: Tag und Nacht spielen darin zwar insofern eine Rolle, als Erec gerade dadurch am arthurischen Ritterideal scheitert, dass er den Tag zur Nacht macht,66 aber die Jugend wird nicht als spezifische Eigenschaft des Artushofes hervorgehoben, sondern kennzeichnet Erec individuell; bei dessen Heranwachsen zum vollgültigen Ritter dient der Artushof als Maßstab. Mit Ruth Sassenhausen kann man sowohl vom Erec als logischen Interpretationen dem Artusreich die Zyklizität eines Sonnenjahres zuschreiben, während hier eine Zyklizität nur für die Geschichte Iweins behauptet wird, in der der Artushof gerade eine statische Position einnimmt. 66 Eine chronotopologische Interpretation des Erec anhand des Tag-Nacht-Gegensatzes bietet Nitsche, Die Signifikanz der Zeit, 41 – 77, übernimmt diesen Ansatz jedoch nicht für ihre Interpretation des Iwein.
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auch vom Iwein als »Liminalitätsromanen«67 sprechen, deren eigentliches Thema das Erwachsenwerden, die Initiation des jeweiligen Protagonisten ist. Der Unterschied beim Iwein liegt darin, dass die beiden Status oder Lebensalter nicht allein dem Protagonisten eingeschrieben, sondern chronotopisch in den beiden Reichen, zwischen denen er sich bewegt, verortet sind: Die Strukturierung der fiktiven Welt spiegelt den liminalen Zwischenstatus des Helden wider. Der Artushof ist dabei ein Ideal, das verloren gehen und überwunden werden muss. Doch wie der Tag und der Sommer kehrt er immer wieder: in der Jugendzeit eines jeden Ritters.
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Eulenspiegel und die historischen Sinnordnungen Plädoyer für eine praxeologische Narratologie Von Gert Hübner I. Handlung und Sinn Auf einer imaginären Skala poetischer Unanständigkeiten rangiert das exemplarische Erzählen ziemlich weit oben. Auch wenn die Abhängigkeit des Verdikts von der Literarästhetik des 18. Jahrhunderts – das Schöne kann nur schön sein, indem es sich dem Nützlichen nicht dienstbar macht1 – allenthalben bekannt ist, offenbart sich doch verschiedentlich das Bedürfnis, auch vormoderne poetische Erzählungen vor dem Verdacht exemplarischer Sinnkonstruktion zu bewahren.2 Da viele volkssprachliche 1 Prägnant entwickelt beispielsweise bei Karl Philipp Moritz, »Versuch einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten«, in: Karl Philipp Moritz, Werke in zwei Bänden, hg. Heide Hollmer, Albert Meier, Frankfurt a. M. 1997 (Bibliothek deutscher Klassiker 145), Bd. 2, Popularphilosophie, Reisen, Ästhetische Theorie, 943 – 957; ders., »Über die bildende Nachahmung des Schönen«, in: ibid., 958 – 991. – Anregungen verdanken die folgenden Überlegungen Diskussionsbeiträgen nach Vorträgen in Mainz, Freiburg i. Br. und Göttingen; stellvertretend genannt seien die Spuren, die Sabine Grieses Hinweis auf Salomon und Markolf hinterlassen hat. 2 Walter Haug etwa hat in zahlreichen Studien die Ablösung vom exemplarischen Erzählen als Freisetzung eines überzeitlich verstandenen Wesenskerns poetisch-narrativer Sinnkonstitution beschrieben; u. a. Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. Eine Einführung, Darmstadt 1985 (21992); ders., »Literaturtheorie und Fiktionalitätsbewußtsein bei Chrétien de Troyes, Thomas von England und Gottfried von Straßburg«, in: Ursula Peters, Rainer Warning (Hgg.), Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters, München 2009, 219 – 234; auf die Gattung Märe bezogen ders., »Schlechte Geschichten – böse Geschichten – gute Geschichten. Oder: Wie steht es um die Erzählkunst in den sog. Mären des Strickers?«, in: Emilio González, Victor Millet (Hgg.), Die Kleinepik des Strickers. Texte, Gattungstraditionen und Interpretationsprobleme (Philologische Studien und Quellen 199), Berlin 2006, 9 – 27 (»In dem Maße hingegen, in dem man aus der exemplarischen Perspektive heraustritt, in dem Maße beginnt das Erzählen seine spezifischen poetischen Möglichkeiten zu entfalten«, 11); ders., »Entwurf zu einer Theorie der mittelalterlichen Kurzerzählung«, in:
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Dichter vom 12. bis zum 16. Jahrhundert für ihre Erzählungen einen exemplarischen Anspruch ausdrücklich erhoben,3 muss zu diesem Zweck Walter Haug, Burghart Wachinger (Hgg.), Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts (Fortuna vitrea 8), Tübingen 1993, 1 – 36; vgl. dazu die Kritik von Rüdiger Schnell, »Erzählstrategie, Intertextualität und ›Erfahrungswissen‹. Zu Sinn und Sinnlosigkeit spätmittelalterlicher Mären«, Wolfram-Studien 17 (2004), 367 – 404. – Der formal begründete vormoderne Dichtungsbegriff (poetische Texte sind Verstexte) ermöglicht indes ebenso wenig wie der für die spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Prosaschwänke gebrauchte historia-Begriff eine prinzipielle funktionale Differenzierung zwischen poetischen und nichtpoetischen Texten. Sollte es tatsächlich »weitgehend Konsens [sein], dass poetische Texte die Ordnungen des Wissens, die gesellschaftlich gültigen Normen und Elemente der ›Realität‹ nicht repetieren, sondern auf je eigene Weise mit den Erfordernissen einer literarischen Tradition zusammenbinden, so dass eine ganz eigene Version von Welt mit spezifisch poetischen Regelmechanismen entsteht« (Timo Reuvekamp-Felber, »Einleitung: Mittelalterliche Novellistik im kulturwissenschaftlichen Kontext. Forschungsstand und Perspektiven der Germanistik«, in: Marc Chinca u. a. [Hgg.], Mittelalterliche Novellistik im europäischen Kontext. Kulturwissenschaftliche Perspektiven [Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie 13], Berlin 2006, XI – XXXII, hier XVI f.), so setzte dies die Literarästhetik des 18. Jahrhunderts – beim Eigensinn gegenüber sozialen Normen und Realitätswiderspiegelung zudem auch deren Weiterentwicklung zur Theorie ästhetischer Widerständigkeit im 20. Jahrhundert – schon voraus; auf der Basis des vormodernen Dichtungsbegriffs müsste es andernfalls auch für Verschroniken oder versifizierte Vaterunser gelten. Vorsichtiger operieren Versuche, ästhetische Funktionskonzepte wie die des Spielerischen oder der Autoreferenzialität im historischen Reflexionshorizont der Rhetorik zu situieren, um die Differenz zu überbrücken. So beschreibt etwa Udo Friedrich, »Spielräume rhetorischer Gestaltung in mittelalterlichen Kurzerzählungen«, in: Beate Kellner u. a. (Hgg.), Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter (Philologische Studien und Quellen 190), Berlin 2005, 227 – 250; ders., »Trieb und Ökonomie. Serialität und Kombinatorik in mittelalterlichen Kurzerzählungen«, in: Chinca u. a. (Hgg.), Mittelalterliche Novellistik, 48 – 75, die Differenz zwischen Exemplarik und Ästhetik einerseits schonungslos und lokalisiert den ästhetischen Mehrwert von Mären andererseits in rhetorischen Gestaltungsverfahren, die die exemplarische Funktion zwar nicht ablösen, aber in die spielerische Intellektualität der Kasuistik öffnen und bei demonstrativer Zuspitzung selbstbezüglich werden. Entschlossen historisch argumentiert dagegen Jens Haustein, Zum Verhältnis von exemplarischer Erzählung und Exempel an drei Beispielen aus der deutschen Literatur des Mittelalters (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philolog.-hist. Kl. 139.6), Stuttgart / Leipzig 2006, der exemplarisches Erzählen als intendierte Einschränkung der der Narration eignenden Mehrdeutigkeit zugunsten eines eindeutigen Sinnangebots beschreibt. 3 Was ich unter ›exemplarischem Erzählen‹ verstehe, ist im Folgenden erläutert. Der Begriff fällt nicht mit dem des Exemplums zusammen; die Debatte um dessen strukturelle oder pragmatische Bestimmung scheint mir für den hier verfolgten Zusammenhang nicht unmittelbar relevant. Vgl. dazu u. a. Karlheinz Stierle, »Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte. Zur Pragmatik und Poetik narrativer Texte«, in: Reinhart Koselleck, Wolf-Dieter Stempel (Hgg.), Geschichte – Ereignis – Erzählung (Poetik und Hermeneutik 5), München 1973, 347 – 375; Peter von
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unter anderem die Geltung expliziter Moralisierungen als Selbstdeutungsverfahren bestritten werden. Und in der Tat lässt sich oft zeigen, dass solche Moralisierungen die Sinnkonstruktion der Erzählung nur teilweise oder offenkundig unzuverlässig erfassen; gelegentlich dokumentieren sogar die Überlieferungsverhältnisse eine relative Unabhängigkeit des narrativ vermittelten Sinnangebots von der angehängten Deutung.4 Der Eulenspiegel-Historie 35 beispielsweise steht eine im Promythion angedeutete Moralisierung voran:5 NJeman sol sich betrüben, daz dem schalckhafftigen iuden ein oug verhalten würt. In der anschließenden Geschichte denkt Eulenspiegel beim Anblick eines Bisamverkäufers auf dem Frankfurter Markt, dass er selbst auch ein fauler starcker schelm sei, der nit gern werckt, und sich auch so leichtlich erneren könne. Als er nachts im Bett von einem Floh in den Hintern gebissen wird, findet er dort etliche knötlin, die ihn zwar nicht olfaktorisch, aber optisch an Bisam erinnern. Am nächsten Tag bietet er diese knötlin auf dem Markt zum Kauf an, verweigert aber jede Auskunft über seine Ware. Als drei reiche Juden vorbeikommen, denkt er bei sich, dass Gott einem stets die richtigen Kunden zur Ware beschere, und erklärt ihnen, es handle sich um Prophetenbeeren: Wer sie in Mund und Nase stecke, könne wahrsagen. Eine Kugel koste hundert Gulden; Moos, Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im ›Policraticus‹ Johanns von Salisbury, Hildesheim 1988; Walter Haug, Burghart Wachinger (Hgg.), Exempel und Exempelsammlungen (Fortuna vitrea 2), Tübingen 1991; Haustein, Zum Verhältnis von exemplarischer Erzählung und Exempel; Caroline Emmelius, »Kasus und Novelle. Beobachtungen zur Genese des Decameron (mit einem generischen Vorschlag zur mhd. Märendichtung)«, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, N.F. 51 (2010), 45 – 74. 4 Hanns Fischer, Studien zur deutschen Märendichtung, Tübingen 1968 (21983), 107 f.; Sabine Böhm, Der Stricker – Ein Dichterprofil anhand seines Gesamtwerkes, Frankfurt a. M. u. a. 1995, 121 – 125; Victor Millet, »Märe mit Moral? Zum Verhältnis von weltlichem Sinnangebot und geistlicher Moralisierung in drei mittelhochdeutschen Kurzerzählungen«, in: Christoph Huber u. a. (Hgg.), Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters, Tübingen 2000, 273 – 290; Hedda Ragotzky, »Die ›Klugheit der Praxis‹ und ihr Nutzen. Zum Verhältnis von erzählter Geschichte und lehrhafter Fazitbildung in Mären des Strickers«, PBB 123 (2001), 49 – 64; Klaus Grubmüller, Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter: Fabliau – Märe – Novelle, Tübingen 2006, 52 – 54, 68 f., 146 f.; Michael Schilling, »Poetik der Kommunikativität in den kleineren Reimpaartexten des Strickers«, in: González, Millet (Hgg.), Die Kleinepik des Strickers, 28 – 46; Christopher Young, »At the end of the tale. Didacticism, ideology and the medieval German Märe«, in: Chinca u. a. (Hgg.), Mittelalterliche Novellistik, 24 – 47. 5 Dyl Vlenspiegel in Abbildungen des Drucks von 1515, hg. Werner Wunderlich, Göppingen 1982; Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel. Nach dem Druck von 1515 mit 87 Holzschnitten, hg. Wolfgang Lindow, Stuttgart 1966, 104 – 106.
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wem das zu teuer sei, möge den Dreck liegen lassen. Die Juden zahlen den Preis in der Hoffnung, die Ankunft des Messias vorhersagen zu können, erkennen jedoch bei der anweisungsgemäßen Anwendung, dass es sich um leutz treck handelt. Die Vorlage der Historie stammt von Hans Folz, der die Geschichte von den Wahrsagebeeren in einer längeren und einer kürzeren Fassung mit unterschiedlichen Epimythien gedruckt hat.6 Anstelle von Eulenspiegel ist der Protagonist hier ein namenloser abentewrer. Dieser soll dem Epimythion der längeren Fassung zufolge allegorisch für fahrende Wundärzte stehen; wer solchen vertraut, soll mit den Juden gemeint sein. In der kürzeren Fassung zeigt die Erzählung laut Epimythion, dass Juden zurecht betrogen werden. Einige Handlungsdetails der Eulenspiegel-Historie entsprechen der längeren Folz-Fassung, während die im Promythion angedeutete Moralisierung dem Epimythion der kürzeren Folz-Fassung folgt. Die verschiedenen Kombinationen scheinen ein gewisses Maß an Beliebigkeit zu dokumentieren. Nun ändert der Unterschied zwischen den Moralisierungen aber wenig daran, dass die Erzählung als exemplarische Demonstration falschen Handelns und deshalb moralsatirisch verstanden werden kann.7 Auch die allegorische Deutung operiert auf der Basis einer Sinnkonstruktion, die eine strukturalistische Aktantenanalyse aus den Figureneigenschaften ableiten würde: In der vom Protagonisten besetzten Aktantenrolle lautet das dominante Merkmal ›Betrüger‹, die von den Juden als Antagonisten besetzte Aktantenrolle ist durch das Merkmal ›Leichtgläubigkeit‹ konstituiert. Die 6 Hans Folz, Die Reimpaarsprüche (MTU 1), hg. Hanns Fischer, München 1961, Nr. 9a und 9b. Zu Folz als Drucker seiner Werke vgl. Ursula Rautenberg, »Das Werk als Ware. Der Nürnberger Kleindrucker Hans Folz«, IASL 24 (1999), 1 – 40; zu Eulenspiegel und Folz David Blamires, »Hans Folzens ›Die Wahrsagebeeren‹ als Quelle für ›Ulenspiegel‹, Historie 35«, ZfdA 111 (1982), 53 – 60; Rüdiger Brandt, Jürgen Fröhlich, »Bisam, »Dreck« und »Unflat«: Pharmakologisch-poetologische Implikationen eines Motivs in den ›Wahrsagebeeren‹ von Hans Folz und Historie 35 des ›Eulenspiegel‹«, ZfdA 124 (1995), 76 – 91. Die weiteren Zeugnisse der Geschichte sind dokumentiert bei Jürgen Schulz-Grobert, Das Straßburger Eulenspiegelbuch. Studien zu entstehungsgeschichtlichen Voraussetzungen der ältesten Drucküberlieferung (Hermaea 83), Tübingen 1999, 310 f. (Poggio: Facetiae Nr. 166 und weiteres). 7 Satire ist im Folgenden im Sinn der Darstellung des Falschen zur Erkenntnis des Richtigen verstanden; vgl. Udo Kindermann, Satyra. Die Gattung der Satire im Mittellateinischen. Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte (Erlanger Beiträge zur Sprachund Kunstwissenschaft 58), Nürnberg 1978; Joachim Suchomski, Delectatio und utilitas. Ein Beitrag zum Verständnis mittelalterlicher komischer Literatur (Bibliotheca Germanica 18), Berlin 1975, insbes. 204 – 207; Thomas Haye u. a. (Hgg.), Epochen der Satire. Traditionslinien einer literarischen Gattung in Antike, Mittelalter und Renaissance (Spolia Berolinensia 28), Hildesheim 2008.
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allegorische Deutung vollzieht eine analogiebasierte Übertragung der Eigenschaft ›Leichtgläubigkeit‹ von den Juden auf Kunden fahrender Wundärzte. Deshalb kann man die Erzählung in allen drei Fällen als Aktualisierung eines judenfeindlichen Diskurses verstehen,8 der in einen moralphilosophischen eingebunden ist: Das Laster, das in der falschen Religion besteht oder – bei der allegorischen Deutung – durch sie symbolisiert wird, ist ein die richtige Wahrnehmung verstellendes Erkenntnisdefizit; die Erzählung führt die Konsequenzen des Lasters vor und rechtfertigt sie als verdiente Strafe. Sowohl die Aktantenanalyse als auch die diskursgeschichtliche Interpretation reduzieren den Sinn der Handlung auf Begriffsrelationen. Das erzählte Handeln erhält dabei keinen Sinn, den man nicht ebensogut nichtnarrativ ausdrücken könnte. Neben dem ahistorischen ästhetischen Vorbehalt gegen moralisierende Dichtung liegt hier ein zweiter, narratologisch motivierter Grund für die dem exemplarischen Erzählen entgegengebrachte Antipathie: Es identifiziert die Funktion des Erzählens mit der Veranschaulichung eines Arguments. Die argumentative Funktion exemplarischen Erzählens ist allerdings kein blindes Erbe der Rhetorik,9 das als kulturell bedeutungsloser Traditionsbestand weitergetragen würde. Sie ist im historischen anthropologischen Wissen verankert, weil sie stets voraussetzt, das der in einer Handlungskonstruktion hergestellte Zusammenhang zwischen dem Handeln und seinen Konsequenzen durch in der Welt tatsächlich wirkende Gesetzmäßigkeiten determiniert ist. Andernfalls könnte die Erzählung keinen über den Einzelfall hinaus gültigen Erkenntniswert beanspruchen. Wenn die Erzählung richtiges Handeln durch Erfolg belohnt und falsches durch Misserfolg bestraft, vermittelt sie keine moralischen Normen im modernen Sinn kulturel8 Vgl. Edith Wenzel, »Zur Judenproblematik bei Hans Folz«, ZfdPh 101 (1982), 79 – 104; dies., ›Do worden die Judden alle geschant‹. Rolle und Funktion der Juden in spätmittelalterlichen Spielen, München 1992; Christine Magin, »Hans Folz und die Juden«, in: Volker Honemann u. a. (Hgg.), Einblattdrucke des 15. und frühen 16. Jahrhundert, Tübingen 2000, 371 – 395; Matthias Schönleber: »der juden schant wart offenbar. Antijüdische Motive in Schwänken und Fastnachtsspielen von Hans Folz«, in: Ursula Schulze (Hg.), Juden in der deutschen Literatur des Mittelalters, Tübingen 2002, 163 – 182; Maria E. Müller, »Infame Rituale – Zu den antijüdischen Fastnachtspielen von Hans Folz und R. W. Fassbinders ›Der Müll, die Stadt und der Tod‹«, in: Hubertus Fischer (Hg.), Die Kunst der Infamie. Vom Sängerkrieg zum Medienkrieg, Frankfurt a. M. u. a. 2003, 81 – 141. 9 Zur Tradition der rhetorischen narratio-Lehre vgl. Joachim Knape, »Historia«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 3 (1996), Sp. 1406 – 1410; ders., »Narratio«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 6 (2003), Sp. 98 – 106 (jeweils mit weiterer Literatur).
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ler Konventionen, sondern die Erkenntnis von faktischen Gesetzmäßigkeiten. Exemplarisches Erzählen präsentiert die Unterscheidung zwischen dem Richtigen und dem Falschen nicht als Ordnung des Sollens, sondern als Ordnung des Seins; es zeigt, mit welchen Handlungsweisen der Mensch gut oder schlecht fährt. Das exemplarische Erzählen ist deshalb eine Art narratives Pendant zur tugendethischen Handlungstheorie: Tugenden sind in der Tugendethik Handlungsweisen, die die Vernunft als Weg zu einem dauerhaft glücklichen Leben im Diesseits oder als Weg zur ewigen Glückseligkeit erkennt.10 Entscheidend ist dabei die Dauerhaftigkeit der Handlungskonsequenzen (modernisierend könnte man von ›Nachhaltigkeit‹ sprechen) im Unterschied zum kurzfristigen Vorteil oder Erfolg. Als Handlungstheorie stellt die Tugendethik eine anthropologische Wissensordnung dar, von der der Erkenntniswert des exemplarischen Erzählens abhing; zusammen mit ihr wurde es im 18. Jahrhundert in Philosophie und philosophischer Ästhetik zunehmend obsolet. Wer den Sinn des erzählten Handelns in der Historie von den Prophetenbeeren nicht auf eine reine Veranschaulichung diskursgeschichtlich vorgeprägter Begriffsrelationen reduzieren wollte, würde wahrscheinlich erstens darauf hinweisen, dass sich die erzählte Handlung nicht komplikationsfrei als Aktualisierung tugendethischen Wissens verstehen lässt, weil sie dann nicht mit dem Erfolg des Betrügers Eulenspiegel enden dürfte. Im Zusammenhang damit stehen zweitens Details des Handlungsarrangements, für die Aktantenanalyse und diskursgeschichtliche Interpretation eher geringes Interesse aufbringen. So liefert der Bisamverkäufer, den Eulenspiegel als arbeitsscheuen Betrüger seines eigenen Schlags beurteilt, die Inspiration für die Betrugshandlung. Zum Betrugsinstrument kommt Eulenspiegel durch den lästigen Flohbiss, der sich als Weg zum Nützlichen erweist. Dass es sich bei der Ware um Dreck handelt, sagt Eulenspiegel den Juden ausdrücklich; sie erkennen den kleinen Hinweis in der irrigen Hoffnung auf den großen Erkenntnisgewinn jedoch nicht. Eulenspiegel selbst generalisiert mit der Regel, dass die Weltordnung für jeden Betrug das passende Opfer bereitstelle, das Prinzip seines Handlungserfolgs: also beschert mir vnser herrgot kauflüt, den iuden dienet dise kost wol. Offenbar ist die erzählte Welt erstens von kontingenten Ereignissen und zweitens von menschlicher Schlechtigkeit beherrscht. Der Einfältige – der als scheiternder Lasterhafter tugendethisch konstruiert ist – weiß diese Welt seiner getrübten Erkenntnisfähigkeit wegen nicht richtig zu deuten, weshalb ihm sein Handeln keinen Erfolg einträgt.11 Der Schlaue – der als er10 Eine Übersicht bietet der Artikel von Peter Stemmer u. a., »Tugend«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 10 (1998), Sp. 1532 – 1570.
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folgreicher Betrüger nicht tugendethisch konstruiert ist – weiß den Kontingenzen der schlechten Welt Erkenntnisse abzugewinnen, die sich als Handlungsoptionen in Gestalt von erfolgversprechenden Zielen und erfolgträchtigen Mitteln erweisen. Nun besteht eine solche Deutung freilich auch aus allgemeinen, von der Erzählung exemplarisch veranschaulichten Sätzen. Von der moralsatirischen Aktualisierung tugendethischen Wissens unterscheidet sich das Sinnbildungsverfahren jedoch in zweierlei Hinsicht. Zum einen sind der Misserfolg lasterbedingten Handelns und der Betrugserfolg so miteinander verknüpft, dass der Geltungsanspruch des tugendethischen Wissens gewissermaßen nur zur Hälfte, zur Hälfte aber eben doch bestätigt wird. Der Sinn des erzählten Handelns steht deshalb in einer Relation zum Kategoriensystem des tugendethischen Diskurses, die sich weder als schlichte moralsatirische Affirmation noch als – nicht minder schlichte – ›karnevaleske‹ Subversion fassen lässt. Zweitens gründet der Sinn des erzählten Handelns auf den kausalen Zusammenhängen, die die Erzählung zwischen den Kontingenzen der erzählten Situationen und der Erfolgträchtigkeit des Handelns herstellt. Eulenspiegel macht sich die Kontingenzen zunutze, weil er die Situationen zu deuten weiß und über situationsgerechtes Handlungswissen verfügt, das seinen Erfolg ermöglicht. Dieses Handlungskonzept steht nicht einfach nur in einem inhaltlichen Gegensatz zur Tugendethik; es hat auch einen anderen logischen Status. Denn die Tugendethik deduziert aus Axiomen, was in einer spezifischen Handlungssituation tugend- und lasterhaftes Handeln ist; die Kategorien richtigen und falschen Handelns gelten deshalb gegenüber der jeweiligen Handlungssituation a priori. Situationsabhängig sind in diesem Rahmen nur die zielgemäßen Handlungsmittel. Thomas von Aquino beispielsweise 11 Einfalt gehört zu den thematischen Schlüsselkonzepten des Eulenspiegel-Buchs. Die Historien benutzen den Begriff stets im negativen Sinn von stultitia und nicht im positiven von simplicitas, weil sie Einfalt immer mit Unvorsichtigkeit und defizitärer Erkenntnis assoziieren. Eine besonders erhellende zeitgenössische Explikation des Zusammenhangs zwischen Einfalt und Vorsicht findet sich bei Johannes Geiler von Kaysersberg, »Seelenparadies«, in: Sämtliche Werke, Erster Teil: Die deutschen Schriften. Erste Abteilung: Die zu Geilers Lebzeiten erschienenen Schriften, Bd. 3., hg. Gerhard Bauer, Berlin / New York 1995, 615: Ir sollend sein fürsichtig als die schlangen / und einfaltig als die tauben. Da bey hatt uns der herr zu verston geben / das wir die zwo tugenden / einfalt / und fürsichtigkeit müssen bey einander haben / unnd das eine on die ander nit ein tugend / sunder ein laster ist / denn wo fürsichtikeit ist / da sol ouch sein einfalt / unnd bey der einfalt / da muß ouch sein fürchsichtikeit / wenn die fürsichtikeit on einfalt / ist ein betrüglicheit / oder listigkeit / unnd einfalt on fürsichtigkeit ist ein torheyt.
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formalisiert deren Findung im Zusammenhang mit der Explikation des prudentia-Begriffs in der Summa theologiae (II-II 47; vgl. außerdem I-II 57) als praktischen Syllogismus: Im Obersatz bestimmt ein allgemeiner Tugendbegriff, wie etwa Gerechtigkeit, das Handlungsziel; der Untersatz beschreibt die partikuläre Situation; die Konklusion besteht in der ziel- wie situationsgerechten Mittelwahl. Die prudentia ist demgemäß – und der aristotelischen Tradition entsprechend – als zugleich intellektuelle und moralische Tugend das Vermögen, in einer konkreten Situation das richtige Mittel zur Erreichung eines tugendgemäßen Ziels zu wählen.12 Aus einem Nützlichkeitsprinzip lässt sich dagegen nicht einfach deduzieren, was in einer konkreten Situation als konkretes Ziel des Handelns gelten kann; die Kategorien richtigen und falschen Handelns müssen vielmehr in einem Zusammenspiel zwischen dem Prinzip und der spezifischen Situation erst abgeleitet werden. Genauso ist die Handlung der Historie von den Prophetenbeeren jedenfalls konstruiert: In einer kontingenten Situation (der Bisamverkäufer auf dem Markt) erkennt Eulenspiegel, was ein dem Eigennutz dienliches situationsspezifisches Handlungsziel sein könnte (wertlose Ware teuer verkaufen), und in einer weiteren kontingenten Situation (der Flohbiss im Hintern) erkennt er das situationsspezifische Mittel zum Zweck (den Kot). Nur der falsche Glaube der Juden als Voraussetzung für den Betrugserfolg ist nicht kontingent und ›funktioniert‹ deshalb tugendethisch. Ein solches Handlungswissen ist wegen seiner Situationsspezifik nicht als reines Regelwissen formulierbar und deshalb nicht auf das Generalisierungsniveau begrifflicher Axiomatik zu bringen. Deshalb unterscheidet sich nicht nur sein propositionaler Gehalt (›handle eigennützig‹ vs. ›handle tugendgemäß‹), sondern auch seine Relation zum Handeln von den Annahmen der tugendethischen Handlungstheorie. In deren Rahmen hat freilich schon Thomas von Aquino (Summa theologiae II-II 47) den weder völlig axiomatischen noch völlig partikulären logischen Status des Handlungswissens bemerkt: Die von der prudentia in den praktischen Schlussverfahren geleistete Vermittlung zwischen tugendhaften Zielen (Obersätze) und Situationsbeschreibungen (Untersätze) operiert Thomas zufolge nämlich mit Erfahrungswissen; die Untersätze praktischer Schlüsse sind demnach nicht im strengen Sinn partikulär, sondern – wie es Jean-Pierre Wils zusammengefasst hat – »Sätze geringer Allgemeinheit, die dem Bereich der Topik ent12 Vgl. Jean-Pierre Wils, »Klugheit«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 4 (1998), Sp. 1115 – 1125; Christoph Horn, »Klugheit bei Thomas von Aquin«, in: Wolfgang Kersting (Hg.), Klugheit, Weilerswist 2005, 42 – 67. Horn zieht zurecht die Konsequenz, prudentia sei bei Thomas »ein Umsetzungs- oder Operationalisierungsvermögen, keine frei agierende Urteilskraft« (60).
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nommen sind […], Lebensmaximen mittlerer Konkretheit«.13 Thomas interessierte sich für dieses topische Maximenwissen nicht weiter, weil es tugendethisch nicht axiomatisierbar ist; deshalb formalisierte er es als partikuläre und nicht als axiomatische Proposition. Wenn man den tugendethischen Rahmen suspendiert, sind solche Maximen mittlerer Konkretheit nicht nur eine Voraussetzung für die Identifikation von Handlungsmitteln, sondern ebenso für die Identifikation von Handlungszielen, insbesondere als situationsabhängige Spezifizierung des Nützlichkeitsprinzips. Die Darstellung eines derartigen situationsabhängigen Handlungswissens ist auf Konkretisierung angewiesen und deshalb in Erzählungen gut aufgehoben. Die Narration ist dabei keine bloße Veranschaulichung von Regelwissen, das man ebenso effizient nicht-narrativ formulieren könnte; sie zeigt vielmehr, wie die Deutungskompetenz in kontingenten Situationen und das situationsadäquate, gegenüber der Tugendethik indifferente Handlungswissen zu erfolgreichem Handeln führen. Die Narration erhebt dabei jedoch zugleich einen über den singulären Fall hinausreichenden Erkenntnisanspruch: Die Geschichte ist kein Beispiel für eine axiomatische Regel, aber doch für auf einem niedrigeren Generalisierungsniveau angesiedelte Prinzipien des Handelns, die mit konkreten Handlungssituationen interferieren und Erkenntnis durch Analogienbildung ermöglichen. In der Historie von den Prophetenbeeren wäre das exemplarische Erzählen demnach erstens weder bloße Aktualisierung noch bloße Subversion eines ethischen Diskurses und zweitens keine Veranschaulichung axiomatisch definierter Kategorien richtigen und falschen Handelns. Exemplarisch wäre es aber doch: Wer viele Geschichten dieser Art kennen würde, verfügte nicht über eine systematische Theorie, aber doch über eine kumulative Topik des Handlungswissens, über einen Thesaurus analogisierungsfähiger und deshalb erkenntnisträchtiger Beispiele. Eine solche Topik liefern die Historien des Eulenspiegel-Buchs ihren Rezipienten. II. Diskurs und Habitus Wie der Misserfolg des Handelns wegen der Erkenntnistrübung durch die falsche Religion zeigt, wird die Tugendethik in der Historie von den Prophetenbeeren nicht suspendiert. Sie wird jedoch einem Handlungswissen eingepasst, dessen Prinzipien mehr am kurzfristigen Erfolg oder Misserfolg in einer partikulären Handlungssituation orientiert sind als am axiomatischen Konzept eines guten Lebens und den daraus abgeleiteten Regeln. 13
Wils, »Klugheit«, Sp. 1119.
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Man soll die Laster eher aus unmittelbarem Eigennutz denn aus Einsicht in eine Ordnung meiden, die Tugendhaftigkeit auf lange Sicht zuverlässig belohnt. Die Differenz zwischen einem solchen praktischem Sinn und dem tugendethischem Anleitungswissen wird in den Eulenspiegel-Historien immer wieder programmatisch entfaltet. In Historie 15 erfreuen sich der Bischof von Magdeburg und sein Hof am Narren Eulenspiegel. Nur ein Gelehrter, der sich für weise hält und den die Hofgesellschaft nicht leiden kann, ist der Meinung, man solle am Hof keine Narren dulden; denn von Weisen würde man Weisheit lernen, von Narren aber Torheit. Die Hofgesellschaft beauftragt Eulenspiegel, den Gelehrten mit einem Streich für seine Weisheit zu bezahlen. Eulenspiegel verkleidet sich als Arzt, denn der Gelehrte ist von schwacher Gesundheit. Der Arzt will eine Nacht mit dem Gelehrten im Bett verbringen und anhand seines Schweißes eine Diagnose stellen. Zu diesem Zweck verabreicht er dem Gelehrten eine schweißtreibende Arznei, bei der es sich in Wahrheit jedoch um ein Abführmittel handelt. Einen hohlen Stein zwischen Wand und Bett füllt Eulenspiegel mit seinem eigenen Kot. Der Gelehrte liegt auf der Wandseite des Bettes; Eulenspiegel legt sich auf die andere Seite. Dreht sich der Gelehrte zur Wand, fährt ihm der Kotgestank aus dem Stein in die Nase; dreht er sich zu Eulenspiegel, lässt der ein stilschweigenden furtz dz er zu mal vbel stanck. Schließlich sorgt die Wirkung des Abführmittels noch für eine dritte Gestanksquelle in der Bettmitte. Am nächsten Morgen erklärt der geschwächte Gelehrte der Hofgesellschaft, er habe sich statt auf einen Doktor der Medizin auf einen Doktor der Bosheit eingelassen. Die Hofgesellschaft lacht und kommentiert: Es sei dem Gelehrten nach seinen eigenen Worten ergangen, nämlich dass sich der Weise nicht mit Narren abgeben soll. Doch habe er den Narren nicht erkannt und sei deshalb von ihm betrogen worden. Alle anderen aber hätten Eulenspiegel erkannt, weil sie ihn zuvor am Hof aufnahmen.14 Niemand sei so weise, dass er nicht auch 14 Die knappe und nicht ganz leicht verständliche Diktion des epimythionähnlichen Kommentars zuverlässig begriffen hat Johann Fischart, der die Moralisierung im Eulenspiegel Reimensweiß ebenso breit wie klar ausformulierte: Das Hofgesind fieng an zulachen / Vnd zu dem Doctor sie all sprachen / Nach ewern worten ist geschehen / So habt jhr nun ein schalck gesehen / Wern jhr vor vmbgangen mit Narrn / So wer euch diß nicht widerfahrn: / Dann wer mit schälken vmb ist gangen / Der laßt sich nicht von schälken fangen. Johann Fischart, Sämtliche Werke, hg. Ulrich Seelbach u. a., Bd. 2, Eulenspiegel reimenweis, bearb. Ulrich Seelbach, W. Eckehart Spengler, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, v. 2129 – 2136. Wie in vielen anderen Fällen hat Fischart die Historie allerdings so bearbeitet, dass ihr Erkenntnisangebot um protestantische Einsichten vermehrt wird; so beispielsweise mit einigem Formulierungswitz in v. 1927 – 1930: Fürnemlich ist es vbel gstalt / Daß geistligkeit auch Narren halt / Dann Narrheit vnd die geistligkeit / Wie reimen sich die alle beid?
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Narren zu kennen brauche; und wenn es keine Narren gäbe, woran sollte man dann die Weisen erkennen? Wie die falsche Religion der Juden ist der Hochmut des Gelehrten als moralischer und intellektueller Defekt gleichermaßen verstanden; das Laster behindert die Erkenntnis und wird durch Eulenspiegels Aktion bestraft. Den moralsatirischen Sinn stützt das symbolisch codierte Fäkalmotiv: Das Abführmittel ist im Text ausdrücklich als purgation bezeichnet; es reinigt den Gelehrten von seinem Hochmut. Eulenspiegels eigener Kot wäre dann als das Schlechte zu verstehen, das das Schlechte an den Tag bringt und scheitern lässt; auch dies rekurriert auf eine tugendethische Denkfigur (in einer geordneten Welt muss sich die Unordnung am Ende selbst vernichten). Eulenspiegel agiert einerseits als von der Hofgesellschaft ausdrücklich eingesetzte Bestrafungsinstanz; andererseits dient er dem eigenen Nutzen, weil er mit seinem Handeln zugleich seine Existenzberechtigung nachweist. Der Sinn des erzählten Handelns geht in der Moralsatire indes wieder nicht vollständig auf. Die Erzählung exemplifiziert nicht einfach nur, dass der Hochmut erkenntnishinderlich ist und dass der Hochmütige deshalb unweigerlich scheitert, sondern darüber hinaus, dass die lebenspraktisch notwendige Erkenntnis des Schlechten nicht möglich ist, wenn man ihm ausweicht. Auf der Ebene der narrativen Vermittlung wird das durch die epimythionartige Chorrede der Hofgesellschaft am Ende hervorgehoben: Weisheit ist nicht zu gewinnen, wenn man die Torheit meidet. Der Gelehrte unterliegt Eulenspiegel, gerade weil er, anders als Bischof und Hof, keinen Umgang mit dem Schlechten haben will und es deshalb hinter der Maskerade nicht erkennt. Gelehrter und Hof repräsentieren demnach zwei unterschiedliche Modelle des Handlungswissens. Sicher nicht ganz zufällig ist das vom Gelehrten vertretene Modell das tugendethische, das apriorische Axiome auf Handlungssituationen appliziert: Weil die Weisheit zu suchen und die Torheit zu meiden ist, muss der Narr vom Hof entfernt werden. In der erzählten Handlung erweist sich freilich gerade dies als lebenspraktische Torheit. Das Modell des Hofs folgt seinerseits ebenfalls einem generalisierten Prinzip, dessen Geltungsanspruch die Erzählung aber nicht nur dem Inhalt, sondern auch dem logischen Status nach von dem der Tugendethik absetzt. Dazu braucht es den spezifischen Handlungsaufbau: Der Gelehrte deduziert, wie die Tugendethik, das in der konkreten Situation Richtige und Falsche aus Axiomen. Das Prinzip des Hofs dagegen wird als ein aus der Praxis selbst stammendes Handlungswissen dargestellt, das sich seiner Herkunft wegen in der Praxis als erfolgträchtig bestätigt und das in der epimythionartigen Chorrede des Hofs deshalb mit größter Plausibilität als Generalisie-
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rung aus der konkreten Handlung präsentiert werden kann: Der wahrhaft Weise pflegt einen kontrollierten Umgang mit dem Schlechten, um sich mit ihm vertraut zu machen und es im konkreten Fall erkennen zu können.15 Indem die exemplarische Erzählung als Begründung für dieses Prinzip funktionalisiert wird, kann es als eine der Praxis entstammende Erkenntnis präsentiert werden, die der tugendethischen Axiomatik widerspricht und sie als praxisuntaugliches Theoriewissen erscheinen lässt.16 Implizit codiert die Narration dabei den Begriff des Hochmuts um:17 Dem Hochmütigen 15 Die narrative Plausibilisierung der Überlegenheit des praktischen Wissens gegenüber dem tugendethischen unterscheidet die Konstruktion in dieser Historie von der ansonsten vergleichbaren Konstruktion des Dialogteils im Dialogus Salomonis et Marcolfi und seinen deutschsprachigen Bearbeitungen, wo tugendethisch interpretierbare Sprichwörter vorzugsweise biblischer Herkunft mit mehr oder weniger offenkundig gegen die tugendethischen Prinzipien stehenden lebenspraktischen Maximen konfrontiert werden. Mit dem lateinischen Dialogus könnte die älteste erhaltene pointierte Gegenüberstellung tugendethischer Weisheit und praktischer Klugheit greifbar sein. Die literarische Tradition ist aufgearbeitet bei Sabine Griese, Salomon und Markolf. Ein literarischer Komplex im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Studien zu Überlieferung und Interpretation (Hermaea 81), Tübingen 1999. 16 Lange vor dem Eulenspiegel-Buch findet sich die Handlungsmaxime bereits in einer Strophe des Sangspruchdichters Rumelant, in einer Gattung also, zu deren Zuständigkeiten die Versprachlichung von Praxiswissen gehörte (RSM 1Rum / 10 / 2; Text nach: Deutsche Lyrik des späten Mittelalters, hg. Burghart Wachinger, Frankfurt a. M. 2006, 318): Daz ein getrüwe steter man vil schalkes list weiz unde kan, des wil ich im wol günnen. ›Nicht, meister, tu die sprüche hin! min triuwer mut, min steter sin sol nimmer valscheit künnen.‹ Nein, steter vriunt, getrüwer helt, du must wol schalkheit wizzen unde prüben, So kanstu schalken widerstan. hastu ir liste, die si han, du ne solt ir doch nicht üben. Auch dieser Text macht die Differenz zwischen tugendethischem Diskurs und erfolgversprechender Praxis explizit; die rhetorische Form dafür ist der fingierte Einwand. Der Vergleich zwischen der Historie und der Strophe zeigt die Leistungsdifferenz zwischen exemplarischer Narration und begrifflich abstrakter Argumentation: Die Behauptung, dass man die Schalkheit kennen müsse, um dem Schalk widerstehen zu können, begründet in der Strophe die vorangehende Behauptung, dass auch der Tugendhafte die Schalkheit kennen muss; sie wird ihrerseits aber nicht begründet. Eben dies leistet in der Eulenspiegel-Historie die Erzählung, indem sie die Überlegenheit des praktischen Sinns gegenüber dem ethischen Diskurs demonstriert. 17 Eine diskursgeschichtliche Untersuchung des Hochmut-Konzepts in Eulenspiegel-Historien bietet Michael Aichmayr, »Die Darstellung der »Hoffart« im ›Eulenspiegel‹«, Eulenspiegel-Jahrbuch 34 (1994), 91 – 106. Der Sinn der Historie 15 – die
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mangelt es nicht an Einsicht in eine tugendethische Ordnung des Seins, sondern an praktischem Sinn. Auf diese Spannung zwischen ethischem und praktischem Wissen ist wegen des symbolischen Zusammenhangs zwischen Hochmut und Kot die Fäkalkomik der Historie bezogen, und diese Differenz begründet die Handlungskomik: Indem die Rezipienten erkennen, dass das Praxiswissen des Hofs wahre Handlungssouveränität konstituiert, können sie in das Gelächter der Erkenntnis über Eulenspiegels Opfer einstimmen.18 Weil der praktische Sinn dabei verlacht, was er als lebensblinde Theorie beurteilt, handelt es sich weder um ein karnevaleskes Lachen der Ordnungssubversion noch um ein Lachen aus niederträchtiger oder moralsatirisch legitimierter Schadenfreude.19 »Bestrafung des hochmütigen Doktors des Bischofs von Magdeburg zielt auf eine Konfrontation mit Bedingungen der menschlichen Existenz, welche den Doktor von seinem Weisheitsdünkel kurieren soll« (103) – bestünde demnach allerdings lediglich im Kontrast zwischen Weisheits-Hochmut und Körperlichkeit. 18 Weil das Eulenspiegel-Buch diese – stets mit dem Fürstenstand korrelierte – Handlungssouveränität und das ihr entsprechende souveräne Lachen kennt, halte ich die These von Werner Röcke, »Die getäuschten Blinden. Gelächter und Gewalt gegen Randgruppen in der Literatur des Mittelalters«, in: Werner Röcke, Hans Rudolf Velten (Hgg.), Lachgemeinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (Trends in Medieval Philology 4), Berlin / New York 2005, 61 – 82, hier 78 – 80, für problematisch, derzufolge das Eulenspiegel-Buch die nicht mehr harmonisierbaren Interessengegensätze in der spätmittelalterlichen Stadt inszeniere und ein Lachen der Kapitulation vor dem Unkontrollierbaren evoziere. Eher scheint mir die Konstruktion Gemeinsamkeiten mit der von Hans Rudolf Velten, »Text und Lachgemeinschaft. Zur Funktion des Gruppenlachens bei Hofe in der Schwankliteratur«, in: ibid., 125 – 144, als »ideale Rezeptionsgemeinschaft« beschriebenen ›höfischen Lachgemeinschaft‹ in einzelnen Kalenberger-Schwänken aufzuweisen, »die für den gesamten Text Gültigkeit hat und als performative Strategie für die Aufnahme des Textes dienen kann«. Denn die Leser des Eulenspiegel-Buchs dürfen, indem sie mit dem Erzbischof und seinem Hof über den Gelehrten lachen, so sein wie der Erzbischof und sein Hof. 19 Als Trägerstruktur für die Evokation einer als anthropologische Konstante verstandenen Schadenfreude beschreibt Rüdiger Schnell, »Das Eulenspiegel-Buch in der Gattungstradition der Schwankliteratur«, in: Herbert Blume, Eberhard Rohse (Hgg.), Hermann Bote. Städtisch-hansischer Autor in Braunschweig. 1488 – 1988, Tübingen 1991, 171 – 196, das Konstruktionsprinzip der Eulenspiegel-Historien. Das Sinnangebot der Historie 15 ergibt sich dabei allein aus den Aktantenrollen im Schwankmuster: »Der komische Konflikt im Schwank verlangt das Auftrumpfen des zunächst Unterlegenen, ohne Rücksicht auf die moralischen Implikationen seines Handelns. Die Pointe der Historie entlädt sich im Lachen über den gesellschaftlich zunächst Höherstehenden« (182). Wäre dies alles, müssten sämtliche Ausgleichsschwänke, die dem Revanchemuster folgen und deren Figurenkonstellation auf denselben Aktantenrollen beruht, dasselbe Sinnangebot vermitteln. Die Spezifik des narrativen Sinnangebots beruht jedoch anscheinend auf den Besonderheiten des jeweiligen Handlungsarrangements, die beim Blick auf die Schemata als bedeutungslose Kontingenzen erscheinen.
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Die interpretatorische Differenzierung zwischen praktischem Sinn und ethischem Wissen greift auf einen Begriff Pierre Bourdieus zurück, weil sich Bedeutungskonstruktionen wie die der Historie vom hochmütigen Gelehrten meines Erachtens mit Begriffsangeboten aus den praxeologischen Kulturtheorien erkenntnisträchtig rekonstruieren lassen. In der germanistischen Märenforschung spielt die Kategorie, um die es mir geht, unter Etikettierungen wie ›Klugheit der Praxis‹ oder ›Erfahrungswissen‹ seit längerem eine größere Rolle als in der Prosaschwankforschung.20 Hedda Ragotzky und Christa Ortmann etwa haben narrative Differenzierungen zwischen situationsadäquatem und regelgeleitetem Handeln in Mären wiederholt untersucht;21 Marga Stede hat das Erzählen von lebenspraktischer Klugheit bei Heinrich Kaufringer analysiert und dabei Bourdieus Habitus-Begriff als Instrument eingesetzt;22 Rüdiger Schnell hat die Exemplifizierung ›pragmatischer Lebensregeln‹ im erzählten Umgang mit Fehlverhalten beschrieben.23 Im Folgenden soll es um den Versuch gehen, die Angebote der Pra20 Dass das Sprichwörtliche im Eulenspiegel-Buch eher als Klugheits- statt als Tugendlehre fungiere, bemerkte Georg Bollenbeck, Till Eulenspiegel. Der dauerhafte Schwankheld. Zum Verhältnis von Produktions- und Rezeptionsgeschichte (Germanistische Abhandlungen 56), Stuttgart 1985, 115. Im Kontext seines Plädoyers für eine wissenshistorische Analyse der Schwankliteratur des späteren 16. Jahrhunderts rekurriert Michael Waltenberger, »›Einfachheit‹ und Partikularität. Zur textuellen und diskursiven Konstitution schwankhaften Erzählens«, GRM, N.F. 56 (2006), 265 – 287, hier 276 – 280, auf die Kategorie ›Praxiswissen‹; der programmatische Entwurf zielt jedoch eher auf Lektüren, die die Aktualisierung konkurrierender Diskurse ins Zentrum rücken. 21 Hedda Ragotzky, Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 1), Tübingen 1981; dies., »Das Märe in der Stadt. Neue Aspekte der Handlungsethik in Mären des Kaufringers«, in: Georg Stötzel (Hg.), Germanistik – Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentags 1984, Berlin / New York 1985, Bd. 2, 110 – 122; dies., »Die ›Klugheit der Praxis‹ und ihr Nutzen. Zum Verhältnis von erzählter Geschichte und lehrhafter Fazitbildung in Mären des Strickers«, PBB 123 (2001), 49 – 64; Christa Ortmann, Hedda Ragotzky, »significatio laicalis. Zur Autorrolle in den geistlichen Bispeln des Strickers«, in: Timothy R. Jackson u. a. (Hgg.), Die Vermittlung geistlicher Inhalte im deutschen Mittelalter, Tübingen 1996, 237 – 253; dies., »Minneherrin und Ehefrau. Zum Status der Geschlechterbeziehung im ›Gürtel‹ Dietrichs von der Glezze und ihrem Verhältnis zur Kategorie gender«, in: Ingrid Bennewitz, Helmut Tervooren (Hgg.), Manlîchiu wîp, wîplîch man. Zur Konstruktion der Kategorien ›Körper‹ und ›Geschlecht‹ in der deutschen Literatur des Mittelalters (Beihefte zur ZfdPh 9), Berlin 1999, 67 – 84. – Zu entsprechenden Konzepten in Fabliaux vgl. schon Jürgen Beyer, Schwank und Moral. Untersuchungen zum altfranzösischen Fabliau und verwandten Formen, Heidelberg 1969. 22 Marga Stede, Schreiben in der Krise. Die Texte des Heinrich Kaufringer (LIR 5), Trier 1993, insbes. 239 – 248. 23 Rüdiger Schnell, »Literarische Spielregeln für die Inszenierung und Wertung von Fehltritten: Das Beispiel der ›Mären‹«, in: Peter von Moos (Hg.), Der Fehltritt.
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xeologie erstens für eine genauere kulturwissenschaftliche Explikation des Praxiswissens und zweitens für eine historische Narratologie zu nutzen. Den praxeologischen Kulturtheorien liegt bei allen konzeptionellen Unterschieden die Überzeugung zugrunde, dass sich Kulturen durch Ordnungen des Handelns konstituieren, die eine kulturelle Gruppe den Einzelnen als Dispositive vermittelt und ohne die die Einzelnen nicht kompetent handeln könnten.24 Die kulturellen Handlungsdispositive werden dabei als ein spezifischer Wissenstypus konzipiert, der sich als praktisches Wissen von demjenigen Wissen unterscheidet, das Kulturen in ihren Diskursen explizieren. Praxiswissen wäre demnach ein implizites, also ganz oder teilweise vorbewusstes und nicht begrifflich reflektiertes Wissen der jeweiligen Gruppe. Die Differenzierung zwischen praktischem und diskursivem Wissen soll selbstverständlich nicht überspielen, dass Diskurse ebenfalls kulturelle Praktiken sind und dass zwar die in ihnen aktualisierten Wissensbestände, nicht unbedingt aber auch deren Ordnungen von den Angehörigen der jeweilige Kultur expliziert werden können. In Bourdieus Terminologie ist der praktische Sinn, über den Handelnde einerseits wie über ein Sinnesorgan verfügen und der ihrem Handeln andererseits als kulturelle Sinnordnung praktischen Wissens zugrundeliegt, ein Synonym für den Habitus als kulturelles »Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsschema«.25 Der praktische Sinn schließt die mentalen Voraussetzungen des Handelns ein, weil Handeln immer situationsbezogen ist und kulturelles Praxiswissen deshalb nicht ohne ein Sensorium für Handlungssituationen auskommt. Das Konzept soll das Handeln der Einzelnen im Unterschied zu anderen Handlungstheorien nicht in erster Linie durch soziale Normen oder ein abstraktes Zweckrationalitätsprinzip erklären: Praxiswissen ist kein Wissen über Normen und ihre Anwendung, sondern ein Wissen davon, welche Handlungen in einer Situation erforderlich, möglich, angemessen, akzeptabel, erfolgversprechend sind.26 Als ganz oder teilVergehen und Versehen in der Vormoderne (Norm und Struktur 15), Köln 2001, 265 – 315; ders., »Erzählstrategie«. 24 Andreas Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerswist 2000 (22006); Karl H. Hörning, »Kultur als Praxis«, in: Friedrich Jaeger, Burkhard Liebsch (Hgg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Stuttgart / Weimar 2004, Bd. 1, Grundlagen und Schlüsselbegriffe, 139 – 151. 25 Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1987, Zitat 101. (= Le sens pratique, Paris 1980); vgl. zum Folgenden außerdem Pierre Bourdieu, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a. M. 2001, 165 – 209 (= Méditations pascaliennes, Paris 1997). 26 Vgl. dazu Karl H. Hörning, Experten des Alltags. Die Wiederentdeckung des praktischen Wissens, Weilerswist 2001, 221 – 243.
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weise vorbewusstes und von der Gemeinschaft vermitteltes Wissen bietet der praktische Sinn ein Dispositiv für Ziele und Instrumente, die die Einzelnen als ihre eigenen Handlungsintentionen und Handlungsmöglichkeiten erleben. Der praktische Sinn disponiert die Einzelnen in einer spezifischen, der Deutung bedürftigen Situation erst für die tatsächliche Handlungsrelevanz oder -irrelevanz sozialer Normen und für bestimmte Handlungsmotive.27 Als axiomatische Zweckrationalität stellt sich der Zusammenhang zwischen praktischem Sinn und tatsächlichem Handeln nicht dar, weil die Konkretisierung des Nützlichen zu Zielen und Mitteln in der jeweiligen Situation und gemäß dem jeweiligen Praxiswissen erst geleistet werden muss. Weil das Praxiswissen dem Handeln der Einzelnen einen subjektiv erfahrenen Sinn vermittelt, ist es eine kulturelle Bedeutungsordnung. Bourdieus Handlungstheorie behauptet einen kategorialen Unterschied zwischen kulturellem Praxiswissen und dem Anleitungs- und Reflexionswissen ethischer Diskurse.28 Sein Habitus-Begriff lässt sich deshalb nicht mit dem hexis-Begriff der Nikomachischen Ethik und dem daran anschließenden scholastischen habitus-Begriff identifizieren, die eine eingeübte Disposition zu tugendhaftem Handeln bezeichnen.29 Bourdieus Handlungs27 Aus diesem Grund verwendet den Begriff gegen seine eigentliche Funktion, wer den Habitus lediglich als Subversionspotential des Körperlichen gegenüber den herrschenden Elitendiskursen oder lediglich als utilitaristisches Prinzip im Gegensatz zur Tugendethik versteht: Der Habitus hat weder ein subversives noch ein affirmatives Verhältnis zur Ethik, sondern regelt, unter welchen Umständen sie in welchem Ausmaß praxisrelevant ist oder nicht; und er folgt nicht einem anthropologisch überzeitlichen, jenseits kultureller Bedeutungsordnungen stehenden Nützlichkeitsprinzip, sondern regelt, was unter welchen Umständen als ›nützlich‹ gelten kann oder nicht. Die Verwendungsweisen des Habitus-Begriffs in verschiedenen Studien HansJürgen Bachorskis lösen ihn aus seinem praxeologischen Theorierahmen und fügen ihn unter substantieller Veränderung seiner Bedeutung in einen Bachtinschen ein: Hans-Jürgen Bachorski, »Diskursfeld Ehe. Schreibweise und thematische Setzungen«, in: ders. (Hg.), Ordnung und Lust. Bilder von Liebe, Ehe und Sexualität in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (LIR 1), Trier 1991, 511 – 545; ders: »Ein Diskurs von Begehren und Versagen. Sexualität, Erotik und Obszönität in den Schwanksammlungen des 16. Jahrhunderts«, in: Helga Sciurie, Hans-Jürgen Bachorski (Hgg.), Eros – Macht – Askese. Geschlechterspannungen als Dialogstruktur in Kunst und Literatur (LIR 14), Trier 1996, 305 – 341; ders.: »Das aggressive Geschlecht. Verlachte Männlichkeit in Mären aus dem 15. Jahrhundert«, ZfG, N.F. 8 (1998), 263 – 281. 28 Bourdieu, Sozialer Sinn, 166 f. 29 Einen Überblick bietet Rolf Schönberger, »Tugend II. Mittelalter«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 10 (1998), Sp. 1548 – 1554. Bourdieu selbst führte seinen Habitus-Begriff zurück auf die Anregung durch eine Studie von Erwin Panofsky, Gothic Architecture and Scholasticism. An inquiry into the analogy of the arts, philosophy, and religion in the Middle Ages, Latrobe, Pa. 1951, die er ins Französische übersetzte und mit einem Nachwort versah (Erwin Panofsky, Architecture gothique et pensée scolastique. Précedé de l’abbé Suger de Saint-Denis, trad. et post-
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dispositiv ist keine tugendethische Kategorie und meint als Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster keine bloße Einstellung oder Gewöhnung, sondern ein konkreteres, näher am tatsächlichen körperlichen Handeln angesiedeltes und mit einer Zeitachse versehenes Wissensschema.30 Einer historischen Narratologie könnte das Konzept des praktischen Wissens eine Möglichkeit eröffnen, Relationen zwischen erzähltem Handeln und kulturellem Handlungswissen, also zwischen historischen Erzählpraktiken und historischen Wissensordnungen herzustellen. Insbesondere ließe sich auf dieser Basis vielleicht ein narratologisches Modell entwickeln, das den kulturellen Sinn erzählten Handelns weder durch den Rückgriff auf ahistorische Differenzensysteme noch als bloße Aktualisierung historischer Diskurse beschreiben müsste. Sowohl die Aktantenanalyse als auch die diskursgeschichtliche Interpretation explizieren den Sinn erzählten Handelns face de Pierre Bourdieu, Paris 1967). Deckungsgleich sind Bourdieus und Panofskys Habitus-Begriffe allerdings nicht. 30 Die Differenz betrifft auch den dominikanischen prudentia-Begriff, mit dem die lebenspraktische Klugheit der Mären wiederholt in Verbindung gebracht wurde; vgl. etwa Erhard Agricola, »Die Prudentia als Anliegen der Strickerschen Schwänke. Eine Untersuchung im Bedeutungsfeld des Verstandes«, PBB (Halle) 77 (1955), 197 – 220; Wolfgang Spiewok, »Der Stricker und die Prudentia«, Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald 13 (1964), 119 – 126; Wolfgang Wilfried Moelleken, Ingrid Henderson, »Die Bedeutung der liste im ›Daniel‹ des Strickers«, ABäG 4 (1973), 187 – 201; Stephen Leslie Wailes, »Stricker and the Virtue Prudentia. Critical Review«, Seminar 13 (1977), 136 – 153; Hedda Ragotzky, »Das Handlungsmodell der list und die Thematisierung der Bedeutung von guot. Zum Problem einer sozialgeschichtlich orientierten Interpretation von Strickers ›Daniel von dem Blühenden Tal‹ und dem ›Pfaffen Amis‹«, in: Gert Kaiser (Hg.), Literatur – Publikum – historischer Kontext, Bern u. a. 1977, 183 – 203; Christoph Steppich, »Zum Begriff der wisheit in der Kleindichtung des Strickers«, in: Wolfgang Wilfried Moelleken (Hg.), Dialectology, Linguistics, Literature. Festschrift Carroll E. Reed, Göppingen 1984, 275 – 316; Böhm, Der Stricker, 77 – 80, 175 – 178; Christoph Huber, »Ars et prudentia. Zum list-Exkurs im ›Daniel‹ des Strickers«, in: Cora Dietl u. a. (Hgg.), Ars et Scientia im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Festschrift Georg Wieland, Tübingen / Basel 2002, 155 – 171. Während die lebenspraktische Klugheit in Mären schon im 13. Jahrhundert unverkennbar gegen die Tugendethik ausgespielt wurde, war die dominikanische prudentia wegen ihrer aristotelischen Herkunft tugendethisch konzipiert: Thomas von Aquino etwa erläutert eigens, dass es eine gängige, aber philosophisch falsche Begriffsverwendung sei, einen Dieb klug zu nennen, weil Klugheit an ein gutes Ziel gebunden ist (STh II-II 47; vgl. die in Anm. 12 genannte Literatur). Eine Ablösung des prudentia-Begriffs von der tugendethischen Basis fand offenbar erst in den Jahrzehnten um 1500 bei Giovanni Pontano, Erasmus von Rotterdam und Niccolò Machiavelli statt. Die Geschichte der erzählten Klugheit lässt sich deshalb nicht einfach aus der Diskursgeschichte des prudentia-Begriffs ableiten; allerdings konvergieren die beiden Geschichten in den Jahrzehnten um 1500 in auffälliger Weise.
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nämlich in Form von Begriffsrelationen und ihrer Transformationen. Das Handeln bekommt dadurch gerade keinen kulturellen Sinn zugeschrieben, sondern wird auf Ordnungen begrifflich organisierten Wissens – in Gestalt entweder einer universalen Semantik oder historischer Diskurse – zurückgeführt. Das Anleitungs- und Reflexionswissen des tugendethischen Diskurses beispielsweise zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es keine auf einer Zeitachse entfaltete Handlungsstruktur impliziert, sondern in begrifflicher Abstraktion und Regelbildung besteht: Als Handlungstheorie tilgt die Tugendethik die Zeitlichkeit des Handelns. Erzähltes Handeln könnte einen kulturellen Sinn, der nicht in der Abstraktion von der Zeitstruktur des Handelns besteht, deshalb nur tragen, indem es sich auf kulturelles Praxiswissen bezieht, das selbst schon eine Handlungsstruktur hat. Die historische Narratologie braucht folglich eine Habitusgeschichte, um erklären zu können, wie der kulturelle Sinn erzählten Handelns zustande kommt.31 Das historische Affirmations- oder Transgressionspotential erzählten Handelns müsste zunächst stets in der Relation zum historischen Praxiswissen analysiert werden; erst auf dieser Basis ließen sich dann auch die Sinnpotentiale einer Aktualisierung handlungstheoretischer Diskurse in Erzählungen beschreiben. Wenn nämlich praktisches und diskursives Wissen nicht deckungsgleich sind, kann jede Erzählung ihr Affirmations- oder Transgressionspotential in der Relation zu beiden Wissenstypen und zu deren Spannungsverhältnis konstituieren. Die Eulenspiegel-Historien scheinen mir dafür erkenntnisträchtige Beispiele zu bieten. Solange man nun allerdings mit Bourdieu unterstellt, dass kulturelles Praxiswissen durch seinen impliziten Status geradezu definiert ist, bleibt eine 31 Der Rückgriff auf Erzählschemata (im Sinn von Handlungsschemata), deren Rekurrenzen und Veränderungen innerhalb der historischen Textreihen Sinnangebote aktualisieren helfen sollen, leistet dies meines Erachtens nicht. Handlungsschemata wie der arthurische Doppelweg oder die gestörte Mahrtenehe geben den kulturellen Sinn, den ihnen die historischen Textproduzenten und Textrezipienten jeweils zuordneten, durch ihre Struktur allein gerade nicht zu erkennen. Die in der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Schwankliteratur weit verbreiteten Handlungsschemata der sich steigernden Wiederholung und der Revanche oder die mit der Schwanktypologie (Steigerungs-, Ausgleichs-, Spannungsschwank) erfassten Handlungsschemata konnten Verständnishilfen bieten, insofern sie eine interpretatorische Assoziation zwischen Handlungs- und Sinnkonstruktion einübten: Wer erkennt, was im Handlungsverlauf gesteigert wird oder worauf sich die Spiegelstrafe in der Rachehandlung bezieht, erkennt die thematische Sinnkategorie. Für die Erkenntnis von Handlungsoptionen in kontingenten Situationen, die mir im Mittelpunkt der exemplarischen Verhandlung ›richtigen‹ und ›falschen‹ Handelns in spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Schwankerzählungen zu stehen scheint, leisten diese Handlungsschemata jedoch wenig, weil die Kategorien des Richtigen und Falschen mittels der jeweils erzählten Handlung im Bezug auf kulturelles Praxiswissen erst gefüllt werden.
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Habitusgeschichte undenkbar: Beobachten lässt sich tatsächliches Handeln, das seine eigenen kulturellen Bedeutungsordnungen zu erkennen gibt, nur in der Gegenwart. Eine praxeologische Narratologie könnte jedoch die These vertreten, dass Erzählungen symbolische Repräsentationen kulturellen Praxiswissens darstellen und deshalb jener kulturelle Ort sind, an dem das Praxiswissen doch zur Sprache gebracht wird, ohne dabei gleich einer theoretischen Abstraktion auf Begriffe und Axiome unterzogen zu werden. Erzähltes Handeln stünde wissenshistorisch sozusagen auf der Schwelle zwischen dem implizitem Praxiswissen einer Kultur und seiner Überführung in ein handlungstheoretisches Diskurswissen. Diese Schwelle könnte der Gegenstand einer Habitusgeschichte als einer Geschichte symbolisch repräsentierten kulturellen Praxiswissens sein.32 Eine praxeologische Narratologie hätte dann die Aufgabe, textuelle Arrangements zu identifizieren und zu untersuchen, in denen dieses Wissen greifbar wird. Zwei derartige Arrangements wollte ich anhand der beiden Eulenspiegel-Historien vorstellen: Wenn die generelle Funktion kultureller Sinnordnungen in Kontingenzreduktion besteht, dann könnte sich kulturelles Praxiswissen erstens dort zeigen, wo die Erzählung den Kontingenzen des erzählten Handelns einen Sinn nicht oder nicht allein durch den Rückgriff auf Kategorien zeitgenössischer handlungstheoretischer Diskurse vermittelt. Zweitens kommt das kulturelle Praxiswissen dort zum Vorschein, wo Erzählungen seine Differenz zum handlungstheoretischen Diskurswissen inszenieren. Anhand der historischen Reihen solcher und vielleicht 32 Durch eine Anpassung an historische Gegenstände wird die praxeologische Methodik selbstverständlich verändert. Eine Adaptation scheint mir gleichwohl möglich, weil die Bedeutungsordnungen des praktischen Wissens in allen Varianten des kultursoziologischen Methodendesigns programmatisch als interpretatorische Beobachterkonstrukte konzipiert sind (vgl. dazu Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorien, passim). Von den ›klassischen‹ strukturalistischen Differenzensystemen unterscheiden sie sich wegen des Ziels, kulturelle Spezifika abzubilden, außer durch die Zeitachse auch durch einen geringeren Abstraktionsgrad und eine größere Nähe zu den Selbstdeutungen der jeweiligen Gruppenmitglieder. Die programmatisch hermeneutische – und wissenschaftsgeschichtlich aus den hermeneutischen Traditionen stammende – Methodik erleichtert eine Adaptation des Modells auf historische Gegenstände und bietet deshalb erhebliche Vorteile gegenüber ›kognitiven‹ Paradigmen wie der script-Theorie, deren Optionen in der jüngeren Narratologie erwogen werden (vgl. etwa Monika Fludernik, Towards a ›Natural‹ Narratology, London / New York 1996). ›Kognitive‹ Methoden sollen interpretatorische Beobachterkonstrukte programmatisch vermeiden; scripts etwa sind am Handeln von Probanden experimentell geprüfte Hypothesen über Informationsverarbeitungsmuster. Eine Übertragung auf historische Gegenstände löst solche Konzepte mangels testbarer Probanden von ihrer methodischen Basis vollständig ab und bleibt deshalb problematisch; letzten Endes muss sie die historische Invarianz in der Gegenwart induzierter kognitiver Informationsverarbeitungsprozesse unterstellen.
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noch weiterer Textarrangements könnte eine Geschichte symbolisch repräsentierten kulturellen Praxiswissens rekonstruierbar werden. Die ›Klugheit der Praxis‹ brauchte dann keine historisch unspezifizierte Kategorie mehr zu sein, und das Handeln könnte eine Geschichte bekommen.
III. Handlung und Generalisierung Neben diesen methodologischen Problemen stellt sich einer praxeologischen Narratologie noch ein weiteres: Wenn die praxeologische Analyse nicht selbst in einen narrativen Darstellungmodus verfallen will, wird sie es kaum vermeiden können, Handlungsstrukturen in Begriffe und Regeln zu übersetzen. Solange das Erzählen einen exemplarischen Anspruch verfolgt, scheint mir eine solche – analytisch nachgetragene – Abstraktion freilich gar nicht völlig unangemessen zu sein; nicht ignoriert werden dürfen dabei allerdings die Kontingenzen der erzählten Situationsarrangements und die ihnen im jeweiligen Handlungsverlauf zugewiesenen Sinnangebote, deren Erkenntnis exemplarische Erzählungen auf der Ebene der narrativen Vermittlung auch oft unterstützen. Anders gesagt: Das Abstraktionsniveau einer praxeologischen histoire-Narratologie müsste das einer Topik und nicht das einer Axiomatik sein. In der Eulenspiegel-Historie 88 beispielsweise veranstalten die Braunschweiger Fürsten im Sommer ein Turnier. Dies motiviert einen Bauern, dessen Pflaumen gerade reif sind und den die Erzählung als frum und einfeltig einführt, zu einer Verkaufsfahrt auf den Markt, wo er wegen der zahlreichen Turniergäste besonders viel Kundschaft erwartet. Unterwegs trifft der Bauer auf Eulenspiegel, der sich in der herren höff vber truncken hat und verkatert unter einem Baum am Wegrand liegt. Eulenspiegel will in die Stadt mitgenommen werden und appelliert an die Barmherzigkeit des Bauern. Dieser fürchtet zwar, der Kranke könnte die Pflaumen auf seinem Wagen beschädigen, lässt ihn aber doch aufsteigen. Unterwegs zieht Eulenspiegel das Stroh von den Früchten, bescheiß dem armen man sein pflumen vnd zoch dz strow wider darüber. Der Bauer merkt nichts. In der Stadt geht Eulenspiegel später verkleidet zum Markt und hält dem Bauern vor, seine Pflaumen seien beschissen. Der Bauer klagt über einen Schalk, den er unterwegs mitgenommen und der genauso ausgesehen habe wie sein momentaner Gesprächspartner, abgesehen von den Kleidern. Eulenspiegel erwidert, jener Schalk gehöre erschlagen; der Bauer muss die Pflaumen zur Abfallgrube bringen. Moderne Interpreten neigen zum Mitleid mit dem Bauern, dem sein hilfsbereites Handeln zum Nachteil ausschlägt.33 Eine solche Deutung verfehlt
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jedoch die Optionen des tugendethischen Diskurses. Das Moralium dogma philosophorum beispielsweise, ein seit dem 12. Jahrhundert weit verbreiteter Traktat, präsentiert providentia, circumspectio und cautio als Untertugenden der Kardinaltugend Weisheit (prudentia), die der tugendethischen Tradition gemäß als Unterscheidungsvermögen zwischen bonum und malum definiert ist.34 Unvorsichtigkeit ließ sich demnach als Mangel an Weisheit und damit als Laster beurteilen. Die Erzählung aktualisiert das ausdrücklich, wenn sie den Bauern gleich zu Beginn als einfeltig vorgestellt;35 am Ende, als er Eulenspiegel trotz der wahrgenommenen Ähnlichkeit nicht identifiziert, bestätigt sich der Zusammenhang zwischen Laster und Erkenntnistrübung. Ungeachtet seiner anfangs gehegten Befürchtung, die Pflaumen könnten Schaden nehmen, passt der Bauer während der Fahrt nicht weiter auf, so dass Eulenspiegel, wie es eigens heißt, hinder seinem rücken heimlich agieren kann. Dass der Bauer nicht hinter sich blickt, verweist umstandslos auf die mangelnde circumspectio. In der Welt der Eulenspiegel-Historien, die sich als hochverlässliches Zusammenspiel von Kontingenz und menschlicher Schlechtigkeit darstellt, avanciert die Vorsicht zur wichtigsten aller Tugenden. Die meisten Geschichten legen deshalb eine tugendethische Deutung als Moralsatiren auf 33 Schnell, »Das Eulenspiegel-Buch«, 176, zufolge etwa ist der »hilfsbereite, rechtschaffene Bauer« ein Beispiel für viele Eulenspiegel-Geschädigte, denen »keine moralische oder soziale Schwäche anzulasten ist«. Eine Revue ähnlicher Urteile bietet Eva Willms, »Überlegungen zum ›Eulenspiegel‹«, Eulenspiegel-Jahrbuch 45 (2005), 41 – 72, hier 65. Willms’ eigener Deutung nach besteht der Fehler des Bauern darin, dass er »zu dumm ist, Eulenspiegel [auf dem Markt] zu erkennen und ihn anzuklagen« (65); das greift meines Erachtens zu kurz. Ihren prinzipiellen Einwand gegen Schnells These, dass in den Eulenspiegel-Historien generell moralische Indifferenz herrscht, halte ich indes für richtig: »Der Autor führt ihm [Eulenspiegel] eine Person in den Weg, deren Fehlverhalten Verspottung oder Schädigung geradezu herausfordert oder doch wenigstens wünschenswert macht, zumindest aber legitimiert« (64). – Peter Honegger, »Eulenspiegel und die sieben Todsünden«, in: Werner Wunderlich (Hg.), Eulenspiegel-Interpretationen. Der Schalk im Spiegel der Forschung 1807 – 1977, München 1979, 225 – 241, hier 237 f., deutet den Bauern seiner Verkaufsabsichten wegen als habgierig; dafür bietet der Text keine Indizien. 34 Das Moralium dogma philosophorum des Guillaume de Conches, lateinisch, altfranzösisch und mittelniederfränkisch, hg. Jan Holmberg, Uppsala 1929, 8 – 10. 35 Damit wird genau jener Begriff von Einfalt ohne fürsichtikeit aktualisiert, den Geiler von Kaysersberg, »Seelenparadies«, als Laster expliziert. Fischart, Eulenspiegel reimenweis, hat in seiner Bearbeitung der Historie den im Protestantismus positiv besetzten Einfaltbegriff konsequent getilgt (Der gut fromb Mann, v. 11535), im Epimythion dann aber trotzdem zuverlässig die Leichtgläubigkeit als Erkenntnisdefizit und Ursache für das Ergehen des Bauern identifiziert (v. 11553 – 11555): Also ward er seins guts beraubt / Weil er eim jeden krancken glaubt: / Wer schälken glaubt ist kranck im Haupt.
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mangelnde Vorsicht nahe. Insofern die Historien die Vorsicht aber, genauso wie andere traditionelle Tugendkonzepte, von ihrer tugendethischen Grundlage ablösen und als Eigennutzprinzip erscheinen lassen, exemplifizieren sie in der satirischen Verkehrung eher eine Art generalisierten Vorsichtshabitus. Eine solche begriffliche Abstraktion erfasst allerdings gerade nicht, was die einzelnen Habitus-Satiren als Gegenteil eines praktischen Vorsichts-Sinns jeweils narrativ spezifizieren. Im Situationsarrangement von Historie 88 deutet der Bauer die Ausgangslage ausdrücklich eigennutzorientiert: Die höfische Festveranstaltung verspricht Kundschaft; diese Situationsdeutung setzt sein Handeln in Gang. Den Kater des am Wegrand liegenden Eulenspiegel stellt die Erzählung ebenso ausdrücklich als eine Konsequenz desselben höfischen Festlebens dar und legt damit die Möglichkeit nahe, dass auch der Bauer sie, wäre er nicht einfältig, derselben Ursache zuschreiben könnte wie seine Gewinnerwartung. Erst dies lässt seine Fehldeutung Eulenspiegels als Konsequenz einer spezifischen Einfalt erscheinen, so dass die Erzählung ein konkretisiertes Prinzip handelnder Vorsicht zur Anschauung bringt: Mit dem Schlechten zu rechnen, ist gerade dort nötig, wo man sich einen Vorteil erhofft, weil Nutzen und Schaden derselben Ursache entspringen können. Dies wäre eine Maxime mittleren Abstraktionsgrads, die sich nicht zu einem handlungstheoretischen Axiom generalisieren, aber in einem topischen Thesaurus archivieren ließe. Memorierbar wäre eine solche Topik vielleicht weniger gut in Gestalt einer Maximenliste, sondern eher als Thesaurus narrativ vermittelter Beispiele, deren exemplarischer Erkenntniswert in der Übertragbarkeit auf andere Situationen bestünde. Die Historien des Eulenspiegel-Buchs ließen sich unter dieser Voraussetzung als eine Art Schule des praktischen Sinns verstehen, die das implizite Handlungswissen an die Schwelle der Diskursivierung führt und dem konkreten Handeln dabei doch relativ nahe bleibt. Zugleich inszeniert die Historie von den Pflaumen offenkundig einen potentiellen tugendethischen Konflikt zwischen der Barmherzigkeit und der Vorsicht; die Doppelcharakterisierung des Bauern als frum und einfeltig entspricht in dieser Hinsicht seinem Handeln. Der praktische Sinn verfährt mit dem Problem denkbar einfach: Die Barmherzigkeit wird einfältig, wenn sie nicht damit rechnet, dass der Hilfsbedürftige ein Lump sein könnte. Lachen soll man nicht aus niederträchtiger Freude über den Schaden des Unschuldigen, sondern über die erkannte Torheit des Hilfsbereiten, der sich nicht um- und vorsieht. Insofern der unvorsichtige Barmherzige beschissen wird, ist die Fäkalkomik auch hier auf das Spannungsverhältnis zwischen praktischem Sinn und ethischem Diskurs bezogen, das dem Komikeffekt über die fäkale Konkretisierung hinaus zugrundeliegt.
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IV. Praktischer Sinn, Sprichwörter und ›Wörtlichnehmen‹ in den Eulenspiegel-Historien Zur satirischen Exemplifikation und detaillierenden Spezifizierung eines Vorsichts-Habitus in vielen Eulenspiegel-Historien fügen sich womöglich auch zwei in der Eulenspiegel-Forschung prominente textuelle Arrangements, die nicht in allen, aber doch in etlichen Geschichten anzutreffen sind: die narrative Konkretisierung von Sprichwörtern und das sogenannte Wörtlichnehmen. Wo immer das Eulenspiegel-Buch erzähltes Handeln als ein in Handlung umgesetztes Sprichwort erscheinen lässt, inszeniert es Sprichwörter als eine sprachliche Konzentration des Praxiswissens, das die Historien in Gestalt einer exemplarischen Topik zusammenstellen.36 Sprichwörter kondensieren den praktischen Sinn zu memorierbaren Maximen, die den exemplarischen Erkenntniswert der Erzählungen absichern; umgekehrt erschließen die Erzählungen den Erkenntniswert der Sprichwörter als Kondensate des praktischen Sinns. Auch dies präsentieren die Historien in der satirischen Verkehrung: Die Missachtung des zum Sprichwort geronnenen Praxiswissens zieht den Misserfolg des Handelns unweigerlich nach sich. Das kann mit simpler Drastik umgesetzt sein wie bei den Leipziger Kürschnern in Historie 55, die Eulenspiegel eine Katze im Sack abkaufen, obwohl sie wissen müssten, dass man dergleichen nicht tun soll. Eulenspiegel erfährt, dass die Kürschner zu ihrem Fastnachtsmahl gern Wildbraten hätten. Also lässt er sich vom Koch seiner Wirtin ein Hasenfell geben, in das er die fette Katze der Wirtin einnäht. Den Kürschnern zeigt er den lebenden Hasen im Sack; sie kaufen ihn und lassen ihn als Fastnachtsvergnügen vor dem Essen noch von jungen Hunden im Garten jagen. Als der Hase auf einen Baum springt und miaut, erkennen sie den Betrug. 36 Vgl. dazu Bollenbeck, Till Eulenspiegel, 115. – Die Gemeinsamkeiten mit der humanistischen Sprichworttheorie behandelt Andreas Bässler, Sprichwortbild und Sprichwortschwank. Zum illustrativen und narrativen Potential von Metaphern in der deutschen Literatur um 1500 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 27), Berlin / New York 2003, 25 – 57, 228 – 292 und 335 – 343. Wenn Humanisten Sprichwörter als eine mündlichen Ursprüngen entstammende Weisheit neben der schriftlichen der Philosophen und Theologen begriffen, neigten sie allerdings zu einer tugendethischen Einschätzung der proverbialen Weisheit; ein markantes Beispiel ist der Heinrich Bebels Proverbiensammlung beigegebene Widmungsbrief an Gregor Lamparter, der übersetzt ist bei Stephanie Altrock, Gewitztes Erzählen in der Frühen Neuzeit. Heinrich Bebels Fazetien und ihre deutsche Übersetzung (Kölner Germanistische Studien 10), Köln u. a. 2009, 292 – 296. Die Profilierung lebenskluger Sprichwortweisheit gegen tugendethische ist indes Gegenstand der Salomon und Markolf-Tradition (vgl. Anm. 15).
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Auch hier sind die Kontingenzen der Situation so konstruiert, dass ihre Fehldeutung durch Eulenspiegels Opfer eine spezifische Leichtgläubigkeitskonstellation vorführt. Als Fellexperten müssten die Kürschner besser als andere erkennen, dass im Hasenfell kein Hase steckt. Außerdem müssten die Kürschner gerade in der Fastnachtszeit mit Maskierungen rechnen; deshalb lässt die Historie Eulenspiegel die Katze nicht bloß in den sprichwörtlichen Sack stecken, sondern außerdem noch als Hase verkleiden. Gerade der durch Wildbretwunsch und Hundejagd zum Ausdruck gebrachte fastnächtliche Vergnügungswille blendet die Kürschner jedoch. Dabei integriert die Historie wahrscheinlich auch ein ständesatirisches Sinnangebot: Die missglückte Hundejagd ruft in Erinnerung, das Wild eine Adelsspeise ist und die Kürschner fastnächtlich über die Stränge schlagen.37 Die Handlungskonstruktion der Historie exemplifiziert mit all diesen Einzelheiten nicht einfach bloß die im Sprichwort kondensierte Maxime, dass man sich nicht ohne Prüfung auf den Anschein verlassen darf; sie demonstriert zugleich, unter welchen situativen Umständen und aufgrund welcher Schwächen man besonders stark zum Kauf der Katze im Sack neigt. Auch Eulenspiegels eigenes Handeln scheitert, wenn er das Sprichwortwissen nicht in zuverlässiger Form parat hat. In Historie 18, in der er sein eigener Gegenspieler ist, hat er im Winter in Halberstadt nichts zu essen. Da erinnert er sich des Sprichworts wer brot hat dem gibt man brot, bei dem es sich offenbar um eine Variation des Herrenworts »Wer hat, dem wird gegeben« aus dem Matthäusevangelium (13,12) handelt. Die Erinnerung bringt ihn auf eine Idee: Er kauft einige Brote, die er dann auf dem Markt wieder zum Verkauf anbietet. Doch ein vorbeilaufender Hund schnappt sich ein Brot und rennt davon. Während Eulenspiegel ihn verfolgt, kommt eine Sau samt Ferkeln, die mit den restlichen Broten weglaufen. Eulenspiegel kommentiert lachend, er müsse nun erkennen, dass das Sprichwort falsch sei, und setzt hinzu: O Halberstat halberstat, der nam von der dan, dein bier und kost schmeckt wol, aber dein pfeningseckel seind von süwleder gemacht. Die schweinsledernen Geldbeutel beziehen sich darauf, dass die Brote im Bauch der Schweine enden, statt von den Halberstädtern gekauft zu werden und Eulenspiegels Geldbeutel zu füllen. Die Stadt wäre demnach halb, weil sie Eulenspiegel Waren nur anbietet, aber nicht abnimmt, so dass er seinerseits weder Bier noch Kost kaufen kann. Das Wortspiel hat indes noch einen zweiten Sinn, der darauf beruht, dass sich die Wahrheit des Sprichworts 37 Dies ist jedenfalls das Sinnangebot, das Fischart, Eulenspiegel reimenweis, v. 7128 – 7251, in seinem prinzipiellen Bemühen, Eulenspiegel nach Möglichkeit als Bestrafungsinstanz erscheinen zu lassen, herausgearbeitet und explizit gemacht hat.
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insgeheim doch bestätigt, wie es bei allen Sprichwörtern im EulenspiegelBuch der Fall ist.38 Wenn man die Fortsetzung der Bibelstelle kennt, begreift man das umstandslos: »Wer aber nicht hat, dem wird auch das, was er hat, genommen werden.« Die halbe und deshalb falsche Wahrheit ist jene Falle, auf die der Ortsname hätte hinweisen können: halbe Stätte – halbe Stelle.39 Die vollständige Kenntnis des Sprichworts hätte Eulenspiegel ihrerseits eine Mahnung zur Vorsicht sein können, denn sie hätte eine skeptischere Beurteilung des Handlungsplans im Gefolge einer angemesseneren Deutung der Handlungssituation ermöglicht.40 Das Verhältnis zwischen Sprichwort und praktischem Sinn entspricht demjenigen zwischen Sprichwort und erzähltem Handeln: Das Sprichwort bietet eine Maxime, die beim Handeln hilfreich ist; die Erzählung exemplifiert den Erkenntniswert der Maxime anhand des Zusammenhangs von spezifischer Situationsdeutung und Handlungsweise. Zu den intelligentesten Sinnangeboten des Eulenspiegel-Buchs gehört, dass etliche Historien den Routinen der Vorsicht die Vorsicht gegenüber den Routinen subsumieren. Darin scheint mir jedenfalls der Sinn des berühmten ›Wörtlichnehmens‹ zu liegen. Die Bezeichnung trifft das beständig 38 Wolfgang Mieder, »›Eulenspiegel macht seine Mitbürger durch Schaden klug.‹ Sprichwörtliches im Eulenspiegel«, Eulenspiegel-Jahrbuch 29 (1989), 27 – 50, hat die seither verschiedentlich wiederholte Deutung vorgeschlagen, dass die Historie die Wahrheit des Sprichworts widerlege (29, 42 – 44), und daraus die These abgeleitet, das gesamte Eulenspiegel-Buch pflege ein traditionskritisches Verhältnis zu Sprichwörtern. Merkwürdigerweise wies Mieder jedoch selbst darauf hin, dass sich die nicht zitierte, aber auf Eulenspiegels Situation zutreffende zweite Hälfte des Bibelzitats bestätigt. Auch der doppelte Kalauer mit dem Ortsnamen scheint eine Verständnishürde zu sein: Bässler, Sprichwortbild und Sprichwortschwank, 249 beispielsweise meint, die Schweine hätten Eulenspiegels Brotvorrat halbiert (wovon im Text keine Rede ist), und spricht deshalb von einem »gezwungen erscheinenden Wortspiel«; dem Schalk gelinge in Gestalt der Handlung »die Falsifizierung des Sprichworts«. 39 Die Deutung setzt voraus, dass die überlieferte Formulierung der zitierten Stelle in diesem Sinn zu verstehen ist. Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel, hg. Lindow, 56, schlägt vor, dan zu dat (Tat) zu konjizieren; dan steht jedoch auch in den späteren Eulenspiegel-Drucken, und noch bei Fischart, Eulenspiegel reimenweis, heißt es: Daß dieser nam ist von der Dann (v. 2427). Ein mittelniederdeutsches Femininum dane (mhd. don, done; nhd. Dohne) ist als Bezeichnung für die beim Vogelfang benutzte Schlinge belegt (Karl Schiller, August Lübben, Mittelniederdeutsches Wörterbuch, Bremen 1875, Bd. 1, 480); »man macht auch dohnen für gröszere thiere, in einer solchen fängt sich der fuchs« im Reineke Fuchs (Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1860, Bd. 2, Sp. 1220). 40 Ebenso verhält es sich im Übrigen mit einem weiteren Sprichwort, das am Anfang der Historie steht und später nicht mehr erwähnt wird: tRüw gibt brot. In Relation zu ihm ist Eulenspiegels Lachen das der Einsicht in den Fehler, den Halberstädtern ihre eigenen Brote verkaufen und durch solche Unaufrichtigkeit einen Gewinn machen zu wollen.
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wiederholte Handlungsarrangement nicht besonders gut:41 Tatsächlich nimmt Eulenspiegel nichts wörtlich, sondern interpretiert Handlungsanweisungen so, wie es deren Formulierung zulässt, aber nicht so, wie es die konkrete Handlungssituation nahelegt. In Historie 20 beispielsweise will ein Bäckermeister, dass Eulenspiegel nachts das Mehl siebt. Der Meister ist zu geizig, um Kerzen aufzustellen, und weist Eulenspiegel deshalb an, das Mehl im Mondschein zu sieben. Während der Meister schläft, siebt Eulenspiegel das Mehl in den Hof, wo der Mond hinscheint. In allen derartigen Fällen wird das lexikalisch-grammatische Bedeutungspotential des Satzes gegen den im jeweiligen Kontext offenkundigen pragmatischen Sinn der Äußerung ausgespielt. Die Historien selbst bringen die Differenz mehrmals auf die begriffliche Opposition zwischen wort und meinung im Sinn von Intention (du thust nach den worten, nit nach der meinung, Historie 43). Weil Eulenspiegels pragmatische Fehldeutungen nur in wenigen Fällen als intendiert dargestellt werden, liegt die Einschätzung nahe, dass es dabei weniger um seine Absichten und eher um die Handlungsweisen seiner Gegenspieler geht. Indem sich die Geizigen, die Faulen und die Einfältigen auf das Funktionieren der pragmatischen Routinen verlassen, scheitern Geiz, Faulheit und Einfalt zusammen mit diesen Routinen an Eulenspiegel. In steter Wiederholung wird so das für den gesamten Text konstitutive Prinzip variiert, das tugendethische Konzept vom Misserfolg des Schlechten in die satirische Entfaltung des Vorsichtshabitus zu integrieren: Die Lasterhaften verfehlen ihre Ziele, weil sie sich ihrer Laster wegen unvorsichtigerweise auf die Routinen des Alltags verlassen. In diesem Sinn stellt das Verhältnis von Handlungsanweisung und pragmatischer Fehldeutung eine Variante des Interaktionsmusters dar, das viele Eulenspiegel-Historien inszenieren: Das Vertrauen auf die Routinen des Alltags erweist sich mit großer Rekurrenz als mangelnde Vorsicht, deretwegen Eulenspiegels Opfer an ihm scheitern.42 41 Vgl. zur Kritik des von Goethe geprägten und seither viel benutzten Begriffs und zur Explikation des tatsächlichen Konstruktionsprinzips in den Historien Hubertus Fischer, »Die List der leisen Rede oder ›Sagen‹ und ›Meinen‹ im ›Eulenspiegel‹«, Eulenspiegel-Jahrbuch 27 (1987), 9 – 27; Alexander Schwarz, »Tills List«, in: ders. (Hg.), Bausteine zur Sprachgeschichte der deutschen Komik (Germanistische Linguistik 153), Hildesheim u. a. 2000, 109 – 118; Alexander Schwarz, Gerhild Scholz-Williams, Existentielle Vergeblichkeit. Verträge in der Mélusine, im Eulenspiegel und im Dr. Faustus (Philologische Studien und Quellen 179), Berlin 2004, 67 – 107. Das Konstruktionsprinzip tritt auch im Schwankteil des Dialogus Salomonis et Marcolfi und seinen deutschsprachigen Bearbeitungen in Erscheinung; vgl. Griese, Salomon und Markolf, 16 – 20. 42 Ohne eine Koppelung an pragmatische Fehldeutungen von Handlungsanweisungen liegt das Prinzip schon dem Pfaffen Amis des Strickers zugrunde; vgl. dazu
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Ebenso wie andere Handlungsarrangements der Eulenspiegel-Historien thematisieren die pragmatischen Fehldeutungen den Zusammenhang zwischen den Zeichen und der Wirklichkeit, weil der Misserfolg des Handelns als Konsequenz inkompetenter Situationsdeutung und die richtige Situationsdeutung als Voraussetzung erfolgreichen Handelns präsentiert werden. Eine subversiv auf die Herrschaftsordnung bezogene erkenntnisoder sprachtheoretische Reflexion43 scheint mir dabei nicht angestrebt zu sein. In der satirischen Verkehrung erzählen die Historien davon, dass sich die Vorsicht nicht auf das Funktionieren von Deutungsroutinen verlässt, sondern mit der mangelnden Kooperation des Interaktionspartners rechnet. Die Vorsicht erkennt in ihm stets den potentiellen Interaktionsgegner und lässt sich von Geiz, Faulheit und Einfalt nicht dazu verführen, auf die intentionsgemäße Ausführung von Handlungsanweisungen zu vertrauen. V. Zur Sinnkohärenz des Eulenspiegel-Buchs Der skizzierten Interpretation stellen sich das Eulenspiegel-Buch und sein Protagonist um einiges kohärenter dar, als dies in den meisten Deutungen aus jüngerer Zeit der Fall ist. Nach der Verabschiedung der bis in die 1980er Jahre gängigen Lektüren, die Eulenspiegel als frühbürgerliches Individuum im subversiven Widerstand gegen die mittelalterliche Ständeordnung missverstanden,44 taten sich die Interpreten mit der Sinnkohärenz des Textes zuerst eher schwer und dann eher leicht. Für Werner Röcke bestand 1987 der Sinn von Protagonist und Text in reiner Negativität:45 Weil das Michael Schilling, »Nachwort«, in: Der Stricker: Der Pfaffe Amis, mhd. / nhd., nach der Heidelberger Handschrift cpg 341 hg., übers. u. komm. Michael Schilling, Stuttgart 1994, 177 – 206; ders., »Poetik der Kommunikativität«, 44 – 46. 43 Peter Rusterholz, »Till Eulenspiegel als Sprachkritiker«, in: Wunderlich (Hg.), Eulenspiegel-Interpretationen, 242 – 250; Michael Kuper, Zur Semiotik der Inversion. Verkehrte Welt und Lachkultur im 16. Jahrhundert, Berlin 1993, 142 – 180, inbes. 145. 44 Vgl. zur älteren Interpretationsgeschichte Werner Wunderlich, Till Eulenspiegel, München 1984; ders. (Hg.), Eulenspiegel-Interpretationen; Bollenbeck, Till Eulenspiegel. Dass der Text die Ständeordnung eher bestätigt, zeigt das ziemlich konsequent eingehaltene Souveränitätsgefälle von Eulenspiegels Interaktionspartnern (respektive Opfern): Am souveränsten handeln die Fürsten, die sich an Eulenspiegel delektieren und ihn mittels der institutionalisierten Hofnarrenrolle in die Ordnung integrieren; auf einer zweiten Stufe stehen Adelige, Kaufleute und Handwerker, die sein Handeln am Ende durchschauen, sich aber ohne weiteren Erkenntnisgewinn nur darüber ärgern; am unteren Ende der Skala rangieren Bauern und Frauen, die meistens nicht begreifen, was ihnen widerfuhr.
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Eulenspiegel-Buch Vertrauen in die traditionelle Ordnungsvorstellung nicht mehr vermittelt und eine neue noch nicht kennt, bleibt ihm und seinen Rezipienten allein die »Freude am Bösen«, eine Art mentalitätshistorischer Winter zwischen dem vergangenen Herbst des Mittelalters und dem bevorstehenden Frühling der Neuzeit. In dem Maß, in dem die Fahndung nach Sinnkohärenz generell unter den Verdacht entweder texttheoretischer oder historischer Unaufgeklärtheit geriet, entlarvte auch die Eulenspiegelforschung mit zunehmender Lust Sinnunterstellungen. Eine Forschungskritik Rüdiger Schnells führte 1991 zur Einschätzung »Ein Gesamtkonzept ist nicht ersichtlich«.46 Jürgen Schulz-Grobert vertrat 1999 die These, das Eulenspiegel-Buch sei ein marktorientiertes Textkonglomerat, dessen Heterogenität sich der des verarbeiteten Materials verdanke.47 Johannes Melters beschrieb 2004 alle Texteigenschaften als vom Buchmarkt bestimmte Verkaufsstrategien, die allein der Unterhaltung des Lesepublikums und dem ökonomischen Gewinn der Druckerei dienten.48 45 Werner Röcke, Die Freude am Bösen. Studien zu einer Poetik des deutschen Schwankromans im Spätmittelalter (Forschungen zur Geschichte der Älteren Deutschen Literatur 6), München 1987. 46 Schnell, »Das Eulenspiegel-Buch«, 176. 47 Jürgen Schulz-Grobert, Das Straßburger Eulenspiegelbuch. Studien zu entstehungsgeschichtlichen Voraussetzungen der ältesten Drucküberlieferung (Hermaea 83), Tübingen 1999. – Das Problem der Autorschaft und das der Textkohärenz sollten meines Erachtens voneinander getrennt werden: Auch einem Druckereiprodukt kann ein Sinnprinzip zugrunde liegen, wie umgekehrt ein einzelner Verfasser ein heterogenes Textkonglomerat produziert haben kann. Hermann Bote spielt in der folgenden Argumentation deshalb keine Rolle. 48 Johannes Melters, »ein frölich gemüt zu machen in schweren zeiten…«. Der Schwankroman in Mittelalter und Früher Neuzeit (Philologische Studien und Quellen 185), Berlin 2004. – Gelehrte Bearbeiter des Eulenspiegel-Buchs im 16. Jahrhundert wie Johannes Nemius (Martin M. Winkler, Der lateinische Eulenspiegel des Ioannes Nemius. Text und Übersetzung, Kommentar und Untersuchungen, Tübingen 1995) und Johann Fischart, Eulenspiegel reimenweis, unterstellten einen kohärenten Gesamtsinn, den sie in ihren Bearbeitungen zu profilieren versuchten. Beide griffen dabei jeweils eine Hälfte des im Eulenspiegel-Buch codierten Sinnpotentials auf: Nemius verstand vor allem Eulenspiegel selber, Fischart vor allem Eulenspiegels Opfer als Exempel der Schlechtigkeit; deshalb wird die Eule von Nemius als Zeichen der Bosheit, von Fischart als Zeichen der Weisheit gedeutet. Fischart konterkarierte die reduktionistische Tendenz allerdings durch die Umkonstruktion Eulenspiegels zum Diogenischen Spottvogel (Eulenspiegel reimenweis, 23) als Protagonisten einer menippeischen Satire (Bässler, Sprichwortbild und Sprichwortschwank, 269 – 292). Zu den Sinnangeboten des Namens vgl. David Blamires, »Zum Namen ›Eulenspiegel‹«, Eulenspiegel-Jahrbuch 40 (2000), 59 – 70. Einen Überblick über die Rezeption des Eulenspiegel-Buchs im 16. Jahrhundert ermöglicht Reinhard Tenberg, Die deutsche Till Eulenspiegel-Rezeption bis zum Ende des 16. Jahrhunderts (Epistemata 161), Würzburg 1996.
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Als theoretisch wie historisch uneinsichtig erscheinen demgegenüber Interpretationen, die eine Sinnkonstruktion durch Diskursaktualisierung nachweisen wollen. Ein Modellfall dafür ist Peter Honeggers These, dass die Historien-Folge systematisch ständetypische Laster vorführe und dass in diese Ständeordnung außerdem ein Katalog der sieben Todsünden eingebettet sei (Historien 30 bis 36).49 Das Kohärenzprinzip schrieb Honegger einer verlorenen Autorfassung Hermann Botes zu, deren Ordnung in den Straßburger Drucken gestört sei. Die Kritik daran fiel ebenso genüsslich aus wie diejenige an den interpretatorischen Prozeduren, mit denen Honegger die Todsünden in den Text hineinlas.50 Ähnliche Widersprüche evozierte Bernd Ulrich Huckers Vorschlag, Eulenspiegel als Teufelsfigur zu verstehen:51 Wie der Teufel verkörpere Eulenspiegel einerseits das Böse und bestrafe es andererseits bei seinen Gegenspielern; wie der Teufel agiere er als Feind der Ordnung und zugleich als ihr Diener. Obwohl dies eine plausible historische Erklärung für die Kohärenz der beiden oft als widersprüchlich wahrgenommenen Prinzipien der Figurenkonstruktion bietet, hat Barbara Könneker die Interpretation abgelehnt, weil sie die Komik ignoriere; Eulenspiegel sei kein todernstes Beispiel für die Herrschaft des Bösen.52 Dem ließe sich noch hinzufügen, dass Eulenspiegel keinerlei metaphysische Eigenschaften hat; er ist ein sterblicher Mensch und tritt nirgends als Verführer auf.53 49 Peter Honegger, Ulenspiegel. Ein Beitrag zur Druckgeschichte und zur Verfasserfrage (Verein für Niederdeutsche Sprachforschung, Forschungen N.F. B 8), Neumünster 1973; ders., »Eulenspiegel und die sieben Todsünden«. 50 Vgl. zuletzt Schulz-Grobert, Das Straßburger Eulenspiegelbuch, 142 – 150. 51 Bernd Ulrich Hucker, »Das hansische Lübeck und Thyl Ulenspiegel«, Eulenspiegel-Jahrbuch 18 (1978), 16 – 25; ders., »Till Eulenspiegel – Zur Geschichte eines Nationalhelden«, in: Bernd Ulrich Hucker (Hg.), Till Eulenspiegel. Beiträge zur Forschung und Katalog der Ausstellung vom 6. Oktober 1980 bis 30. Januar 1981, Braunschweig 1980, 5 – 14. 52 Barbara Könneker, »Ulenspiegel als Satire? Eine Auseinandersetzung mit einigen Beiträgen der neuesten Forschung«, in: Herbert Blume, Eberhard Rohse (Hgg.), Hermann Bote. Städtisch-hansischer Autor in Braunschweig. 1488 – 1988, Tübingen 1991, 197 – 211, Zitat 204. 53 Eine Verführerrolle ist nicht zuletzt wegen Eulenspiegels Asexualität nicht aktualisierbar, die trotz ihrer Auffälligkeit wenig Beachtung fand; ganz ignoriert ist sie beispielsweise bei Michael Aichmayr, »Eulenspiegel und die Frauen. Eine Begegnung im Spätmittelalter«, Eulenspiegel-Jahrbuch 40 (2000), 59 – 70. Wenig überzeugend scheint mir Willms’ (»Überlegungen zum ›Eulenspiegel‹«, 69 – 72) These, das sexuelle Begehren fehle, weil es nicht zu der die Konstruktion der Eulenspiegel-Figur dominierenden Eigenschaft Klugheit passen würde: In der Märentradition gibt es zahlreiche kluge Verführer. Wie Ruth von Bernuth, Wunder, Spott und Prophetie. Natürliche Narrheiten in den ›Historien von Claus Narren‹ (Frühe Neuzeit 133), Tübingen 2009, 53 – 57, zeigt, wurde Asexualität den ›natürlichen Narren‹ zugeschrieben; viel-
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Die Erklärung der Figur als Diskursaktualisierung glückt nicht richtig, weil Eulenspiegel konstitutive Eigenschaften des Teufels abgehen. Andererseits entspricht die Figurenkonstruktion aber offensichtlich doch einem Grundgedanken der Teufelslehre.54 Unabhängig von Hucker hat Helga Schüppert außerdem gezeigt, dass die Sterbe-Episoden Eulenspiegel mittels parodistischer Bezüge auf die Sterbekunst- und die Teufelsbeichten-Literatur unverkennbar mit dem Teufel assoziieren.55 Unter diesen Umständen liegt es meines Erachtens nahe, Eulenspiegel als eine partielle Diskursaktualisierung zu verstehen: Er personifiziert das seiner metaphysischen Dimension entkleidete, zum diesseitigen Schlechten abgeänderte Böse, dessen Konstruktion aber einer alten Denkfigur folgt: Er ist die Negation und die Bestätigung der Ordnung zugleich.56 leicht spielt das trotz der in den Historien konsequent benutzten Bezeichnung ›Schalksnarr‹, die eher zum ›künstlichen Narren‹ gehört, auch bei Eulenspiegel, dem Narren von Kindheit an, eine Rolle. Auffälligerweise werden aber auch die anderen Figuren des Eulenspiegel-Buchs trotz der allgegenwärtigen Laster nur sehr selten vom Begehren geplagt. Offenbar ist das traditionelle, an die Sündenfall-Theologie geknüpfte Zeichen der menschlichen Schlechtigkeit durch ein neues, eher anthropologisch als theologisch codiertes ersetzt: Die Ausscheidung ist im Eulenspiegel-Buch so allgegenwärtig wie das Begehren in der älteren Schwanktradition und macht den Zustand des inneren Menschen erkennbar. Kaum erfasst wird das von den Fäkalmotiven getragene historische Sinnangebot in den Interpretationen von Horst-Joachim Seepel, »Das skatologische Element im Volksbuch von Dyl Ulenspiegel«, Eulenspiegel-Jahrbuch 38 (1998), 93 – 129; Reinhard Heinritz, »Erde zu Erde. Fäkalmotiv im Dyl Ulenspiegel«, Eulenspiegel-Jahrbuch 42 (2002), 17 – 33; Eva Wodraschka, »Tabu und Tabuwandel fäkalischer Motive am Beispiel des Straßburger Eulenspiegelbuches und der modernen Kunst des 20. Jahrhunderts«, Eulenspiegel-Jahrbuch 47 (2007), 29 – 55. 54 Vgl. etwa Gustav Roskoff, Geschichte des Teufels, 2 Bde., Stuttgart 1869 – 1873, Bd. 1, 276, 387. Das Konzept ist in Erzählungen wie Der Richter und der Teufel des Strickers aktualisiert. Diese Geschichte erscheint im Straßburger Eulenspiegel-Druck von 1531 auch als Eulenspiegel-Historie, indes nicht mit Eulenspiegel in der Rolle des Teufels; während der Richter beim Stricker der List des Teufels unterliegt, gelingt es Eulenspiegel, die Falle zu umgehen. Fischart, Eulenspiegel reimenweis, v. 11975 – 12187, deutete die Geschichte als Wettstreit um die größere Schalkheit; mit Eulenspiegel und dem Teufel seien zwei Schelme zusammengetroffen. 55 Helga Schüppert, »Eulenspiegel als Teufelsfigur«, Eulenspiegel-Jahrbuch 29 (1989), 9 – 26. Die Assoziationen lassen sich noch vermehren: So spielt Historie 87, in der Eulenspiegel zur Vorbereitung auf den Tod in ein Kloster eintritt, auf das Sprichwort »Wann der Teuffel kranck ist, so wil er Mönch werden« an. Nachweise (u. a. Sebastian Franck) in: Deutsches Sprichwörter-Lexikon, hg. Karl Friedrich Wilhelm Wander, Leipzig 1876, Bd. 4, Sp. 1091 f. Die über Eulenspiegels Beichte wütende Begine in Historie 91 illustriert das Sprichwort, dass eine zornige Begine schlimmer ist als der Teufel; Nachweise bei Bässler, Sprichwortbild und Sprichwortschwank, 342. 56 Eulenspiegels im christlichen Sinn ›falscher‹ Tod hätte vor dieser Folie ein nicht weniger markantes Pendant am Beginn der Episodenfolge in Gestalt der dreimaligen
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Als schlechter Bestrafer des Schlechten ist Eulenspiegel allerdings nur mit seiner moralsatirischen Hälfte auf das tugendethische Ordnungsmodell bezogen. Seine Gesamtfunktion wird erst durch die Relation zum Vorsichtshabitus konstituiert, der tugendethische Elemente integriert, ohne eine tugendethische Struktur zu haben. Diesen Habitus demonstrieren die Historien in satirischer Verkehrung an Eulenspiegels Opfern, indem sie Maximen situationsangemessenen und erfolgversprechenden Handelns ex negativo durchspielen. In einer schlechten Welt erweist sich dabei zwar auch die Vermeidung der Laster als relevantes, nicht jedoch als um der Tugend willen anzuratendes Handlungsprinzip. Die Handlungserfolge des arbeitsscheuen Landstreichers Eulenspiegel beruhen ihrerseits auf einem praktischen Sinn, der seinen Opfern abgeht. Was dieser praktische Sinn als Handlungssituationen wahrnimmt, als Handlungsziele identifiziert und als Handlungsmittel nutzt, bezieht sich nicht auf eine tugendethisch geordnete, aber durchaus auf eine berechenbare erzählte Welt: Im Angesicht des Zusammenspiels von Kontingenz und menschlicher Schlechtigkeit ›weiß‹ der Habitus um das Erwartbare, auf das man beim Handeln kalkulieren kann. Die Tugenden freilich sind offenbar kaum mehr der Rede wert; allein die Vorsicht erhält den Rang eines situativ spezifikationsbedürftigen Antwortdispositivs auf die potentielle Schlechtigkeit eines jeden Interaktionspartners, der in Eulenspiegels Gestalt immer ein Interaktionsgegner ist. Diese Vorsicht – das gehört zu ihrer historischen Spezifik als Habitus – entzieht sich der allgegenwärtigen Schlechtigkeit nicht durch Interaktionsvermeidung, sondern übt Handlungssouveränität durch den kontrollierten Umgang mit dem Schlechten ein. Zur Präsentation dieses Einübungskonzepts braucht es die Narration: Indem sie konkretes Handeln in spezifischen Situationen darstellt, das zugleich eine Generalisierung auf Handlungsmaximen in Situationstypen Taufe: Nach der Reinigung von der Erbsünde in der ›normalen‹ ersten Taufe fällt er in eine Dreckpfütze, die den geistlich Gesäuberten als zweite ›Taufe‹ gleich wieder mit dem Schmutz der Welt besudelt; danach muss er gewaschen werden – eine dritte ›Taufe‹, die jedoch profan bleibt. Eine Entsprechung dazu bilden am Ende die drei Körperhaltungen bei der Bestattung: Eulenspiegel wird weder mit dem Gesicht nach oben Richtung Himmel begraben, so dass er bei der Auferstehung Gott zugewandt wäre, noch mit dem Gesicht nach unten Richtung Hölle, wie es zu einem Teufelsgesellen passen würde; indem die Leiche im Grab steht, ist ihr Gesicht horizontal zum Diesseits gerichtet. Das Prinzip ist immer dasselbe: Ein traditionelles religiöses Denkmuster bleibt als Muster erhalten, wird aber von seinem religiösen Inhalt abgelöst. Auch die von Schulz-Grobert, Das Straßburger Eulenspiegelbuch, aufgedeckten Aktualisierungen des Vita-Schemas der Bekennerlegende würden im Rahmen dieses Bedeutungsangebots einen Sinn machen: Wenn der Teufel einen ›Heiligen‹ haben könnte, wäre es Eulenspiegel, der jedoch nur die personifizierte Schlechtigkeit der Welt ist.
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ermöglicht, entfaltet sie eine Topik des praktischen Sinns. Vom konkreten Handeln abstrahiert die Narration dabei gerade so weit, dass ein mittleres Abstraktionsniveau zwischen Einzelfall und Handlungstheorie gehalten wird. In der gelungenen Rezeption des Eulenspiegel-Buchs erfüllt sich die Funktion der Erzählung, denn die Lektüre der Historien ist selbst nichts anderes als eine Einübung in den praktischen Sinn, aus dem das erzählte Handeln seine kulturelle Bedeutung bezieht und der zugleich im Erzählen zur Sprache gebracht wird. Am Ende sollen und dürfen sich EulenspiegelRezipienten so souverän und handlungskompetent fühlen, wie es der Erzbischof zu Magdeburg samt seinem Hof ist – souveräner und handlungskompetenter, als es die Weisheit der gelehrten Diskurse je ermöglichen könnte.
Homo bestialis Shakespeare’s ›Underreachers‹ and the Threat of Liminality By Norbert Lennartz Recent research has focused very much on early modern representations of animals and the tenuous boundaries which separate humans from beasts. Essentially defined as a zoon logon echon and differentiated from beasts by the possession of speech, man’s affinity with the animals is, however, a stock-in-trade motif in human thought, which could never be eradicated by Christianity and its anthropocentrism.1 Since Aesop’s fables, animals have always been considered illustrative of human behaviour, and some animals – the bee, the lion, the eagle and the dolphin – have provided literary texts with a rich reservoir of metaphors that even show that man’s actions are more often than not zoomorphic and, to a certain extent, modelled on animal qualities. The medieval tradition of the beast fable and the bestiary could even be legitimised by the biblical book of Job (12,7 – 9), in which Job refers to the animals as teachers of man: »But ask now the beasts, and they shall teach thee; and the fowls of the air, and they shall tell thee […].«2 Beyond that, the flourishing art of emblems underscored the fact that the concept of the chain of being was a porous one, since the world was not so much composed of clear-cut categories as of entities that were attracted to each other by »laws of adjacency, emulation, analogy and sympathy.«3 Thus, the early modern concept of the human being was more dynamic than Renaissance humanists dared to admit: considered to be the nodal point of the chain, the »subtile knot«4 of creation, it was in man that the angel encountered the beast, that the animal needs converged with reason, a 1 For the more general context of man-animal relationships, see Heinz Meyer’s overview, »Frühe Neuzeit«, in: Peter Dinzelbacher (ed.), Mensch und Tier in der Geschichte Europas, Stuttgart 2000, 293 – 403. 2 The Bible. The Authorized King James Version, ed. Robert Carroll, Stephen Prickett, Oxford 1998, Old Testament, 616. 3 Kathryn Perry, »Unpicking the Seam: Talking Animals and Reader Pleasure in Early Modern Satire«, in: Erica Fudge (ed.), Renaissance Beasts: Of Animals, Humans, and Other Wonderful Creatures, Urbana / Chicago 2004, 19 – 36, 21.
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faculty that was open to corruption and more often than not was »captiv’d, and prove[d] weake or untrue.«5 The early modern awareness of man’s liminality did not cause any anxieties as long as man’s superiority was not called into question and the abdominal regions did not interfere with man’s self-fashioning as the crown of creation. The fact that, in Elizabethan times, human superiority was so persistently reiterated, however, leads Erica Fudge to suspect that people felt threatened by the collapse of difference and by the loss of the chain of being’s validity. Thus, spectacular stories of cross-breeding, in which women were said to have given birth to cats or Scotsmen fornicated with apes and created monsters, were circulated in early modern popular culture,6 while, from a more (pseudo-)scientific perspective, Edward Topsell’s 1607 study Historie of the Foure-footed Beastes tried to show the blurriness of the categories that separated apes (»the ape calitrich«) from humans, and pleaded for the existence of satyrs, »Sphinges,« Norvegian monsters and other mixed species.7 One generation prior to Thomas Hobbes’s definition of society as a pack of wolves (homo homini lupus est), the early modern »crisis of distinction« becomes more than apparent,8 and it was both Ben Jonson and John Marston who used the genre of the menippean satire to show their 17th-century world for what it was: a community of animals in which culture was not only debased but replaced by the imperatives of incipient capitalism that transformed humans into rapacious carrion eaters (Mosca, Corvino). I. Considering the fact that Shakespeare never shared Jonson’s misanthropy and his sarcastic view of man, one must not be led to believe that he never 4 John Donne, »The Extasie«, l. 64, in: Poetical Works, ed. Herbert J. C. Grierson, Oxford 1979, 48. 5 John Donne, »Holy Sonnets XIV, l. 8, in: Poetical Works, 299. 6 Erica Fudge, »Introduction«, in: the same, Renaissance Beasts, 1 – 17, 4. 7 Edward Topsell, The Historie of Foure-Footed Beastes. Facsimile, Amsterdam 1973, ›The Ape,‹ 2 – 20. r. 8 Manfred Pfister, »›Man’s Distinctive Mark‹: Paradoxical Distinctions between Man and His Bestial Other in Early Modern Texts«, in: Elmar Lehmann, Bernd Lenz (eds.), Telling Stories: Studies in Honour of Ulrich Broich on the Occasion of his 60th Birthday, Amsterdam 1992, 17 – 33; 33. See also Pfister’s more recent essay, »Animal Images in Coriolanus and the Early Modern Crisis of Distinction between Man and Beast«, Shakespeare Jahrbuch 145 (2009), 141 – 57.
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doubted the tenets of absolute anthropocentrism which, in a different context, Milton was to subscribe to in Paradise Lost, where – in accordance with Genesis – he shows Adam and Eve as the consummation of God’s perfect creation: »Two of far nobler shape erect and tall / Godlike erect, with native Honour clad.«9 When in the comedy of humours The Taming of the Shrew Shakespeare compares the unruly wife to a falcon that must be domesticated and manned by the relentless falconer-husband, he reverts to a well-established tradition of misogyny according to which women were visualised as birds and fair game. Categorising misogynistic commonplaces like this as a form of relative anthropocentrism, Bruce Boehrer shows that Shakespeare belonged to a culture which saw women in terms of a much narrower definition of humankind.10 While this is also true of Gertrude in Hamlet, who in the brevity of her mourning proves to be more bestial than beasts,11 in his tragedies Shakespeare, however, seems to be alert to the startling fact that man’s ontological hybridity is not so much a more complex matter of gender as that mankind’s general position in the chain of being is precariously liminal. Most of the tragedies revolve around or culminate in scenes of disturbing anagnorisis which reveal that, beneath the brittle façade of civilisation, man is a chimera whose beastly components are about to eclipse the faculties of reason and God-given dignity. The Witches’ liminality in Macbeth has often caused a great deal of controversy.12 Wavering between masculinity and femininity, between bestiality (»I come, Graymalkin!«) and humanity as well as between earth and hell, they not only belong to the realm of chaos and equivocation that constantly threatens to overthrow the body politic; they are also shown concoting potions whose animal ingredients stand in blatant contrast to the lofty visions that overreachers like Macbeth desire to see: Fillet of a fenny snake, In the cauldron boil and bake; Eye of newt, and toe of frog, Wool of bat, and tongue of dog, Paradise Lost, ed. Alastair Fowler, Harlow 1984, IV, 288 – 289. Cf. Bruce Boehrer, Shakespeare among the Animals, New York 2002, 25. 11 »O God, a beast that wants discourse of reason / Would have mourn’d longer«, Hamlet, I, 2, 150 f. (The Arden Shakespeare), ed. Ann Thompson, Neil Taylor, London 2006, 178. 12 See, for instance, Peter Stallybrass, »Macbeth and Witchcraft«, in: John Russell Brown (ed.), Focus on ›Macbeth‹, London 1982, 195, and more recently Laura Shamas, »We Three«: The Mythology of Shakespeare’s Weird Sisters, New York et. al. 2007, 62 – 66. 9
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Adders fork, and blind-worm’s sting, Lizard’s leg, and howlet’s wing, For a charm of powerful trouble, Like hell-broth boil and bubble.13
Like the cloven-footed devil himself, who is imagined as a chimerical combination between human being and goat, the Witches are easily identified as bestial agents of misrule that are pitted against the »king-becoming graces« and Malcolm’s unspotted Christ-like virginity. As personifications of the monstrous other, they must, however, be differentiated from a variety of female and male characters in Shakespeare’s plays who either surreptitiously conceal their liminal nature by looking like the innocent flower and hiding the serpent under it, or who, in moments of tense emotional strain, become painfully aware of the fact that man’s theomorphic qualities are constantly contested by rude animal will. Excruciatingly cured of his grandiloquence and moral blindness, King Lear suddenly sees his daughters Regan and Goneril in terms of liminality, as centaurs that oscillate not only between heaven and hell, but also between Apollonian rationality and the Dionysian regions of abdominal horror: Down from the waist they are centaurs, though women above. But to the girdle do the gods inherit, beneath is all the fiend’s: there’s hell, there’s darkness, there is the sulphurous pit, burning, scalding, stench, consumption! Fie, fie, fie! Pah, pah!14 (IV, 6, 121 ff.)
In ancient mythology, centaurs like Chiron – who taught Achilles – personified wisdom. In the context of Christianity, centaurs more and more came to represent the irreconcilable contradictions, the zone of indefiniteness in man’s nature.15 In Sandro Botticelli’s allegorical painting Minerva e il Centauro (1482 / 83), the goddess of wisdom, armed with a halberd, triumphs over the centaur, when she grabs hold of his hair and forces him to cede power in a forlorn gesture of subjugation. While the Florentine painter still highlights the supremacy of reason and thus clearly subscribes to Marsilio Ficino’s Platonic anthropology – according to which man’s hybridity is never outbalanced by bestial passion –, Shakespeare seems to have lost his faith in the concepts of humanism, in the dignitas hominis, as they had been transmitted into English literature by John Colet and were by the end of the Tudor reign becoming obsolete. 13 Macbeth, IV, 1, 12 – 19 (The Arden Shakespeare), ed. Kenneth Muir, London 2006, 106. 14 King Lear, IV, 6, 121 ff. (The Arden Shakespeare), ed. R. A. Foakes, London 1997, 336. 15 Giorgio Agamben, »Anthropological Machine«, in: The Open. Man and Animal, transl. Kevin Attell, Stanford 2004, 37 f.
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(Sandro Botticelli, Minerva e il Centauro Florence Galleria degli Uffizi © bpk Alfredo Dagli Orti)
In Lear’s world, there is no longer a belligerent embodiment of reason towering over and domesticating man’s animality. Eclipsing the upper regions of their bodies, where »the gods inherit,« the vaginal regions of Lear’s daughters seem to have become dissociated as hellish loci terribiles, which challenge fantasies of masculine and rational control with apocalyptic horrors of disease and infernal putrefaction. But, as is evident from the very first Act, the bestialisation in the tragedy can hardly be confined to the female sex. As Andreas Höfele stresses, it is Lear himself who, by arbitrarily dividing his kingdom among his daughters, unleashes bestial irrationality. Unhinging the time-honoured balance between man’s animal nature and his reason, Lear, the self-styled wrathful »dragon,« not only paves the way for the bestialisation of his body politic, but, by seeing his unburdened life in terms of »crawl[ing] to death« (I, 1, 40), unwittingly anticipates his pathetic end as a perishing animal.16 What this implies for the microcosmic battle 16 Andreas Höfele, »Bestiarium Humanum: Lears Tierwelt«, Anglia 188.3 (2000), 333 – 351; in particular 342 ff.
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which is constantly fought in each individual as on the stage of a life-lasting morality play is that no human being is exempt from onsets of bestiality and that, in each individual’s body politic, infernal beast-like monsters from below incessantly rebel against and threaten to subvert man’s reason, God’s incapacitated viceroy in man.17 Seen from this perspective, the image of the »pelican daughters« (III, 4, 74) is not only closely tied up with Lear’s deterioration as a king and rational being, it also underlines the tremendous shift from the human to the animal in 17th-century concepts of anthropology: used in Christian iconography as a symbol of the Saviour (and by analogy of the monarch) who feeds his flock with the bleeding wound in his breast, the pelican was attributed sacerdotal and maternal qualities.18 In King Lear, the focus now imperceptibly shifts from an icon of Christological kingship to the psychologically charged image of pelican daughters who, as offspring of a king turned dragon, signify ferocious birds of prey that, like vampires, suck their progenitor’s blood and drain him of his energies.19 The deconstruction of the image of the »kind life-rend’ring pelican« can also be seen in Hamlet when Laertes is used by Claudius and rashly promises to »[r]epast« his allegedly good friends with the blood of his revenge.20 Once again, the image of Christ as the fountain of life is perverted and transformed into a monstrosity that is more reminiscent of a harpy-like bird than of a reference to Christ. It is this subtle modification of a timehonoured image that underlines the fact that early modern Shakespeare is still worlds apart from Tennyson’s 19th-century evolutionary confidence when, in his elegy In Memoriam A.H.H., Tennyson encourages man to »[m]ove upward, working out the beast, / And [to] let the ape and tiger die.«21 In the transition from the Tudor to the Stuart age, despite Bacon’s scientific method and burgeoning empiricism, the ape and tiger in man were Donne, Holy Sonnets XIV, l. 7, in: Poetical Works, 299. In Geoffrey Whitney’s Choice of Emblemes and Other Devises (1586), the pelican is gendered feminine and as such tallies with Elizabeth’s ideas of monarchical motherhood (as shown in The Pelican Portrait by Nicholas Hilliard) and with early modern concepts of Christ’s maternity. See Caroline Walker Bynum, Jesus as Mother. Studies in the Spirituality of the High Middle Ages, Berkeley/L.A. / London 1987. 19 See also for the wider context of Renaissance pelican imagery, Kevin de Ornellas’ article »›Fowle Fowles?‹ The Sacred Pelican and the Profane Cormorant in Early Modern Culture«, in: Bruce Boehrer (ed.), A Cultural History of Animals in the Renaissance, Oxford / New York 2007, 27 – 52. 20 Hamlet, IV, 5, 145 f. 21 »In Memoriam A.H.H.« cxviii, l. 24 – 25, in: The Poems of Tennyson, ed. Christopher Ricks, 3 vols., Harlow 1987, III, 439. 17 18
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far from being dead, and as James Knowles demonstrates, there »existed a real fear that men (and, more likely women or boys) might continue the postlapsarian trajectory and metamorphose towards the animal.«22 In this context, the tears that pelican-like Laertes sheds over Ophelia’s death are perceived to be the first indications of the fact that he is not so much an early modern anticipation of the dashing Romantic sentimental hero23 as that he is on the point of losing his footing in the male-dominated chain of being and of revealing his suppressed hybridity. While baroque art invented an iconography of tears and supported man’s self-fashioning as a weeper,24 Shakespeare seems to share the Renaissance idea that tears are indicative of degeneration and must be thoroughly exorcised. Thus, Laertes hopes that his fit of weeping will be restorative and stave off any danger of relapsing into feminine monstrosity: »When these are gone, / The woman will be out« (IV, 7, 187 f.). To what extent women were associated with fluidity and with the element of water in which they were thought to undergo metamorphoses into fantastic beasts and regress into monstrous shapes is underlined by the fact that Ophelia is compared to a mermaid and a creature »native and indued / Unto that element« (IV, 7, 178 f.). Considered to be leaky vessels and creatures of a perilous porousness, women were not only at variance with the Renaissance ideal of belligerent masculinity; their tears and fluidity were also a constant challenge to masculine solidification and a reminder of an inevitably downward movement that threatened to take men like Laertes through the various degenerative stages of woman, animal and chimerical monster. In this respect, Laertes is clearly related to Romeo, who is not only swayed by inconstancy and rashness, but who also proves to be an extremely liminal character who permanently hovers on the brink of chaos and regression. Lacking prudence and paying no heed to Friar Laurence’s voice of reason and moderation, Romeo is desperately driven to transgress the boundaries of everything that is regarded as decorous and sacred. Thus, having objectified Juliet as a shrine in Act I, 5, he rashly desecrates her in the same manner as he later violates the sanctity of the gendered hortus conclusus and the peace of the family vault. In Act III, 3, Romeo is also shown as a transgressor of the ontological categories of the chain of being: overwhelmed by the prospect of being physically separated from Juliet, Romeo 22 James Knowles, »’Can ye not tell a man from a marmoset?’: Apes and Others on the Early Modern Stage«, in: Fudge, Renaissance Beasts, 138 – 63; 139. 23 See Marvin Rosenberg, The Masks of Hamlet, Newark 1992, 253. 24 See Crashaw’s poem »The Weeper«, Dowland’s composition of the Lachrimae and El Greco’s paintings.
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completely fails to adopt the attitude of John Donne’s speaker in the poem Valediction: Forbidding Mourning and, instead of seeing the separation from his beloved in terms of gold »to ayery thinnesse beate,«25 he prefers to roll on the ground »with his own tears made drunk.«26 The »armour« that the Friar offers as a chivalrous remedy is philosophy in the sense of Boethius’ De consolatione philosophiae, but Romeo is deaf to his advice and, as a »fond mad man« beyond the reach of rational exhortation, he does not hesitate to emulate Juliet, »[b]lubbering and weeping, weeping and blubbering« (III, 3, 87). In the 18th century hailed as a precursor of Werther and the numerous weeping men of feeling, in Shakespearean times, Romeo is suddenly revealed as a liminal character threatening to subvert the chain of being and to expose man as a chimerical creature. As the singular representative of reason in a world turned upside down, the Friar pinpoints Romeo’s ontological instability and frankly shows his over-indulgence in grief for what it is: as an act of degeneration in which human superiority is blasphemously called into question: Art thou a man? Thy form cries out thou art. Thy tears are womanish, thy wild acts denote The unreasonable fury of a beast. Unseemly woman in a seeming man, And ill-beseeming beast in seeming both! (III, 3, 108 – 12)
The Friar makes it unmistakably clear that Romeo is on the point of entering forbidden territories of equivocation and that he is about to uproot early modern constructions of masculinity. Even though there was a long tradition that supported the idea of women as being more susceptible to onsets of devolution, Shakespeare partially corrects that fallacy when he shows the masculine »form« insufficiently concealing an alarming hybridity that is liable to break forth at moments of distress. As in the case of Laertes, tears are deprecated as »womanish« and as a severe deflection from ideals of soldierly self-command. The nondescript »form of wax« that has replaced Romeo’s »noble shape« (III, 3, 125) is a monstrosity that not only lacks contours and proportions; it also seems to be the matrix from which all sorts of chimeras and products of cross-breeding are fashioned: women in the shape of men and animals in the guise of hermaphrodite men.
25
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John Donne, »A Valediction: Forbidding Mourning«, l. 24, in: Poetical Works,
26 Romeo and Juliet, III, 3, 83 (The Arden Shakespeare), ed. Brian Gibbons, London 1980, 178.
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II. Monstrosities like these were well known from the manifold late medieval representations of hell or from Ovid’s Metamorphoses, which had been widely accessible to the Elizabethans at least since Arthur Golding’s 1565 translation of the Latin original. But while Ovid’s tales were considered to be didactic tales used to impart moral instruction (Ovide moralisé) and while the medieval images of hell were hypothetical visualisions of the insanity and chaos of hell, it was a sign of concrete alarm for Shakespeare’s contemporaries to see that man’s microcosmic integrity was constantly jeopardised and exposed to onsets from the realms of bestiality and retrogression. While, in his Anatomie of the World, Donne concentrated more on visions of apocalyptic dissolution, on a sick world »crumb[ling] out againe to his Atomies«27 and man’s shrinking to a non-entity (»in length is man / Contracted to an inch, who was a spanne«), Shakespeare is concerned with the liminality of man’s existence. Sharing Donne’s critical view of alchemy and no longer subscribing to the idea that everything is impelled by an urge to perfection, Shakespeare is rather preoccupied with an anthropological alchemy in which the refined components are always in danger of being supplanted by the baser materials, the dross of animality. This fact becomes evident not so much in characters like Polonius, who at the moment of his ignominous death is cynically associated with a rat, as in heterogeneous characters like Romeo and Othello who, instead of aspiring to higher planes of being, express their self-loathing and disgust with humanity by envying the position of low-ranking animals or vermin. In contrast to agonised Macbeth who compares himself to »a bear at the stake« and thus conflates ideas of theriomorphic transgression with images of martyrdom,28 Romeo’s bestial turn is of a different quality when, in a state of abject deterioration, he sees more value and courtliness in carrion flies than in himself: […] More validity, More honourable state, more courtship lives In carrion flies than Romeo. […] They [= the flies] are free men but I am banished. (III, 3, 33 – 35 / 42)
At the dialectical low of his existence, Romeo eschews all ideas of patience and reverses the chain of being so radically that he regards himself as inJohn Donne, »An Anatomie of the World«, l. 212, in: Poetical Works, 214. See for this context, Andreas Höfele, Zoologie der Tragödie. Von Menschen und Tieren bei Shakespeare, Heidelberg 2003, 25 ff. 27 28
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ferior to insects, in which he sees freedom epitomised. In blatant contrast to Thomas Hardy’s Tess who, in her ontological loneliness, is compared to a fly on the wide expanse on a billiard table about to be crushed by the balls of fortune,29 Romeo willingly debases himself and refuses to see his dignified position in the ordained hierarchy of things. While Tess as a fly is a creature sinned against, Romeo in his preposterous envy of the carrion flies is clearly a sinner. In his seminal 1954 study on Marlowe, Harry Levin used the term ›overreacher‹ to describe the Machiavellian schemer who is dissatisfied with his position in the chain of being and outrageously aspires to a higher status.30 While Doctor Faustus, Tamburlaine or even Macbeth have no scruples about soliciting supernatural assistance in order to »overleap« ontological categories, Romeo must be labelled as an ›underreacher,‹ since, in his madness, he craves the liberty of creatures that, like worms, are far below and, in their levelling greed, also a threat to humankind’s position.31 Another ›underreacher,‹ whose loss of anthropological dignity can also be seen as evidence of Shakespeare’s intensive perusal of Montaigne in Florio’s 1603 translation, is Othello. At first it is due to Iago’s and Roderigo’s racist perspective that the »valiant« Moor of Venice is closely aligned with a variety of animals that, in early modern times, epitomised the deadly sin of voluptuousness. As completely deprived of humanity as Shylock, the Jew, Othello is represented as »an old black ram [that] / Is tupping [a] white ewe«32 and then as a »Barbary horse« that by covering Desdemona is about to engender faun-like monstrosities: »you’ll have your nephews neigh to you, you’ll have coursers for cousins and jennets for germans!« (I, 1, 110 – 12). By yielding to the Moor’s embraces and thus »making the beast with two backs« (I, 1, 115), Desdemona is, however, not only in danger of giving birth to chimeras, she herself is also tainted with beastliness and in the process of being transformed into a misshapen animal, which grimly parodies the androgynous ball that Plato imagined mankind to be before its division into two different sexes. To what extent Iago and Roderigo could rely on their vituperations to recall fearful and absurd stories about cross-breeding from Pasiphae to Mary Herbert, the Countess of Pembroke,33 is shown by Thomas Hardy, Tess of the d’Urbervilles, ed. Tim Dolin, London 1998, 105. Harry Levin, The Overreacher. A Study of Christopher Marlowe, London 1954. 31 See Mary E. Fissell, »Imagining Vermin in Early Modern England«, in: Angela N. H. Creager, William Chester Jordan (eds.), The Animal / Human Boundary. Historical Perspectives, New York 2002, 77 – 114, 86. 32 Othello, I, 1, 87 f. (The Arden Shakespeare), ed. E. A. J. Honigmann, London 2004, 121 f. All references are to this edition. 29 30
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the fact that Brabantio is so easily upset that he does not hesitate to lead a skimmington ride (»the raised search«) to the place of monstrous liminality, which is characteristically called the Sagittary (I, 1, 156). Due to Iago’s pernicious influence, Othello not only deteriorates from an eloquent self-fashioner to a barbarous murderer; he also increasingly seems to live up to the racists’ expectations and to show that, as a black man of exotic origin, he is always in a state of what Victor Turner calls »permanent liminality.«34 As an alleged cuckold, whose disgrace most of Shakespeare’s male characters seem to be frantic about,35 he is one of those liminal characters that amply proves that man is constantly on the verge of metamorphosis. Believing himself to be afflicted with the incurable »forked plague« (III, 3, 280), Othello dreads losing his last vestiges of humanity and being dragged to the level of a goat – »Exchange me for a goat […]« (III, 3, 183). While in Iago’s company, Othello seems to be reluctant to admit his loss of self-control and rather wants to make him believe that he is still in full command of power: »Fear not my government« (III, 3, 260). But the subsequent soliloquy reveals to what extent the helmsman of the ship of state, the governor of Cyprus, has been blinded by his passions and been converted into an ›underreacher‹ who eventually prefers to be a poisonous toad to being a husband bestialised by his wife’s alleged infidelity: […] I had rather be a toad And live upon the vapour of a dungeon Than keep a corner in the thing I love For others’ uses. (III, 3, 274 – 77)
Othello’s wish to be identified with a toad is strongly related to misogynistic ideas that induce him to see Desdemona only in terms of sexualised objects. While King Lear saw his daughters as centaurs, Othello has been so affected by the pervasiveness of a negative anthropology that he can think of his wife only as a »thing« with a vaginal »corner« that, by its sheer accessibility to others, plunges him ever so deep into the chaos of monstrosity. Sarcastically admonished by Iago to bear his fortune like a man, Othello 33 In Aubrey’s Brief Lives (1693), Mary Herbert is depicted as indulging in animal voyeurism. Watching stallions copulating with mares, »she would act the like sport herself with her stallions.« Quoted in: Boehrer, Shakespeare among the Animals, 53. 34 Victor Turner, The Ritual Process. Structure and Anti-Structure, Ithaca 1985, 145. 35 Benedick’s idea of the savage bull »pluck[ing] off the bull’s horns and set[ting] them in my forehead« in Much Ado about Nothing (I, 1, 244 ff.) conflates the Ovidian myth of Actaeon with cross-cultural concepts of the deceived husband as a bestial monster, severely stigmatised with the horn that he seems to lack in sexual respects.
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cannot help acknowledging the truism of the crude equation which Shakespeare’s contemporaries believed in: »[a] horned man’s a monster, and a beast« (IV, 1, 62). What is glaringly obvious is that Othello confirms Agamben’s ideas of a mechanism that includes the animal by trying to exclude it.36 The more he tries to exclude the monstrous threat embodied by his wife, the more he is liable to assume not only bestial, but also female qualities. Othello’s effeminisation can be shown by the fact that Iago assaults Othello sexually by »abus[ing]« his ear and bringing about »this monstrous birth to the world’s light.« While it was Othello who, at the beginning of the play, boasted of filling Desdemona’s »greedy ear« with his masculine stories, by Act III, he has so much degenerated into a feminised monster that we see him begging to have his ear penetrated by Iago. More than in any other play Shakespeare shows in Othello what a brittle construction the chain of being was and what depths of beastliness and horrors have to be probed when man tries to ban the animal in his community and in himself. Thus, Iago becomes a racist monster when he tries to combat the Moor, and the Moor finally accepts his dog-like qualities when at the moment of his suicide he identifies with the canine enemy, whom he was expected to slay: the »turbanned Turk,« »the circumcised dog.« III. Another character in Othello who is very much aware of the liminal nature of man is Cassio. While Othello is repeatedly poisoned through the ear, Cassio cannot refrain from swallowing the poison in the form of alcohol, whose disastrous effects are far more detrimental than the ambiguous »nose-painting« that Macbeth’s Porter ascribes to excessive drinking.37 Yielding to the temptation of drinking alcohol, Cassio has not only unleashed a »barbarous brawl« (II, 3, 168), which is immediately associated with non-Christian monstrosity (»Are we turned Turks?«), he has also transgressed the indistinct boundaries between man and animal by »speak [ing] parrot« (II, 3, 275), substituting »fustian« for discursive speech and killing his reputation. Flung into a godless and de-humanising world that transforms men into stomachs and women into food, a world that is haunted by all sorts of devilish monsters, Cassio seems to have nothing to abide by but his reputation. Now that he has lost his reputation, »the im36 37
Agamben, »Anthropological Machine«, 37. Macbeth, II, 3, 27.
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mortal part of myself« (II, 3, 259 f.), he is not only soulless, devoid of human pith, but also reduced to his bestiality: »and what remains is bestial« (II, 3, 260). What however is apparent is that the loss of humanity and reputation is not so much inflicted by fate as it is caused by man himself. As in Sonnet 129, where the speaker compares physical love to swallowing a bait, man’s degeneration is triggered off by »put[ting] an enemy into [his] mouth« (II, 3, 286). Thus, Cassio considers it to be one of man’s fatal contradictions that, instead of preserving our human dignity, we readily contribute to our downfall and »with joy, pleasance, revel and applause, transform ourselves into beasts« (II, 3, 287 f.). The negative process of transformation from a »sensible man« via a fool into a beast is accordingly seen as an act of (limited) volition, as a temperamental imbalance which makes the tragic hero choose the bestial side of life. While women like Ophelia or King Lear’s daughters can hardly be dissociated from their chimerical nature and, even without explicitly demanding to be ›unsexed‹ like Lady Macbeth, reveal themselves to be monstrosities, the male protagonists’ loss of humanity is more often than not the result of a tremendous error. As voluntarily as they adopt the role of the overreacher, »with a bombast circumstance« (1, 1, 12), they suddenly turn into ›underreachers‹ and thus refute John Donne when they discard the nature of man and crave being less than an ant.38 Their perversions of the chain of being in both directions are based on perverse acts of deliberation: When Othello wishes to be a toad, he (ab)uses the first-person pronoun as deliberately as does Iago, when he assaults the order of his world by alternately talking about his perfidious plans for promotion and about changing positions with an ape: Ere I would say I would drown myself for the love of a guinea-hen I would change my humanity with a baboon. (I, 3, 317)
The various metamorphoses which Shakespeare has his characters undergo are strikingly modern and differ from those of Ovid in so far as they are outwardly invisible and metaphors for a psychological zone that neither Freud nor Agamben have been able to probe. Thus, it is indicative not only of Othello’s helplessness that he is at a loss to find Iago’s cloven feet: »I look down towards his feet, but that’s a fable« (V, 2, 283). What Shakespeare seems to have discovered is that man is persistently threatened by an animality that is submerged, but waiting to be unleashed by passion, alcohol or blind frustration. Crass evidence of bestiality like Bottom wearing an ass’s head in A Midsummer Night’s Dream is, thus, of a different sort, since 38 »Be more then man, or thou’rt lesse then an Ant«, »An Anatomie of the World. The First Anniversary«, l. 190, in: Poetical Works, 213.
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it is not only relegated to the realm of fairies, but also shown as one of the last and short-lived vestiges of a temporary carnivalesque world which is eventually restored to order. Thus, figures like Bottom are not on a par with the numerous ›underreachers‹ in Shakespeare’s tragedies competing with baboons, toads, carrion flies and other obnoxious vermin. These vexingly antithetical characters and the countless invisible beasts, like King Richard III, eager to subvert early modern ideas of cosmos in the manner of a devilish boar, are, by contrast, figures of a disconcerting liminality which underline the fact that man’s hidden hybridity was not a discovery of the late 19th century. Stevenson, Wells and other authors writing in the wake of Darwin’s theory of anthropology could rely on a well-established tradition of liminal anthropology that originated in Shakespeare’s centauric (anti-) heroes. While Jonathan Swift challenged Pope’s anthropological optimism by having his anti-hero Gulliver encounter the Yahoos’ visible inhumanity, a whole array of 19th-century writers not only stress man’s hidden monstrosity, but also refer to Shakespeare’s tragedies to foreground man’s inherently liminal status between humanity and abject animality. When, in the shipwreck scene of Don Juan, Lord Byron eventually depicts the few survivors crammed into a little boat as a motley bunch of savages regressing into cannibals and beasts, he clearly shows that modern man’s metamorphoses occur within the wider context of Shakespeare’s plays. Thus, in addition to finding vague reminiscences of The Tempest, one is eventually not surprised to learn that the narrator of anthropological horrors quotes Hamlet and sees himself in a community of dogs that had had their day.39 For critics who persisted in seeing Dickens as a writer of humorous and sentimental stories it must be even more astounding to learn that the Victorian novelist subtly gave his depictions of liminality a Shakespearean underpinning.40 The Iago-like character Steerforth in David Copperfield inadvertently reveals his precarious masculinity when he slightly misquotes a line from Macbeth – »Why, being gone, I am a man again« – and thus not only conjures up images of Macbeth’s ursine torments, but also the preceding lines in which Macbeth tries to defy Banquo in the shape of a menagerie of ferocious animals: »Approach thou like the rugged Russian bear, / The arm’d rhinoceros, or the Hyrcan tiger.«41 To what extent Dickens’s concept of the 39 The quotation refers to Hamlet, V, 1, 299, where Hamlet talks about »[t]he cat [that] will mew and [the dog] will have his day.« 40 See also Norbert Lennartz, »Aspects of Darwinian Liminality: The Precarious Relationship between Man and Animals in David Copperfield and Other Victorian Fiction«, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, N.F. 52 (2011), 279 – 293. 41 Macbeth, III, 4, 99 – 100.
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bildungsroman is tightly woven up with (and jeopardised by) Shakespearean ideas of theriophilia becomes evident when, in a letter of apology, David Copperfield relates his embarrassing drinking spree with Steerforth to Cassio’s speech about the enemy man readily puts into his mouth to renegotiate the animal zone in himself. And if there is a similarity between Dickens and Thomas Hardy (which Hardy was never willing to admit), it is not so much in their concepts of a poetic realism as in their anthropological doubt, which they find illustrated in Shakespeare’s tragedies. The fact that Arabella Donn quotes Lady Macbeth – »What’s done can’t be undone«42 – is scarcely meant to be an implausible indication of the pig woman’s erudition, but rather a hint at her ruthless Circean powers with which she, like the Scottish queen in the play, transforms men into animals and sends them into a kind of »swinish sleep.«43 Arabella is the last of a long list of 19th-century liminal characters who precariously waver between humanity and attractive forms of bestiality and who remind the reader of Topsell’s sphinxes and satyrs, which were also never devoid of a »great grace & comelinesse.«44 And it is here that the argument comes full circle: when 19th-century pro- and antagonists suddenly see the beast lurking in the depths of their personalities, they revert not so much to Hobbes, Swift or Darwin as to Shakespeare as their literary anthropologist and provider of quotations. They seem to know that Shakespeare’s range of liminal characters anticipates the various bêtes humaines in their period and that the difference according to which Shakespeare’s liminality was volitional and modern characters are more often than not »gnawed […] to this resolution« by nature45 was becoming more and more conjectural.
42 Thomas Hardy, Jude the Obscure, ed. Dennis Taylor, London 1998, 61. Arabella refers to Macbeth III, 2, 11. 43 Macbeth, I, 7, 68. 44 Topsell, »Of the Sphinga«, 17. 45 Don Juan, ed. T. G. Steffan, E. Steffan, W. W. Pratt, Harmondsworth 1986, II, 75, 598.
Friedrich Spee und das Oxford Movement Von Alexander Weber Die Rezeption von Friedrich Spees Dichtung in England lässt sich unterteilen in eine Ablehnung seines Stils und seiner Theologie, formuliert durch die bestimmende Schule Catherine Winkworths und eine unterschwellige Aufnahme.1 Auch wenn das Urteil Winkworths für die viktorianische Zeit prägend war darf nicht übersehen werden, dass die anglikanische Kirche im 19. Jahrhundert ein Schauplatz vehementer theologischer Kontroversen war. Eine wichtige Rolle spielte der preußische Gesandte Carl Josias von Bunsen, der Winkworths Übersetzungen deutscher Lieder angeregt hatte, um die deutsch-lutherische und anglikanische Kirche durch ein gemeinsames Gesangbuch einander liturgisch näherzubringen. Er war Schüler des Historikers Barthold Georg Niebuhr, der die moderne historische Quellenkritik begründet hatte. Bunsen stand auch in Verbindung zu Friedrich Schleiermacher und vermittelte dessen Hermeneutik nach England, die dort unter dem Begriff Higher Criticism bekannt wurde. Sie wurde von der progressiven Broad Church – die das textnahe Bibelverständnis der Evangelikalen überwinden wollte – begierig aufgenommen. Als Reaktion auf diese Strömung formierte sich eine Gegenbewegung, die in der modernen deutschen Theologie letztlich eine Form des weltlichen Rationalismus und historischen Relativismus sah. An dieser Kontroverse, die zum kirchenpolitischen Richtungskampf wurde, beteiligten sich einige der bedeutendsten englischen Geister der Epoche: Auf der einen Seite enge Vertraute Bunsens wie Julius Hare, Connop Thirlwall und besonders Thomas Arnold, die im weiteren Sinne zur ersten Generation von Germanisten in England gerechnet werden können, auf der anderen die dezidierten Gegner der deutschprotestantischen Theologie, die sich an der Universität Oxford seit den 1830er Jahren zu formieren begannen. Diese Bewegung wird mit verschie1 Wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe, übernahmen die bedeutendste Übersetzerin und Vermittlerin deutscher Kirchenlieder nach England, Winkworth, und der Hymnologe John Julian weitgehend die literarischen Normen des Gerhardt’schen Gemeindelieds, mithin einer besonderen Richtung der deutschen protestantischen Lieddichtung; siehe Alexander Weber, »Friedrich Spee aus der Sicht des viktorianischen England«, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, N.F. 47 (2006), 225 – 251.
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denen Begriffen bezeichnet, und zwar als Oxford Movement, Anglo-Catholics, Tractarians – nach dem Titel ihrer einflussreichen Schriftenreihe, den Tracts – oder Puseyites, abgeleitet vom Namen eines ihrer theologischen Anführer, Edward Bouverie Pusey. Das Oxford Movement wird zunehmend auch international beachtet als geistesgeschichtlich wichtige Strömung der viktorianischen Epoche, die über England hinaus wirkte. Nach dieser Denkschule ist die anglikanische Kirche trotz des Bruchs mit Rom nie wirklich reformiert worden, sondern in ihrem Wesen katholisch geblieben. Der international bekannteste Vertreter der Bewegung ist John Henry Newman, der in der Apologia Pro Vita Sua sich und der Welt Rechenschaft abgelegt hat, warum er schließlich zur römisch-katholischen Kirche übergetreten ist.2 Für die Spee-Forschung ist vor allem die heute weniger bekannte Dichtung dieser Anglo-Catholics von besonderem Interesse. Namentlich bietet John Kebles Gedichtsammlung The Christian Year stilistische und theologische Ansatzpunkte für eine komparatistische Studie.3 Keble war ein eher zurückhaltender und schüchterner Mann, der trotz glänzender Anlagen und Perspektiven seine Gelehrtenlaufbahn in Oxford aufgab, um in Hampshire einfacher Landgeistlicher zu werden; dennoch ist er seit 1833 öffentlich für seine umstrittenen Ansichten in Predigten und Traktaten eingetreten und hat so das Oxford Movement eigentlich ins Leben gerufen.4 Wenige Jahre zuvor, 1827, hatte er einen Lyrikband veröffentlicht, der das Book of Common Prayer durch das Kirchenjahr hindurch mit meditativen Gedichten begleitete. Dieser Band wurde eines der erfolgreichsten Erbauungsbücher der Epoche, er fehlte in kaum einem englischen Haushalt und wurde vom literarisch gebildeten Publikum überaus geschätzt.5 Die Leser des zwanzigsten Jahrhunderts konnten dagegen weder mit der Formensprache noch mit der besonderen Funktion der Erbauung etwas anfangen.6
2 Vgl. John Henry Newman, Apologia Pro Vita Sua, being a History of his Religious Opinions, London 1890. 3 Vgl. John Keble, The Christian Year. Thoughts in Verse for the Sundays and Holidays throughout the Year, 21. Aufl., Oxford 1841, im Folgenden zitiert unter der Sigle CY. In den späteren Ausgaben, wie der hier benutzten, ist die anglo-katholische Tendenz stärker ausgearbeitet. 4 Vgl. Newman, Apologia Pro Vita Sua, 289. 5 Zu Lebzeiten Kebles wurde das Buch 92 mal aufgelegt, siehe Georgina Battiscombe, John Keble. A Study in Limitations, London 1963, 104. Brian W. Martin, John Keble. Priest, Professor and Poet, London 1976, 112 zählt 140 Auflagen zwischen 1827 und 1873. 6 Jedoch wandelt sich die Wertung Kebles seit neuestem wieder, siehe die »Introduction« von Kirstie Blair, in: dies. (Hg.), John Keble in Context, London 2004, 2.
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Newman fand in Kebles Dichtung bestätigt, was er aus dem Studium der gegenaufklärerischen Theologie Joseph Butlers erfahren hatte. When the general tone of religious literature was so nerveless and impotent, as it was at that time, Keble struck an original note and woke up in the hearts of thousands a new music, the music of a school, long unknown in England. […] I think I am not wrong in saying, that the two main intellectual truths which it [the Christian Year] brought home to me, were the same two, which I had learned from Butler, though recast in the creative mind of my new master. The first of these was what may be called, in a large sense of the word, the Sacramental system; that is, the doctrine that material phenomena are both the types and the instruments of real things unseen, – a doctrine, which embraces in its fulness, not only what Anglicans, as well as Catholics, believe about Sacraments properly so called; but also the article of »the Communion of Saints;« and likewise the Mysteries of the faith.7
Ein Aufbegehren gegen die Engführung des Rationalismus gab es auch in Deutschland, wo Clemens Brentano und Friedrich Schlegel die Werke Spees wiederentdeckten. Ziel dieser Studie ist zu belegen, dass das Oxford Movement auf Dichtungstradionen des 17. Jahrhunderts, den Humanismus und die Kirchenväter zurückgriff, jene Schichten also, die für Spees geistliche Lyrik stilprägend gewesen waren. Das Interesse an Spee erwachte in Deutschland aus der Vorstellung, dass sich durch das Kindliche und Naive und – vermeintlich – Volkstümliche eine höhere Wahrheit ausspreche; aus der Rückkehr zur Fülle der eingesetzten Sakramente, überlieferten liturgischen Formen, Geheimnisse des Glaubens – die die Kirchenväter als zeitlose Wahrheiten ausgesprochen haben – und aus einer Begeisterung für Anschauung der Natur, Landschaft und Tierwelt, durch die der Schöpfer eher zu finden sei als durch reflektierenden theoretischen Diskurs.8 John Keble war die Schlüsselfigur einer ähnlichen literarischen Erneuerung in England, deren theologische Folgen bis in die Gegenwart reichen. Newman hat darauf hingewiesen, dass die schöne Literatur – besonders Walter Scott – das Verlangen nach einer vor-rationalistischen Frömmigkeit angefacht hatte: [This was] a reaction from the dry and superficial character of the religious teaching and the literature of the last generation, or century, and as a result of the need 7 Newman, Apologia Pro Vita Sua, 18. Auch Keble hatte Joseph Butlers Einwände gegen den populären Deismus des 18. Jahrhunderts eingehend studiert und dessen Analogy of Religion, Natural and Revealed, to the Constitution and Course of Nature, London 1736, zu einem Leitfaden seiner Dichtung gemacht, siehe Martin, John Keble, 43, 119 – 122. 8 Das Oxford Movement unterschied sich von der übrigen anglikanischen Kirche besonders dadurch, dass es großen Wert auf die apostolische Folge legt. Siehe »Who is God’s chosen priest?« (CY 312 – 314).
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which was felt both by the hearts and the intellects of the nation for a deeper philosophy […] First, I mentioned the literary influence of Walter Scott, who turned men’s minds in the direction of the middle ages. ›The general need,‹ I said, ›of something deeper and more attractive, than what had offered itself elsewhere, may be considered to have led to his popularity; and by means of his popularity he reacted on his readers, stimulating their mental thirst. […]‹ Then I spoke of Coleridge, thus: ›While history in prose and verse was thus made the instrument of Church feelings and opinions, a philosophical basis for the same was laid in England by a very original thinker, who, while he indulged in a liberty of speculation, which no Christian can tolerate, and advocated conclusions which were often heathen rather than Christian, yet after all installed a higher philosophy into enquiring minds, than they had hitherto been accustomed to accept. In this way he made trial of his age, and succeeded in interesting its genius in the cause of the Catholic truth.‹ Then came Southey and Wordsworth, ›two living poets, one of whom in the department of fantastic fiction, the other in that of philosophical meditation, have addressed themselves to the same high principles and feelings, and carried forward their readers in the same direction.‹9
Dies ist eine bemerkenswerte theologisch gewendete Rezeptionsästhetik: Die Dichtung bereitet durch veränderte und erweiterte Weisen der Aufnahme der Spiritualität den Weg. Wie wir sehen werden ist dies auch genau die Rolle, die Keble der weltlichen Dichtung zuweist: sie war für ihn immer schon Präfiguration kommender Wahrheit. Die Dichtung der englischen Romantik zeichnet sich auch durch die Entdeckung von See- und Flusslandschaften, Alpen und Küsten aus, die erwandert und zugleich seelisch erkundet wurden. Kebles spirituelle Auslegung der Natur wurde vorbereitet durch die Dichtung Wordsworths, den wiederum nach Bekunden Henry Crabb Robinsons eine Affinität mit Herder verband. Crabb Robinson, der zu den wichtigen Vermittlern zwischen deutscher und englischer Kultur zählt, besuchte 1803 Weimar und zeigte Herder Wordsworths Lyrical Ballads: »I found that Herder agreed with Wordsworth as to poetical language. Indeed Wordsworth’s notions on that subject are quite German. There was also a general sympathy between the two in matters of morality and religion.«10 An Wordsworth’s Schwester schrieb er, dass er alle Gedichte, die die Natur beinahe vergöttern, gesammelt sehen möchte unter der deutschen – ins Englische schwer übersetzbaren – Überschrift »Der schönen Natur gewidmet«.11 Trotz seines Unglaubens seien seine Gedichte großenteils vom Heiligen Geist inspiNewman, Apologia Pro Vita Aua, 96 f. Diary, Reminiscences, and Correspondence of Henry Crabb Robinson, hg. Thomas Sadler, 3 Bde., 2. Aufl., London 1869, Bd. 1, 154. 11 Ibid., Bd. 2, 321. 9
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riert.12 Wordsworth sei ein »High Churchman«, also für den feierlichen Ritus, but luckily does not go all lengths with the Oxford School. He praises the Reformers (for they assume to be such) for inspiring the age with deeper reverence for antiquity, and a more cordial conformity with ritual observances, as well as a warmer piety, but he goes no further. Nevertheless he is claimed by them as their poet.13
Keble und das Oxford Movement knüpften also an Wordsworth an, erkannten dabei freilich in dessen Natursehnsucht einen Religionsersatz. Mit Hilfe der Kirchenväter war der unterdrückte geistliche Sinn solcher Naturfrömmigkeit freizulegen. Kebles Dichtung war auch ein Gegenentwurf zum Projekt der Moderne, durch Naturwissenschaft und Technik die Schöpfung zu beherrschen. Die in England einsetzende Industrialisierung hatte ihn sensibilisiert für die Entfremdung der modernen Lebenswelt und für die beginnende Zerstörung der Landschaft durch Eisenbahnlinien und Agrarmaschinen.14 Damals begann jener Mentalitätswandel, der zur aktuellen quasi-religiösen Rückkehr zur Natur geführt hat. Auch Spee wird heute aus einem ähnlichen Verlangen als Naturlyriker gelesen. Die konservativste Seite Kebles ist somit in gewisser Hinsicht die aktuellste. We know how very large a part of modern literature and education, nay, and of modern theology too, is occupied by instruction and research on physical subjects, and in what a tone of self-complacency men praise their times and one another, for the great and rapidly increasing proficiency of the two or three last generations in their knowledge and command of the powers of nature. But when we turn to the first ages of Christian literature, the very first sentiment which strikes us is, the care taken every where to exclude views merely scientific and physical, – to prevent our acquiescing in that kind of knowledge, as though in itself it were any great thing.15
In der modischen Naturdichtung sah er eine zweifelhafte Medizin für ein spirituell kränkelndes Zeitalter. Die frühen Christen hätten dagegen solche Literatur zur Ablenkung des Geistes nicht nötig gehabt, wie Keble in seinen Poetik-Vorlesungen in Oxford ausführte: Vgl. ibid., 324. Diary, Reminiscences, and Correspondence of Henry Crabb Robinson, Bd. 3, 210, siehe auch Bd. 3, 258. 14 Vgl. Martin, John Keble, 63. 15 John Keble, On the Mysticism Attributed to the Early Fathers of the Church, Being No. LXXXIX of ›Tracts for the Times‹ (1840), 137. Im Folgenden zitiert als Tract 89. 12 13
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Their comfort lay in three things, namely, holy scripture, solemn liturgies, and sacramental symbolism: but to-day […] prayers in our churches are few and far between: as for sacramental symbols, such as the first Christians saw around them at all times and in all places, there is not the least thought of such now […] the Hebrew scriptures are, it is true, read by all, but with little delight or real study […]. Consequently, men gladly betake themselves to rural charms and pastoral poetry and find in them a very real satisfaction: no religious scruple restrains their minds from expatiating freely on every side, nor each of them from selecting for himself what may cheer the dejected spirit, spur the sluggish, or soothe the passionate.16
Sein poetisches Programm ergab sich aus dieser Zeitkritik: Um den geistlichen Sinn der Natur wiederzufinden knüpfte er an die Kirchenväter und die bedeutenden Geistlichen des 17. Jahrhunderts an, die im Oxford Movement hoch im Kurs standen, besonders an den Dichter George Herbert, der als einfacher Landpfarrer Kebles literarisches und spirituelles Vorbild wurde und dessen Werke in Kebles Nachlassbibliothek verwahrt werden. Viele Stilmittel, die an Spee erinnern, haben hier ihren Ursprung. Herberts The Country Parson scheint Keble geradezu als Wegweiser seines Lebens gedient zu haben.17 Keble gab auch die Werke des Theologen Richard Hooker heraus, der Ritus, die Bedeutung der Sakramente und das Priesteramt gegen die calvinistisch geprägten Puritaner verteidigt hatte. Für Keble waren diese Einflüsse eine Bestätigung seiner ursprünglichen geistigen Ausrichtung. Für Newman, dessen Herkunft ganz anders, nämlich evangelikal war, waren die Kirchenväter eine Entdeckung auf dem Weg zum Katholizismus: The broad philosophy of Clement and Origen carried me away; […] Some portions of their teaching, magnificent in themselves, came like music to my inward ear. […] These were based on the mystical or sacramental principle, and spoke of the various Economies or Dispensations of the Eternal. I understood these passages to mean that the exterior world, physical and historical, was but the manifestation to our senses of realities greater than itself. Nature was a parable: Scripture was an allegory: pagan literature, philosophy, and mythology, properly understood, were but a preparation for the Gospel.18
Im Lichte dieser Passage lässt sich Kebles Christian Year, aber auch Spees Dichtung lesen. 16 Keble’s Lectures on Poetry 1832 – 1841, übers. Edward Kershaw Francis, 2 Bde., Oxford 1912, Bd. 2, 272. Die lateinische Originalausgabe war 1844 unter dem Titel De poeticae vi medica. Praelectiones academicae Oxonii habitae annis 1832 – 1841 in Oxford erschienen. 17 Vgl. George Herbert, A Priest to the Temple or the Country Parson, London 1652. Siehe Martin, John Keble, 28, ferner E. N. S. Thompson, »The Temple and the Christian Year«, PMLA 54 (1939), 1018 – 1025. 18 Newman, Apologia Pro Vita Sua, 26 – 27.
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Ein charakteristisches Beispiel eines Natur- und Landschaftsgedichts, das – im Gegensatz zu Wordsworths Behandlung dieses Gegenstands – unmittelbar übergeht in eine reflektierend-geistliche Auslegung, ist »First Sunday after Epiphany.« (CY 54 – 56) Das Gedicht, das in das Kirchenjahr eingeordnet ist, behandelt das Anbrechen eines Frühlingsmorgens. Gemüt und Verstand geraten in einen Zwist, wer die Wiederkehr des Frühlings besser erfassen kann. Während beide in dieser kleinen Psychomachie wettstreiten reißt die Seele unbemerkt aus und streift durch Hügel und Auen. Allegorisch ist auch die Korrespondenz zwischen dem inneren Ohr der Frömmigkeit und der äußeren Musik in der Natur: Das Rauschen jedes Blatts, das Plätschern des Bachs, der feierliche Frühlingsklang im kleinsten Naturschauspiel erinnern daran, dass das Vorzügliche statt in den erhabenen Bergen, Tälern und Küstenlandschaften, wo der Wanderer die Wahrheit sucht, eher in der schlichten Heimat zu finden ist, wo es auch Himmel und Erde gibt, und wo das Einfache und Vertraute der Landschaft zur Demut anhält. Der flüsternde Bach leitet die schweifende Seele zu einer Trauerweide, dem zentralen Sinnbild, auf das das ganze Gedichts hinführt, um es dann auszulegen. Die pictura wird durch die Beschreibung einer Weide im Frühjahr gebildet: Trotz der erlittenen Strapazen des Winters spendet sie nun Schatten. Sie hat alle harten Anfechtungen geduldig über sich ergehen lassen und strömt nun wieder freudige Genügsamkeit aus. Die subscriptio enthält eine epigrammatische Schlussfolgerung: So lernt man, wie man mit dem geringsten Geschenk des Himmels dankbar und zufrieden sein kann. Die Weide spendet also Schatten und Trost, als geistliches Emblem lädt sie zur Betrachtung und zum Verweilen ein. Dann muss die Seele weiterziehen vom Bach, einen steinigen Weg das Tal hinauf; am staubigen Wegrand singt tröstend die Nachtigall. Wenn es dunkelt, zieht sie sich tief in ihr Dickicht zurück, unbekümmert über den Lauf der Zeit und ohne rastlos umherzuschweifen ergibt sie sich ganz dem Gottvertrauen und dem Lobgesang. Lessons sweet of spring returning, Welcome to the thoughtful heart! May I call ye sense or learning, Instinct pure, or heav’n-taught art? Be your title what it may, Sweet the lengthening April day, While with you the soul is free, Ranging wild o’er hill and lea. Soft as Memnon’s harp at morning, To the inward ear devout, Touch’d by light, with heavenly warning Your transporting chords ring out
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Every leaf in every nook, Every wave in every brook, Chanting with a solemn voice, Minds us of our better choice. Needs no show of mountain hoary, Winding shore or deepening glen, Where the landscape in its glory Teaches truth to wandering men: Give true hearts but earth and sky, And some flowers to bloom and die, – Homely scenes and simple views Lowly thoughts may best infuse. See the soft green willow springing Where the waters gently pass, Every way her free arms flinging O’er the moist and reedy grass. Long ere winter blasts are fled, See her tipp’d with vernal red, And her kindly flower display’d Ere her leaf can cast a shade. Though the rudest hand assail her Patiently she droops awhile, But when showers and breezes hail her, Wears again her willing smile. Thus I learn Contentment’s power From the slighted willow bower, Ready to give thanks and live On the least that Heaven may give. If, the quiet brooklet leaving, Up the stony vale I wind, Haply half in fancy grieving For the shades I leave behind, By the dusty wayside drear, Nightingales with joyous cheer Sing, my sadness to reprove, Gladlier than in cultur’d grove. Where the thickest boughs are twining Of the greenest darkest tree, There they plunge, the light declining – All may hear, but none may see. Fearless of the passing hoof, Hardly will they fleet aloof; So they live in modest ways, Trust entire, and ceaseless praise. (CY 54 – 56)
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Keble hat in diesem Gedicht auch ein Selbstzeugnis über die Wahl seines schlichten Lebenswegs abgelegt. Man fühlt sich erinnert an Stifters »sanftes Gesetz«, wonach im Kleinen, Gewöhnlichen das kaum sichtbare aber beständige Wirkungsprinzip in der Schöpfung bedeutsamer wird als in dem beeindruckenden, außergewöhnlichen, aber nur vorübergehenden Naturschauspiel.19 In der Wiederkehr des Friedens und der Ruhe nach den Stürmen zeigt sich am Sinnbild der Weide das erhaltende Prinzip, das in der Natur obwaltet. Dies ist auch ein Hinweis auf das Sittengesetz. Die erhabene oder monumentale Landschaft mag rastlose Reisende ergötzen, eine tiefere Erbauung bietet für Keble die heimatliche Umgebung.20 In den erwähnten Praelectiones hat Keble in der antiken Dichtung eine enge Verbindung zwischen der heimatlichen Landschaft und den lokalen Kultorten gesehen. Eine besondere Rolle spielt dabei, dass die Kindheit Zugang und Verwurzelung im Kultus ermöglicht, der an einen besonderen, vertrauten Ort gebunden ist und durch Wiederholung und Erinnerung rituell vertieft wird. Die heimatliche schlichte Weide hat für Keble diese besonderen Eigenschaften, die eine Betrachtung auslösen. Bestimmte Bäume waren schon im Heidentum Ort der Anbetung, später wurde das Bild christlich zum Kreuzesbaum umgedeutet. Es gehört zu den zentralen Emblemen in Spees Trutz-Nachtigall: das Titelkupfer bildet einen kindlichen Corpus an einem Baum ab, der in einer Baumallee als Unendlichkeitssymbol zum Himmel führt. Die Weide hat ihre eigene sinnbildliche Bedeutung, sie neigt sich zum Einfachen und Niedrigen und ist ein Zeichen der Demut und Trauer. In der Trutz-Nachtigall verbeugt sich die ganze Natur in Trauer vor dem Gekreuzigten: »Ach, die Bäum’ sich weinend zeigen, | Weinend mancher Stamm und Ast; | Weinend sie sich nieder neigen, | Nur mit schwerem Leid’ befast’t.«21 Auch ein 19 Im alltäglichen Tautropfen, zum Beispiel, bricht sich ein himmlischer Schein, den nur erkennen kann, wer Gott im Kleinen sucht: »Cheap forms, and common hues, ’tis true, | Through the bright shower-drop meet his view; | The colouring may be of this earth; | The lustre comes of heavenly birth.« (CY 201) 20 Offenbar handelt es sich bei der Weide um einen bestimmten Ort aus Kebles Heimat, siehe Rodney Stenning Edgecombe, Two Poets of the Oxford Movement. John Keble and John Henry Newman, Cranbury (N.J.) / London 1996, 74. Das Wandermotiv erscheint bei Keble weniger als Suche nach der Ferne, sondern als Heimkehr: »So wanderers ever fond and true | Look homeward through the evening sky […] The wanderer seeks his native bower.« (CY 256) 21 Friedrich von Spee, Trutz-Nachtigall, hg. P. L. Willmes, Köln 1812, 296. Zitiert wird unter der Sigle TN nach dieser zeitgenössischen, durch Friedrich Schlegels Bearbeitungen angeregten Ausgabe. Die früheren Ausgaben der Romantik bieten nur eine kleine Auswahl, die heutigen textkritischen Editionen geben nicht die Textform wieder, die im frühen 19. Jahrhundert rezipiert wurde. Für Friedrich Schlegel ragt Spee in der Literaturgeschichte heraus durch seine tiefe Frömmigkeit, seine »Freude an den Lieblichkeiten der Natur« und die Sangbarkeit seiner Dichtung. Schlegel
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weiteres Thema – Kebles Darstellung der Jahreszeiten – ist ein bevorzugter Gegenstand in Spees Dichtung; besonders der Frühling wird durch das Rauschen der »Bächlein« und das musizieren der »Vöglein« evoziert (TN 41 – 44).22 Man erfasst diese Art der Literatur am ehesten als Form der verbreiteten Gelehrten- oder Professoren-Dichtung – wie sie ja auch von Germanisten wie Karl Simrock gepflegt wurde –, die versucht alte Sprachdenkmale zu ›verjüngen‹ oder sie nachzuahmen. Die Ergebnisse sind aus heutiger Sicht meist weder wissenschaftlich noch ästhetisch überzeugend, doch erklärt sich so die besondere zeitgenössische Wirkung dieser Literatur.23 Denn viele der Leser teilten das Interesse an älterer Literatur oder haben ebenfalls als Nebenbeschäftigung Gedichte geschrieben, zumeist nach den Vorbildern der seit der Schule eingeübten lateinischen Literatur. Jedenfalls gehörte solche praktische, geistige und sprachliche Übung ganz selbstverständlich zum Gentleman-Ideal; die Dichtung des Oxford Movements ist als solches Nebenwerk entstanden und entsprechend wurde sie auch rezipiert. Die dazugehörende Regelpoetik war für die gebildeten Schichten sogar leichter zugänglich als die freiere Dichtung der englischen Romantik, wie Battiscombe dargelegt hat: In 1827 the ordinary squire or country parson was still fighting shy of Wordsworth’s deliberate simplicity or the romanticsim of Shelley and Keats; his education had not taught him to look for freshness in poetry but for correctitude, for the epithet which Horace would have used rather than for the one expressive of the writer’s personal vision.24
Diese Einschätzung wird bestätigt durch die entgegengesetzte Kritik Wordsworths an Kebles Dichtung, die durch seinen Neffen Christopher überliefert ist: Keble habe seine Ausdrucksweise durch seine übertriebene
wählte das Jahreszeit-Lied »Der trübe Winter ist vorbei«, neben einigen anderen, für seine Bearbeitung aus, Willmes übernahm diese Fassung. Siehe Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe, hg. Ernst Behler, Bd. 5, 1. Abteilung, Dichtungen, hg. Hans Eichner, München 1962, 435, 439 – 441. 22 Siehe auch »Aufmunterung zur Fröhlichkeit« (TN 101 f.), »Jubel der Seele nach vergangener Traurigkeit« (TN 107). Im folgenden Vergleich werden nur wenige typische Belege zu Spee angeführt. Dessen Stilmittel sind gut erforscht, während Vergleichbares aus Keble hier zuerst erschlossen werden muss. 23 Siehe zum Beispiel Friedrich Spee, Trutz Nachtigall, verjüngt von Karl Simrock, Heilbronn 1876. Man sollte immerhin anerkennen, dass diese Professoren-Dichtung einem größeren Publikum Wege in schwer zugängliche Gebiete der Literaturgeschichte gebahnt hat. 24 Battiscombe, John Keble, 108.
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Begeisterung für die antike Literatur verdorben.25 Seine Poetik-Vorlesungen bezeugen diese tiefe Verwurzelung in der klassischen Dichtung. Schon Spee baute auf einer humanistischen Gelehrtendichtung auf, mithin einer früheren Stufe des Antikenkults. Allerdings erreichte er, im Gegensatz zu Keble, den Rang großer Kunstdichtung. Was Keble aus komparatistischer Sicht besonders interessant macht ist sein ausgeprägtes Interesse an der Naturdarstellung in der antiken Dichtung. Er versteht es, wie Spee, diese kunstvolle, an sich heidnische Formensprache in den Dienst seiner Erbauungsliteratur zu stellen. Dies ist ein bemerkenswertes Phänomen europäischer Literaturtradition im Sinne von Ernst Robert Curtius. Dass die alt- und neutestamentarische Bildlichkeit und die Kirchenväter weitere Schichten bilden, die der europäischen Erbauungsliteratur gemeinsam sind, versteht sich. Ein besonderer Erkenntnisgewinn besteht darin, dass Keble über jene antike Naturdarstellung ausführlich in seinen Poetik-Vorlesungen reflektiert (es darf hier außer Betracht bleiben, dass die klassische Philologie heute wohl zu etwas anderen Ergebnissen kommen würde). Eine besondere Vorliebe hegte Keble für Vergil, den Dante als Führer ausgewählt habe wegen seiner platonischen Jenseitsvisionen und weil er in die alte Welt gesandt worden sei, um den Glauben zu befördern. Seine zahllosen Nachfolger hätten seine Art der Naturfrömmigkeit fortgesetzt.26 Keble begründet seine Poetik darauf, dass alle Dichtung letztlich dem Zweck diene, der Religion den Weg zu bereiten. Die Literaturgeschichte ist mithin ein indirektes Instrument der Heilsgeschichte, dies gilt für die Hebräer ebenso wie für die Griechen und Römer: »there has seldom been a revival of religion unless a high and noble order of poets has first led the way.«27 Allerdings gibt es schon in der Antike – wie in der Neuzeit – einen oberflächlichen Genuss der Natur: Keble zählt Theokrit, Aristophanes, Catull und Horaz zu den selbstverliebten Epikureern, Lukrez – Vergils Vorbild – sei eine Übergangsfigur, er leugne zwar einen Schöpfer, hat aber einen Sinn für die vanitas der Welt und das Unendliche, Unergründliche.28 Man darf nicht vergessen, dass die humanistische, weltzugewandte Sicht der Natur voller Sinnenfreude ist, die sich jedoch für Keble in eine gute und eine schlechte teilt. Im Vergleich zu Spee verwendet er daher die geistliche Erotik viel seltener.
Vgl. Edgecombe, Two Poets of the Oxford Movement, 42. Vgl. Keble’s Lectures on Poetry, Bd. 2, 472. 27 Ibid., 473. Siehe auch Walter Locks Erläuterung in John Keble, The Christian Year, hg. W. Lock, London 1912, 77. 28 Vgl. Keble’s Lectures on Poetry, Bd. 2, 289, 333 – 336, 348. 25 26
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Wie jener vermag er jedoch die Fülle der Naturlaute zum Gotteslob erklingen zu lassen, ohne dabei dessen Musikalität zu erreichen. Ein gemeinsames Lieblingsmotiv ist das Echo, das in der neulateinischen Dichtung häufig anzutreffen ist, mit dem allerdings auch Wordsworth gespielt hat.29 Das Echo gehört zum Gegenstand der Landschaft und wo diese als Thema ausgiebig entwickelt wird, kann es aufleben, wie in Kebles Zeile »Now the tir’d hunter winds a parting note, | And Echo bids good-night from every glade.« (CY 279) Beide Dichter verwenden es, um die ganze Schöpfung mit Gotteslob zu erfüllen: »Von Jesu will ich überall, | In Feld’ und Weiden singen, | Von ihm soll Schall und Wiederhall | In Luft und Klüfte dringen.« (TN 213) The prayers are o’er: why slumberest thou so long, | Thou voice of sacred song? | Why swell’st thou not, like breeze from mountain cave, | High o’er echoing nave (CY 389) We were not by when Jesus [der Auferstandene, A.W.] | came, | But round us, far and near, | We see His trophies, and His name | In choral echoes hear. (CY 298) Such are the notes that echo through | The courts of Heaven to-day (CY 308) One Name above all glorious names | With its ten thousand tongues | The everlasting sea proclaims, | Echoing angelic songs. (CY 81) Lord, by every minstrel tongue | Be thy praise so duly sung, | That thine angels’ harps may ne’er | Fail to find fit echoing here […] (CY 114)
Die Sphären des ganzen Himmels erschallen in einem endlosen Widerhall: What sudden blaze of song Spreads o’er th’ expanse of Heav’n? In waves of light it thrills along, Th’ angelic signal given – ›Glory to God!‹ from yonder central fire Flows out the echoing lay beyond the starry quire; Like circles widening round Upon a clear blue river, Orb after orb, the wondrous sound Is echoed on for ever: ›Glory to God […]‹ (CY 25)
Die kleinsten Rinnsale werden zu Bächen, die zu einem tosenden Strom zusammenfließen, und versinnbildlichen so, wie durch das Zusammenspiel selbst der schwächste Naturlaut zu einem gewaltigen Chor anschwellen kann: »streams shall meet it by and by | From thousand sympathetic hearts, | Together swelling high | Their chant of many parts.« (CY 145). Eine Gemeinsamkeit ist der charakteristische Dreiklang singender Vögel, rauschen29 Siehe hierzu Alois M. Haas, Sermo mysticus. Studien zu Theologie und Sprache der deutschen Mystik, 2. Aufl., Freiburg 1989, 341 – 342.
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der Blätter und fließenden Wassers. Die Vogelstimmen »schallen, | In grün belaubten Holz […] Die Bäumlein reich an Zweigen | Auch singend, sausend geh’n […] Die Bächlein niedlich rauschen, | Und fröhlich klingeln zu, | Auch Gras und Blätter lauschen, | In gleichem Klang’ ohn Ruh.« Die Menschen sollten einstimmen in diesen Chor und »in liebevollem Bunde« die »Hymnen rauschen lassen.« (TN 115 – 117). Keble entwickelt denselben Dreiklang: »In the low chant of wakeful birds, | In the deep weltering flood, | In whispering leaves, these solemn words – | ›God made us all for good.‹« (CY 209). Ein Sinn für die Harmonie in der Natur ist nach Keble eine anthropologische Konstante und nicht abhängig von kulturellem Wissen; schon vor der Entwicklung der Bukolik seien die Griechen für die Schönheit der Natur empfänglich gewesen: Merely by listening to the innumerable variety of the sounds with which woods, seas, rivers, and the blended songs of birds, fill our ears, all men who are not wholly unmusical give back the sounds from within, and, with none to teach them, frame for themselves each his own melody. But this fact is overlooked by the ordinary observer who demands some formulated laws of music and of song.30
Jedes Volk bilde zunächst eine Literatur über Krieg und Tatmenschen aus. Dann finde man »poets whose interest and effort lay, not in the deeds and fortunes of men, but in rivers, in woods, in rocks, and desert regions, in the haunts of beasts and birds: briefly, in all that variety of beauty with which Nature has adorned the face of earth and sky.«31 Auf diese Weise wird das »sanfte Gesetz« geradezu zum literarhistorischen Modell erhoben. Dabei sind heimatliche Umgebung und Klima, im Sinne Herders, für die Landschaftsdichtung prägend: »Each man’s disposition and actual circumstances are blended with and influenced by his external environment, such as the climate and site of his home, and all the array of natural objects which appeal to his eye or ear.«32 Zu den wiederkehrenden Themen der Naturbeschreibung von Kebles bevorzugtem Landschaftsdichter Vergil zählen die Gewässer: »It is to rivers that he most often returns, being, if there ever was one, a devoted admirer of flowing waters.«33 Das Christian Year, wie auch die Trutz-Nachtigall, folgen seinem Beispiel: Keble’s Lectures on Poetry, Bd. 2, 259. Ibid., 256. 32 Ibid. 33 Ibid., 435. Siehe auch Bd. 2, 166: »Pindar […] expresses himself as if convinced that the familiar founts and springs of each man’s native place would prove to him, so 30 31
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Go up and watch the new-born rill Just trickling from its mossy bed, Streaking the heath-clad hill With a bright emerald thread. Canst thou her bold career foretel, What rocks she shall o’erleap or rend, How far in Ocean’s swell Her freshening billows send? […] Or canst thou guess, how far away Some sister nymph, beside her urn Reclining night and day, Mid reeds and mountain fern, Nurses her store, with thine to blend When many a moor and glen are past, Then in the wide sea end Their spotless lives at last? (CY 144 – 145)
Wasser- oder Quell-Nymphen gehören zum festen Personal der Eklogen Vergils wie der barocken Schäferdichtung. Der Brünnlein klar und Quellen rein, Viel hie, viel dort erscheinen, All silberweisse Töchterlein Der hohen Berg’ und Steinen. In grosser Meng’, Sie mit Gedräng, Wie Pfeil’ von Felsen zielen. Sie fliessen her, und rauschen sehr Und mit den Steinlein spielen. […] Die Wald- und Wasser-Nymphen Gehn wieder froh im grünen Holz, Mit Spielen, Scherz und Schimpfen. (TN41 – 42, siehe auch TN 13)
Schließlich wird aus den Rinnsalen ein mächtiges Meer (vgl. die oben zitierten Verse CY 145). Auf dieses Bild folgt wieder der typische Katalog von Bäumen, Zweigen, Blättern und Vogelgesang. (TN 121 – 122)
to say, a fountain of poetic inspiration: a view, in my opinion, which has in it a large measure of truth.«
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Frisch hin und her geh’n wanken Die klaren Bächlein krumm, Und mit dem Steinlein zanken, Wenn sie sich biegen um. […] Das wilde Meer nun brauset Und wüthet ungestüm; Nun still es wieder sauset, Liegt fest in runder Krümm. (TN 120 – 121)
Für den Kirchenvater Ambrosius war – nach Kebles Bezeugen – ins Meer fließendes Wasser ein Zeichen für die Menschen, die in der Kirche Christi vereint sind.34 Das Meer gehört, wie der Himmel und das Licht, zur Unendlichkeitsmetaphorik und hatte laut Keble schon in der antiken Dichtung eine therapeutische Funktion: Aischylos »bears testimony to that soothing power of the mighty ocean which I think we one and all feel, when jaded and overstrained in mind, we greet the sights and sounds of sea-shore with its waves and rocks.«35 Das gelte besonders für den Horizont, wo Himmel und Meer aufeinandertreffen. Mystisch ist der Vorgang des Versenkens im Endlosen: »I shall sink in yonder sea of light« (CY 173) oder »In fearless love and hope uncloy’d | For ever on that ocean bright | Empower’d to gaze; and undestroy’d, | Deeper and deeper plunge in light.« (CY 23) Wie Spee kennt Keble die Vorstellung des Gnadenmeers: »Creator, Saviour, strengthening Guide, | Now on Thy mercy’s ocean wide | Far out of sight we seem to glide. | Help us, each hour, with steadier eye | To search the deepening mystery, | The wonders of Thy sea and sky.« (CY 193) Auch kann man in der endlosen Wellenbewegung des Meers ein Sinnbild des Unbewegten Bewegers sehen: »His chime of restless motion; | Still as the surging waves retire | They seem to gasp with strong desire, | Such signs of love old Ocean gives, | We cannot choose but think he lives.« (CY 201) Mystische Lichtmetaphorik wird auch in folgenden Belegen verwendet; die Bildlichkeit erinnert an Spees berühmtes Kirchenlied über die Verklärung Christi »Ist das der Leib, Herr Jesu Christ […]«.
34 Keble zitiert in Tract 89, 153 f., folgende Passage aus Ambrosius, wonach das Rauschen der wogenden Wellen den widerhallenden Gesang der vereinten Kirche darstellt: »What else is that concert of waves but a kind of concert of the people? For which cause it is a true similitude, which is commonly made of the sea to a Church, first receiving or swallowing by all its porches certain waves of people entering in long array, then in the prayer of the whole congregation sounding as with refluent waves, when in harmony to the responsories of the Psalms an echo is made, a breaking of waves, by the chanting of men and women, of virgins and children.« 35 Keble’s Lectures on Poetry, Bd. 1, 371.
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Is it, CHRIST’S light is too divine, We dare not hope like Him to shine? But see, around His dazzling shrine Earth’s gems the fire of Heaven have caugh. (CY 293 – 294) Thus, ever brighter and more bright, On those He came to save The Lord of new-created light Dawn’d gradual from the grave. (CY 300)
In abgeschwächter Form nimmt Keble auch die Brautmystik auf, von der er trotz der Zurückhaltung gegenüber der geistlichen Erotik manchmal Gebrauch macht. Die sponsa kann dabei je nach Kontext die Einzelseele oder auch die Kirche sein, wie in der ungewöhnlich scharfen Kritik an den falschen Priestern der Broad Church oder Evangelicals, die sich an ihr vergreifen: »Who then, uncall’d by Thee, | Dare touch thy spouse.« (CY 314) Souls […] meet for his bridal board (CY 58) how best the soul may cling | To her immortal Spouse and King (CY 84) kind husband of my heart (CY 116) Thou, who didst watch thy dying Spouse | With pierced hands and bleeding brows (CY 380) Thy Church and Bride […] Thou art her only spouse. (CY 313) Hear them, kind Saviour – hear thy spouse (CY 366) The widow’d Spouse of Christ: with ashes crown’d (CY 389)
Die Turteltaube des Hohenlieds seufzt nach ihrem Geliebten, in jenem Tonfall, der für die Trutz-Nachtigall so charakteristisch ist: »her tears are bitter, and as deep | Her boding sigh« (CY 170).36 Die Trauer wird durch den beklagenswerten Zustand einer umherirrenden Kirche noch verstärkt: Seest thou, how tearful and alone, And drooping like a wounded dove, The Cross in sight, but Jesus gone, The widow’d Church is fain to rove? (CY 358) So let thy turtle dove’s sad call arise In doubt and fear Through darkening skies, And pierce, O LORD, thy justly sealed ear, Where on the house-top, all night long, She trills her widow’d, faltering song. (CY 169)
Vereinzelt begegnen auch Stilelemente des geistlichen Petrarkismus wie Pfeile und feurige Augenblitze: »Es kamen Pfeil’ geloffen | Von seinen [Jesu] Aeuglein theu’r, | So mir das Herz getroffen | Mit bittersüssem 36 Keble, Tract 89, 157, weist darauf hin, dass Ambrosius die Turteltaube als Zeichen des keuschen Witwenstandes, die Taube als Zeichen der Gnade ausgelegt habe.
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Feu’r.« (TN 54) »The writhings of a wounded heart | Are fiercer than a foeman’s dart.« (CY 125) »And wilt Thou hear the fever’d heart | To Thee in silence cry? | And as th’ inconstant wildfires dart | Out of the restless eye.« (CY 46 ) In diesen Zusammenhang gehört auch die Kostbarkeitsmetaphorik, in der die Trutz-Nachtigall wiederholt schwelgt: »Daphnis doppelt Thränen leidet, | Weisse Perl’, Corallen roth.« (TN 234); »golden crown on high, […] Rich with celestial jewelry […] gemme’d with pure and living light.« (CY 124) »Worthless and lost our offerings seem, | Drops in the ocean of his praise; | But mercy with her genial beam | Is ripening them to pearly blaze, | To sparkle in His crown above.« (CY 65) Keble und Spee verwenden die Vorstellung, dass selbst »Stones in earth’s dark womb« (CY 114) »Der Erde reiches Eingeweid« (TN 156, 166) wie Erze, Kohlen, Gold, Silber, Kristalle, Edelsteine, Perlen in das Lob einstimmen. Bemerkenswert ist, dass Keble manchmal vorsichtig den von Spee häufig verwendeten bernhardinischen Wundenkult aufgreift und das trotz aller theologischen und ästhetischen Vorbehalte seiner Zeitgenossen: »All meine Freud verborgen | In Jesu Seiten liegt, | Dort töne jeden Morgen | Ein himmlisches Gedicht.« (TN 103) »Sprinkled with His atoning blood | Safely before our God we stand« (CY 247) »And bury in His wounds our earthly fears.« (CY 401) Selten arbeitet Keble diesen sensiblen Bildbereich weiter aus: Lo, at thy feet I fainting lie, Mine eyes upon thy wounds are bent, Upon thy streaming wounds my weary eyes Wait like the parched earth on April skies. Wash me, and dry these bitter tears, O let my heart no further roam, ’Tis thine by vows, and hopes, and fears, Long since – O call thy wanderer home; To that dear home, safe in thy wounded side, Where only broken hearts their sin and shame may hide. (CY 134 – 135)
Kebles tiefgläubige Auffassung der Sakramente, die sich aus der zeitgenössischen anglikanischen Kirche heraushebt, zeigt sich am verwandten Bild des Brunnens, der in der Trutz-Nachtigall ein bestimmendes Element des Titelkupfers bildet: Where ist it, mothers learn their love? – In every Church a fountain springs O’er which th’ eternal Dove Hovers on softest wings.
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What sparkles in that lucid flood Is water, by gross mortals ey’d: But seen by Faith, ’tis blood Out of a dear Friend’s side. (CY 368)
Keble scheint mit der Emblematik des Titelkupfers vertraut gewesen zu sein: »[the] emblem of His vow […] His dove-like soul – best sacrifice – | Did on God’s altar lay.« (CY 310) Im Taufbecken jeder Kirche wird durch das Blut Christi die Sünde abgewaschen. Um die Bedeutung des Christian Year zu erwägen muss man verstehen, dass dies für Keble kein symbolischer Akt, sondern durch den Glauben ein wirklicher Vorgang war. Die Taube und die erwähnte Nachtigall sind Beispiele für den Bildbereich der Vögel, den Keble wie Spee besonders entwickeln. The lark is soaring high (CY 62) the Lark | Mounts up with glistening wing (CY 87) larks in purest air (CY 160) Faint as the pipe of wakening lark (CY 372) Cheerful as soaring lark, and mild | As evening blackbird’s full-ton’d lay (CY 360) Sweet Dove! (CY 86) The gracious Dove, that brought from Heaven | The earnest of our bliss (CY 106) Soft as the plumes of Jesus’ Dove (CY 166) Softer than gale at morning prime | Hover’d His holy Dove (CY 180) the mystic Dove (CY 190) descending Dove (CY 314) Jesus’ holy Dove (CY 317) the all-gracious Dove (CY 388) like a faithful Dove (CY 403) floating on its dovelike way (CY 410) The red-breast warbles round this leafy cove (CY 273) O sweetly then far off is heard | The clear note of some lonely bird. (CY 168)
Keble verweist auf den Deutungshintergrund der antiken Dichtung und der Kirchenväter. Zwei seiner Lieblingsdichter bevorzugten dieselbe Bildlichkeit: Aischylos und Vergil. Für Vergil insbesondere seien die Vögel ein Medium gewesen, um den Willen der Götter zu ergründen. Er habe aus ihrem Gebaren Hinweise über das Schicksal gelesen. Eine besondere Vorliebe habe er für Tauben gehabt (es ist offensichtlich, an welche Präfiguration Keble denkt).37 Für die literarische Rolle der Nachtigall sei Aischylos wegweisend gewesen: »The Chorus, it is true, had – as is usually done – compared the voice of this bird, which is generally heard at night, with the tearful strains of Cassandra, as though the nightingale’s note was fitted by nature only to express wailing and lamentation.«38 Der melodische, nächtliche Gesang der Nachtigall werde mit Trauer und Melancholie verbunden, besonders seit Vergils Georgica IV, 513 – 515. Diese Charakterisierung sei in der Neuzeit aufgenommen worden: »Milton, too, has more than once indicated his view that the nightingale’s song typifies a mind smitten with 37 Vgl. Keble’s Lectures on Poetry, Bd. 2, 409 f., 458. Diese Auspizien spielten im römischen Staatswesen eine große Rolle. 38 Ibid., Bd. 1, 386.
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love passion or wearied with confusions and follies of life.«39 Spees TrutzNachtigall ist die geistliche Kontrafaktur hierzu. Man stößt an solchen Stellen, wo eine ausgeprägte Naturdarstellung eine geistlich umdeutbare Topik hervorbringt, auf eine gemeinsame humanistische Grundlage der Erbauungsliteratur, die zu verschiedenen Zeiten wieder belebbar ist. Keble erläutert die christliche Auslegung dieses Bildbereichs: The flight and hovering of birds, again, is a token that there are Powers in heaven above who watch our proceedings in this lower world. Hence a well-known saying of our Lord’s is quoted by St. Ambrose as follows: ›The birds of heaven do always behold the face of My Father which is in heaven.‹ And the clause, ›Birds around the firmament of heaven,‹ intimates that the Powers which are in that visible space, behold all things in this region, and have all brought under the observation of their eyes.40
All diese Belege zu Elementen, Pflanzen- und Tierwelt gehören in das ›Buch der Natur‹, auf das Keble mehrfach anspielt. Entscheidend ist für ihn, wie wir sehen werden, dass nur der Ehrfürchtige darin zu lesen vermag:41 Mine eye unworthy seems to read One page of Nature’s beauteous book: It lies before me, fair outspread – I only cast a wishful look. (CY 21) There is a book, who runs may read, Which heavenly truth imparts, And all the lore its scholars need, Pure eyes and Christian hearts. (CY 79) He, merciful and mild, As erst, beholding, loves his wayward child; When souls of highest birth Waste their impassion’d might on dreams of earth, He opens Nature’s book, And on his glorious Gospel bids them look, Till by such chords, as rule the choirs above, Their lawless cries are tun’d to hymns of perfect love. (CY 68)
Besonders archaisch ist die Charakterisierung des Buchs, das die Gestalt einer mittelalterlichen Handschrift oder Bilderbibel (Biblia pauperum) annimmt. Statt des Wortkults der modernen deutschen Theologie und des Higher Criticism herrscht hier eine intuitive Schau in einen Himmels- und Welt-Spiegel. Nur das gestählte Auge kann jedoch die göttliche Wahrheit 39 40 41
Ibid., 387. Keble, Tract 89, 153. Siehe auch die Einführung zu Keble, The Christian Year, hg. W. Lock, xiii.
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sehen: der Adler, der in die Sonne blicken kann, ist ein beliebtes Sinnbild des Barock.42 Hold up thy mirror to the sun, And thou shalt need an eagle’s gaze, So perfectly the polish’d stone Gives back the glory of his rays: Turn it, and it shall paint as true The soft green of the vernal earth, And each small flower of bashful hue, That closest hides its lowly birth. Our mirror is a blessed book, Where out from each illumin’d page We see one glorious Image look All eyes to dazzle and engage, The Son of God: and that indeed We see Him as He is, we know, Since in the same bright glass we read The very life of things below. (CY 340 – 341)
Der wohl wichtigste theologische, aber auch literarische Begriff, der Kebles ganzes Denken und Werk mehr als jeder andere erschließt, ist das Reserve, eine Scheu oder Zurückhaltung, zugleich eine vermittelte Art des Redens. Dieser Begriff besagt, dass man sich dem Höchsten und Heiligsten nicht schnell und unvermittelt nähern kann, wie es etwa heute von jedem Konsum-Objekt erwartet wird, sondern dass nur aus einem ehrfürchtigen Abstand die langsame Erkenntnis Gottes möglich ist. Die Sphäre des Sakralen ist zu schützen vor dem unbedarften oder unwürdigen Zugriff. Zugleich würde der unvorbereitete Betrachter durch den Anblick göttlicher Wahrheit erblinden. Was hier mit Stifters »sanftem Gesetz« umschrieben wurde, überschneidet sich mit diesem Begriff. Denn nur der geduldige, einfühlsame Beobachter wird schließlich in den unscheinbaren Dingen die höchsten Mächte wirken sehen. »The raging Fire, the roaring Wind, | Thy boundless power display: | But in the gentler breeze we find | Thy Spirit’s viewless way.« (CY 81) Durch einen Schleier wird in Umrissen erkennbar, was das bloße Auge blendet. Das Buch der Natur umgibt ein solcher Schleier, durch den recht zu blicken jedoch gelernt sein will. »When Nature tries her finest touch, | Weaving her vernal wreath, | Mark ye, how close she veils her round, | Not to be trac’d by sight or sound, | Nor soil’d by ruder breath?« (CY 104)43 42 Vgl. Arthur Henkel, Albrecht Schöne (Hgg.), Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des 16. und 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1976, 773 –775.
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In der Literatur haben die Verwendung von Allegorie und Emblematik ebenfalls eine verschleiernde Funktion – sie gehören im weiteren Sinne zu den Tropen, den Ausdrucksmitteln indirekten Sprechens, wie sie in der Barockliteratur gehäuft vorkommen. In seinen Poetik-Vorlesungen merkt Keble an, dass Theokrits und Vergils Nachfolger die Allegorie zwar trivialisiert hätten, dennoch: »The thin veil of allegory […] enables the poet to introduce in support of the feeling which he is portraying, those objects in which all poets are wont, and rightly wont, to take eminent delight, woods, mountains, and trees, in short, all that belongs to the country and rural life.«44 Dieses Prinzip des Reserve erlaubt übrigens einen vortrefflichen Zugang zur Besonderheit der Spee’schen Dichtung, denn dessen religiöses Empfinden wird ebenfalls durch einfallsreiche und sinnbildliche Kunstmittel verhüllt. Dieselbe Beobachtung macht Keble auch über George Herbert: This is effected […] by the tact or judgement of writers, in choosing subjects somewhat remote from those which in truth hold their affection. […] Such is, to a great extent, the method of our own Herbert, who hides the deep love of God which consumed him behind a cloud of precious conceits: the result appears to most readers inappropriate, not to say chilling and repellent.45
Dies sei nur zum Teil durch den Stil der Epoche zu erklären, für Keble ist der eigentliche Grund ein anderer: »It was Herbert’s modest reserve which made him veil under these refinements his deep piety.«46 Diese Einsicht wirft ein neues Licht auf Spee, der oft des Concettismus bezichtigt wird. Auch dass Keble seine Poetik-Vorlesung auf Latein gehalten hat ist – wie das Studium der antiken Literatur überhaupt – ein Mittel der Zurückhaltung.47 Andererseits hat Keble auch Erbauungsschriften für Kinder verfasst.48 Man fühlt sich daran erinnert, dass Leibniz das Güldene TugendBuch für das tiefsinnigste Buch gehalten hat, das er je gelesen habe. Diese Hochachtung des Gelehrtesten für Spees kindliche Unterweisung, durch die das Höchste am einfachsten ausgedrückt wird, kann auch als eine Art von Reserve aufgefasst werden: »The child-like faith, that asks not sight, | Waits not for wonder or for sign, | Believes, because it loves, aright – | Shall see things greater, things divine.« (CY 343) Siehe die Anmerkung in Keble, The Christian Year, hg. W. Lock, 80 – 81. Keble’s Lectures on Poetry, Bd. 2, 98. 45 Ibid., 99. 46 Ibid. 47 Vgl. ibid., 314. 48 Vgl. John Keble, Lyra Innocentium. Thoughts in Verse on Christian Children, their Ways, and their Privileges, Oxford 1846. Diese Gedichtsammlung wurde wegen ihrer Marienverehrung heftig kritisiert. 43 44
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Trotz mancher gemeinsamer Wurzeln Kebles und Spees im Humanismus, der klassischen Literatur der Antike und den Kirchenvätern bleiben viele Unterschiede doch unverkennbar. Nur einige für diese Untersuchung wesentlichen Aspekte seien erwähnt. Keble ist der zeitgenössischen Landschaftsschilderung Wordsworths verpflichtet. Deshalb entwirft er oft ganze, räumlich gegliederte, geographisch bestimmbare Landschaften, die subjektiv-stimmungshaft wahrgenommen und verarbeitet werden. Der frühneuzeitlichen Literatur ist dies fremd, sie arbeitet mit Katalogen von Topoi und dies gilt – Kebles Antikenverehrung zum Trotz – auch für die lateinische Schäferdichtung. Für den heutigen Leser ist die Natur ein Fluchtort aus einer entfremdeten technisierten Welt. Keble liefert schon Ansätze hierzu; die Barockliteratur so zu lesen führt allerdings in die Irre (trotz des beliebten Gegensatzes zwischen Stadt und Land seit der Bukolik). Auch wenn einzelne Stilelemente für Keble durchaus in abgeschwächter Form ab und zu verwendbar waren, hat die für das Barock so charakteristische Häufung concettistischer, preziöser Bildlichkeit eine andere Qualität. Das gilt noch mehr für die durch das Hohelied angeregte geistliche Erotik: hier drohte die Nähe zu Epikur. Andere Unterschiede kommen hinzu: auch wenn Keble Harmonie, Musik, Hymnus thematisierte und geistlich auslegte fehlte ihm doch das musikalische Talent, das Spees Versmelodik auszeichnet. Er ersetzte es durch technisches Verständnis der Prosodie, das er sich durch Gelehrtenfleiß erworben hatte: So ist das Ergebnis eine Art Pastiche, teils archaisierend, teils zeitgemäße Dichtung im Stile Wordsworths, eben Gelehrtendichtung, aber aus der Feder eines einfühlsamen, tiefgläubigen Theologen, der seiner Leserschaft etwas zu bieten vermochte, wonach sie dürstete. Bemerkenswert ist jedoch, dass im Soge der großen Wirkung Kebles auch die Dichtung der frühen Neuzeit wieder neu entdeckt und gelesen wurde. Francis T. Palgrave, der von 1885 bis 1895 – wie Keble vor ihm – eine Poetik-Professur in Oxford innehatte und in seinen geistlichen Lyrik-Anthologien das 17. Jahrhundert zu Worte kommen ließ, wies rückblickend auf die Parallelen zwischen dieser Epoche und Keble hin: »Attention may however be called to the close parallelism between the impulses which, respectively, supplied their wealth of poetic material and inspiration to Herbert and Vaughan, and, in our own day.«49 Zu Kebles Behandlung der Natur notiert er: »In refinement of feeling for nature, in the human, sympathetic attitude towards things inanimate, and again, in the sense how often these are more happily gifted than mankind, we are here closely reminded of Vaughan.«50 49 Francis T. Palgrave (Hg.), The Treasury of Sacred Song. Selected from the English Lyrical Poetry of Four Centuries, Oxford 1890, 354.
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Henry Vaughans Gedicht »Retirement« soll Kebles »St. Matthew« (CY 345 – 348) inspiriert haben.51 In den Gedichten »Rules and Lessons« und »The Bird« entwickelt Vaughan das Thema des morgendlichen Lobgesangs, in den Vögel, Quellen, Blätter, Hügel, Täler einstimmen; sogar die stummen Gesteine blicken voller Ehrfurcht auf, »stones are deep in adminration«.52 Schon für Vaughan ist die ganze Natur also ein Mittel der demütigen geistlichen Betrachtung: To heighten thy devotions, and keep low All mutinous thoughts, what business e’er thou hast, Observe God in His works; here fountains flow, Birds sing, beasts feed, fish leap, and th’ earth stands fast; Above are restless motions, running lights, Vast circling azure, giddy clouds, days, nights. When Seasons change, then lay before thine eyes His wondrous method; mark the various scenes In heaven; hail, thunder, rain-bows, snow and ice, Calms, tempests, light, and darkness, by His means: Thou canst not miss His praise; each tree, herb, flower Are shadows of His wisdom, and His power.53
Ein weiterer Beleg für die Aufmerksamkeit, die Keble auf seine Vorläufer gelenkt hat, ist die Ausgabe Dies Consecrati or, a New Christian Year with the Old Poets, in der Henry Edward Manning – Kebles Muster einer Lyriksammlung zu den Sonn- und Feiertagen des Kirchenjahrs folgend – eine umfangreiche Anthologie geistlicher Gedichte des 17. Jahrhunderts zusammengestellt hat.54 Manning gehört zu den schillernden Figuren dieser kirchengeschichtlichen Epoche, seine Wege überschnitten sich mit dem Oxford Movement und er ist 1851 auch zur Kirche Roms übergetreten und schließlich Erzbischof von Westminster geworden. Über George Herbert merkt Manning in seinem New Christian Year an: »His poems, which had an unexampled popularity in the century when they were published, and almost forgotten in the next, are now valued by many a pious heart.«55 Übrigens ist die berühmte literarische Polemik gegen Manning, – aber auch Keble, Newman und das Oxford Movement – aus der Feder Lytton StratIbid., 355. Siehe die Anmerkung in Keble, The Christian Year, hg. W. Lock, 254; Palgrave, The Treasury of Sacred Song, 92. 52 Ibid., 82, 96. 53 Ibid., 82. 54 Vgl. Henry Edward Manning (Hg.), Dies Consecrati or, a New Christian Year with the Old Poets, London 1855. 55 Ibid., 322. 50 51
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cheys ein Zeugnis dafür, wie das Nervenkostüm der vermeintlich abgeklärten englischen Intellektuellen bis ins zwanzigste Jahrhundert von einer kleinen Schar Kirchenmänner erschüttert worden ist. Zwischen den spöttischen Zeilen der 1918 erschienenen Eminent Victorians ist immer noch das Entsetzen zu spüren über die Provokation, dass jemand es gewagt hatte, die Glaubens-Konventionen der anglikanischen Kirche beim Worte zu nehmen.
Exempla, Apparitions and Transatlantic Protestantism Cultural Narratology and Cotton Mather’s Short Narration By Martin Seidl I. As a prolific writer of theological, historical and scientific works, Cotton Mather’s use of embedded short narratives has been met with a mixed critical response. While Alfred Weber regards them as important contributions to the development of the short story, most anthologies and histories of that genre derided storytelling previous to Washington Irving as »didactic,« »formless« and thus to be neglected.1 Instead of reiterating nineteenth century notions of form and literature as art for art’s sake, my essay will focus on the historical function of narrative in the seventeenth century by putting Mather’s storytelling in the context of contemporary British non-conformist writing. In this shared cultural space, I want to trace the development of Mather’s narratives from the classical structure of the exempla to more open and empirical narrative forms through an analysis of their emplotment and embedding. Using a narratological approach, I will argue that Mather participates in a transatlantic development of narrative forms such as the exemplum and apparition tale whose use of narrative devices in turn mirrors their cultural function. Considering the difficulties of finding common criteria for defining and evaluating the short story, it becomes clear that descriptive approaches rather than normative definitions are needed to cover the variety of short narrative forms.2 In order to define seventeenth century short narratives, I 1 Cf. Alfred Weber, »Die Anfänge des kurzen Erzählens in Amerika des 17. und 18. Jahrhunderts: Die ›Providences‹ der Amerikanischen Puritaner«, in: Dieter Meindl (ed.), Mythos und Aufklärung in der Amerikanischen Literatur, Erlangen 1985, 55 – 70, 55; Fred Lewis Pattee, The Development of the American Short Story: An Historical Survey, New York 1966, 1; Arthur Voss, The American Short Story: A Critical Survey, Norman 1973, 3.
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will use the characteristics of a story that most narratologists agree on: it consists of a limited series of events that revolve around one or several characters, which are related, for instance via causality, and constitute a self-contained and closed unit. Hereby, I am differentiating between storytelling and Mather’s biographical and historical writing that also portrays events centering on one character but that are not always linked by causality and also lack the limited and self-contained structure of a story. As examples, I will use narratives from Cotton Mather’s sermon Terribilia Dei (1697), the church history of New England Magnalia Christi Americana (1702), an apparition tale from Triparadisus (1726 – 7) and comparable British works from the same period. Scholars like David D. Hall and James Hartman have classified these narratives as providence tales and my analysis will focus on the narrative devices that define this genre and its functions.3 While the cultural context and the popularity of the providence tale has been well documented on both sides of the Atlantic, Weber was the first to recognize their narrative potential and relate them to the development of the American short story.4 According to Weber, Mather’s providence tales transcend their religious purpose and establish the role of literature in colonial life: They fulfill the same functions of every serious and meaningful type of literature: to gain knowledge and present ways of coping with reality. They receive their dramatic quality from the regularly surfacing awareness of the constant danger of the soul in the midst of the perpetual battle between God and Satan. [my translation]5 2 Cf. Michael Basseler, »Theories and Typologies of the Short Story«, in: Michael Basseler, Ansgar Nünning (eds.), A History of the American Short Story: Genres – Developments – Model Interpretations, Trier 2011, 41 – 64, 41; Edward W. R. Pitcher, »Introduction«, in: Edward W. R. Pitcher (ed.), An Anthology of the Short Story in 18th and 19th Century America, 2 vols., Lewiston 2000, vol. 1, 1 – 47. 3 James Hartman offers a very broad definition of the providence tale as relating »the activities of God on earth« in Providence Tales and the Birth of American Literature, Baltimore 1999, 1. Both, Hartman and David D. Hall’s »Worlds of Wonders: The Mentality of the Supernatural in Seventeenth-Century New England«, in: David G. Hackett (ed.), Religion and American Culture, New York 1995, 29 – 52, 29, 31, define the providence as expressing a interest in uncanny and sensationalist events that were recorded in religious and secular publications in England and later in the British colonies. 4 For an overview of providential literature in New England see above and David D. Hall, Worlds of Wonder, Days of Judgment: Popular Religious Belief in Early New England, New York 1989; for England, see Alexandra Walsham, Providence in Early Modern England, Oxford 2003 and also Michael McKeon, The Origins of the English Novel: 1600 – 1740, Baltimore 1987. For surveys of short forms preceding the short story in America, see Weber, »Die Anfänge« and Oliver Scheiding, Martin Seidl, »Early American Short Narratives: The Art of Storytelling Prior to Washington Irving«, in: Basseler, Nünning (eds.), A History of the American Short Story, 67 – 80.
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Weber gives a functional definition of literature and storytelling in particular that should link colonial forms with notions of literature developed in the nineteenth and twentieth centuries. Simultaneously, Weber draws on narratologists and philosophers like Paul Ricœur who have emphasized the universal appeal of storytelling as a way of making sense of the world shared across cultures and centuries.6 Rather than proving their literary value, Weber states that Mather’s short narratives participate in the general functions of storytelling around the world and at all times. His second statement defines the relationship between this universal appeal of narrative and its realization in colonial religious writing. Weber foregrounds the »dramatic quality« of colonial writings alluding to the two concepts investigated by this essay: embedding and emplotment. The narratives in question place events in a sequence that either mirrors the battle between good and evil forces or shows its effects, mostly through relating events as instances of either God’s help or punishment. What each narrative illustrates therefore depends very much on the context of its publication. Studying a range of narratives from the late seventeenth and early eighteenth centuries will reveal shifts in the understanding of what narratives can accomplish. These have so far been described as cultural phenomena but not in regard to narrative form.7 The comparison of British and American providence tales will reveal shared narrative characteristics and how they develop from the seventeenth to the early eighteenth century. ›Providence‹ originally denoted the care and foresight of God, yet during the Reformation, it acquired a more active meaning, namely God’s guidance and intervention in human affairs.8 From a human point of view, God’s universal plan of salvation could only be glimpsed in these specific historical or natural events: »Historical events, like the Reformation in Europe, the Puritan migration to the New World, or violent conflicts with Native Americans, evinced a divine plan for universal history, while natural phenomena such as storms and earthquakes were seen as ›illustrious providences‹ or direct interventions.«9 Thus, most historians and literary critics have used the 5 Weber, »Die Anfänge«, 66: »[Sie erfüllen die] Funktion jeder ernsthaften und bedeutungsvollen Literatur: Erkenntnis zu gewinnen und zu vermitteln und mitzuhelfen, die Wirklichkeit zu bewältigen. Ihre dramatische Qualität erhalten sie durch das immer wieder zutage tretende Bewußtsein von der ständigen Gefährdung der menschlichen Seele, von der immerwährenden Auseinandersetzung zwischen Gott und Satan«. 6 Cf., for example, Paul Ricœur, Time and Narrative, 3 vols., Chicago 1984, vol. 1, 3. 7 Cf. Hartman, Providence Tales, 34. 8 Cf. »providence«, in: The Oxford English Dictionary, London 1997. 9 Cf. Frank Obenland, »Providential Thought in the Puritan Historiography of New England« in: Bernd Engler, Oliver Scheiding (eds.), A Companion to American
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term providence tale for any story of a Godly intervention in human affairs, comprising instances of punishment or deliverances from various dangers as well as answers to prayers. Hartman and others have extended this notion to any tale that relates to God or even the devil’s power, including narratives of Indian captivity and witchcraft cases.10 By nature a religious genre, the providence tale has, according to Hartman, also participated in the epistemological shift towards empiricism and included factual details that are sometimes at odds with its plot patterns.11 Ansgar Nünning maintains that »we know altogether too little about the rich and messy domain of the history of narrative forms and the ways in which they are related to cultural history.«12 So, as Astrid Erll argues, texts do not simply »mirror cultural conditions« or document »past reality.«13 Cultural narratology thus aims to regard narrative structures as »meaningful cultural phenomena themselves« and to relate them to the views and conditions of their time.14 As opposed to the synchronic analysis of structuralism, Monika Fludernik proposes a diachronic analysis of narrative to complement studies of genre and the changing function of literature over time. Fludernik seeks to open up new areas for inquiry by relating the history of a genre to developments in its narrative form, for example. This approach is taken up by this essay that traces narrative »continuities and discontinuities« in providence tales from different times and countries.15 Few studies, among them Martin Klepper’s survey on the use of perspective, have so far investigated the history of specific narrative devices let alone genre developments within the context of changing cultural settings over a longer period of time.16 Still, both conclude that »narratology will benefit greatly from historicizing both the practice and the theories« of narCultural History: From the Colonial Period to the End of the 19th Century, Trier 2009, 87–120, 87. 10 Cf. Hartman, Providence Tales, 38. 11 Cf. ibid., 34, 50. 12 Ansgar Nünning, »Towards a Cultural and Historical Narratology: A Survey of Diachronic Approaches, Concepts and Research Projects«, in: Bernhard Reitz, Sigrid Rieuwerts (eds.), Anglistentag 1999 Mainz. Proceedings, Trier 2000, 345 – 374, 362. 13 Astrid Erll »Cultural Studies Approach to Narrative«, in: David Herman (ed.), Routledge Encyclopedia of Narrative Theory, London 2010, 88 – 92, 91. 14 Ibid. 15 Monika Fludernik, »The Diachronization of Narratology: Dedicated to F. K. Stanzel on his 80th Birthday«, in: Narrative 11.3 (2003), 331 – 348, 332 – 4. 16 Martin Klepper, The Discovery of Point of View: Observation and Narration in the American Novel 1790 – 1910, Heidelberg 2011; cf. Fludernik, »Diachronization of Narratology«, 331.
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rative devices.17 In sum, cultural narratology seeks to answer Wayne C. Booth’s question »Why does a given historical moment foster a given technical and formal revolution?«18 While this approach has not yet been practiced and delineated in detail, it offers a new possibility to describe and theorize seventeenth century religious writing. In their essay The Theory Gap, Ed White and Michael Drexler have sketched the requirements for a theoretical approach to early American literature: it would have to accommodate the context of each text and simultaneously emphasize its literary and formal qualities to access new readings. Surveying early American scholarship to the present, White and Drexler find that it has been closer to the methods and concepts of historians rather than literary studies of other periods. Historical scholarship has opened up a diverse reservoir of texts and provided summaries of the period’s main ideas that have been taken over by early Americanists. They have assembled a body of diverse texts and situated them in the context of their production without focusing on the formal or generic qualities of the texts that would allow for different readings. Subsequently, the canon of early American studies is diverse and fluent and has not developed criteria for literary quality that would allow to consider a text outside of its historical setting and as a testing ground for various theoretical approaches that could explain its makeup. By using the tools and categories of structuralism, cultural narratology offers a way of describing and categorizing textual phenomena. Its findings present, according to Nünning, a basis for further discussion and interpretation but also a testing ground for the applicability or adaptability of theoretical concepts.19 I agree with David Hall who calls the relationship between Protestants on both sides of the Atlantic a »network of intentions« that also formed the basis of a communal literary production among Protestants.20 Hall states that colonial ministers wrote for a nonconformist audience in England as well as for their own congregation and relied on London booksellers for publication and distribution of their works.21 Through the various intermediaries in the process of recording, Cf. Klepper, Point of View, 65. Wayne C. Booth, The Rhetoric of Fiction, 2nd ed., 414, qtd. in: Klepper, Point of View, 65. 19 Cf. Nünning, »Cultural and Diachronic Narratology«, 357. 20 Cf. David D. Hall, Ways of Writing: The Practice and Politics of Text-Making in Seventeenth-Century New England, Philadelphia 2008, 4. 21 Hall, Ways of Writing, 2, 6; cf. Oliver Scheiding, »Diskurse und Praktiken: Zur Literaturwissenschaft im Spiegel der ›neuen‹ Kultursoziologie«, in: Frank Obenland, Oliver Scheiding, Clemens Spahr (eds.), Kulturtheorien im Dialog: Neue Positionen zum Verhältnis von Text und Kontext, Berlin 2011, 177 – 198, 194. 17 18
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editing and printing, a kind of social authorship developed along with a »Protestant vernacular tradition« that marks the communalities of these texts, transcending traditional hierarchies of literary production and creating similarities in style and content on both sides of the Atlantic.22 Likewise, Jan Stievermann maintains that Cotton Mather addressed »an international community of Protestants,« and was an active promoter of ecumenism, exchanging ideas with ministers of many different denominations. With his broad interests and avid reading, Mather participated in the theological and scientific debates of his time.23 In over 5000 letters, he engaged in extended correspondence with the leading figures of his time, among them the Royal Society in London, German Pietists and also authors like Daniel Defoe.24 II. This essay investigates the use and development of providence tales in English and Cotton Mather’s colonial writing via two narrative concepts that make cultural influences visible. Like cultural narratology, the concept of emplotment originates out of an interdisciplinary approach that sees storytelling as a universal human activity and a method to order and represent human experience. According to Paul Ricœur, »[a plot] draws a meaningful story from a diversity of events or incidents […] or […] transforms the events or incidents into a story« and Hayden White adds, that by way of emplotment, »a story is gradually revealed to be a story of a particular kind«.25 It describes the task of each historian to fashion a narrative out of seemingly unconnected events by using recognizable story-patterns that also implies an explanation of how and why things happened. »If, in the Hall, Ways of Writing, 6, 10 – 13. Cf. Jan Stievermann, »Cotton Mather and Biblia Americana – America’s First Bible Commentary: General Introduction«, in: Reiner Smolinski, Jan Stievermann (eds.), Cotton Mather and »Biblia Americana«: Essays in Reappraisal, Tübingen 2010, 1 – 54, 25 – 29. 24 Cf. Ibid., 35; Otho T. Beall, jr., »Cotton Mather’s Early ›Curiosa Americana‹ and the Boston Philosophical Society of 1683«, in: The William and Mary Quarterly 18.3 (1961), 360 – 372, 366; Oliver Scheiding, »The World as Parish: Cotton Mather, August Hermann Francke, and Transatlantic Religious Networks«, in: Reiner Smolinski, Jan Stievermann, Cotton Mather and »Biblia Americana«: Essays in Reappraisal, Tübingen 2010, 131 – 166, 134 – 137; Maximillian Novak, Daniel Defoe: Master of Fictions; His Life and Ideas, Oxford 2001, 278. 25 Ricœur, Time and Narrative, vol. 1, 65; Hayden White, Metahistory: The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore 1975, 7. 22 23
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course of narrating his story, the historian provides it with the plot structure of a Tragedy, he has ›explained‹ it in one way.«26 In both cases, emplotment results in creating a ›whole‹ out of disparate elements, a cognitive and temporal unit that provides an explanation of how and why things happened and contrasts, as Ricœur states, to the episodic and linear sequence of events.27 Ricœur understands mimesis as mediating between the world of the text and the world of the reader in the three steps of prefiguration, configuration and refiguration that create a circle in which text and context overlap. Emplotment’s configuration »of extra-literary elements (the ›real‹ and the ›imaginary‹) into an exemplary temporal and causal order« thus contributes to the cultural dimension of narrative.28 In regard to colonial literature, Bernd Engler and Oliver Scheiding argue that emplotments drawn from Biblical narratives and theological concepts, like Millennialism, are central to Puritan narratives. They use typological structures to connect past and present events and project them into the future to reveal God’s plan with New England.29 In his discussion of English religious narratives, McKeon also refers to the formal influence of »overarching patterns« in genres that revolve around the tension between them and the individual life, such as the spiritual biography.30 By linking patterns of God’s dealings with individuals and the Puritan community at large, »Puritan historiography […] tried to establish an attitude of reverence and to secure the achievements […] of the founding generation.«31 These cultural functions of emplotment can also be found in providence tales that were collected and anthologized since the 1680s. As Engler and Scheiding show, their main purpose was to halt the decline in clerical authority and piety following the death of the founding generation. Firstly, the providential episodes in Cotton Mather’s biographies of first-generation Puritan leaders show how God supported them as they carried out his plan 26 Cf. White, Metahistory, 7. Though I also understand emplotment as a way of explaining events, I am not taking over White’s distinction between romantic, tragic, comic, and satirical emplotment. Instead, my analysis focuses on the patterns developed by transatlantic Protestantism from salvation history or biblical precedents. 27 Cf. Ricœur, Time and Narrative, vol. 1, 67. 28 Cf. Erll, »Cultural Studies Approach to Narrative«, 91. 29 Cf. Bernd Engler, Oliver Scheiding, »Re-Visioning the Past: The Historical Imagination in American Historiography and Short Fiction«, in: Bernd Engler, Oliver Scheiding (eds.), Re-Visioning the Past: The Historical Imagination in American Historiography and Short Fiction, Trier 1998, 11 – 38, 11, 14. 30 Cf. Michael McKeon, The Origins of the English Novel, 1600 – 1740, Baltimore 2002, 90. 31 Cf. Engler, Scheiding, »Re-Visioning the Past«, 16 – 7.
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to settle New England. The second part of the Magnalia is dedicated to the experience of ordinary New Englanders of the day to show the continuation of God’s favor and help from the days of the founding fathers to the present.32 Accordingly, Fludernik argues that »[e]mplotment […] brackets the intentionality […] of apparently sequential actions on the teleological structure of narration.«33 As such, providence tales also participate in the rationalization of the doctrine of Providence.34 Emplotting a sequence of events as an act of God and mirroring his universal plan, they make this Godly agency accessible to human rationality by using everyday circumstances and people as their subjects. For the purpose of this essay, I will define emplotment as ordering events into an intelligible pattern that can be recognized by the audience and contributes to the meaning of the narrative. These patterns are culturally and historically variable and I will therefore try to abstract them from the texts rather than use the types offered by White. Furthermore, emplotment replaces the chronological order of events through causal links or establishes an ending towards which all of the events contribute. Consequently, I understand emplotment as the alignment of various narrative devices, namely, the representation of time, the way a narrative is mediated by narrator and focalizer and the plot-pattern that it follows. Especially the last category illustrates the cultural dimension of emplotment: notions of what is tragic and comic, for example, may vary between different cultures and emplotment relies on the reader’s ability to recognize the underlying structure and interpret it correctly. For this purpose, I will also analyze textual signals in the immediate surrounding of each narrative and the kind of embedding. Since their earliest recording in the cycles of Arabian Nights or Chaucer’s Canterbury Tales, short narratives have mostly appeared integrated in a larger narrative frame that reduplicates the oral situation of storytelling. Including a frame narrative in the text shows how important this context is for the understanding of the story. However, the questions why embedding is »persistent in so many traditions and times, starting with ancient epics to modern times« and how it »relates to the overall plot« are out of grasp of the formal structures analyzed by traditional narratology.35 The terms developed by Gérard 32 Cf. Julie Sievers, »Drowned Pens and Shaking Hands. Sea Providence Narratives in Seventeenth-Century New England«, in: William & Mary Quarterly 63.4 (2006), 743 – 776, 773 – 775. 33 Monika Fludernik, Towards a ›Natural‹ Narratology, London 1996, 321. 34 Cf. McKeon, Origins of the English Novel, 124; Engler, Scheiding, »Re-Visioning the Past«, 27. 35 David Herman, Genette Meets Vygotsky: Narrative Embedding and Distributed Intelligence, in: Language&Literature 15.4 (2006), 357 – 380, 358; cf. William
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Genette and Alfred Weber describe relations between different levels of narration but not different discourses such as argumentation and narrative as they are used in Cotton Mather’s sermons and theological texts.36 While embedding traditionally refers to a story that is integrated into another, the boundary between frame and embedded story in seventeenth century texts often marks the boundary between argumentation and narration as well. While the argument is also furthered by the embedded narrative, its plot, once the frame is closed, is discontinued.37 Ministers like Increase and Cotton Mather collected exemplary narratives of God’s power and edited and integrated them into the argument of their sermons, histories and collections: embedding thus marks the overlapping of two different discourses.38 In the context of transatlantic Protestant writing, embedded narratives »secure the larger, spiritual message« of each text whereas emplotment mirrors patterns that exist outside the text, such as a Biblical precedent.39 Yet embedding also foregrounds the literary practices and role of authorship at that time. To guarantee the factuality of their narratives, collectors of providence tales on both sides of the Atlantic recorded only cases experienced by credible individuals known to them or their contributors. »[M]ost were originally told by individuals not usually recognized as authors – ordinary people […] relying on others to record and publish their narratives«.40 In the process of emplotment and embedding, these narratives acquired specific functions that I want to reconstruct in my analysis. I will thereby concentrate on the way the subject of a narrative is explained or Nelles, »Stories within Stories: Narrative Levels and Embedded Narrative«, in: Brian Richardson (ed.), Narrative Dynamics. Essays on time, plot, closure and frames, Columbus 2002, 339 – 353, 341 – 342, 347. 36 Gérard Genette, Narrative Discourse, Oxford 1980, 232 – 233; Alfred Weber, Die Entwicklung der Rahmenerzählungen Nathaniel Hawthornes: »The Story Teller« und andere frühe Werke (1825 – 1835), Berlin 1973, 24. 37 Cf. Dorothy Z. Baker, America’s Gothic Fiction: The Legacy of Magnalia Christi Americana, Columbus 2007, 143. 38 Peter Navaez calls Increase Mather’s Illustrious Providences »the first American folklore collection« based on the method outlined in its preface. Mather received his narratives through various country ministers who recorded and sent him local stories. Cotton Mather similarly solicited contributions for his Magnalia and enlarged his father’s collection through his extensive network of correspondence and wide reading, cf. »Increase Mather’s Illustrious Providences: The First American Folklore Collection« in: Roger D. Abrahams (ed.), Fields of Folklore: Essays in Honor or Kenneth S. Goldstein, Bloomington 1995, 198 – 213, 198. 39 Baker, America’s Gothic, 143. 40 Sievers, »Drowned Pens«, 748.
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taken up in the framing argument. At the same time, embedding introduces a new diegetic level and a new narrator who disappears once the frame is closed. It thus mirrors the typical situation of a narrator telling a story as in oral discourse, which is the most basic function of embedding also visible in Mather’s texts even though they draw on a variety of written and oral sources alike.41 III. A first transnational and transatlantic genre with roots in the history writing of classical antiquity, the exemplum appeared in medieval sermons and anthologies. The prodigies of natural history as well as legends and folk beliefs informed its content and structure, resulting in a »strange mix« of sources and themes from antiquity to the early church.42 For example, providence collections like John Lydgate’s Fall of Princes (1430s) used the structure of proverbs like »pride will have a fall« and »murder will out« when a haughty woman gives birth to a deformed child and a corpse bleeds anew to reveal the presence of the murderer.43 Others, drawing on the Latin exempla tradition of medieval sermons, illustrate dogmatic and moral precepts by punishing sinners and rewarding saints, as in Thomas Beard’s Theatre of God’s Judgments (1597).44 During the seventeenth century, providential literature was read and written on both sides of the Atlantic and its exchange lead to a transatlantic development of the genre. So, Increase and Cotton Mather knew and cited English providence collections by James Janeway, Joseph Glanvill and Samuel Clarke and in turn inspired English writers such as George Sinclair.45 Cotton Mather’s Terribilia Dei and the Magnalia contain many short warnings or deliverances whereas longer narratives are found in his execution sermon Pillars of Salt (1699) and the Indian captivities in his Humiliations Follow’d by Deliverances (1697).46 All 41 Cf. Carolyn S. Brown, The Tall Tale in American Folklore and Literature, Knoxville 1987, 63. 42 Hall, »The Mentality of the Supernatural«, 34. 43 Walsham, Providence, 97, 99; cf. Richard M. Dorson, America in Legend: Folklore from the Colonial Period to the Present, New York 1973, 26. 44 Cf. Walsham, Providence, 68. 45 Cf. Hall, »The Mentality of the Supernatural«, 43; Coleman O. Parsons, »Introduction«, in: Joseph Glanvill, Saducismus Triumphatus: Or, Full and Plain Evidence concerning Witches and Apparitions, Gainesville 1966, vii – xxiii, xii. 46 These warnings are always embedded either in the argument of a sermon, or, in the case of the Magnalia, in the biographies of New England ministers, see for example John Williams’ admonition of a young servant in: Cotton Mather, Magnalia
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of these sermons use motifs and stories that appeared in personal diaries and collect local events as illustrations as the following examples show. Cotton Mather’s Magnalia includes these two narratives among a collection of providence tales, both old and new ones: An honest Carpenter being at work upon an House, when Eight Children were sitting in a Ring at some childish Play on the Floor below [as] he let fall accidentally from an upper Story, a bulky Piece of Timber just over these little Children. The Good Man, with inexpressible Agony, cry’d out, O Lord direct it, and the Lord did so direct it, that it fell on End in the Midst of the little Children, and then canted along on the Floor between two of the Children, without ever touching one of them all. But the Instances of Such Things would be numberless. And if I should with a most Religious Veracity, related what Wounds many Persons have survive’d, I should puzzle Philosophy and make her some Recourse unto Divinity. […] Once more; A Lewd Young man, Being dissatisfied, with the Service wherein he Lived, at the House of an Honest man, in a Neighbouring Town, when they told him, That his bad courses would bring him to Hell at the Last, he wickedly said, He had rather be in Hell than in his Masters House. Immediately after this, he was in a very strange manner Drowned of a Little Bank in the River.47
Similarly, the English Puritan minister Samuel Ward gives a number of similar narratives on the effects of drinking in his 1622 sermon Woe to the Drunkard: A Miller in Bromeswell, coming home drunk from Woodbridge (as he oft did) would needs goe and swimme in the Millpond: his wife and servants knowing he could not swimme, dissuaded him, once be intreaty got him out of the water, but in hee [sic] would needs goe againe, and there was drowned, I was in the house to inquire of this and found it to be true.48
In the manner of medieval exempla, Ward and Mather report short instances that are limited to one or two events involving one central character. A heterodiegetic narrator summarizes events and the setting and character descriptions are limited to a few key words. As in allegories, their protagonists are mere types like »the drunkard« or the »lewd young man.« These epithets either signal a specific sin or general virtue, as in the case of the »honest carpenter,« that indicate the emplotment of the providence as a tragic or comic one, in other words a divine judgment or deliverance. In both cases, the sin or the prayer is immediately followed by God’s intervention, making this compression of narrated time a hallmark of providences.
Christi Americana: or a Church History of the New England, From Its First Planting in the Year 1620 unto the Year of our Lord, 1698, London 1702, iii, 49. 47 Mather, Magnalia, vi, 10. 48 Samuel Ward, Woe to Drunkards, London 1622, 21.
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The devices that make these narratives recognizable as providences could all be summarized as strategies of emplotment: a single character whose actions cause an immediate response. Judgments and deliverances also differ in the way »supernatural justice« is dispensed and whether God is named as its cause: God appears as an active agent in the story of the carpenter but the various judgment tales attribute the outcome either to the devil, whom some of the sinners address directly, or as a consequence of sin. However, each outcome testifies to God’s power and is as such encouraging for Christians and the New England project independent of whether the protagonist is saved or destroyed. Christians either delight in God’s show of mercy or see their beliefs confirmed and awareness raised by the destruction of the sinner. These emplotment patterns and interpretations are evident in New England diaries that record similar events. John Winthrop, for example, regards the capture of a ship by Turkish pirates as a judgment on the crew’s wicked behavior towards a preacher while they were anchoring in Boston.49 Likewise, John Hurd records the story of a »lifelong drinker« who suddenly died at a night when he had been brought home drunk as »[a] sad warning for drinkers.«50 Ward and Mather used emplotment patterns that served as explications for sudden deaths or calamities in private and public records alike on both sides of the Atlantic. Using these patterns allowed one to extract meaning from seemingly unrelated incidences by connecting them causally and temporally. Michael McKeon states that this form and content of exempla draws on a specifically Protestant understanding of Providence: »[o]nly with the Reformation did theology undertake to correlate so closely the everyday contingencies of this world with an active and intelligible act of divine justice.«51 In Protestant sermons in England or New England, this central function of emplotment is also supported by the embedding of each narrative. In Terribilia Dei (1697), Cotton Mather draws on both meanings of the word ›drunk‹ in Middle English to introduce an exemplum that is only a sentence long but also emplotted as a judgment.52 A Drunken man, is in old English as much as to say, A Drowned man. To see then, A Drunken man, become a Drowned man, is to see but a most Retaliating Hand 49
342.
The Journal of John Winthrop. 1630 – 1649, ed. Richard Dunn, Cambridge 1996,
50 John Hull, »Some Passages of Providence about Myself and in Relation to Myself«, The Transactions and Collections of the American Antiquarian Society 3 (1857), 108 – 316, 199. 51 McKeon, Origins of the English Novel, 124. 52 According to the Oxford English Dictionary, »drunk« means to drown or to fill with drink, make drunken.
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of God. Why we have seen This very Thing more than Threescore Times in our Land. And I remember the Drowning of one Drunkard, so odly circumstanced; It was in the Hold of a Vessel, that lay full of water near the Shore.53
The sermons investigated in this essay show two distinct types of embedding that are also realized in the Magnalia. The first and older has the exempla following after the main body of the sermon, the second integrates the narrative into the sermon. While the Terribilia Dei mirrors Thomas Beard’s collection A Theatre of God’s Judgment (1597) by assigning a number of narratives to each sin and separating doctrine and narrative, Ward embeds the narratives in the middle of his sermon. The first part elaborates on the sinful character of drinking, which may not be forbidden by a specific biblical law but in sum violates all commandments: It brings about a total transformation of anyone who »in his right wits and sober moode seems religious, modest, chast, courteous […and] in his drunken fits swears, blasphemes, rages […] commits folly, knows no difference of persons or sexes, becomes wholly at Satans command.«54 Delineating God’s answer to such offense, Ward mixes argumentation and narrative as he alludes to possibly well known cases but also muses on the general likelihood of a sinner to mend his ways in time before his death. Yet, drunkenness, according to Ward, is already punished on earth, as it »is so odious to [God] that he makes it selfe Justice, Judge and Executioner.«55 Mather makes the same argument when he combines the two meanings of the word »drunk« as intoxicated and drowned, implying that drinking carries its own judgment by a number of short examples of drunkards who are found drowned even in the bow of a ship.56 Both also intent the same effect of the narratives on their reader as they call them »terrible« to make the reader fear God and repent. In his Terribilia Dei, the repetitive structure of each paragraph – devoted to a particular sin – opens with variations of »The Judgments of God […] should make us afraid.«57 This structure is mirrored by the collection of exempla that constitute a sermon on their own, titled »The Second Sermon.« They are introduced as »a more Entertaining Recapitulation of the Divine Judgments.«58 In the next paragraph, Mather gives a number of models from history on how to react to these Cf. Cotton Mather, Terribilia Dei, Boston 1697, 37 – 38 [italics original]. Ward, Woe to Drunkards, 16. 55 Ward, Woe to Drunkards, 18. 56 Cf. Cotton Mather, Terribilia Dei: Or, Judgments of God Related & Improved, Boston 1697, 38. 57 Cf. Mather, Terribilia Dei, see the paragraph beginnings on pgs. 10, 12, 14 etc. 58 Mather, Terribilia Dei, 26. 53 54
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judgments. By implication the reader is asked to do the same through vicariously experiencing what God has done in cases of other sinners and »work out his own salvation with fear and trembling.«59 Mather thereby employs both kinds of exempla that Alexander of Ashby (fl. 1220) describes in his sermon manual De modo artificioso predicandi.60 First, Mather uses the Mauritian emperor as a character with »exemplary qualities«: he humbly recited the words of Psalm 119 in reaction to the catastrophes that had overtaken his family. From this exemplary man, Mather draws a parallel to all readers who »have ever now and then those calamitous Things before our Eyes in our Neighborhood, which […] we must pronounce The Right Judgements of a Righteous God […]. And I must now ask you to take some notice of those Judgments.«61 The second kind of exempla consist of a short narrative of God’s judgment on a sinner, which does not entail an explication but stands as an illustration of the doctrine given in the sermon, as in the examples from Ward and Mather above.62 In Terribilia Dei, the allusion to an exemplary character in the frame functions as an analogy meant to anticipate the appropriate reaction of the reader. By the use of an exemplary character, the frame demonstrates which response to the rest of the sermon and the exemplary narratives it contains is expected from them. The body of narratives is ordered by topic, which is first introduced, and then elaborated through either examples interwoven in the sermon or a sequence of similar narratives. In contrast to the analogy that would be empty without its counterpart in the reader, the second type of exempla are self-sufficient narratives that stand in contextual relation to the frame, typically as illustrations. When Mather demonstrates that drinking carries its own judgment, this is already hinted at by his explanation of the double meaning of the word ›drunk.‹ The particular kind of embedding of these narratives shows the interactive dimension and didactic influence that Mather attributed to narrative. Witnessing, through the mediation of a narrative, a Godly judgment on a sinner should produce, similar to the exhortations of the first sermon, a trembling awe and equal humiliation as if it had happened to the reader himself. Mather makes similar statements in the Magnalia and Manuductio ad Ministerium, directed at future ministers in New England, about how a text should emotionally involve the author as well as the hearer or reader, Ibid. Cf. Fritz Kemmler, »Exempla« in context: A historical and critical study of Robert Mannyng of Brunne’s »Handlyng Synne«, Tübingen 1984, 74. 61 Cf. Mather, Terribilia Dei, 27. 62 Cf. Kemmler, Exempla, 74 – 75. 59 60
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respectively. Following a number of captivity narratives, first printed in Decennium Luctuosum (1699), Mather addresses his reader by another exemplum: »Reader, a Modern Traveller assures us, that […] there is a to be seen the Body of a Petrified Man; […] And that I will say, is That if thou canst read these Passages without Relenting Bowels thou thy self art as petrified as the Man at Villa Ludovisia«.63 The story of the petrified man shows the typical mediation sequence of an oral story, a narrator and two narrative levels, and it demonstrates the opposite effect of what Mather expects from his narrative. With his stories of captivity, Mather aims less at informing or persuading his audience than at triggering an emotional response. He argues in the Manuductio ad Ministerium that such a reaction is also vital for the preparation of a sermon: »[G]et your heart suitably touched […] to feel what you speak«.64 In his own writing, Mather’s rich and allusive language is full of emotionally charged adjectives and drastic descriptions that enhance the reader’s vicarious experience.65 While Cotton Mather recommends classical authors for exercises in style and argumentation, he foregrounds the value of the narrative example to add an additional dimension to his sermons. At the same time, Mather is adamant in his rejection of taletelling as an idle pastime not suitable for Christians.66 Weber regards this as a general refusal of fictional storytelling in Puritan culture.67 The imagined and idle tales contrast with the factual and authentic narration able to touch hearts and mend ways. Just as Puritan writers would always acknowledge God as the sole creator, every author glorifies him most of all by portraying events faithfully as they happened, as Mather maintains in Terribilia Dei.68 Narration, as endorsed by Mather, is therefore either mirroring God’s plan as in the exempla or faithfully portraying events that emotionally impact the reader and lead him to renew his piety. Through their emplotment and the exempla in the frame, the narratives offer the reader appropriate responses to the sermon. These are enforced by the emotional impact of the narratives and the possibilities for vicarious experience they provide. The intended response, like repentance or humiliation, is thereby already prefigured in the frame through which the narratives are incorporated into a particular cause Mather, Magnalia, vii, 71. Cf. Cotton Mather, Manuductio ad Ministerium: Directions for A Candidate of the Ministry, Boston 1726, 103, 106. 65 Gustaaf van Cromphout, »Cotton Mather: The Puritan Historian as Renaissance Humanist«, in: American Literature 49.3 (1977), 327 – 337, 328. 66 Cf. Cotton Mather, Winter Meditations Directions: How to Employ the Leisure of the Winter for the Glory of God, Boston 1693, 7, 11 – 12. 67 Cf. Weber, »Die Anfänge«, 65. 68 Cf. Mather, Terriblia Dei, 114. 63 64
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as well as the universal pattern of God’s dealings with New England, which they also commemorate. IV. In 1637, John Winthrop records such an incident in his journal. Mr. Gibbons’s ship »went to the Bermuda, but by continual tempests was kept from thence, and forced to bear up for the West Indies, and, […] not daring to go into any inhabited place there, but to go ashore in obscure places, and lived of turtles and hogs, etc.« According to Sievers, this narrative contains the typical elements of an English sixteenth century sea providence, for example the »Bermudian tempest« and a diet of sea turtles.69 While the individual members of the crew and their experience remain unnamed until the very end, Providence becomes an actor in their deliverance: At last they were forced into a harbor, where lay a French man-of-war with his prize, and had surely made prize of them also, but that the providence of God so disposed, as the captain […] knew the merchant of our bark, one Mr. Gibbons. Whereupon he them courteously […] and sent home with her his prize.70
As Winthrop’s journal was not published until 1790 but circulated among his friends, it must have been through word of mouth or letters that the incident became known in England.71 James Janeway is the first to include it in his collection Legacy for his Friends of 1680. Apart from the ship’s predicament and rescue, Janeway’s story runs very differently: after a long wait, their initial prayers for deliverance are unanswered and the seamen decide to kill and eat one of them. After casting the lot, however, they shrink from the deed and renew their prayers that are subsequently answered by the arrival of a fish and later a bird. Yet their final rescue through the French pirate only takes part after this cycle is repeated three times. Janeway interpolates his narrative with passages from the Bible that give scriptural precedents for the crew’s actions and thus emplots them along biblical patterns, like the story of Jonah.72 Pertaining to a New England ship and crew, his narrative is taken over and shortened by Increase Mather for his anthology of providence tales, An 69 Cf. Julie Sievers, »Drowned Pens and Shaking Hands. Sea Providence Narratives in Seventeenth-Century New England«, in: William & Mary Quarterly 63.4 (2006), 743 – 776, 762. 70 Winthrop, Journal, 222. 71 Cf. Sievers, »Drowned Pens«, 748. 72 Cf. James Janeway, Mr. James Janeway’s Legacy to His Friends: Containing Twenty Seven Famous Instances of Gods Providences in and about Sea-Dangers and Deliverances, London 1680, 1 – 9.
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Essay for the Recording of Illustrious Providences (1684).73 In Magnalia Christi Americana, Cotton Mather publishes Gibbon’s story with minor stylistic alterations, thus continuing his father’s collection.74 Tightening the narrative, Increase Mather removes all Biblical references, but retains key features, like Janeway’s rhetorical questions and the three cycles of prayer and deliverance. By emplotting the story less according to Biblical parallels, the seamen were engaging in pagan practices by drawing lots and attempting cannibalism rather than following the example of Jonah.75 Also, the periodic prayers and answers from God read more like a dialogue and the allusions to overarching patterns of salvation history appear more nuanced. In Winthrop’s exempla-like journal entry, God acts mercifully towards the ship simply because it stems from New England. From Janeway’s version onwards, though, the crew’s and Gibbon’s individual actions play a much more pronounced role. As their initial prayers have been ineffectual, the crew »once more went to their Prayers« before sacrificing one of them, »and behold, while they were calling upon God, he answered them: For there leaped a mighty fish into their boat, which […] not only quieted their outrageous hunger, but also gave them some token of a further deliverance«.76 This kind of dialogue contains the basic structure of the exempla-like providence tale: supplications are answered immediately in a stark compression of narrative time and God’s answer carries a double significance: it satisfies the bodily needs on which most sea deliverances center and, through a typological interpretation and emplotment, provides a sign of God’s intention to save body and soul in this world and the next.77 Yet the complete deliverance is only achieved after three »symbolic trials« and based on an earlier act of goodwill on Gibbon’s part.78 According to Janeway and the Mathers, Major Gibbons had shown the French commander »some signal kindness« and Janeway elaborates that Gibbons saved the Frenchmen from a similar predicament as »his life was 73 Cf. Increase Mather, An Essay for the Recording of Illustrious Providences, Boston 1684, 15 – 17. 74 William Reid Manierre compares the style of Cotton Mather’s reductions of his father’s narratives and concludes that they mostly introduce parallelisms and symmetric sentence structures, cf. »Some Characteristic Mather Redactions«, New England Quarterly 31.4 (1958), 496 – 505, 497 – 500; cf. Mather, Magnalia, vi, 4. 75 Cf. Sievers, »Drowned Pens«, 760 – 762. 76 Mather, Magnalia, vi, 4. 77 Cf. Sievers, »Drowned Pens«, 762; Oliver Scheiding maintains that the sea deliverance is generally coupled with a conversion experience, cf. Geschichte und Fiktion: Zum Funktionswandel des frühen amerikanischen Romans, Paderborn 2003, 86. 78 Cf. Weber, »Die Anfänge«, 55 – 70.
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in danger in Boston«.79 From Winthrop’s to Cotton Mather’s version, the change of emplotment results in a different interpretation of Providence. According to Sievers, sea wonders as in Winthrop’s original narrative not only have a long tradition in religious literature and biblical precedents but also a political function: emplotted as exempla, they demonstrate God’s approval of New England’s imperial activities at sea.80 While Winthrop emphasizes that God supports the colony and consequently saves individual New Englanders and their property, the Mathers use a different emplotment to warn against a regress in piety. They take over Janeway’s cycle of trials that teaches the reader a lesson in perseverance but also stresses man’s contribution to the rescue. Weber argues that the ship was rescued in part by Providence and in part because of Gibbons’ benevolence towards the French captain who subsequently saves them.81 For both purposes, the authors drew on popular themes, such as shipwrecks and remarkable deliverances that were reported by word of mouth, entered into diaries subsequently into anthologies and sermons.82 The different emplotments of the story, starting with Janeway’s version, show the high comparability between the intentions and readerships on both sides of the Atlantic. Christians should know that their prayers will be answered if they are persistent and their faith leads to good works. V. Finally, I want to compare two apparition narratives from Joseph Glanvill’s 1681 Saducisumus Triumphatus and Cotton Mather’s Wonders of the Invisible Worlds from 1693, which was republished in the Magnalia and Triparadisus of 1727. Saducismus Triumphatus is a posthumous collection 79 Janeway, Legacy, 9, Increase Mather, Illustrious Providences, 17, Cotton Mather, Magnalia, vi, 4. The exact relation between Gibbons and the French Pirate go unmentioned in the immediate context of the story in each source. Winthrop’s Journal only states that they knew each other. However, Winthrop frequently mentions a Captain Gibbons who sided with the French Lieutenant La Tour who went to Boston to solicit support for his campaigns against Native tribes and headed a French group of military men and traders. In the controversy, Winthrop first wanted to help La Tour but changed his mind and expelled him from the colony. 80 Cf. Sievers, »Drowned Pens«, 762. 81 Cf. Weber, »Die Anfänge«, 62. 82 Increase and Cotton Mather drew on a large correspondance with other ministers and friends who furnished them with narratives from their surroundings. For examples, see Julie Sievers, Evidence of Wonders: Writing American Identity in the Early Modern Transatlantic World, unpubl. diss., Austin 2004, 240.
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edited by fellow Cambridge Platonist and contributor Henry More and in his time and after, »Glanvill has recieved considerable attention as a philosopher, a theologian, a propagandist of the new science, a believer in witchcraft, and a forerunner of psychical research.«83 Together with Henry Moore, he was a founding member of the Royal Society and »created a model for documenting« apparitions, ghosts and other supernatural events using empirical methodology. 84 The Royal Society was founded to promote empiricism that relies on sensual evidence for gaining knowledge rather than relying on scholastic reasoning. Glanvill’s influence on Mather, who became a member of the society as well, is evident as both share a similar interest in the immortality of the soul, which is the subject of Mather’s 1727 treatise Triparadisus.85 His best known but also controversial narrative is The Drummer of Tedworth that also found its way into Increase Mather’s Illustrious Providences. It starts with a vagabond whose drum is confiscated and kept at the house of Mr. Mompesson. A few days later, the latter heard a »very great knocking at his Doors […] [w]hen he was got back to Bed, the noise was a Thumping an Drumming on the top of his House, which continued a good space and then by degrees went off into the Air.«86 The drumming continues and is accompanied with apparitions and other noises during the night. These events are related in loose temporal order without any conspicuous narrative mediation until the first person narrator arrives on the scene and investigates the incidents. About this time I went to the House, on purpose to inquire the truth of those passages, of which there was so loud a report. […] I perceived it was just behind the bolster of the Childrens Bed […]. It was as loud a scratching, as one with long Nails could make upon a Bolster […]. I saw their hands out on the Cloaths, and they could not contribute to the noise that was behind their heads […]. So that I was then verily perswaded, and am so still, that the noise was made by some Damon [sic] or Spirit.87
This narrator acts on behalf of the reader, investigating the origin of the noise and recording what he sees and hears. First, the narrator reports sense data and uses descriptions that make the noise easier to imagine for his read83 Coleman O. Parsons, »Introduction«, in: Joseph Glanvill, Saducismus Triumphatus: Or, Full and Plain Evidence concerning Witches and Apparitions, Gainesville 1966, vii – xxiii, xii. 84 Paul Wise, »Cotton Mather and the Invisible World«, in: Reiner Smolinski, Jan Stievermann (eds.), Cotton Mather and »Biblia Americana«: Essays in Reappraisal, Tübingen 2010, 227 – 261, 233 – 234. 85 Cf. Parsons, »Introduction«, xii; Wise, »Invisible World«, 231 – 232. 86 Glanvill, Saducismus Triumphatus, 322. 87 Ibid., 328.
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ers. Next, he investigates possible sources of the noises and narrows down the options. The narrator finally concludes that neither the children nor any other human was responsible but that they must have been caused by a supernatural being. While the narrative covers the beginning and probable cause of the disturbances until their ending, most elements are simply connected via chronology rather than by any cause and effect relationship. These attempts at rationalizing are especially frustrated by Mompesson’s futile efforts to escape or fight off the apparitions. Though ministers are present, their prayers only interrupt but do not end the disturbances and no pattern is recognizable in their behavior.88 Glanvill’s collection also contains testimonies of witchcraft trials and letters relating to apparitions. Cotton Mather uses the same methods and forms to prove the existence of supernatural powers in his record of the Salem witchcraft trials and apparitions such as the one seen by Joseph Beacon. For Mather as for Glanvill, narratives serve as evidence of supernatural events and thus have to be carefully authenticated: »But the Relations of such Apparitions, have been many of them as unquestionable as the Matters of Fact which have been delivered unto us in the most undoubted Histories, and such as no body can make any Question of.«89 They were recorded for others, especially sceptics as the figure of the Sadducee alluded to in Glanvill’s title and numerous times in Mather’s works shows.90 To both, negating the supernatural equaled atheism as it also meant to deny God’s existence in the invisible world. As in the case of sea deliverances, Mather first quotes other authors and then goes on to examples from his »own Vincinity«: On the Second of May, in the Year, 1687. an Ingenious, Accomplished, well-disposed Young Gentleman, Mr. Joseph Beacon, about five a clock in the Morning, as he lay, whether Sleeping or Waking, he could not certainly say, but judged the Latter, had a View of his Brother then at London, tho’ he were now at our Boston, distanced from him a thousand Leagues.91
The narrative starts with a positive characterization that revolves around Joseph Beacon’s ability to be a credible witness of the ensuing events. Like Ibid., 324. The Threefold Paradise of Cotton Mather: An Edition of Triparadisus, ed. Reiner Smolinski, Athens 1995, 114. 90 Sadducees were a Jewish religious group that did not believe in the afterlife and thus also negated the soul’s immortality and judgment. This term is used by Glanvill and Mather to designate those that opposed the existence of an invisible world inhabited by angels and demons, cf. »Sadduzäer« in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 1961. 91 Mather, Triparadisus, 115. 88 89
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Glanvill and Ward before him, Mather’s narrator gives the particulars of time and place as if to invite the readers to make their own inquiries. The difference is that Glanvill’s narrative revolves around visible and audible phenomena affirmed by a number of witnesses including himself. Mather, however, relates a phenomenon only visible to Beacon and structures his narrative accordingly. The narrator first portrays the apparition focalized through Beacon, detailing his clothes and also the visible wound. These sensual data and the apparition’s account of how Beacon’s brother was murdered are in a next step compared to the matching facts of the murder case that Beacon receives about two months later »by common ways of communication«.92 They act as proof of the apparition, as Beacon would have had no other way of knowing about his brother’s death and its circumstances on the very hour it occurred. Like Glanvill, Mather adds a final paragraph in which he lists »Mr. Joseph Beacon himself« as his source whom he has before already characterized as »a most ingenious, accomplished and well-disposed Gentleman.«93 Establishing the reputation of his witness beyond all doubts, Mather follows a convention of apparition narratives that is also followed by Daniel Defoe’s Relation of the Apparition of Mrs. Veal (1705). Like Glanville before and Defoe after him, Mather introduces a narrator who investigates and attests to the credibility of the narrative or the person who reported it. This closing frame is reminiscent of oral storytelling and also simply relocates the question of the credibility instead of solving it: if the narrator vouches for his witness, who does so for the narrator?94 The narrator steps in as the authority of the narrative is no longer established through its relation to the overall plot of God’s universal history as in previous providence tales. The bitter and polemical dispute between Cotton Mather and Robert Calef for example, as well as the different opinions on the use of spectral evidence in court, demonstrate that the existence of and adequate reaction to witchcraft was not common theological ground even among New Englanders.95 As Richard Dorson points out, these narraIbid. Ibid. 94 Cf. Edward Pitcher, »Introduction«, in: Edward W. R. Pitcher (ed.), An Anthology of the Short Story in 18th and 19th Century America, Lewiston 2000, vol. 1, 1 – 47, 7. 95 Calef wrote a biting critique of Mather’s treatment of witchcraft cases in his More Wonders of the Invisible World. Aiming to engage Mather in a debate on the subject, he published their exchange of letters and other things that threw a bad light on Mather. A Baptist and therefore outside of the Puritan community, Calef’s questions nevertheless revolve around the Biblical passages on witchcraft and less on 92 93
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tives thus draw on older sources like folklore motifs for information about witches and how they typically act. In Beacon’s story, the ghosts return to seek revenge against their murderers, as in Shakespeare’s Hamlet.96 Yet these instances only provide the enumerative and exchangeable elements of apparition narratives rather than an explanation or any cause and effect relationships. Apparitions thus became messages that had to be verified and decoded and did not fit into the emplotment patterns available. For example, Cotton Mather builds his own theory of a third paradise as a middle ground between heaven and earth inhabited by the souls of the deceased using the apparition and deathbed narratives in Triparadisus as evidence.97 To be convincing, they apply empirical methods relying on sense data and a narrative structure that mirrors the steps of uncovering and interpreting the evidence for apparitions. Though the narrator’s credibility cannot be ascertained, the reader is able to see what he sees and follow his investigation. Rather than by appealing to a higher authority or patterns of divine history, the accumulation of similar narratives mediated by a trustworthy narrator lends authority to their claims. VI. The comparative analysis of British and colonial writings shows similar ways of emplotting events and embedding them in the argument of sermons or theological tracts. While such similarities on the narrative level could be dismissed as purely accidental, an analysis of the cultural function of these narratives reveals that they mirror concepts of divine history and providentialism. Focusing on emplotment also reveals a shifting understanding of Providence in the late 1680s. Major Gibbons’ story of reads like an exemplary deliverance only until John Winthrop’s original journal entry is changed to include three symbolic trials and the benefits of good deeds as the majorreasons for the rescue. As exempla relied on a mechanism of reward or punishment that was evident to every reader, the apparition narratives portray highly individual experiences that do not correspond to any recognizable pattern of emplotment. The exempla rely on the interpretative capacities of the audience to recognize and react to God whereas the apparition tale relies on the amount of convincing evidence which is presented in a series denominational differences, cf. Kenneth Silverman, The Life and Times of Cotton Mather, New York 1984, 101, 133 – 134. 96 Cf. Richard M. Dorson, America in Legend: Folklore from the Colonial Period to the Present, New York 1973, 26 – 27. 97 Cf. Wise, »Invisible World«, 231.
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of otherwise unconnected narrative elements. What Hartman and others have called the influx of scientific methods in providence tales is also evident in the diachronic narratological analysis of characterization, the mediation and linking of narrative elements. Characters are no longer identified by their virtues or vices but rather as apt and credible observers. A narrator mediates between the outrageous events and the readership, taking up the investigation of their veracity himself and presenting his conclusions. While all of these narrations share the central motif of a supernatural apparition or disturbance, they lack the form and functions of emplotment: they do not mirror a commonly recognized plot type or relationship to biblical precedents and divine history that could serve as authentication. Instead, their use of a frame narrative in which the narrator attests to the credibility of his witnesses reflects, at the same time, the tradition of oral storytelling and anticipates similar devices in Defoe’s True Relation and the short stories of Washington Irving. In the exempla, the frame usually was the argument of a sermon but in apparition tales, its function is reduced to reinforce the credibility of the related experience. After the loss of overarching patterns and the introduction of narrators that vouch for the truth of their story instead, the unconnected narrative episodes of the apparition tale became interchangeable and open to different influences. The descriptions of witches and apparitions, for example in the Salem trial records, are shaped by European folklore and legends that become independent plots in eighteenth century ghost tales. Once the theological frame is dropt and loses its cultural significance, fact and fiction mingle more openly and independent of emplotment and embedding structures. So, Cotton Mather’s »enduring appeal« is not limited to his subject matter that found its way into later ghost and captivity stories but also includes his role in transmitting and developing narrative practices in a transatlantic Protestant community.98
98 Cf. Larzer Ziff, Puritanism in America: New Culture in a New World, New York 1973, 271.
»Tar and Feathers«: An American Literary Trope By Jules Zanger A relatively understated moment in the developing education of Huckleberry Finn occurs when Huck recognizes in two »monstrous big soldierplumes« – the white feathery plumes on soldiers’ shakos – his former raftmates, the Duke and the Dauphin who had previously victimized him. They have been tarred and feathered by a drunken »whooping and yelling« mob »banging tin pans and blowing horns«. Huck’s response is compassion and forgiveness: »Well, it made me sick to see it; and I was sorry for them poor pitiful rascals, it seemed like I couldn’t ever feel any hardness against them any more in the world. It was a dreadful thing to see. Human beings can be awful cruel to one another.«1 Thankfully, tar and feathering as a social ritual has disappeared today from the ranks of acceptable communal activities, so perhaps what Huck had seen requires some clarification. Specifically, the procedure involved pouring or painting molten tar over the head and body of a perceived transgressor, then rolling him or her in feathers – usually chicken feathers which were easily available. On some extreme occasions, the feathers were set afire. The result was to transform the victim into something »monstrous«, denying its humanity, almost in unconscious response to Plato’s definition of man as a »featherless biped«. The immediate impact upon the terrified victim was the extreme pain he felt as the molten tar was poured over him; in some cases the heat was so great the toes would have to be amputated; in some cases he would die, though that was not the immediate intention. A secondary effect was the profound humiliation the victim was made to feel by the laughter and mockery of the perpetrators and the assembled onlookers enjoying the spectacle. This practice did not originate in America. The earliest account of it appears in a 12th century English chronicle where it is described as a Royal 1 Mark Twain, Adventures of Huckleberry Finn, ed. Victor Fischer and Lin Salamo, Berkeley et al. 2003, 290.
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penalty imposed for theft. In America, however, tar and feathering developed its own local characteristics. In the United States, tar and feathering appears to have been an extra-legal phenomenon; it was never an official punishment administered by officers of the law for an adjudged criminal act. Instead, it was a communal punishment, an American folk ritual performed in public by an aroused populace – that is, by a violent, lawless mob, not analogically unlike a lynch mob or a vigilante committee. In the American colonies, mainly in New England, these patriotic mobs originally directed their violence against tax collectors or other agents of the Crown. Later, it became enough to be merely a suspected Tory and Loyalist sympathizer to become victim of patriotic enthusiasm. Eventually, tar and feathering lost its exclusively political dimension and might be merited for any of a number of perceived offenses – moral, religious, social – by an offended community.2 Tar and feathering, then, can be considered as having been one possible expression of democratic community spirit, like the 4th of July picnic or the Thanksgiving parade, expressing and re-enforcing group identity and solidarity, redirecting disruptive internal aggressions, while providing edifying public entertainment. Descriptions suggest that it fulfilled the famous intention expressed by the Mikado in Gilbert and Sullivan’s operetta to »make each prisoner pent / unwillingly represent / a source of innocent merriment.«3 Much of that ›merriment‹ was provided by the feathers which served to cushion the brutality of the procedure from the participants by giving it a comic dimension, by making the victim a figure of fun and the severe pain inflicted somehow only a joke. The participants in the joke included not merely the active appliers of the tar and feathers, but their whooping, hollering, tin pan beating, horn blowing, laughing, jeering, encouraging fellow townspeople. Twain’s reference to a tar and feathering in 1884 was preceded in American literature by at least four earlier accounts: John Trumbull’s mock-epic M’Fingal4, published in 1781, Hawthorne’s short story My Kinsman, Major Molineux,5 published in 1832, Poe’s short story The System of Dr. Tarr and 2 For a useful summary of tar and feathering see Benjamin H. Irvin, »Tar and Feathering and the Enemies of American Liberties«, New England Quarterly 76.2 (2003), 197 – 238. 3 William Schwenck Gilbert, The Mikado, New York 1885, Act. 2. 4 John Trumbull, M’Fingal, in: American Poetry and Prose, ed. Norman Foerster, Boston 1934, 225 – 230. 5 Nathaniel Hawthorne, »My Kinsman, Major Molineux«, in: The Snow-Image, and Uncollected Tales, ed. William Charvat et al. (The Centenary Edition of the Works of Nathaniel Hawthorne Vol. 11), Columbus 1974, 208 – 231.
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Prof. Fether,6 in 1845, and John Greenleaf Whittier’s ballad Skipper Ireson’s Ride,7 in 1857. Read together, all five suggest some of the possible interpretations which authors put upon the practice. Trumbull’s M’Fingal, like Hawthorne’s Major Molineux, are both reasonably historically accurate in depicting tar and feathering as expressions of pre-revolutionary popular enthusiasm directed against figures of authority: M’Fingal the Tory Squire and Loyalist, and Molineux the British Officer. However, in execution and effect their creators could not have made them more different from each other. John Trumbull, considered the leading member of the Hartford Wits, was born in Connecticut of a notable family in 1750. After graduating from Yale at the age of 17, he studied law in the office of John Adams and eventually became Justice of the Supreme Court of Connecticut. As a young man, he achieved some considerable success as a writer of popular satires. The third canto of his most popular work, the Hudibrastic mock epic M’Fingal was published in 1781 and went into more than thirty editions. It was, in its time, America’s most popular poem.8 The Third Canto, entitled »The Liberty Pole«, describes in heroic couplets the attempt of the Tory Squire M’Fingal to cut down a Liberty Pole erected by Whig patriots, and of his subsequent defeat and tar and feathering. As is conventional in a mock-epic, Trumbull’s authorial voice is superior to both warring parties and his treatment comedic: the Tories led by M’Fingal are upper class, arrogant, bombastic, blustering; the Whigs lower class, vulgar, and inspired as much by alcohol as by political theory: […] the crowd without delay The dedication rites essay And gladly pay, in ancient fashion The ceremonies of libation; While briskly to each patriot lip, Walks eager round the inspiring flip: Delicious draught, whose powers inherit The quintessence of public spirit.
6 Edgar Allan Poe, »The System of Dr. Tarr and Prof. Fether«, in: The Short Fiction of Edgar Allan Poe, ed. Stuart Levine and Susan Levine, Indianapolis 1976, 596 – 607. 7 John Greenleaf Whittier, »Skipper Ireson’s Ride«, in: American Poetry and Prose, ed. Foerster, 823. See also Jules Zanger, »A Note on ›Skipper Ireson’s Ride«, New England Quarterly IX.2 (1966), 236 – 238. 8 American Poetry and Prose, ed. Foerster, 225.
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Their actual battle is fought with bottles, clubs, and stones until its symbolic climax when Squire M’Fingal armed with his rusty militia sword confronts in single combat the local village wrestler carrying only a spade with which he snaps M’Fingal’s sword and defeats him in appropriate burlesque fashion: »The deadly spade discharged a blow / Tremendous on his rear below«, and M’Fingal is taken by the patriotic mob, suspended from the Liberty Pole which suggestively has been transformed into a gallows, tarred and feathered , and paraded through the town on a cart to the sound of martial music. The actual tar and feathering, though described in some physical detail, is curiously painless, distanced from the reader by the tortuous comic couplets which insist on the presence of the clever, funny author who is always present. M’Fingal’s suffering appears to be, at most, psychological. The patriots, having done their work Stuck ›Squire M’Fingal ’gainst the (Liberty) pole, Glued by the tar to his rear applied, Like barnacle on vessel’s side…‹ And to the tavern take their way, To end in mirth the festal day.
Trumbull’s depiction of tar and feathering is further made painless by the metaphor by which he transforms the molten blistering black tar poured over M’Fingal into its white, cold opposite: Adown his visage stern and grave, Roll’d and adhered the viscid wave: From nose and chin’s remotest end, The tarry icicles descend Till all o’erspread with colours gay He glittered to the western ray, Like sleet-bound trees in wintry skies, Or Lapland idol carved in ice.
Some of the extraordinary popularity of Trumbull’s poem can possibly be explained by this mitigation of the Revolutionary War’s bloodshed by reducing it to a comic, bloodless squabble and by reducing tar and feathering to a relatively harmless, almost good-natured exercise of popular sovereignty. Hawthorne’s Major Molineux suffers the same fate at the hands of the same patriots for the same patriotic reasons: the Major, like M’Fingal, represents British rule, political conservatism, class superiority, traditional order. Both are the victims of revolutionary mobs, but the treatments afforded them could not have been more different. In Hawthorne’s story, Robin, an enterprising if naive country boy, comes to town to make his fortune by claiming kinship to the British Military authority, Major Molineux.
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When, after a series of frustrating encounters, he finally encounters him, he discovers the Major, tarred and feathered, being paraded through the town on a cart by a drunken mob led by a single demonic figure on horseback. However, the staid and conventional »martial music […] Of horns and fiddles, fifes and drums«, that accompanied Squire M’Fingal’s procession has been replaced in Hawthorne’s story by the trumpets of the mob that »vomited a horrid breath« by »senseless uproar«, by »frenzied merriment«, by »tuneless bray, the antipodes of music«. The relatively mild description of the drunken rioters in Trumbull’s poem becomes in Hawthorne’s account an unequivocal condemnation of the patriotic party as »wild figures in the Indian dress, and many fantastic shapes without a model, giving the whole march a visionary air, as if a dream had broken forth from some feverish brain« recalling the opening paragraph of the story where Hawthorne describes the incident he will recount as »the temporary inflammation of the popular mind«. The most significant difference, however, is the effect of the ordeals on its victims. M’Fingal’s illumination is political, rational, prophetic, and apparently painless: Behold my doom! This feathery omen Portends what dismal times are coming […] I hear a voice that calls away, And cries, ›the Whigs will win the day.‹ My beck’ning Genius gives command, And bids me fly the fatal land.
In contrast, Major Molineux’s experience destroys him. Hawthorne’s description of the Major emphasizes his mental and physical suffering and asks the reader to sympathize and identify with him: »His face was pale as death, and far more ghastly; the broad forehead was contracted in his agony, so that his eyebrows formed one grizzled line; his eyes were red and wild, and the foam hung white upon his quivering lip.« Equally, it asks us to condemn the revolutionary mob, describing it as »fiends […] trampling all on an old man’s heart.« Trumbull’s genteel superiority to both parties is replaced by Hawthorne’s extreme condemnation of the mob, finally a partisan political judgement, and by his direct confrontation with the physical and psychological terrors of tar and feathering. In both dimensions, Hawthorne employs a rhetoric of extraordinary intensity, reflecting his own patrician distaste for the popular democracy of the street. More specifically, his distrust of the Jacksonian Revolution is expressed in the story’s direct contemporary allusion to the infamous climax of Jackson’s inauguration day parade when, alone on horseback, the newly elected President rode down Pennsylvania Avenue
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followed by his triumphant supporters – »a mob at his heels which brought to one onlooker’s mind descriptions of the march on Versailles […].« The mob – backwoodsmen, Irish immigrants, farmers, Negroes, shop keepers – swept without invitation into the East Room of the White House where a formal reception had been prepared for Washington’s dignitaries, and trashed it. Finally, they were lured out onto the lawn where White House servants provided them with rum punch, instead of the more decorous orange punch served indoors.9 Though Trumbull’s and Hawthorne’s intentions and achievements in these accounts were quite different, the same constellation of elements persists: the tar and feathering performed by a mob, the identification of that mob with revolution, drunkenness, and social disorder, and implicitly, the subverting of the official myth of revolutionary virtue: Hawthorne’s »inflammation of the popular mind« echoes M’Fingal’s »[…]Babel rear’d by bawling throngs«. Despite the explicit reference to tar and feathering in the title of Poe’s short story, it appears to be distant from the two previous works. It is not set in a revered American historical past, but plays in contemporary France; the linking of Tarr and Fether to the conventional honorifics Professor and Doctor appears to suggest that Poe’s satirical targets are the learned professions rather than the social practice. Furthermore, one of its apparent subjects, the reformation of the treatment of the insane in France at this time was of particular interest in the United States as well. Following the Revolution, a general interest in reform in France led to radically innovative methods of caring for the insane. Earlier means of treating them, which means were often particularly brutal, inhumane, and abusive, were primarily concerned with protecting the safety, convenience, and comfort of the sane. Under the influences of Dr. Philippe Pinel and, more generally, of Contean Positivism, new methods were introduced which came to be called the ›moral treatment‹ of the mad, intended to help them recover their sanity and well-being rather than simply to isolate them from the public.10 In the United States, similar reform projects had been introduced, beginning with Dr. Benjamin Rush11 and later in the century by Dorothea Dix.12 9 For a fuller description of this incident, see Marquis James, Andrew Jackson. Portrait of a President, Indianapolis 1937, 187 ff. See also Jules Zanger, »The Case of the Curious Gentleman: Hawthorne’s ›My Kinsman, Major Molineux‹«, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, N. F. 45 (2004), 109 – 119. 10 Michel Foucault’s Madness and Civilization: A History of Insanity in the Age of Reason, New York 1961, discusses in detail Pinel’s achievements in asylum reform.
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Dix, in 1840, had successfully petitioned the Massachusett’s State Legislature for aid for the insane in her famous Memorial which began: »I proceed, Gentlemen, briefly to call to your attention to the present state of Insane Persons confined within this Commonwealth, in cages, stalls, pens! Chained, naked, beaten with rods, and lashed into obedience.« Poe’s account of the treatment of the imprisoned in his tale, which conflates both the French and American reforms, did not stray very far from reality. The tale depicts the adventures of another naive young man, this time travelling in France, who out of curiosity stops at an insane asylum renowned for its adoption of the new ›moral‹ treatment. He is made welcome by its director, introduced to the staff, and then informed that the ›moral treatment‹ providing maximum freedom to the inmates had been found impractical, and the asylum has returned to its earlier, more rigorous practices. He is invited to dinner, and the dinner is sumptuous, overflowing with food and wine – specifically Sauternes and Clos de Vougeot – and as the dinner progresses, the behaviour of the assembled diners grows more and more bizarre, the conversation louder, and the accompanying music played by a group of musicians grows more discordant: They chatted – they jested – they laughed – they perpetrated a thousand absurdities – the fiddles shrieked – the drum row-de-dowed – the trombones bellowed like so many brazen bulls of Phalaris – and the whole scene, growing gradually worse and worse, as the wines gained the ascendancy, became at length a kind of Pandemonium in petto.
The young man slowly comes to realize that the director and his oddly behaving dinner guests are the actual lunatics. Suddenly the true keepers, who have been overpowered by the lunatics, »well tarred and carefully feathered«, beaten and imprisoned, break in and resume control. Reform is revealed to be a failure and the young man is soundly beaten and sent on his way. Poe’s tale has been variously interpreted: as an attack on Dickens or Nathaniel Parker Willis,13 both who had praised asylum reform of which Poe did not approve. It has also been suggested, somewhat illogically, that it represents Poe’s fear of a slave uprising. Though it is emphasized that the overthrown keepers have been »well tarred and carefully feathered«, feath11 See »Rush, Benjamin« in: Dictionary of American Medical Biography, for an account of Rush’s ideas on reform. 12 Dorothea Dix’s extraordinary career is described in: Helen E. Marshall, Dorothea Dix. Forgotten Samaritan, Chapel Hill (N.C.) 1937. 13 For a short account of some critical responses to this story, see: The Short Fiction of Edgar Allan Poe, ed. Levine and Levine, 548 f.
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ers presumably white, they are unaccountably described as »big black baboons« by the narrator when they succeed in freeing themselves. What remains clear, however, is its employment of that same constellation of elements present in the other literary works we have looked at: tar and feathering, a particularly American practice unknown in France; mob violence, drunkenness, discordant music, and the revolutionary overthrow of authority condemned by the author as »Pandemonium«, echoing Hawthorne’s »inflammation of the popular mind« and Trumbull’s »Babel«. Finally, to make clear that asylum reform in France is not his exclusive subject, Poe has his intoxicated musicians scramble up to play ›Yankee Doodle‹ at the climax of the dinner party. Whittier’s ballad Skipper Ireson’s Ride, published in 1857 in the Atlantic Monthly, is an account based on a fragment of a folk song describing the punishment by tar and feathering of a ship captain who refused to go to the aid of a sinking ship manned by his fellow townsmen, all of whom were drowned. It shares most of the characteristics of the other accounts: the mob violence, the discordant music – »conch-shells blowing and fish-horns twang«, the graphic description of the victim: »Body of turkey, head of owl, / Wings a-droop like a rained on fowl, / Feathered and ruffled in every part, / Skipper Ireson stood in the cart.« Nevertheless, Whittier’s version is significantly different from those that preceded it. Most immediately striking is that the perpetrators are exclusively women, the widows, sweethearts, and mothers and sisters of the drowned. Here’ Flud Ireson, fur his horrd horrt Torr’d an’ futherr’d an’ corr’d in a cart By the women o’ Morble’ead
And as a corollary, of the various offenses committed by the victims we have seen, Ireson’s is easily the most criminal, possibly the most deserving of his punishment. Finally, it is the only presentation of tar and feathering in which the mob shows mercy to its victim: Then the wife of the skipper lost at sea Said, ›God has touched him! Why should we?‹ Said an old wife mourning her only son, ›Cut the rogue’s tether and let him run!‹ So with soft relentings and rude excuse, Half scorn, half pity, they cut him loose, And gave him a cloak to hide him in, And left him alone with his shame and sin.
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In the four earlier works we have looked at, tar and feathering appears as a singular act, approved of or condemned in terms of a political or ideological bias. It serves as a peculiarly American trope expressing conservative fear of chaos and mob rule. However, in the American world that Mark Twain creates in The Adventures of Huckleberry Finn, tar and feathering is apparently a familiar, even commonplace, occurrence. After having publically shot down an unarmed, old drunk that has offended his honor, Colonel Sherburn defies the mob that has come to lynch him with aristocratic disdain: »Because you’re brave enough to tar and feather poor friendless castout women that come along here, did you think you had grit enough to lay your hands on a man.«14 Mary Jane Wilks, a nice girl, kind, sweet, and respectable, when told by Huck that the Duke and the Dauphin are scoundrels intent on robbing her, spontaneously responds in the currency of the time: »Come – don’t waste a minute – not a second – we’ll have them tarred and feathered, and flung in the river!«15 When the Duke and the Dauphin are first encountered by Huck, they are fleeing a mob attempting to tar and feather them for essentially minor swindles: the Duke has been peddling a too corrosive tooth powder; the Dauphin caught drinking while preaching a temperance revival. The practice as referred to by Twain has degenerated from what earlier was motivated by rebellion against oppressive authority or by popular political enthusiasm or by class prejudice, however brutally realized, or uniquely, as in Whittier’s poem, as a just retribution. Instead it has become simply the sadistic expression of provincial bigotry and lawlessness. The fate of the Duke and Dauphin finally amounts to little more than a cruel revenge for a bad joke. That partisan criticism of revolutionaries and reformers we have seen in the earlier treatments of tar and feathering, written by men of real or, in Poe’s case, assumed social standing, is broadened by Twain into a more general condemnation of the whole human race. Trumbull, Hawthorne, and Poe, seem always apart from and superior to the perpetrators of the violence; Whittier’s Quaker compassion uniquely extends both to the tar and featherers and their victim. Huck stands apart – physically as well as emotionally – but he makes no special claim to virtue by reason of class or race or sensibility: his judgement – »Human beings can be awfully cruel to one another« – transcends all categories. This aberrant expression of participatory democracy may not have been the uniform communal action prompted by cruelty it appeared to be to Huck. Twain, himself, suggests in Col. Sherburn’s challenge to the 14 15
Twain, Adventures of Huckleberry Finn, ed. Fischer and Salamo, 190. Ibid., 240.
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mob coming to lynch him that it is not sadism but cowardice that motivates it. You didn’t want to come. The average man don’t like trouble and danger. But if only half-a-man […] shouts ›Lynch him, lynch him!‹ You’re afraid to back down – afraid to found out to be what you are – cowards – and so you raise a yell and hang yourself on that half-a-man’s coat tail […].16
Those are the choices Twain offers us: cruelty or cowardice. *** I suggest that Twain’s view of the mob and mob action – tar and feathering and, by only slight extension, lynching – differs from those of his predecessors. Trumbull distinguishes himself from the mob he depicts by virtue of his superior class. Hawthorne, employing an intensely more powerful rhetoric, furthers his conservative political values. In Poe’s story, tar and feathering becomes simply a picturesque means to express his habitual response to reform of any kind. Whittier’s women of Marblehead finally repent the cruelty of their revenge, For Mark Twain, however, the problem lies not in the drunken lower classes or in political radicals or idealistic reformers; it is the human condition – cowardice or cruelty – that is at fault.
16
Ibid., 190.
Berlin versus Weimar Kotzebues gescheiterte Berliner Klassik Von Klaus Gerlach »Die große Königsstadt an der Spree scheint uns armen Weimarischen Kleinstädtern einen förmlichen Krieg erklären zu wollen.« Böttiger an Heyne, 6. Februar 18031
I. Die Konstellation August von Kotzebue beabsichtigte mit der Gründung der Kulturzeitschrift Der Freimüthige im Jahre 1803, die preußische Hauptstadt als kulturelles Modell zu lancieren. Er versuchte, die Berliner Aufklärung und den daran anknüpfenden Berliner Klassizismus um 1800 als Gegenmodell zur Romantik und zur sich herausbildenden Weimarer Klassik zu etablieren. Mit dem Freimüthigen trat Kotzebue zu Weimar in Konkurrenz; denn bekanntlich ließ sich Goethe von den Romantikern eben so gern beweihräuchern, wie dieselben sein Wohlwollen ihnen gegenüber entgegennahmen. Kotzebue stellte in seiner Zeitschrift das kulturelle und geistige Leben Berlins und Weimars durch Korrespondentenberichte kontrastierend nebeneinander, so dass der Eindruck von konkurrierenden Systemen entstehen musste. Hier (Berlin) eine pluralistische Kultur, die auf den Mythos von Voltaire und Friedrich dem Großen aufbaute, da (Weimar) ein autokratischer Dichter-Minister eines unbedeutenden deutschen Kleinstaates. Kotzebue hatte die besten Voraussetzungen dafür, diesen Kontrast deutlich erkennbar zu fixieren; denn er kannte die Theater und die Gesellschaften in Weimar und Berlin gut, so gut wie kein Zweiter in dieser Zeit. Vor seiner Umsiedlung nach Berlin im Herbst 1802 hatte er in seiner Vaterstadt Weimar eine Auseinandersetzung mit Goethe um die Inszenierung seines Stückes Die deutschen Kleinstädter.2 Goethe hatte das Stück ohne 1 Böttigers Briefwechsel mit Christian Gottlieb Heyne, hg. René Sternke, Klaus Gerlach, Berlin 2012, Nr. 143.
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Wissen des Autors stark bearbeitet, so dass Kotzebue es zurückzog. Kotzebue verfolgte interessiert, wie Goethe wenig später Karl August Böttigers Kritik an der Weimarer Aufführung des Ion3 von August Wilhelm Schlegel verhinderte.4 Zur gleichen Zeit intrigierte Goethe gegen Johann Gottfried Schadow, der nach Weimar gereist war, um eine Büste von Christoph Martin Wieland zu modellieren.5 Eines der letzten Erlebnisse Kotzebues in Weimar war die Theatervorstellung von Friedrich Schlegels Alarcos.6 Goethe hatte auf einem erhoben stehenden Stuhl im Parterre sitzend versucht, die in Gelächter ausbrechenden Zuschauer zu manipulieren und zu disziplinieren.7 In Berlin war Kotzebue in die sozialen Netzwerke der Spätaufklärer fest eingebunden. Er war eng befreundet mit Johann Daniel Sander, in dessen Verlag Der Freimüthige erschien. Sanders Frau führte einen angesehenen Salon, in dem die Anhänger ganz gegensätzlicher politischer Lager und ästhetischer Schulen zusammenkamen. Hier verkehrten Garlieb Merkel und August Wilhelm Iffland, die Schlegels, Adam Müller und Adalbert von Chamisso, der Prinzenerzieher Delbrück mit dem preußischen Kronprinzen und Durchreisende wie Jean Paul und Zacharias Werner.8 Kotzebue war kein Dichter-Minister wie Goethe, aber er war dennoch ein Günstling des Berliner Hofes, der sich um seine Umsiedlung in die preußische Hauptstadt bemüht hatte. Kotzebue wohnte in Berlin im Quarée am Brandenburger Tor, also in der vornehmsten Wohngegend. Der von Goethe Brüskierte spricht in seinen Briefen aus Berlin häufig von seinem Aufenthalt in den Kreisen des Hofes und seiner Freundschaft zu diversen preußischen Ministern.9 Auch wurden Kotzebues Stücke in den 2 Anonymus [Kotzebue?], »Ueber einen Zwist, welcher durch das Lustspiel die ›deutschen Kleinstädter‹ zwischen Herrn von Göthe und Herrn von Kotzebue entstanden«, Der Freimüthige, Nr. 80 (20. 5. 1803), 318 – 320. 3 Ion, Schauspiel in fünf Aufzügen. Die Aufführung fand am 2. 1. 1802 statt. 4 Anonymus [Kotzebue?], »Eine Begebenheit, von welcher wir wünschten, dass sie erdichtet wäre«, Der Freimüthige, Nr. 2 (4. 1. 1803), 7 f. 5 Johann Gottfried Schadow, »Kunstnachrichten von Herrn Schadow allhier«, in: Der Freimüthige, Nr. 87 (2. 6. 1803), 346 f. – Vgl. auch Andreas Beyer, »Prosa versus Poesie – Schadow und Goethe«, in: Ernst Osterkamp (Hg.), Wechselwirkungen. Kunst und Wissenschaft in Berlin und Weimar im Zeichen Goethes, Bern 2002, 273 – 289. 6 Alarcos, Trauerspiel in zwei Aufzügen, von Friedrich Schlegel. Die erste Vorstellung fand am 29. 5. 1802 statt. 7 Anonymus [Kotzebue?], »Alarcos auf der Weimarischen Bühne«, Der Freimüthige, Nr. 5 (10. 1. 1803), 19 f. 8 Vgl. Else Lüders, Die Sanders. Ein Familienschicksal aus Preußens Notzeit und Aufstieg, Leipzig 1940.
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privaten Zimmern des Königs Friedrich Wilhelms III. in Potsdam von der königlichen Familie mit verteilten Rollen gespielt.10 Im Januar 1803 wurde Kotzebue vom König mit einem Orden ausgezeichnet11 und auf Befehl des Königs als außerordentliches Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften »à la classe de Belles Lettres« aufgenommen.12 Das sind untrügliche Zeichen dafür, dass Kotzebue in Berlin geschätzt wurde und dass der König seine dauerhafte Anwesenheit in Berlin wünschte. Kotzebue betrachtete die Aufnahme in die Akademie nicht nur als Genugtuung und öffentliche Anerkennung, sondern er nahm regelmäßig an den Sitzungen teil und hielt mehrere Vorträge über preußische Geschichte.13 1808 erschien sein vierbändiges Werk Preußens ältere Geschichte, das er dem König dedizierte. Um dieses Werk verfassen zu können, hatte ihm die preußische Regierung die Erlaubnis erteilt, in den geheimen Archiven in Königsberg zu arbeiten. Kotzebue sah sich durchaus in Parallele zu Voltaire, der Historiograph Ludwigs XV. war und sein Werk Le Siècle de Louis XIV in Berlin gewissermaßen unter den Augen Friedrich II. vollendete und in einem Berliner Verlag erstmals drucken ließ.14 In seinem Vorwort bezieht er sich aber auch auf Historiker wie Johannes von Müller und August Ludwig Schlözer, mit denen er in Korrespondenz stand. Die Teilnahme an den exklusiven Sitzungen der Akademie verschaffte Kotzebue Renommée und machte ihn mit der geistigen Elite Preußens bekannt. Er wurde selbst zu einer wichtigen öffentlichen Person der Stadt, wenngleich er von Anfang an auch umstritten war; denn die Berliner Romantiker lehnten ihn ab, ja sie schlossen ihn aus ihren Kreisen geradezu aus und kritisierten seine Dramatik ohne Einschränkung. Aber das tat seiner Anerkennung am Hof keinen Abbruch, wo der Plan, eine Berliner Kulturzeitung zu gründen, unterstützt wurde; denn die Zeit9 Vgl. z. B. Kotzebue an Böttiger, 2. 4. 1803 und 22. 7. 1803, in: Der Briefwechsel zwischen August von Kotzebue und Carl August Böttiger, hg. Bernd Maurach, Bern 1987. 10 Vgl. Kotzebue an Böttiger, 28. 12. 1802, in: ibid. In diesem Brief berichtet Kotzebue über die Aufführung seines Stückes Das Urtheil des Paris. – Von dieser Aufführung ist ein handgeschriebener Besetzungszettel überliefert. »Das Urtheil des Paris / Jupiter …… die Prinzessin von Oranien / Paris …… der Herzog von Oels / Juno …… der Prinz Wilhelm / Minerva …… der Prinz Heinrich / Venus …… der Prinz v. Mecklenburg / Amor …… der Hofmarschall v. Massow / Merkur …… der Prinz v. Witchenstein« (Staatsbibliothek Berlin, Nachl. 141, Slg. Adam, 88). 11 Sander an Böttiger, 29. 1. 1803, in: Die Briefe Johann Daniel Sanders an Carl August Böttiger, hg. Bernd Maurach, Bern 1993, Bd. 4, 26. 12 Archiv Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Bestand Preußische Akademie der Wissenschaften 1700 – 1811, Protokolle I – IV, 34, Bd. 4, Bl. 49. 13 Kotzebue hielt am 22. März 1804 und am 4. April 1805 Vorträge über Preußische Geschichte (ibid., Bl. 75, Bl. 98). 14 Vgl. Martin Fontius, Voltaire in Berlin, Berlin 1966, 91 – 117.
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schriftengründung in Berlin war keine rein private Angelegenheit des populären Dramatikers. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. hatte persönlich mit »Kotzebue über dessen Blatt gesprochen und sowohl den Plan als die Ausführung« gebilligt.15 Kabinettsrat Karl Friedrich Beyme, Vertrauter Friedrich Wilhelms III., hatte die Zeitungsgründung von Anfang an unterstützt16 und Kotzebue den Zugang zum König verschafft. Der König betrachtete den Freimüthigen als eine Berliner Zeitung, die für die Belange Preußens zuständig war und das geistige Leben Berlins über die Grenzen der Stadt hinaus publik machen sollte. (In diesen Kontext gehört auch, dass es der Preußischen Regierung 1803 gelang, die renommierte in Jena erscheinende Allgemeine Literatur Zeitung zu einem Umzug nach Halle zu bewegen.) Dem Freimüthigen gelang es von Anfang an, die Aufmerksamkeit des gebildeten Publikums in Deutschland zu fesseln. Im Gegensatz zu den Horen, den Propyläen oder dem Athenäum, die nach kurzer Dauer eingestellt worden waren, war die Zeitschrift ein großer verlegerischer Erfolg. Nicht zuletzt deshalb, weil sie in einem ansprechenden Großformat erschien und mit sorgfältig gearbeiteten Kupferstichen herausragender klassizistischer Kunstwerke versehen war. Der Berichterstattung über die klassizistische Kunstproduktion und der Reflexion über die Antike und Klassizismus in Berlin wurde eben so große Bedeutung zugemessen wie den rationalistischen Positionen der Spätaufklärung, die an die Vernunft appellierte und über die wilde, ungezügelte Einbildungskraft der Romantiker spottete. II. Die Konzeption Kotzebues durchdachtes und ambitioniertes Konzept, das er mit Hilfe der Berliner Kulturzeitschrift verwirklichen wollte, bestand darin, die Zeit Friedrichs des Großen als eine klassische Zeit zu modellieren, an welche die gegenwärtige kulturelle Vielfalt und Blüte anschließen sollte. Deshalb rekurrierte Der Freimüthige, Berlinische Zeitung für gebildete, unbefangene Leser – so der vollständige Titel – auf die Zeit und den Mythos von Friedrich dem Großen und Voltaire. Die Berliner Aufklärung und die französische Klassik wurden als Referenzsysteme17 aufgestellt. Dabei setzte Kotze15 Johann Daniel Sander an Friedrich Wilhelm III., Berlin 13. 1. 1803 (Geheimes Staatsarchiv Berlin, HA I, GR, Rep. 9, Allgemeine Verwaltung, F 2 a, Fasz. 20, Bl. 151). 16 Vgl. Karl Friedrich Beyme an Kotzebue, Potsdam, 29. September 1802 (Staatsbibliothek zu Berlin, Signatur: Slg. Adam, K, 89). 17 Zur Modellierung von Klassiken als kulturellen Referenzsystemen vgl. die grundlegenden Betrachtungen von René Sternke, »Les classicismes comme systèmes culturels de référence«, in: XVIIe siècle. Revue publiée par la Société d’Etude du XVIIe siècle avec le concours du C. N. L. et de l’Académie Française, Paris 2012, 1, 117 – 129.
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bue auf die Wirkung historischer Dokumente, die vor allem dazu bestimmt waren, das Zeitalter des großen Königs wieder aufleben zu lassen und als nachahmenswert zu preisen [Abb. 1]. Vor der ersten Nummer des Freimüthigen findet sich als Buchschmuck ein Kupferstich des Berliner Historienmalers Christian Bernhard Rhode, auf dem dargestellt ist, wie die Muse Kalliope die Taten Friedrich des Großen aufzeichnet.18 In der zweiten
Abb. 1: Kalliope zeichnet die Taten Friedrichs II. auf (Zeichner: Christian Bernhard Rhode, Stecher: Eberhard Henne). Der Freimüthige 1803, Bayerische Staatsbibliothek, Signatur: 4 Per. 7 p-1,1/6 18 Dieser Stich ist nicht in allen Exemplaren des Freimüthigen nachweisbar, im Exemplar der Berliner Staatsbibliothek fehlt er, in dem der Bayerischen Staatsbibliothek ist er vorhanden. Alle anderen Abbildungen sind in beiden Exemplaren vorhanden, befinden sich aber nicht an der gleichen Stelle. Da es sich um eine Zeitschrift handelt, wurden die Abbildungen gesondert geliefert und vom Buchbinder da eingebunden, wo sie der Benutzer abgelegt hatte.
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Nummer der Zeitschrift begann der Abdruck bisher ungedruckter Briefe Voltaires an Friedrich II., der sich über fünf Nummern hinzog.19 Diese Briefe waren bis zu diesem Zeitpunkt gänzlich unbekannt, so dass angenommen werden muss, dass Kotzebue sie vom Hof erhalten hatte. Die Briefe wurden in französischer Sprache wiedergegeben und wirkungsvoll auf der Titelseite platziert. Die Briefe waren dazu bestimmt, an ein klassisches Zeitalter zu erinnern, es heraufzubeschwören und – wie wir noch sehen werden – daran anzuknüpfen. Voltaires Werke wurden, wenngleich sie auch von Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie heftig angegriffen worden waren, in Deutschland noch immer als klassisch angesehen. Gerade waren Goethes umstrittene Übersetzungen von Voltaires Mahomet und Tankred erschienen.20 Umstritten waren diese Übersetzungen, weil sie auf Wunsch oder Befehl des regierenden Weimarer Herzogs angefertigt worden waren. Friedrich Schiller hatte sich noch vor dem Abdruck bemüßigt gefühlt, öffentlich eine Erklärung in Gedichtform darüber abzugeben, warum Goethe sie gemacht habe.21 Das Gedicht sollte ursprünglich bei der Aufführung am 30. Januar 1800 auf dem Weimarer Hoftheater als Prolog gesprochen werden, was aber dann nicht geschah. Schiller kommt in seinem Gedicht in der letzten Strophe zu dem wenig einleuchtenden Schluss, dass den Weimaranern die französische Klassik nicht »Muster«, sondern nur »Führer« zum Bessern sei.22 Schiller unternahm diese Anstrengung, weil das Referenzsystem der Weimaraner offiziell die Antike und nicht die französische Klassik war. Es war noch nicht lange her, da hatten Goethe und Schiller gemeinsam die Poetik des Aristoteles gelesen und über Homers und Sophokles’ Dichtungen diskutiert, woraus in der Folge der gemeinsame Aufsatz Über epische und dramatische Dichtung entstanden war.23 Und schließlich wurde gerade (am 18. März 1803) Schillers Stück Die Braut von Messina in Weimar uraufgeführt, in dem Chöre nach dem Vorbild antiker Dramen als handelnde Person auftreten. Ludwig Ferdinand Huber machte sich dann auch ein Vergnügen daraus, auf diesen Widerspruch, in den der Weimaraner Dichter-Minister geraten war, sowie Schillers Eilfertigkeit im Freimüthigen hinzuweisen und außerdem Goethes lustlose Übersetzung zu kritisieren.24 Vgl. Der Freimüthige, Nr. 2, Nr. 8, Nr. 16, Nr. 23, Nr. 38 (1803). Mahomet. Trauerspiel in fünf Aufzügen, nach Voltaire von Göthe, Tübingen 1802. – Tancred. Trauerspiel in fünf Aufzügen, nach Voltaire von Göthe, Tübingen 1802. 21 Friedrich Schiller, »An Goethe, als er den Mahomet von Voltaire auf die Bühne brachte«, in: Gedichte von Friedrich Schiller, Erster Theil, Leipzig 1800, 270 – 274. 22 Ibid., 274. 23 Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, 2. Abteilung, Bd. 41.2, Weimar 1809, 220 – 224. 19 20
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Berlin dagegen bezog sich schon immer auf die französische Klassik. Auf dem Berliner Nationaltheater liefen die Stücke Voltaires mit Erfolg. Voltaires Briefe im Freimüthigen waren demzufolge kein Widerspruch, sondern Glied einer Traditionskette. In den abgedruckten Briefen wird vor allem Friedrich II. mit seinem Doppeltalent als Dichter und Staatsmann inszeniert. Voltaire schreibt: »Il y a long-tems que je vous dis que vous êtes l’homme le plus extraordinaire qui ait jamais été. Avoir l’Europe sur les bras et faire les vers que V. M. m’envoye, est assurément une chose unique«.25 Aber auch Voltaires Werke, die der König geliebt habe und die von ihm und den Prinzen aufgeführt worden seien, kamen zu Sprache. Damit wurde eine direkte Verbindung zur Gegenwart geknüpft. Viele Werke der französischen Klassik gehörten in Berlin um 1800 noch immer zum festen Repertoire des Nationaltheaters bzw. wurde der Versuch unternommen, sie dort aufzunehmen.26 Gerade war von August von Kotzebeu die erste Versübersetzung in deutscher Sprache von Molières L’ecole des femmes auf dem Berliner Theater inszeniert worden.27 Bezeichnenderweise wurde diese originelle Übersetzung in Knittelversen von den Romantikern durch einen sorgfältig geplanten Theaterskandal am 18. März 1803 in Berlin ausgepocht.28 Neben den Briefen Voltaires erschien im Freimüthigen eine Folge von Briefen des preußischen Dichters Ewald von Kleist an den selbsternannten »preußischen Grenadier« Friedrichs des Großen, Johann Wilhelm Ludwig Gleim.29 Diese Briefe stammen aus der gleichen Zeitperiode wie die Voltaires, sie setzen ein wenig früher ein. Unverkennbar ist die Parallele, die Kotzebue ziehen will: er beabsichtigt, Ewald von Kleists Gedichte, die gerade in einer Prachtausgabe neu ediert worden waren,30 neben die Werke 24 Ludwig Ferdinand Huber, »Ueber Göthe’ns Uebersetzung von Mahomet und Tankred«, in: Der Freimüthige, Nr. 12 (21. 1. 1803), 45 f. 25 Der Freimüthige, Nr. 38 (8. 3. 1803), 149. 26 Die Schule der Frauen, Lustspiel in 5 Akten von Moliere, frei übersetzt in Knittelverse vom Hrn. v. Kotzebue. Vgl. Datenbank zum Berliner Nationaltheater: http: // berlinerklassik.bbaw.de / BK / theater / index_html. 27 Vgl. die Rezensionen zu dieser Aufführung: http: // berlinerklassik.bbaw.de / BK / theater / Zeitung.html?zeitung_id=54 http: // berlinerklassik.bbaw.de / BK / thea ter / Zeitung.html?zeitung_id=354. 28 Vgl. René Sternke, »Französische und Berliner Klassik«, in: Klaus Gerlach, René Sternke (Hgg.), Der gesellschaftliche Wandel um 1800 und das Berliner Nationaltheater, Hannover 2009, 180. 29 Der Freimüthige, Nr. 14 (1803), 53 f., und Nr. 15, 57 f. 30 Ewald von Kleist, Sämmtliche Werke nebst des Dichters Leben aus seinen Briefen an Gleim, hg. W. Körte, Berlin 1803.
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Voltaires zu stellen. Damit unternimmt er den Versuch, die deutsche Dichtung aus der Zeit Friedrichs des Großen aufzuwerten. Ewald von Kleist, der den Göttinger Hainbunddichtern ein Heiliger gewesen war,31 taugte für diese Vorbildfunktion insofern gut, weil er, als jung Verstorbener, nicht in Goethes und Schillers Xenien32 verspottet worden war wie die meisten noch lebenden Dichter seiner Zeit. Ewald von Kleist war der erste deutsche Dichter, der den Hexameter mit Erfolg verwendet hatte. Sein Hauptwerk Der Frühling33 war in diesem antiken Versmaß, das er der deutschen Sprache angepasst hatte, geschrieben. Er galt als innovativer Initiator, dessen Versuche viele Autoren wie z. B. Klopstock anregten, mit der Sprache zu experimentieren.34 Die abgedruckten Briefe inszenierten Ewald von Kleist und Friedrich II. gleichermaßen. Vom ersteren steht die Berufung in die Akademie durch deren Präsidenten Monsieur de Maupertuis, vom zweiten die Eroberung Dresdens im Mittelpunkt des brieflichen Erzählens. Der siegreiche Feldherr und der Dichter, dessen Werk durch die Aufnahme in die Akademie gekrönt wurde, wurden zum Vorbild stilisiert. Die Briefe Voltaires und Ewald von Kleists sind das geistige Fundament, auf dem Kotzebue im Freimüthigen aufzubauen versucht. An diese historischen Dokumente schließen die Beiträge von Schadow und Konrad Levezow im Freimüthigen nicht nur an, indem sie Stichworte dieser Briefe aufnehmen, sondern es wird deutlich, dass sie geistesgeschichtlich an diese Epoche anknüpfen und nicht wie die Weimaraner mit ihr brechen. Der Berliner Archäologe und Dichter Konrad Levezow liefert gleich zu Beginn einen wichtigen Aufsatz über Die Kunstschätze des Königlichen Preußischen Hauses.35 In diesem Beitrag zeigt er, dass die bedeutendste Sammlung antiker Gegenstände in Deutschland eine lange Geschichte hat und dass Friedrich II. so herausragende Stücke wie den Betenden Knaben [Abb. 2] und die sogenannte Familie des Lykomedes erworben hatte. Den Lesern des Freimüthigen wird Friedrich II. als bedeutender Sammler klassischer Kunst31 Hermann Hettner, Geschichte der Deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert, Berlin 1961, Bd. 1, 408. 32 Goethe und Schiller, »Xenien«, in: Musen-Almanach auf das Jahr 1797, Tübingen 1796. 33 Ewald von Kleist, Der Frühling, Berlin 1749. 34 Eric A. Blackall, Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache. 1770 – 1775, Stuttgart 1966, 241, sowie Lothar Jordan: »Was war neu an Ewald von Kleists ›Der Frühling‹«, in: ders. (Hg.), Ewald von Kleist. Zum 250. Todestag, Würzburg 2010, 93 – 108. 35 Konrad Levezow, »Die Kunstschätze des Königlichen Preußischen Hauses«, Der Freimüthige, Nr. 16 und 17 (1803).
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Abb. 2: Ganymedes [Der betende Knabe] (Zeichner: Heinrich Anton Dähling, Stecher: Anton Wachsmann). Der Freimüthige 1803, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Signatur: Ad 285
werke aus der Antike nahe gebracht. Levezow beschreibt ausführlich den Ganymedes, eine Ikone der Berliner Antiken, die Friedrich II. auf der großen Terasse von Schloss Sanssouci gegenüber seiner Bibliothek aufgestellt
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hatte.36 Wenn Christian Daniel Rauch die Aufstellung dieser Skulptur vor dem Potsdamer Schloß auf dem Sockel des großen Standbildes auf der Straße Unter den Linden auf einem Relief festhält, zeigt er, welche Bedeutung die Antike als kulturelle Referenz für den König gehabt hat und dass diese Bedeutung fortbesteht [Abb. 3]. Als das Denkmal 1851 enthüllt wurde, sollte diese Skulptur bereits zu den Prunkstücken des von Karl Friedrich Schinkel erbauten neuen Museums gehören. Das Wichtigste an Levezows Beschreibung dieser Statue ist seine Neuinterpretation; denn bisher wurde die bronzene Figur für ein Standbild des Antinous angesehen; tatsächlich ist sie viel älter, als bisher angenommen wurde, wahrscheinlich stammt sie aus der Schule des Lysippos. Damit stellt Levezow auch die Berliner Kompetenz der sich gerade konstituierenden Wissenschaft der klassischen Archäologie unter Beweis. In der zur gleichen Zeit entstandenen Abhandlung über die Familie des Lykomedes37 sollte das noch eindrucksvoller geschehen, da Levezow zum ersten Mal eine kritisch-hermeneutische Methode für die Archäologie forderte und einsetzte und sie mit der Naturwissenschaft verglich.38 Der Ganymedes wurde den Lesern des Freimüthigen auf einem neuen Kupferstich mitgeliefert, so dass jeder die Neuinterpretation nachvollziehen konnte. Der Stich war einerseits ein wichtiges bildkünstlerisches Objekt des Freimüthigen und andererseits ein Repräsentant der Berliner Antikensammlung, die verstärkt zum Objekt der neueren Forschung wurde. In seinem Beitrag über Die Kunstschätze des Preußischen Hauses verkündete Levezow fast ein bisschen prahlerisch, dass »schwerlich ein ähnlicher Kunstschatz in Deutschland dem Preußischen den ersten Rang streitig machen werde«.39 Dieser Aufsatz Levezows, in dem er die Gründung eines großen Kunstmuseums in der preußischen Hauptstadt anmahnt (um die jetzt an vielen Orten in Berlin und Potsdam aufbewahrten Stücke zu vereinen), will Berlin, das zu dieser Zeit kein öffentliches Museum und keine Universität hat, als maßgebenden Ort der Sammlung und Erforschung klassischer Kunstwerke ins Spiel bringen. Kotzebues wichtigster Verbündeter in Berlin war der Hofbildhauer Johann Gottfried Schadow, den er als seinen Freund bezeichnete. Wie auch Kotzebue lehnte Schadow sowohl die Kunsttheorie der Romantiker als 36 Vgl. Nele Hackländer, »Der Betende Knabe – Eine Antike auf Wanderschaft«, und Jörg Kuhn, »Der ›Betende Knabe von Sanssouci‹. Die Rezeptionsgeschichte des Knaben vom 18. Jahrhundert bis heute«, in: Gerhard Zimmer, Nele Hackländer (Hgg.), Der Betende Knabe. Original und Experiment, Frankfurt a. M. 1997. 37 Konrad Levezow, Ueber die Familie des Lykomedes in der Königlichen Preußischen Antikensammlung. Eine Archäologische Untersuchung, Berlin 1804. 38 Ibid, II. 39 Levezow, »Die Kunstschätze«, Nr. 16.
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Abb. 3: Friedrich Christian Daniel Rauch, Relief vom Sockel des Reiterstandbildes Friedrich des Großen. Foto privat.
auch das Weimarer klassizistische Programm ab. Mit Schadow verband Kotzebue nicht nur ein gespanntes Verhältnis zu Goethe und die gnadenlose Ablehnung durch die Romantiker. Beide einte die Ansicht, dass die Kunst lebendig und ansprechend, also der Natur nachgebildet sein soll, sich aber über sie erheben müsse. Man kann dieses Konzept auch als eine Ästhetik des Lebendigen oder eine Ästhetik des Natürlichen bezeichnen. Goethes Verdikt der Berliner Kunst, sie stelle das Vaterländische und nicht das Allgemeinmenschliche dar, trifft auf Kotzebue nicht weniger zu als auf Schadow, auf den Goethes Bemerkung in den Propyläen vor allem gerichtet war.40 August Wilhelm Schlegels boshaft-ironische Besprechung von Schadows Kotzebue-Büste, die auf der Berliner Kunstausstellung 1802 gezeigt wurde, macht das deutlich41 [Abb. 4]. Schlegel lobt mit unverkennbarer 40 Propyläen. Eine Periodische Schrift. Herausgegeben von Johann Wolfgang von Goethe, Bd. 3., 2. Stück, Tübingen 1800, 167. 41 Schadows Büste von Kotzebue gilt als verschollen, auch eine Abbildung war bisher nicht bekannt. Der hier gezeigte Stich des Berliner Portraitmalers und Kupfer-
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Abb. 4: August von Kotzebue (Kupferstich nach der Büste von Schadow (?), Stecher: Johann Michael Siegfried Lowe, 1819), Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Grafikporträtsammlung, Nr. 48 (Kotzebue, A. F. F.)
Ironie die Büste als den »Kulminationspunkt von Herrn Schadows Talent«. Das Marmorbildnis sei, »ohne, daß der Bildhauer sich in ihm ungewöhnliche Kunstbestrebungen verstiegen habe, ganz Natur, ganz Wahrheit, und, soviel es bei diesem Gegenstande möglich war, ganz Charakter«, so dass man in »diesem Gesichte die beliebte Popularität der Schriften« jenes Manstechers Johann Michael Siegfried Lowe entstand 1819. Mit großer Wahrscheinlichkeit wurde dieser Stich nach Schadows Büste gefertigt. Ich danke Herrn Reimund Lacher für seine Beratung. Lacher hält die Abbildung nicht für eine fingierte Büste, da die Gesichtsformen sehr plastisch seien und auch die Mimik sehr gut zu einer Büste passten. Auch würde der unprätentiöse Büstenabschnitt sehr gut zu Schadows Arbeiten passen.
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nes, der keinen Charakter habe, wiederfände.42 Bemerkenswert nun ist, dass Schlegel diese Büste mit derjenigen von Goethe verglich, die von dem Bildhauer Christian Friedrich Tieck gefertigt und ebenfalls auf der Berliner Ausstellung gezeigt worden war, und auf diese Weise Berlin gegen Weimar ausspielte. Während Schlegel in seiner Betrachtung Goethe und Tieck unterstellt, ihr Schaffen sei das Produkt ihres männlichen Geistes, behauptete er, Kotzebues und Schadows Werke seien Produkte der Wahrheit und Natur. Es wird deutlich, dass die von Schlegel gelobte idealisierte GoetheBüste und das getadelte nach der Natur geformte Kotzebue-Porträt für zwei grundverschiedene Formen der Aneignung der Antike stehen. Die von Schadow stammenden Beiträge im Freimüthigen beschäftigen sich mit der Berliner und Weimarer Kunstausstellung und setzen sich mit der scharfen Kritik August Wilhelm Schlegels auseinander, die vor allem den in Berlin entstandenen Kunstwerken galt. Vorzüglich handelt es sich dabei um das Gemälde Helena und Paris des jungen Stuttgarter Malers Philipp Friedrich Hetsch, der sich mehrere Monate in Berlin aufgehalten hatte, um dieses Bild zu malen, und das Gemälde Pyramus und Thisbe des Berliner Historienmalers Johann Gottlieb Puhlmann. Von beiden Gemälden wurden Stiche zur Illustration beigegeben. Schadow verteidigt Puhlmanns Gemälde gegen die unsachlichen und sich oft ins Allgemeine verlierenden Äußerungen Schlegels, der über das Gemälde nur in Jammer ausbrechen möchte, wenn er an Shakespeares Sommernachtstraum denke, wo diese antike Sage ebenfalls dargestellt wird.43 Während Schlegel ironisch die Gelehrsamkeit der Darstellung in den Vordergrund schiebt und Unrichtigkeiten, die aber die Antiquare beurteilen müssten, auszumachen meint, lenkt Schadow den Leser / Betrachter vor allem auf die differenzierte Darstellung von Gefühlen wie Schmerz und Betroffenheit auf dem Antlitz der Figuren, die der überraschende Tod des jugendlichen Liebespaares auslöst.44 Wieder zieht der Gegensatz von Geist und Natur eine deutliche Trennlinie. Die Beschreibung von Hetschs Gemälde Helena und Paris nahm Schadow zum Anlass, um seine Position zur Aneignung der Antike darzulegen45 [Abb. 5]. Er lobt das Sujet, die Komposition und das Kolorit. Er kritisiert aber die Darstellung des Kopfes des Paris. Man sehe, dass dem 42 August Wilhelm Schlegel, »Ueber die Berlinische Kunstausstellung«, Zeitung für die elegante Welt, Leipzig, Nr. 5 (11. 1. 1803), 36 f. 43 Zeitung für die elegante Welt, Nr. 8, 58 f. 44 Schadow, »Beytrag zu den Nachrichten der vorjährigen Kunstausstellung, Pyramus und Thisbe, Komposition von zwölf Figuren«, Der Freimüthige, Nr. 127 (11. 8. 1803), 506. 45 Schadow, »Ueber Helena und Paris, ein Gemählde von Herrn Hetsch in Stuttgard. Von Herrn Rektor Schadow«, Der Freimüthige, Nr. 28 (18. 2. 1803), 109 f.
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Abb. 5: Helena und Paris (Kupferstich nach dem Gemälde von Philipp Friedrich Hetsch). Der Freimüthige 1803, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Signatur: Ad 285
Künstler ein antiker griechischer Kopf oder Gipsabguss vor Augen gestanden habe. Die Ausführung sei ihm daher misslungen. Schadow äußerte bei dieser Gelegenheit die Meinung, dass es auch für einen guten Künstler ratsam sei, lieber ein schönes Gesicht nach der Natur zu malen, wenn man auch dann nicht in den strengen Linien des Griechischen Ideals bleiben könne, dafür werde das Bild aber lebendig und ansprechend. Schadow nutzte diese Bildbeschreibung, um auf die Kritik August Wilhelm Schlegels an seinen ausgestellten Porträt-Büsten, insbesondere der von Kotzebue, indirekt zu antworten. Schlegel hatte Schadow vorgeworfen, die ideale Form, die wir an den Werken der Antike bewundern, nicht anzuerkennen. Aus Schadows Antwort wird deutlich, dass es ihm nicht um die ideale Form geht, nicht um Idealisierung, sondern um eine Ästhetik des Lebendigen. Das Gleiche gilt auch für Schadows Kritik an Ludwig Hummels Gemälde Perseus und Andromeda,46 das auf der Weimarer Kunstausstellung 1802 den
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ersten Preis davongetragen hatte. Diese Kritik Schadows war ein frontaler Angriff auf die klassizistischen Kunstbestrebungen der Weimarer Kunstfreunde. Abgesehen davon, dass Schadow mit viel Witz die anatomischen Unzulänglichkeiten aller abgebildeten Figuren ausführlich beschreibt, macht seine Ablehnung des Motivs in der Malerei der Gegenwart seinen Gegensatz zu Goethe in der Aneignung der Antike deutlich. Goethe hatte in seinem das Bild begleitenden Text geschrieben, dass der dargestellte Genius den Betrachter in eine höhere Region hebe und in eine Urzeit zurück führe, wo die Menschen mit den Göttern verwandt waren und Umgang pflegten. Schadow kann mit diesem rückwärtsgewandten klassizistischen Pathos, das er auch »religiösen Aberglauben« nennt, nichts anfangen; er bestreitet vehement, dass 1. der Betrachter verstehe, worum es in dem Bild gehe, und dass uns 2. heute jede Grundlage dazu fehle, um uns an diesem »religiösen Aberglauben« begeistern zu können. In dieser Kritik ist Schadow Schlegel übrigens ganz nahe und man sieht, dass die Spätaufklärer den Romantikern gar nicht so fern sind; denn Schlegel kritisiert in seiner Vergleichung der Phädra des Racine mit der des Euripides den französischen Klassiker vor allem deshalb, weil der dargestellte »antike Mythos nicht mehr in der Lebenswelt der Franzosen verankert gewesen sei«.47 Das in Berlin ausgestellte Gemälde Helena und Paris von Hetsch ist zwar auch klassizistisch, aber es stellt dar, wie ein Jüngling versucht, seine Geliebte durch das Musikspiel zu besänftigen und für sich einzunehmen. Ein mit jeder Gegenwart kompatibles Motiv. Neben den Beiträgen von Schadow und Levezow waren die von Schadows Meisterschüler Friedrich Hagemann, der sich als Stipendiat der Berliner Akademie der Künste in Rom aufhielt, für den Freimüthigen wichtig. Der junge Hagemann hatte bei der letzten Berliner Kunstausstellung die allgemein geschätzte Marmorskulptur Eine spielende Najade ausgestellt [Abb. 6]. Die Najade erinnert zwar an antike Liegefiguren, war aber wie auch Schadows Arbeiten nicht einer Ideallinie verpflichtet, sondern der 46 Der Freimüthige, Nr. 34 (1. 3. 1803), 133 – 135. – Dieser Beitrag ist ohne Angabe eines Verfassers erschienen. Er wird Schadow zugeschrieben, weil sich stilistische und inhaltliche Ähnlichkeiten zu von Schadow unterzeichneten Beiträgen ergeben. Im fraglichen Text findet sich der Satz: »Ich will nicht die Verhältnisse ihres Körpers zergliedern; wer sie richtig finden kann, der nehme den Zirkel« (134). Bekanntlich war der Zirkel ein wichtiges Arbeitsmittel für Schadow. In einem wenig später erschienenen von ihm gezeichneten Beitrag heißt es: »um meine Erfahrungen zu vervielfältigen, hatte ich mir vorgenommen, während meines Aufenthalts in Weimar, mit dem Zirkel und dem Faden Beobachtungen zu machen« (Der Freimüthige, Nr. 87, 346). 47 Alexander Nebrig, »Racines Geltungsverlust in der Romantik«, in: Marcel Krings, Roman Luckscheiter (Hgg.), Deutsch-französische Literaturbeziehungen. Stationen und Aspekte dichterischer Nachbarschaft vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Würzburg 2007, 109.
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Abb. 6: Eine spielende Najade (Kupferstich nach der Skulptur von Karl Friedrich Hagemann). Der Freimüthige 1803, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Signatur: Ad 285
Natur. Börsch-Supan sieht in der Skulptur, die ein »selbständiges Stilwollen« ausdrücke, ein typisches Kunstwerk der Mark um 1800.48 Die Najade 48 Helmut Börsch-Supan, Die Kunst in Brandenburg-Preußen. Ihre Geschichte von der Renaissance bis zum Biedermeier dargestellt am Kunstbesitz der Berliner Schlösser, Berlin 1980, 210.
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wurde wenig später zusammen mit dem Betenden Knaben und Schadows Quadriga vom Brandenburger Tor von Vivant Denon und seiner Museums-Kommission nach Paris gebracht, was in Kunstkennerkreisen bedeutete, dass sie als besonders wertvoll angesehen wurde. Von Hagemann wurden mehre Briefe veröffentlicht, in denen er über das gegenwärtige Kunstleben in Rom informierte.49 Ausführlich berichtet er z. B. über die Arbeiten von Antonio Canova, der gerade die Gruppe Herkules und Lichas beendet hatte. Diese Gruppe wurde später eingehend in einem kunsthistorischen Aufsatz beschrieben und auf einem Kupfer den Lesern des Freimüthigen gezeigt.50 Schadow, Levezow und Hagemann gehörten in ihrem Fach zu den Besten und weithin Anerkannten. Sie waren für Kotzebue unverzichtbar, weil sie über die bildende Kunst in Berlin in ihrer Beziehung zur griechisch-römischen Antike, die Berliner antiken Kunstsammlungen und das Kunstgeschehen in Rom, wo aus ganz Europa Künstler zusammenkamen, berichteten und damit Berlin Ansehen als klassizistische Kunstmetropole verschafften. Neben den Berliner Autoren hatte Kotzebue ein weitverzweigtes Netz von Korrespondenten, die aus Wien, Paris, St. Petersburg, Moskau, Rom, Dresden und natürlich aus Weimar berichteten. Im Zentrum dieser Berichte stand das Theater- und Kunstleben in diesen Städten. Weitere Autoren waren u. a. Karl August Böttiger aus Weimar, der kulturgeschichtliche Beiträge über die Griechen und Römer lieferte,51 und der politische Schriftsteller August Wilhelm Rehberg aus Hannover, der über französische Literatur schrieb und die lange Diskussion im Freimüthigen über Madame de Staëls Roman Delphine fortführte.52 Der wichtigste Nichtberliner Autor war der angesehene Publizist Ludwig Ferdinand Huber aus Stuttgart, der die riesige Menge literarischer Neuerscheinungen besprach. Von ihm wurden im ersten Jahrgang des Freimüthigen die meisten Beiträge verfasst. Von Huber stammt auch die erste Rezension von Heinrich von Kleists Drama Die Familie Schroffenstein.53 Hubers im Freimüthigen veröffentlichter Text Erscheinung eines neuen Dichters54 ist die erste öffentliche Besprechung des 49 Der Freimüthige, Nr. 33, Nr. 36, Nr. 38. Die Beiträge sind ungezeichnet. Kotzebue schreibt im Brief vom 26. 2. 1803 an Böttiger, dass Hagemann der Verfasser sei. Vgl. Der Briefwechsel zwischen August von Kotzebue und Carl August Böttiger, hg. Maurach, 100. 50 Der Freimüthige, Nr. 108 (8.7.1803). 51 Böttiger, »Antiquarisches Räucherpulver«, Der Freimüthige, Nr. 31 (24. 2. 1803), 121 f.; Nr. 33 (28. 2. 1803), 131 f. 52 August Wilhelm Rehberg, »Noch ein Wort über Delphine«, Der Freimüthige, Nr. 65 (25. 4. 1803), 257 – 260. 53 Heinrich von Kleist, Die Familie Schroffenstein, Bern / Zürich 1803.
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damals noch unbekannten Autors überhaupt. Die kurze und wenig originelle Anzeige, die mehrere Monate später in der Zeitung für die elegante Welt erschien, ist nicht mehr als ein lauer Aufguß.55 Huber erkannte in Kleist das herausragende Talent, in dem er weder einen Nachahmer von Shakespeare, Goethe und Schiller, noch den der neuen ästhetischen Schule der Romantiker sah. Tatsächlich scheint sich Kleist an der französischen Klassik mehr orientiert zu haben, als das die Forschung bisher annimmt. Es gibt in Kleist Penthesilea und Amphitrion starke Bezüge zu Racines Phèdre56 und Molières Amphitrion. Die Komödie bezieht sich im Untertitel ausdrücklich auf den französischen Klassiker. Vermutlich versuchte Huber, den jungen Dichter in der Auseinandersetzung mit den Romantikern zu vereinnahmen. Hubers Besprechung ist voller Bewunderung und Anerkennung für Kleists Stück Die Familie Schroffenstein, das er eine Wiege des Genies nennt. Huber sollte mit seiner beim Lesen geschöpften Hoffnung, »daß endlich doch wieder ein rüstiger Kämpfer um den poetischen Lorbeer aufstehe, wie ihn unser Parnaß gerade jetzt so sehr braucht«,57 recht behalten. Jens Bisky nannte Heinrich von Kleist jüngst in der Süddeutschen Zeitung den »preußischen Klassiker«.58 III. Das Scheitern Kotzebues Kulturzeitschrift war so erfolgreich wie keine andere Zeitschrift zu diesem Zeitpunkt und fand viele Nachahmer, so dass man ohne Übertreiben sagen kann, der Freimüthige ist die klassische Kulturzeitschrift. Schon nach zwei Monaten wurden 1400 Exemplare verkauft, die Auflage stieg bald bis gegen 2000 Exemplare.59 Johann Friedrich Cottas 1807 gegründetes Morgenblatt für gebildete Stände, das sich den Freimüthigen in 54 Ludwig Ferdinand Huber, »Erscheinung eines jungen Dichters«, in: Der Freimüthige, Nr. 36 (4. 3. 1803), 41 f. Der Beitrag Hubers ist » – b – « gezeichnet. 55 Zeitung für die elegante Welt, Nr. 91 (30. 7. 1803), 724 f. 56 Vgl. Klaus Kanzog, »Im Geiste der Tragédie de l’âge classique. Die Rhetorik in Racines ›Phèdre‹ und Heinrich von Kleists ›Penthesilea‹«, in: Beiträge zur Kleistforschung, hg. Kleist-Museum Frankfurt (Oder), Würzburg 2003, 211 – 232. 57 Huber, Erscheinung, 141. 58 Jens Bisky, »Mein Blick sucht mein Gesicht. Vor dem Kleist-Jahr 2011, 15 Jahre nach dem Tod Heiner Müllers: Der preußische Klassiker und eine Deutsche Demokratische Republik«, Süddeutsche Zeitung (30. 12. 2010). 59 Vgl. Kotzebue an Böttiger, 22. 3. 1803, in: Der Briefwechsel zwischen August von Kotzebue und Carl August Böttiger, hg. Maurach, 102 f.
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vieler Hinsicht zum Vorbild nahm, wird erst nach vielen Jahren diese Verkaufszahlen erreichen.60 Der Erfolg lag an der ausgewogenen Mischung von 1. anspruchsvollen literatur-ästhetischen Beiträgen, 2. dem Abdruck von Auszügen neuer Dramatik wie z. B. Kotzebues Übersetzung der Schule der Frauen, Kleists Familie Schroffenstein oder Zacharias Werners Söhne des Thales, 3. Korrespondentenberichten, 4. Anekdoten und 5. den vielen satirischen Texten, die sich auf Goethe und die Romantiker bezogen. Der verlegerische Erfolg kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kotzebues Konzept, Weimar und der Romantik eine Alternative entgegenzusetzen, gescheitert ist. Weder die Berliner Aufklärung noch das klassizistische Berlin wurden den Deutschen klassisch. Kotzebues Scheitern hat viele Gründe. Er ist gescheitert, weil er die Kunsttheorie der Romantiker nicht ernst genug nahm und glaubte, ihr allein mit rationalistischem Witz und Satire begegnen zu können. Kotzebues Berichte über das Weimarer Kulturleben, in dessen Mittelpunkt Goethe stand, zeichneten Weimar als eine Karikatur des kleinstädtischen kulturellen Despotismus. Seine eigenen Beiträge im Freimüthigen waren witzig und pointiert. Auf diese Weise amüsierte er zwar das gebildete Publikum, aber diese Beiträge boten der idealistischen Kunsttheorie, die die deutsche Geisteswissenschaft fortan dominieren sollte, keine Ansatzmöglichkeiten. Beider Denkfiguren waren zu unterschiedlich. Ja die Satire verhinderte offenbar die angemessene Wahrnehmung der anderen, oft sehr substanziellen Texte, wie die von Schadow und Levezow. Kotzebues scharfe Satire hat den Blick auf seine Person und sein Schaffen komplett verstellt und waren seiner Sache à la longue hinderlich, wie die einzige, 1930 verfasste Arbeit über den Freimüthigen zeigt.61 Diese aus zwei großen Kapiteln bestehende Studie widmet sich 1. dem »Kampf gegen Goethe« und 2. dem »Kampf gegen die Romantik« und besteht im wesentlichen nur in der Zusammenstellung der diesen Themen zuzuordnenden Beiträge. Den restlichen, aber weitaus größeren Teil der Zeitung nimmt der Verfasser nicht zur Kenntnis. Schon Heinrich Döring (der erste Biograph Goethes!) schrieb 1830 in seiner Lebensbeschreibung Kotzebues, dass man glaubte, den »die Geißel der Satyre schwingenden Autor nicht schärfer züchtigen zu können, als wenn man ihm als dramatischen Dichter einen untergeordneten Rang zuwies«.62 Kotzebue ist gescheitert, weil er es nicht vermochte zu integrie60 Bernhard Fischer, Morgenblatt für gebildete Stände / gebildete Leser, nach dem Redaktionsexemplar im Cotta-Archiv (Stiftung »Stuttgarter Zeitung«); Register der Honorarempfänger, Autoren und Kollationsprotokolle, München 2000, 9 f. 61 Wilhelm Porstner, »Der Freimüthige« (1803 – 1806) im Kampf gegen Goethe und die Romantik, Wien 1930.
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ren, sondern stark polarisierte. So war Heinrich von Kleist zwar mit seiner Besprechung nicht unzufrieden, er machte seine Schwester Ulrike erst auf sie aufmerksam und bat, Exemplare davon zu beschaffen, wollte aber sonst mit dem albernen Kauz Kotzebue,63 den er für den Autor hielt, nichts zu tun haben. Vielleicht hat Kotzebue auch die Komplexität der Berliner Kulturlandschaft unterschätzt und nicht gesehen, dass sich die Gebildeten nicht alle auf sein aufklärerisch-klassizistisches Programm, das die französische Klassik als Referenzsystem aufstellt, festlegen ließen. Sehr wahrscheinlich aber ist der politisch motivierte Umschwung entscheidend, der sich in der Zeit der Befreiungskriege ereignet; denn die kosmopolitische Prusse française64 wird endgültig durch ein patriotisches Preußen verdrängt. In diese patriotisch-nationale Tendenz passten die Ideen der Romantik besser. Kotzebues Kosmopolitismus, der weder Deutschtümelei noch antijüdische Ressentiments kennt, wurde weitgehend abgelehnt. In seiner Preußischen Geschichte hatte Kotzebue die Bedeutung des deutschen Ordens bei der Besitznehmung Preußens wenig schmeichelhaft beschrieben. Es sei dem Orden nicht um die Lehre Jesu gegangen, sondern um die Herrschaft im Lande,65 vor allem stießen seine Äußerungen von der polnischen Bevölkerung Preußens, der er im Gegensatz zu vorherigen Geschichtsschreibern keine kulturelle Unfähigkeit attestierte,66 auf erheblichen Widerspruch, so dass es nicht verwundert, dass seine Bücher auf dem Wartburgfest 1817 verbrannt wurden. August Wilhelm Schlegel leistete dem Vorschub, indem er Kotzebue und Schadow publikumswirksam als charakterlos denunzierte und öffentlich beschädigte. Die verspottete und verschollene marmorne Büste der beiden Berliner ist somit ein Symbol des Scheiterns ihres Programms. 62 Heinrich Döring, August von Kotzebue’s Leben, Weimar 1830, VI. Döring hatte seine Biographie mit der Absicht geschrieben, Kotzebue »wieder den Platz einzuräumen, der ihm als dramatischer Dichter unbedenklich gebührt«, ibid. VII. 63 Kleist an Ulrike von Kleist, Leipzig, 13. und 14. März 1803, in: Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe, hg. Roland Reuß, Peter Staengle, München 2010, Bd. II, 812. 64 Vgl. Jens Häseler, »Das Ende der Französischen Präsenz in Preußen. Rückblicke«, in: Martin Fontius, Jean Mondot (Hgg.), Französische Kultur – Aufklärung in Preußen, Berlin 2004, 219 – 226. 65 Kotzebue, Preußens ältere Geschichte, Bd. 1, 150. – Dort heißt es: »Nirgend eine Spur, daß die Ritter auch nur versucht, die kindliche Religion des Kindes zu predigen […]. Erobern wollten sie ein L a n d nicht M e n s c h e n; gründen eine H e r r s c h a f t, nicht die L e h r e J e s u. Europa’s frommer Wahnsinn kam ihnen zu Hülfe.« 66 Jörg Hackmann, Ostpreußen und Westpreußen in deutscher und polnischer Sicht. Landeshistorie als beziehungsgeschichtliches Problem, Wiesbaden 1996, 67 – 71.
Kleists göttliche Gewalt der Kunst in seiner Cäcilienlegende Von Rainer Hillenbrand Kleists späte Erzählung Die Heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik trägt das Thema der Gewalt schon im Titel und verknüpft es bereits dort mit dem Heiligen und mit der Kunst. Das genaue Verhältnis von Gewalt, Religion und Kunst kann aber nur eine genaue Betrachtung des Textes aufzeigen. Während der Hauptstrom der Kleist-Forschung sich nämlich seit Jahrzehnten bemüht, seine angebliche Modernität und vermeintliche Aktualität vorzugsweise dadurch zu belegen, daß man seinen Werken Ambivalenz, Ambiguität oder Mehrdeutigkeit unterstellt,1 beweist eine sorgfältige Textanalyse regelmäßig das gerade Gegenteil: ein heftiges, ja geradezu gewaltsames Streben nach Bedeutung, Form und Gestalt. Oder wie Kleist selbst es so trefflich formuliert hat: »In der Kunst kommt es überall auf die Form an, und alles, was eine Gestalt hat, ist meine Sache.«2 Gestaltung von Inhalt ist aber nicht Selbstzweck, sondern dient, wie im Brief eines Dichters an einen anderen erklärt wird, der Mitteilung einer Grundidee, denn der »Gedanke, um zu erscheinen«, muß mit »etwas Gröberem, Körperlichen, verbunden sein« (565 f.).3 Kleist hat es geradezu als seine künstlerische Aufgabe betrachtet, diesen Grundgedanken möglichst anschaulich erscheinen zu lassen, denn »Schönheit und Wahrheit leuchten der menschlichen Natur in der allerersten Instanz ein« (564), wie er im Satz aus der höheren Kritik schreibt. Einer unvoreingenommenen Lektüre will Kleist also leicht verständlich sein. 1 Vgl. Titel wie George M. Martin, »The apparent ambiguity of Kleist’s stories«, German Life & Letters 31 (1977 / 78), 144 – 157; Klaus Müller-Salget, »Das Prinzip der Doppeldeutigkeit in Kleists Erzählungen«, Zeitschrift für deutsche Philologie 92 (1973), 185 – 211; und dergleichen mehr. 2 »An Heinrich Joseph von Collin, 14. 2. 1808«, in: Briefe von und an Heinrich von Kleist 1793 – 1811, hg. Klaus Müller-Salget, Stefan Ormanns (Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 4) Frankfurt a. M. 1997, 413. 3 Heinrich von Kleist, Erzählungen, Anekdoten, Gedichte, Schriften, hg. Klaus Müller-Salget (Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 3), Frankfurt a. M. 1990. Alle Zitate aus diesem Band werden im Folgenden nur mit Seitenzahl nachgewiesen.
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Trotzdem hat man gerade auch an seiner Cäcilienlegende die heutzutage so überaus beliebte Ambiguität der Darstellung und ihrer Lesbarkeit feststellen wollen.4 Um banale Mißverständnisse zu vermeiden, muß zunächst diese angebliche Mehrdeutigkeit der künstlerischen Gestaltung von der durch sie tatsächlich gestalteten Problematik der Lebensphänomene unterschieden werden. Ein Dichter kann sehr wohl ausdrücken wollen, daß beispielsweise die Gewalt sowohl positive wie negative Aspekte hat, ja sogar, daß beide untrennbar miteinander verbunden sind. Das mag man dann ›Ambivalenz‹ nennen. Wenn er aber mit einem Kunstwerk diese Ambivalenz darstellen will, dann kann er dabei – falls er nicht Unsinn treibt – nicht selbst ambivalent verfahren, weil sonst ein adäquates Verständnis seiner Intention unmöglich wäre. Bekanntlich stellt sich eine relativistische Interpretenschule nicht nur bei Kleist gerade auf diesen Standpunkt und führt sich damit gleich selbst ad absurdum.5 Denn auch wer sagt, alles sei mehrdeutig, macht damit eine ganz eindeutige Aussage. Daß aber Kleist in einer präzisen Weise verstanden werden will, steht bei der Präzision seiner künstlerischen Gestaltung fest. Und der Akt des Sichverständlichmachens ist für Kleist eben auch ein Akt der Gewalt. 4 Gordon Birrell, »Kleist’s ›St. Cecilia‹ and the Power of Electricity«, The German Quarterly 62 (1989), 72 – 84, will beispielsweise eine »plurality of meanings already inherent in Kleist’s narrative« (82) bemerken. Diese bequeme These, wonach man entweder mit gar keiner Bedeutung zu rechnen hat oder sich eine zum eigenen Weltbild passende aussuchen kann, wird seit Jahrzehnten unermüdlich wiederholt, z. B. von Anthony Stephens, »Stimmengewebe: Antithetik und Verschiebung in Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik«, in: Paul Michael Lützeler, David Pan (Hgg.), Kleists Erzählungen und Dramen. Neue Studien, Würzburg 2001, 77 – 91, der überall »Ambivalenzen« (85) entdecken will, mit denen Kleist absichtlich alles offen lassen wolle. Rosemarie Puschmann, Heinrich von Kleists Cäcilien-Erzählung. Kunst- und literaturhistorische Recherchen, Bielefeld 1988, die auch ansonsten »das Prinzip der Doppeldeutigkeit« (18) zum Interpretationsdogma erhebt und überhaupt exemplarisch alle Stereotypen dieser Richtung übererfüllt, meint geradezu: »Was tatsächlich wahr sein soll, bleibt der Meinung des zuweilen erheblich verunsicherten Lesers überlassen« (16). Jan Söhlke, »Wahn – Sinn – Lesen. Zur Dysfunktionalisierung des Sinns in Heinrich von Kleists Die Heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik«, Wirkendes Wort 55 (2005), 53 – 75, geht mit seinem »Verdacht, daß vielleicht der Text dem Wahnsinn anheim gefallen ist (oder gar der Leser selbst)« (55), noch weiter. Das ist nur eine kleine Auswahl des Ewigselben, und auch im Folgenden können schon aus Raumgründen nur Stichproben aus einer ausufernden und einander gebetsmühlenhaft wiederholenden Sekundärliteratur gegeben werden. 5 Vgl. etwa Donald P. Haase, Rachel Freudenberg, »Power, Truth, and Interpretation: The Hermeneutic Act and Kleist’s Die heilige Cäcilie«, Deutsche Vierteljahrsschrift 60 (1986), 88 – 103, die zu dem Schluß kommen, »daß Kleist die Wahrheit als ein relatives, ein durch Machtverhältnisse bedingtes Phänomen auffaßte« (88) und daß die Interpretation der Cäcilienlegende daher auch nur ein Beispiel für die prinzipielle Unverstehbarkeit von Wahrheit sei.
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Das beginnt nicht erst bei der Dichtkunst, sondern schon bei der Sprache selbst. Man muß dafür hoffentlich nur kurz auf Kleists Aufsatz Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden verweisen, wo schon das Sprechen als gewaltsamer Akt beschrieben wird, der einen Widerstand überwindet. Das ergibt sich nicht nur aus dem für die Cäcilienlegende fruchtbar zu machenden »Gleichnis« der »Elektrizität«, wonach durch einen bestimmten Impuls »die entgegengesetzte Elektrizität erweckt wird« (537), sondern auch durch den militärischen Vergleich des Redners mit einem »General«, den »die Umstände drängen«, seine »Fähigkeit« (536) anzuspannen. Gedanken entstehen für Kleist im Kampf des sprechenden Subjekts mit einem »Versuch von außen, ihm die Rede, in deren Besitz es sich befindet, zu entreißen« (536): »Und überhaupt wird jeder, der, bei gleicher Deutlichkeit, geschwinder als sein Gegner spricht, einen Vorteil über ihn haben, weil er gleichsam mehr Truppen als er ins Feld führt« (539). Diese Denkfigur kehrt bei Kleist in allen möglichen Varianten wieder: Gewalt provoziert die Notwehr der Gegengewalt, die zugleich destruktiv und produktiv sein kann. Nur wer in eine »Notwendigkeit« (535) oder gar in eine »Not« (537) versetzt wird, gewinnt daraus die Energie, sich zu wehren und der Bedrohung etwas Positives entgegenzusetzen. Alles Kreative ist durch Gewalt provozierte Gewalt. Und wenn das schon von der Sprache selbst gilt, dann umso mehr vom bewußt gestalteten Sprachkunstwerk. Auch hier muß man sich einen Widerspruch denken, gegen den der Dichter seine Weltsicht gestalterisch durchsetzt. Kunst ist das Schaffen einer Wirklichkeit, die alle anderen Möglichkeiten gewaltsam unterdrückt. Kleists Brief eines Dichters an einen anderen drückt seine Ansicht über das Verhältnis von poetischer Form und geistigem Gehalt sehr genau aus. Die formalen Gestaltungsmittel sind demnach ein »notwendiger Übelstand« (566). Obwohl Kleist betont, daß »einzig und allein der Gedanke« das Wesentliche sei, bemüht er sich dennoch nach »besten Kräften, dem Ausdruck Klarheit« (566) zu verleihen. Daraus geht zweifelsfrei hervor, daß der Dichter Kleist eine geistige Intention hat, daß es einen Grundgedanken gibt, den er vermitteln will. Und ebenso eindeutig wird klar, daß er sein Kunstwerk als unvermeidliches Transportmittel dieses Gedankens deutlich gestaltet, damit das Ziel der Gedankenübermittlung auch erreicht werden kann. Nun heißt es allerdings, daß der Leser im besten Falle das Kunstmedium »gar nicht bemerkt« (565), sondern nur den Gedanken selbst, den es vermittelt: »Denn das ist die Eigenschaft aller echten Form, daß der Geist augenblicklich und unmittelbar daraus hervortritt, während die mangelhafte ihn, wie ein schlechter Spiegel, gebunden hält, und uns an nichts erinnert, als an sich selbst« (566). Aber das bedeutet nur, daß ein Kunstwerk wie ein guter Spiegel sein muß, den man bei Betrachtung des
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Spiegelbildes selbst nicht bemerkt. Die Deutlichkeit des Bildes hängt von der Qualität des Spiegels ab. Auf einen konkreten poetischen Text wie die Cäcilienlegende angewendet, bedeutet dies alles, daß Kleist sich etwas dabei gedacht hat, was er dem Leser übermitteln will. Jedes wahre Kunstwerk hat eine Kernidee, die es zu verstehen gilt und über die deshalb auch keine Ambivalenz aufkommen darf. Idealer Weise würde ein Leser diese Autorintention begreifen, ohne die angewendeten Kunstmittel zu bemerken, also sozusagen ohne zu wissen, wie ihm geschieht. Auch das ist eine Form der geistigen Gewalt, weil es die natürliche Gegenwehr des menschlichen Widerspruchsgeistes lahmlegt. Es ist wie in Kleists Allerneuestem Erziehungsplan mit der Pädagogik und Didaktik: sobald der Schüler sie bemerkt, wehrt er sich dagegen. Wenn der Leser die Kunstkniffe durchschaut, die ihn in eine gewisse Weltsicht hineindrängen sollen, dann stellt er die poetische Absicht auch schon in Frage. Kunst soll aber überwältigen. Das setzt voraus, daß ein gelungenes Kunstwerk eine gewisse Selbstevidenz hat wie ein klarer Spiegel. Nur fleckige Spiegel müssen vorher geputzt werden, und blinde sind gar nicht zu gebrauchen. Wenn Kleists Erzählung von der »Gewalt der Musik« (287) seinen eigenen Ansprüchen auf »Klarheit« (566) und »Deutlichkeit« (539) genügen soll, dann muß sie also eine solche Gewalt der Dichtkunst ausüben, daß dem Interpreten nichts mehr zu tun übrig bleibt, als sie auf sich wirken zu lassen. Er kann sich durch eine Analyse der Erzähltechnik zwar vom Autor emanzipieren und sich dadurch den Kunstgenuß verderben, er kann aber, wenn er nicht aus Dummheit oder mit Absicht am Dichter vorbei erklärt, dessen Grundgedanken gar nicht mißverstehen. Und wenn dies doch geschieht, dann liegt es jedenfalls nicht am Autor, den man keinesfalls für seine vertrackte Wirkungsgeschichte verantwortlich machen darf.6 Kleist liebt gerade in seinen Erzählungen die kräftige Lesersteuerung durch einen souveränen und auktorial bevollmächtigten Erzähler.7 In Mi6 Neben den Vertretern relativistischer Beliebigkeit verderben auch diejenigen einer esoterischen Geheimbedeutung die Klarheit der Autorintention. Susan E. Gustafson, »Kleist, Freud and Kristeva: ›Die Heilige Cäcilie‹ and the Unspeakable Abyss«, Seminar 28 (1992), 110 – 130, mag als Beispiel für den Abgrund psychoanalytischer Textverdrehung dienen. Noch kurioser und nicht ohne unfreiwillige Komik ist aber Diethelm Brüggemann, Kleist. Die Magie, Würzburg 2004, der auch in der Cäcilienlegende überall die »hermetische Tradition der Alchemie« (383) und versteckte Freimaurerei wittert. Bezeichnend ist Brüggemanns Überzeugung, Kleist habe bewußt »die Leser bis heute genasführt« (437), die Bedeutung seines Werkes also absichtlich verborgen. 7 Diese vertrauenswürdige Qualität des Erzählers muß von den Relativisten natürlich zuerst geleugnet oder, um in ihrem Jargon zu bleiben, dekonstruiert werden. Vgl. etwa Haase, Freudenberg, »Power«, über den »narrator« der Cäcilienlegende:
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chael Kohlhaas erfährt man schon auf der ersten halben Seite, daß der Titelheld »einer der rechtschaffendsten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit« war und daß das »Rechtsgefühl« ihn »zum Räuber und Mörder« (13) machte. Mehr muß man nicht wissen, um die Geschichte richtig auf sich einwirken zu lassen. Und es ist diese bei Kleist so viel mißdeutete, nämlich in sich ganz eindeutige Ambivalenz, daß etwas »zugleich« gut und schrecklich sein kann, die sich auch in der Heiligen Cäcilie darin äußert, daß die Heilige das »zu gleicher Zeit schreckliche und herrliche Wunder vollbracht« (313) hat. Dieses Urteil wird am Schluß vom »Erzbischof von Trier« ausgesprochen, vom Erzähler aber ausdrücklich bestätigt, weil es das Geschehene »allein erklärt« (313). Man versteht also, ebenso wie den gewalttätigen Kohlhaas, auch die »Gewalt der Musik« nur richtig, wenn man bereit ist, sie »zugleich« schrecklich und herrlich zu finden wie alles Große im Leben und in der Kunst. Die Verrenkungen vieler Kleist-Interpreten beruhen durchweg auf dem schwächlichen Verlangen, das von Kleist eindeutig Bewertete in eine angebliche Offenheit oder gleich ganz in sein genaues Gegenteil zu verdrehen. Am groteskesten ist dies wohl mit der Verlobung in St. Domingo geschehen, wo »ein fürchterlicher alter Neger, Namens Congo Hoango« (222) dazu dient, das existentielle Mißverständnis der Liebenden zur Katastrophe zu treiben, von so manchem Liebhaber der moralischen Unklarheit, der damit Kleists Pointe verdirbt und den reinen Spiegel seines Kunstwerks verblendet, jedoch zum armen Opfer umstilisiert zu werden pflegt.8 Es gibt auch in dieser Erzählung eine Art Ambivalenz, die aber für Gustav in der objektiven Unmöglichkeit liegt, Tonis Verhalten richtig zu verstehen. Der Leser hingegen, wenn er sich ganz dem im Kunstwerk zugleich verhüllten und offenbarten Gedanken Kleists überläßt, versteht diese Unmöglichkeit des Verstehens sehr gut; er hat eine ganz unambivalente Einsicht in die Ambivalenz des Lebens. »he is actually as suspect as the others because he is similary motivated by power interests« (99). Weil das Argument tautologisch ist, läßt es sich unabhängig vom Wortlaut auf jeden Text anwenden, so daß es nirgends und bei keinem Autor glaubwürdiges Erzählen geben dürfte, weil ja alles Sagen nur Ausdruck eines subjektiven Machtinteresses sei. Das ist – nicht nur hier – eine methodisch höchst fragwürdige Verwechslung der Fiktion mit der Wirklichkeit: der Autor bestimmt mit seiner »Gewalt« der Kunst, was in seinem Werk die Wahrheit ist, und er kann dazu in aller Souveränität jedes Mittel benutzen, auch, wie Kleist, den auktorialen Erzähler. Dieser könnte, obwohl es im Leben keine Allwissenheit gibt, sogar fiktional allwissend sein; umso mehr ist ein Erzähler möglich, der die Fakten und Phänomene der innerfiktionalen Realität im Sinne eines intersubjektiven Wahrheitsanspruches erzählt, zumal er in diesem Falle sogar auf eine subjektive Erklärung ausdrücklich verzichtet und ein unerklärbares Wunder anerkennt. 8 Vgl. meinen Aufsatz: »Gustav und Congo Hoango in Kleists Verlobung in St. Domingo. Ein literaturwissenschaftliches Fragment«, Beiträge zur Kleist-Forschung (2001), 255 – 260.
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Und so gestaltet Kleist auch in der Heiligen Cäcile die Gewalt der Musik auf ganz unmißverständlich eindeutige Weise als eine Doppeltheit, insofern sie zugleich auf herrliche Weise rettet und auf schreckliche Weise zerstört. Wie bei Congo Hoango verdirbt es auch hier die geistige Kernidee der Geschichte, wenn man die Ambiguität an der falschen Stelle sucht und die negative Bewertung der protestantischen »Bilderstürmerei« (287) abstreiten will. Wieder einmal läßt Kleist seinen Erzähler von Anfang an feste Wertungen vornehmen. Die vier terroristischen Brüder aus den protestantischen »Niederlanden«, die ausgerechnet in »Wittenberg« studiert haben, stoßen gleich auf der ersten Seite, »von Schwärmerei« und »Wein« erhitzt, »Verwünschungen des Papsttums« (287) aus. Sie wollen gezielt den spezifisch katholischen »Fronleichnamstag« (287) und sein »zur Ehre des höchsten Gottes« (291) begangenes Fest stören. Es ist daher gewiß kein Zufall, wenn auf der letzten Seite der »Papst« mit seinem »Breve« die »allein« richtige Interpretation der Geschehnisse durch den »Erzbischof« autoritativ »bestätigt« (313). Die katholische Kirche behält hier die Deutungshoheit und in der Sache auktorial recht.9 Auf der Handlungsebene ist es ganz klar eine katholische Legende, was natürlich nichts damit zu tun hat, ob Kleist nun selbst zum Katholizismus tendierte oder nicht. Schiller konnte schließlich auch seine Maria Stuart schreiben, ohne katholisch zu sein. Das Katholische ist in beiden Fällen nur der konkrete Repräsentant des Göttlichen oder Idealen; das sind »Ideenkostüme«, wie Schiller sich ausdrückt.10 Das selbe gilt dann übrigens auch für das Protestantische: es vertritt in dieser katholisch fundierten Legende das kunstfeindliche Prinzip, das nach 9 Das ist für unvoreingenommene Leser der offenkundige Sinn der Legende. Paola Mayer, »Religious Conversion and the Dark Side of Music: Kleist’s Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik and Hoffmann’s Das Sanctus«, Colloquia Germanica 40 (2007), 237 – 258, stellt denn auch – allerdings mißbilligend – fest, daß die Erzählung von der älteren Forschung »was taken at face value as a glorification of Catholicism« (239). Das ist auf der Handlungsebene in der Tat selbstevident; nur auf der Bedeutungsebene kann man alles Religiöse auch als Manifestation der Kunst verstehen. Von den meisten neueren Interpreten wird diese auktoriale Grundhaltung, das Katholische als Träger des Künstlerischen zu verwenden, in ihrem naiven Antikatholizismus, den sie auch Kleist unterstellen, einfach als Undenkbarkeit beiseite gewischt. Jochen Schmidt, Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche, Darmstadt 2003, will beispielsweise bemerken, »wie sehr Kleist hier seinem aufklärerischen Impuls folgt, Vorurteile und entsprechende Deutungsmuster gerade im Bereich der Autoritätsgläubigkeit aufzudecken« (277). Eine »autorative Erscheinung« (277) wie die Äbtissin, der Bischof oder gar der Papst darf offenbar nur ironisch oder satirisch gemeint sein, auch wenn es im Text gar keinen Hinweis darauf gibt. 10 In einem Brief an Körner über Die Braut von Messina, zitiert nach: Friedrich Schiller, Dramen IV, hg. Matthias Luserke (Werke und Briefe, Bd. 5), Frankfurt a. M. 1996, 694.
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Kleists Überzeugung eben auch religionsfeindlich ist, weil Kunst und Religion gleichermaßen göttlich sind. Die Bilderstürmerei ist hier nur deshalb konfessionell bestimmt, weil dies in die Zeit der Handlung paßt. Wie in anderen Werken Kleists, etwa bei der Verlobung in St. Domingo oder der Hermannsschlacht, läßt sich aber auch hier hinter der geographischen und historischen Situierung der zeitgenössische Horizont der Französischen Revolution mit ihren vergleichbaren Zerstörungen religiöser Kunst und Werte erkennen.11 Das Konfessionelle ist in jeder Hinsicht nur prototypischer Bedeutungsträger, nicht aber Bedeutungsziel. In einem anderen Kontext könnte man sich bei Kleist auch eine andere Rollenverteilung vorstellen, etwa eine positive Funktion protestantischer Kirchenmusik oder eine negative Bewertung katholischer Amtsträger wie etwa im Erdbeben in Chili. Hier aber ist es nun einmal, wie es ist. Auch die Äbtissin des bedrohten Klosters setzt Kleist unmißverständlich ins Recht. Der kaiserliche Offizier verweigert ihr den nötigen Schutz nicht etwa aus Unwissenheit, sondern mit voller böser Absicht, weil auch er »selbst ein Feind des Papsttums, und als solcher, wenigstens unter der Hand, der neuen Lehre zugetan« (289) ist. Seine unterlassene Hilfeleistung geschieht »unter dem staatsklugen Vorgeben, daß sie Geister sähe« (289). Es ist aber mehr als nur eine feine Ironie der Handlung, wenn dann mit der Heiligen Cäcilie wirklich ein ›Geist‹ erscheint und mit den ›geistigen‹ Waffen der Musik zu Gunsten der armen Nonnen und zur Ehre des katholischen Glaubens rettend eingreift: es bestätigt auch die Kleistsche Grundidee von Wirkung und Gegenwirkung. Auf die Absicht einer materiell zerstörerischen Körpergewalt der Bilderstürmer antwortet die Geistesgewalt der Heiligen und der Kunst. Auf den böswilligen Spott des Offiziers über eingebildete Geistererscheinungen antwortet sie mit einer wahrhaften Geisteserscheinung. Alles verläuft nach dem Kleistschen Prinzip von Gewalt und 11 Auch Ulrike Abraham, »Gotikbegeisterung und neugotische Pläne. Zu Heinrich von Kleists Cäcilien-Erzählung«, Germanisch-romanische Monatsschrift 47 (1997), 77 – 90, sieht einen »Bezug auf die Kirchenzerstörungen durch die französischen Jakobiner« (86) und weist auf Kleists Kritik am napoleonischen »Vandalismus« (87) hin. Durchaus überzeugend motiviert sie Kleists Wahl des Schauplatzes in Aachen, »wo nachweislich kein Bildersturm stattgefunden hat« (87), mit der französischen Besatzungszeit und mit der Kaisersymbolik der Stadt: »Das CäcilienWunder verhindert die von den Franzosen befürwortete Vernichtung des Kirchenbaus. Da Aachen unter Karl dem Großen der erste Sitz des deutschen Kaisertums war, ist Kleists Anspielung auf die Auflösung eben dieses mittelalterlichen Reiches durch die Franzosen unübersehbar« (88). Leider verdirbt Abraham zuletzt ihre fruchtbaren Ansätze, auch ihren Hinweis auf Kleists Gotikbegeisterung, mit der üblichen Fehleinschätzung der Erzählung als »kritische Distanzierung von der katholischen Religion«, was sie dann in die abwegige Alternative der »Freimaurerei« (89) hineintreibt.
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Gegengewalt, von Plus und Minus einer elektrischen Ladung. Auch diese Legende zeigt »eine merkwürdige Übereinstimmung zwischen den Erscheinungen der physischen und moralischen Welt«, wie es im Aufsatz Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden heißt, »welche sich, wenn man sie verfolgen wollte, auch noch in den Nebenumständen bewähren würde« (537). So wie aber nur dann »plötzlich die entgegengesetzte Elektrizität erweckt wird« (537), wenn auch wirklich eine starke Gegenladung vorhanden ist, so kann auch der »ganze Schrecken« der katholischen »Tonkunst« (311) nur zur Wirkung kommen, wenn man den ganzen Schrecken des protestantischen Terrorismus beibehält. Die innere Ambivalenz, die in der geistigen »Gewalt der Musik« liegt, ist nur verständlich, wenn ihr äußerer Gegensatz zur geistfeindlichen Gewalt ganz unambivalent klar wird. So wie Congo Hoango ein »fürchterlicher« (222) Gewalttäter sein muß, um die Tragödie zwischen Gustav und Toni zu bewirken, so müssen auch die gewalttätigen Kirchenfeinde in der moralischen Welt ganz und gar der negativen elektrischen Ladung entsprechen, um durch die positive Entladung der Kunst zerstört zu werden. Wie bei Congo läßt Kleist auch bei den vier »gotteslästerlichen Brüdern« (289) seinen Erzähler mit den kräftigsten Ausdrücken klarstellen, wie der Leser ihr Verhalten bewerten soll. Die Äbtissin und ihre Nonnen müssen andererseits ganz als unschuldige Opfer erscheinen, um die religiöse Gegengewalt der Kunst zu verstehen. Wie eng sich die Kunst hier mit der Religion verbindet, zeigt sich auch daran, daß diese Nonnen selbst vollkommene Künstlerinnen sind. Sie musizieren »mit einer Präzision, einem Verstand und einer Empfindung« (289), wie Kleist sie auch von sich selbst verlangt. Nicht nur müssen die rationalen und die irrationalen Seelenkräfte ausgewogen sein, das rein Formale und Technische muß auch exakt und mit »Präzision« ausgeführt werden, so wie der Poet nach Kleists Brief eines Dichters »dem Ausdruck Klarheit« (566) verleihen muß. In einem Kunstwerk darf keine Beliebigkeit oder Ambivalenz verbleiben; es muß eine reine Kraft oder eben Gewalt ausüben, auch wenn diese dann eine schreckliche Wirkung hat. Die »uralte von einem unbekannten Meister herrührende, italienische Messe« besitzt eine solche »Heiligkeit und Herrlichkeit«, daß sie in der adäquaten Ausführung der frommen Nonnen schon oft »die größesten Wirkungen hervorgebracht« (291) hat. Fast jedes Wort bei Kleist ist ein Bedeutungsträger: die »uralte« Kunst und Religion steht in bewußtem Widerspruch zur »neuen Lehre« (287 / 289) der Kirchenfeinde, die italienische Herkunft der Kunstheiligkeit zur »Bilderstürmerei in den Niederlanden« (287). Auch die anonyme Zurückgenommenheit des Komponisten kontrastiert mit dem »Schauspiel« (287), das »mit Beilen und Brechstangen versehene Frevler« (291) aufführen wollen und das »den Prädikanten« (287) zum
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Regisseur hat. Und während die fürchterlichen Absichten der Frevler wirkungslos bleiben, wird die heilige Musik auch diesmal wieder »die größesten Wirkungen« hervorbringen, und zwar im Gemüt der Bösewichter größere als jemals zuvor, weil bei ihnen eine ungeheure Negativität umzupolen ist. Kleist gibt sich die erdenklichste Mühe, das »Nervenfieber«, das die »Schwester Antonia« vom Dirigieren der Musik abhält, als göttliche Vorsehung erscheinen zu lassen. Auch hierbei waltet wieder eine typisch Kleistsche Handlungsironie, wenn diese scheinbare »Verdoppelung der Bedrängnis« (289) sich dann in Wahrheit als Rettung aus ihr erweisen wird, gerade so wie Minus mal Minus Plus ergibt. Damit auch der begriffsstutzigste Leser die Negativität der schlimmen Brüder nicht vergißt, läßt er sie vor der großen Entladung noch einmal »auf die unanständigste Weise« reden und »sich die frechsten und unverschämtesten Äußerungen gegen die Nonnen« (291) erlauben. Kleist führt dem Leser diese Lästerungen nicht etwa in wörtlicher Rede vor Ohren, damit dieser sich selbst ein Urteil darüber erlauben möge, sondern legt den größten Wert auf ihre eindeutige Abqualifizierung durch den Erzähler. Denn die ganze Wirkung seiner Geschichte beruht auf der Parteiergreifung des Lesers für die Nonnen und gegen ihre Bedränger. Idealer Weise sollte der Leser nach Kleists Vorstellung diesen so offenkundigen Gedanken des Autors ganz naiv erfassen, so daß er seine kunstgerechte Aufbereitung »gar nicht bemerkt« (565). Und bei jedem einigermaßen unvoreingenommenen Leser kann Kleist seine mit so großer »Klarheit« (566) gestaltete Absicht auch gar nicht verfehlen. Nur ganz verstockte Interpreten, die dem souveränen Autor keine Gewalt über sich einräumen wollen, versuchen den Sinn seiner Erzählung umzukehren. Im entscheidenden Augenblick erscheint dann die »Schwester Antonia plötzlich« (291) doch noch, »um die Direktion des vortrefflichen Musikstücks zu übernehmen« (293). Daß es mit ihr aber eine höhere Bewandtnis haben muß, zeigt sich nicht nur daran, daß sie »ein wenig bleich im Gesicht« ist und auf die Frage, »wo sie herkomme?« ausweichend antwortet, sondern mehr noch daran, daß ihr Erscheinen sofort, »wie ein wunderbarer, himmlischer Trost, in die Herzen der frommen Frauen« (293) eindringt. Und auch an dieser Stelle wiederholt Kleist das ihm so wichtige Prinzip der Steigerung durch Widerspruch: »die Beklemmung selbst, in der sie sich befanden, kam hinzu, um ihre Seelen, wie auf Schwingen, durch alle Himmel des Wohlklangs zu führen« (293). So wie das Denken beim Sprechen durch drohende Unterbrechung erst richtig in Schwung gerät, so resultiert die gesteigerte Begeisterung der Sängerinnen aus ihrer vorhergehenden »Beklemmung«. Die zugleich kunst- und kirchenfeindlichen Frevler, die mit ihrer Gewaltandrohung nicht unerheblich zu dieser Beklemmung beigetra-
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gen haben, liefern nach Kleists elektrodynamischem »Gleichnis« (537) selbst die negative Energie, die sich jetzt in ihrem Gemüt in die positive »Gewalt der Musik« verwandelt, die ihren negativen Geist zerstört.12 Die Einheit von Kunst und Religion erweist sich also nicht nur in der doppelten Ausrichtung der Frevler sowohl gegen die Bilder wie gegen die Kirche, sondern auch in dieser Seelenreise der singenden Nonnen »durch alle Himmel des Wohlklangs« (293) hindurch. Entsprechend wird auch schon im präzise und sorgfältig formulierten Doppeltitel der Erzählung die »Heilige Cäcilie« mit der »Musik« selbst gleichgesetzt.13 Religion und Kunst vermitteln beide das Heilige in die profane Welt. Und so wie Kleist auch sonst Wert auf die Vollkommenheit der Gestaltung legt, so betont er auch hier, daß die sakrale Komposition »mit der höchsten und herrlichsten musikalischen Pracht ausgeführt« (293) wird. Präzision und Pracht der technischen Ausführung sollen zwar eigentlich selbst nicht wahrgenommen 12 Birrell, »Kleist’s ›St. Cecilia‹«, zitiert die Ansicht des romantischen Physikers Johann Wilhelm Ritter, daß jede »Klangfigur eine electrische, u. jede electrische eine Klangfigur« (77) sei. Danach könnte man den Zusammenhang von Elektrizität und Musik auch wörtlich verstehen. Da Kleist aber selbst von einem »Gleichnis« spricht, das auch für andere Formen der Kunst und gerade auch für die Dichtkunst gilt, sollte man doch eher an eine »merkwürdige Übereinstimmung zwischen den Erscheinungen der physischen und moralischen Welt« denken. 13 Edmund Edel, »Heinrich von Kleist ›Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik. Eine Legende‹«, Wirkendes Wort 19 (1969), 105 – 115, erklärt vorbildlich »Genauigkeit und Sorgfalt« der Titelgebung als Hinweis auf »ein Geschehen, das sich in zwei Wirklichkeitsebenen vollzieht und das als Ganzes der Erzähler nicht im gewohnten Sinne realistisch-empirisch, sondern in der Art einer Legende, also religiös, gedeutet wissen will« (105). Edel beschreibt auch den poetologischen Sinn des ›oder‹: »Entweder – oder ist aber bezüglich des Umfangs der Disjunktion nicht in das Belieben des Betrachters gestellt; denn das Oder enthüllt sich im Verlaufe des Geschehens selbst als ein die Vernunft übersteigendes Zugleich« (105). In der Nachfolge des vielzitierten Werner Hoffmeister, »Die Doppeldeutigkeit der Erzählweise in Heinrich von Kleists ›Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik‹«, in: Herbert Lederer, Joachim Seyppel (Hgg.), Festschrift für Werner Neuse, Berlin 1967, 44 – 56, wird ›disjunktiv‹ allerdings oft mit ›widersprüchlich‹ übersetzt und die Bedeutung damit tatsächlich »in das Belieben des Betrachters gestellt«. Bernhard Greiner, »›Das ganze Schrecken der Tonkunst‹. ›Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik‹: Kleists erzählender Entwurf des Erhabenen«, Zeitschrift für deutsche Philologie 115 (1996), 501 – 520, zieht daraus denn auch die Konsequenz, »daß sich die Beglaubigung zur Infragestellung verschiebt« (503). »Hier aber spielt« keineswegs, wie Müller-Salget in seinem auch sonst irreführenden Kommentar zur zitierten Ausgabe (vgl. Anm. 3) insinuiert, ein kontradiktorisch »disjunktiver Sinn herein« (888), sondern es handelt sich, ganz wie es der Tradition der Doppeltitel und auch den von Müller-Salget selbst angeführten Beispielen entspricht, um ein affirmativ-alternatives Verhältnis: die Macht der Musik wird ausgeübt durch die Heilige Cäcilie, oder umgekehrt: die Heilige Cäcilie verkörpert legendenhaft die Gewalt der Musik.
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werden, sind aber dennoch zur Vermittlung des Geistes unerläßlich. Die Wirkung der Kirchenmusik ist dann eine beruhigende, ja in gewisser Weise fast schon tötende. Den Zuhörern vergeht der »Odem«, so daß es scheint, »als ob die ganze Bevölkerung der Kirche tot sei« (293). Dieser geistige Tod als mystische Erfahrung wird bewirkt von der Gewalt der Kunst. Nur durch radikales Absterben für alles andere, nur durch Hingabe an das Göttliche der Kunst kann man in den »Himmel des Wohlklangs« gelangen. Auf die vier gewalttätigen Brüder ist diese abtötende Wirkung nach dem bekannten Gesetz der Steigerung durch Widerspruch natürlich umso stärker. Bei ihnen brennen, um das elektrische Bild weiterzuführen, gewissermaßen die geistigen Sicherungen durch.14 Das Kloster aber, und damit auch die Kunst, wird dadurch vor ihnen gerettet. Daß man das Kloster in späteren Jahren »gleichwohl säkularisierte« (293), beweist gar nichts gegen die Nonnen und ihren katholischen Glauben.15 Diese Säkularisierung geschieht dann auch keineswegs durch körperliche Gewalt, sondern »vermöge eines Artikels im westfälischen Frieden« (293), also durch freiwillige Übereinkunft. Kleist betont nicht zufällig, daß das Kloster »bis an den Schluß des dreißigjährigen Krieges« (293) alle Versuche der gewaltsamen Zerstörung überstanden hat. Ohne diese Gewaltandrohung scheint aber auch keine musikalisch-religiöse Gegengewalt mehr entstanden zu sein, so daß die schließliche Aufgabe des Klosters als eine innere Schwäche der Kirche erscheinen muß, als ein Nachlassen ihrer geistigen Kraft in Folge eines faulen Friedens mit dem feindlichen Prinzip, dessen produktive Stimulanz nun ausblieb. 14 Vgl. Birrell, »Kleist’s ›St. Cecilia‹«: »Their overstressed cerebral systems, one might say, short circuit under the strain of the music’s force« (79). 15 Walter Hinderer, »Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik«, in: ders. (Hg.), Interpretationen. Kleists Erzählungen, Stuttgart 1998, 181 – 215, meint, der »offensichtliche Sieg der Musikerinnen über die Revolutionäre« werde durch diese Säkularisation »relativiert«: »Am Ende scheint also doch die Politik über die Musik, der Protestantismus über den Katholizismus gesiegt zu haben« (200). Das ist eine besonders oft wiederholte These, die auch beim tausendsten Mal nicht richtiger wird. Auch Müller-Salget, Kommentar zur Ausgabe, stellt die Erwähnung der »Säkularisierung« des Klosters als Hinweis auf die »Überholtheit« (887) des Katholizismus hin, ohne daß es im Text auch nur das geringste Anzeichen für eine solche Autorwertung gäbe. Nach Schmidt, Heinrich von Kleist, soll der »Säkularisationsakt« sogar rückwirkend »Zweifel am ›Wunderbaren‹ des Geschehens« (274) erwecken, so als ob im Sinne eines Prädestinationsdenkens die Sieger der Geschichte automatisch im Recht wären. Kleist hat aber mit der späteren Aufhebung des Klosters samt seiner Musikübung allenfalls pessimistisch die andauernde Gefährdung des Göttlichen unter den Menschen angedeutet, das durch das Cäcilienwunder natürlich nur momentan gerettet wird und immer wieder durch ähnliche Standhaftigkeit verteidigt und verdient werden müßte, wie sie die ebenso mutigen wie kunstsinnigen Nonnen an den Tag legen.
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Was mit den frevlerischen Brüdern durch die »Gewalt der Musik« eigentlich geschehen ist, erfährt man zunächst noch nicht. Der Leser muß sich erst mit ihrer Mutter, der sie verschollen gegangen sind, auf die Suche nach ihnen begeben. Auch jetzt versäumt Kleist keine Gelegenheit, ihr früheres Unwesen durch den Erzähler verurteilen zu lassen, etwa wenn der Prädikant in einem Brief von dem geplanten Anschlag »auf vier dichtgedrängten Seiten vorläufige Anzeige machte« (295). Das bestätigt den Eindruck der Selbstgefälligkeit der Schandtat im Unterschied zur selbstlosen Anonymität oder kantischen ›Interesselosigkeit‹ des Kunstwerks, und das wird noch verstärkt, wenn der Erzähler den Ton dieses Briefes aus »Heiterkeit« (293) in »Ausgelassenheit« (293 / 295) korrigiert. Die Mutter hört schließlich, daß »vier junge Leute« sich im »Irrenhause der Stadt« (295) befinden. Sie kann aber in der Beschreibung ihre Söhne nicht erkennen, weil diese jetzt in der Tat in allem gerade ins Gegenteil umgekehrt sind. Waren sie zuvor »frohlockend« (289), so sind sie jetzt »äußerst trübselig und melancholisch« (295). Waren sie zuvor antikatholische Hetzer, so wird von diesen Irren nun gesprochen, »als ob die Leute katholisch wären« (295). Die Mutter kann darin den ihr »nur leider zu wohlbekannten Gemütszustand ihrer Söhne« (295) natürlich nicht wiedererkennen, eine Formulierung, mit der Kleist übrigens durchblicken läßt, daß dieser frühere »Gemütszustand« sogar ihrer eigenen Mutter tadelnswert erschienen war. Schließlich muß die Mutter in »den vier unglücklichen, sinnverwirrten Männern« zu ihrem »Entsetzen« dennoch »ihre Söhne« (295) erkennen. Waren sie früher religiöse Frevler, so sind sie nun monomanisch pseudofromm und beten »in langen, schwarzen Talaren« ununterbrochen zu einem »Kruzifix« (295). Zu ihrem religiösen Wahn gehört, wie der Wärter berichtet, daß sie die religiöse Wahrheit »besser als andre, einzusehen glaubten« (295). Diese sektiererische Einstellung läßt schon erste Zweifel an der Richtigkeit des Eindrucks aufkommen, »als ob die Leute katholisch wären« (295). Offenbar sind sie nur von einem Extrem ins andere übergeschnappt. Sie führen auch kein wirklich geistiges oder geistliches, sondern das »geisterartige Leben« (295) lebendiger Toter. Waren damals andere Kirchenbesucher von der Gewalt der Musik in einen Zustand versetzt worden, »als ob« sie »tot« (293) wären, so wurden diese feindseligen Gemüter in einem noch eigentlicheren und furchtbareren Sinne geistig wirklich getötet. Das »Gloria in excelsis« (297) aus jener Messe hat derart von ihnen Besitz ergriffen, daß nichts anderes mehr in ihrer Seele Raum finden kann, was ganz offenbar dem Wahnzustand einer fixen Idee entspricht, wie man ihn in Kleists Zeit als Symptom der krankhaften Melancholie beschrieben hat.16 16 Johann Georg Zimmermann, Ueber die Einsamkeit, 4 Bde., Leipzig 1784 f., diagnostiziert, die Melancholiker »denken sehr angsthaft immer auf eine einzige Sa-
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Die Mutter kann »den schauderhaften Anblick dieser Unglücklichen nicht ertragen« (297). Der Erzähler läßt keinen Zweifel daran, daß diese Hyperfrommen trotz ihres eigenen Widerspruchs tatsächlich »verrückt« (297), nämlich »an der Ausschweifung einer religiösen Idee krank« (295) sind.17 Noch immer halten sie sich selbst für das Maß der Dinge, nur jetzt eben nicht in ihrer bornierten Kirchenfeindschaft, sondern in ihrer exklusiven Pseudofrömmigkeit, die sie am liebsten auf die ganze »Stadt Aachen« (297) ausdehnen würden. Demzufolge müßten alle Bürger »ihre Geschäfte bei Seite legen«, um nur noch »zur Absingung des Gloria« (297) zu leben, also ihre fixe Idee teilen. Um die »Begebenheit« (297) zu verstehen, wendet sich die Mutter schließlich an einen Augenzeugen: Veit Gotthelf hat keineswegs alle »Geschäfte bei Seite« gelegt, sondern ist ein erfolgreicher »Tuchhändler«, »verheiratet« und hat »mehrere Kinder gezeugt« (297).18 Schon hiermit deutet sich an, daß Kleist in ihm eine lebenstüchtige Alternative zum monomanischen Religionswahn der Brüder gestalten will. Denn auch Veit Gotthelf gehörte einst zur Bande der Bilderstürmer, aber er hat sich inzwischen wirklich auf eine vernünftige Weise bekehrt. Auch bei der Charakteristik dieser Figur scheut Kleist keine Mühe, ihre positive moralische che« (Bd. 1, 358). Johann Christian Reil, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, Halle 1803, unterscheidet vier Arten der Geisteszerrüttung: fixer Wahn, Tobsucht, Narrheit und Blödsinn (318 f.). Die trübselige Melancholie gehört für ihn zum fixen Wahn und entsteht, wenn der Betroffene ihn für unerreichbar hält (314). Wenn er ihn als schon verwirklicht betrachtet, ist es Größenwahn, wenn er ihn als verwirklichbar ansieht, kommt es zu zwanghaften Handlungen. Das von Kleist beschriebene Verhalten der Irren läßt sich hier leicht wiedererkennen. Auch den scheinbaren Widerspruch, daß sie zunächst »trübselig und melancholisch« (295) sind, am Ende ihres Lebens aber »eines heitern und vergnügten Todes« (313) sterben, kann man mit Reil als Übergang zum euphorischen Größenwahn erklären: »Trübsinn und Traurigkeit sind also nicht, wie man zu glauben pflegt, nothwendige, sondern zufällige Merkmale der Melancholie« (313). Birrell, »Kleist’s ›St. Cecilia‹«, sieht den Zustand hingegen im Sinne des Mesmerismus als »magnetic sleep« (75) und »hypnotic trance« (76) an, was aber kaum dem gezeigten Grad des Irrsinns gerecht wird. Mag es bei Kleist immerhin Anklänge an den Mesmerismus geben, so macht ihn Katharina Weder, Kleists magnetische Poesie. Experimente des Mesmerismus, Göttingen 2008, gleich zum Interpretationsschlüssel für die Legende: »In weitreichender Analogie zu zeitgenössischen Vorstellungen des animalischen Magnetismus ist der Vorfall gestaltet« (206). 17 Müller-Salget, Kommentar zur Ausgabe, will hier, wie viele andere, nur die »Perspektive der Mutter« (891) sehen, was weder grammatisch noch im Sinnzusammenhang verständlich zu machen ist. 18 Schmidt, Heinrich von Kleist, wie zahllose weitere Kritiker, macht es ihm zum Vorwurf, daß er sich »bürgerlich etabliert« und die »konventionellen religiösen Denkweisen angeeignet« (277) hat. Wo Kleist diesen Vorwurf im Text erheben soll, sagt er freilich so wenig wie alle anderen Gotthelf-Gegner. Es ist immer nur die eigene Antipathie, die auf Textfiguren übertragen wird.
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Bewertung sicherzustellen: er empfängt »die Fremde sehr liebreich« (297) und nimmt sich Zeit, ihr alles zu erzählen. Der mittlere Teil der Erzählung besteht also in dem Bericht eines beteiligten Zeugen. Dieser Perspektivenwechsel könnte nun dazu dienen, einem objektiven Rahmenerzähler einen subjektiven und womöglich unzuverlässigen Binnenerzähler entgegenzusetzen. Das müßte sich jedoch am Text zeigen lassen, dessen genauere Betrachtung das gerade Gegenteil erweist. Veit Gotthelf kommt deshalb zu Worte, weil seine Aussage geeignet ist, mit der Mutter auch den Leser »zur Einsicht in den inneren Zusammenhang der Sache« (305) zu führen.19 Über Dinge, die man nicht selbst erlebt hat, braucht man immer Informationen von Dritten, die selbstverständlich ihre eigene Sicht darauf haben. Aber gerade weil man dies weiß und wenn man dies berücksichtigt, kann man durch Indizien »zur Einsicht in den inneren Zusammenhang der Sache« kommen. Kleist jedenfalls läßt nicht nur die Mutter, sondern auch seinen Erzähler genau dieses tun. Dieser auffallende Kommentar des ansonsten zurückgenommenen Erzählers wirft auch Licht auf Kleists Erzählerkonzeption. Der Erzähler dieser Legende ist, wie gewöhnlich bei Kleist, nicht allwissend, aber um Wissen bemüht. Er will aus Quellen, deren Zuverlässigkeit er anerkennt, das Geschehene zutreffend wiedergeben. Obwohl es in der Lebenswirklichkeit keine menschliche Allwissenheit gibt, hätte Kleist literarisch auch einen allwissenden Erzähler gestalten können. In diesem Legendenfall hätte das aber sein Hauptanliegen, die Realität des Unerklärbaren zu demonstrieren, erschwert. Aus olympischer Perspektive gibt es nichts Unbegreifliches. Kleists Erzähler übernimmt aber das Urteil seines Zeugen Veit Gotthelf: was genau damals geschah, ist ihm »unbegreiflich« (297), weshalb er davon überzeugt ist, daß der »Himmel selbst« (299) das Kloster gerettet hat. Gerade diese Erklärung als Wunder bestätigt ja die erkenntnistheoretische Vorsicht, dem außerordentlichen Phänomen keine subjektiven und hypothetischen Pseudoerklärungen im Stile vieler Interpreten unterzuschieben, die das Cäcilienwunder zum Somnambulismus degradieren oder gar als simplen Betrug klerikaler Machtinteressen denunzieren wollen. Damit verdirbt man Kleists Grundgedanken, das Hineinwirken des Wunderbaren ins Menschenleben, also das die gewöhnliche Erfahrung Transzendierende zu zeigen. Sein Erzähler demonstriert dem Leser, wie man trotz unvermeidlicher perspektivischer Begrenzung zu einer akzeptablen intersubjektiven Wahrheit gelangen kann.20 19 Auch für Edel, »Heinrich von Kleist«, wird »aus unmittelbarer Erfahrung und Betroffenheit durch eine beteiligte Person, nämlich den Tuchhändler Veit Gotthelf, das Geschehen in seine absolut gültige Position gerückt« (108).
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Veit Gotthelf legt gewissermaßen eine Beichte ab und gesteht, daß er und die Brüder damals »den Vorsatz gehabt« (297) hätten, das Kloster zu verwüsten. Schon seine Wortwahl läßt erkennen, daß er »diese Tat«, die »mit wahrhaft gottlosem Scharfsinn« (297) geplant war, heute mißbilligt. Er ist also in der Tat ein reuiger Sünder, und kein wahnsinniger wie seine Kumpane.21 Er erzählt das Ereignis oder vielmehr Nichtereignis während der Musikmesse aus der Sicht der Verschwörer. Immerhin waren »mehr denn dreihundert« zerstörungswütige »Bösewichter« in der Kirche, die nur auf »das Zeichen« (299) des Prädikanten warteten. Dieser aber wurde mit seinen Brüdern »bei Anhebung der Musik« derart innerlich ergriffen, daß sie »in gleichzeitiger Bewegung« (299) in eine starre Gebetshaltung verfallen sind. So kamen die »jämmerlichen Schwärmer«, weil sie ihrer »Anführer beraubt« (299) waren, nicht zum Zug. Hier erfährt man also, daß die radikale Umpolung der Gesinnung durch die Gewalt der Musik nur bei den 20 Zu Kleists Erzählerfiguren im Allgemeinen vgl. Wolfgang Kayser, »Kleist als Erzähler«, in: Walter Müller-Seidel (Hg.), Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays, Darmstadt 1980, 230 – 243, der feststellt, daß Kleists Erzähler »wohl da ist, aber nur ganz selten hervortritt« (231). Allerdings »wertet« er, wie Kayser erkennt, und »damit erwirbt er unser Vertrauen: denn nun haben wir die Gewißheit, daß er das Ganze überschaut, daß er den Sinn davon erfaßt hat und uns übermitteln wird, daß wir uns ihm anvertrauen können« (232). Auch Kayser bemerkt, daß Kleists Erzähler kein allwissender ist, denn er besitze »keinen sicheren Standpunkt, von dem aus eine endgültige Sinngebung und Wertung möglich wäre« (234). Diese an sich richtige Feststellung läßt sich aber im Bedarfsfalle leicht mißverstehen und zur Relativierung und Infragestellung des Erzählers oder gar des Autors mißbrauchen, weshalb sie präzisiert werden muß: Kleists Erzähler berichtet nicht aus einer göttlich-olympischen Perspektive, sondern aus einer die Welt menschlich-begreifenden. Indem der Autor diese Möglichkeit des Verstehens oder aber die Erkenntnis, an die Grenzen menschlichen Verstehens gelangt zu sein, durch seinen Erzähler vorführt, etabliert er eben doch einen auktorial ganz »sicheren Standpunkt« und eine »endgültige Sinngebung« seines Werkes. 21 Müller-Salget, Kommentar zur Ausgabe, behauptet schlichtweg: »Mißtrauisch muß man vor allem gegenüber dem ›reuigen Sünder‹ Veit Gotthelf sein« (886), ohne daß es dafür einen anderen Grund gäbe als seine eigene Abneigung gegen reuige Sünder. Ebenfalls um seine Darstellung in Frage zu stellen, sagt Schmidt, Heinrich von Kleist, von Veit Gotthelf, »die Wahrnehmung der Wirklichkeit« ergebe sich ihm »immer schon aus einer vorgängigen Interpretation« (276). Das ist aber so banal, daß es für alle Menschen gilt. Mit diesem Argument, wenn es sinnvoll wäre, könnte man jede Aussage beiseite wischen, so daß es niemals eine zutreffende »Wahrnehmung der Wirklichkeit« geben könnte. Veit Gotthelf – und schon das macht ihn im Sinne Kleists zu einer vorbildlichen Figur – ist sich aber der Unsicherheit und Subjektivität seiner Erkenntnis durchaus selbst bewußt, wenn er das Ereignis »unbegreiflich« (297) nennt. Schon damit hat er etwas Richtiges erkannt. Seine Einschätzung des Geschehens als göttliche Einwirkung wird aber auf auktorialer Ebene durch eine stringente Symbolik, durch kompositorische Analogien und durch den Handlungsverlauf als sinnvolles Verständnis vollauf bestätigt.
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vier Brüdern stattfand, nicht bei ihren Spießgesellen und auch nicht bei Veit Gotthelf. Dieser hat seine Überzeugung erst später nach und nach geändert. Damals machte er sich Sorgen um die Freunde und fragte sie, »was ihnen in aller Welt Schreckliches, fähig, ihr innerstes Gemüt dergestalt umzukehren, zugestoßen sei« (301). Damit wird es klar ausgesprochen: mit ihnen geschah eine Umkehrung oder, im elektrischen Bild zu sprechen, eine Umpolung. So wie sie früher nur an die Zerstörung der Kirche dachten, so haben sie auch jetzt »ihre Sinne vor jeder andern Erscheinung verschlossen« (301). Eine fixe Idee wurde durch die entgegengesetzte ersetzt. Sie sind im Wortsinne ›übergeschnappt‹. Kleists sorgfältig durchkomponierte Handlungsironie kommt bei der Schilderung des Wahnsinns im Aufgreifen und Umkehren früher eingeführter Motive zum Ausdruck. Der Spott des heimlich protestantischen Offiziers, daß die Nonnen »Geister« (289) sähen, rächt sich nun an seinen ehemaligen Gesinnungsgenossen, indem die vier Brüder regelmäßig zur Geisterstunde »um Mitternacht« (303), und zwar wiederum »in gleichzeitiger Bewegung«, das Gloria der Messe absingen müssen. Diese automatenhafte und willenlose Gleichzeitigkeit kontrastiert ebenso mit der bewußten und kunstgerechten »Präzision« (289) der Nonnen wie die »entsetzlichen und gräßlichen« (303) Stimmen der Wahnwitzigen mit dem »Himmel des Wohlklangs« (293) bei der Meßfeier. Die frommen Nonnen sangen mit »Verstand« und »Empfindung« (289), während die Übergeschnappten wie »Leoparden und Wölfe« (303) brüllen. Auch die Wirkung ist entgegengesetzt: die Gewalt kunstgerechter Musik bannte die Zuhörer zu bewegungsloser Stille; beim »grausenhaften Auftritt« der Irren »stürzen« sie »mit sträubenden Haaren aus einander« (303). Es wird ganz klar, daß die Urheber »dieses schauderhaften und empörenden Gebrülls« (303) keineswegs zur ebenso verständigen wie empfindsamen Geistesverfassung der harmonisch-frommen Nonnen bekehrt wurden, sondern in eine Geisteszerrüttung verfallen sind. Während es beim Singen, »wie ein wunderbarer, himmlischer Trost, in die Herzen der frommen Frauen« (293) kam, müssen sich die bestialischen Brüller hinterher »von so qualvollen Geschäften« (303) erschöpft ausruhen.22 Diese »Unglücklichen« führen hinfort immer »dasselbe 22 Greiner, »Das ganze Schrecken der Tonkunst«, will die tierisch brüllenden Verrückten als arme musikalische Opfer der Gesellschaft hinstellen: »Man kann diese Art Kunst nicht brauchen, steckt daher diejenigen, die für sie ein Organ ausgebildet haben, ins Irrenhaus« (520). Und zwar völlig zu Recht! Die Brüder haben eben kein Organ für Musik ausgebildet, sondern für einen bestialischen Lärm. Noch findiger ist Söhlke, »Wahn – Sinn – Lesen«, für den die Brüder wegen »Konsumverweigerung« im Wirtshaus von »der bürgerlich-frühkapitalistischen Gesellschaft« mit »der Überführung ins Irrenhaus« (66) bestraft werden. Hinderer, »Die heilige Cäcilie«, fühlt sich durch sogenannte »Leerstellen und Informationslücken« zu Mutmaßungen
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öde, gespensterartige Klosterleben« (305), während die glücklichen Nonnen im wirklichen Kloster »zur Ehre des höchsten Gottes« (291) als Künstlerinnen wirken. Die vier gewalttätigen Antikatholiken und Kunstfeinde wurden also durch die Gewalt der Musik oder der Heiligen Cäcilie nicht etwa zur Kunst und zur katholischen Kirche bekehrt, sondern zu einer teuflischen Parodie von Beidem verdammt.23 Diese Auffassung ihres unfreiwilligen und willenlosen Zustandes als gerechte göttliche Strafe für ihren doppelten Frevel wird im Text mehrfach bestätigt.24 Nicht nur auf Veit Gotthelf machen sie den Eindruck »ewig verdammter Sünder«, die »aus dem tiefsten Grund der flammenvollen Hölle« (303) rufen, auch der Gastwirt, bei dem sie zunächst logieren, ist sich sicher, daß in ihnen »ohne Zweifel der böse Geist walten müsse« (305). Dies mag man ja als subjektive Einschätzungen abtun können, aber auch der auktorial beglaubigte Erzähler sprach schon im Augenblick ihres musikalischen Schockerlebnisses von »den vier gottverdammten Brüdern« (293). Ein solcher Zusammenfall der Wertungen schließt jede andere Lesart aus, zumal der von Kleist intendierte Eindruck, der sich jedem und Unterstellungen über ihre »Familiengeschichte« veranlaßt: »Die Krankheitssymptome der Brüder reichen weiter als die Aussagen des Textes« (209). 23 Ihre angebliche Konversion wird gewöhnlich zur Gleichsetzung von Katholizismus und Wahnsinn mißbraucht, etwa von Christine Lubkoll, »Die heilige Musik oder Die Gewalt der Zeichen. Zur musikalischen Poetik in Heinrich von Kleists Cäcilien-Novelle«, in: Gerhard Neumann (Hg.), Heinrich von Kleist. Kriegsfall – Rechtsfall – Sündenfall, Freiburg i. Br. 1994, 337 – 364. Lubkoll diagnostiziert eine »spezifische Verbindung von Religiosität und Wahnsinn«, was »bei Kleist« angeblich »einen blasphemischen Zug annimmt«, weil »die Konvertiten« schließlich »in der psychiatrischen Klinik« (347) landen. Ebenso falsch ist es, wenn Schmidt, Heinrich von Kleist, behauptet, daß die Brüder »eine Art Zwangskonversion erleiden« (271) und daß Kleist mit ihrem Zustand »Religionskritik« (281) üben wolle. Wahnsinn und Religion werden jedoch von Kleist in ihren jeweiligen Vertretern geradezu als Gegensätze gestaltet. Daher liegt auch Gerhard Neumann, »Eselsgeschrei und Sphärenklang. Zeichensystem der Musik und Legitimation der Legende in Kleists Novelle Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik«, in: ders. (Hg.), Heinrich von Kleist. Kriegsfall – Rechtsfall – Sündenfall, 365 – 389, falsch mit seiner Behauptung, es sei »nicht entscheidbar, ob die Brüder zuletzt eine Bekehrung oder eine Verrückung erfahren haben, ob sie einen religiösen oder einen psychiatrischen Fall darstellen« (378). Ihr von Kleist unmißverständlich gestalteter Wahnsinn ist allerdings insofern auch ein religiöser Fall, als sie ihn sich durch Widerstand gegen eine sie gewaltsam überwältigende Wahrheit selbst zugezogen haben. 24 Vgl. Edel, »Heinrich von Kleist«: »Die Gewalt der Himmelsmusik ist eine gerechte und totale« (106). Daß zur Gerechtigkeit auch Strafe gehört, ist heutzutage freilich schon theologisch äußerst unpopulär. Edel stellt auch ganz richtig fest, daß es »eine Verehrung durch Verdammte ist, weil mit der Aufhebung der Freiheit für den Bereich der Erkenntnis und des Willens auch das Personsein der Bösewichter aufgehoben« (109) sei.
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aufgeschlossenen Leser von selbst aufdrängt, vom weiteren Handlungsverlauf vollauf bestätigt wird: die bestialischen Lärmer befinden sich in einer Hölle ewiger Kunstferne. Am Ende der Binnenerzählung des Augenzeugen übernimmt der Haupterzähler auch insofern die Verantwortung für diesen ganzen Bericht, als er ihn redaktionell bearbeitet hat und dabei »Mehreres« des Gesagten als nebensächlich »unterdrücken« konnte, weil es ihm nur auf die »Einsicht« des Lesers »in den inneren Zusammenhang der Sache« (305) ankommt. Alles, was Veit Gotthelf erzählt hat, wurde also zitiert, um die Intention des Erzählers zu unterstützen.25 Kleist ging es nicht darum, Widersprüche zwischen seinen Erzählern zu konstruieren, um eine Ambivalenz über die Tatsachen der Handlung oder ihre Bewertung aufkommen zu lassen, sondern er legt auch hier ganz im Gegenteil größten Wert auf »Klarheit« (566), damit man die eigentliche Problematik oder Ambivalenz in der »Gewalt der Musik« verstehen kann. Auch die Mutter übernimmt die Sicht, daß »Gott ihre Söhne wie durch unsichtbare Blitze zu Grunde gerichtet« (307) hat. Als sie zur Kirche geht, um »den entsetzlichen Schauplatz in Augenschein zu nehmen«, sieht sie durch eine Absperrung hindurch nur »die prächtig funkelnde Rose« (307) des Fensters. Kleist insistiert durch Variation und Wiederholung unablässig, daß das Entsetzliche zugleich das Prächtige ist. Auch die Messe mit der entsetzlichen Wirkung wurde mit der »herrlichsten musikalischen Pracht aus25 Hinderer, »Die heilige Cäcilie«, findet den »Bericht des Erzählers« unzuverlässig, denn er »verfälscht« angeblich »den wirklichen Sachgehalt und Sachverhalt«, indem er »bewußt« wichtige »Informationen zurück« (203) halte, wo doch im Text der Erzähler ganz im Gegenteil sein Vorgehen selbst thematisiert und rechtfertigt. Ein Fälscher würde sich nicht selbst verdächtigen. Auch Haase, Freudenberg, »Power«, mißverstehen diesen Hinweis auf die Redaktion der Binnengeschichte durch den Erzähler als Eingeständnis einer Manipulation gründlich: »By his own admission the narrator omits portions of Gotthelf’s report«; sie halten nämlich auch den Haupterzähler für unzuverlässig: »none of the versions, however, can be accepted uncritically, not even the narrator’s«, denn dieser sei »as suspect as the others because he is similary motivated by power interests« (99). Es ist immer wieder der selbe triviale Methodenirrtum durch Verwirrung von fiktionaler und außerfiktionaler Wirklichkeit: weil jeder Mensch in der Welt interessegeleitet argumentiert, bedeutet das nicht, daß ein Erzähler innerhalb eines fiktiven Textes unglaubwürdig ist. Natürlich ist jeder Autor, also auch Kleist, »motivated by power interests«, insofern er dem Leser sein Weltbild vermitteln will, was auch Kleist selbst als produktiven Akt der Gewalt betrachtet. Aber jeder Leser ist, nach oder sogar während der Lektüre, frei, es abzulehnen. Um aber Kleists Absicht überhaupt erkennen zu können, muß man seine Schöpfung einer fiktiven Welt mit ihren eigenen Regeln und Wertungen, wie ein von ihm bestellter Erzähler sie vorträgt, erst einmal akzeptieren. Was erzählt wird, ist die poetische Wahrheit, es sei denn, die Erzählweise diskreditiert sich selbst, wovon bei Kleist aber nirgends die Rede sein kann.
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geführt« (293). Sogar das Wetter wird in diese Symbolik mit einbezogen: »ein Gewitter, dunkelschwarz, mit vergoldeten Rändern«, das die Kirche bedroht, kann nur »einige kraftlose Blitze« schleudern, bevor es »zu Dünsten aufgelöst, mißvergnügt murmelnd« (307) vergeht. Das bedrohliche Gewitter wird von der göttlichen Gewalt der Kirche verdampft wie damals der bedrohliche Geist der Frevler von der göttlichen Gewalt der Musik. Bei Kleists bekannter Vorliebe für das elektrische »Gleichnis« (537) kann die Bedeutsamkeit dieses Naturbilds nicht verkannt werden, zumal ja gerade noch »unsichtbare Blitze« Gottes als Ursache des Wahnsinns genannt wurden. »Dies ist« eben auch, wie es in der Allmähligen Verfertigung der Gedanken heißt, »eine merkwürdige Übereinstimmung zwischen den Erscheinungen der physischen und moralischen Welt« (537). In diesem Aufsatz erklärt Kleist, daß »in einem Körper, der von dem elektrischen Zustand Null ist, wenn er in eines elektrisierten Körpers Atmosphäre kommt, plötzlich die entgegengesetzte Elektrizität erweckt wird« (537). In seiner Erzählung gilt das umso mehr von den Bilderstürmern, deren moralischer Zustand keineswegs neutral ist, sondern eine heftige negative Ladung aufweist, die dann umso gewaltsamer und zerstörerischer »plötzlich die entgegengesetzte« Ladung erhält. Kleist unterstreicht diese elektrisch-moralische Symbolik des Gewitters noch dadurch, daß er die Nonnen dieses »Schauspiel« in »Gedanken vertieft« (307) betrachten läßt. Auch das Gewitter ist zugleich prächtig und zerstörerisch, zugleich »dunkelschwarz« und golden glänzend. Die Zerstörungskraft des Naturschönen wird aber nicht von den Menschen, sondern von einer höheren Macht bestimmt. Und gerade so ist es nach Kleists Auffassung auch mit dem schrecklichen Kunstschönen: auch dieses kommt von Gott und erhebt und zerstört »wie durch unsichtbare Blitze« nach seinem Willen, aber eben auch abhängig von der Verfassung der Menschen, die sich dieser Kunstgewalt aussetzen oder widersetzen. Mit der für den Leser vorbildlich handelnden Mutter gestaltet Kleist dann die angemessene Reaktion auf diese Erkenntnis.26 Sie interpretiert nicht nur das gewalttätige »Schauspiel« des Gewitters, sondern auch das ihrer Söhne gegen die Kirche richtig und ändert daraufhin ihre religiöse Haltung und ihr Leben. Das zeigt sich sofort, wenn die Äbtissin die »niederländische Frau ersuchen« läßt, zu ihr zu kommen, die »Niederländerin« sich aber »ehrfurchtsvoll« beeilt, diesem »Befehl« zu »gehorchen« (307). Da Kleist gewöhnlich alles Wichtige durch Wiederholung betont, ist auch diese nachdrückliche Herausstreichung des ›Niederländischen‹ nicht bedeutungslos. Es erinnert bewußt an die ebenso insistierende Wiederholung am Anfang 26 Natürlich wird auch die Mutter gerne diskreditiert; für Birrell, »Kleist’s ›St. Cecilia‹«, ist sie sogar ein »abschreckendes Beispiel« (73), weil sie nämlich katholisch wird.
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der Geschichte, daß es sich bei den Kirchenfrevlern um »Niederländer« aus den »Niederlanden« (287) handelt. Die Mutter hat den Wahnsinn ihrer Söhne als Konsequenz ihrer protestantischen Kirchenfeindschaft verstanden und ist daher von der Einladung der Äbtissin »betroffen« (307). Daß sie aber deren höfliches Ersuchen als »Befehl« auffaßt, dem sie »ehrfurchtsvoll« gehorcht, kündigt schon ihre innere Wandlung und spätere Konversion an.27 Kleists dichte Handlungs- und Dingsymbolik findet nun in fast jedem Wort ihren Ausdruck. Die Frau muß zur Äbtissin »hinaufsteigen« (307), wo sie in einem »schön gebildeten« (309) Raum empfangen wird. Die Äbtissin ist »eine edle Frau, von stillem königlichen Ansehn« (309). Ihr Fußschemel ruht »auf Drachenklauen« und »ihr zur Seite« liegt »die Partitur einer Musik«, und zwar genau der verhängnisvollen Musik »jenes merkwürdigen Fronleichnamfestes« (309). Schon ikonographisch wird also in ihrem Anblick die religiöse »Gewalt der Musik« deutlich: sie ist eine Herrscherin mit der Waffe der Musik zu ihrer Verfügung und den bedrohlichen Ungeheuern unter ihrer Kontrolle.28 Kleist gibt sich aber alle Mühe, sie 27 Die Mutter konvertiert, im Gegensatz zu ihren verrückten Söhnen, von denen das auch nirgends gesagt wird, wirklich zur katholischen Kirche. Trotzdem wird gewöhnlich, um den Katholizismus der Mutter als Irrsinn hinstellen zu können, beides tendenziös gleichgesetzt, z. B. von Franz M. Eybl, Kleist-Lektüren, Wien 2007: »Denn sowohl die Brüder konvertieren als auch die Mutter« (247), oder von Haase, Freudenberg, »Power«: »she, like her sons, has converted to Catholicism« (102). 28 Wenn man die Äbtissin unbedingt verleumden will, kann man natürlich wie Neumann, »Eselsgeschrei«, auch ihr Drachenmöbel als »dubios« verdächtigen: »Der Leseakt der Äbtissin geht auf einem Thron mit Drachenfüßen vonstatten, die nichts Gutes verheißen« (382). Ein bißchen Textverfälschung kann bei solchen Bedeutungsmanipulationen auch nicht schaden: die Äbtissin sitzt nämlich keineswegs »auf einem Thron mit Drachenfüßen«, was ihr freilich auch nicht schaden könnte, sondern einer ihrer Füße ist auf einen »Schemel gestützt, der auf Drachenklauen« (309) ruht. Damit entspricht sie ikonographisch dem über Drachen thronenden Christus oder der apokalyptischen Muttergottes, die einen Drachen als Symbol des Bösen niedertritt, oder den zahlreichen Heiligen, die ein Gleiches tun. Auch in der sakralen Baukunst finden Drachenbilder ihren Platz, nicht nur in Stein, sondern beispielsweise an Chorgestühlen auch bei Holzmöbeln. Und so bedeuten selbstverständlich auch für die Äbtissin die Drachenfüße ihres Fußschemels nichts Böses oder auch nur Fragwürdiges an ihr selbst, sondern im Gegenteil ihre religiöse Macht und Gewalt über das Böse. Wem aber, wie Hinderer, »Die heilige Cäcilie«, ihre »Macht und Überlegenheit« ein Dorn im Auge ist, muß ihre Erscheinung als »pompöse Selbstdarstellung klassifizieren« (210). Natürlich haben sich alle, die der Äbtissin irgendwie am religiösen Zeug flicken wollen, an diese »Drachenklauen« geklammert, am phantasievollsten wohl Söhlke, »Wahn – Sinn – Lesen«, der die imposante Dame nicht nur als »Inquisitorin« beschimpft, womit sie als ›Untersucherin‹ des Falles womöglich gut leben könnte, sondern in »einer forensischen Lesart« auch gleich des Mordes an Schwester Antonia verdächtigt, denn diese »wußte zuviel« (71).
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auch als echt christlich mitfühlende Seele zu zeigen: »auf menschenfreundliche Weise« fragt sie die betrübte Mutter nach dem »Befinden ihrer unglücklichen Söhne« und »ermuntert« sie, deren gottgewolltes Schicksal, »weil es einmal nicht zu ändern sei, möglichst zu fassen« (309).29 Und nun kommt es zur hochwichtigen Vertrauensprobe zwischen Mutter und Äbtissin. Die geistliche »Dame« möchte nämlich auch Näheres über die Vorfälle erfahren und äußert den »Wunsch, den bewußten Brief zu sehen, den der Prädikant« (309) damals, unmittelbar vor dem geplanten Überfall, an einen Freund geschrieben hatte. Man erinnert sich: sogar der bekehrte Veit Gotthelf hatte die Mutter zweimal, am Anfang und am Ende seiner Erzählung, um unbedingte Diskretion gebeten, damit er den »gerichtlichen Nachforschungen« (305) entgehe. Sie besitzt auch »Erfahrung genug«, um zu verstehen, »von welchen Folgen dieser Schritt sein konnte« (309). Nach einem »Augenblick der Verlegenheit« flößt ihr aber »das ehrwürdige Antlitz der Dame unbedingtes Vertrauen« ein, so daß sie ihr »unter einem heißen Kuß auf ihre Hand« (309) den gefährlichen Brief überreicht. Wenn man bedenkt, daß Kleists dramatische und novellistische Katastrophen meist durch die Unmöglichkeit des Vertrauens eintreten, daß er recht eigentlich der Poet des unvermeidlichen Mißtrauens zwischen den Menschen ist, kann man ein solches »unbedingtes Vertrauen« gar nicht hoch genug bewerten, zumal es durch das Verhalten der Äbtissin vollauf gerechtfertigt wird. In der Haltung der Mutter gestaltet Kleist die Möglichkeit des Vertrauens durch die unwidersprechliche Evidenz eines überwältigenden Eindrucks. Genau das selbe soll die Gewalt der Kunst erreichen. Die Mutter, die ja zu Recht glaubt, daß »Gott« ihre Söhne für ihr Verhalten und ihre Gesinnung »gerichtet« (307) hat, ist zugleich auch »auf den Gedanken gekommen«, daß »die Gewalt der Töne« ihr »Gemüt« damals »zerstört und verwirrt habe« (309). Auch für sie wirkt also Gott durch die 29 Sehr weit hergeholt ist daher die Denunziation beispielsweise durch Müller-Salget, Kommentar zur Ausgabe, die Äbtissin sei »nicht frei von Arroganz gegenüber der Protestantin« (886). Auch für Wolfgang Wittkowski, »Die Heilige Cäcilie und Der Zweikampf. Kleists Legenden und die romantische Ironie«, Colloquia Germanica 6 (1972), 17 – 58, »entfaltet sich am übrigen Betragen der Äbtissin der ganze religiöse Hochmut« (27). Wittkowski findet ihr Betragen und ihre Argumentation geradezu »lächerlich« (27) und setzt wie selbstverständlich voraus, daß Kleist das selbe lächerlich finden muß wie er, nämlich den Anspruch auf autoritative Deutungshoheit, den doch gerade der Dichter selbst in ähnlicher Weise erhebt. Auch Hinderer, »Die heilige Cäcilie«, stimmt unter Mißachtung des Textes, der ausdrücklich die »menschenfreundliche Weise« der Äbtissin hervorhebt, in diesen automatenhaften Chor ein: »Von christlicher Nächstenliebe findet sich auch in den Worten der Äbtissin keine Spur« (207f.); und das nur, weil ihm die hier doch einzig angemessene und vernünftige »Haltung eines christlichen Stoizismus« (208) unsympathisch ist.
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Musik; auch für sie sind Religion und Kunst nun aufs Engste verbunden. Als sie die »aufgeschlagene Partitur« (309) als genau jenes »Gloria in excelsis« erkennt, »das ihre Söhne verderbt« hat, fühlt sie »das ganze Schrecken der Tonkunst« (311), zugleich aber auch die religiöse Furcht Gottes über sich kommen. Sie küßt »mit einer unendlichen Regung von Demut und Unterwerfung unter die göttliche Allmacht« (311) das Notenblatt.30 Sie verehrt also das stoffliche Kunstwerk wie ein religiöses Bild oder eine Reliquie als materiellen Ausdruck der geistigen Macht Gottes. Genau dies ist der Augenblick ihrer Bekehrung, aufgrund derer sie wenig später »in den Schoß der katholischen Kirche« (313) zurückkehrt. Sie hat am negativen Exempel ihrer, wie die Äbtissin sagt, »schwer verirrten Söhne« (311) gelernt, daß der menschliche Widerstand gegen »die göttliche Allmacht« potenziert auf den Menschen zurückfällt. Und ganz unabhängig von der persönlichen Überzeugung des Autors repräsentiert in dieser Legende die katholische Kirche diese »göttliche Allmacht« ebenso wie die heilige Kunst, durch die sie hier wirkt.31 Wenn die Äbtissin daher in ihrer Schlußerklärung gegenüber der Mutter noch einmal betont, daß die religiöse »Protestantin« die »Mittel«, derer sich Gott »bedient«, um zu richten, nämlich die Gewalt der Kunst, »schwerlich begreifen« (311) könne, dann läßt sich dies in übertragener Bedeutung ebenso auf die Kunst-Protestanten beziehen, die sich der Gewalt der Kunst entziehen wollen.32 Bei der Mutter zeigt allerdings der Kuß der Partitur, daß sie deren Wirkmacht nun eben doch versteht und genau deshalb auch schon keine »Protestantin« mehr ist. Der untadelige Charakter der Äbtissin wird zuletzt übrigens noch einmal ausdrücklich bestätigt, indem Kleist sie ihre »Unterstützung« anbieten und das »Versprechen« geben läßt, »keinen 30 Birrell, »Kleist’s ›St. Cecilia‹«, für den Katholizismus und Irrsinn offenbar identisch sind, hält die Mutter deswegen für ebenso wahnsinnig wie ihre Söhne: »The impulsive, idolatrous kisses that she bestows on the score and later on the Abbess’s gown suggest that the visual signs can have effects as grave and as devastating as those exerted by the power of music« (81). 31 Man ›dekonstruiert‹ das Evidente auch in diesem Fall nach dem Universalrezept, es als fragwürdige Einzelperspektive zu denunzieren. Wem die Bedeutung von Kleists Legende nicht ins eigene Weltbild paßt, der erklärt wie z. B. Eybl, Kleist-Lektüren: »Wir wohnen der Konstruktion einer Legende bei« (245). Man polt die auktoriale Textintention einfach um, indem man behauptet, sie würde nur vorgeführt, um sich selbst zu relativieren. Dieser geistige Kurzschluß funktioniert als fixe Idee in einem hermetisch geschlossenen System unabhängig vom Text. 32 Lubkoll, »Die heilige Musik«, meint zur Ursache der »gewaltigen Wirkungsmacht der Musik auf die Brüder« im Sinne eines solchen Kunstprotestantismus, »daß der Text eine eindeutige Antwort auf diese Frage geradezu programmatisch verweigert« (348). Verweigert wird aber das Verständnis des Textes immer vom dagegen protestierenden Leser.
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Gebrauch« (313) von dem Inhalt des gelesenen Briefes zu machen. Der geradezu archivalische Nachweis der Äbtissin, »daß Schwester Antonia«, die damals doch anscheinend als Dirigentin auftrat, »während des ganzen Zeitraums« der »Aufführung« krank und »bewußtlos« in ihrer »Klosterzelle« (311) lag, bekräftigt den übernatürlichen Ursprung der Musik. Dieser »allein erklärt« (313), was geschah. Und diese alleingültige Erklärung wird autorisiert durch den »Erzbischof« und den »Papst« (313), gegen den die Bilderstürmer doch einst ihre »Verwünschungen« (287) ausgestoßen hatten.33 So wie die kirchliche Autorität in der Legende die religiöse Wahrheit bestimmt, so bestimmt der Autor des zu Lesenden autoritativ die poetische Wahrheit seiner Dichtung, die nach seinem Anspruch eben auch einen übernatürlichen und höheren Ursprung hat, auch ein Eingreifen Gottes in die Welt darstellt. Die Anerkennung eines göttlichen Wunders bedeutet ja nichts anderes als das Eingeständnis, daß es keine Erklärung gibt, die auf der gewöhnlichen menschlichen Erfahrung beruht. Und in diesem Sinne ist für Kleist auch die Kunst ein Wunder: auch eine Madonna Raffaels, eine Messe Palestrinas oder ein Drama Kleists übersteigt das Gewöhnliche und in seiner Entstehung Erklärliche. So wie Kleist mit dem religiös-musikalischen Cäcilienwunder auf den göttlich-wunderbaren Charakter der Kunst hinweisen will, so zerstören auch alle Feinde des Außerordentlichen, die 33 Dorothea E. von Mücke, »Der Fluch der heiligen Cäcilie«, Poetica 26 (1994), 105 – 120, erkennt hier zwar ganz richtig »die Macht des Wortes als rein autoritative Setzung«, kann soviel Autorität aber nur als »Ausschluß künstlerischer Kompetenz« (120) verstehen, anstatt den Zusammenhang von autoritativer Setzung und Kunst zu begreifen. Denn alle Kunst ist autoritär. Mücke verdreht dann folgerichtig »Kleists Text« in sein Gegenteil, wenn sie darin einen Gegensatz zwischen »der Gewalt der Musik« und der »Macht der Kirche« (120) konstruiert. Söhlke, »Wahn – Sinn – Lesen«, entsetzt sich schon vor dem Wörtlein »ohnfehlbar«, das den Papst »als Stellvertreter Gottes auf Erden« (72) bestätigen würde, also nur denunziatorisch zu verstehen sei. Hinderer, »Die heilige Cäcilie«, wirft der Äbtissin, der er doch zuvor ganz im Gegenteil die »Sünde der superbia« (210) unterstellt hatte, hier nun ausgerechnet das für sie Selbstverständliche vor, nämlich »der höheren männlichen Autorität in der kirchlichen Hierarchie« (213) zu gehorchen, und unterstellt dem »Text« einen »ironischen Unterton«, weil auch dieser »die Verlautbarung des Erzbischofs und das Breve des Papstes« (213) als Entscheidungsinstanzen zitiert. Auch für Schmidt, Heinrich von Kleist, kann, was aus seiner Sicht nicht ernst gemeint sein darf, nur ironisch gemeint sein: »Ironischerweise treffen die höchsten kirchlichen Autoritäten, die von dem ganzen Vorgang keinerlei authentische Kenntnis besitzen, die bestimmtesten Aussagen über ihn« (277). Das ist nun einmal im katholischen Kontext der Legende die Aufgabe der »höchsten kirchlichen Autoritäten«, die sich bei Kleist übrigens sehr gewissenhaft Zeugnisse über den »Vorgang« verschaffen. Diese Autorität nicht anzuerkennen, war ja gerade die Schuld der Frevler, für die sie an ihren Geisteskräften bestraft wurden.
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nach pathologischen oder kriminellen Rationalisierungen suchen, das Wunder der Kunst. Das paßt übrigens sehr gut in eine Zeit, in der man auch sonst bemüht ist, das Herausragende einzuebnen, das Außergewöhnliche gleichzuschalten, die Grenzen der Kunst abzuschaffen und jeden Schwachsinn als solche gelten zu lassen. Wie könnte man da Kleists Legende vom göttlichen Ursprung der Kunst unangetastet lassen? Das sowohl kirchlich wie auktorial verbindliche Urteil geht also dahin, »daß die heilige Cäcilie selbst dieses zu gleicher Zeit schreckliche und herrliche Wunder vollbracht habe« (313).34 Das Heilige und die Kunst sind identisch.35 Und wer durchaus nicht an das Eingreifen Gottes durch Heilige in die Welt glauben will, darf die Heilige Cäcilie ungescheut als Allegorie der Musik betrachten, allerdings einer göttlichen Musik, die geistiger Weise in die Körperwelt eingreift. Denn ohne diese göttlich-transzendente Welt, an die Kleist, wie noch seine Abschiedsbriefe vor dem Tod zeigen, nun einmal fest glaubte und deren Wirkung er als Dichter gestaltet hat, läßt sich sein Werk wirklich nicht verstehen: Gott wirkt durch die Gewalt der Kunst ein Wunder.36 Deshalb kann man die katholische Legende auch als Kunstle34 Diese Deutung, die schon der Titel der Legende auktorial vorgibt, wird etwa von Greiner, »Das ganze Schrecken der Tonkunst«, bekämpft, indem er Kleists Cäcilie kurzweg »eine ›falsche‹ Heilige« (520) nennt. Wie Hinderer, »Die heilige Cäcilie«, beruft man sich dafür gewöhnlich auf die »Mißverständnisse«, denen »wegen des Übersetzungsfehlers eines unwissenden Mönchs« die kirchliche Cäcilienlegende angeblich »ihre Entstehung verdankt« (186) hat. Einmal abgesehen vom völligen Unverständnis des Wesens der Heiligen und der Gattung Legende, deren ›Echtheit‹ und Sinn keineswegs von ihren Entstehungsumständen abhängt, ist auch dies ein Beispiel dafür, wie textferne Argumente in Kleists Legende hineingetragen werden, in welcher die ›Echtheit‹ der Heiligen Cäcilie mit keinem Wort problematisiert, sondern als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Selbst wenn man beweisen könnte, daß die römische Märtyrerin des 3. Jahrhunderts niemals existiert hat, bleibt Cäcilie in Kleists Erzählung dennoch eine ›echte‹ Heilige. 35 Wittkowski, »Die Heilige Cäcilie«, verfehlt daher den zentralen Sinn, wenn er beides zu trennen versucht: »Es war nicht die Heilige, sondern die Musik; es war kein wunderbarer Vorgang, sondern ein natürlicher« (29). Musik ist für Kleist heilig, und auch Natürliches kann als Wunder wirken. Oder wie Edel, »Heinrich von Kleist«, so trefflich formuliert: »Vielmehr wird am Naturhaft-Wirklichen das Absolut-Wirkliche zur Erscheinung gebracht« (109). Auch Haase, Freudenberg, »Power«, konstruieren eine falsche Alternative: »the critical debate surrounding the story constitutes a struggle between readers who insist on the novella’s positive Christian orientation and those who believe in its acclamation of the power of music« (89). Es ist, wie schon im Titel steht, beides zugleich! 36 Daher ist auch alles Bemühen, das ›katholische‹ Wunder zu relativieren, verfehlt, weil man dadurch auch das ›Wunder der Kunst‹ abstritte, für das Kleist es als Bedeutungsträger benutzt. Nach Schmidt, Heinrich von Kleist, beispielsweise »läßt Kleist das angebliche ›Wunder‹ selbst als Konstrukt interessegeleiteter, also vorurteilshafter Interpretation erscheinen« (277). Mangelnde Fähigkeit, den Litteralsinn von seiner
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gende verstehen, denn die Kunst hat als Ausdruck des Göttlichen eine religiöse Qualität. Und daher muß auch das Verständnis des gutwilligen Lesers dahin gehen, in der zerstörerischen Kunstwirkung auf die Geistesverfassung der Frevler zugleich das Schreckliche und das Herrliche der Einwirkung Gottes auf die Menschenwelt zu sehen.37 Dieser Zusammenbruch ist Rettung und Strafe »zu gleicher Zeit«. Wenn die verrückten Söhne, »im späten Alter, eines heitern und vergnügten Todes« sterben, »nachdem sie noch einmal, ihrer Gewohnheit gemäß« (313), also mit einem musikalisch »grausenhaften Auftritt« (303), der die Zuhörer »mit sträubenden Haaren« (303) entsetzt in die Flucht schlägt, »das Gloria in excelsis abgesungen« (313) haben, dann wird auch der doppelte Charakter ihres Zustands deutlich: während er objektiv schrecklich ist, ist er für sie selbst in ihrem Wahn subjektiv erfreulich.38 Diese Diagnose steht auch in Einklang mit Kleists sonstiger Vorliebe, die Gleichzeitigkeit der scheinbaren Gegensätze zu zeigen, etwa wenn Michael Kohlhaas »einer der rechtschaffendsten zugleich und entsetzlichsten Menschen« (13) ist, wenn der Marquise von O… ihr gewalttätiger Retter gleichermaßen als »Engel« und »Teufel« (186) erscheinen muß oder wenn es im Erdbeben in Chili Don Fernando zuletzt vorkommt, »als müßt er sich« über den Tod seines eigenen Kindes »freuen« (221). Diese Ambivalenz des Lebens, wonach ein Unglück aus anderer Perspektive auch ein Glück und umgekehrt ein Glück auch ein Unglück sein kann, hat aber nichts zu tun mit einer unmöglichen Ambivalenz der Kunst selbst. Denn jede wahre Bedeutung zu unterscheiden, läßt vorurteilshafte Interpreten befürchten, tatsächlich an ›katholische Wunder‹ glauben zu müssen, wenn sie Kleists Legendenhandlung akzeptieren. In Märchen können Tiere aber wirklich sprechen, und in Kleists Legende geschieht wirklich ein Wunder. Genau aus diesem Grund setzt er ja die Gattungsbezeichnung in den Titel, was für Kritiker wie Wittkowski, »Die Heilige Cäcilie«, natürlich auch nur als ironische »Legendenparodie« (20) gemeint sein kann. Wittkowski verfällt auf noch grundsätzlichere Weise dem selben Irrtum, wenn er die Frage stellt: »Aber welche Gewähr leistet eigentlich der Text dafür, daß der Gott, der rätselhaft verborgen, unbegreiflich ist, überhaupt noch existiert?« (18) Natürlich gar keine! Es ist nicht die Aufgabe literarischer Texte, Gottesbeweise für die außerliterarische Wirklichkeit zu liefern. Und in einer Dichtung wird die Existenz Gottes einfach gesetzt wie alle anderen Fakten der Handlung auch. Wer die Ilias liest, muß zumindest innerhalb der Fiktion an das Eingreifen der olympischen Götter glauben, und wer Heiligenlegenden liest, an den christlichen Gott. 37 Einer älteren Forschung war das Selbstverständliche noch selbstverständlich; vgl. z. B. Edel, »Heinrich von Kleist«: »die Legende schildert das Hineinwirken der Macht Gottes ins Diesseits« (114). 38 Man könnte diese Erwähnung »eines heitern und vergnügten Todes« mit Edel, »Heinrich von Kleist«, vielleicht auch so verstehen, daß der Tod die »Höllenqual beendet« (114), für die Verrückten also eine Art Erlösung ist, daß sie gerne sterben.
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Kunst will sich deutlich machen. Und gerade Kleist bemüht sich erklärtermaßen um diese »Klarheit« (566) und »Deutlichkeit« (539) in Ausdruck, Gestalt und Form, damit sein auktorialer »Gedanke« in aller Reinheit »erscheinen« (565) und auf den Leser übergreifen kann. Auch in seiner Cäcilienlegende ist die Bewertung der Handlung und der Personen ganz eindeutig. Die katholische Kirche steht hier für Gott und die Kunst, und die kunstfeindlichen Bilderstürmer sind zugleich auch religiöse Frevler. Das seichte Bestreben moderner Interpreten, alle Urteile in politisch korrekte Beliebigkeit zu relativieren oder geradezu umzukehren, zerstört Kleists Kunst und nimmt ihr alle poetische Gewalt. Kleist hat die Gewalt als schöpferisches Urprinzip erkannt, mit Heraklit gewissermaßen als Ursprung aller Dinge. Denn alles Walten beruht auf Gewalt. Schon das menschliche Erkennen und Denken übt auf die erkannte und bedachte Welt eine Gewalt der Festlegung aus. Mit der Sprache wendet sich dieser Versuch der Überwältigung auch gegen den Zuhörer, dem diese Festlegung aufgedrängt werden soll. Die Kunst gibt einem Gedanken eine definierte Gestalt; Kunst ist gewaltsame Schöpfung einer neuen Wirklichkeit, die dem Rezipienten zumindest vorübergehend aufgenötigt wird.39 Das gilt für die bannende, ja in gewissem Sinne ›tötende‹ Musik am Fronleichnamsfest, das gilt aber auch für die überwältigende Architektur des Doms mit seinen bunten Fenstern und Bildern. Wenn Bilderstürmer durch die Gewalt der Musik bestraft und besiegt werden, dann zeigt das den idealen oder, um im Legendenton zu bleiben, göttlichen Zusammenhang aller Arten der Kunst. Und so darf man diese gewalttätige Wirkung auch auf die Dichtkunst übertragen, die ebenfalls die Eigenwahrnehmung des Lesers ausschaltet und ihm die Perspektive des Autors aufzwingt. Wer Legenden liest, muß Wunder glauben, in Kleists Legende das Wunder der Gewalt der Musik oder der Heiligen Cäcilie.40 Im Unterschied zur bloßen Sprache fin39 Kai Hammermeister, »Kunstfeindlichkeit bei Kleist. Der ästhetische Diskurs in ›Die heilige Cäcilie‹«, Kleist-Jahrbuch (2002), 142 – 153, kommt aufgrund der Voreingenommenheit, daß Gewalt immer negativ zu bewerten sei, zu der kuriosen Einschätzung, »Kleists Erzählung« müsse »in der Tradition der Kunstfeindschaft situiert werden« (144). Begleitende Lektüre in anderen Kleisttexten könnte solche interpretatorische Fehlgriffe verhindern. 40 Lubkoll, »Die heilige Musik«, erschrickt wie viele Gesinnungsgenossen schon beim Begriff ›Legende‹ derart, daß sie ihn auch bei Kleist nur »im abschätzigen Sinn des Wortes« verstehen kann: »Immer handelt es sich um bloße Setzungen, um Hypothesen, um Verschleierungen. Die Legende ist eine Institution: Sie regelt den gesellschaftlichen ›Willen zur Wahrheit‹, sie ist ein diskursives Instrument der Macht« (346). Das ist nun einmal das Wesen aller Kunst: sie ist ein Instrument der Macht oder Gewalt des Künstlers, durch autoritative Setzung seinen Willen zur Wahrheit auszuüben.
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det die Gewalt der Kunst aber unwillkürlich und unbemerkt statt, jedenfalls dann, wenn man sie angemessen auf sich wirken läßt. Auch die Kunst kann man nur »mit einer unendlichen Regung von Demut und Unterwerfung unter die göttliche Allmacht« (311) erfahren. Der Akt der Distanzierung und die Energie des Widerspruchs mag dann hinterher kommen; der Leser muß die Weltanschauung des Autors schließlich nicht teilen. Aber auch diese Energie läßt sich nur gewinnen, wenn man die entgegengesetzte Polung erkennt und bestehen läßt. Nur wer einen Text richtig interpretiert, kann seine Falschheit aufzeigen. Das gerade in der Kleist-Forschung so weit verbreitete Bedürfnis, das poetische Werk durch ›rezeptionsästhetische‹ oder ›dekonstruktionalistische‹ Beliebigkeit der eigenen Trivialität anzupassen, nimmt jedoch der Lektüre und dem Verständnis jede kreative Spannung und dem Kunstwerk alle poetische Gewalt.
Welche Macht hat die Musik? Satire und recreatio in Jacques Offenbachs Orphée aux Enfers Von Béatrice Jakobs »Est-ce que vous croyez que je passerai ma jeunesse à vous entendre réciter des songes classiques et racler (montrant le violon d’Orphée) l’exécrable instrument que voilà ?«1 fragt Eurydice empört ihren Gatten Orphée2, um zunächst zu verhindern, dass dieser eben jenes »exécrable instrument«3 wieder aufnimmt und sein Spiel fortsetzt. Die Rechnung scheint aufzugehen: Anstatt gleich wieder zu seiner Violine zu greifen, verlegt sich Orphée darauf, seine Ehefrau zunächst mit Worten von der Schönheit seiner Musik zu überzeugen.4 Als ihm allerdings die ohnehin dürftigen Argumente ausgehen, kommt er rasch auf sein Instrument zurück, und versucht seine Frau mit seinem neuesten concerto – »le comble de l’art, Il dure une heure un quart«5 – für sich zu gewinnen. Ein Wort ergibt nun das andere, da ist von Ehebruch und missachteter Künstlerehre die Rede, von schrecklichem Saitenkratzen und enttäuschter Liebe.6 Von rasendem Geigenspiel begleitet 1 Jacques Offenbach, Orphée aux Enfers / Orpheus in der Unterwelt / Orpheus in the Underworld. Opéra bouffon en deux actes et quatre tableaux. Version de 1858. Livret de Hector Crémieux (avec la collaboration de Ludovic Halévy). Offenbach Edition Keck (Partitur, supplément und Libretto; Deutsche Interlinearübersetzung Christiane Montulet), Berlin 1999, I, i, 2, 5. Die römischen Ziffern bezeichnen Akt und Bild, die arabischen zunächst die Szene, dann die Seite. Die Seitenangaben beziehen sich auf das Libretto, wenn vorhanden, wurden die Taktangaben der Partitur ergänzt. Französische, italienische und lateinische Texte werden im Folgenden im Original, griechische in deutscher Übersetzung zitiert. 2 Im vorliegenden Beitrag wird von unterschiedlichen Adaptationen des Orpheusmythos die Rede sein. Zur besseren Unterscheidung wird jeweils die Namenform der Sprache verwendet, in der die jeweilige Fassung geschrieben wurde. Die deutsche Form bezeichnet die mythologischen Figuren. 3 Offenbach, Orphée aux Enfers, I, i, 2, 5. 4 Vgl. ibid., I, i, 2, 6. 5 Ibid., I, i, 2, 5 / 7, Duo (Orphée, Euridice), Takt 72 – 81. Violinsolo, ibid., Takt 86 – 108. 6 Vgl. ibid., I, i, 2, 6.
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gipfelt der Streit der Eheleute in der Bitte an die Götter, sie vom jeweiligen Partner zu befreien: EURYDICE: Oh Venus, ma belle déesse, délivre-moi de mon aimable Orphée, et je t’immolerai dix brebis plus blanches que le lait! ORPHÉE: Jupiter, mon maître, délivre-moi de mon aimable Eurydice, et je chanterai tes louanges sur ma lyre à quatre cordes.7
Von der sehnsuchtsvollen, innigen Liebe zwischen Orpheus und Eurydike, den mythologischen Vorfahren der offenbachschen Bühnenfiguren, ist hier nicht einmal mehr ein schwacher Abglanz zu bemerken. Und auch die Musik, unbezwingbarer Trumpf in der Hand des mythischen Kitharöden, hat ihre Macht eingebüßt, einzig Orpheus selbst scheint noch von ihrer Schönheit überzeugt. Insbesondere im Zusammenhang mit einem Musikdrama, dessen Wirkung in großen Teilen auf dem Zusammenspiel von Musik und Text sowie der musikalischen Gestaltung per se beruht, ist dieser erste Befund ernüchternd. Wenn man zudem bedenkt, dass gerade der Orpheus-Mythos von zahlreichen Textdichtern und Komponisten aufgegriffen wurde, weil in diesem eben der Musik eine so bedeutsame Rolle zukommt – und man auf diese Weise nicht zuletzt die Gattung Oper gerechtfertigt sah8 – stellt sich die Frage, warum Offenbach seinem Orphée dieses Machtinstrument vorenthält. Zwar bleibt die Orpheus-Figur weiterhin eng mit der Musik verbunden, diese erweist sich allerdings – wie anhand der bereits evozierten Szene verdeutlicht – eher als Störfaktor denn als Motor der Beziehung zwischen Orphée und Eurydice. Warum also wurden die traditionellen Verhältnisse hier aufgebrochen? Und: Welche Folgerungen ergeben sich daraus für die ›Macht‹ der Musik im Rahmen des von Offenbach entwickelten genre der opéra bouffe?9 Ibid., I, i, 2, 7, Duo (Orphée, Euridice), Takt 178 – 182 und rep. Vgl. dazu Ulrich Schreiber, »Vom aufrechten Gang zur Selbstentmündigung. Der Orpheus-Mythos auf dem Musiktheater«, Opernwelt. Das internationale Opernmagazin 37 (1995), 1 – 7, hier 1 – 4. 9 Offenbach hier als Begründer eines neuen genre, nämlich der opéra bouffe, bezeichnet zu sehen, mag zunächst erstaunen, wird er doch landläufig als Komponist von Operetten (frz. opérette) und als solcher als Vorbild für alle nachfolgenden Künstler angesehen, die sich dieser Gattung annahmen (vgl. zum Beispiel die Hinweise bei Finscher (Ludwig Finscher u. a. [Hgg.], Musik in Geschichte und Gegenwart [MGG]. Allgemeine Enzyklopädie der Musik in 20 Bänden, begründet F. Blume, Kassel u. a. 21994, Lemma »Operette«) und Tulard (Jean Tulard [dir.], Dictionnaire du Second Empire, Paris 1995, Lemma »opérette«) sowie den von RalphGünther Patocka gewählten Titel Operette als Moraltheater für seine Studie zu den Libretti Jacques Offenbachs (Tübingen 2002). Ursprünglich im italienischen Sprachraum geprägt, bezeichnet der Begriff operetta zunächst ein Bühnenwerk, das deutlich 7 8
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Um diesbezüglich Klarheit zu erlangen, ist es notwendig, zunächst anhand einiger Beispiele die Tradition der literarischen und vor allem musikdramatischen Verarbeitung des Orpheus-Mythos nachzuzeichnen und diese mit der Realisierung in Orphée aux Enfers zu verschränken. Die Ergebnisse dieser Gegenüberstellung mögen Aufschluss geben über das gesellschaftskritische Potential des Stückes und dessen Verwurzelung in den historischen Gegebenheiten der Entstehungszeit.10 Auf dieser Grundlage könkürzer als die traditionellen dramme per musica bzw. später opere liriche war (vgl. entsprechend das italienische Diminutiv -etta). Die formale Festlegung der Operette als Bühnenwerk in dem sich »gesungene oder instrumental vorgetragene Musiknummern mit gesprochenen Dialog- oder Monologpassagen abwechseln« (MGG, Lemma »Operette«) setzte bereits im späten 17. Jahrhundert ein (ibid.). In bald auch thematischer Abgrenzung von der ›großen Oper‹ etablierten sich für diese Form des Musiktheaters auch die Bezeichnungen ›Komische Oper‹ (frz. opéra comique, opéra bouffon, opérette bouffe, ital. dramma giocoso, opera buffa, letzteres in deutlicher Abgrenzung zur opera seria) und ›Singspiel‹ und werden seitdem von den Komponisten vor allem des 19. Jahrhunderts und in der Forschungsliteratur zum Teil als Synonyme, zum Teil kontrastiv verwendet (vgl. dazu Josef Heinzelmann, »›Mélodie argent comptant‹ Offenbach und das Geld, und das heißt auch: Offenbach und die Verleger und auch: Offenbach und Deutschland. Drei unbekannte Dokumente zu einem wenig bekannten Thema«, in: Stefan G. Harpner [Hg.], Über Musiktheater. Eine Festschrift. Arthur Scherle zum 65. Geburtstag, München 1992, 116 – 123. Heinzelmann bietet hier eine Zusammenstellung der zeitgenössischen Begrifflichkeiten). Die im vorliegenden Beitrag verwendeten Gattungsbezeichnungen richten sich nach denjenigen von Offenbach selbst. 10 Die Frage, in welchem Maße die Bühnenwerke Offenbachs an das Second Empire gebunden sind, wird in der Offenbachforschung mittlerweile kontrovers diskutiert. Während seit der »Gesellschaftsbiographie« von Siegfried Kracauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit (Erstausgabe 1937) die Idee von der »unzertrennlichen Verknüpfung (von) Offenbach und dem zweiten Kaiserreich« (Siegfried Kracauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, hg. Ingrid Belke, unter Mitarbeit von Mirjam Wenzel, Frankfurt a. M. 2005, Vorwort, 12) jahrzehntelang wie eine ›Zauberformel‹ wiederholt und allgemein als Interpretationsgrundlage herangezogen wurde (vgl. beispielsweise von P. Walter Jacob, Jacques Offenbach in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1969 sowie den Eintrag »Offenbach« im Dictionnaire du Second Empire) mehren sich seit einigen Jahren die kritischen Stimmen (vgl. zum Beispiel den Diskussionsbeitrag von Thomas Koebner anlässlich des Beitrags von Wolf Rosenberg, »Politische und gesellschaftskritische Aspekte bei Offenbach«, in: Winfried Kirsch, Ronny Dietrich [Hgg.], Jacques Offenbach – Komponist und Weltbürger, Mainz 1985, 21 – 33, Diskussion, 34 – 40, hier 37 sowie besonders den kritischen Artikel von Norbert Nagler, »Jacques Offenbachs musikalische Utopie: die Sehnsucht nach der herrschaftsarmen Heimat. Reflexionen zu Siegfried Kracauers Gesellschaftsbiographie des Second Empire«, in: Heinz-Klaus Metzger, Rainer Riehn [Hgg.], Jacques Offenbach [Musik-Konzepte 13], München 1980, 87 – 102). Wenn im Folgenden erneut die historische Verwurzelung von Orphée aux Enfers in den Blick genommen wird, so geschieht dies nicht, um die skizzierte Forschungsdebatte nachzuvollziehen oder gar fortzusetzen, sondern weil mit der Frage nach der ›Macht der Musik‹ ein Aspekt in den Mittelpunkt des Interesses rückt, den
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nen anschließend die Machtverhältnisse zwischen Text und Musik ausgelotet und die Funktion letzterer vor dem Hintergrund einiger gattungstheoretischer Aussagen Offenbachs sowohl für Orphée aux Enfers als auch für das genre allgemein neu bestimmt werden. I. Nachdem es Offenbach im März 1858 gelungen war, endlich aller behördlichen Beschränkungen hinsichtlich der Größe des Ensembles, des Balletts und der Statisterie seines Theaters, den Bouffes-Parisiens, ledig zu sein,11 begannen im Frühsommer des gleichen Jahres die Arbeiten an Orphée aux Enfers. Es ist aufgrund der Vielzahl der verschiedenen Versionen der Entstehungsgeschichte des Werkes kaum möglich, deren tatsächlichen Verlauf einwandfrei nachzuvollziehen: Hier ist von einem Pressestreit mit dem Theaterkritiker Jules Janin die Rede,12 dort von einer »Skizze für eine Orpheus-Parodie nach Glucks Oper«, die schon seit geraumer Zeit vorhanden und im passenden Augenblick vom Komponisten ›aus der Schublade‹ gezogen wurde …13. Auf die geringe Glaubwürdigkeit dieser Kracauer – und mit ihm die bisherige Forschung – weitgehend unberücksichtigt ließ (vgl. Kracauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, 11). 11 Vgl. Peter Hawig, Jacques Offenbach. Facetten zu Leben und Werk, KölnRheinkassel 1999, 13. 12 Von einer Pressekampagne, die Jules Janin im Journal des Débats gut zwei Monate nach der Premiere von Orphée aux Enfers ins Rollen brachte, berichtet zunächst Anton Henseler in Jacob Offenbach, Berlin 1930, 281, in seinem Gefolge Jacob, Jacques Offenbach in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 73 ff. Kracauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, 183 ff., Patocka, Operette, 108 ff. Tatsächlich war aber nicht Janin, sondern Offenbach der Initiator, griff er doch in einem offenen Brief (Le Figaro, 18. 11. 1858, 5) eine Nebenbemerkung des Theaterkritikers auf. Die allseits zitierte Replik von Janin (Le Figaro, 06. 12. 1858, 6) war also ursprünglich eher als Verteidigung denn als Angriff verfaßt (vgl. dazu Michael Klügl, »Zweimal Orphée«, in: Elisabeth Schmierer [Hg.], Jacques Offenbach und seine Zeit, Laaber 2009, 221 – 237, hier 221 – 223). 13 Diesen Sachverhalt gibt Alphons Silbermann in seinem Imaginären Tagebuch des Herrn Jacques Offenbach (München 21991) als Teil eines Briefes von Offenbach an Ludovic Halévy an. Nicht nur aufgrund der Passage im Vorwort von Silbermann: »So imaginär das hier vorliegende Tagebuch des Kölner Kinds und Pariser Idols auch ist, dort – so darf ich dem Leser versichern – wo von mir nach langer Sammelarbeit Originaldokumente […] verwertet wurden, sind diese ohne jedwede Veränderung, wenn auch ohne Quellenangaben, wiedergegeben. […] Im übrigen walten der Drang nach menschlicher Erkenntnis – und die dichterische Freiheit.« (IV), sondern auch aufgrund der Tatsache, dass dieser Brief bisher anderweitig nicht auffindbar ist, muss dessen Authentizität bis auf weiteres in Zweifel gezogen werden
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Anekdoten wurde in der Forschung mehrfach hingewiesen.14 Nichtsdestotrotz deuten sie an, was Offenbach selbst in einem Brief an Ludovic Halévy, zusammen mit Hector Crémieux Verfasser des Libretto zu Orphée aux enfers, selbstbewußt formuliert: »Orphée sera un chef-d’œuvre et aura deux cents représentations«.15 Mag der Hinweis auf das bereits vorhandene Rohmanuskript auch als Indiz für die Beliebtheit des Orpheusstoffes bei Komponist und Publikum gewertet werden können, wäre es dennoch verfehlt, den Erfolg des Offenbach-Stückes maßgeblich durch die Rückbindung an die erwähnte Oper von Christoph Willibald Gluck erklären zu wollen. Dessen ursprünglich auf ein italienisches Libretto verfasste Reformoper Orphée et Euridice war erstmals 1774 als nun französisches drame héroïque aufgeführt worden und hatte trotz Revolutionswirren und angespannten kulturellen Klimas auf der Bühne der Académie Royale de Musique über lange Jahre Triumphe gefeiert.16 Diese lagen jedoch auch zu Zeiten Offenbachs schon eine Weile zurück, hatte das Werk doch letztmalig 1817 in Paris auf dem Spielplan gestanden.17 Die allgemeine Kenntnis der opéra konnte sich also nur noch auf deren groben Handlungsverlauf beschränken oder aber auf einzelne Nummern, die zwischenzeitlich ein musikalisches Eigenleben entwickelt hatten und im Rahmen von Kaffeehaus- oder Salonkonzerten als ›Werke von Gluck‹ in Erinnerung gerufen wurden.18 Wenn Offenbach nun im Orphée aux Enfers einen dieser Gluck-›Schlager‹, J’ai perdu mon Euridice19, zur Erkennungsmelodie20 seines glücklosen Helden macht, ist dies zwar eine deutliche Reminiszenz an das Vorgängerwerk, die aber keinesfalls eine ausschließlich Gluck ridikülisierende Absicht erkennen lässt. und kann er dementsprechend nicht als Ausgangspunkt für die weitere Argumentation dienen. 14 Vgl. zum Beispiel Klügl, »Zweimal Orphée«, sowie Patocka, Operette, 246: »in dem bisher nur auf Deutsch bei Silbermann nachzuweisenden Brief«. 15 Jacques Offenbach, Lettre 13 (A Ludovic Halévy, Paris, 08 juillet 1858), in: ders., Lettres à Henri Meilhac et Ludovic Halévy, Edition réunie, présentée et annotée Philippe Goninet, Paris 1994. 16 Ludwig Finscher, »Vorwort«, in: Christoph Willibald Gluck, Orphée et Eurydice. Orpheus und Eurydike (Pariser Fassung von 1774), Trágédie opéra (Drame héroîque) in drei Akten von Pierre-Louis Moline (nach Raniero de’ Calzabigi), hg. L. Finscher, Kassel u. a. 1967, VII – XXIX, hier X. 17 Vgl. Patocka, Operette, 246. 18 Vgl. dazu Dictionnaire du Second Empire, Lemma »café-concert«, ähnlich Jacob, Jacques Offenbach in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 18 f. 19 Gluck, Orphée et Eurydice, III, 1, Takt 382 – 445 (air d’Orphée). 20 Vgl. zum Beispiel Offenbach, Orphée aux Enfers, I, ii, 7, 36, Final du premier acte, Takt 64 / 65: On m’a ravi mon Euridice auf gleicher Melodie und Tonhöhe.
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Traditionelles Kennzeichen einer Parodie ist bekanntlich eine offensichtliche Intertextualität, die sich als Verformung eines weiterhin erkennbaren Urbilds manifestiert, mit dem Ziel, durch den Kontrast von alt und neu Lachen zu erregen.21 Unbedingte Voraussetzungen für den Erfolg einer Parodie sind dementsprechend die Kenntnis sowie die relative Beliebtheit des parodierten Textes beim Publikum. Denn nur wenn beides gegeben ist, können die ›Spitzen‹ des Abbilds verstanden werden und wird sich ein Leser oder Zuschauer mit einem Text erneut auseinandersetzen wollen.22 Die genannten Parodiekriterien weist nun zweifellos auch das Werk von Offenbach auf, jedoch mehr in Hinblick auf die literarische und musikdramatische Tradition des Orpheusstoffes, als im direkten Bezug auf Gluck. So wenig musikalische Nähe sich nämlich zwischen den Werken der beiden Komponisten konstatieren lässt, so gering sind letztlich auch die inhaltlichen Übereinstimmungen. Einzig der Tod der Eurydice durch einen Schlangenbiss, der Gang in die Unterwelt und der endgültige Verlust der Dame in Folge des unerlaubten Blicks können als gemeinsame Elemente identifiziert werden: Anders als bei Offenbach fungiert jedoch bei Gluck die Liebe als treibende Kraft. Sie lässt den begnadeten Sänger und Leierspieler den Plan fassen, die Mächte der Unterwelt durch Musik zu betören und auf diese Weise die Geliebte zurück zu gewinnen.23 Diese Version ist auch durch die antiken Texte verbürgt. Wie oft in Bezug auf Mythen der Fall, ist es auch hinsichtlich der ›Erlebnisse‹ von Orpheus nicht möglich, eine einzige, eindeutige Textvorlage auszumachen. Mythen lassen sich vielmehr durch die Gesamtheit aller ihrer Fassungen definieren.24 Unter den zahlrei21 Vgl. Hubert Cancik, Helmut Schneider (Hgg.), Der neue Pauly – Enzyklopädie der Antike (DNP), 15 Bde., Stuttgart / Weimar 2001, Lemma »Parodie«. 22 Die Existenz einer oder mehrerer Parodien impliziert demzufolge auch immer eine positive Bewertung des Ausgangswerks (vgl. zum Beispiel die zahlreichen Parodien liturgischer Texte im Mittelalter). Giacomo Meyerbeer, dessen Melodien aus damals sehr erfolgreichen grand opéras (Les Huguenots, 1836; Le Prophète, 1849 u. a.) gleichfalls gelegentlich von Offenbach in parodistischer Manier übernommen wurden, hat sich nach anfänglichem Groll über sein auf diese Weise gesichertes Fortleben durchaus gefreut. Hatte er beim Besuch eines Offenbachwerks Variationen seiner Melodien entdeckt, pflegte er geschmeichelt festzustellen, ein solcher Meister parodiere ja nun sicher keine Null! (vgl. Alexander Faris, Jacques Offenbach, Zürich 1982, 71). 23 Gluck, Orphée et Eurydice, I, 4, Takt 19 – 143 (ariette d’Orphée: L’espoir renaît dans mon âme). 24 Claude Lévi-Strauss, »Die Struktur der Mythen« in: ders., Strukturale Anthropologie I, aus dem Französischen übers. Hans Naumann, Frankfurt a. M. 1967, 226 – 254, hier 238 f. Diese Idee wird auch durch die Analyse der Kennzeichen von Mythen durch Hans Blumenberg bestätigt: In Arbeit am Mythos (Frankfurt a. M. 72006) benennt er die »hochgradige Beständigkeit ihres narrativen Kerns« (ibid., 40) und
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chen Quellen, die Angaben zu Orpheus bereithalten, stechen zwei durch die relative Länge des ihm gewidmeten Textabschnitts sowie die dargebotene Fülle an Informationen hervor: Vergils Georgica und in dessen Nachfolge Ovids Metamorphoses. Auf letzteren beruhen dann auch die zahlreichen mythologischen Wörterbücher, allegorischen Umdeutungen und ›modernen‹ Neuausgaben, die seit dem Renaissancezeitalter in ganz Europa verbreitet waren.25 Zu Lebzeiten Offenbachs führte ein verstärktes Interesse an der antiken Kultur, ausgelöst durch den von Napoléon I übernommenen, an Julius Caesar orientierten Herrschaftskult des Kaisers dazu, dass Orpheus’ Taten vorrangig in der von Ovid festgeschriebenen Form bekannt waren.26 Die entsprechenden Abschnitte der Metamorphoses können also durchaus als Beispiel für die antike Form des Mythos angeführt werden, um so mehr, da eben diese auch dem gebildeten zeitgenössischen Theaterpublikum als Vergleichsfolie zur Verfügung standen. Wie bereits angedeutet ist auch bei Ovid die Liebe Motor der Handlung: Quam satis ad superas postquam Rhodopeïus auras deflevit vates, ne non temptaret et umbras, ad Styga Taenaria est ausus descendere porta […] Persephonen adiit inamoenaque regna tenentem umbarum dominum, pulsisque ad carmina nervis […] posse pati volui nec me temptasse negabo: vicit Amor.27 eine »ausgeprägte marginale Variationsmöglichkeit« (ibid.) als Charakteristika und Bedingung ihres steten Überlebens. 25 Vgl. Olga Artsibacheva, Die Rezeption des Orpheus-Mythos in deutschen Musikdramen des 17. Jahrhunderts, Tübingen 2008, 27 – 31. Hier auch Hinweise zu den entsprechenden Passagen in Vergils Georgica IV, 453 f. 26 Vgl. Johannes Wilms, Napoléon III. Frankreichs letzter Kaiser, München 2008, 112, sowie speziell zur »Propagierung klassizistischer Formen« Tamina Groepper, Aspekte der Offenbachiade. Untersuchungen zu den Libretti der großen Operetten Offenbachs, Frankfurt a. M. 1990, 26 – 32, hier 29. Bei dem Versuch, den Grund für den offenbachschen Rekurs auf die Antike zu erklären, werden innerhalb der Forschungsliteratur die Begriffe des »Klassischen« und vor allem des »Klassizistischen« sehr unscharf und geradezu inflationär verwendet. Vor allem mit Blick auf den literarischen und auch musikdramatischen Sektor scheint es verfehlt, hier tatsächlich von klassizistischen Strömungen zu sprechen, einzig der angesprochene Rückgriff auf den antiken Herrschaftskult und die dadurch bedingte Verbreitung und Kenntnis mancher Texte der antiken Literatur sind nachweisbar. Zu Rezeption und Prestige des ›Klassischen‹ in Frankreich vgl. zum Beispiel René Sternke, »Französische und Berliner Klassik. Die historische Variabilität des Klassischen«, in: Klaus Gerlach u. a. (Hgg.), Der gesellschaftliche Wandel um 1800 und das Berliner Nationaltheater, Hannover 2009, 141 – 185, passim.
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Auch über die Wirkung von Orpheus’ Gesang auf die Mächte der Unterwelt herrscht innerhalb der literarischen wie musikdramatischen Tradition weitgehende Einigkeit. So illustriert zum Beispiel wiederum Ovid die Verzauberung der Hadesbewohner mit der Bemerkung, selbst Sisyphos habe sich vorübergehend auf seinen Stein gesetzt »inque tuo sedisti, Sisiphe, saxo«28. Pierre-Louis Moline, der Verfasser der französischen Version des Gluck-Librettos, lässt den Chor der Furien mit Entsetzen seine Machtlosigkeit gegenüber den »puissants accords« von Orphée besingen: »Par quels puissants accords, dans le séjour des morts, malgré nos vains efforts, il calme la fureur de nos transports«.29 Auch in den italienischen Textbüchern des 17. Jahrhunderts, die oftmals von verschiedenen Komponisten vertont wurden, ist das Erstaunen der Unterweltbewohner über den von Orfeo eingesetzten bel canto und dessen Wirkung allgegenwärtig: »trionfi oggi pietà ne’ campi inferni«.30 In Bezug auf das dritte Kernelement – den verbotenen Blick – lassen sich gleichsam deutliche Gemeinsamkeiten feststellen: Stets folgt nämlich auf das ›erneute Sterben‹ der Geliebten eine Zeit des großen Schmerzes, so bei Ovid »cura dolorque animi lacrimaeque alimenta fuente«31, die dann aber – je nach intendierter Botschaft – einer mehr oder weniger hoffnungsvollen Abschlußsequenz Raum gibt. Bei Gluck ertönt an dieser Stelle die bereits erwähnte Arie J’ai perdu mon Eurydice, die im Versuch von Orphée gipfelt sich selbst zu töten – ein Vorhaben, das aber von Amor vereitelt wird.32 Claudio Monteverdi und sein Textdichter Alessandro Striggio hingegen las27 Publius Ovidius Naso, Metamorphosen, lat. / dt., in deutsche Hexameter übertr. Erich Rösch, hg. Niklas Holzberg, Düsseldorf / Zürich 141996, X, v. 11 – 13; 15 f.; 25 f. Wenn nicht anders angegeben, stammen alle Hervorhebungen in diesem und weiteren Zitaten von mir! 28 Metamorphosen, X, v. 44. 29 Gluck, Orphée et Eurydice, II, 1, Takt 200 – 220 (choeur de Spectres). Nikolaus de Palézieux weist mit Bezug auf die hier evozierte Passage zu Recht auf die bemerkenswerte Tatsache hin, dass Gluck für sein erstes Reformwerk ausgerechnet den Orpheusstoff auswählte: »Gluck komponierte die Macht der Musik« (Nikolaus de Palézieux, Christoph Willibald Gluck mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1988, 66). 30 Jacopo Peri, L’Euridice: Opera in musica; con la Composizione per Pianoforte di Luigi Torchi, in: Luigi Torchi (Hg.), L’arte musicale in Italia. Pubblicazione nazionale delle più importanti opere musicali italiane dal secolo XV al XVIII, tratte da codici, antichi, manoscritti ed edizioni primitive, scelte, trascritte in notazione moderna, messe in partitura, armonizzate ed annotate. La Musica scenica. Secolo XVII, Mailand 1965, 90. Zur Mehrfachvertonung der Libretti dieses Stoffkreises im italienischen Sprachraum vgl. Françoise Decroisette u. a. (Hgg.), La naissance de l’Opéra. Euridice 1600 – 2000, Paris 2001, passim, vor allem 99 – 199. 31 Metamorphosen, X, v. 70.
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sen in der 1607 uraufgeführten favola per musica Orfeo im Moment des Verschwindens der Euridice ein Lamento des Kitharöden erklingen, das zunächst nur den schadenfrohen Gesang des choro de spiriti, schließlich aber, nach fortgesetzter Klage, den Auftritt Apolls und die anschließende Apotheose des Sängers heraufbeschwört.33 Zwei Schlüsse lassen sich aus der knappen Zusammenschau einiger exemplarisch ausgewählter Bearbeitungen des Orpheus-Stoffes ziehen: Zum einen, dass es sich bei den angesprochenen drei Aspekten um die Hauptmomente des Mythos handelt, die sich trotz aller Umgestaltungen, die das Material im Laufe der Jahrhunderte erfuhr, inhaltlich nicht veränderten. Zum anderen, dass mit Orphée aux enfers weniger die Parodie eines bestimmten Werkes sondern vielmehr die Wiederaufnahme eines Stoffs vorliegt, dessen besondere Kenntnis und Beliebtheit beim Publikum sich der Komponist in parodistischer Manier geschickt zunutze zu machen wußte. II. Wer ins Musiktheater geht, um sich eine Orpheus-Bearbeitung anzuschauen, weiß also, was ihn erwartet. Ob ›Original‹-Version oder Parodie, in beiden Fällen konnte man recht sicher sein, die Kernelemente und ihre Motivation durch die Liebe und den Zauber der Musik trotz aller Verfremdung im Wesentlichen wiederzufinden. So brachte beispielsweise der bereits erwähnte Gluck-Librettist Moline zur Musik von d’Orvigny Roger Bontemps et Javotte auf die Bühne, ein Werk, das den bekannten Stoff ins Handwerkermilieu verlegte – unter weitgehender Beibehaltung des Textes und mit mäßigem Erfolg allerdings.34 Anders Offenbach!
32 Gluck, Orphée et Eurydice, III, 1, Takt 463 / 464: »Orphée tire son épée pour se tuer, et l’Amour qui paraît tout à coup retient son bras« sowie vor allem ibid., III, 2, Takt 1 – 27 (récitative Amour, Orphée, Euridice: »Arrête Orphée!«). 33 Vgl. L’Orfeo. Favola in musica da Claudio Monteverdi, Rappresentata in Mantova l’anno 1607 & nuovamente data in luce, Venedig 1609, Lamento von Orfeo nach dem Blick zurück: Akt IV, 127 / 128; Gesang des choro de spiriti: Akt IV, 130 / 135; erneute Klage von Orfeo – zum Teil im Wechselgesang mit Eco: Akt V, 138 – 145; Auftritt von Apollo und Apotheose: Akt V, 145 ff. Die Ausgabe verfügt weder über eine Szenenaufteilung noch über eine durchgängige Taktzählung. Die Ziffern geben die moderne Paginierung an. 34 Vgl. MGG, Lemma »Orpheus«. Der Eintrag bietet auch eine Liste von Parodien des Orpheusstoffes. Weitere Beispiele bei Jacob, Jacques Offenbach in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 69.
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Dass in der von ihm kreierten Welt von Orphée und Eurydice vieles anders ist als von der Tradition vorgegeben, wird dem Zuschauer gleich zu Beginn des Stückes klar: beim Auftritt der allegorischen Figur der Opinion Publique: L’OPINION PUBLIQUE: Qui je suis? Du théâtre antique / j’ai perfectionné le cœur; / je suis l’Opinion Publique, / un personnage symbolique, / ce qu’on appelle un raisonneur. / Le chœur antique en confidence / se chargeait d’expliquer aux gens / ce qu’ils avaient compris d’avance / quand ils étaient intélligents. / Moi, je fais mieux: j’agis moi-même, / et prenant part à l’action, / de la palme ou de l’anathème / je fais la distribution. / Que prenne garde à moi la femme / qui voudrait tromper son époux / et que se garde aussi l’époux / qui ferait des traits à sa femme! / C’est au personnage du drame / que je parle, rassurez-vous! / Voici venir notre Eurydice / je pars… mais je suis toujours là / prêt à sortir de la coulisse / comme un Deus ex machina.35
Der selbstgestellte, hohe Anspruch der sich hier präsentierenden Einzelperson, im Folgenden die Aufgabe des antiken Chores übernehmen, ja, perfektionieren zu wollen, läßt aufhorchen. Wenn zudem festgestellt wird, dass die altehrwürdige Institution des Chores ohnehin meist überflüssig gewesen sei, da ein intelligentes Publikum auf eine solche erklärende Instanz verzichten könne, und der Hinweis gegeben wird, dass man sich nicht wie üblich zurückhalten werde, sondern wenn nötig in die Handlung einzugreifen gedenke, dann wird klar, dass hier alle gängigen Theatertraditionen auf den Kopf gestellt werden und die Handlung, die der Werktitel Orphée aux Enfers erwarten lässt, von einer bisher nicht vorhandenen Instanz beeinflusst sein wird: eben von der Öffentlichen Meinung. Diese wird nun allerdings nicht als bedrohliche Macht dargestellt: Gestalt und Auftreten ebenso wie die dunkle Streicheruntermalung des Auftaktmonologs sowie der musikalische Kommentar des langgezogenen Deus ex machina im F-Dur maestoso strafen die ernsten Worte lügen. So ist zwar nicht zu leugnen, dass die Beziehung von femme und époux keine Privatsache mehr ist, sondern unter den Auspizien der Opinion Publique steht. Wann diese jedoch ihren Beobachterposten aufgeben und ins Geschehen »comme un Deus ex machina« eingreifen wird, da sie die öffentliche Moral gefährdet sieht, bleibt ungewiss und initiiert auf diese Weise ein erstes Spannungsmoment. Und nicht nur das: Durch den expliziten Hinweis: »C’est au personnage du drame que je parle, rassurez-vous!« schließt sie das anwesende Theaterpublikum zwar einerseits aus dem potentiellen Adressatenkreis künftiger Ermahnungen deutlich aus, nimmt es aber andererseits gleichsam implizit wieder auf, da 35 Offenbach, Orphée aux Enfers, I, i, Avant-scène, 2. Instrumentalbegleitung, Takt 105 – 126 (»On parle […] Deus ex machina«, dann andante maestoso, à grand coup d’archet, Takt 127 / 128, vgl. infra).
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das bewußte Negieren ebenso wie das vertrauenserweckende »rassurezvous« die Idee, dass es ja auch anders sein könnte, erst aufkommen lassen. Angeregt durch die Worte der Opinion Publique, wird der Zuschauer das weitere Treiben auf der Bühne also mit einem ebenso wachsamen wie lachenden Auge verfolgen und unter diesem Vorzeichen wohl eher Parallelen zu sich selbst und seinem Alltagsleben als zur Orpheustradition suchen. Letztere mag zwar der vordergründige Anstoß gewesen sein, der das neugierige Publikum in die Bouffes-Parisiens trieb, um zu sehen, was Orpheus diesmal in der Unterwelt widerfahre; das Hauptinteresse des Publikums galt aber eher der dahinterliegenden Botschaft. Da Offenbach zur Zeit der Uraufführung bereits als Komponist amüsanter Einakter bekannt war, stand zu hoffen, dass er auch bei der Verarbeitung des ›ernsten‹ Orpheusstoffs seinem Konzept treu bliebe.36 Nun werden die Mythen des griechischen und römischen Sagenkreises von Dichtern und Künstlern traditionell gerade aufgrund der darin festgeschriebenen Konstellationen und Handlungsmuster, in denen zahlreiche menschliche Verhaltensweisen und insbesondere der Umgang mit den Leidenschaften vorgebildet sind, aufgenommen und an den Zeitgeschmack angepasst.37 Die Botschaft der Opinion Publique und die darin anklingende lebensweltliche Nähe vermochten dementsprechend das Publikum kaum zu verwundern, entsprachen sie doch den Gepflogenheiten moderner Mythenrezeption. Erstaunen konnten vielmehr die Vermittlerfigur sowie im weiteren Verlauf des Stückes die Existenz einer weiteren Verständnisebene, die der Komponist neben mythischer Bild- und gesellschaftssatirischer Sachebene aufspannt und deren Vermittlung er weitgehend der Musik anvertraut. 36 Vgl. dazu Faris, Jacques Offenbach, 54 – 64. Offenbach war es trotz aller behördlichen Beschränkungen (vgl. Hawig, Jacques Offenbach, 13) gelungen, sich und seine Bouffes-Parisiens seit deren Gründung 1855 durch eine Reihe erfolgreicher Einakter bekannt zu machen. Schon die vom Komponisten für diese Werke verwendeten Gattungsbezeichnungen machen deutlich, dass auch in dieser Frühphase des Theaters Lachen und amusement im Vordergrund standen und Orphée aux Enfers als opéra bouffe hier lediglich eine Traditionslinie fortsetzt (vgl. dazu den 1856 von Offenbach im Figaro ausgeschriebenen Concours pour une opérette en un acte, Anm. 77). In den Bouffes-Parisiens wurden von Offenbach aufgeführt: 1855: Les deux Aveugles (bouffonnerie musicale); Arlequin barbier (ballet bouffon); Le rêve d’une nuit d’été (saynète); Le violoneux (légende bretonne); Madame Papillon ou Le jeune homme d’en face (bouffonnerie musicale); Ba-Ta-Clan (chinoiserie musicale); 1856: Les 66 (opérette); Le Savetier et le financier (opérette bouffe); 1857: Les trois baisers du diable (opérette fantastique); Croquefer ou le Dernier des paladins (opérette bouffe); Vent du soir et L’horrible festin (opérette bouffe). Angaben nach Schmierer, Jacques Offenbach und seine Zeit, 297 f. 37 Vgl. Blumenberg, Arbeit am Mythos, 68 ff.
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Während die Hauptmomente des Mythos vorrangig durch Namen, Schauplätze und Requisiten präsent sind, wird die Gesellschaftssatire38 beispielsweise eben in der Figur der Opinion Publique sowie in der Thematisierung der Ehemoral greifbar. Beide Aspekte werden zunächst vor allem durch Ausstattung und Libretto bedient, erhalten aber durch die musikalische Gestaltung zusätzliche Tiefe. Ein Blick auf den bereits angesprochenen Eröffnungsdialog zwischen Orphée und Eurydice kann die beschriebene Vorgehensweise verdeutlichen: […] ORPHÉE Tu me trompes comme mari? EURYDICE Oui, mon ami!… ORPHÉE Tu me dédaignes comme artiste? EURYDICE Oui, mon ami. ORPHÉE Tu n’aimes pas le violoniste? EURYDICE Non, mon ami, non mon ami, Le violoniste Me parait triste; L’instrumentiste Est assommant; Et l’instrument, et l’instrument, Me déplaît souverainement. ORPHÉE Ah! De ton insolence Je vais tirer vengeance. EURYDICE Et comment, et comment, comment je vous prie? ORPHÉE Je vais, ma tendre amie, Vous jouer aussitôt Une œuvre de génie: Mon dernier concerto
EURYDICE Grâce, grâce, je t’en supplie! ORPHÉE Non, non, pas de retard C’est le comble de l’art Il dure une heure un quart! EURYDICE Miséricorde, une heure un quart! ORPHÉE Une heure un quart! C’est le comble de l’art EURYDICE Je ne t’écouterai pas. ORPHÉE Si, tu m’écouteras EURYDICE Je ne t’écouterai pas. ORPHÉE Si, tu m’écouteras EURYDICE Non, non, non, non, non! (Il joue du violon: Eurydice se bouche les oreilles avec désespoir.) EURYDICE Grâce, grâce ah! C’est déplorable C’est effroyable C’est assommant C’est irritant, ah! ah!
38 Im Gegensatz zur Parodie bezieht sich die Satire meist auf außerliterarisches Material. Das durch sie evozierte Lachen beruht zwar gleichfalls auf dem Prinzip der Gegenbildlichkeit, ist aber weniger an ein konkretes Urbild gebunden. Wie die Parodie kann auch die Satire nur verstanden werden, wenn die jeweils verarbeiteten Phänomene bekannt sind (vgl. DNP, Lemma »Satire«).
Welche Macht hat die Musik? ORPHÉE C’est adorable C’est délectable C’ ravissant C’est entraînant, ah! ah!
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C’est charmant, C’ravissant Ecoutez encore ce motif, Langoureux, expressif! […]39
Was sich im Libretto als tatsächlich hasserfüllte, ausweglose Szene ausnimmt, erscheint in Verbindung mit der Musik in einem anderen Licht. Zwar verliert das »Oui mon ami, non mon ami« von Eurydice hier inhaltlich ebenso wenig an ironischer Schärfe, wie die wiederholte Bitte um Gnade, die die Abneigung gegenüber dem Geigenspiel des Gatten nachhaltig illustriert, an Hyperbolik einbüßt:40 Die musikalische Gestaltung der Szene kommt indes einem augenzwinkernden Verweis Offenbachs auf die das Handeln bestimmenden Facetten der conditio humana gleich. So kontrastiert beispielsweise die unruhige Melodieführung der Frauenstimme in hoher Lage mit der in Vierteln notierten, relativ ruhigen Männerstimme und evoziert auf diese Weise das Klischee vom hysterischen, unbedacht streitenden Weib … Unterstrichen wird dieser Gegensatz zusätzlich durch die Begleitung Eurydices durch triolierende Flötenstimmen in weiter Tessitur gegenüber der Orphée sekundierenden Bassbegleitung in gleichmäßigen Achtel- und Sechzehntelgruppen. Während es sich bei den letztgenannten Mitteln um altbewährte tonsprachliche Elemente der buffa-Oper handelt, nämlich um kicherndes Lachen nachahmende Sopraninstrumente und sogenanntes buffoPlappern in den tiefen Lagen, ist die auch musikalische Kontrastierung der Streitenden gewissermaßen eine Neuerung Offenbachs. Über der Bild- und Sachebene der fiktionalen Gegenwart wird noch eine sich amüsierende weitere aufgespannt, die bei jedem Zuhörer ein Moment des Wiedererkennens aufkommen lässt, das aber gänzlich unabhängig von der Situation des Ehestreits ist. Die Schlusssequenz der zitierten Passage kann als weitere Illustration dieser Vorgehensweise dienen: Reizt die unerwartete Parallelstruktur, wie man sie im Libretto vorfindet, schon aufgrund eben dieser in Anbetracht von Situation und Figuren als unangemessen empfundenen Gleichförmigkeit zum Lachen, so überführt die von Offenbach vorgenommene musikalische Ausgestaltung die Sequenz wiederum auf eine andere Bedeutungsebene. Durch die Überlagerung der Stimmen, das unisono erklingende 39
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Offenbach, Orphée aux Enfers, I, i, 2, 6 / 7. Duo Orphée, Euridice, Takt 10 –
40 Ibid., I, i, 2, 6 / 7, Takt 68 – 74; 86 – 90. EURYDICE: »Grâce, grâce, je t’en supplie«; EURYDICE: »Miséricorde« sowie EURYDICE: »Grâce, grâce ah!« Die Hyperbolik wird auf die Spitze getrieben, wenn durch EURYDICEs: »Ah! Seigneur, ah! quel supplice« die Gnadenbitte tatsächlich Gebetscharakter annimmt.
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wiederholte »c’est« und die nun kaum noch zu verstehenden, sich widersprechenden Adjektive entsteht ein Moment völliger Verwirrung, der den Streit letztlich ad absurdum führt! Auch hier geht es weniger um die konkrete Situation des Ehestreits als um mangelnde Streitkultur, ausgelöst durch Rechthaberei, Eifersucht… kurzum menschliche Schwächen! Aufgrund der gespannten Atmosphäre schlägt Eurydice schließlich vor: »Séparons-nous donc«.41 Ihr Ehemann, innerlich durchaus dazu bereit, lehnt jedoch gewissermaßen aus gesellschaftlichen Gründen ab: »Je le ferais de bon cœur si cela ne devait pas nuire à ma considération et à la position que je me suis faite par mon talent et mon travail. Je suis esclave de l’Opinion Publique, c’est ma seule faiblesse, laissez-la moi […].«42 Die Replik bestätigt die tatsächliche Zerrüttung der einstmaligen Liebesbeziehung, da dementsprechende Argumente hier gar nicht ins Feld geführt werden, und baut somit eine gewisse Spannung hinsichtlich des weiteren Gangs der Handlung auf, da die Liebe als deren Motor eindeutig ausfällt. An ihre Stelle tritt die hier noch gefürchtete Opinion Publique. Nach dem Tod von Eurydice durch den Biss einer von Orphée ausgelegten Schlange bricht dieser zunächst in lauten Jubel aus.43 Als der vermeintliche Witwer sich aber anschickt, der von ihm geliebten Nymphe seine neue Freiheit mitzuteilen, trifft er auf Opinion Publique samt Gefolge.44 Vom Chor unterstützt wirft sie dem époux indigne sein Verhalten vor und zwingt ihn, die Götter des Olymps um Rückgabe seiner Frau zu bitten: L’OPINION PUBLIQUE: Tu vas me suivre dans l’Olympe, aux pieds de Jupiter, à qui tu redemanderas ton épouse adorée. ORPHÉE: Moi! reclamer Eurydice! m’en préservent les dieux! L’OPINION PUBLIQUE: Pour l’édification de la postérité, il nous faut au moins l’exemple d’un mari qui ait voulu ravoir sa femme.45
Nach anfänglicher Gegenwehr willigt Orphée schließlich ein und erweist sich auf diese Weise – wie er ja selbst bereits zugab – als Sklave der Öffentlichen Meinung. Um die Tragweite dieser Abhängigkeit und damit auch die möglichen satirischen Implikationen dieser Konstruktion ermessen zu können, ist es Ibid., I, i, 2, 7. Ibid., I, i, 2, 7 / 8. 43 Ibid., I, i, 5, 15: ORPHÉE: »Merci! … merci! … Jupin … […] je puis me livrer à ma joie«. 44 Ibid., I, i, 5 / 6, 15: ORPHÉE: »[…] Courons apprendre ce bonheur à celle que j’aime. […] Ciel, L’Opinion Publique qui me poursuit déjà!«. 45 Ibid., I, i, 6, 15. 41 42
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sinnvoll, den Symbolgehalt dieser Figur noch einmal vor Augen zu führen: Nachdem in Artikel 11 der Déclaration des Droits de l’Homme jedem citoyen das Recht zugesichert worden war »de parler, écrire et imprimer librement«46 war es bekanntlich in und außerhalb Frankreichs, zu einem unverkennbaren Aufschwung eines facettenreichen Pressewesens gekommen.47 Vor diesem Hintergrund ist man dementsprechend geneigt, die Figur der Opinion Publique mit der Quintessenz gleichzusetzen, die sich aus der Lektüre von Zeitungen verschiedener politischer und weltanschaulicher Ausrichtung als Gesamteindruck ergibt. Ein Tadel von Ehe- und Lebensgewohnheiten von seiten der Opinion Publique käme dann einer ernstzunehmenden Kritik von gesellschaftlich anerkannter Warte gleich, einem Verweis, dem man sich als Zuschauer emotional kaum entziehen könnte, die aber auch den Erwartungen des Publikums zuwider liefe und damit dem Erfolg des Stückes abträglich wäre.48 Tatsächlich konzipierten Offenbach und seine Librettisten die Figur der Opinion Publique in enger Anlehnung an die historische Wirklichkeit. So läßt sie sich zunächst als Abbild der vom régime streng kontrollierten Presse des Second Empire fassen,49 darüber hinaus als Verkörperung jeder Form von mehr oder weniger öffentlichem Klatsch. Beiden Sphären gemein ist das Interesse an den Traditionen 46 Déclaration des Droits de l’Homme, Art. 11 (http: // www.assemblee-nationale. fr / histoire / dudh / 1789.asp [08. 12. 09]). 47 Vgl. Pierre Albert, Fernand Terrou, Histoire de la presse, Paris 1970, 24 – 47. Rückschläge erfuhr dieser Aufschwung selbstverständlich während der Zeit von Terreur und Directoire. Auch unter Napoléon I herrschte eine sehr eingeschränkte Pressefreiheit. Nichtsdestotrotz nahmen Zahl und Vielseitigkeit der täglich, wöchentlich oder monatlich erscheinenden Zeitungen seit 1789 stetig zu. 48 Das Publikum der Bouffes-Parisiens umfasst vornehmlich Hofleute und Aristokratie, Künstler und Diplomaten, aber auch das sogenannte Bürgertum, schließt also den wohlhabenden Bankier oder Kaufmann ebenso ein wie den Verwaltungsbeamten (Zum Publikum Offenbachs vgl. Groepper, Aspekte, 59, sowie Peter Hawig, »Offenbachs Bouffes-Parisiens. Ein Knotenpunkt nicht nur des französischen Musiktheaters«, in: Schmierer (Hg.), Jacques Offenbach und seine Zeit, 37 – 45, hier 41). Offenbach trägt der Heterogenität seines Publikums insofern Rechnung, als das Personal seiner Bühnenwerke keinen ›Bürger‹ enthält, zumindest keinen, der in der Gesellschaft reüssiert (einzige Ausnahme ist Monsieur Choufleury restera chez lui, 1861, das aber einen parvenu thematisiert). Es musste vielmehr jeder Besucher der Werke Offenbachs eine Transferleistung erbringen, wurde also durch das Bühnenspektakel gleichermaßen be- und entlastet. Zur Frage nach dem Identifikationspotential der Figuren vgl. die Diskussion zu Thomas Koebner, »Satire bei Offenbach«, in: Kirsch, Dietrich (Hgg.), Jacques Offenbach, 57 – 76, Diskussion 76 – 86, hier 82 – 84. 49 Vgl. Albert, Terrou, Historire, 45 ff., dazu Groepper, Aspekte, 40 f. Grundlage für alle zukünftigen Einschränkungen war das Pressedekret vom 17. Februar 1852, das erst in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts gelockert wurde. Zur Bedeutung der öffentlichen Meinung für das Regime von Napoléon III cf. auch MGG, Lemma »Operette«.
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und Werten des ›Bürgertums‹ sowie an Berichten über das Pariser Hofund Gesellschaftsleben.50 Dass sich die Opinion Publique auf der Theaterbühne in die Eheangelegenheiten von Orphée und Eurydice einmischt, erscheint dementsprechend keinesfalls ungewöhnlich: Die Ehe galt im 19. Jahrhundert als selbstverständliche Verbindung von Mann und Frau, ihre Gestaltung entsprechend dem anerkannten bürgerlichen Sittenkodex wurde vorausgesetzt,51 jede Abweichung in der Presse oder auf dem Boulevard registriert. Mit der Figur der Opinion Publique verspottet Offenbach also die Lage der zeitgenössischen Zeitungen, die sich aus Mangel an anderen Nachrichten dem Privatleben ihrer Leser sowie dem vie parisienne widmen, und schreibt auf diese Weise Zeitsatire.52 Wie aber anhand des Gesprächs von Orphée und Opinion Publique deutlich sichtbar, richtet sich das Interesse Offenbachs und seiner Textdichter eher auf die – mehr oder weniger direkten – zwischenmenschlichen Kontakte. Mit der Nachahmung der zischelnden Stimme eines zwar heimlichen, aber erbarmungslosen Beobachters (OPINION PUB53 oder der Imitation eines hämiLIQUE): »ça ne se passera pas comme ça« 50 Zum Begriff des Bürgertums vgl. supra, Anm. 48. Ergeben sich die Berichte von Hoffesten, Theateraufführungen und anderen gesellschaftlichen Ereignissen aus dem universellen Informationsanspruch einer der Aktualität einer Stadt oder Region zugewandten (Tages-)Presse, zeigt sich die Vorliebe für Sitten und Lebenswelt des Bürgertums vornehmlich in Feuilletonromanen und Karikaturen: in dem Sektor also, der der Unterhaltung der Leser – und damit letztlich auch ihrer impliziten Belehrung – dient. Während die Fortsetzungsromane das veränderte politische Klima der 50er und 60er Jahre zwar deutlich zu spüren bekamen, aber dennoch veröffentlicht werden konnten (vgl. dazu Hans-Jörg Neuschäfer u. a., Der französische Feuilletonroman. Die Entstehung der Serienliteratur aus dem Medium der Tageszeitung, Darmstadt 1986, 43 – 61, hier 44 f.), führte die von der Regierung eingeführte »double censure« (Dictionnaire du Second Empire, Lemma »censure«) für Karikaturen privaten oder politischen Inhalts zwischen 1852 und 1866 zu deren »quasi-disparition« (ibid.). Die Aktualität des Ehethemas ist aber an nachträglich bekannt gewordenen Lithographien aus den ›Verbotsjahren‹ deutlich ablesbar (vgl. zum Beispiel Hans Rothe [Hg.], Daumier und die Ehe, Leipzig 1927, passim). Dass das aufstrebende Bürgertum im Fokus der Kulturschaffenden stand, zeigt sich darüber hinaus natürlich auch in den Werken des courant réaliste, namentlich bei Stendhal, Flaubert und Honoré de Balzac. 51 Vgl. dazu ausführlich Patocka, Operette, 8 – 18, sowie Beatrix Schmaußer, Blaustrumpf und Kurtisane. Bilder der Frau im 19. Jahrhundert, Zürich 1991, 34 ff. 52 Die Kritik an der zeitgenössischen Presse wird allerdings durch die damals allseits bekannte Tatsache gemildert, dass der Komponist selbst zu den Nutznießern dieser ›Machtlosigkeit‹ gehörte. Offenbach pflegte nämlich stets enge Kontakte zur Presse. Henri de Villemessant, den Gründer und Herausgeber des Figaro, beteiligte er sogar am Gewinn der Bouffes-Parisiens und erhielt dafür im Gegenzug Werbung und gute Kritiken (vgl. Groepper, Aspekte, 42 f.; Kracauer, Jacques Offenbach, 151 ff.).
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schen, den ethischen und materiellen Stolz eines bürgerlichen Gegenübers anvisierenden Kommentars (OPINION PUBLIQUE): »Tu refuses? / Tu aimes mieux ma vengeance? E bien! elle te poursuivra partout!… je te ferai perdre tes leçons!… On saura qui a dressé le piège où s’est prise Euridice,… on saura…«54 verweisen die Librettisten erneut auf typische menschliche Verhaltensweisen, denen der Komponist auf musikalischem Wege die Schärfe nimmt. Anstatt durch Ostinatbegleitung oder Dissonanzen die Differenzen zu unterstreichen und die Zuschauer an den Schwierigkeiten der conditio humana verzweifeln zu lassen, unterlegt Offenbach die ›harten‹ Worte mit Musik in C und F Dur und vermitteln laufend wechselnde Rhythmen, glissandi und Posaunenschläge eine fröhliche Stimmung, die die Kritik zwar nicht vergessen machen, aber dennoch Lachen evozieren!55 Ein weiteres Moment, in dem das Vorhandensein einer zusätzlichen, die offenbachsche Gesellschaftssatire überhöhenden Ebene manifest wird, ist die Reaktion Jupiters auf die Ankündigung von Orphée und Opinion Publique auf dem Olymp: JUPITER: Et nous, soignons les groupes! L’Opinion Publique est là… tenons-nous bien! Tout pour le décorum et par le décorum! où est mon trône, où est ma foudre? […] Je veux ma foudre des dimanches pour paraître dans toute ma gloire.56
Bei der hier erkennbaren Sorge um den schönen Schein handelt es sich um ein zur Zeit von Napoléon III sehr ausgeprägtes Phänomen, das dem Komponist ebenso wie seinen Zuhörern aus eigener Anschauung vertraut war: Zunächst als Cellovirtuose im café-concert, später als Direktor der Bouffes53 Offenbach, Orphée aux Enfers, I, i, 6, 15. Dieser Effekt wurde in der Fassung von 1874 durch eine Veränderung des Textes »Halte là! Ça n’ peut pas s’passer, non, ça n’peut pas s’passer comm’ ça« und die Form der musikalischen Interpretation der Phrase noch verstärkt. Der marschähnliche Rhythmus sowie die Zäsur – hervorgerufen durch das vier Zählzeiten ausgehaltene »piège« bzw. »sacrilège« mit anschließender Fermate – setzen die Phrase nämlich deutlich vom übrigen Text ab und steigern auf diese Weise die Wirkung (Text und Interpretation auf Grundlage der CD-Einspielung von Marc Minkowski, Laurent Pelly, Jacques Offenbach: Orphée aux Enfers. Version de 1858, augmentée d’éléments de la version de 1874. Chœur et orchestre de l’Opéra National de Lyon, London 1998, I, i, 6, 65) Wie oft bei Gerüchten und Vorurteilen werden diese zwar hinter vorgehaltener Hand geäußert, entfalten aber eine um so größere Wirkung! Die Passage wurde in der Fassung von 1874 von Opinion Publique und Chœur vier Mal wiederholt (vgl. Klügl, »Zweimal Orphée«, 231). 54 Offenbach, Orphée aux Enfers, I, i, 6, 15 f. 55 Vgl. David Rissin, Offenbach ou le rire en musique, Paris 1980, 120 f. 56 Offenbach, Orphée aux Enfers, I, ii, 6, 34. Als weiterer Hinweis auf diese Sorge um den schönen Schein lassen sich (JUPITER): »Sauvons les apparences, au moins! sauvons les apparences, tout est là!« (ibid., I, ii, 1, 19) sowie (JUPITER): »Madame, de la réserve! … pas de scène devant le monde« (ibid., I, ii, 1, 20) anführen.
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Parisiens, deren Truppe auf Einladung des Kaisers auch am Hof spielen durfte, unterhielt Offenbach ein Publikum, das nicht nur kam, um sich zu amüsieren, sondern auch um sich zu zeigen, ein Publikum, das an der sprichwörtlichen vie parisienne teilhaben wollte – auch wenn die wirtschaftliche, gesundheitliche oder private Situation des Einzelnen dies gar nicht zuließ.57 Vor diesem Hintergrund kann das »Tout pour le décorum!« Jupiters durchaus als satirische Anspielung auf die zeitgenössischen Gepflogenheiten gewertet werden. Auch die Reaktion der Götter, die in einem »grand branle-bas« Zepter und Thron herbeitragen und sich um Jupiter herumgruppieren58, als habe es den Streit zwischen Jupiter und Diane, die Revolte der Götter sowie die Auseinandersetzung zwischen den Ehegatten Jupiter und Junon nie gegeben,59 ließe sich als Zeitsatire fassen, werden hier doch Heuchelei und Verstellung als im gesellschaftlichen Leben der damaligen Zeit als allgegenwärtig entlarvt.60 Dieser gängigen Interpretation ist sicherlich nicht zu widersprechen, nichtsdestotrotz liegt mit der hier angesprochenen Diskrepanz von Schein und Sein eines der Hauptthemen moralistischen Schreibens vor, dem sich Autoren wie beispielsweise Montaigne und La Rochefoucauld ebenso wie ihre antiken ›Vorgänger‹, Seneca und Cicero widmeten.61 Im Kontext dieser Tradition lässt sich dementsprechend der 57 Vgl. Faris, Jacques Offenbach, 39 – 53 sowie Groepper, Aspekte, 58 ff. Offenbach thematisiert ›Wert‹ und ›Unwert‹ der vie parisienne später in der gleichnamigen opéra bouffe (1873). 58 Offenbach, Orphée aux Enfers, I, ii, 6, 34. 59 Vgl. ibid., I, ii, 2, 16 – 23: Jupiter verwandelte den Geliebten von Diane ohne sein oder ihr Einverständnis in einen Hirsch (ibid., Couplets de Diane, Takt 242 – 280); die Götter lehnen sich gegen Jupiter auf, da sie des müßigen Lebens auf dem Olymp ebenso überdrüssig sind wie des Nektars und Ambrosia (ibid., chœur de la Révolte, Takt 1 – 96); Junon fühlt sich von ihrem Mann betrogen (ibid., I, ii, 2, 22). 60 Vgl. dazu Kracauer, Jacques Offenbach, passim, ebenso Kirsch, Dietrich (Hgg.), Jacques Offenbach, 13 f. sowie passim, Jacob, Jacques Offenbach in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 75. 61 Das anhaltende Interesse der ›Sittenbeobachter‹ an diesem Thema belegt meisterhaft das Frontispiz der Réflexions ou sentences et maximes morales, das La Rochefoucauld der Ausgabe von 1665 voranstellen ließ. Es zeigt l’Amour de la vérité , der einer Seneca(!)-Büste die Maske herunterreißt. Eine ähnliche Idee liegt auch dem Epigraph der Sammlung »Nos vertus ne sont, le plus souvent, que des vices déguisés« sowie zum Beispiel maxime 256 (Ausgabe von 1678) zugrunde: »Dans toutes les professions, chacun affecte une mine et un extérieur, pour paraître ce qu’il veut qu’on le croie: ainsi on peut dire que le monde n’est composé que de mines« (François de La Rochefoucauld, »Réflexions ou sentences et maximes morales«, in: ders., Œuvres complètes. Édition établie par Louis-Martin Chauffier, revue et augmentée par Jean Marchand, introduction par Robert Kanters, chronologie et index par Jean Marchand, Paris 1964, 389 – 471). Wertvolle Hinweise auf den Umgang mit dem dissimu-
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menschliche Wunsch nach dissimulatio als Teil der conditio humana fassen. Damit auch die Einsicht dieser menschlichen Schwäche nicht das Vergnügen des Zuschauers trübt, überführt Offenbach die Zeitsatire wiederum auf eine neue Ebene: Mit den Mitteln der Musik, mit unerwarteten Rhythmusund Tonartwechseln, mit rasenden glissandi, Triolen oder dem bewußten Nachahmen menschlicher Fröhlichkeit durch ›Geigengekicher‹ und »auskomponierte[s] Lachen«62 weiß Offenbach eine Atmosphäre des plaisir zu schaffen und die Zuschauer zum Lachen zu bringen. Die Liste der von Offenbach und seinen Mitarbeitern aufgespießten gesellschaftlichen Phänomene, die sich bei näherem Hinsehen als kleinere oder größere menschliche Unvollkommenheiten entpuppen, ließe sich fortsetzen. Was sie miteinander verbindet, ist ihre Doppelbödigkeit. Mögen zahlreiche Gesichtspunkte der Zeitsatire heutzutage unbelacht ›verpuffen‹, weil das Publikum diese aufgrund mangelnder Vertrautheit mit der historischen oder gesellschaftlichen Situation nicht mehr versteht, so sind die Aspekte auf der vorrangig musikalisch ausgedeuteten Ebene auch für denjenigen nachvollziehbar, der sich mit den Gegebenheiten zu Lebzeiten des Komponisten in keiner Weise auskennt.63 Als Beispiel für eine nur im Frankreich des 19. Jahrhunderts verständliche Spitze sei der Name des Hausangestellten von Pluton angeführt. Dessen erste Erwähnung – er nannte sich John Styx – löste beim zeitgenössischen Publikum wohl schallendes Gelächter aus, in den Aufführungen unserer Tage ruft er nur selten eindeutige Reaktionen hervor.64 Verstand man damals den englischen Namen als Anspielung auf die weitverbreitete Sitte, englischsprachiges Personal einzustellen, was in besseren Kreisen als chic galt,65 reizt heutzutage wohl meist erst das Wortspiel »(PLUTON): c’est John Styx, mon domestyx« zum Lachen.66 latio-Motiv in der französischen Moralistik liefert die knappe Zusammenschau von Margot Kruse in: »Die französischen Moralisten des 17. Jahrhunderts«, in: Margot Kruse, Beiträge zur französischen Moralistik, hg. Joachim Küpper u. a., Berlin / New York 2003, 1 – 27. In der spanischen Moralistik weist die Wiederkehr des desengañoMotivs (vgl. zum Beispiel bei Quevedo und Gracián) auf die stete Präsenz dieses Aspekts der conditio humana hin. 62 Adelheid Coy, »Zum Hedonismus in der Musik Jacques Offenbachs«, in: Kirsch, Dietrich (Hgg.), Jacques Offenbach, 191 – 200, hier 199. 63 Die Existenz dieser überzeitlichen Ebene sichert Orphée aux Enfers ebenso wie zahlreichen anderen Werken des Komponisten den Erfolg über Frankreich und das Second Empire hinaus bis in unsere Tage. Zum Erfolg Offenbachs in Wien und Berlin vgl. beispielsweise die Beiträge von Susanne Rode-Breymann und Marion Linhardt in: Schmierer (Hg.), Jacques Offenbach und seine Zeit. 64 Vgl. Offenbach, Orphée aux Enfers, II, i, 2, 38, dazu Jacob, Jacques Offenbach in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 71.
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Im Gegensatz zum Lachen über Parodie und Satire, bei dem es sich um ein Verlachen handelt, regt die Musik zum Mitlachen an. Setzt das Lachen über den Kontrast von Urbild und Abbild wie gezeigt ein gewisses Vorwissen voraus – das aber dementsprechend auch ›intellektuelles‹ Vergnügen hervorruft – bedarf das gemeinsame Lachen über die ›Widrigkeiten‹ menschlichen Lebens keinerlei Voraussetzungen. Vielmehr geht es darum, die ›Last‹ gemeinsam zu tragen, um ihr auf diese Weise den Schrecken zu nehmen. Die Unterscheidung dieser beiden Formen des zum Lachen Reizens ist jedoch bei weitem kein Spezifikum Offenbachs, im Gegenteil.67 Beide Formen lassen sich in der Literatur wie im täglichen (Zusammen)-Leben der Menschen über die Jahrhunderte nachweisen, wobei jedoch das ›Lachen über‹ dank seiner Planbarkeit im literarischen Kontext weitaus stärker vertreten ist als das Lachen aus Lebensfreude. In Orphée aux enfers sind beide Formen jedoch gleichermaßen vertreten: Durch die Indienstnahme der Musik und das Überspannen auch beißender Zeitsatire mit einer Atmosphäre des plaisir gelingt es Offenbach und seinen Librettisten, die satirischen Angriffe verzeihlich zu machen und die Elemente im Werk auf diese Vgl. ibid., 72 f. Vgl. Offenbach, Orphée aux Enfers, II, i, 3, 44. 67 Charles Baudelaire, ein Zeitgenosse Offenbachs, der dessen Leben und Wirken in Paris allerdings vollständig zu verschweigen scheint (vgl. Diskussion zum Beitrag Koebners in Kirsch, Dietrich [Hgg.], Jacques Offenbach, 85), trifft in seinem Essay De l’essence du rire et généralement du comique dans les arts plastiques (in: Œuvres complètes de Charles Baudelaire: Quelques-uns de mes curiosités esthétiques. Notice, notes et éclaircissements de Jacques Crépet, Paris 1923, [11846], 369 – 396) eine Unterscheidung zweier Formen des Lachens, die den beschriebenen Gegebenheiten in Orphée aux Enfers sehr nahekommt: Baudelaire stellt »comique absolu« und «comique significatif« einander gegenüber. Nach Baudelaire ist das Lachen aufgrund von »comique absolu« ein Lachen über die natürlichen Schranken, die der Körper und damit das Leben in seiner Endlichkeit dem Menschen setzen. Das Lachen hat somit apotropäische Bedeutung: Indem man über die Grenzen lacht, verlieren sie den Schrecken (ibid., 372: »Au point de vue de l’absolu définitif, il n’y a plus que la joie. Le comique ne peut être absolu que relativement à l’humanité déchue«). Das Lachen aufgrund von »comique significatif« ist ein Lachen von »l’homme sur l’homme«, das mit einer Prise Schadenfreude den Menschen über das Mißgeschick eines anderen triumphieren läßt (ibid., 385: »J’appellerai comique significatif le comique ordinaire. Le comique significatif est un langage […] clair, […] facile à comprendre pour le vulgaire, et surtout […] facile à analyser, son élément étant visiblement double: l’art et l’idée morale«; ähnlich 377 f.: »Le rire vient de l’idée de sa propre supériorité«). Die Allgemeingültigkeit dieser Unterscheidung und die Präsenz beider Formen des zum Lachen Reizens in der Literatur zeigt Hans Robert Jauß in »Über den Grund des Vergnügens am komischen Helden«, in: Wolfgang Preisendanz, Rainer Warning (Hgg.), Das Komische, München 1976, 103 – 132, überzeugend auf. 65 66
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Weise in ein sensibles Gleichgewicht zu bringen, auf dem wiederum die vom Komponisten geforderte rekreative Wirkung des Stückes beruht. Bevor diese aber abschließend analysiert wird, ist es sinnvoll, dem weiteren Schicksal von Orphée und Eurydice nachzuspüren und die neuen Machtverhältnisse im Reich der Musik zu ergründen. Während Eurydice sich noch in der Höllenwohnung von Pluton langweilt, hat Orphée sein Anliegen dem Göttervater vorgetragen.68 Selbst interessiert an der irdischen Schönen, ordnet dieser daraufhin die Rückgabe von Eurydice an, allerdings mehr um den Herrn der Unterwelt – der die Dame ja entführt hatte – zu ärgern als um dem Violinenspieler gefällig zu sein. Unter dem Vorwand, die Ausführung seiner Befehle überwachen zu wollen, begibt sich Jupiter anschließend selbst in die Hölle, begleitet vom »Olymp au grand complet«69. Während aber die Bitte der Götter, von Jupiter in die Unterwelt mitgenommen zu werden, von dem Wunsch nach amusement und Unterhaltung getragen wird, hat dieser noch ein weiteres Ziel vor Augen: die Verführung von Eurydice. Damit sind alle Beteiligten mit Beginn des zweiten Aktes in der Unterwelt angekommen – ein Ort, an dem zunächst noch die Verzweiflung von Eurydice und die Melancholie des sie bewachenden John Styx bestimmend sein werden, umfasst das ›melancholische Zwischenspiel‹, also die Unterhaltung zwischen Euridyce und John sowie dessen Couplets du roi de Béotie70 doch mehr als die Hälfte des ersten Bildes des zweiten Akts. Im Kontext des Gesamtwerks erfüllt es vor allem den Zweck einer negativen Folie, auf der alles Nachfolgende um so positiver wirkt. Da der Zuschauer aber weiß, 68 Offenbach, Orphée aux Enfers, I, ii, 7, 36, Final du premier acte, Takt 59 – 77. Konsequenterweise trägt der Geigenlehrer Orphée diese Bitte von Violinenspiel begleitet vor. Durch die Wiederaufnahme des Gluck-Themas On m’a ravi mon Euridice knüpft Offenbach hier nach der hinzugefügten Olymp-Episode des zweiten Bildes, die in der Stofftradition nicht vorgesehen ist, wieder an diese an. 69 Ibid., I, ii, 7, 37, Final du premier acte, Takt 129 – 131. Das vertrauliche, mehrfach wiederholte und durch Chorbegleitung und Posaunenstöße hervorgehobene »Jupin, emmenez-nous, emmenez-nous« (ibid., Takt 116 – 127 rep.) der Götter sowie die anschließende fröhliche Ensembleszene in allegro maestoso »Gloire, gloire à Jupiter […] O, nous allons donc rire un peu […]« (ibid., 140 – 180 rep.) können gleichzeitig als Vorausdeutung der zu erwartenden Momente der Ausgelassenheit gefasst werden! Darüber hinaus läßt sich das Verhalten der Götter sicher auch als augenzwinkernde Anspielung auf die vergnügungshungrigen Pariser werten, die fortwährend nach neuen Abwechslungen und gesellschaftlichen Ereignissen lechzten, sich aber keineswegs selbst engagierten. Indem Offenbach den Höhepunkt der Vergnügungen besonders ankündigt, gibt er gleichfalls an, dass er mit seinen Bouffes-Parisiens den Ansprüchen des Publikums gerecht zu werden gedenkt. 70 Vgl. Ibid., I, ii, 2, 38 – 41, Couplets du roi de Béotie (Takt 1 – 31).
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dass die amüsierwilligen Götter bereits unterwegs sind und der Einbruch der Ausgelassenheit in die traurige Stimmung jederzeit erwartet wird, steht das Publikum unter freudiger Spannung und ist deshalb quasi ›immun‹ gegen die Verzweiflung von Dame und Diener. Auch hier bedienen sich Offenbach und seine Librettisten also wieder des Prinzips der zusätzlichen Ebene, werden den Elementen der Gesellschaftssatire – so beispielsweise den Anspielungen auf die nie zufriedene Frau sowie auf die sich in eine Sucht flüchtenden ›Verlierer‹ der Gesellschaft – die Schärfe genommen.71 Die Lebensfreude kehrt bald nach der Ankunft der olympischen Götter tatsächlich zurück. Anfangs noch recht unauffällig im Hintergrund, wird sich das ausgelassene, völlig zweckfreie Treiben der Bewohner von Olymp und Hades immer mehr ins Zentrum des Bühnengeschehens schieben und die Zuschauer in den Bann ziehen. Wenn das Publikum durch die eingängigen Melodien der couplets oder die bekannten Rhythmen zeitgenössischer Tänze72 zum Mitfeiern animiert wird, ist dies aber weniger dem Text geschuldet als der Macht der Musik! Deren beste Illustration ist neben den erwähnten Ensembleszenen das Duo de la Mouche, also der Moment der Verführung von Eurydice durch Jupiter, der sich von Cupidon in eine Fliege hat verwandeln lassen.73 Mit diesem Duett parodiert Offenbach zum einen die in der Tradition des Musiktheaters stark konventionalisierte Verführungsszene, zum anderen rückt er die Musik, die in den Händen von Orphée jede positive Wirkung auf Eurydice verloren zu haben schien, wieder ins rechte Licht. Dies wird durch die Einfachheit von Jupiters ›Gesang‹ noch unterstützt: Obwohl dieser fast 71 Vgl. zum Beispiel ibid., I, ii, 2, 40 f.: »Je m’enivre quelquefois«; »Oui, c’est pour oublier que je bois, pour oublier la triste condition où je suis tombé!«. 72 Vgl. ibid., II, ii, 1, 54 f. Offenbach integriert hier mit Menuett (Menuet, Takt 40 – 82) und galop infernal (ibid., galop infernal, Takt 139 – 210) zwei im 19. Jahrhundert sehr beliebte Tänze. Während jedoch das Menuett als aristokratischer Hoftanz par excellence vom aufstrebenden Bürgertum selbstbewußt übernommen und nunmehr als bürgerlicher Tanz verstanden wurde (vgl. MGG, Lemma »Menuett«), war die Akzeptanz des Cancan, dem der galop infernal ja offensichtlich nachgebildet ist, weitaus geringer. Grund dafür war wohl dessen Herkunft ›von unten‹. Ursprünglich ein Tanz der unteren Gesellschaftsschicht, hatte dieser aber schon im Moment der Uraufführung von Orphée aux Enfers Eingang in bürgerliche Kreise gefunden – was man jedoch nicht allzugern zugab (vgl. Diskussion zu Gottfried R. Marschall, »Offenbach – Schöpfer oder Opfer eines Geschmacks«, in: Kirsch, Dietrich [Hgg.], Jacques Offenbach, 87 – 101, Diskussion 101 – 110, hier 106, sowie Groepper, Aspekte, 69 / 70). Indem Offenbach nun auf der Bühne alle gemeinsam Menuett und galop infernal tanzen läßt, spielt er erneut auf die Diskrepanz von Schein und Sein an (vgl. Klügl, »Zweimal Orphée«, 228), überspannt aber wiederum den Moment bürgerlicher Selbsterkenntnis mit ›diabolischer‹ Ausgelassenheit. 73 Offenbach, Orphée aux Enfers, II, i, 5, 46 – 49.
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ausschließlich das schlichte Summen der Fliege nachahmt, onomatopoetisch wiedergegeben durch dumpfes, sul ponticello gespieltes Violinentremolo und zudem mehrfach in gleicher Motivik wiederholt,74 findet es bei Eurydice positive Aufnahme: »chante, chante, (belle mouche!)«.75 III. Die anfeuernden Rufe der Dame lassen sich als Schlüssel zum Musikverständnis von Offenbach fassen. Dieser hatte bereits zwei Jahre vor Orphée aux Enfers im Einführungstext zum von ihm im Figaro ausgelobten Wettbewerb Concours pour une opérette en un acte seine Vorstellungen zur neuen Form opéra bouffe dargelegt.76 Hinsichtlich der musikalischen Gestaltung der Werke verlangt er neben anderem die Einfachheit in der Melodieführung, sowie einen natürlichen, ungekünstelten Ausdruck77 – Forderungen, denen zwar die Musik des Komponisten, nicht aber das Spiel des Geigenlehrers entspricht. An die Stelle der verzaubernden, zielgerecht eingesetzten Musik der orphischen Tradition tritt bei Offenbach eine andere, zweckfreie, mitreißende und somit rekreative. In diesem Sinne ließe sich der Titel des Werkes wohl auch als Anspielung auf den Gemütszustand des Protagonisten deuten. Tatsächlich verweilt dieser nämlich nur für die Dauer von zwei Szenen in Plutos Reich. Bei der Wahl von Orphée aux Enfers als Bezeichnung für diese frühe opéra-bouffe mag neben der genannten metaphorischen Ausdeutung auch der Wunsch nach Abgrenzung gegenüber der Operntradition eine Rolle gespielt haben – oder die Ambivalenz, der französischen Begriffe enfers, endiablé oder infernal. Wird enfers in der Pluralform zwar ausschließlich zur Bezeichnung des Totenreichs der griechischen und römischen Mythologie verwendet, bleibt die assoziative Verbindung Ibid., II, i, 5, 46 – 49, Duo de la mouche, Takt 19; 160 ff., dann rep. Ibid., II, i, 5, 46 – 49, Duo de la mouche, Takt 149 / 150. 76 Anders als viele seiner Komponisten- und auch Dichter-›Kollegen‹ war Offenbach »das Gegenteil eines Programmatikers« (Hawig, Jacques Offenbach, 76). Abgesehen von verstreuten Aussagen in den Briefen an seine Librettisten ist der Ausschreibungstext zum concours die einzige theoretische Reflexion über seine Arbeit als Komponist und Musiker. Nach Patocka reicht der Figaro-Artikel »vor allem aus der Rückschau seines (i. e. Offenbachs) Leben an ein veritables künstlerisches Manifest heran« (Patocka, Operette, 65). Ähnlich Faris, Jacques Offenbach, 58. 77 Figaro 148 (17 Juli 1856), 6 – 8, hier 7. »simplicité dans la forme mélodique, sobriété dans l’instrumentation« sowie »d’abord petit ruisseau aux eaux limpides, au frais rivage, il s’étend peu à peu, à mesure qu’il avance«. Vgl. auch »Le Conservatoire, grande école des traditions, donne les règles de l’art, mais il ne donne pas l’inspiration, qui seule le vivifie: c’est dans l’âme qu’elle se puise, non dans l’enseignement« (ibid., 7). 74 75
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von enfers mit der christlichen Hölle (frz. enfer) als Ort des Leidens und Schreckens nicht aus, zumal das dazugehörige Adjektiv – infernal – auf beide Bereiche Bezug nimmt.78 Zusammen mit endiablé wurde letzteres im zeitgenössischen alltagssprachlichen Gebrauch entsprechend zur Qualifizierung sowohl von allem schrecklichen, ungewöhnlichen, lauten, aber auch schnellen, turbulenten, außergewöhnlichen verwendet.79 Mit genauen diesen Konnotationen wird im Libretto laufend gearbeitet und so auf die Momente im Werk verwiesen, die einen Augenblick der Begeisterung und des zweckfreien Spiels entstehen und auf diese Weise Ärgerliches in den Hintergrund treten lassen.80 Dieser Mechanismus greift nicht nur für die Dauer des Theaterbesuchs sondern auch darüber hinaus. Wie das Lachen aus Lebensfreude bietet nämlich auch die Ausgelassenheit dieser Momente des ›Spiel im Spiel‹ Gelegenheit neue Kraft zu schöpfen um den Widrigkeiten des Alltags gestärkt – récréé – entgegen zu treten. Damit erweist sich Orphée aux Enfers als »œuvre gaie, récréative, amusante.«81 Offenbach selbst hat diese Formulierung im bereits zitierten Ausschreibungstext im Figaro verwendet, allerdings lediglich zur Qualifizierung von Werken in der Tradition der opéra comique seit dem 18. Jahrhundert; das hier zugrunde liegende Konzept notwendiger recreatio animi ist hingegen schon weitaus älter: Von Platon im Philebos-Dialog erstmals angesprochen,82 wurde es von Aristoteles in der Nikomachischen Ethik als Entspannung nach jeder Form von Arbeit theoretisiert.83 Die von Horaz in den Carminae84 vorgenommene Festschreibung der rekreativen Wirkung 78 Vgl. Alain Rey (Hg.), Dictionnaire Historique de la langue française. 2 vols., Paris 1992, Lemmata »enfer« (I, II); infernal, e. Endiablé verweist ausschließlich auf die christliche Vorstellung vom unheilbringenden diable, (vgl. ibid., Lemma »infernal«, e). 79 Vgl. Dictionnaire Historique de la langue française, Lemma »infernal«, e. 80 Vgl. zum Beispiel Offenbach, Orphée aux Enfers, I, ii, 1, 53 – 55, Hymne à Bacchus, Takt 140 – 232 oder eben den galop infernal (vgl. dazu Offenbach, Orphée aux Enfers, II, i, 5, 46 – 49). 81 Figaro 148, 6. Erstaunlicherweise wurde diese Formulierung, die gerade für das Musikverständnis Offenbachs wegweisend scheint, in der Forschungsliteratur bisher nicht beachtet: weder Hawig, Jacques Offenbach, 76 f., noch Faris, Jacques Offenbach, 58, erwähnen sie in ihren Zusammenfassungen des Figaro-Artikels. Auch in den Teilanalysen des Ausschreibungstexts bei Groepper, Aspekte, 59 f., Patocka, Operette, 65 f. und Herbert Schneider (»Typisierung und Individualisierung der Personendarstellung bei Offenbach«, in: Kirsch, Dietrich (Hgg.), Jacques Offenbach, 153 – 176) bleibt sie unberücksichtigt! 82 Vgl. Platon, »Philebos«, in: ders., Werke, Bd. III.2, Übers. und Kommentar von Dorothea Frede, Göttingen 1997, 30a: »(SOKRATES): Der Scherz dient manchmal zur Erholung von der Ernsthaftigkeit, Protarchos«. 83 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, gr. / dt., übers. Olof Gigon, neu hg. Rainer Nickel, Düsseldorf / Zürich 2001, X, 6, 1177. »Das Spiel ist eine Art von Erho-
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der Musenkunst eröffnet dem recreatio animi-Argument schließlich den Weg in Literatur und Musik. Im Mittelalter noch verhalten zur Rechtfertigung nicht geistlicher Texte eingesetzt, ist die Idee, Entspannung durch die Lektüre kurzweiliger Geschichten oder das Hören von Saiten- oder Flötenspiel zu erzielen, seit dem Renaissancezeitalter weit verbreitet und allgemein anerkannt.85 Die Tatsache, dass Offenbach nicht nur theoretisch in seiner ›Werbekampagne‹ für die opéra comique respektive opéra bouffe auf dieses Konzept rekurriert, sondern dieses wie gezeigt auch praktisch fruchtbar macht, läßt den hohen Stellenwert erahnen, den die rekreative Kraft ›seines‹ Ausdrucksmittels für das Musik-(Theater)-Verständnis Offenbachs tatsächlich hatte. Bei näherem Hinsehen ist es nämlich eben diese musique »gaie, récréative, amusante«, die das einende Band der Werkgruppe bildet, deren 13 Stücke allgemein als Offenbachiaden bezeichnet und auf denen neben Offenbachs opéra fantastique Les Contes d’Hoffmann (1881) im Wesentlichen der Nachruhm des Komponisten fußt.86 Vor diesem Hintergrund wird auch die Entscheidung Offenbachs und seiner Librettisten verständlich, Orphée als machtlosen Musiker darzustellen. Der konservative Geigenlehrer dient als Folie, die das innovative musikalische Konzept Offenbachs um so besser zur Geltung bringt.87 lung, und der Erholung bedürfen wir, weil wir nicht ununterbrochen arbeiten können«. 84 Vgl. Quintus Horatius Flaccus, »Carmina«, in: ders., Opera, Introduzione di Paolo Fedeli, Florenz 2008, III, 4, 37 – 40: Vos (i. e. Camenae = die Musen) Caesarum altum, militia simul / fessas cohortes abdidit oppidis / finire quaerentem labores / Pierio recreatis antro. 85 Zur rekreativen Wirkung von Musik vgl. ausgiebig Werner Friedrich Kümmel, Musik und Medizin. Ihre Wechselbeziehungen in Theorie und Praxis von 800 bis 1800, Freiburg / München 1977, 157 f. und passim. Zur positiven Aufnahme des recreatio-Arguments im literarischen Kontext – der ja für ein textbasiertes Musikdrama gleichermaßen von Bedeutung ist – vgl. zum Beispiel Thomas Leuker, »Tempus recreationis. Das Erholungsbedürfnis des Menschen als Argument zur Rechtfertigung unterhaltsamer Texte und Gespräche in der italienischen und französischen Literatur (1300 – 1550)«, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, N.F. 26 (2005), 79 – 104, passim. 86 Zur Offenbachiade vgl. Groepper, Aspekte, 69 f. sowie 165 ff. Eine Bestandaufnahme der Texte und Gattungsmerkmale bietet Hawig, Jacques Offenbach, 75 – 107, zu Les Contes d’Hoffmann vgl. Jacob, Jacques Offenbach in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 133 ff. sowie Peter Hawig, »Les Contes d’Hoffmann. Legenden, Malheure und Glücksfälle einer misshandelten Oper«, in: Schmierer (Hg.), Jacques Offenbach und seine Zeit, 139 – 160. 87 Liegt mit Orphée eine deutliche Parodie der Musiktheatertradition vor, so birgt die rückwärtsgewandte Figur darüber hinaus auch einen augenzwinkernden Verweis all derjenigen, die sich verzweifelt an Althergebrachtes klammern anstatt sich auf neue Ideen einzulassen. Dass sich der Komponist selbst der Notwendigkeit steter Reaktion auf Veränderungen bewußt war, ist auch an den unter seiner Anleitung ge-
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Es lohnt sich, abschließend einen letzten Blick auf Orphée und Eurydice zu werfen: Ganz der Tradition entsprechend, darf Orphée seine Frau nur dann wieder auf die Erde zurückbringen, wenn es ihm gelingt, sich auf dem Weg durch die Unterwelt nicht zu der ihm nachfolgenden Eurydice umzudrehen. Dass es nach Meinung des unwilligen Ehemanns dazu keinerlei Veranlassung gibt, liegt auf der Hand, letztendlich schickt Jupiter ihm einen Blitz, um ihn so zum Blick nach hinten zu bewegen – mit Erfolg.88 Daraufhin kehrt Orphée allein auf die Erde zurück. Eurydice aber wird zur Bacchantin erwählt, und Jupiter und Pluton gehen dementsprechend beide leer aus.89 Damit haben weder einer der interessierten Herren, noch ›Himmel‹, noch ›Hölle‹ einen Sieg zu verzeichnen. Angesichts der Symbolträchtigkeit dieser Aspekte und der sich daraus ergebenden Interpretationsmöglichkeiten in die eine oder andere Richtung eine Entscheidung im Sinne der recreatio!
stalteten Kostümen ablesbar. Wurde Orphée aux Enfers, ebenso wie viele der frühen Einakter zunächst in von Gustav Doré entworfenen Kostümen, die den Gepflogenheiten der Grand Opéra nachempfunden waren und damit auch den traditionellen Vorstellungen vom einheitlichen Charakter verpflichtet waren, gespielt, ging Offenbach noch in den 50er Jahren dazu über, das Kostüm als Bedeutungsträger und Spiegel der Identität eines nunmehr uneinheitlichen Charakters in sein Spiel zu integrieren (Vgl. Jacob, Jacques Offenbach in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, 69, sowie Faris, Jacques Offenbach, 74 f.). Als Beispiel sei hier das ›Notenkleid‹ von Orphée erwähnt (vgl. suppléments zur verwendeten Partitur von Offenbach, Orphée aux Enfers, galérie, M. Tauyau dans le rôle d’Orphée [création de 1858], collection Jean-Christophe Keck). Äußerlich noch deutlich als Musiker zu erkennen, gerät er durch seine Misserfolge in immer größeren Kontrast zu diesem Anspruch und durch den offensichtlichen Identitätsverlust zum Gespött des Publikums. Eine Untersuchung der Kostümpraxis von Offenbach scheint bis dato nicht vorzuliegen, könnte aber gerade in Hinblick auf die Zeitsatire und deren notwendige Entschärfung im Sinne der recreatio zu interessanten Ergebnissen führen. Hinweise zum modernen Verständnis des Theaterkostüms bietet René Sternke in »Distinktionsverlust, Charakterverfall, Modernität«, in: Klaus Gerlach (Hg.), Das Berliner Theaterkostüm der Ära Iffland. August Wilhelm Iffland als Theaterdirektor, Schauspieler und Bühnenreformer, Berlin 2009, 31 – 77, vor allem 60 f. Zum eventuellen Einfluss der kölnischrheinländischen Karnevalstradition auf das Bühnenschaffen Offenbachs vgl. Faris, Jacques Offenbach, 17 ff., sowie Silbermann, Das imaginäre Tagebuch, passim. 88 Offenbach, Orphée aux Enfers, II, ii, 2, 60, Final, Takt 25 – 31: JUPITER: »Il ne se tourne pas, tant pis, tant pis, je le foudroie!«. 89 Ibid., II, ii, 2, 60, Final, Takt 38 – 47: PLUTON: »Elle me reste donc« JUPITER: »Pas plus qu’à moi PLUTON: »Comment?« JUPITER: »Non, car j’en fais une Bacchante«. Vgl. dazu Klügl, »Zweimal Orphée«, 225.
Seelenwanderung oder Seelenwandlung? Wilbrandt, Dehmel, die Sphinx und die Entgrenzung des Ich um 1890 Von Peter Sprengel Eine Zeitschrift im Zeichen der Sphinx Das führende deutschsprachige Forum des Okkultismus im späten 19. Jahrhundert war die Zeitschrift Sphinx, die der Theosoph (und Kolonialpolitiker) Wilhelm Hübbe-Schleiden 1886 gründete. Um die Jahreswende 1891 / 92 erfuhr sie eine qualitative und quantitative Erweiterung: Aus der »Monatsschrift für die geschichtliche und experimentale Begründung der übersinnlichen Weltanschauung auf monistischer Grundlage« wurde eine »Monatsschrift für Seelen- und Geistesleben« mit teils literarischen, teils künstlerischen Ambitionen;1 ab 1893 war sie außerdem als Organ der (im Vorjahr in Berlin gegründeten) Theosophischen Vereinigung ausgewiesen. Nicht betroffen von diesen Veränderungen war die Vignette über den Großbuchstaben des Titelblatts (Abb. 1): Sie zeigt in Vorderansicht den Kopf der ägyptischen Sphinx mit leeren Augen, umgeben von der Andeutung einer Gloriole und geschmückt mit dem aus dem ägyptischen Totenkult bekannten Hexagramm, mit dem die damals international führende Okkultistin Helena Petrowna Blavatsky ihre Briefe zu siegeln pflegte. Tatsächlich bediente die Zeitschrift ein weites Feld spiritistischer Interessen, nicht zuletzt mit der umfangreichen Rubrik »Mehr als die Schulweisheit träumt«. Dabei galt das eigentliche Bestreben Hübbe-Schleidens einer Verwissenschaftlichung der Metaphysik und des für ihn zentralen Reinkarnationsgedankens; so druckte er beispielsweise ein nachgelassenes Manuskript des Barons Hellenbach zur Frage Wann und wie oft kehren wir zurück? 1 Vgl. die programmatische Erklärung des Herausgebers: »Unser erweitertes Programm. Was wir wollen«, Sphinx 6 (1891), Bd. 12, Heft 72 vom Dezember 1891, 321 – 324; wieder in: Sphinx 7 (1892 / 93), Bd. 13, Heft 73 vom März 1892, 1 – 3. Im Zuge der Umstellung wurde der Jahrgangsbeginn von Januar auf März verlegt; im Januar und Februar 1892 erschienen keine Hefte. Die gesamte Zeitschrift ist heute kostenfrei online zugänglich: http: // www.ub.uni-freiburg.de / index.php?id=126.
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(mit Antworten wie: mindestens siebenmal) ab, versah es aber mit einer Reihe kritischer Fußnoten.2
Abb. 1: Titelblatt der Sphinx, 1892 (obere Hälfte)
Auf den griechischen Mythos dagegen verweist die Fidus-Zeichnung, die der mit dem Künstler eng befreundete Sphinx-Herausgeber im Januar 1893 − knapp ein Jahr nach ihrer Umstrukturierung − in seine Zeitschrift aufnahm (Abb. 2). Wir erkennen darauf ein nacktes Männlein, auf einem Felsblock kniend unter der überragenden Gestalt einer Riesenfrau mit wiederum leeren Augen und Löwentatzen; in den Lüften kreist offenbar schon der den Tod des Mannes erwartende Geier. Die Bildunterschrift Die Sphinx des Lebens verweist auf den nebenstehenden Auszug eines Schreibens, das mutmaßlich Fidus’ »Meister« Karl Wilhelm Diefenbach 1884 an den damals erst sechzehnjährigen Adepten richtete:
2 Vgl. [Lazar von] Hellenbach, »Wann und wie oft kehren wir zurück«, Sphinx 7 (1892 / 93), Bd. 15, Heft 81 vom November 1892, 59 – 64.
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Der Schüler, welcher sich der Prüfungszeit unterwirft, ist wie der Wanderer in der alten »Fabel« von der Sphinx: nur wird die eine Frage zu einer langen Reihe von täglich neuen Rätseln, welche ihm die Sphinx des Lebens aufgiebt, die an seinem Wege lagert und die ihn, wenn er nicht ihre immer wechselnden und verblüffenden Rätsel eines nach dem andern richtig löst, in seinem Fortschritt hindert und ihn schließlich ganz vernichtet.3
Abb. 2: Fidus: »Die Sphinx des Lebens« (Sphinx, 1893).
Die Nacktheit beider Figuren und die sonnenbeglänzten Brüste der Riesin geben dem Rätsel des Lebens bei Fidus einen sexuellen – schon auf Freuds Deutung der Ödipus-Sage vorausweisenden − Sinn. Eine vergleichbare Hinwendung zu erotischen Fragen (mit geradezu lebensreformeri3 »Die Sphinx des Lebens. Aus dem Briefe eines Meisters«, Sphinx 7 (1892 / 93), Bd. 15, Heft 83 vom Januar 1893, 224. Der Artikel ist mit K[arl Hugo] H[öppener], dem bürgerlichen Namen von Fidus, gezeichnet.
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schen Perspektiven) ergibt sich auch für die vorliegende Studie, die anhand zweier in der Sphinx kritisch besprochener oder aktiv in ihr publizierender Autoren nach dem Status fragt, der dem Themenkreis von Metempsychose bzw. Metamorphose im literarischen Horizont der Zeitschrift zukam. Wir kehren also zunächst gleichsam zur ägyptischen Sphinx zurück, der Wächterin vor einem Totenreich, das für die Theosophie seine Schrecken verloren hat. Zu Beginn des 7. Sphinx-Jahrgangs bekennt sich Hübbe-Schleiden mit Emphase zur Vorstellung einer Höherentwicklung auf dem Wege der Wiedergeburt: »Die Thatsache des Strebens nach Vollendung, das sich als Entwickelungstrieb in allen Lebewesen zeigt, hat die Annahme der Fortsetzung unseres Daseins nach dem Tode und der Wiederkehr ins Leben zur Voraussetzung.«4 Der Anklang an die darwinistische Evolutionslehre ist natürlich nicht zufällig, sondern eine Verbeugung vor dem führenden naturwissenschaftlichen Paradigma der Epoche; größeres Gewicht gibt der Fortgang von Hübbe-Schleidens programmatischem Artikel jedoch der Kronzeugenschaft Lessings.5 Unter ausdrücklicher Berufung auf dessen Erziehung des Menschengeschlechts war schon 1887 in der Sphinx ein Preisausschreiben des Allgemeinen deutschen Schriftsteller-Verbands für die Darstellung der Reinkarnationslehre ausgelobt worden, das über sechzig Einsendungen auslöste. Prämiert wurden u. a. eine Erzählung mit dem Titel Vorwärts und aufwärts sowie eine Abhandlung des Titels Blicke Vorwärts, blicke Zurück.6 Der Erzähler und Dramatiker Adolf Wilbrandt und der Lyriker Richard Dehmel haben sich an diesem Preisausschreiben nicht beteiligt, können aber – mit geringfügiger Verspätung − als dessen virtuelle Teilnehmer betrachtet werden. Freilich lässt sich schwer entscheiden, wie sie im Urteil einer etwa von Hübbe-Schleiden geleiteten Jury abgeschnitten hätten. Legt man die Maßstäbe der Besprechung in seiner Zeitschrift zugrunde, so konnte Wilbrandts Drama Der Meister von Palmyra für seine unkonventionelle Behandlung der Seelenwanderungsidee nur auf begrenzte Zustimmung rechnen − ungeachtet der Prominenz des 1837 in Rostock geborenen und kürzlich geadelten Burgtheaterdirektors (1881 – 1887) und des offensichtlichen 4 [Wilhelm] Hübbe-Schleiden, »Das Streben nach Vollendung und dessen Voraussetzung«, Sphinx 7 (1892 / 93), Bd. 13, Heft 73 vom März 1893, 5 – 14, hier 9 f. 5 »Für die Reinkarnations- und Wiederverkörperungsdebatte im Umkreis der Zeitschrift Sphinx kann Lessing also gewissermaßen als Geburtshelfer gelten« (Daniel Cyranka, »›Gehet hin und leset euren Lessing, den wir Spiritisten stolz den unseren nennen!‹ Lessings Wirkung in der modernen Esoterik«, Lessing Yearbook 37 (2006 / 07), 125 – 138, hier 130). 6 Vgl. Helmut Zander, Geschichte der Seelenwanderung in Europa. Alternative religiöse Tendenzen von der Antike bis heute, Darmstadt 1999, 499 – 504.
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Erfolgs des Stücks (allerdings nur dieses seiner Stücke) auf den repräsentativen Bühnen der Zeit. Richard Dehmel dagegen, der 26 Jahre Jüngere, der zur Zeit seiner ersten Veröffentlichungen in der Sphinx noch ein kleiner Berliner Versicherungsangestellter war und gerade eben seinen ersten Lyrikband veröffentlicht hatte, stand zwar in enger Verbindung mit wichtigen Mitarbeitern der Zeitschrift wie Carl du Prel, fasste den Begriff der »Seelenwandlung« aber doch auch in allzu origineller, um nicht zu sagen schockierender Weise auf, als dass ihm großer Beifall sicher gewesen wäre. Woher sollten die Preisrichter auch schließlich wissen, dass sie es mit dem – nach einhelliger Auffassung der zeitgenössischen Literaturkritik, nicht aber der Literaturgeschichte – bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker der Jahrhundertwende zu tun hatten! Seelenwanderung bei Wilbrandt Der Vielschreiber Wilbrandt wendet sich der Thematik der Seelenwanderung keineswegs erst mit dem Drama zu, das ihm einen festen Platz in der Geschichte des Metempsychose-Diskurses sicherte. Das Thema ist in seinem Erzählwerk volle zwei Jahrzehnte vorher präsent und erlangt darin aufs Ganze gesehen eine solche Bedeutung wie wahrscheinlich in kaum einem anderen Schriftsteller-Œuvre der realistischen Generation. Schon deshalb scheint es sinnvoll, diese Vorgeschichte des Meisters von Palmyra zunächst zu rekapitulieren.7 Dabei ist es keineswegs nötig, mit Helmut Zander auf Wilbrandts problematisches Frühwerk, den Roman Geister und Menschen (1864), wegen der ins Auge fallenden spiritistischen Elemente zurückzugreifen.8 Denn diese spiritistischen Elemente erscheinen dort zusammen mit dem schwedischen Geisterseher Guldenkron von vornherein unter dem Aspekt des Betrugs. Auch heißt es das Thema der Seelenwanderung bei Wilbrandt falsch einschätzen, wenn man es von vornherein mit esoterischen Tendenzen in Verbindung bringt. Eher ist es bei ihm, wie wir gleich sehen werden, mit der Tradition der Klassik, ja letztlich mit der Bildungsidee verknüpft. Hingewiesen sei stattdessen auf die umfangreiche Novelle Die Brüder, die zunächst 1868 in der Gartenlaube erschien und ein Jahr später in Wil7 Die folgenden Ausführungen zu Wilbrandts erzählerischem Werk wurden erstmals auf einem Symposion zur »Poetik der Seelenwanderung« vorgetragen, das am 14. 1. 2011 unter Leitung von Jutta Müller-Tamm an der Freien Universität stattfand. Ich danke den Berliner Kollegen und den übrigen Teilnehmern für die dabei empfangenen Anregungen. 8 Vgl. Zander, Geschichte, 532.
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brandts erste Novellen-Sammlung aufgenommen wurde.9 In der Ouvertüre dieser Erzählung dient das Modell der Metempsychose dazu, der Begegnung zwischen den Liebenden Annette und Karl gleich von Anfang an schicksalhafte Bedeutung zu verleihen. Kennen Sie das Gefühl, Mademoiselle, etwas zu erleben, was man schon einmal erlebt zu haben glaubt? ganz ebenso? Sehen Sie, so war mir jetzt, als ich auf Sie zutrat. Annette nickte. Ich habe einmal gelesen, sagte sie lächelnd, − aber ich weiß nicht mehr, wo – daß dies Erinnerungen aus der Seelenwanderung seien, aus einem früheren Leben. Das könnte wohl sein, erwiderte er überrascht und starrte in ihr kindlich kluges Gesicht. Wo haben Sie das gelesen? – Es giebt so seltsame Traumzustände, für die man nach irgend einer Erklärung sucht. Mir war in dem Augenblick, als kennte ich Sie schon längst; als müßten auch Sie es wissen, daß ich Sie kenne.10
Annettes Erklärungen für Dejà-vu-Erlebnisse legen schon eine Spur zu dem Literaturzitat, auf das die nächste Erwähnung der Seelenwanderung drei oder vier Seiten weiter hinausläuft. Der Kontext ist unverändert; diesmal aber bleibt es Karl überlassen, die intertextuelle Brücke aufzubauen: Sehen Sie wohl, daß wir uns schon einmal gekannt haben müssen, daß wir uns auf unserer Seelenwanderung zum zweiten Mal begegnen? Jetzt verstehe ich auch – fuhr er mit scherzender Miene fort – warum ich vorhin gleich so betroffen ward, als ich nur erst Ihren Rücken gewahr wurde. Ich wußte ja auf der Stelle, wer Sie seien. Natürlich! – Ich erinnere mich im Augenblick nicht, welcher Mann es war, der sich von einer Frau so wunderbar beherrscht und gefesselt sah, daß er schrieb: Wir müssen einmal in einem früheren Leben Mann und Frau gewesen sein; sonst verstehe ich es nicht« – Er verstummte plötzlich, ohne den Satz zu vollenden, von der Beziehung getroffen, die für ihn selbst darin lag. Annette sah auf den Boden. Sie schwiegen beide eine Weile und suchten nach Worten.11
Es ist der Gedanke an Goethe und Frau von Stein, der die beiden jungen Leute verstummen lässt, weil er unvermutet die Gefahr unüberwindlicher gesellschaftlicher Widerstände heraufbeschwört, die sich einer Annäherung in den Weg stellen könnten, und genau das wird in der Novelle ja allzu bald passieren. Im April 1776 hatte Goethe das (1848 erstmals veröffentlichte) Gedicht an Charlotte von Stein gesandt, das mit der Frage einsetzt: »Warum gabst du uns die tiefen Blicke, / Unsre Zukunft ahndungsvoll zu schaun«, und in der dritten Strophe immer noch mit der Suche nach Erklärungen für die schicksalhafte Zusammengehörigkeit befasst ist: Vgl. Adolf Wilbrandt, Novellen, Berlin 1869, 1 – 172. Ibid., 23. 11 Ibid., 27 f. 9
10
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Sag, was will das Schicksal uns bereiten? Sag, wie band es uns so rein genau? Ach, du warst in abgelebten Zeiten Meine Schwester oder meine Frau.12
Noch näher an die Formulierung in Wilbrandts Text reicht wohl Goethes damaliger Brief an Wieland: »Ich kann mir die Bedeutsamkeit – die Macht, die diese Frau über mich hat, anders nicht erklären als durch die Seelenwanderung. – Ja, wir waren einst Mann und Weib!«13 Das nächste Zeugnis für Wilbrandts erzählerische Partizipation am Metempsychose-Diskurs ist elf Jahre jünger. Es handelt sich um die Doppelnovelle Am heiligen Damm (1879) aus den Novellen aus der Heimat (1882). Von einer Doppelnovelle kann man sprechen, weil innerhalb des beschaulichen Rahmens, der durch eine Unterhaltung am Ostseestrand hergestellt wird, zwei tragische Binnen-Novellen erzählt werden. Bevor es aber dazu kommt, werden die beiden Erzähler in eigentümlicher Weise aus der Perspektive der Seelenwanderungslehre betrachtet. Den ersten der beiden beschreibt der Haupterzähler, nämlich der Erzähler des Rahmens, als einen intellektuell geprägten Rumänen: Es fehlte ihm weder an Kenntnissen, noch an Geist, noch an Originalität; wenn ich auch nicht seine Meinung theilte, daß er (der an eine Art von atomistischer Seelenwanderung glaubte) vor mehreren Jahrtausenden ein ägyptischer Priester und Denker gewesen sei.14
Derselbe Rumäne ist es denn auch, der den Erzähler der zweiten Binnennovelle bei seinem ersten Eintreffen als Reinkarnation eines alten Germanen bewertet: »Schauen sie Den an, sagt er, die Stimme dämpfend. Das ist einer von Euren richtigen Nordlandssöhnen; noch so einer aus der Sagenzeit. Der war früher einmal Wikinger, oder bei den Gothen.«15 So neugierig diese Anspielungen machen, sie bleiben doch eigentümlich folgenlos. Über den Rumänen erfahren wir kaum etwas Näheres, über den vermeintlichen Germanen umso mehr, doch eher Ernüchterndes, die hochgespannte Erwartung Enttäuschendes. Wenn die Anspielungen des Rahmens auf die Seelenwanderungslehre überhaupt einen tieferen Sinn beanspruchen dürfen, dann in der Beziehung zu einer beiden Binnenerzählungen gemeinsamen Tendenz: zur Infragestellung der Kontinuität des Ich bzw. der Persönlichkeit. Vom späteren Leben des Offiziers, der in der ersten Erzählung seinen besten Freund erschießt, wird gesagt: 12 13 14 15
Hamburger Ausgabe I, 122 f. Hamburger Ausgabe, Briefe I, 212 (April 1776). Adolf Wilbrandt, Novellen aus der Heimath, Breslau 1882, Bd. 2., 5. Ibid., 6.
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Glauben Sie, daß er noch weiß, was er damals fühlte, als er hinter dem Studenten auf dem Vorplatz stand? Der dort damals stand, war ein junger Offizier, der längst ebenso todt ist wie jener junge Student. Es giebt zwar einen Menschen, der noch seinen Namen trägt, dessen Aeußeres noch an ihn erinnert, aber dieser Mensch ist General, lebt sehr regelmäßig […].16
– und so weiter! Der Erzähler der zweiten Geschichte wiederum, der in durchsichtiger Weise sein eigenes Leben exponiert, sagt im Hinblick auf seine Vergangenheit: »wenn ich zurückdenke an den heiligen Damm und an jene Zeit, dann ist mir’s so fern, als hätt’s ein Andrer erlebt; als hätt’s mein Bruder erlebt … Ich bin wirklich ein neuer Mensch geworden, so zu sagen …«17. Die persönliche Kontinuität, die der Rumäne über Jahrtausende hinweg für sich selbst als angeblich wiedergeborenen ägyptischen Priester in Anspruch nimmt, ist also nicht einmal auf der Ebene des einzelnen Lebens garantiert. Aber man kann es natürlich auch umgekehrt sehen: Das Weiterleben über das Ende einer bestimmten Persönlichkeitsstufe hinaus, das schon im Leben eines bestimmten Individuums eintreten kann, nimmt strukturell jenen Zyklus der Metempsychose hinweg, bei dem der persönliche Tod nur eine überbrückbare Zäsur darstellt. Insofern verdient im selben Zusammenhang auch Wilbrandts Vorliebe Erwähnung, in autobiographischen Texten eine Spaltung zwischen Ich und Er vorzunehmen.18 In Er und Ich. Ein Gespräch (1880) fühlt sich der Ich-Erzähler (ein Abbild des älteren Wilbrandt) von einem »früheren Ich« verfolgt und zur Rede gestellt, das eine längst abgeschlossene, stärker politisch ausgerichtete Phase seiner Entwicklung repräsentiert: Ich betrachtete dieses mondbeschienene Wesen aufmerksam; es mochte fünfundzwanzig Jahre alt sein oder etwas mehr. Auch hatte es einige Aehnlichkeit mit mir; größere noch mit Photographien, die ich vor Zeiten gesehen hatte. … Wir blickten uns eine Weile schweigend in die Augen. Was willst du bei mir, sagte ich plötzlich. Dich sollte doch wohl nicht wundern, antwortete der andere mit leiser, bedeckter, aber deutlicher Stimme, daß ich zu dir komme. Erkennst du mich nicht? Ich weiß nicht. … Doch, du wirst mich erkennen; träume nur nicht. Ich war, eh’ du warst. Ich. Also du warst ich? Er. Ja, vor Zeiten […].19 Ibid., 23. Ibid., 61. Tatsächlich hat der Binnenerzähler die Geschichte zunächst als Erlebnis seines Bruders ausgegeben. 18 Vgl. auch Adolf Wilbrandt, »Ein Gespräch, das fast zur Biographie wird« (1875) in: ders., Gespräche und Monologe. Sammlung vermischter Schriften, Stuttgart 1889, 1 – 16. 19 Ibid., 175. 16 17
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Der stärkste Auftritt der Seelenwanderungslehre in Wilbrandts umfangreichem Erzählwerk erfolgt zweifellos gegen Ende des Romans Adam und Söhne, der mit der Jahreszahl 1890 erschien, aber offenbar schon vorher ausgedruckt wurde; das hier benutzte Exemplar der Staatsbibliothek Berlin, ein dreispaltiger Druck zur Vorinformation der Redaktionen, ist auf den August 1889 datiert. Schon Victor Klemperer, Verfasser der ersten und einzigen Monographie zum Gesamtwerk Wilbrandts, hatte gewisse Schwierigkeiten mit dem Titel,20 denn vordergründig handelt es sich um eine Art Gesellschaftsroman mit einem anarchistischen Zirkel, einem grundbösen Intriganten und einem hoffnungsvollen stramm deutsch-nationalen Ausblick am Schluss. Wie sich zeigt, gehörte auch Wilbrandt zu den Autoren, die sich vom Regierungsantritt des jungen Kaisers Wilhelm II., und zwar auch und gerade seiner Flottenpolitik, Fortschritte für Deutschland und die Welt erhofften. Just der alte Saltner, ein sonst als abgeklärt beschriebener Greis, befürwortet solche Expansionspläne; er ist es aber auch, dem Wilbrandt das expliziteste Bekenntnis zur Metempsychose in den Mund legt, das sein Gesamtwerk kennt. Das betreffende Gespräch, zweifellos als geistiger Höhepunkt des Romans angelegt, nimmt von einer Shakespeare-Lesung seinen Ausgang. Mit Bezug auf die damals heiß diskutierte Vererbungstheorie wird die Frage aufgeworfen, wie man sich ernstlich die Entstehung eines so »unaussprechliche[n] Genie[s]« aus den vererbten Eigenschaften seiner »braven Eltern und Großeltern« vorstellen könne. »Es wird wohl auch nicht so sein,« erwiderte der Alte bedächtig. […] [»]der William Shakespeare aus Stratford am Avon muß ja nicht Anfang und Ende gewesen sein. Er konnte ja auch eine Fortsetzung sein; nicht seiner ›braven Eltern‹, mein’ ich – was er gewiß zum Theil, gewiß nicht im Ganzen war – sondern eines Unbekannten, der vor ihm gelebt hatte, Gott mag wissen, wo; der auch schon ein Großes war, nur in anderer Weise; der auch eine Fortsetzung war, und zwar von andern ungezählten Fortsetzungen – alle verschieden, alle im Raum verstreut, Gott mag wissen, wo – aber doch alle Eins, wie sich etwa ergeben wird, wenn die Zeiten da sind.«21
Von den vor Staunen erstarrten Zuhörern kommt die Zwischenfrage: »Sie sprechen von der Seelenwanderung?« »Ja, man nennt es so«, antwortet Salt20 Vgl. Victor Klemperer, Adolf Wilbrandt. Eine Studie über seine Werke, Stuttgart / Berlin 1907, 97. Das zum 70. Geburtstag des Dichters in dessen Hausverlag Cotta erschienene Buch ist die dritte Buchveröffentlichung Klemperers, der später als Romanist und Analytiker der NS-Sprache hervortrat; er lebte damals als freier Publizist in Berlin. Seine Tagebücher des Zeitraums 1918 – 1959 erschienen 1996 – 1999. 21 Adolf Wilbrandt, Adams Söhne [dreispaltiges Vorausexemplar, Berlin 1889], Blatt 81 f.
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ner, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Zwei literarische Zeugen werden aufgefahren, um seine Anschauungen zu stützen. Zunächst wird aus dem Gesprächskreis heraus auf eine Rezension des im Februar 1889 uraufgeführten Meisters von Palmyra hingewiesen, ohne Nennung von Wilbrandts Namen übrigens, und Saltner erkennt die Parallele auch nur bedingt an: Der Herr meint es gut mit der Sache, scheint mir; er läßt aber seine Leute im alten Palmyra leben, und die sogenannte Seelenwanderung kommt nur als eine phantastische Veranstaltung für einen besonderen Fall vor: weiter soll sie nichts. Ich mein’ aber, sie ist wirklich, und sie ist für Alle.22
Als wichtigstes Zeugnis dient Saltner – wie auch dem Herausgeber der Sphinx − vielmehr Lessings Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts. Er liest daraus § 82 und den ganzen Schluss ab § 91 vor, also dieselben Passagen, die bis heute als Zeugnis für Lessings Teilhabe am Reinkarnationsdiskurs diskutiert werden.23 Später wird sich Saltner noch auf die buddhistische Lehre berufen.24 Sein eigentlicher Ausgangspunkt aber ist eindeutig die erzieherische Konzeption Lessings, in deren Licht »diese verspottete Seelenwanderung« als »Ei des Kolumbus« erscheint: Alles Begonnene kommt so auch zum Ende; verloren geht nichts, denn jede einmal entstandene Seelenform muß sich fortentwickeln, sie muß, − ob auch noch so zäh und langsam und thierhaft, sie muß, denn in einem andern Kleid, in andrer Luft kommt sie immer wieder; und die Zeit ist da! man darf sie ja nur nehmen! – All unser Leiden aber, alles Elend, was thut das? Geht es nicht vorüber? Erfüllt es nicht seinen Zweck? Arbeitet es nicht an uns, damit wir weiterkommen?25
Von hier aus fällt bezeichnendes Licht auf Saltners nationalpolitische Vorstellungen (denn auch da geht es ums »Weiterkommen«) , aber ebenso auf Wilbrandts schon erwähntes dramatisches Hauptwerk, das sich generell als Gegenstück zu Lessings Nathan dem Weisen, also als philosophisches Lehrdrama in Versen – und mit einem ideellen Orient als Schauplatz − auffassen lässt. Im syrischen Palmyra, dessen Tempel am Ende als Ruine dasteht, werden uns verschiedene Episoden aus dem Leben des Baumeisters Ibid., Blatt 82. Vgl. Zander, Geschichte, 343 – 352; Daniel Cyranka, Lessing im Reinkarnationsdiskurs. Eine Untersuchung zu Kontext und Wirkung von G. E. Lessings Texten zur Seelenwanderung (Kirche – Konfession – Religion 49), Göttingen 2005. 24 »Bei den Buddhisten giebt es eine Geheimlehre […]. Viele Ringe von Geisterwelten, so zu sagen, kreisen um den Urgeist, um den Gott; in den fernsten Ring – immer so zu sagen – ringen die derben Geister, solche wie wir Erdenmenschen, durch unzählige Leben hindurch, in Freud’ und Leid, nach der Läuterung, die sie endlich weiter und dem Göttlichen näher führt« (Wilbrandt, Söhne, Blatt 83). 25 Ibid., Blatt 82. 22 23
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vorgeführt, der hier (nach dem Vorbild des berühmten griechischen Malers) Apelles genannt wird. Dieses Leben ist durch eine Art Ausnahmegenehmigung zu vielfacher Dauer verlängert, so dass Apelles gleich mehrere Generationen von Mitmenschen erlebt; dabei spielt ein und dieselbe Schauspielerin die jeweils wichtigste Bezugsperson: also nacheinander die Christin Zoe, die ungetreue Geliebte Phöbe, die christliche Ehefrau Persida, den Enkel Nymphas und schließlich die Heilige Zenobia. Noch vor und bei dem ersten Auftreten seines Enkels dämmert dem Helden das Modell der Seelenwanderung: Die Weisen in Indien sagen: wir werden sein – und sind schon gewesen! Langsam, sagen sie, reift der Menschengeist, nicht in Einem Leben. Um gottähnlich zu werden, muß er durch viele und mannigfaltige Gestalten gehen … […] Warum könnt’s nicht sein? – Wenn ich zuweilen daliege und mir sage: Wer war wohl jene Zoe, mit dem Geisterblick? Und Phöbe, und Persida – wanderte in ihnen Zoes Seele weiter? Und du, mein Nymphas, mein Liebling – hätt’ ich auch dich schon gekannt? – Zuweilen ist mir, als hätt’ ich dich schon gekannt –26
Das Metempsychose-Modell wird zwar nicht auf den Helden selbst angewandt und zur Erklärung von dessen Meisterschaft benutzt, sondern dient eher dazu, im Rahmen eines Gedankenexperiments die Unzulänglichkeit einer anderen Form von Unsterblichkeit zu demonstrieren. Dennoch ist das ideelle Fazit von Wilbrandts Drama vom Gedanken der persönlichen Weiterentwicklung, also letztlich der Goethe’schen Bildungsidee, bestimmt. Und an Goethe, vor allem an sein Begriffspaar »Dauer« und »Wechsel«,27 klingt Apelles’ abschließende große Rede mehrfach an. Zu Zenobia gewandt, in der ihm der Geist seiner früheren Lieben in gewandelter Form wiedererscheint, erklärt der sich selbst überlebt habende Baumeister mit deutlichen Anklängen an die Erdgeist-Szene in Goethes Faust: Es springt des Lebens Geist von Form zu Form; Eng ist des Menschen Ich, nur Eine kann es Von tausend Formen fassen und entfalten, Nur Eine Straße geh’n; drum tracht’ es nicht Ins lebenwimmelnde Meer der Ewigkeit, Das Gott nur ausfüllt! – Sollt’ es dauern, müßt’ es Im Wechsel blüh’n, wie du! von Form zu Form Das enge Ich erweiternd, füllend, läuternd, Bis sich’s in reinem Licht verklärt. So könnten wir Vielleicht, allmählich, Gott entgegenreifen.28 26 Adolf Wilbrandt, Der Meister von Palmyra. Dramatische Dichtung in fünf Aufzügen, 14. u. 15. Tsd., Stuttgart 1925, 139 f. 27 Vgl. u. a. Goethes Gedicht Dauer im Wechsel (Hamburger Ausgabe I, 247 f.). 28 Wilbrandt, Meister (Anm. 25), 188 f.
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Schon bei seiner Uraufführung im Münchner Hoftheater am 21. Februar 1889 hat Wilbrandts Drama Fragen nach der genaueren Beschaffenheit der philosophischen Botschaft aufgeworfen, die darin vermittelt wird. Als eine eigentliche Grundlage des Stücks glaubte der Kritiker der Münchner Allgemeinen Zeitung damals Schopenhauers Ausführungen Ueber den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich ausmachen zu können, die ja ausdrücklich auf die Lehren der Seelenwanderung und Wiedergeburt rekurrieren.29 Wilbrandt selbst bestritt gleich darauf einen solchen Zusammenhang; Schopenhauers Weltanschauung sei ihm vielmehr »besonders unsympathisch«.30 Dass sich der Dramatiker näher mit ihr auseinandergesetzt hat, steht jedoch außer Frage; so darf man seine Novelle Der Wille zum Leben zweifellos als Versuch einer Persiflage auf die Philosophie des Pessimismus lesen.31 Im Vorfeld der Wiener Erstaufführung (Burgtheater, 28. Oktober 1892) beschied Wilbrandt einen neugierigen Frager mit folgenden Andeutungen: In mir paarten sich seit lange die tiefe Sehnsucht nach Dauer des Daseins und die ebenso tiefe Ueberzeugung, daß die irdische Form, in der wir uns erleben, nur eine von ungezählten Lebensformen ist. Vielleicht auch eine von ungezählten Entwicklungen? zu denen wir vielleicht selber bestimmt sind – ob nun hier oder anderswo?32
Sein Drama sei der Versuch, »die leidige Nothwendigkeit des irdischen Todes« darzustellen und zugleich »die geahnte Möglichkeit der Fortentwicklung in einem vielgestaltigen Gegenbilde anzudeuten«.33 Aus der Sicht von Hübbe-Schleidens Sphinx musste gerade diese poetische Offenheit dem Meister von Palmyra zum Nachteil gereichen. In seinem gründlichen Artikel Die Wiederverkörperungs-Lehre im Drama würdigt Ludwig Deinhard im Februar 1893 zwar die aufrüttelnde Wirkung, die von Aufführungen des Stücks auf Zuschauer ausgehe, die sich bisher mit Fragen des Weiterlebens nach dem Tode kaum befasst hätten. Indem Wil29 Vgl. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung II, Kap. 41. Vgl. Deinhard, Wiederverkörperungs-Lehre, 299. 30 In der Formulierung Deinhards: ibid. 31 Vgl. Adolf Wilbrandt, Der Wille zum Leben. Untrennbar. Novellen, Stuttgart 1885. 32 Ludwig Speidel, »Burgtheater (Der Meister von Palmyra)«, Neue Freie Presse Nr. 10124 vom 30. 10. 1892, [1] – [3], hier [1]. Vorausgegangen war Speidels positive Besprechung der Buchausgabe (Neue Freie Presse Nr. 9102 vom 25. 12. 1889), für die Wilbrandt mit einem Brief vom 27. 12. 1889 dankte, der am Schluss der Erinnerungen seines Sohns faksimiliert ist; vgl. Robert Wilbrandt, Mein Vater Adolf Wilbrandt, Berlin / Wien / Zürich 1937, gegenüber von 71. 33 Speidel, »Burgtheater«, [1].
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brandts Werk zu »tieferen Studien« anrege, sei von seiner Verbreitung daher eine beträchtliche Vermehrung der Zahl der Anhänger der Wiederverkörperungs-Lehre in Deutschland zu erwarten.34 Gleichzeitig vermisst der Münchner Theosoph und regelmäßige Sphinx-Beiträger jedoch eine ernsthaftere Auseinandersetzung mit den Traditionen der Reinkarnationsidee oder deren halbwegs realistische Umsetzung. Die suggerierte vierfache Wiederverkörperung Zoes innerhalb eines Zeitraums von gut 100 Jahren kommt dafür natürlich nicht in Betracht. Den gravierendsten Einwand Deinhards aber enthält die folgende Feststellung: »Vor allem fehlt […] dieser Wilbrandt’schen Wiederverkörperungs-Darstellung das so wichtige Moment der aufsteigenden Seelenwandelung. Sie ist vielmehr eine völlig zusammenhanglose Seelenwanderung.«35 Seelenwandlung bei Dehmel »Eine Seelenwandlung in Gedichten und Sprüchen« lautet der Untertitel zu Richard Dehmels erstem Gedichtband Erlösungen. Im September 1891 schickt Dehmel das frisch erschienene Buch in der Hoffnung auf eine Besprechung in Hübbe-Schleidens Zeitschrift an den bekennenden Spiritisten und regelmäßigen Sphinx-Mitarbeiter Carl du Prel. Hat er vielleicht schon Kunde von der bevorstehenden Erweiterung des Blattes um literarische und künstlerische Beiträge? Jedenfalls hat er eine klare Vorstellung von »dem Kunstforscher wie dem Seelenforscher Carl du Prel«. Er versucht, jenen als Rezensenten zu gewinnen, indem er gleichzeitig diesen für seine Persönlichkeit und die psychologischen Grundlagen seiner Lyrik interessiert. Auch wenn er gestehen muss, selbst »erst spät auf das Rätsel des persönlichen Seelenlebens aufmerksam geworden« zu sein, so hat er doch einiges anzubieten, was die Aufmerksamkeit eines (Para-)Psychologen verdient: die originelle Lösung einer geometrischen Aufgabe im Traum, Absencen auf dem nächtlichen Heimweg und halluzinatorische Zustände als Grundlage der dichterischen Produktion. Dehmel nennt sogar die Seitenzahlen der Gedichte, die ganz oder teilweise aus solchen Zuständen hervorgegangen seien, und preist die betreffenden Texte als »besonders günstige[n] Fall für die Untersuchung Dessen« an, »was überhaupt das Organische des künstlerischen Schaffens ausmacht und was ich die ästhetische Erkenntnis des Weltund Ich-Zusammenhanges nennen möchte.«36 34 Vgl. Ludwig Deinhardt [lies: Deinhard], »Die Wiederverkörperungs-Lehre im Drama«, Sphinx 7 (1892 / 93), Bd. 15, Heft 84 vom Februar 1893, 297 – 504, hier 504. 35 Ibid., 502. 36 Richard Dehmel, Ausgewählte Briefe aus den Jahren 1883 bis 1902, Berlin 1922, 52 – 54 (an Carl du Prel, 16. 9. 1891).
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Damit ist schon ein wichtiges Stichwort für die weitere Entwicklung Dehmels gefallen: die Entgrenzung des Ich ins Kosmische, die später von ihm vor allem unter dem Aspekt der Liebe, hier aber noch im Zeichen des Traums thematisiert wird. Im Fortgang des Briefs erklärt Dehmel die visionäre Qualität seiner Träume aus einer überwundenen Epilepsie; im Vorfeld von Anfällen hatte er regelmäßig wiederkehrende Vorstellungen von einem »Goldglanz« aus »flirrenden Augenconturen«, als deren innerstes Zentrum er im letzten Traum dieser Art sich selbst wahrnahm. Andererseits berichtet Dehmel von einem »Bewußtsein doppelter Wesenschaft«, das seine halluzinatorischen Zustände begleite: Selbst im Falle des Traum-Handelns »weiß ich mich zugleich als mein eigener Zuschauer, sehe mich körperlich außer mir, und meine Empfindungen habe ich und habe sie nicht.« Solche »Ichentäußerung« erlebt der Briefschreiber auch im Verhältnis zu anderen Menschen; als Dokument dieser Erfahrung verweist er auf das Sonett Selbstentäußerung: Erfüllung aus dem dritten Teil (3. Stufe: Leben und Arbeit) der Erlösungen.37 Dessen Quartette stehen ganz im Zeichen mystischer Einheitserlebnisse und Bildtraditionen: Ich sah durch deine Seele in die Welt und in die eigne Seele: stumm versanken im Strom des Schauens zwischen uns die Schranken, es ruhten Welt und Du in mir gesellt. Dein Auge sah ich wesenlos erhellt: Erleuchtung fluteten, Erleuchtung tranken zusammenströmend unsre Zwiegedanken, in Deiner Seele ruhte Meine Welt.38
In Dehmels Lebensblättern (1895) erscheinen diese Strophen unter der Überschrift Liebe, in seinen Verwandlungen der Venus (1907) unter dem Titel Venus Universa.39 Die späteren Titel dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Dehmel hier zugleich so etwas wie ein Kommunikationsmodell entwirft: der »Zugang zur Welt«, den ihm die emotionale und emotionalisierende Strategie seiner Lyrik eröffnet,40 ist auch ein Zugang zum Leser. So erläutert er gegenüber Georg Ebers die sozialethische Ausrichtung seines
Ibid., 54 – 58. Richard Dehmel, Erlösungen. Eine Seelenwandlung in Gedichten und Sprüchen, Stuttgart 1891, 133. 39 Richard Dehmel, Lebensblätter. Gedichte und anderes, Berlin 1895, 71; Gesammelte Werke, 10 Bde., Berlin 1906 – 1909, Bd. 4, 126 f. 40 Vgl. Simone Winko, Kodierte Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen und poetologischen Texten um 1900 (Allgemeine Literaturwissenschaft 7), Berlin 2003, 257 – 264. 37 38
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Dichtens unter Rekurs auf den Titel der gerade ausgelieferten Erlösungen. Zum Tröster des Proletariats fühle er sich zwar nicht berufen, heißt es dort: Das widerspricht meiner ganzen Glücksauffassung, die darin gipfelt, daß nur der Einzelne selber – nach seiner innern Art und seiner äußern Lage – sich seine seelischen Erlösungen gestalten kann. Aber Andere auf einen höhern Gesichtspunkt erheben – über ihre Eigenart und Lebenslage hinaus – sodaß ihr Trieb zur Selbsterlösung, zur Hingabe ans ewig Allgemeine kräftiger und heftiger wird: ja, Das, Das ist die Sehnsucht meines Lebens, ist der innerste Same aller meiner eigenen Erlösungen, soviele hinter mir liegen und soviele noch kommen werden.41
Aus dieser Erläuterung des Haupttitels seines ersten Gedichtbands ergibt sich auch der Sinn des eigenwilligen Untertitels: »Seelenwandlung«. Das seltene Wort, das Wieland einmal für eine Umwandlung der Persönlichkeit benutzt42 und das im 19. Jahrhundert – vor allem in der älteren Form »Seelenwandelung« – meist im Kontext der Seelenwanderungslehre gebraucht wird,43 steht offenbar für eine innere Metamorphose vom Rang und der religiösen Qualität einer »Erlösung« oder einer (im Sinne des Pietismus aufgefassten) »Wiedergeburt«. Bei der Wahl des religiösen Modells hat vielleicht das Vorbild Paul Verlaines mitgewirkt, der seine Lebenskrise der 1870er Jahre in einem ganzen Zyklus religiös ausgerichteter Gedichtsammlungen verarbeitete. Dehmels Übertragungen der beiden wohl bekanntesten Stücke aus dem zugehörigen Zyklus Sagesse (1881) erschienen in der Sphinx unter den Titeln Wiedergeburt und Zu Gott.44 Indem die Redaktion den freibleibenden Teil der letzten Seite mit Aphorismen zum Thema »Wiedergeburt« und »Wiederverkörperung« auffüllte, holte sie die christliche Motivik der (titellosen) französischen Originale gleichsam in den Rahmen der theosophischen Palingenesie-Diskurse zurück. Dehmel selbst war im protestantischen Glauben erzogen worden, von dem er sich mit fünfzehn Jahren zugunsten eines materialistischen Weltbilds entfernte.45 Sieben Jahre später, also etwa 1885, will er dem schon zitierten Dehmel, Ausgewählte Briefe, 59 (an Georg Ebers, 29. 9. 1891). Vgl. Christoph Martin Wieland, Geschichte des Agathon, hg. Klaus Manger, Frankfurt a. M. 1986, 178. 43 Vgl. Carl Friedrich Koeppen, Die Religion des Buddha und ihre Entstehung, Berlin 1857, 301 f.: »Hiernach ist eigentlich die Geburt eine Neugeburt, die Seelenwanderung, wie wir sie bisher der Kürze halber genannt haben und auch ferner nennen werden, vielmehr eine Seelenwandelung, die Metempsychose eine Metamorphose.« 44 »Gedichte von Paul Verlaine in freier Uebertragung von Richard Dehmel«, Sphinx 7 (1892 / 93), Bd. 15, Heft 83 vom Januar 1893, 233 – 237. Vgl. Verlaines Sagesse, I,1 (»Bon chevalier masqué […]«) und II,4; das erste der zehn Sonette dieses Gottesdialogs beginnt bei Verlaine mit den Worten »Mon dieu m’a dit […].« 41 42
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Brief an du Prel zufolge die Geheimnisse des »Seelenlebens« entdeckt haben.46 In einem Brief vom Juli 1887 bekennt er sich zu einem monistischen Unsterblichkeitsprinzip auf ethischer Grundlage. Wer sich ganz in den Dienst der Mitmenschlichkeit stelle, »der hat das ewige Leben, wie es Jesus meinte: er fühlt die Menschheit in sich, und die Menschheit ist ewig.« Scheinbar widersprüchlich verläuft die anschließende Argumentation: Das einzelne Individuum geht unter. »Seele« ist ja nur ein Wort, für die unerklärlichen Kräfte, die unsere Substanz, geistige und körperliche, in Bewegung setzen. Aber eben das Vollgefühl dieser Kraft, die uns mit Allem verbindet, mit der Natur, der Menschheit, dem All, − das ist es, was uns zur Ewigkeit erhebt und Andre durch uns. Denn nichts geht unter; das kleinste Gefühl, wenn es wahr und ganz ist, hat in andern seine unbewußt, meist sogar unbemerkt fortwirkenden Folgen.47
Nichts geht unter, das einzelne Individuum aber doch? Dehmels monistische Ethik, die hier ihre verbindliche, noch seine lebensreformerischen Aktivitäten bestimmende Formulierung findet,48 gibt die Einzelpersönlichkeit zugunsten ihrer sittlichen Regungen auf. Der Mensch überlebt gleichsam in seinem Wirken, und der Dichter in der Weiter- und Nachwirkung seiner Werke, wenn und insofern diese »Erlösungen« im oben beschriebenen Sinn darstellen. Eher spielerisch greift das Gedicht Die Begegnung aus dem ersten Gedichtband den Déja-vu-Gedanken der Seelenwanderungslehre auf: Ich sah dich schon … Im Sonnenschein beim Aehrenfeld am Wiesenrain stand wilder Mohn; ich sah den Flimmerstrahlen nach, da wurde eine Blüte wach, und aus der spröden Knospe brach das Feuerseelchen an den Tag … So sah ich Dich, du knospend Kind, erglühn, da wir im Walde trafen uns allein und im Vorübergehn mein Blick dich küßte, – […]49
45 Zu den weltanschaulichen Grundlagen Dehmels vgl. Walter Gebhard, »Der Zusammenhang der Dinge«. Weltgleichnis und Naturverklärung im Totalitätsbewußtsein des 19. Jahrhunderts (Hermaea N.F. 47), Tübingen 1984, 495 – 513; Monika Fick, Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende (Studien zur deutschen Literatur 125), Tübingen 1993, 145 – 151. 46 Dehmel, Ausgewählte Briefe, 53. 47 Ibid., 20 (an Simon Hermann, 2. 7. 1887). 48 Vgl. Björn Spiekermann, Literarische Lebensreform um 1900. Studien zum Frühwerk Richard Dehmels (Klassische Moderne 9), Würzburg 2007, 94 f.
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Aber natürlich ist die Mohnblume eigentlich nur eine Metapher für das errötende Mädchen, keine frühere Inkarnation ihrer Seele. Dennoch fährt es Dehmel »wie ein lähmender Schreck durch die Glieder«, wenn Ehefrau Paula im Ausdruck der Augen ihrer (und seiner!) Freundin Hedwig Lachmann neuerdings eine »Aehnlichkeit mit der Selbstmörderin Käte« entdecken will – er fürchtet instinktiv, die Seele der Verstorbenen könne in Hedwig übergegangen sein, der er überhaupt »irgend eine spiritistische ›Vergangenheit‹« zuschreiben möchte: Ich kann vom deductiven Standpunkt aus den Spiritismus nicht von der Hand weisen, wenn mir auch die inductiven Beweismittel vorläufig noch nicht erbracht oder doch nicht stichhaltig scheinen. Sich selbst zum Experimentirobject zu machen, scheint mir gefährlich, weil man nicht weiß, welche andern Fähigkeiten durch Ausbildung der medialen Wahrnehmungskraft (wenn es eine solche giebt) untergraben werden könnten.50
Dehmels Mitarbeit an der theosophischen Zeitschrift Sphinx ist also nicht mit festen spiritischen Überzeugungen begründet. Gelegentlich äußert er sogar Verachtung darüber, wie »unsre ethischen Sektenstifter, Theosophen und sonstige Dilettanten der Weltverbesserung […] sich die Hörner an den dogmatischen Mauern der alten Ethik und Religiosität abrennen.«51 Auch spart er gegenüber Wilhelm Bölsche nicht mit Spott angesichts der Studien zum Spiritismus, die dieser für den Roman Die Mittagsgöttin (1891) betreibt52 – der Freund revanchiert sich mit einer Karikatur des Bier trinkenden und unter einem Stern »Der Seele Paula’s« »Erlösungen« harfenden Lyrikers (Abb. 3);53 Stern und Widmungsformel sind dabei Zitat aus Dehmels Gedichtband (Abb. 4). Bölsches Roman, in dem die Repräsentanten des Spiritismus letztlich als Betrüger entlarvt werden, erfuhr übrigens in der Sphinx eine erwartungsgemäß kühle Aufnahme.54 − Auf der anderen Seite Dehmel, Erlösungen, 98 f. Richard Dehmel, Bekenntnisse, Berlin 1926, 32 f. (Tagebuch, 20. 1. 1894). 51 Ibid., 15 (Tagebuch, 23. 12. 1893). 52 In seinem Hamburger Lästerbrief heißt es: »Links von einem engen Schleifweg, in hypnotischer Selbstvergnügtheit, saß Wilhelm Bölsche, der Verführer der ›Mittagsgöttin‹. Seitdem er aus Italien zurück war, hatte er sich zum Spiritismus bekehrt […] Nun saß er hier seit Wochen und wartete mit seligem Lächeln, daß ihm die Geister ein Fäßchen capresischen Feuerwein stiften sollten« (Freie Bühne 3, Heft 1 vom Januar 1892, 77 – 84, hier 82). Vgl. auch den Gästebucheintrag Paula Dehmels vom 22. 6. 1890, zit. in: Gertrude Cepl-Kaufmann, Rolf Kauffeldt, Berlin-Friedrichshagen. Literaturhauptstadt um die Jahrhundertwende. Der Friedrichshagener Dichterkreis, [München] 1994, 58 f. 53 Zum rückseitigen Text und zur Datierung der Tischkarte vgl. Wilhelm Bölsche, Briefwechsel, Bd. 1: Mit Autoren der »Freien Bühne«, hg. Gerd-Hermann Susen, Berlin 2010, 811 – 813. 49 50
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Abb. 3: Wilhelm Bölsche: Tischkarte für Paula Dehmel mit Karikatur ihres »Erlösungen« harfenden Ehemanns, 1892. Mit freundlicher Genehmigung des Deutschen Museums, München.
entspringt Dehmels Mitarbeit an der Zeitschrift aber auch keinem Opportunismus wider besseres Wissen. So dankbar der Autor damals für jede Veröffentlichungsmöglichkeit sein musste, so wusste er doch offenbar auch das übergreifende Interesse am Übersinnlichen und den Rätseln der menschlichen Seele zu schätzen – als passenden Horizont, vor dem sich verwandte Tendenzen seines eigenen Schreibens genuin entfalten konnten, als geistigen Rahmen, der ihnen eine spezifische Glaubwürdigkeit zu verleihen vermochte. In diesem Sinne sollen im Folgenden die beiden lyrischen Originalbeiträge Dehmels zur Sphinx näher betrachtet werden. Insgesamt lassen sich vier Beteiligungen des Autors an der Zeitschrift festmachen: das Gedicht Jesus der Künstler. Traum eines Armen im Aprilheft 1892, die »ethische Seelenstudie« über Bruno Willes Gedichtband Einsiedler und Genosse (1891) im August desselben Jahres,55 die bereits erwähnten Verlaine-Übertragun54 Vgl. R. K., »Der Spiritismus im Roman«, Sphinx 6 (1891), Bd. 12, Heft 72 vom Dezember 1891, 372.
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Abb. 4: Widmung für die Ehefrau in Richard Dehmels Erlösungen, 1891.
gen im Januar 1893 und schließlich (als sein letzter Beitrag überhaupt) die freirhythmische Dichtung Das Gesicht im Februar 1893. Die Würdigung von Liliencrons Gedicht Aldebaran (aus Der Haidegänger und andere Gedichte, 1890), deren Zusendung Dehmel dem Dichter im Dezember 1892 ankündigt, ist entgegen seinen Erwartungen nicht in der Sphinx erschienen, wie übrigens auch nicht die erhoffte Besprechung der eigenen Erlösungen. Ersteres ist insofern zu bedauern, als uns der Liliencron-Essay vielleicht mit Hinweisen zum besseren Verständnis von Dehmels Sphinx-Gedichten versehen hätte; denn als »Vision« sollte darin Aldebaran gelobt werden und 55 Richard Dehmel, »›Einsiedler und Genosse‹. Eine ethische Seelenstudie«, Sphinx 7 (1892 / 93), Bd. 14, Heft 78 vom August 1892, 169 – 176. Dehmel hatte den Essay über den zunächst im Selbstverlag erschienenen, erst ab dem 2. Tausend (1894) von S. Fischer übernommenen Gedichtband schon vorher Leo Berg (für die Moderne), Paul Schlenther (für die Vossische Zeitung) und Wilhelm Bölsche (für die Freie Bühne) angeboten; vgl. Leo Berg, Im Netzwerk der Moderne. Briefwechsel 1884 – 1891. Kritiken und Essays zum Naturalismus, hg. Peter Sprengel, Bielefeld 2010, 171; Bölsche, Briefwechsel, Bd. 1, 804 f. Auch wegen dieser mit der Sphinx nicht verbundenen Vorgeschichte bleibt der Essay hier außerhalb der näheren Betrachtung.
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sein Verfasser als »Seher«.56 Dehmels eigene Gedichtbeiträge in der Zeitschrift aber gehören offenbar der gleichen Kategorie an, wie schon die Titelbegriffe »Traum« und »Gesicht« erkennen lassen. Im »Traum eines Armen« wird offenbar zunächst eine Skulpturenausstellung imaginiert; in allen Nischen eines feierlichen Raums stehen weiße Gestalten. Der Sprecher selbst gehört als »Stein unter Steinen« zu diesem Figurenensemble, ist aber deutlich benachteiligt: Er steht in einer dunklen Ecke und kann – als Abbild des modernen Proletariers − nicht mit der marmornen Nacktheit der übrigen konkurrieren: »In meinem Staub, in meinen Straßenlumpen / mißfarben angetüncht, so hocke ich / auf fahlem Postament.« Traumhafte Qualitäten gewinnt die Narration des Gedichts, als sich eine Jesus-Statue in der Mitte des Saals verlebendigt, im wahrsten Sinne aufersteht und die steinernen Figuren des Saals zu gleicher Verwandlung erweckt: »So steht er auf … / Da scheinen sich die Steine rings zu rühren, / die weißen Glieder eigner sich zu röten, / und nur von Sehnsucht starr.« Aber diese Starre ist schnell überwunden, wenn der wandelnde Jesus auf sie zutritt, und bald wandelt eine ganze Prozession Auferstandener in Schönheit und Wahrheit durch den Saal. Auf solche Erlösung wartet ungeduldig auch der Erzähler in seinen Lumpen. Doch als Jesus schließlich auf ihn zutritt, brechen die Wundmale des Heilands auf, und er spricht unter Tränen: »Deine Stunde ist noch nicht gekommen!« Die letzten beiden Verse bringen die Aufhebung des Traums – »Und ich erwachte; weinend lag ich nackt; / nackt wie die Armut« −, aber keine Deutung.57 Der sich eben noch unter nackten Menschen seiner Bekleidung schämte, ist also eigentlich selber nackt. Zu den Überraschungen des Gedichts gehört neben dem negativen Ausgang des Traums auch der Haupttitel Jesus der Künstler. Er abstrahiert offenkundig von der Ausgangssituation, in der uns Jesus als Kunstwerk begegnet, und akzentuiert statt dessen den zweiten Aspekt der Figur: die Fähigkeit, tote oder starre Statuen zum Leben zu erwecken. Dieselbe Fähigkeit wird herkömmlich dem Bildhauer Pygmalion nachgesagt,58 allerdings ist es mehr die Liebe dieses Künstlers als seine artistische Meisterschaft, die die von ihm geschaffene Galathea erröten lässt. Eine ähnliche Auffassung liegt natürlich auch bei Dehmels Jesus nahe: Es Dehmel, Ausgewählte Briefe, 101 (an Detlev von Liliencron, 15. 12. 1892). Richard Dehmel, »Jesus der Künstler. Traum eines Armen«, Sphinx 7 (1892 / 93), Bd. 13, Heft 74 vom April 1892, 129 f. Wieder in: ders., Aber die Liebe. Ein Ehemanns- und Menschenbuch, München 1893, 57 – 60. Im Zweitdruck sind lediglich einige Details der Interpunktion verändert; zitiert wird nach dem Erstdruck. 58 Vgl. Mathias Mayer, Gerhard Neumann (Hgg.), Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur (Litterae 45), Freiburg i. Br. 1997. 56 57
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ist seine Liebe zur Menschheit (und nicht seine künstlerische Begabung), die aus den starren Figuren lebendige Menschen macht. Diese Liebe ist es ja auch, die ihn vor der Figur des Armen oder Arbeiters zum Weinen bringt. Offenbar fehlt Letzterem eine entscheidende Voraussetzung zur »Erlösung«, die Dehmel bei anderen Teilen der Gesellschaft gegeben sieht. Als Verständnishilfe kann uns wiederum der Brief an Georg Ebers dienen, in dem sich Dehmel im September 1891 gegen den Vorwurf verteidigt, seine Erlösungen würden nichts zur »inneren Erhebung des Volks« beitragen. Dehmel antwortet, dass er seine Gedichte nicht für den »ökonomischen Proletarier« geschrieben habe, weil er dessen auf Irrtümern beruhende sozialistische Utopie nicht teile: […] diese Leute, die nur die Not der Armut kennen, die Nichts wissen von der Last des Wohlbehagens: sie, sie glauben doch daran! und kein Apollonius und kein Tolstoj würde sie jemals überzeugen können, daß Bedürfnislosigkeit der Sinne das höchste Ziel der Menschheit sei […] ist in solchen Leuten einmal ein eigener Erlösungsdrang erwacht, so würde jedes Mittel zur weiteren Veredelung, das nicht aus diesem ihrem eignen Drang heraus zu ihnen spricht, auf unfruchtbaren Boden fallen.59
Der Arbeiter des Gedichts kann nicht erlöst werden, weil er als »Stein unter Steinen« dem Materialismus verhaftet und nicht aufnahmefähig ist für die Botschaft eines Jesus, Apollonius von Tyana, Tolstoi oder – Dehmel! Denn daher erklärt sich offenbar die oben noch nicht vollständig erhellte Titelformulierung Jesus der Künstler: Das Traumgedicht symbolisiert die »Seelenwandlungs«-Mission des Künstlers der Gegenwart und ihre Grenzen. Die überraschend subjektive Deutung des ersten Sphinx-Gedichts wird noch durch einen Nebenumstand gestützt. Dehmel verwertet darin offenbar Eindrücke von der Internationalen Kunst-Ausstellung im Berliner Ausstellungspalast, über deren Skulpturenabteilung er im Juli 1891 für die Freie Bühne berichtete. Auch in diesem seinem einzigen der bildenden Kunst gewidmeten Essay akzentuiert er die »scheinbar unbegründete Erstarrung« der plastischen Figuren als Irritation der ästhetischen Wahrnehmung aus vitalistischer Perspektive.60 Die Bewegung, die in seiner Traumdichtung in den Saal kommt, nimmt also in gewisser Weise die dionysische Entgrenzung vorweg, die Gottfried Benns Lyrik zwei Jahrzehnte später im Anruf an die Karyatide erträumt: »Entrücke dich dem Stein! Zerbirst / die Höhle, die dich knechtet! Rausche / doch in die Flur! Verhöhne die Gesimse! −«61 Dehmel, Ausgewählte Briefe, 59 f. Richard Dehmel, »Unsere Plastik. Betrachtungen zur Berliner Kunstausstellung«, Freie Bühne 2, Heft 27 vom 8. 7. 1891, 665 – 670, hier 669. 61 Gottfried Benn, Sämtliche Werke, hg. Bernd Schuster, Stuttgart 1986, Bd. 1, 38. 59 60
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Die Kunst ist auch Thema in Dehmels zweitem Gedichtbeitrag zur Sphinx: Das Gesicht.62 Der Titel weist, wie oben bemerkt, auf die visionäre Qualität des Textes hin, muss aber zunächst einmal ganz konkret aufgefasst werden: als Hinweis auf das Gesicht der Geliebten des Malers, das dieser bis dahin nie adäquat wiedergeben konnte – auch auf jenem Porträt nicht, das sie in einer verzweifelten Aktion aus den Flammen rettete, nachdem sie den am Fuß verletzten Maler aus dem Feuer getragen hat. Gerade bei diesem zweiten Gang in das Feuer hat die Frau sich schwere Brandverletzungen zugezogen; zu Beginn des freirhythmischen Erzählgedichts, das Dehmel beim nächsten Abdruck mit dem Titelzusatz »Eine halbe Stunde Seelenleben« versieht63 und aus dem er später – mit nur minimalen formalen Eingriffen − eine Prosanovelle gleichen Titels macht,64 hält sie sich offenbar hinter einem Teppich verborgen, um nicht das Schönheitsempfinden des Malers zu beleidigen. In streng personaler Erzählweise und mit extensivem Einsatz von erlebter Rede erfahren wir zunächst aus der Perspektive des Malers die Vorgeschichte − auch den Sünden-Fall, dem er seinen symbolischen Knöchelbruch (ähnlich signifikant wie der verstauchte Fuß Richter Adams in Kleists Zerbrochnem Krug) verdankt. Nicht die geschlechtliche Liebe als solche wird in diesem Zusammenhang verurteilt, sondern die »Sünde«, die sie gegen den Geist der Kunst darstelle, ist es doch gerade die »verschlossene Seele« des Mädchens, die ihm als künstlerische Form vor Augen steht: Aber das war ja die Form, die verschlossene Seele; was er gesucht hatte, was sie empfunden hatte, warum sie ihm vertraute, ihm, dem Künstler. Nein, auch dem Menschen!65
Nicht nur in einem äußerlich kausalen Sinn ist die Brandkatastrophe mit diesem primären Sündenfall verknüpft; man kann sie geradezu als eine moSphinx 7 (1892 / 93), Bd. 15, Heft 84 vom Februar 1893, 361 – 366. Dehmel, Aber die Liebe, 61 – 68. 64 Richard Dehmel, Lebensblätter (Gesammelte Werke VII), neue, völlig veränderte Ausgabe, Berlin 1908, 87 – 96. Den ersten Hinweis auf die Prosafassung verdanke ich einem Symposion des FRIAS zum Thema »Alternativen zum Realismus« unter Leitung von Moritz Baßler, Münster (Universität Freiburg, 24. – 26. 6. 2010). Der demnächst erscheinende Tagungsband Entsagung und Entsorgung. Aporien des Spätrealismus und Routines der Frühen Moderne enthält einen Beitrag von Melanie Horn (»Überschreibungen des Realismus. Richard Dehmels Prosatexte als Wegbereiter der Frühen Moderne«) mit einer differenzierten Analyse des Prosa-Gesichts. 65 Sphinx 7 (1892 / 93), Bd. 15, Heft 84 vom Februar 1893, 365. 62 63
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ralische Vergeltung betrachten. Das wird dem Maler, der zunächst noch verschiedene sehr egoistische Zukunftspläne schmiedet, allerdings erst mit großer Verzögerung klar. Erst als er seine Schuld einsieht und die aus ihr erwachsende Verpflichtung, gerade jetzt das unvollendete Bild der Geliebten weiterzumalen, selbst wenn diese unlösbare Aufgabe das Ende seiner Entwicklung als Künstler bedeuten sollte, setzt mit dem Anruf der Frau eine weiterführende Handlung ein. Sie ist gekommen, sich von ihm zu verabschieden; sein Blick erfasst erstmals ihre veränderte Gestalt im vollen Tageslicht, und er ahnt zugleich das, was er bisher nicht malen konnte: das unerkannte letzte Eine, das selige Wunder, Das, was ihn zu ihr in die Knie riß, warum er sie umklammerte, weinend, »Offenbarung« stammelnd: ihre große Sittlichkeit, die Schönheit ihrer Selbstverleugnung.66
Es folgt eine neue Bekräftigung des Liebesbunds, ja die angedeutete Wieder-Vereinigung der Liebenden im (leitmotivisch wiederholten) Wolkenschatten. Im Unterschied zu jener ersten blind-leidenschaftlichen folgt sie jedoch höchsten künstlerischen und sittlichen Maßstäben. Der Maler weiß jetzt, wie er die Frau malen wird: als »Magdalena, / der Welt den Gekreuzigten zeigend.« Die Prosafassung verändert das minimal (»beglückt den Gekreuzigten tragend«) und setzt mit der Antwort der Geliebten einen deutlichen Akzent: »›Vom Kreuz wegtragend‹ – sprach ihre Seele.«67 Die Ausrichtung auf die Seelenthematik ist natürlich auch in der Erstfassung schon gegeben – nicht zuletzt durch den intertextuellen Verweis, als den man die erste direkte Rede des Malers im ganzen Gedicht auffassen muss: den schon zitierten Ausruf »Offenbarung«. Er zitiert den Titel eines Prosagedichts aus den Erlösungen, das hier in jeder Hinsicht einschlägig ist: Da träumte ich von einem Weibeswesen, das ich nicht kannte, einem nie geseh’nen, oft geahnten, seltsam wirklichen. Wir lagen im Taumel der Einheit, und ich schaute dem Wesen in die Augen; bis hinab in die Seele. Und die Seele schien mir wie 66 67
Ibid., 366. Gesammelte Werke, Bd. 7, 96.
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ein Buch, und in dem Buche las ich: Gattenliebe, Sinnlichkeit, − Mutterliebe, Keuschheit, − Menschenthum, Empfänglichkeit, − Wahrheitswille, Beharrlichkeit. Und es war, als ständen diese Eigenschaften vor mir auf zu seltsam wirklichen Gestalten, nie geseh’nen, oft geahnten Weibeswesen; die schlangen einen Reigen. Und obschon Alles voll Bewegung war in diesem Reigen innerlich, genoß ich schauend nur Eines: heitere Ruhe.68
Es ist die Einsicht in die harmonische Vielheit der Frauenseele, die als positive Lösung am Ende des Gesichts steht. Nicht umsonst erinnert der Anfang des Gedichts an die zeittypische Faszination für das tiefgründige Lächeln der Mona Lisa. Es heißt dort vom Maler: »[…] nur Er vermißte in seinen Bildern, / das letzte Rätsel ihres Gesichtes: / Das, warum er sie liebte«: Oh, und nun war’s unmöglich, war es zerstört dies stille lebendige Rätsel, von den Flammen gefressen das Geheimnis ihrer Züge, […]69
Die Frau als Sphinx enträtselt sich in Dehmels Gedicht selbst, indem sie ihren sittlichen Rang enthüllt und den Mann auf eine höhere Stufe der Liebe emporhebt – zu jener »Keuschheit«, die Dehmel in einem Brief an seine Frau Paula als »höhere Sinnlichkeit« und »Sehnsucht der Seelengemeinschaft« umreißt.70 »Das ›Animalische‹ darf zunächst ganz ausgelebt werden, um dann den geistigen Verwandlungskräften zur Basis und zum Material dienen zu können.«71 So hat Monika Fick die Grundfigur beschrieben, die sich immer wieder in der Korrespondenz dieser Autors sowie seiner Liebeslyrik – nirgends deutlicher und programmatischer als im Zyklus Die Verwandlungen der Venus72 – beobachten lässt. Es ist ein Seelenwanderungszyklus im Kleinen, der sich dort von der Venus Pandemos bis zur Venus Urania entfaltet, aber auch hier müsste man richtiger von »Seelenwandlung« sprechen. Die Metamorphose hat die Metempsychose endgültig abgelöst. Gleichwohl fügt sich das Gedicht in den Horizont der Sphinx schon wegen der Dominanz der Seelenproblematik. Waren es doch nicht zuletzt Anregungen von spiritistischer Seite, die Dehmel wie manchen Zeitgenossen (Rilke, Mombert) in der Hinwendung zum »Reich der Seele« (Rathenau) 68 69 70 71 72
Dehmel, Erlösungen, 48 f. Sphinx 7 (1892 / 93), Bd. 15, Heft 84 vom Februar 1893, 362. Dehmel, Ausgewählte Briefe, 51 (an Paula Dehmel, 25. 7. 1891). Fick, Sinnenwelt, 149. Erstmals in: Dehmel, Aber die Liebe, 202 – 251.
Seelenwanderung oder Seelenwandlung?
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bestärkten. Unter der Überschrift Die Entdeckung der Seele durch die Geheimwissenschaften hat Ficks Untersuchung in diesem Zusammenhang vor allem den Einfluss Carl du Prels geltend gemacht;73 Wilhelm HübbeSchleidens Zeitschrift verdiente wohl aus gleichem Grund Hervorhebung. Dehmel jedenfalls wird nach den Bekenntnissen, die er du Prel in seinem Brief vom September 1891 zu den »Rätseln« seines »Seelenlebens« gemacht hat, unbeirrt an der Ausrichtung auf die Seele als Subjekt und ihre Verwandlung als Thema seiner Dichtung festhalten – bis hin zu jenen refrainartigen Trivialisierungen, mit denen die Kapitelenden seines Versromans Zwei Menschen (1903) aufwarten: Und blaß und blasser wehn die Nebel ins Leere. Zwei Seelen segnen ihre Erdenschwere. […] Und Sterne sprießen, soweit die Sonne scheint. Zwei Seelen wissen, was sie eint.74
73 74
Vgl. Fick, Sinnenwelt, 122 ff. Gesammelte Werke, Bd. 5, 149 u. 173.
Orpheus in Modern British and American Self-Reflexive Poetry By Paul Goetsch Introduction In classical times, the protagonist of the Orpheus myth1 was known as a tragic lover, a shaman-like hero who descended to Hades to reclaim his bride, a civilizer who pacified animals and human beings, the founder of the Orphic cult, and a victim of the Maenads, whose head, after his dismemberment, floated to Lesbos, where it temporarily served as Apollo’s oracle. First and foremost, however, he was a poet-musician. This is reflected by the stories circulating about him: (i) Birds and animals came to hear him perform, rivers stayed in their courses, even the rocks and trees came sidling down the mountain. (ii) He took part in the Argonautic expedition and saved the Argonauts from the seductions of the Sirens by outsinging them. (iii) He prevailed upon the infernal powers to release his wife from Hades. (iv) He was assassinated by a party of Thracian women (apparently as the men sat entranced by his music). They cut off his head, but it continued to sing.2
His mythic genealogy underscores his prominent position as a poet-musician. His mother was Calliope, one of the Muses, his father a Thracian King or, as some believed, Apollo, to whom he owed his lyre. In temporal terms, he was the ur-poet, the ancestor of Homer and other poets. In what follows, I focus mainly on British and American poetry of the twentieth century, a corpus of 86 poems by 75 authors.3 The metamor1 Robert Graves, The Greek Myths, Harmondsworth 1955, 111 – 130; Bernhard Huss, »Orpheus«, in: Maria Moog-Grünewald (ed.), Mythenrezeption (Der Neue Pauly, Supplemente 5), Stuttgart 2008, 523 – 538; Ivan M. Lindforth, The Arts of Orpheus, Berkeley 1941. Page numbers in the text refer to the following anthologies: Nina Kossman (ed.), Gods and Mortals. Modern Poems on Classical Myths, Oxford 2001 [abridged as A]; Geoffrey Miles (ed.), Classical Mythology in English Literature, London 1999 [abridged as B]. 2 M. L. West, The Orphic Poems, Oxford 1983, 4. 3 A list is available from the author.
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phoses of the myth over time have been the subject of many studies.4 Its relevance to modern poetry in the English language has, however, been neglected. Apart from the brief thematic survey in Geoffrey Miles’s anthology (B, 70 – 74), critics have dealt with feminist revisions of the Orpheus myth5 and, sometimes, with the Orphic tradition.6 Occasionally, they have discussed how writers defined personal relationships and their experience of loss in terms of the Orpheus-Eurydice story.7 In order to do justice to the wide range of responses to the myth, I distinguish between different approaches and discuss how writers use them to express their views on poetry, its character and functions. I share Hans Blumenberg’s position8 that the attempt to search for the original truth and meaning of a myth is futile. The meanings of a myth unfold in the course of its reception. This reception can be described as a process of retelling and reinterpreting earlier versions, of playing with the story’s elements and thematic implications, comically or seriously, with a mythicizing or demythicizing bias.
4 See, for instance, Heinz Hofmann, »Orpheus«, in: the same (ed.), Antike Mythen in der europäischen Tradition, Tübingen 1999, 153 – 198; Hermann Jung, »OrpheusMetamorphosen: Gestaltung und Umgestaltung eines Mythos im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert«, in: Sabine Coelsch-Foisner, M. Schwarzbauer (eds.), Metamorphosen, Heidelberg 2005, 119 – 139; Claudia Maurer Zenck (ed.), Der Orpheus-Mythos von der Antike bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 2004; Christine Mundt-Espín (ed.), Blick auf Orpheus. 2500 Jahre europäischer Rezeptionsgeschichte eines antiken Mythos, Tübingen 2003; Elizabeth Newby, A Portrait of the Artist: The Legends of Orpheus and Their Use in Medieval and Renaissance Aesthetics, New York 1987; Charles Segal, Orpheus. The Myth of the Poet, Baltimore 1989; Walter A. Strauss, Descent and Return. The Orphic Theme in Modern Literature, Cambridge (MA) 1971; John Warden (ed.), Orpheus. The Metamorphosis of a Myth, Toronto 1985; Julius Wirl, Orpheus in der englischen Literatur, Wien 1913. 5 See Segal, Orpheus, 176 – 188; Helen Sword, Engendering Inspiration, Ann Arbor 1995. 6 See Gerald Bruns, »Poetry on Reality: The Orpheus Myth and Its Modern Counterparts«, English Literary History 37 (1970), 263 – 286 [chiefly on Stevens and Heidegger]; Segal, Orpheus; Elizabeth Sewell, The Orphic Voice: Poetry and Natural History, New Haven 1960. See the cautious assessment of Orphism in West, Orphic Poems, 18 f. 7 For Lawrence and H. D., see Sword, EngenderingInspiration; for Ted Hughes and Sylvia Plath, see Lynda K. Bundtzen, »Mourning Eurydice: Ted Hughes as Orpheus in Birthday Letters«, Journal of Modern Literature 23 (2000), 455 – 469; Anne Whitehead, »Refiguring Orpheus: the Possession of the Past in Ted Hughes’ Birthday Letters«, Textual Practice 13 (1999), 227 – 241. 8 Hans Blumenberg, »Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos«, in: Manfred Fuhrmann (ed.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971, 11 – 66, esp. 28.
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Poetry and the Power of Music Orpheus is an archaic poet who recites or sings his text to the accompaniment of a lyre. As the archetype of the poet-musician, he has, in later times, come to be associated with the opera and the traditional aspiration of poetry to music. This aspiration may be directed toward musical qualities such as meter and rhythm. According to Lawrence Durrell, for instance, Orpheus still inspires poets to turn their verses into a musical shape by making them follow the rhythm of the harp or imitate the natural beating of a sea-bird’s wings.9 The aspiration of poetry to music can, however, go beyond such considerations of musical qualities. As Marc Berley has shown, many writers »return to the dialogue about speculative music begun by Socrates […] – the music of the soul, the harmony of the spheres […].« They claim that the English language, because of its »sweet harmony,« serves as »an instrument of the heavens« (Shakespeare). They speak of »the heavenly tune, which none can hear / Of human mold with gross unpurged ear« (Milton), or express their »yearning, tow’rds some Philosophic Song / Of Truth that cherishes our daily life« (Wordsworth).10 Whatever reading poets have preferred, the musical metaphors characterize poetry as a vehicle of a higher (universal, eternal) truth or at least as a symbol of the possibility of transcendence. Correspondingly, Orpheus is described by Francis Bacon as follows: »[…] Orpheus himself – a man admirable and truly divine, who being master of all harmony subdued and drew all things after him by sweet and gentle measures, – may pass by an easy metaphor for philosophy personified.«11 Like poems about singing-birds (especially nightingales and skylarks), some modern versions of the Orpheus myth make this desire for transcendence their own and treat Orpheus as an artist who commands the power of song necessary for evoking or hinting at a higher reality. They consider his connection to religious cults and to Dionysus and Apollo and mine the classical myth for images and symbols of the power of music and poetry. Among these symbols are Orpheus’ passage through Hades, his transformation of grief into art, and his ability to go on singing after Eurydice’s final death and his own dismemberment. Pointing to such symbols, some 9 Lawrence Durrell, »Orpheus«, in: Collected Poems 1931 – 1974, ed. James Brigham, London 1980, 234. 10 Marc Berley, After the Heavenly Tune. English Poetry and the Aspiration to Song, Pittsburgh 2000, xf. See also Elisabeth Henry, Orpheus with the Lute: Poetry and the Renewal of Life, London 1992, 83 – 100. 11 Quoted from Patricia Vicari, »The Triumph of Art, the Triumph of Death: Orpheus, Spenser and Milton«, in: Warden, Orpheus, 207 – 230, 225.
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modern poems celebrate the magic power of art and suggest that the artist’s creative energy can recover from the experience of death and affirm life. They also intimate that the worlds of the living and the dead are not necessarily opposed to one another. In this context, Rainer Maria Rilke should be mentioned as an important influence on some modern poets writing in the English language.12 J. B. Leishman, one of Rilke’s translators, characterizes the author’s Sonnets to Orpheus as follows: […] they are the record of a vision, or intuition, into what the old Greek philosophers called the Nature of Being. They are the ultimate expression of a long and sustained attempt to regard all phenomena, life and death, man, with all his possible activities and experiences, as parts or aspects of one great timeless cosmological process, or event. On the one hand, we see Rilke trying to penetrate into what Plato called ›the further side of being‹, and on the other hand, we see him returning and proclaiming that all being is one.13
In one of his poems, Stephen Spender, who translated Orpheus Eurydike Hermes and other works by Rilke, compares three ›magicians‹ to one another. He praises Orpheus for enchanting nature, Adam for naming the beasts, and Christ for transforming »endless love / Through agony […] to joyous Hymn.«14 He thus revives the typological approach, which during the Renaissance frequently defined Orpheus as a forerunner of Christ. Other poets prefer to stress Orpheus’ relationship with Apollo and Dionysus. In Orpheus (1962), Muriel Rukeyser begins her account with Orpheus’ dismemberment and ends it with his regeneration and the return of his power to sing. In The Poem as Mask: Orpheus (1968), she distances herself from the first poem by admitting that Orpheus’ experience of being split and unable to compose was actually a description of her own situation. This insight helps her to heal herself and imagine, at the end of the poem, that, like Dionysus and Orpheus, she can also be restored to wholeness: No more masks! No more mythologies! Now, for the first time, the god lifts his hand, the fragments join in me with their own music. (A, 120)
12 See Ralph Freedman, »Wallace Stevens and Rainer Maria Rilke: Two Versions of a Poetic«, in: F. P. W. McDowell (ed.), The Poet as Critic, Evanston 1967, 60 – 80. See also Segal, Orpheus, 118 – 156; Sewell, Voice, 277 – 406; Strauss, Descent, 140 – 216. 13 Rainer Maria Rilke, Sonnets to Orpheus, ed. J. B. Leishman, London 1936, 10. 14 Stephen Spender, »Orpheus: Adam: Christ« (1958), in: New Collected Poems, ed. Michael Brett, London 2004, 280. See also Delmore Schwartz, »Abraham and Orpheus, Be with Me Now«, in: the same, Selected Poems (1938 – 1958), New York 1967, 73.
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The Orpheus myth is thus regarded as both a symbol of the cycle of death and renewal and of the poet’s creative power. Other poets agree. Edith Sitwell’s Eurydice, who resembles Persephone, associates her lover with Adonis and Dionysus, the representative of the »male life force in the fertility tradition« and therefore hopes for a renewal of life.15 According to William Jay Smith, Orpheus speaks of life and death. Though suffering is an important subject of his songs, he is able to charm nature, animals and human beings and console them with images of harmony. Therefore, humans should be prepared to follow in his train, and Earth should awaken and welcome the »god of music« ecstatically.16 Donald Davie remembers Orpheus chiefly as the singer who made the rocks, stones, and trees dance. He finds it difficult to explain Orpheus’ magic, but then suggests that nature simply responded to the singer’s »holy joy« in their existence. While this may be true or not, he hopes that his interpretation of nature’s ecstatic dance is at least plausible.17 A slightly different account is given in a poem by Denise Levertov. One of the trees that has been ›moved‹ by Orpheus’s singing and left its place in the wood, hymns Orpheus’s powerful music that deals with the Dionysian or Orphic cycle of death and rebirth (A, 111 – 115).18 A poem by Lawrence Durrell may serve as an epitome of the works so far discussed: Orpheus Orpheus, beloved famulus, Known to us in a dark congeries Of intimation from the dead: Encamping among our verses – Harp-beats of a sea-bird’s wings – Do you contend in us, though now A memory only, the smashed lyre Washed up entangled in your hair, But sounding still as here, O monarch of all initiates and The dancer’s only perfect peer? 15 Segal, Orpheus, 179. See Edith Sitwell, »Eurydice«, in: the same, Collected Poems, London 2006, 267 – 270. 16 William Jay Smith, »Orpheus« (1951), in: the same, The World Beyond the Window. Poems 1937 – 1997, Baltimore 1998, 47. 17 Donald Davie, »Orpheus«, in: the same, Collected Poems, Manchester 1990, 283. 18 See M. Kallet, »Moistening Our Roots with Music: Creative Power in Denise Levertov’s ›A Tree Telling of Orpheus‹«, Twentieth Century Literature 38 (1992), 395 – 323.
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In the fecund silences of the Painter, or the poet’s wrestling With choice you steer like A great albatross, spread white On the earth-margins the sailing Snow-wings in the world’s afterlight: Mentor of all these paper ships Cockled from fancy on a tide Made navigable only by your skill Which in some few approves A paper recreation of lost loves.19
With the exception of the Argonaut expedition, Durrell alludes to the major events of the Orpheus myth. Though Orpheus nowadays is a »memory only,« he is still of great importance for modern writers. He is present in their verses and is responsible for their musical qualities, especially their rhythm. Since he also influences the choices writers make, he is the mentor of poets, the archetypal artist who has made the sea (language) navigable for the paper-boats (texts) his successors produce. Moreover, he is the »monarch of all initiates,« that is the members of his craft and perhaps those who have been initiated into the Orphic mysteries. That he is also compared to a great albatross can be read as an intertextual link to Coleridge’s The Rime of the Ancient Mariner and Baudelaire’s L’albatros. In Baudelaire’s poem, the albatross, once it is caught by the sailors, comes to stand for the image of the poet as a despised outsider. In Coleridge, the killing of the albatross marks the mariner’s alienation from nature. Durrell seems to be aware of such negative interpretations, but clings to his positive evaluation of Orpheus-as-albatross. Given the example of Orpheus’ skill, he believes, some writers may even succeed in recreating a tragic love story in an aesthetically pleasing manner. The life-affirming optimism or hope expressed by the works discussed in this section is typical of relatively few poets. Quite a number, however, have turned to the love story and Orpheus’ attempt to win his beloved back to life. Poetry and the Tragic Experience In ancient versions or references to the myth, for instance, in Euripides’ Alcestis, Orpheus succeeds in resurrecting his wife. So he does in a few later texts, including the fourteenth-century English Sir Orfeo.20 In most early 19
Durrell, Poems, 234.
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texts, however, Orpheus fails to reclaim Eurydice from Hades. According to Plato’s Symposium, the gods charged Orpheus with contriving to enter Hades alive and criticized his lack of courage; they sent him away with a phantom of the woman for which he had come. Other texts, including the popular versions by Ovid and Virgil, offer different explanations, but tend to see Orpheus as a character in a tragedy who attempts to bring back his beloved to life, almost succeeds, but loses her again and is ultimately defeated. As a rule, those modern poems which emphasize the tragic aspects of the love relationship depict Hades as a classical underworld and conceive of the action as a series of tests the protagonist has to undergo. While the first phase of the story, Orpheus’ marriage and Eurydice’s death, is usually taken for granted, the first test, Orpheus’ descent into the underworld, has fascinated some poets.21 The hero’s challenge to Hades illustrates the power of his music as well as his self-confidence. At the same time, his chuzpe may point forward to the revelation of his tragic blindness, his lack of awareness that death is ultimately all-powerful. For some poets, the climax of the mythical story is reached when Orpheus looks back and thus violates Pluto’s condition for Eurydice’s release. Orpheus’ decision and tragic mistake, which cause the catastrophe, are explained and evaluated in a number of ways. Thomas Merton defines one aspect of the characters’ dilemma as follows: Eurydice Eurydice is impossible If Orpheus looks away Eurydice doubts and weeps If Orpheus looks at her Eurydice dies (A, 105).
Whereas Rod Wooden blames coincidence for the fatal turn (Orpheus, A, 106), Jorie Graham describes the ascent to the upper world in detail and stresses that Orpheus and Eurydice have become strangers to one another (Orpheus and Eurydice, A, 104 – 105). So does William Bronk: The Look Back When Orpheus and his Eurydice walked up from the underworld, they thought 20 See Peter Dronke, »The Return of Eurydice«, Classica et Mediaevalia 23 (1962), 198 – 215. 21 See, for instance, Louis Simpson, »Orpheus in the Underworld« (A, 107 f.); W. D. Snodgrass, »Orpheus«, in: the same, Heart’s Needle, New York 1966, 8 – 11.
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of the light up there, how beautiful it was, how much they longed for, needed it; but even so, they’d been a long time in the dark, too long. They’d learned it needed them. (A, 105)
During the ascent from Hades, Cecil Day Lewis’ Eurydice is held to Orpheus by his »melody,« which celebrates the energy of and delight in life. By the time they approach the threshold to the world of the living, the »steady / Pulsing of Orpheus’ song« has grown faint within her. She has become accustomed to the underworld and finds death a »habit too strong / For her to break.«22 When Orpheus turns his head, he catches only a glimpse of her ghost. He is bitterly disappointed and feels mocked by the rulers of Hades. By contrast, Suyatta Bhatti’s Orpheus blames his lack of faith in both Eurydice and the power of his singing for his failure. He also admits his fear that the furies would not let Eurydice go. In spite of his selfcriticism, he is optimistic enough to believe that his voice will become both stronger and purer.23 John Hollander’s Orpheus arrives at the opposite conclusion. He learns from his failure to liberate Eurydice that his art is no longer as effective as it used to be. Since it neither reaches down to Hades, nor makes trees, animals, and humans dance, Orpheus longs to forget both his lyre and his love: I wait For my cracked lyre to crawl away In silent tortoise-hood some day, For love to waddle off like hate.24
By contrast, W. D. Snodgrass’ Orpheus accepts mortality and therefore understands why Eurydice does not follow him to the upper world: It was the nature of the thing: No moon outlives its leaving night, No sun its day. And I went on Rich in the loss of all I sing To the threshold of waking light, To larksong and the live, gray dawn, So night by night, my life has gone.25 22 Cecil Day Lewis, »The Revenant«, in: the same, The Complete Poems, London 1992, 374 – 376. See also C. H. Sisson, »Eurydice«, in: the same, Collected Poems, Manchester 1998, 91 f. 23 Suyatta Bhatti, »Orpheus Confesses to Eurydice«, in: the same, The Stinking Rose, Manchester 1995, 86 f. 24 John Hollander, »Orpheus Alone«, in: the same, In Time and Place, Baltimore 1986, 24. 25 Snodgrass, »Orpheus«, 11.
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Several writers comment on the climactic scenes consistently from Eurydice’s perspective. Peter Davison’s Eurydice is able to hear Orpheus’ singing in the upper world and expects him to come and take her away. She does not intend to follow him, though; she plans to frustrate his efforts and dance away laughingly rather than cross the threshold to the upper world. For one thing, Hades has become her home. More importantly, she would prefer to be rescued not by a poet with flabby muscles but by a real man who would have kept the countryside free of snakes and prevented her death (Eurydice in Darkness, A, 109). Unlike Davison, some feminists choose Eurydice’s perspective in order to question Orpheus’ status as a tragic hero and characterize him as an aggressive, reckless male poet. The American poet Alta writes: All the male poets write of Orpheus As if they look back & expect To find me walking patiently Behind them. They claim I fell into hell. Damn them, I say. I stand in my own pain & sing my song. (B, 71)
Margaret Atwood sympathizes with Orpheus’ suffering, but explains his failure to rescue Eurydice with the egotism of his passion. Instead of loving the real woman, he loves her as a reflection of his needs (B, 183 – 186).26 H. D.’s Eurydice criticizes the arrogance and ruthlessness with which Orpheus »swept« her »back« to hell (B, 159) and, more generally, attacks »the divisive violence of heterosexual and male passion.«27 She struggles for independence and the recovery of her wholeness, but has to come to terms with both death and hell first. This is what Adrienne Rich’s Eurydice has succeeded in doing; though she rebels against the authorities occasionally, she is a self-confident member of the underground world and much stronger than Orpheus. Boasting that she is acquainted with the Hell’s Angels, she drives Orpheus around within Hades. When he leaves her at the gate, she is not hurt, because for her the power struggle is far more important than the love relationship, as the poem’s title I Dream I’m the Death of Orpheus indicates.28 Some poets use the tragic denouement to define their attitude toward Orpheus’ fate. In Stanley Kunitz’ poem In a Dark House, Orpheus is exSee Segal, Orpheus, 186. Segal, Orpheus, 171. 28 Adrienne Rich, Collected Early Poems 1950 – 1970, New York 1993, 367. For the influence of Cocteau’s film Orphée, see Segal, Orpheus, 184 f. 26 27
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pecting the Maenads to storm his house and kill him. He is painfully aware that he is no longer adored by the people and that the time when he was the king of carnival and the leader of a minstrel band is over. He asks himself whether he would be able to go to Hades a second time and negotiate another reprieve for Eurydice. He lives through the horrible scene again when he turned and Eurydice was whisked away to the underworld. Remembering the »black pennies of her defeated eyes« and the »ravaged face of all farewells,« he can no longer justify his behavior, nor believe in the power of music, and accepts his fate: How could he deny that frenzied mob, not to be assuaged except by blood, when his own heart cried worse? He listened for the trampling on the stairs.29
In a way, his identity had been destroyed before he was dismembered by the female followers of Dionysus. In a poem dedicated to the memory of Hart Crane, Yvor Winters singles out the beheading scene for special attention. He calls the music produced by Orpheus’ head »unmeaning« and thus suggests that Orpheus’ »immortal tongue« cannot transform all suffering into art.30 Roy Fuller concentrates on the last phase of Orpheus’ life. Orpheus’ head, the speaker of the poem, has landed on Lesbos and is forced to lie in a cave and predict the political future. As a prophet of doom, he still has some power, but he regrets that he cannot play his lute any longer. Nostalgically, he remembers the »body’s happiness and pain,« its wholeness as well as its harmony with nature that made trees, flowers, and human beings dance.31 David Gascoyne focuses on the time after Orpheus’ death. In the underworld Orpheus sleeps most of the time. Occasionally, however, he tries to speak in his dreams about his experiences, especially about the »soaring flights of thought beneath the sun.« His words are »bewildered« and reveal that the world of the living is so far removed from his present situation that he cannot speak coherently: And the distant sea was faintly heard, From time to time in the suddenly rising wind, Like broken song.32 29 Stanley Kunitz, »In the Dark House« (1992), in: the same, The Collected Poems, New York 2000, 253 – 255, 255. 30 Yvor Winters, »Orpheus«, in: the same, Collected Poems, Manchester 1978, 142. 31 Roy Fuller, »Orpheus Beheaded«, in: the same, New and Collected Poems 1934 – 84, London 1984, 252 f.
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Orpheus’ situation resembles that of Eurydice in a poem by the Australian poet Judith Wright. Long after the events narrated in the myth, Eurydice is condemned to walk the clay corridors of Hades. She still believes in the power of song and sometimes seems to hear Orpheus’ singing. That he once came down to Hades to lead her back to the world above is remembered as a dream rather than a fact. In all, she believes that his »all-creating, all-redeeming song / fades as the daylight fades.«33 Like Gascoyne, Wright concludes that the power of music over death is ultimately an illusion. As the examples illustrate, the poets are not in agreement as to whether they should treat the story as a tragedy or not. Another approach, the attempt to interpret the action as a poet’s work of mourning, also leads to contradictory results. Art and the Work of Mourning Some poems draw upon the Orpheus myth to deal with two problems, the poet’s experience of loss and grief and his attempt to create a work of art out of his suffering. The two problems are closely related. As psychoanalytic studies of classical versions of the Orpheus story have shown,34 the work of mourning (›Trauerarbeit‹) corresponds in several points to poetic creation (›Kunstarbeit‹).35 Typical of the first phase of these two processes are Orpheus’ excessive grief and his apathy as a singer.36 The second phase begins with his descent to the underworld. Not yet able to accept Eurydice’s death emotionally, he searches for her, as though she were still alive. Psychologically speaking, he regresses into his subconscious and temporarily disregards the »borderline between the living and the dead.«37 As a poet, he also turns inward. His still excessive grief vents itself in laments that make the inmates of hell pity him. His emotion-based 32 David Gascoyne, »Orpheus in the Underworld«, in: the same, Collected Poems 1988, Oxford 1988, 75. 33 Judith Wright, »Eurydice in Hades«, in: the same, Collected Poems 1942 – 1985, Manchester 1994, 264 f. 34 See Eberhard Haas, »Orpheus und Eurydike. Vom Ursprungsmotiv des Trauerprozesses«, Jahrbuch für Psychoanalyse 26 (1990), 230 – 252; R.-G. Klausmeier, »Der Mythos von Orpheus«, Jahrbuch für Psychoanalyse 18 (1986), 177 – 194. 35 ›Kunstarbeit‹ is a term E. Kris uses in Die ästhetische Illusion, Frankfurt a. M. 1977. 36 See, for instance, Norman MacCaig, »Any Orpheus«, in: the same, Collected Poems, London 1985, 68. 37 Haas, »Orpheus«, 251.
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hope or illusion that he can reclaim Eurydice from Hades is destroyed when he looks back. If looking back means remembering, what he takes with him to the upper world is only a memory or, in the terminology of some poems, no one, a ghost, or a fading representation.38 Eberhard Haas writes, »[b]y memory work he kills the beloved inner object once more in the way that remembering is equal to an act of destruction. In this painful inner and outer operation the identity of the bereaved changes, he becomes a widower.«39 Once the border between life and death is reestablished, he assumes control of the mourning process and regains the distance necessary for creating a work of art which justifies the belief that great art may come out of grief. In »Orpheus« (1991), the Australian writer A. D. Hope outlines important stages in Orpheus’ development. As a young man, the poet relied on »the keen / Edge of his own perception of the light« and composed »Effortless music.« Much later in life, after Eurydice’s death, he came to know the »ultimate measure of menace and of dread / The world may hold for each of us store.« To express this experience, he turned to another kind of music, the music that made hills and beasts and trees dance and caused Dionysus’ female followers to kill and dismember him. The Maenads, however, were not able to silence him: His severed head still sang ›Eurydice‹ And ever since that fatal song goes on Sure sign that the heart’s burden reached his lips And poets renew its deathless harmony. (B, 191)
In Orpheus, a poetry collection, Hope quotes the following lines from Rilke’s Sonette an Orpheus (1.3.5 – 7) as a motto: Gesang, wie du ihn lehrst, ist nicht Begehr, Nicht Werbung um ein endlich noch Erreichtes; Gesang ist Dasein. (For song, as taught by you, is not desire, not wooing of something finally attained; song is existence.)40 38 See Elaine Feinstein, »The Feast of Eurydice« (1980), B, 177 – 183, 178; Elizabeth Jennings, »Orpheus«, in: the same, Collected Poems 1953 – 1985, Manchester 1986, 130; Donald Justice, »The Artist Orpheus«, in: the same, New & Selected Poems, New York 1996, 4; George Macbeth, »To Eurydice in Hell«, in: the same, Collected Poems 1958 – 1982, London 1989, 121 – 125, 124; Edwin Muir, »Orpheus’ Dream«, in: the same, The Complete Poems, ed. Peter Butter, Aberdeen 1991, 200 f.; Snodgrass, »Orpheus«, 111. See above for Plato’s assumption that Orpheus is followed by a phantom of the woman he loved. 39 Haas, »Orpheus«, 251.
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Like Rilke, Hope has been said to be an »Orphic poet« who believes »that poetry is the celebratory transformation of nature into song.«41 Some poets call the close relationship between the work of mourning and poetic creation into question. The Canadian writer Irving Layton dislikes the idea that poets can »finer sing / For someone’s suffering.« Nevertheless he concludes: […] the poet’s heart Has nowhere counterpart Which can celebrate Love equally with Death Yet by its pulsing bring A music into everything42
The issue raised by Layton’s short poem is taken up by John Ashbery’s Syringa. Overwhelmed by grief, Ashbery’s Orpheus cannot cope with his emotions and refuses to accept mortality.43 His »song of total lament« disregards »the boundaries between art and life.« Hence, he becomes, as Segal puts it, a »figure of contradiction and paradox«: »The poet is a craftsman, an architect of song; he ›thinks constructively‹ and ›builds up his chant in progressive stages […].‹ But the intensity of loss that the poem seeks to recover is a self-annihilating darkness, effacing the very world that the poem would create.«44 Basically the same problem preoccupies the protagonist in D. M. Thomas’ Orpheus in Hell. After his descent, Orpheus wishes to curry favor with the lords of hell by writing an ode in praise of death: He dragged in a writing-desk, He sharpened a pencil, laid out a sheet Of white paper, and made himself sit.
For a long time, however, his struggle with the »hideous blank paper« is in vain (A, 103). Images of Eurydice, as she was in real life, distract him, words praising her beauty rather than the power of death come from his lips. Finally, he manages to scrawl some lines for the masters of hell, who then 40 Because of some mistakes in Hope’s version, I quote both the German and the English texts from Leishman, Sonnets, 40 f. 41 Kevin Hart, »Sexual Desires, Poetic Creation«, Raritan 12 (Fall 1992), 28 – 46, 29. 42 Irving Layton, »Orpheus«, in: the same, Collected Poems, Toronto 1971, 150. 43 See John Ashbery, Selected Poems, New York 1985, 245 – 247. See also Robert Graves, »Eurydice«, in: the same, New Collected Poems, Garden City 1977, 195. 44 Segal, Orpheus, 192. See David Lehman (ed.), Beyond Amazement. New Essays on John Ashbery, Ithaca 1980, esp. 255 – 271.
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decide to keep him and let her go. She is saved, in the sense of having been immortalized in his poetry: She rose to life with a whole notebook of poems That had seeped like immortal living gum Out of the dead wood of his death ode, And every morning she ran it through In her memory, and every night, So that the trees and rocks still moved with it. (A, 103)
In the sonnet Orfeo (1951), James Merrill also emphasizes Orpheus’ emotionality. Unlike Ashbery, he attributes it to the singer’s performance. Perhaps having an operatic version of the myth in mind, he has Orpheus use hell as a stage for exhibiting his »opulence of pain.« When Orpheus catches a glimpse of Eurydice sitting in one of the theatre boxes, he divines – »sickening« but with an »odd thrill« – that »within his music of rise and fall« her loss becomes perpetual.45 Since Merrill concentrates on the descent to Hades and refuses to detail the processes of mourning and creation, he stresses the artist’s egotism, a theme taken up by a number of poems. In Elaine Feinstein’s The Feast of Eurydice (1980), Eurydice reviews her relationship with Orpheus after his death at the hands of the Maenads. She still loves him, likes to remember their singing together, and is convinced that in his song she was »changed and reborn« and made »whole« (B, 180 f.). On the other hand, she has not forgotten that she suffered under his male possessiveness and regarded his attempt to drag her out of the grave as a violation of nature. From her perspective, he was a disciple of Apollo, »the cold one« (B, 181); he represented reason, order, self-control and did not respect feminine qualities such as intuition and emotion (cf. B, 71). In the underworld, to which they now belong, they are about to »forget Apollo’s day« and the principles for which he stands. Since death is eradicating the differences between Orpheus and her, they can now begin their »one true marriage« (B, 183). The egotism of the poet which precludes a successful work of mourning and creation is also the subject of poems dealing with the hell episode. In Rolfe Humphries’ Fragment of a Legend (1965), the Lord of Hell listens to Orpheus’ plea to let Eurydice go. As a wise and ironic god, he knows that »out of loss alone the great songs rise« and that a poet, who has free choice, will prefer his work of art over his lover (B, 170). He is proven right when 45 James Merrill, Collected Poems, ed. J. D. McClatchy, Stephen Yenser, New York 2001, 97.
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Orpheus breaks the taboo, looks back, and forsakes Eurydice. In Ian Crichton Smith’s Orpheus (1974), Pluto explains Orpheus’ powerful singing with his experience of loss. Instead of permitting Eurydice to leave, he sends Orpheus to twentieth-century slums, where his »vision of ‘the human / invincible spirit« may have a beneficial effect (B, 73). Orpheus in the Demythicized Contemporary World The poems which have been discussed so far offer positive and negative, traditional and modern readings of the Orpheus myth. Though some of them occasionally introduce surprising anachronisms and condense or transform the plot in various ways, they work with the epic apparatus typical for mythic stories – with characters from different worlds (Orpheus, Eurydice, Apollo and Dionysus), settings like Hades and Lesbos, and events like ritual murder, the descent to another world, etc. One group of poems, however, does largely without such trappings. It replaces the mythic underworld with a modern wasteland, an urban environment, the underground railway, or a hospital.46 It prefers everyday situations, for instance, the short-term separation of lovers, to actions of a mythic dimension, and turns the characters into modern citizens. Frequently, a few allusions, say, to Orpheus’ name or the climactic episode of looking back, suffice to link the work to the Orpheus myth. Two poems by Donald Justice may serve as illustrations. In The Artist Orpheus, Justice repeats the familiar charge that artists care above all about their art. When descending into Hades, Orpheus is reminded of his childhood home Florida. In hell he acts as a sort of disc jockey, playing music by Ravel and singing his own songs. He neither talks directly about his feelings nor mentions Eurydice by name, and is not sure about what happened when he looked back. He casts doubt upon the mythic events and seems to worry chiefly about the formal problems of successful storytelling: The Artist Orpheus It was a tropical landscape, much like Florida’s, which he knew. (Childhood came blazing back at him.) They glided across a black
46 See, for instance, Richard Church, »Latter-Day Eurydice«, in: the same, Collected Poems, London 1948, 160 f.; Denis Devlin, »A Dream of Orpheus«, in: the same, Collected Poems, ed. J.C.C. Mays, Dublin 1989, 217 – 219; Lauris Edmond, »Orpheus without Music«, B, 176; Peter Porter, »Landscape with Orpheus«, in: the same, Collected Poems, Oxford 1984, 309 f.; Snodgrass, »Orpheus«.
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And apathetic river which reflected nothing back Except his own face sinking gradually from view As in a fading photograph. Not that he meant to stay, But, yes, he would play something for them, played Ravel; And sang, and for the first time there were tears in hell. (Sunset continued. Years passed, or a day.) And the shades relented finally and seemed sorry. He might have sworn that he did not look back, That there was no one following on his track, Only the thing was that it made a better story To say that he had heard a sigh perhaps And once or twice the sound a twig makes when it snaps.47
In the second poem, Orpheus Opens His Morning Mail, Justice carries modernization a step further. In comparison with the first poem, he reduces the number of overt allusions to the Orpheus myth. More importantly, he turns Orpheus into a vain and cynical writer. Going through his mail, the poet curses the bills sent by »the mapmakers of hell, the repairers of fractured lutes, the bribed judges of musical contests, etc.« He mentions, but does not comment on, a note to his wife, marked »Please Forward.« He waxes enthusiastic over a group photo of some of his fans. An invitation to a festival makes him imagine his performance in a manner closer to a rock concert than a poetry reading. This flattering fantasy is stopped short by his sudden fear that the shrieks of his fans are not adequately described as a sign of »perverse gentility« (A, 118). Here, Justice may have Orpheus’ dismemberment by the followers of Dionysus in mind. Justice’s poems draw attention to three tendencies characteristic of modernizations of the Orpheus myth: firstly, criticism directed against the excessive grief connected with the tragic love story; secondly, doubts about the mythic or symbolic roles and functions of poetry and music; thirdly, a more realistic and disillusioned attitude towards the singer or writer. Given modern sexual mores and the impermanence of relationships, lovers may still have to suffer, but only rarely achieve tragic stature. In Stephen Spender’s No Orpheus, No Eurydice, the speaker, who has been left by his partner for another man, tries in vain to find her among the tourists on the seaside.48 In Seamus Heaney’s The Underground, a couple is late for the proms at the Albert Hall. They take the Tube, lose their way at an empty station, and hurry on. The man runs in front and is determined not 47 48
Justice, »Artist«, 4. Spender, Poems, 158 – 160.
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to look back. The couple can only play at being Orpheus and Eurydice attempting to get to the upper world. The Orpheus myth, like other mythic parallels of which the speaker of the poem is aware, serves as a subjective and comic analogue to everyday experience.49 In Biography Orpheus-Apollo (1939), George Barker offers an idiosyncratic version of the processes of mourning and creation and approaches his mythic material in a playful spirit.50 The poet is walking down Kensington High Street and fantasizes that he once met Spenser and Wordsworth and that his grandfather Dante joined Virgil on a tour through hell. Suddenly, Orpheus-Apollo seems to take his arm and ask him to accompany him to Notting Hill. On the way, Orpheus-Apollo continuously addresses him as his double, one of the many poets who are his successors. He talks about his life and his suffering and confesses that he seeks death in Notting Hill, because the artists and other outsiders living there would no doubt honor him with songs and sketches of his life. At the end of the poem, the speaker believes that he sees Orpheus-Apollo die. In a psychological reading, the speaker copes with his own depression by remembering the myth of Orpheus and other stories and projecting his negative mood on the archetypal poet and sufferer. At the same time, he uses his imagination and power of invention to innovate tradition and deal with problems creatively, even humorously. Whereas Barker avoids indulging in excessive grief, Kenneth Rexroth remains distanced from the enthusiasm and emotionality of the poems dealing with the power of music and Orphic ideas. In The Orphic Soul, he casts an experience suggesting the harmony between man and nature into the form of a subjective epiphany: As I walk slowly along The sun flecked wood road, a large Fritillary comes to rest On my naked shoulder, then Flies in a little spiral And comes back again and Again to my shoulders and Arms, fluttering over me Like the souls on Orphic tombs. This never happened to me Before, and I feel my flesh Has suddenly become sweet
49 50
813.
Seamus Heaney, New Selected Poems 1966 – 1987, London 1990, 146. See George Barker, Collected Poems, ed. Robert Fraser, London 1987, 811 –
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With a metamorphosis Kept secret even from myself.51
To turn to the second tendency mentioned above, doubts about the exalted rank of Orpheus’ poetry and music are the subject of some other works. Two of Paul Goodman’s poems deal with Mozart and wonder why this angel-like composer would create music that hints at suffering, death, and hell. The speaker in Mozart’s Concerto in D-Minor admits that he lacks Mozart’s experience and cannot do justice to the »real troubles« of people.52 In Orpheus and Mozart, the second poem, Orpheus praises the »Sinfonia Constante in E-flat,« but criticizes Mozart’s violation of classical decorum and his habit of dealing with problems and facts that cannot be remedied. He tells the »young man« not to terrify and alienate his audience and advises him that it is »best to imagine wordless dances for Apollo.« Mozart retorts: »Nor is it by choice that I rejoice in panic. I cannot breathe, I know how I shall shortly die, It has me by the throat, in the death rattle I am simply gasping out, croaking, these songs.«53
Mozart, then, knows more about the dark side of life and art than Goodman’s Orpheus, and yet he is more reticent and less emotional than many other Orpheus figures. The third tendency, a more realistic and less respectful characterization of Orpheus as a poet-musician, draws upon comparisons with contemporary writers and singers. For Alan Dugan, Orpheus is a »prig, like Rilke, and as dangerous / to women.« He talked and talked, and sang and sang too much. It is true that he tamed Dionysus and taught the Greeks »to pray for heaven, godhood, and himself«, but eventually, even Apollo got tired of Orpheus’ talking head and shut it off (A, 121 f., 121). In Orpheus Street, SE 5 (1967), Michael Hamburger relocates the myth in the Swinging London of the 1960s. Echoing Rilke’s lines »Ein für alle Male / ists Orpheus, wenn es singt« (»Once and for all, it’s Orpheus when there is singing.«), he portrays Orpheus as a protest singer and a composer of songs about love and peace (B, 171 f.). In The Story of Orph (1985), John Heath-Stubbs uses the classical myth as a standard against which to measure the story of a rock star’s career in the 1980s (B, 187 – 190). Whereas HeathStubbs focuses on the commercialization of music and the degeneration of 51 52 53
Kenneth Rexroth, The Collected Shorter Poems, New York 1966, 266. Paul Goodman, Collected Poems, ed. Taylor Stoehr, New York 1977, 320. Ibid., 321 f.
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the myth in his time, Hamburger casts doubt on Orpheus’ traditional role as a peacemaker and civilizer and questions the effect his music has on the public. The idea that Orpheus has a positive influence is ridiculed in a short poem by Jack Gilbert: Orpheus in Greenwich Village What if Orpheus, confident in the hardfound mastery, should go down into Hell? Out of the clean light down? And then, surrounded by the cloying beasts and readying his lyre, should notice, suddenly, they had no ears?54
From a feminist perspective, Sandra Gilbert sympathizes with one of the Maenads, her dislike of the »swaggering bastard with his silver lute« and her hatred of his »manly anthem« that would silence both nature and women (Bas-Relief: Bacchante [1989], B, 186 f.). Conclusion In his important study Orpheus: The Myth of the Poet, Charles Segal observes, »[m]odern writers are drawn to the myth for very different reasons […] and make of it very different things. Sometimes the myth yields diametrically opposite messages.« At the end of his book, however, he answers the question of how the myth will »continue its life in the poems of generations to come« as follows: It offers the creative artist the power to feel his art as a magic that touches sympathetic chords in all of nature and puts him in touch with the thrill of pure life, pure Being. The myth of Orpheus is the myth of the ultimate seriousness of art. It is the myth of art’s total engagement with love, beauty, and the order and harmony of nature – all under the sign of death.55
54 Quoted from Robert A. Wallace, James G. Taaffe (eds.), Poems on Poetry. The Mirror’s Garland, New York 1965, 142. See also Jack Gilbert, »Finding Eurydice«, A, 117 f. 55 Segal, Orpheus, 197, 198.
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Given the myth’s longevity, one can expect future generations to use Orpheus’ story again for defining the character and functions of poetry and the role of the poet. How they will do it and which positions they will take on various issues is, however, an open question. In the light of the history of the myth’s reception, especially in the twentieth century, Segal’s prediction is problematic. In ancient times, as Segal himself has pointed out, Orpheus was »a complex, multifaceted figure.«56 Hence, his story invited different and sometimes contradictory representations. A case in point are the very popular narratives by Virgil and Ovid.57 Many generations and many metamorphoses of the myth later, twentieth-century poets faced a situation which resembles that of Segal’s future generations: They were at least to some extent aware of the myth’s varied reception history and its popularity across literary genres (poetry, drama, fiction) and media (opera, theatre, film, sculpture, painting).58 Some responded by retelling the story from an already familiar angle, for instance, that of tragedy or the psychology of mourning. Others felt the pressure to say something new. They criticized traditional approaches and gave a new twist to old themes. Some poets challenged tradition more radically. Feminists focused on Orpheus’ male egotism and his male conception of art. Perhaps under the influence of the New Criticism, some writers called Orpheus’ emotionality into question. Others used the myth to comment on the banalization of modern popular culture. Still others played with the myth’s elements and cast doubt on its relevance for the present. Quite a number of writers turned against the traditional glorification of Orpheus and his art and preferred to treat such images as the dismembered artist. In this context, it is worth mentioning that The Dismemberment of Orpheus is the title of a book which the critic Ihab Hassan wrote about postmodernism. To return to Segal’s argument, of course there were some poets who asserted the magic ability of poetry to put man in touch with the essence of life and death. But there were others who, when writing about Orpheus, Ibid., 1. See Renate Schlesier, »Orpheus, der zerrissene Sänger«, in: Armen Avanessian, Gabriele Brandstetter, Franck Hofmann (eds.), Die Erfahrung des Orpheus, München 2010, 45 – 60. 58 See ibid. See also Rainer Schönhaar, »Auf der Spur des Orpheus in Dichtung, Drama und Film, Musik- und Tanztheater des 20. Jahrhunderts«, in: Peter Csobàdi (ed.), Antike Mythen im Musiktheater des 20. Jahrhunderts, Anif / Salzburg 1990, 335 – 374; Wolfgang Storch (ed.), Mythos Orpheus. Texte von Vergil bis Ingeborg Bachmann, Stuttgart 2010. 56 57
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felt that they lived in benighted times, in a demythicized modern world. They knew that it would be difficult indeed to write against the world depicted, say, in T. S. Eliot’s The Waste Land and compose what William Carlos Williams called »desert music.«59
59 See his long poem The Desert Music (1954); Sherman Paul, The Music of Survival: A Biography of a Poem by William Carlos Williams, Urbana 1968.
KLEINER BEITRAG
Mallarmés Sainte: Formbindung Von Manfred Lossau Bernardo König elegantiarum arbitro octogenario »Gefürchtet und berühmt ist die Dunkelheit seiner Lyrik«, konstatiert der kongeniale Interpret Hugo Friedrich, und nennt, seinerseits bekennerhaft, Mallarmés Dichtung das »rätselhafte, abgekehrte Werk.«1 Dieses Urteil teilen die Mallarmé-Exegeten quasi unisono – entgegen der Selbsteinschätzung des Dichters: Je ne suis pas obscur, du moment qu’on me lit pour y chercher ce que j’énonce plus haut, ou la manifestation d’un art qui se sert … du langage.2 Gleichermaßen unbestritten ist die Formstrenge mallarméscher Gebilde. Die Prädikate dunkel und formstreng scheinen im Widerspruch zu stehen; Friedrich spricht vom Kontrast der strengen Form »zu den verschwebenden Gehalten«, sieht, andererseits, in der Formbindung den notwendigen »Halt« für dieser Art Lyrik.3 Worin aber besteht die Formbindung? Im Wahren eines Prinzips, das die Texte »untadelige« sein läßt, im Respektieren einer »Konvention metrischer, reimtechnischer, strophischer Gesetze?«4 Diese Trias scheint erweiterungsbedürftig um den – freilich mehrdeutigen – Begriff Struktur. Das nahezulegen, dürfte in hervorragender Weise ein Gedicht geeignet sein, das dem Leser wie dem Hörer als eines der strukturstrengsten der neueren Dichtung erscheinen kann: das vierstrophige, aus sechzehn Achtsilblern komponierte Sainte. 1 Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, 4. Aufl. der erw. Neuausgabe, Hamburg 1971, 95. 2 Brief an Edmund Gosse, in: Stéphane Mallarmé, œuvres complètes, éd. B. Marchal (Bibliothèque de la Pléiade 65), Paris 1998 (im Folgenden: B. Marchal), 807. 3 Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, 115. 4 Ibid., 114 f. mit 98.
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À la fenêtre recélant Le santal vieux qui se dédore De sa viole étincelant Jadis avec flute ou mandore, Est la Sainte pâle, étalant Le livre vieux qui se déplie Du Magnificat ruisselant Jadis selon vêpre et complie: À ce vitrage d’ostensoir Que frôle une harpe par l’Ange Formée avec son vol du soir Pour la délicate phalange Du doigt que, sans le vieux santal Ni le vieux livre, elle balance Sur le plumage instrumental, Musicienne du silence.5
Inhaltlich ist diese Komposition gekennzeichnet durch einen permanenten Prozeß der Wirklichkeitsverminderung, vom Entäußern und Entfärben des Stofflichen zu Beginn bis zum Enttönen des Klanglichen am Ende. Diesem Verschweben scheint die syntaktische Form zu entsprechen. Denn die ist ihrerseits gleichsam entformt, insofern sie, aufs Ganze gesehen, aus einem einzigen unvollständigen Satz besteht, – worauf einerseits der in den Ausgaben gesetzte, allerdings mehrdeutige Doppelpunkt hinter der zweiten Strophe hinweist, und was sich andererseits darin bestätigt, daß die ganze zweite Dyade, gleichsam anhangbildend, die mit Vers 8 erreichte formale Abgeschlossenheit ruiniert. In solchem Betracht wird von Formstrenge nicht bedingungslos die Rede sein können. Strenge herrscht indes sehr wohl, und zwar höchstgradig in einer Art Organisation der Einzelteile, die ihrerseits als Struktur bezeichnet werden darf. Es ist ein balanciertes – um ein Wort aus der dritten Strophe zu benutzen –, ein möglichst genaues Aufeinander-Abgestimmt- und Bezogensein der syntaktischen Elemente. Das Gerüst bilden zwei Strophendyaden. Diese sind, Voraussetzung aller inneren Feinabstimmungen, fest miteinander verbunden, und zwar gleich auf drei Arten, zwei formale, eine inhaltliche. Die umfassende Bindung bewirkt die – freilich klärungsbedürftige – Tatsache des vom ersten bis zum letzten Wort sich erstreckenden einzigen, als eines solchen unvollständigen Satzes. Punktuell verbindet eingangs der zweiten Dyade die Wiederholung der adverbialen Bestimmung gegenüber dem Artikel zu Beginn der ersten: 5
Text nach B. Marchal, 26 f.
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à ce … nach à la … Und sachlich korrespondieren verbindend vitrage und fenêtre;6 elle, musicienne und Sainte; santal, livre, Verse 13 f. und 2, 6. Innerhalb der so gefestigten Einheit entwickeln beide Dyaden je eigene, auf unterschiedliche Weise festgefügte Gebilde. In der ersten ist die syntaktische Symmetrie beider Strophen augenfällig. Dieselbe ist um so bemerkenswerter, als sie in zwei ganz verschiedenen Strukturen statthat. Zwar bietet die Dyade einen in sich vollständigen Hauptsatz; doch dieser ist auf die beiden Strophen so verteilt, daß deren erste die erweiterte adverbiale Bestimmung, die zweite Prädikat, Subjekt und die übrigen Satzteile enthält Und es gibt nur eine einzige syntaktisch wie inhaltlich relevante Änderung in der Symmetriefügung, die Verbform est zu Beginn der zweiten gegenüber der Präposition à zu Beginn der ersten Strophe. Darin liegt gegenüber der sonstigen vollkommenen Symmetrie das strukturelle Geheimnis, – wunderbar genug.7 Die syntaktische Symmetrie wird in einzelnem schärfer konturiert. Drei Fügungen stechen hervor. Eine perfekte Symmetrie in den Versen 1; 3 und 5; 7, wo, in den gleichen Positionen, je das Partizip eines intransitiven Verbs dem eines transitiven folgt. Sodann eine verdunkelte Symmetrie in den beiden Binnenverspaaren mit deren je zwei attributiven Strukturen. Beide Attributsätze drängen sich zwischen die beiden Akkusativobjekte und die diesen zugehörigen Genitivattribute. Dadurch werden die Beziehungen schwebend. Das dé- in beiden Nebensatzprädikaten erweckt als Defektivbeziehungsweise Privativpräfix die erfahrensbedingte Erwartung eines im Folgenden entäußerten Gegenstandes, zumal da die je nächsten Formen Genitive sind.8 Dieser recèlement, wie in Anlehnung an Vers 1 gesagt werden könnte, zeitigt einen syntaktischen Reiz, begründet aber auch eine kon6 Ungeachtet der von D. Noulet treffend reklamierten imaginativen Verschiedenheit beider gläsernen Objekte: L’œuvre poétique de Stéphane Mallarmé, Bruxelles 1974, 403. 7 H. Staubs Versuch, eine Symmetrie aufgrund von Versakzenttypen zu etablieren, scheint gezwungen und bleibt ohne befriedigendes Ergebnis: »Verwandlungen im Spiegelraum. Zu Mallarmés Gedicht ›Sainte‹«, in: E. Köhler (Hg.), Sprachen der Lyrik. Festschrift Hugo Friedrich, Frankfurt a. M. 1975, 867. 8 Von der sachlichen Schwierigkeit sei in diesem Falle abgesehen. Allerdings schienen Konstruktionen wie etwa se dédorer de la viole oder se déplier du Magnificat nicht völlig unmallarméisch, gerade auch die zweitgenannte nicht, wenn das Verb nur im etymologischen Sinne verstanden und dazu bedacht würde, daß pli ein Favoritenwort des Dichters ist, vgl. E. Noulet, L’œuvre poétique de Stéphane Mallarmé, 559 f. und W. Naumann, Der Sprachgebrauch Mallarmés, Darmstadt 1979, 85 f. – Erinnert sei daran, daß der Mallarméverehrer Pierre Boulez seine fünf poetisch inspirierten Orchesterstücke unter den Titel Pli selon pli stellte (Zitat aus dem Gedicht Remémoration d’amis Belges, Vers 4).
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zise Kompaktheit, die hier über Eleganz siegen darf. Und die dritte der Fügungen bildet eine imperfekte Symmetrie in den Versen 1 und 5, wo das Partizip sich einerseits an einen Dativ, andererseits an das Subjekt anfügt. Dieser durch den Gedankenfortschritt – Prädikat est – bedingte funktionale Wechsel dokumentiert, da eine Inkonzinnität riskierend, das der ganzen Dyadengestaltung inhärente Prinzip des Symmetriestrebens am deutlichsten. Es ist nicht auszuschließen, daß Mallarmé zu diesem stilistischen Rigorismus durch inhaltliche Vorgaben angeregt wurde. Die Heilige, als Cäcilie9 Patronin der Musik, wird im Gedicht mit vier Musikinstrumenten und mit drei literarisch-musikalischen Formen des katholischen Offiziums in Verbindung gebracht, insonderheit mit dem Magnificat, dessen Textbuch sie hält, offenbar auf ihrem Schoße. Nun ist Mallarmés bekannte Affinität zur Musik zwar von klanglichen, rhythmischen und metrischen Phänomenen geprägt,10 doch die ausdrückliche Bevorzugung des Magnificats scheint eine weitere, eine strukturelle Rücksicht zu empfehlen. An welche Kompositionsformen Mallarmé gedacht haben mag, ist fraglich. Doch das Bachsche Magnificat in D-dur, beispielsweise, weist Formelemente auf, die eine vergleichbare Strenge zeigen: Die zwölf Partien sind textlich so geordnet, daß sich diese Abfolge ergibt: Chor, zwei Soli, Chor, drei Soli, Chor, drei Soli, Chor, wobei die beiden ersten Teile, Magnificat und Et exsultavit, mit je 90 und 92 Takten quantitativ das Zwei- bis Dreifache der folgenden Paare aufweisen, – was die Zweizahl der ersten gegenüber der Dreizahl der zweiten und dritten Solopartien ausgleichen mag. Hinzu kommt die Rahmung, insofern im zwölften Teil, Gloria Patri, von Takt 20 (sicut) an der Orchestereinsatz des ersten Teiles wieder aufgenommen wird.11 Jener äußersten, geradezu kompromißlosen symmetrieregierten Strenge nun, welche die Impression des Starren, Statischen hervorruft, entspricht in gewisser Weise der Inhalt. Am Fenster … ist die Heilige, lautet die blanke Aussage. Lediglich etwas Zuständliches wird konstatiert, die attributiven Zusätze ändern inhaltlich daran nichts. Und ungeachtet dessen, daß bis dahin – anders als gelehrte Interpretationen es insinuieren12 – gleichwohl ein 9 Der Titel der ursprünglichen Fassung lautete, wie bekannt, Sainte Cécile jouant sur l’aile d’un Chérubin; Text in: B. Marchal, 127. 10 Vgl. La musique et les lettres, in: Mallarmé, Œuvres complètes, texte par H. Mondor et G. Jean-Aubry, (Bibliothèque de la Pléiade 65), Paris 1945, 635 – 657; K. Wais, Mallarmé, München 1952, 502 – 524. 11 Wertvolle Hinweise werden dem Dirigenten Manfred May, Trier, verdankt. 12 Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, 98: »in einem einzigen, jedoch unabgeschlossenen Satz.« Entsprechend Charles Mauron, Mallarmé, Paris 1964, 180:
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formal vollständiger Hauptsatz vorliegt, fehlt eine inhaltliche Vervollständigung dieses Hauptsatzes, also des Bildes. Über die bloße Anwesenheit hinaus folgt eine Beschreibung des Zustandes oder gar einer Tätigkeit der Heiligen nicht. Die aber leistet auch die zweite Strophendyade nicht, jedenfalls nicht in einem formal-diskursiven Sinne. Die Wiederaufnahme des eröffnenden präpositionalen Ausdrucks, à ce vitrage, verhindert einen gebundenen Gedankenfortschritt. Dennoch geschieht ein solcher, nicht syntaxgerecht, jedoch, so zu sagen, faktisch: Die Heilige läßt, nun in Tätigkeit vorgestellt, ein Fingerglied über einer – wenn auch nichtrealen – Harfe schweben. Das ist die erwartete Erweiterung des in der ersten Dyade hervorgerufenen Bildes,13 da nun zu der Heiligen bloßer Anwesenheit, die, als solche allein, die Beschreibung unvollständig gelassen hätte, ein Wesentliches hinzukommt, eben das Tun der Heiligen. Damit wird zugleich die Immobilität der ersten Dyade gelöst, denn das Verb balancer suggeriert eine Bewegtheit. In der also komplettierten Aussage: die Heilige befindet sich am Fenster und läßt ihren Finger über eine Harfe schwingen, liegt in zweifacher Hinsicht die Pointe der Dyade und damit der ganzen Komposition. Erstens formal, insofern die so signifikante Tätigkeit der Heiligen auf der Skala der syntaktisch organisierten Abhängigkeiten bei der dritten, der letzten Stufe plaziert ist. Den ersten Relativsatz beherrscht, als Subjekt, harpe; die untergeordnete Partizipialkonstruktion kündet von Entstehen, Beschaffenheit und Bestimmung der Harfe; und erst der zweite Relativsatz offenbart mitsamt der Tätigkeit deren Subjekt, elle balance. Ein Spannung förderndes, auf den Höhepunkt hinstrebendes Ritardando. Und dieses Stilmittel – ein Espressivo könnte es genannt werden – gibt die inhaltliche Pointe frei. Das Tun der Heiligen als Bewegung eines Fingers über einem Nichtkonkreten, was, ›musikalisch‹ bestätigt im letzten Verse, Nichttönen bedeutet. Und die Struktur der zweiten Dyade insgesamt, verglichen mit jener der ersten und wieder betrachtet unter der Voraussetzung, die Inhalte gäben dieselbe vor? Der attributive Genitiv du doigt bewirkt engste formale Bindung der vierten an die dritte Strophe. Doch weder kann dadurch eine Symmetrie wie in der ersten Dyade, noch durch die Wiederaufnahme des präpositionalen Ausdrucks, à ce vitrage, und durch die Tatsache, daß die Heilige in der »›A ce vitrage‹ comme une apposition à ›A la fenêtre.‹« B. Marchal, 1172: »constitué d’une seule phrase.« – Genauer Staub, »Verwandlungen im Spiegelraum«, 875, der den Text der Verse 1 – 8 einen »in sich schon vollständigen Hauptsatz« nennt. 13 Mit Recht spricht E. Noulet von einer »continuation de la déscription réelle du vitrail« in: Vingt poèmes de Stéphane Mallarmé, Genève 1967, 77.
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zweiten Strophe der ersten wie der zweiten Dyade aufscheint, eine solche zwischen den beiden Dyaden14 begründet werden. Gleichwohl waltet hier eine beziehungsreiche Organisation. War zuvor einer zuständlichen Starre des heraufbeschworenen Bildes in der möglichst perfekten Symmetrie beider Strophen Gestalt gegeben worden, so findet die nun suggerierte Bewegtheit ihrerseits eine syntaktisch adäquate Form. Erstes Kriterium seien – mit Ausnahme des Prädikats est, v. 5, das die notwendige Symmetriestörung verursachte – die finiten Verb- und die Partizipalformen, sofern diese verbalen, nichtadjektivischen Charakter haben, und deren Anordnung. Da zeigt sich innerhalb der ersten Dyade in der Abfolge recélant – se dédore und étalant – se déplie eine Viererkonstellation, quasigeometrisch, die den Eindruck der Vollständigkeit und Geschlossenheit erweckt. Anders die zweite Dyade: frôle – formée (in Umkehrung der Verbformenfolge), und in der vierten Strophe nur mehr balance – eine Dreierkonstellation, da in der vierten Strophe ein verbwertiges Partizip fehlt. Zweites Kriterium mag die in der zweiten Dyade durch bloße Existenz zwar suggerierte, durch syntaktisch konforme Anordnung jedoch gegenüber der ersten Dyade augenfällig verhinderte Symmetrie der Relativpronomina sein. Und drittens ist da, ehe die Vorstellung einer Handlung – elle balance son doigt sur une harpe de plumage – sich etablieren kann, ein fließendes Spiel syntaktischer Beziehungen, durch das die Hierarchie in den handlungstragenden Elementen aufgelöst ist, geradezu dissimuliert scheint. Das alles wirkt wie ein Aufbrechen jener geschlossenen Form. Und das wiederum entspräche dem Umstand, daß die zweite Dyade im Gegensatz zur ersten ein unvollständiges Satzgebilde darstellt – sofern bei einem appositionellen Nachtrag von einem Satzgebilde überhaupt gesprochen werden kann. Es entspräche überdies, inhaltlich konsequent, der Tatsache, daß nun die jene Starrheit lösende Bewegung von der Heiligen ausgeht, die in der ersten Dyade – auch dort übrigens in der zweiten Strophe – wie die ganze Szenerie noch immobil war.15 Der formale Befund konvergiert so durchaus mit den Bedeutungen der relevanten, einschlägig tragenden Begriffe: recélant, se dédore; étalant, se 14 Auch nicht in Form einer Variation, wie Mauron, Mallarmé (die Wiederaufnahme von santal und livre, die derselbe, in Mallarmé l’obscure, Genève-Paris 1986, 16, reklamiert, ist ebenso wenig symmetriestiftend) andeutet, noch auch im Sinne einer »symétrie décalée«, wie B. Marchal, 1172, behauptet. 15 Ansprechend stellt Staub, »Verwandlungen im Spiegelraum«, 876, der »Konstruktion eines regelmäßigen Raumes« einen »in diesem Raum ablaufenden Vorgang« gegenüber. G. Regn, Konflikt der Interpretationen. Sinnrätsel und Suggestion in der Lyrik Mallarmés (Romanica Monacensia 13), München 1978, 136, konstatiert, syntaktisch werde »versucht, die Immobilität des Dargestellten zu suggerieren«, sieht allerdings solche Wirkung in der ersten Dyade nicht allein, sondern nur »besonders« hervortreten.
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déplie begünstigen als Zustandsbeschreibungen die Vorstellung des Immobilen. Demgegenüber sind die Begriffe frôle, vol du soir; balance solche des Mobilen. Die Komposition ist danach geprägt von der Abfolge Statik-Dynamik, gemäß der formalen Gestaltung, in der auf Vollständigkeit Unvollständigkeit folgt, auf Geschlossenheit Offenheit – Offenheit, so zu sagen, vers l’infini, dorthin, wo, wie Musiker selbst es komponiert haben,16 die Heilige Schweigen spielt. »Formbindung«, um an die ursprüngliche Frage zu erinnern, beherrscht die Komposition, da schlicht die Form den Inhalt bindet, wie der Inhalt die Form.
16 John Cage in seinem berühmten Stück 4’33’’ [tacet] von 1952. Allerdings erweist sich die Musik in diesem Falle als unterlegen, denn während sie des Auditiven in ihrer eigenen Domäne auch ohne regelrechten Musikinstrumentenklang nicht gänzlich entraten kann, kreiert das Wort die Idee des reinen Schweigens. – Möglich, daß G. Michaud in der »image d’une Sainte jouant en silence sur l’aile de l’idéal« unter der »aile de l’idéal« das ›Instrument‹ vorstellt, auf dem eben dieses reine Schweigen hervorgebracht wird; klarer wäre dann freilich anstelle der Präposition en der Artikel la: Mallarmé. L’homme et l’œuvre, Paris 1953, 47.
BUCHBESPRECHUNGEN Martin Przybilski, Kulturtransfer zwischen Juden und Christen in der deutschen Literatur des Mittelalters [Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 61 (295)], Berlin / New York: Walter de Gruyter, 2010, 335 S. Mit Spannung hatte die Altgermanistik nach dem Erscheinen einschlägiger Vorstudien des Altgermanisten und Judaisten Przybilski das Erscheinen des Buches erwartet, das einen umfassenden Überblick über die im Titel genannte Thematik zu geben verspricht. Studien wie diese müssen heutzutage, wollen sie die lex artis erfüllen, unbedingt ab ovo theoretico beginnen, in diesem Fall mit den Begriffsbestimmungen von Kultur und Kulturtransfer, aber auch mit der Methodik der Disziplinen Historie und Literaturwissenschaft überhaupt. Das mag ja alles nötig sein. Doch der Autor scheint auch das Bedürfnis empfunden zu haben, sein Buch durch eine spezielle Geschichtsauffassung zu rechtfertigen. Er polemisiert heftig gegen eine Kulturgeschichte, die sich an der herrschenden Kultur und damit der Herrschaft selbst ausrichtet, und plädiert mit W. Benjamin für eine »Archäologie dessen, was vom Diskurs der Herrschaft und der Macht im historischen Prozess unterdrückt worden ist« (21). Dazu bemüht er auch Theoretiker des Postkolonialismus, um das mittelalterliche ›christliche Abendland‹ als Chimäre zu entlarven, die »Dominanz des Christentums zu dekonstruieren« (13) und die Randkulturen in den Vordergrund zu rücken. So schwere Geschütze aufzufahren, scheint weder nötig noch ungefährlich. Wenn wir Benjamins messianisch-materialistische Geschichtsphilosophie einmal beiseitelassen, so bleibt die »Postkolonialität des Mittelalters« (14) als bestenfalls schiefe Metapher übrig. Dass es nach wie vor keine wirklich funktionierende interdisziplinäre Mediävistik gibt, mag man mit P. bedauern; doch dies hat in der Gegenwart nicht mehr wie früher vorwiegend ideologische, sondern pragmatische Gründe: Niemand beherrscht wirklich alle wichtigen Sprachen des Mittelalters und zugleich das Handwerkszeug der Geschichts-, Kunst-, Literatur-, Sprachwissenschaft etc. Dass dieses Manko einfach durch Zusammenarbeit mehrerer Forscher voll ausgeglichen werden könnte, hat sich längst als eine Illusion herausgestellt. Gleichwohl muss man es versuchen. Insbesondere aber ist jeder hochwillkommen, der mehrere Fachgebiete, zumal außergewöhnliche, verbinden kann.
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Minderheitskulturen gegen Mehrheitskulturen auszuspielen, führt dabei jedoch in die Irre. Dass im 12. / 13. Jh. die französische Kultur das Abendland ›überschwemmt‹ hat und nicht die spanische, slawische oder jüdische, ist eine Tatsache, keine ideologische Verfälschung durch die Forschung. Als solche kann auch das ›christliche Abendland‹ nicht gelten, wenn man es nicht sinnlos verabsolutiert. Natürlich gab es im 12. Jh. in Europa auch Heiden, Muslime, Juden, Ketzer. Aber der Historiker erweist ihnen keine Gerechtigkeit, wenn er sie zu bestimmenden Faktoren aufwertet. Denn sie hatten keine Chance gegen die christliche Mehrheit, die sie bekämpfte, unterdrückte und ausgrenzte – freilich nicht immer und überall und nicht überall und jederzeit gleich. Gerade diesen Fällen hat besondere Aufmerksamkeit zu gelten. Man mag sie mit P. als Zeichen einer ›Hybridität‹ auch der mittelalterlichen Kultur verbuchen, aber keiner allgemeinen, die einen Vergleich mit der modernen Pluralität Europas auch nur im Entferntesten rechtfertigen würde. Der folgende Forschungsbericht (A II) zeigt eine Fülle wichtiger Anregungen der mediävistischen Forschung zum Thema des vorliegenden Buches seit dem späteren 19. Jh. Er erfolgt nach Forscherbiographien, was allerdings mehr zur Erhellung der Wissenschaftsgeschichte (mit ihren bekannten Verwerfungen) als der Anregungen beiträgt. Dies holt dann das nächste Kapitel (B) zu den historischen Spuren des deutsch-jüdischen Kulturtransfers nach. Zuerst wird ein allgemeiner Überblick über die jüdischchristlichen Kontakte vom 9. bis zum 13. Jh. gegeben, die über bloße geschäftliche Bindungen weit hinausgingen und auch kulturellen Austausch ermöglichten, andererseits aber auch massiven Behinderungen ausgesetzt waren. Literarische Auswirkungen hat dieser Kontakt, von schriftlichen Abwehrreaktionen abgesehen, in früher Zeit allerdings wenig gehabt. Eines der wenigen zu nennenden Beispiele, das Unterhaltungsrepertoire des Sextus Amarcius um 1050 (90), erweist sich bei näherem Zusehen auch als wenig greifbar. Seit dem 12. Jh. verbessert sich die Beleglage, dies vor allem durch die schriftstellerische Tätigkeit der Konvertiten zum Christentum, weit weniger der zum Judentum, die insgesamt eine Seltenheit darstellen. Dafür macht P. in erster Linie die »ungleichgewichtigen Machtverhältnisse« (91) geltend, sicher mit Recht. Dennoch sollte nicht unbeachtet bleiben, dass das Christentum im Gegensatz zum Judentum im Grundsatz missionarisch war (und ist), was nicht nur einen enormen Druck, sondern auch einen Sog ausübte. Christ zu werden war vergleichsweise einfach. Mit der Konversion hörte der Jude in den Augen der Christen vollständig auf, Jude zu sein, es sei denn, es gab Grund für einen Zweifel an der tatsächlichen, vollständigen Konversion. »Eine strikt einzuhaltende Trennung der Konvertiten von ihren alten Glaubensgenossen« (115) war jedoch auch dann nicht
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die notwendige Folge. Das vierte Laterankonzil 1215 verordnete nur einen »heilbringenden« Zwang, der die Konvertiten von ihren früheren religiösen Bräuchen streng fernhält. Erst am Ende des Mittelalters kam in Spanien mit der infolge der Massenzwangstaufen sprunghaft ansteigenden Zahl der – vorher ungemein raren – Rekonvertiten das rassistische Vorurteil vom unbekehrbaren, weil durch Vererbung verdorbenen Judenvolk auf und verbreitete sich über die christliche Welt. Von den berühmten Konvertiten greift P. zwei Beispiele heraus und beschreibt Gründe und Art des Glaubenswechsels: Petrus Alfonsi und Hermann von Scheda. Ihre Bedeutung für den Kulturtransfer ist allerdings extrem unterschiedlich. Hermann lässt kaum noch irgendwelche Bindungen zu seinem früheren Glauben erkennen. Petrus setzt sich nicht nur kontroverstheologisch mit diesem auseinander, sondern er transportiert auch mit seiner ›Disciplina clericalis‹ eine Menge orientalisches Erzählgut ins Abendland, nach Deutschland allerdings nur indirekt. Die großen Unterschiede zwischen dem sephardischen und dem aschkenasischen Judentum sollten nicht verwischt werden. Konvertiten leiten auch die nächste, wahrhaft verheerende Phase der religiösen Auseinandersetzung der Christen mit dem Judentum ein. P. legt allerdings großen Wert darauf, dass diese Phase durch eine intensive Auseinandersetzung der Pariser Theologen mit der hebräischen Bibel vorbereitet wurde. Die Belege für den Meinungsaustausch mit jüdischen Tossafisten sind in der Tat eindrucksvoll. Wie viele nicht vom Judentum konvertierte christliche Gelehrte auf diese Weise selbst das Hebräische erlernten, scheint weniger klar. Dass sie die lateinischen und französischen Interlinearglossen in hebräischen Handschriften der Bibel oder Bibelkommentaren angelegt haben, halte ich nicht für ausgemacht (anders P., 123). Ich traue generell den Pariser Tossafisten eher die Kenntnis des Latein als den Scholastikern die des Hebräischen zu.1 Das gemeinsame Idiom war jedenfalls das Französische, das aber primär auf der Stufe des mündlichen gelehrten Austausches gebraucht wurde. Auf diese Weise erhielt wohl auch Petrus Venerabilis v. a. seine Informationen für seine Polemik gegen den Talmud. Der entscheidende Schub erfolgte aber erst durch lateinische Talmud-Übersetzungen aus der Feder von Konvertiten. Von »weltgeschichtlicher Bedeutung« (131, Zitat nach Lewin 1969) ist er, weil er zur rasch um sich greifenden Verurteilung der Juden als Ketzer geführt hat, die als solche, anders als die 1 P.s unbelegte Bemerkung (S. 122 f.), dass die aristotelische Philosophie »vornehmlich auf dem Weg hebräischer Übersetzungen aus dem Arabischen rezipiert wurde«, trifft nicht zu. Vgl. als ersten Überblick D. Briesemeister, in: LMA, 1 (1980), Sp. 943.
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Nichtchristen, keinerlei Recht auf religiöse Toleranz hatten.2 Wurden die Laien bisher bei ihren handgreiflichen antijüdischen Übergriffen meist von der Amtskirche im Zaum gehalten, so werden sie jetzt immer häufiger dazu ermuntert. Nun schlägt sich die Judenpolemik auch sogleich und fortan im volkssprachlichen Schrifttum nieder, wofür P. etliche deutsche Beispiele gibt, allerdings keine anderssprachigen. Gerade in Westeuropa beginnt nunmehr jedoch die systematische Vertreibung der Juden, die vornehmlich ins Reich flüchten. Es entspringt so nicht nur einer notwendigen arbeitstechnischen Beschränkung, wenn im Weiteren die deutsche Sprache als Kontaktmedium zwischen Juden und Christen ganz im Mittelpunkt der Untersuchung steht. Die Vermehrung und Vergrößerungen der Judengemeinden im Reich werden vermutlich erhöhte Abwehrreaktionen der Christen (und Juden) hervorgerufen haben. Wieweit gerade vorausgehende engere soziale Kontakte zwischen den Gruppen dazu Anlass gegeben haben könnten, lässt sich, wie P. meint, nicht sicher belegen. Auch die tödlichen Anschuldigungen (Ritualmord, Brunnenvergiftung, Hostienfrevel) sind, da sie ja auf verleumderischen Fiktionen beruhen, keine wirklich gültigen Beweise für jene Kontakte. Mancherorts bestanden solche aber zweifelsfrei. Entscheidende Bedingung ihrer Möglichkeit ist eben die Gemeinsamkeit derselben Sprache, welche freilich von der Jiddistik mehrheitlich heftig bestritten wurde. Gegen die Vorstellung, die Juden hätten schon seit dem 11. Jh., nicht erst seit der frühen Neuzeit eine eigene ›westjiddische‹ Sprache gesprochen, führt P. (1) die deutschen Glossen auch in nur für den intrajudäischen Gebrauch bestimmten hebräischen Schriften, (2) die nicht nur gegenüber der christlichen Umwelt geführten deutschen Zweitnamen der Juden und (3) die Auseinandersetzung mit der (diversifizierten) deutschen Sprache in hebräischen Schriften an. Nur (3) kann jedoch wirklich als vollgültiges Zeugnis wider die Sondersprachentheorie angeführt werden. Denn sie bezeugt, dass die Juden im Mittelalter keine Idee von einer eigenen Sprache neben dem Hebräischen besaßen, sondern diese selbstverständlich als Sprache von Aschkenas (= Germania) verstanden, während die Glossen3 und Namen zur Not auch als ›westjiddisch‹ interpretierbar wären. Wann 2 Die Muslime standen allerdings ebenfalls – was P. nicht erwähnt – bei manchen christlichen Theologen in Verdacht, Ketzer zu sein. Für die Laien aber waren sie seltsamerweise in aller Regel »klassische« Heiden, also Polytheisten. 3 Bemerkenswerterweise gibt es neben den hebräischen und deutschen Glossen auch viele französische. Daraus hat man wohl mit Recht auf Dreisprachigkeit vieler gelehrter Juden geschlossen. Die von P. (S. 159 Anm. 404) nicht nachgewiesenen Wörter in einem Kommentar Raschis, weis und celer, lassen sich als afrz. viz »Wendeltreppe« und celeüre »Zimmerdecke« (zu ciel) identifizieren.
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man einen Dia- oder Soziolekt als eigene Sprache auffasst, ist bekanntlich unter Linguisten schon im Prinzip heftig umstritten. Aufgrund meiner Kenntnis des einzigen größeren deutsch-jüdischen Sprachdenkmals vor dem ausgehenden Mittelalter, der Cambridger Handschrift, möchte ich P.s Ansicht aber unbedingt den Vorzug geben. Die Differenzen zum zeitgenössischen Deutsch sind marginal. Den Kern der Arbeit bildet die Spurensuche in mhd. Literatur. Hier trifft der germanistische Leser denn auch auf wahre quellenkundliche Trouvaillen (die allerdings teilweise schon aus P.s Aufsätzen bekannt waren). Die zuerst im ›Herzog Ernst‹ und dann auch in etlichen weiteren mhd. Texten bezeugte spezielle Ausprägung der Sage vom Lebermeer (mare concretum, mer betee) entspricht ziemlich genau der im Reisebericht von Benjamin ben Jona aus Tudela (ca. 1170). Die Geschichte des ›Guten Gerhard‹ Rudolfs von Ems steht ganz ähnlich schon bei Nissim ben Jakob (ca. 990 – 1062) aus Kairouan (worauf schon R. Köhler 1867 aufmerksam gemacht hat). Im alttestamentlichen Teil der ›Weltchronik‹ des Jans von Wien (um 1270 / 80) taucht eindeutig außerbiblisches jüdisches Sagengut von Noah und der Arche, dem Turmbau von Babel, dem Leben Moses, Salomos Einzug in Jerusalem, der Errichtung des Tempels, Daniels Verhältnis zu Nebukadnezar auf. Davon greift P. nur talmudisches Wissen über Salomos schneidenden Wunderwurm Schamir, Schomir, Zomer etc. auf, der von jüdischen Gelehrten mannigfaltige Auslegungen erhielt und in christlichen Texten weitverstreut, also keineswegs nur bei Jans wiederkehrt. Dieser ist aber der einzige, der ausdrücklich der in die christliche Bibeltheologie eingedrungenen gelehrten (Petrus Comestor) die mündliche jüdische Tradition gegenüberstellt. Anders als mündlich kann der Austausch aber auch gar nicht erfolgt sein, denn die Juden bedienten sich nicht der lateinischen und die Christen nicht der hebräischen Schrift. Die fehlende Untersuchung der weiteren Motive vermittelt den Eindruck der Unfertigkeit des Kapitels, der noch durch etliche wörtliche Wiederholungen ganzer mehrzeiliger Abschnitte am Ende verstärkt wird. Erschreckende Ausmaße nehmen diese Selbstplagiate dann im nächsten Kapitel C.III zur polemischen Literatur an, dessen größerer Teil aus mehr oder minder wörtlich wiederholten Passagen (ca. ein Dutzend Seiten) besteht.4 Den Rest bilden ein kurzer Hinweis auf Irmharts Ösers fingierten Brief, der bei Niesner 2005 ausführlich besprochen wird,5 worauf P. hier nicht 4 Da entsprechen S. 248 Z. 3 bis S. 253 Z. 21 dem Text S. 75 Z. 15 bis S. 81 Z. 0 und S. 255 Z. 11 bis 259 Z. 7 v. u. dem Text S. 132 Z. 2 bis S. 136 Z. 1 v. u. 5 Manuela Niesner, ›Wer mit juden well disputieren‹. Deutschsprachige AdversusJudaeos-Literatur des 14. Jahrhunderts, MTU 128 (Tübingen 2005) 382 – 406.
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Bezug nimmt, und die ebenfalls recht kursorische Besprechung der antijüdischen Fastnachtspiele von Hans Folz, wo merkwürdigerweise wiederum die vorher beiläufig erwähnten Studien von W. Frey nicht herangezogen werden. Eine etwas einlässlichere Auseinandersetzung mit Text und Forschung bietet dann Kap. C.IV. über Süßkint von Trimberg, den P. nach vorsichtigem Abwägen der Möglichkeiten schließlich doch als jüdischen Spruchdichter des 13. Jh. einschätzen möchte. Einiges Gewicht in der Beweisführung hat aber wohl nur Spruch III, 1 – 2, wo in der Tat das Gottesund Frauenbild recht alttestamentliche Züge zu tragen scheint. Ob IV, 3 auf die talmudische Barmherzigkeitslehre zielt, ist schon zweifelhafter, wenngleich nicht unmöglich. Die in V, 2 angesprochene Lebensweise ist ja immer schon als metaphorisch ›verdächtigt‹ worden. Warum sollte ein tatsächlicher Jude androhen, vom Adelshof zu fliehen, um – bildlich – als alter Jude mit langem Bart, langem Mantel und Hut zu leben? Wohl höchstens »ein in die Majoritätskultur integrierter Jude« (275). Könnte diese Integration eine Konversion gewesen sein? Es trugen ja nachweislich auch bekehrte Juden die Bezeichnung der jude, judaeus, wie P. S. 168 f. belegt. Die Sache bleibt intrikat. Während also in der Forschung schon ausführlich behandelte Autoren wie Irmhart Öser, Hans Folz oder Süßkint von Trimberg von P. nochmals besprochen werden, bleibt es bei anderen Werken wie ›Ruodlieb‹, ›Salman und Morolf‹, ›Reinhart Fuchs‹ oder dem ›Österreichischen Bibelübersetzer‹ – um von außerdeutschen und frühneuzeitlichen Texten gar nicht zu reden – bei der (mehrfachen) Ankündigung. Nur am Rande oder in Anmerkungen erwähnt werden vergleichsweise eindeutige und aussagekräftige Fälle wie der ›Dukus Horant‹, der ›Perceval‹- Übersetzer Samson Pine oder der jüdische Schreiber der Dresdner ›Iwein‹-Handschrift, wo P.s Urteil besonders gefragt gewesen wäre. So bleibt die so spärliche deutsch-jüdische literarische Rezeption christlicher Dichtung auch weiterhin ein ebenso bemerkenswertes wie erklärungsbedürftiges Faktum. Das Buch muss daher als Torso gelten. Man hat durchaus Anlass, dies angesichts der reichen Belehrung, die man im fertiggestellten Teil erhalten hat, zu bedauern. In ihm hat sich P. gottlob auch nicht an das Wort seines geschichtsphilosophischen Gewährsmannes über den historisch-materialistischen Geschichtsbetrachter gehalten: »Er überlässt es anderen, bei der Hure ›Es war einmal‹ im Bordell des Historismus sich auszugeben«.6 Vielmehr hat er sich bei der historischen Spurensuche ›ausgegeben‹ und so das faszinierende Bild eines von der Geschichts- und Literaturwissenschaft fast ver6 Walter Benjamin, »Über den Begriff der Geschichte« (1940), in: Gesammelte Schriften, Bd. I,2 (Frankfurt a. M. 1974) 691 – 704: Abschnitt XVI.
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gessenen Teils der deutschen und europäischen Kultur rekonstruiert. Ja, er entfaltet dabei eine geradezu positivistische Gelehrsamkeit, die sich sogar ein bisschen hermetisch gibt, wenn sie auf hebräisch-lateinische Transliterationen und auf Übersetzung lateinischer und mhd. Texte verzichtet. Für die deutsche Literaturgeschichte liegt die Bedeutung des Buches v. a. in der allgemeinen Erkenntnis, dass subliterarische Einflüsse auch auf deutsche Schrifttexte ebenso unverächtlich wie konkret nachweisbar sind. Es lohnt sich, ihnen im Einzelnen weiterhin intensiv nachzugehen. Fritz Peter Knapp, Heidelberg Gisela Seitschek, Schöne Lüge und verhüllte Wahrheit. Theologische und poetische Allegorie in mittelalterlichen Dichtungen [Schriften zur Literaturwissenschaft im Auftrag der Görres-Gesellschaft 32], Berlin: Duncker & Humblot, 2009, 296 S. Die vorliegende Arbeit wurde als Dissertation der Verfasserin, Gisela Seitschek, an der Ludwig-Maximilian-Universität München im Jahre 2007 angenommen. Ihr Niveau geht weit über das der meisten Dissertationen hinaus. Die Argumente, die hier vorgelegt werden, sind immer streng gegliedert, klar präsentiert und für den Leser leicht nachvollziehbar. Erfreulich ist ebenfalls die Tatsache, dass die Verfasserin zugunsten wissenschaftlicher Klarheit auf jeglichen kritischen Jargon verzichtet. Die Arbeit behandelt ein in der Mediävistik sehr umstrittenes Thema: die Entwicklung der Allegorie im 13. und im 14. Jahrhundert, und die Verfasserin ist bemüht, der Komplexität dieses Phänomens gerecht zu werden. Die zentrale These, welche der Arbeit zugrunde liegt, ist die Gegenüberstellung einer »profanen« Allegorie im Rosenroman mit einer »re-theologisierten« bzw. »re-sakraliserten« Allegorie bei Dante, wobei die Verfasserin sorgfältig und nuanciert die unterschiedlichen allegorischen Vorgehensweisen von Guillaume de Lorris, Jean de Meun und Dante analysiert. Dieses Entwicklungsschema greift teilweise auf einen klassischen Aufsatz von Hans Robert Jauß aus dem Jahre 1960 zurück, »Form und Auffassung der Allegorie in der Tradition der Psychomachia«1 (weiter entwickelt von Jauß in seinem Kapitel »Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung«2). Jauß plädierte dort für eine Loslösung der Allegorie von ihrem christlichen Zusam1 Hans Robert Jauß, »Form und Auffassung der Allegorie in der Tradition der Psychomachia«, in: Medium Aevum Vivum, Festschrift Walther Bulst (Heidelberg 1960), 179 – 206. 2 Hans Robert Jauß, »Entstehung und Strukturwandel der allegorischen Dichtung«, in: Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters, VI / 1: La littérature didactique, allégorique et satirique (Heidelberg 1968), 147 – 244.
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menhang in der höfischen Literatur des Spätmittelalters. Seine These hat maßgeblich die deutschsprachige Forschung in der Romanistik geprägt. Dennoch folgt Seitschek diesem Jauß’schen Schema nicht (ein Schema, das durch seine eher streng antithetisch angelegte Teleologie viele Entwicklungen in der Literaturgeschichte ausschließt, wie z. B. die juristische Allegorie eines Placentinus in seinem Templum Justitiae, den mythographischen Ovide moralisé, die politische Allegorie eines Philippe de Mézières, Le Songe du vieil pèlerin, oder die unterschiedlichen allegorischen Werke von Christine de Pizan, wie L’Epistre Othea, Le chemin de longue estude, und Le livre de la Cité des Dames), denn sie fokussiert eher auf die kreativen Spannungen zwischen verschiedenen Formen der christlichen und weltlichen Allegorien. Gerade diese Spannungen, die zu einer für Jauß unvorstellbaren Resakralisierung der Allegorie bei Dante führen können und von der Verfasserin sehr sachlich und diskret erläutert werden, bilden den Kern dieser Studie. Die Arbeit teilt sich in acht Kapitel (das letzte ist ein kurzer Exkurs über Chaucer, der für zukünftige Forschung sicherlich interessant, aber für die wichtigen Ergebnisse dieses Werks über die Allegorie bei Dante nicht direkt relevant ist). Im ersten Kapitel bietet die Verfasserin einen nützlichen, wenn auch verhältnismäßig kurzen Überblick über die Geschichte der Theorien der Allegorie von Augustinus bis Dante. Sie hat in diesem Kapitel die wichtigsten Positionen auf diesem sehr komplexen Gebiet herausgearbeitet und knapp dargeboten. Ein Vorteil dieses Kapitels liegt vor allem in der hier angebotenen Analyse der Theorien der Allegorie bei Thomas von Aquin, ein Thema, das allzu oft von Literaturhistorikern übersehen wird (mit der Ausnahme von Dante-Forschern, die sich seit langem mit der allegoria dei poeti und der allegoria dei teologi auseinandersetzen). Die Autorin analysiert mit großer Sorgfalt die wichtigsten Stellen in Thomas von Aquins Werken über Allegorie (vor allem Summa theologiae, I, q.1, a.10), erwähnt dennoch nicht die Diskussion der poetae theologi bei Thomas, die von Robert Hollander des Öfteren analysiert worden ist, und welche gut zu ihrer Grundthese passt. Das zweite Kapitel widmet sich den historischen Entwicklungen der spätantiken und mittellateinischen allegorischen Literatur (Prudentius, Martianus Capella, Claudianus, Boethius, Bernardus Silvestris, und Johannes de Altavilla), mit einem kurzen Aperçu über die Weiterentwicklungen der Allegorese in der Volkssprache. Dieses Kapitel dient quasi als Vorgeschichte für das dritte, das sich ausschließlich mit Alanus ab Insulis beschäftigt. Der Ausgangspunkt dieses Kapitels ist der Aufsatz von Johan Huizinga, »Über die Verknüpfung des Poetischen mit dem Theologischen bei Alanus de Insulis« aus dem Jahre 1949, eine Arbeit, die bis heute unüber-
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troffen ist. Dieser Teil ihrer Arbeit bietet dem deutschen Leser auch eine nützliche Zusammenfassung der Ergebnisse der wichtigsten französisch-, italienisch- und englischsprachigen Literatur zu diesem Thema (z. B. Guy Raynaud de Lage, Marc-René Jung, Jane Chance, Winthrop Wetherbee, Jan Ziolkowski, Giorgio Agamben), die die Verfasserin geschickt mit den Erkenntnissen der deutschsprachigen Forschung (vor allem von Friedrich Ohly, Peter Oschenbein und Christel Meier-Staubach) zum gleichen Problem verbindet. Diese Synthese der Verfasserin spricht für eine mustergültige kosmopolitische Einstellung in der Gelehrtenrepublik, die man bei einer jungen Wissenschaftlerin am Anfang ihrer Karriere nur begrüßen kann. Mein einziger Kritikpunkt hier wäre, dass die Verfasserin ihre reichhaltige lateinische Dokumentation hätte übersetzen sollen, denn leider ist es so: latina sunt, non leguntur. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit der weltlichen oder profanen Allegorie in beiden Teilen des Rosenromans. Die Verfasserin unterscheidet in nuancierter Form zwischen der Allegorese bei Guillaume de Lorris und bei Jean de Meun, ein viel kommentiertes Dauerthema in der Rosenromanforschung. Angesichts der Pygmalion-Episode am Ende von Jeans Teil des Werks, so schreibt die Verfasserin, wird »deutlich, wie Jean de Meun die allegorischen Schemata seines Vorgängers ad acta gelegt hat und nur noch formal belässt […] Als ›wahre‹ Bedeutung seiner Allegorie ergibt sich damit ein wesentlich weiter gefasster Sinn als ihn Guillaume wohl beabsichtigt hatte und der den Rahmen der ›konventionellen‹ allegoria dei poeti sprengt« (107, 110). Die offene Frage, warum Jean dies tat, hat bisher nur fragmentarische Antworten gefunden. Maxime-Mathieu Gorce (1930, 1931) und Franz Walter Müller (1947) haben unabhängig voneinander vermutet, dass Jeans Einstellung zur Wahrheit stark vom lateinischen Averroismus an der Pariser Universität des 13. Jahrhunderts beeinflusst war, was wiederum eine naheliegende Verbindung zu Thomas von Aquins dort in den 1270er Jahren umstrittenen Position (d. h., der Zeit, in der Jean seinen Teil verfasst hat) vermuten lässt. Zum Schluss (S. 244) zitiert die Verfasserin z. B. Thomas (Quodlib., VII, q. 6, art 1: in sacra Scriptura manifestatur veritas dupliciter), ein Zitat, das sicherlich ein Grund war, warum Étienne Tempier in seinen Verurteilungen von 1270 und 1277 die Lehre von der duplex veritas erwähnt hat, denn Thomas war bekanntlich eine seiner wichtigsten Zielscheiben. Die Verfasserin greift diese Teilantwort nicht auf, die jedoch the missing link zwischen Jeans allegorischer Vorgehensweise und der zeitgenössischen thomistischen Diskussion um die Allegorie der Dichter liefern könnte. So bibliographisch komplett diese Arbeit sonst ist, fehlen dennoch Hinweise in diesem Kapitel auf drei wesentliche englischsprachige Studien zu
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dem Thema der Allegorese im Rosenroman (die bisher kaum in deutschen Landen rezipiert wurden: Alastair Minnis, Magister Amoris. The »Roman de la Rose« and Vernacular Hermeneutics (Oxford 2001), Daniel HellerRoazen, Fortune’s Faces. The »Roman de la Rose« and the Poetics of Contingency (Baltimore 2003) und Suzanne Conklin Akbari, Seeing through the Veil: Optical Theory and Medieval Allegory (Toronto 2004). Die Schlussfolgerungen, die Seitschek in ihrem Werk zieht, werden nicht von den Erkenntnissen dieser drei Studien erschüttert, denn ihr Werk beeindruckt durch seine reiche Dokumentation und literaturkritische Besonnenheit – Eigenschaften, die in der Rosenromanforschung nicht selbstverständlich sind. Ich hätte es aber begrüßt, wenn sie sich mit diesen drei Werken kritisch auseinandergesetzt hätte, denn ihr potentieller Beitrag hier wäre sicherlich sehr produktiv. Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit dem Problem der allegoria dei poeti bei Dante. Sie sieht in den zwei Werken Il Fiore und Il Detto d’amore, die des Öfteren Dante zugeschrieben werden, mögliche Vorstufen zu Dantes Beziehungen zur profanen Allegorie bei Jean de Meun. Sie erläutert die Sekundärliteratur zur kontroversen Verfasserschaftsfrage ausführlich (bis auf den Aufsatz dieses Rezensenten, »The Fiore and the Roman de la Rose«3), tendiert jedoch dazu, den Befürwortern von Dantes Autorschaft (Gianfranco Contini, Luigi Vanossi) mehr Platz als den Gegnern einzuräumen, und akzeptiert letztendlich die Zuschreibung von Il Fiore an Dante als »äußert plausibel« (122). Obwohl ich Dante als Autor von Il Fiore nicht akzeptiere, fand ich die Analyse der Allegorese in Il Fiore, die die Verfasserin darbietet, hervorragend. In ihrer Zusammenfassung hält sich die Verfasserin dennoch mit einer endgültigen Zuweisung von Il Fiore an Dante zurück: »Auch wenn Il Fiore doch nicht von Dante selbst stammt, bleibt es dennoch interessant zu sehen, wie er die profanen Allegorien des Roman de la Rose […] in der Divina Commedia in einen religiösen Kontext eingeschrieben hat« (251). Im sechsten Kapitel analysiert die Verfasserin eine mögliche Resakralisierung der Allegorie in Dantes Vita nova. In diesem Kapitel zeigt sie anhand einer akribischen Dokumentation die deutlichen Spannungen zwischen einer profanen und sakralen Allegorie in diesem Werk Dantes. Ihr Schlusswort ist sehr präzis: »man könnte also sagen, daß die drei reinen Prosateile der Vita Nova die drei Stufen der Spiritualisierung Beatrices und damit der Liebe repräsentieren. Damit sind wir am Ende des libello weit entfernt von der profanen allegoria dei poeti […] Auch wenn Dante hier weder von einer 3 Earl Jeffrey Richards, »The Fiore and the Roman de la Rose«, in: Jeanette M. A. Beer (Hg.), Medieval Translators and Their Craft (Kalamazoo 1989), 265 – 83.
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mehrfachen Sinnschichtung im allgemeinen noch von der Bibelexegese im besonderen spricht, ist in den letzen Zeilen der Vita Nova der sensus anagogicus dennoch greifbar« (193). Die »(Re-)sakralisierung der Allegorie« in der Divina Commedia bildet den Kern des siebten Kapitels. Die Verfasserin bietet eine feinfühlige textnahe Analyse sorgfältig ausgewählter Passagen aus den drei Teilen der Commedia und fokussiert in ihren Betrachtungen vor allem auf historischen Persönlichkeiten, denn sie will vor allem zeigen, wie die »Historiziät bzw. der sensus litteralis« (198) die Basis für eine Rekonstruktion des vierfachen Schriftsinns in der gesamten Commedia bildet. Die detaillierten Beobachtungen hier, die zwar teilweise auf früheren Dante-Kommentaren fußen, sind oft sehr frisch und originell. Sie führen die Verfasserin zu dem Schluss, dass Dante eine »fiktive Historizität« dem allegorischen System der Commedia zugrunde legt und dass man den vierfachen Schriftsinn auf die gesamte Commedia anwenden kann. Der Grund, warum diese Konklusion so erfreulich ist, liegt darin, dass sie eine klare Ablehnung des recht sterilen »neuen Formalismus« in der zeitgenössischen nordamerikanischen Dante-Forschung bedeutet, die Teolinda Barolini bereits in ihrer nicht unumstrittenen Studie The Undivine Comedy. Detheologizing Dante aus dem Jahr 1992 gefordert hatte – ein Ansatz, der eine Rückkehr zur Stilforschung eines Karl Voßler bedeuten würde. Es ist sicherlich nicht einfach, den theologischen Zusammenhang von Dantes Commedia zu rekonstruieren, aber ob schwierig oder leicht, Dante nur formalistisch deuten zu wollen, bringt keinen echten Gewinn für die Erkenntnis seines Werks. So bietet Seitscheks Arbeit einen neuen und wichtigen methodischen Durchbruch für ein besseres historisches Verständnis von Dantes Commedia. Earl Jeffrey Richards, Wuppertal Perrine Galand, Fernand Hallyn †, Carlos Lévy, Wim Verbaal (Hgg.), Quintilien Ancien et Moderne. Turnhout: Brepols, 2010, 576 S. Cet épais volume, qui regroupe 24 contributions (19 en français, 5 en italien), se donne pour objet l’étude du rayonnement de l’œuvre de Quintilien sur la pensée européenne: c’est là sans doute un sujet ambitieux, mais il était urgent et nécessaire de restituer toute sa place à ce maître de la rhétorique antique, que la puissance conceptuelle d’Aristote ou l’aura bien légitime de Cicéron ont encore aujourd’hui tendance à éclipser. Pourtant, ce pédagogue manifeste parfois autant d’inventivité que le premier et son propos technique constitue un complément essentiel aux formules synthétiques du second. L’Institution oratoire, partagée entre deux postulations plus
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complémentaires que contradictoires – le souci du détail et l’aspiration à l’exhaustivité – fut la source féconde à laquelle s’abreuvèrent des générations de professeurs, de théoriciens, d’alumni, mais aussi d’écrivains de tout premier plan. Les articles sont répartis en trois rubriques, organisées selon une logique chronologique: la première traite de l’Antiquité, la suivante regroupe le Moyen Âge et (surtout) la Renaissance, et la dernière, que nous évoquerons ici plus en détail, concerne l’âge classique. On lira avec grand intérêt et beaucoup d’émotion l’étude que Fernand Hallyn, disparu quelques mois avant la parution de ce collectif dont il fut aussi l’un des maîtres d’œuvre, consacre à la place de Quintilien dans les débats sur la peinture et l’expression des passions à l’âge classique. L’article met en regard ses analyses et des extraits du Cours de peinture par principes de Roger de Piles: l’influence du rhéteur est ainsi irréfutablement attestée. Hallyn retranscrit ensuite les termes du débat qui opposa de Piles à Le Brun: le premier défend une conception très »quintilianisante« de l’actio, attentive aux plus infimes mouvements du corps et du visage et refusant une théorie trop systématique des passions: une telle position s’oppose aux prétentions universelles de la physiognomonie, qui, sans être absolument coupée de l’héritage du rhéteur latin, en constitue tout de même une réinterprétation considérable, tributaire de la science médicale et de la philosophie cartésienne. C’est là sans doute ce qui explique chez de Piles la valorisation esthétique du coloris (plutôt que du trait), mieux capable de stimuler l’imagination et de traduire les impressions d’ensemble. On retrouve dans ces pages ce singulier mélange de rigueur scientifique et d’intuition interprétative auquel Fernand Hallyn avait habitué ses lecteurs, ainsi que son talent à organiser le dialogue des disciplines (science, philosophie, littérature et arts): c’est là le dernier témoignage (et la dernière leçon) d’un chercheur d’exception. Cette inventivité et ce sérieux sont également à l’œuvre dans l’ensemble des études réunies ici, d’une qualité très uniformément remarquable. C’est pourquoi, plutôt que d’épouser la ligne chronologique de ce collectif – dont la dimension de fresque est absolument évidente – cette présentation, au prix d’une subjectivité parfaitement assumée, évoquera principalement les méthodes mises en œuvre et les impressions laissées au lecteur par ce très riche panorama. Ce sera aussi un moyen de rendre hommage à l’esprit de ce livre, où les démarches sans cesse se complètent, se répondent et s’enrichissent mutuellement. Les centres d’intérêt communs, malgré la diversité des sujets, dessinent des lignes de force tangibles, qui sont autant de signes manifestes d’un dialogue entre chercheurs, au-delà des siècles de spécialité: c’est bien ce qui signe habituellement la réussite d’un collectif. Il y a là tout d’abord d’ambitieux tableaux, tributaires de l’histoire de la littérature et de l’histoire des idées, qui dessinent un cadre général ou atti-
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rent l’attention sur des moments forts du développement du »quintilianisme«. Dans une ample perspective cavalière qui court de l’Antiquité jusqu’aux utilisations que les prédicateurs chrétiens peuvent faire de l’enargeia et de la théorie des passions, Gabriella Moretti souligne le rôle de »passeur« de Quintilien, grand réformateur de la théorie gréco-latine de l’actio. Carlos Lévy étudie transversalement l’influence de la philosophie sur l’œuvre rhétorique de Cicéron et de Quintilien, pour conclure à une instrumentalisation plus grande chez ce dernier de la doctrine, entièrement mise auservice de la discipline rhétorique (au prix parfois de quelques simplifications), quand Cicéron, volontiers polygraphe, maintenait encore un équilibre entre ces disciplines. Perrine Galand insiste sur l’orientation morale de la pensée de Quintilien et sur la théorie dynamique de l’imitation (comme émulation): ce sont là les deux axes que retiendront en priorité les auteurs de traités de poétique à la Renaissance. Au chapitre de l’histoire des idées, les jésuites occupent naturellement une place de choix: Giovanni Baffetti souligne le rôle essentiel de la rhétorique comme discipline maîtresse et unificatrice de leur ratio studiorum; l’idéal cicéronien du parfait orateur reste bien sûr d’actualité, mais les Collèges de la congrégation voient dans la démarche progressive, pratique et didactique de Quintilien le guide le plus sûr: ainsi les manuels de Cypriano Soarez ou de François Pomey font-ils davantage figure d’introductions à la lecture de l’Institution oratoire que de textes absolument autonomes. Les jésuites ajoutent toutefois leur propre marque, discrète lorsqu’il s’agit de distinguer entre les livres les plus abordables et ceux qui seront réservés aux adolescents les plus avancés, plus sensible lorsqu’il s’agira de conjoindre en une paideia chrétienne unique la religion, la progression pédagogique et l’actio. Baffetti souligne également des divergences de pratique importantes: l’Europe du Nord, promotrice avec Juste Lipse ou le P. Busæus d’une réévaluation toute cicéronienne du style, favorise l’essor de l’art de la pointe en poussant jusqu’à ses limites l’atticisme de Sénèque; Mascardi ou Pallavicino préfèrent à l’inverse une manière plus équilibrée qui ouvre la voie à l’idéal classique. Sophie Conte étudie également l’influence de Quintilien sur les rhétoriques post-tridentines, en comparant Valier, Valadés, Carbone ou encore Reggi. À des degrés variables, tous ont tendance à »digérer« la leçon du modèle latin, mais c’est indiscutablement Louis de Grenade qui en est le plus directement tributaire, incluant dans son traité un vaste chapitre sur l’amplificatio (rappelons que l’Institution est le premier texte à proposer un chapitre autonome consacré à cette notion) ou reprenant largement les réflexions touchant à la moralité et à la sincérité de l’orateur ou à l’actio. Le motif du vir bonus dicendi peritus est réinterprété dans une optique chrétienne englobant à la fois la morale et le style – on a là, sous un jour différent, un écho à l’étude qu’Ida Gilda Mastrorosa consacre à la lecture que fait Pline le Jeune de
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l’Institution oratoire, précisément à l’aune de la fameuse formule attribuée à Caton. Croisant les préoccupations de G. Baffetti, c’est à la genèse de l’idéal classique que s’intéresse Emmanuel Bury: l’histoire des idées, héritière de la pensée positiviste, a sans doute valorisé à l’excès la question des règles (vraisemblance, bienséance, etc.) et des genres au détriment de la réflexion proprement linguistique sur le style. Or c’est sous la plume des »remarqueurs« et des tenants du bon usage (de Vaugelas à Bouhours) que se manifeste le plus distinctement l’influence de Quintilien sur le classicisme français: même s’ils refusent parfois de l’admettre – pour Balzac, Quintilien incarne la figure du »pédant« –, c’est bien le modèle latin qui leur permet de réévaluer les concepts de clarté et de naturel, de théoriser l’honnête »raillerie« et d’élaborer le modèle d’une parole urbaine. Dialoguant à distance avec E. Bury, Volker Kapp revient sur la genèse et l’exploitation, essentiellement en France, de la notion rhétorique de clarté1. Trébizonde qui utilise le premier ce terme pour traduire le concept aristotélicien de saphèneia (les rhétoriques latines utilisaient perspicuitas plutôt que claritas) est à l’origine d’une diffusion très large de cette prescription de Quintilien (la clarté comptait parmi les virtutes dicendi, les qualités générales du style). Sa pensée, relayée par les théoriciens italiens et français de la Renaissance, est instrumentalisée au XVIIe siècle par les théoriciens de la »clarté française«, qui font de cette qualité le principe d’une esthétique spécifiquement nationale, liée au génie de la langue. S’ils répugnent parfois à citer leur source (Bouhours), ils sont toutefois très conscients de la dette contractée envers Quintilien, encore régulièrement allégué au XVIIIe siècle par les auteurs de L’Encyclopédie. Approfondissant ces études transversales, bon nombre d’articles appréhendent plus spécifiquement les liens entre la pensée de Quintilien et celle d’un auteur particulier, ou de quelques traités ciblés. Encore s’agit-il à chaque fois de figures absolument majeures, à elles seules représentatives d’une époque ou d’un courant de pensée: Pierre Chiron analyse ainsi la redéfinition de la notion d’exorde chez Quintilien à partir des rhétoriques grecques, principalement La Rhétorique à Alexandre (d’inspiration coraxienne) et Aristote. Laure Hermant-Schebat explique comment Pétrarque retient essentiellement le rôle du pédagogue (Cicéron incarne davantage l’avocat que le professeur) et emprunte à Quintilien sa conception de dynamique de l’imitation, comprise comme témoignage de révérence mais sur1 Cet article sera donc un utile contrepoint au volume récemment dirigé par Delphine Denis (Hg.), L’obscurité: langage et herméneutique sous l’Ancien Régime (Louvain La Neuve 2007).
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tout comme geste de dépassement. On retrouve la même idée directrice dans l’étude que Wim Verbaal consacre à Jean de Salisbury, qui déjà s’inspirait de Quintilien pour élaborer son propre geste critique et justifier sa liberté à l’égard des modèles. En aval, Christophe Gutbub étudie la conception de l’imitation et de l’invention affichée par la très »malherbienne« Académie de l’Art poétique de Deimier: en approfondissant les différences entre imitation servile et émulation, le poéticien trouve chez Quintilien les fondements d’une poétique conçue comme démarche dynamique, hantée par l’idée de progrès. Mais la théorie de l’imitation n’est pas seule en cause: Marc Van der Poel étudie chez Erasme la réinterprétation de la conception de la déclamation: elle n’est plus orientée vers la performance orale comme chez Quintilien (on trouvera ici un écho à la communication de Gualtiero Calboli, consacrée à cette même problématique), mais se transpose prioritairement à l’écrit; le critique note un net infléchissement en faveur du genre délibératif, absolument essentiel dans un contexte où Érasme, attaqué de toutes part, tentait encore une difficile conciliation entre catholiques et protestants. Mariangela Regoliosi adopte une perspective tout aussi surplombante pour démontrer comment Lorenzo Valla a véritablement calqué sa méthode sur celle du pédagogue Quintilien, dans différents domaines de pensée (de la philosophie à l’argumentation en passant par des préoccupations spécifiquement linguistiques ou stylistiques), érigeant même l’Institution oratoire au rang de modèle de vie. Avec la rigueur philologique dont il est coutumier, Jean Céard étudie la façon dont Josse Bade, pour son édition de 1516, intervient sur le texte de Quintilien: l’intelligence de l’humaniste se manifeste notamment dans les choix touchant à la ponctuation ou l’ordre des mots: c’est là que se donne à lire, en creux, sa véritable lecture critique, davantage sans doute que dans les »seuils« du texte ou dans les commentaires, spectaculairement brefs. Enfin, Alexander Roose rappelle comment le philosophe libertin La Mothe le Vayer emprunte de nombreux motifs à Quintilien (le vêtement de l’orateur, la métaphore de la main ouverte, l’importance du choix du précepteur, le rôle de l’éloquence dans la pratique du pouvoir politique…). Quintilien a aussi ses détracteurs: Florent Rouillé signale que dès l’époque médiévale, Alain de Lille s’en prend sévèrement au rhéteur, coupable à ses yeux d’être davantage l’héritier des sophistes que le promoteur de la raison et de la grande philosophie. Plus tard, chez Ramus, l’accusation de »sophiste« a pour arrière-plan les antagonismes religieux et se cristallise notamment autour de la notion d’èthos: sur ce point, l’article de Jean Lecointe apporte une caution précieuse et érudite aux perspectives esquissées par Benoît Timmermans dans l’Histoire de la Rhétorique dirigée par Michel Meyer.
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Enfin, le talent de pédagogue de Quintilien appelait toute une série d’études envisageant spécifiquement cette dimension de son œuvre, appréhendée ici sous divers jours, de la théorie à la dimension la plus pratique: Maria Silvania Celentano nous montre ici le professeur à l’œuvre, et montre notamment tout ce que le livre X de l’Institution oratoire doit à Cicéron; c’est à l’influence de ce même livre sur les poétiques latines de la Renaissance, mais aussi aux traités d’histoire de la littérature que s’intéresse également Virginie Leroux. John Nassichuck retrace l’émergence du genre du traité pédagogique à la Renaissance: même si désormais l’objet est davantage l’éducation du prince que la formation de l’avocat, Vergerius, Vegius ou Piccolomini s’inspirent très directement du Livre Ier de L’Institution Oratoire. Enfin, Francis Goyet part d’une analyse pratique minutieuse de trois extraits canoniques de discours de Cicéron, régulièrement attestés comme exemples de figures par les traités de rhétorique, pour mettre en évidence la manière de penser de Quintilien ou plus tard de Fouquelin: ils supposent un savoir préalable chez leur lecteur, ce qui leur permet, pour illustrer une figure, de ne référencer que le cœur de l’exemple sans le citer dans son intégralité: il y a donc pour le lecteur contemporain un risque de contresens évident, qui consisterait à restreindre l’interprétation de la figure aux seules phrases effectivement citées. L’idée d’interpréter les figures selon un spectre large redonne pleinement sens à leur valeur de skhèmata: elles sont liées pour le lecteur à une fonction (et à un plaisir) de reconnaissance, et sont également au principe de l’organisation du texte comme com-position de grandes unités ou grands ensembles. Francis Goyet insiste particulièrement sur l’efficacité de la dispositio, clé de lecture un peu trop négligée aujourd’hui, et attire l’attention sur l’importance du paragraphage, qui, loin de répondre uniquement à une fonction esthétique, obéit à une double logique pédagogique et rhétorique. La démarche de cet article pourra surprendre, mais c’est là toute une herméneutique que Francis Goyet, par la compréhension interne de la méthode des rhéteurs et de Quintilien en particulier, se propose de refonder. Cette rapide description ne rend évidemment pas pleinement justice à un volume d’une exceptionnelle richesse qui comble une véritable manque dans le panorama des études rhétoriques: il va sans dire que cette lecture est, plus qu’utile, véritablement urgente. Stéphane Macé, Grenoble
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Jürgen Meyer, Textvarianz und Schriftkritik: Dialogische Schreibund Lesekultur bei Thomas More, George Gascoigne und John Lyly [Neues Forum für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft 42], Heidelberg: Winter, 2010, 427 S. Bei all dem Schwung, der in den letzten Jahren in das Studium der frühneuzeitlichen Literatur Einzug gehalten hat, ist es oftmals bedauerlich, dass trotz all der Bemühungen um einen kritischen Umgang mit dem Kanon früherer Generationen nach wie vor so viele Publikationen zu den Großen der Literaturgeschichte und zu den immer schon etablierten Gattungen (Lyrik und Drama) der frühen Neuzeit erscheinen. Aus diesem Grund ist eine Monographie wie die von Jürgen Meyer zu Prosafiktionen des sechzehnten Jahrhunderts doppelt willkommen. Der Titel der Schrift kündigt an, dass der Textbegriff eine zentrale Rolle spielt, insbesondere auch im Hinblick auf die historische Rezeption. Meyer theoretisiert dann auch im ersten Kapitel die Bedeutung von Lesern und ihren Erwartungen im Kontext von Werken, die durch ihre Autoren eine zweite Fassung erhielten, und zeigt, welche leserinduzierte Motivation Autoren zu derartigen Neupositionierungen bewegte. Meyer sieht in der puritanischen Schriftfeindlichkeit, insbesondere hinsichtlich fiktionaler Werke, einen zentralen Grund für die Bereitschaft von Autoren, ihre Texte auch nach dem Erscheinen und möglicher Kritik in einer neuen Fassung noch einmal zu publizieren. Diese Form des Autor-Leser-Dialogs steht in direktem Bezug zum verstärkten Aufkommen des Buchdrucks und der damit einhergehenden Verdrängung persönlicher Dialogkulturen durch schriftlichen Meinungsaustausch. Der parallel damit einsetzende soziale Bedeutungsverlust von Coterie-Strukturen destabilisierte die Textwelt noch weiter. Sowohl die kritischen Stimmen aus den poetologischen Diskursen als auch die in den Neufassungen von Texten erkennbare Instabilität von bereits Geschriebenem lassen diese frühneuzeitliche Unsicherheit in Bezug auf den Status von Gedrucktem deutlich hervortreten. Die Arbeit als Ganzes orientiert sich somit an der Selbstverortung auktorialer Werkgestaltung. Das zweite Kapitel führt umfassend in den Streit um den Status der englischen Poesie zwischen 1579 und 1584 ein. Durch seine detaillierte Darstellung einiger poetologischer Publikationen, die sich um Sidneys Defence of Poesie gruppieren, zeigt Meyer, welche sozialen, ästhetischen und vor allem rhetorischen Bedingungen die Debatte um Sinn und Möglichkeit literarischer Produktion bestimmten. Mit ausführlichem Rekurs auf den aktuellen Forschungsstand zu Sidneys Text und die historischen Debatten der Mitstreiter Gosson und Lodge zeigt das Kapitel, dass Sidneys formaler Zugang der diskursiven wenn nicht sogar kommunikativen Diskussionskultur der Zeit geschuldet ist.1 Der Bezug auf die zahlreichen intertextuel-
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len Referenzen wird dabei vor allem als eine philologische Größe dargestellt und nur bedingt in seiner Dynamik oder theoretischen Implikation (Bakhtinsche Begrifflichkeiten und Konzepte etwa erscheinen nur in knappen Verweisen) zu einer abstrakteren Größe zusammengetragen. Die Problematik der frühneuzeitlichen Poetologiedebatte wird jedoch durch Meyers nuancenreiche Textexplikation in ihrer gesamten Reichweite deutlich. Dabei betont er wiederholt, wie sehr die Rekurrenz auf die historischen Lesererwartungen den produktiven Schreibprozess mit beeinflusste. Er unterscheidet dazu zwischen explizit angesprochenen Adressaten, etwa den Stadträten in Gossons Abhandlungen oder den Richtern bei Lodge, sowie den eher allgemein gefassten hypothetischen Lesern und Hörern, deren oftmals unfreundliche Rezeption vorauseilend antizipiert und zugleich abgewandt werden soll.2 Die verbleibenden drei Hauptkapitel des Buches widmen sich je einem Autor und den unterschiedlichen Fassungen eines oder mehrerer seiner Werke. In Meyers dichter Sprache ausgedrückt ist das Erkenntnisinteresse Folgendes: »Rekonstruiert werden anhand beispielhafter Werke, deren Überlieferungslage diesen Ansatz in besonderer Weise zulässt, unterschiedliche Formen des frühneuzeitlichen, eine direkte Kommunikationssituation simulierenden Autor-Leser-Dialogs« (114). Das besondere Augenmerk liegt darauf, die Motivation für bestimmte von den Autoren vorgenommene Veränderungen zu beleuchten und die rezeptionsgesteuerte Textgenese innerhalb von Umschreibungsprozessen darzustellen. Das Kapitel zu Thomas More liefert eine umfassende Darstellung der Publikationsgeschichte von Richard III, sowohl in der lateinischen als auch der englischen Fassung. Furcht vor Repressalien von nach wie vor einflussreichen Zeitzeugen verhinderte offenbar den Druck; ebenso beschäftigte More die Rechtmäßigkeit der Thronfolge. Die Bearbeiter rückten der Textvorlage mit ganz unterschiedlichen Motivationen zu Leibe, die Meyer jeweils im historisch-politischen Kontext verortet. Deutlich wird, wie die Textproduktion und die Umarbeitungsprozesse von den gegenläufigen Ansprüchen historiographischer Repräsentation und offiziell-theologischer Loyalitätsbekundungen bedrängt waren. Besonders interessant werden die Ausführungen, wenn es um den im Text angelegten »Fiktionsvertrag« und 1 Meyers Arbeit erscheint bedauerlicherweise parallel zu Robert E. Stillman, Philip Sidney and the Poetics of Renaissance Cosmopolitanism (Aldershot 2008), der ebenfalls Leserkompetenzen diskutiert. 2 Hier betritt Meyer wissenschaftliches Terrain, das schon von Debra Belt, »The Poetics of Hostile Response, 1575 – 1610«, Criticism 33.4 (1991), 419 – 59, sowie für einen etwas späteren historischen Ausschnitt von Paul Trolander und Zeynep Tenger, Sociable Criticism in England, 1625 – 1725 (Newark 2007), beschritten wurde.
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um eine »Lektüreanleitung« geht (166), wenn Meyer in Mores Werk also dezidiert appellative Strukturen aufweist, die jedoch Raum für ganz unterschiedliche Lektüren offen lassen; und somit, ließe sich ergänzen, Vorläuferformen dessen darstellen, was Stanley Fish bekanntermaßen als »selfconsuming artifacts« für das siebzehnte Jahrhundert beschrieben hat. Das moralisch-formale Dilemma aus seiner Richard-Verarbeitung vermeidet More in der Folge durch die Verlagerung auf eine nicht-repräsentative Thematik in den Utopia Texten. Dabei erweist sich jedoch die fremdhändische Editionsarbeit an diesem Werk als problematisch, greift sie der auktorialen intentio doch wiederholt vor. Meyer problematisiert hierbei insbesondere die diffizile Lesesteuerung des (leider nicht erhaltenen) Originaltexts, der neben der Ansprache von imaginatio bewusst auch die ratio anregen wollte, um jenseits der fiktiven Illusion auch eine kritische Lektüre anzuregen. Das fehlende Merkmal der Disambiguierung in der ersten Ausgabe war, so Meyer, einer der Hauptgründe für die zweite Edition und ihren komplexen paratextuellen Apparat. Die Flüchtigkeit textuellen Verstehens (sozusagen die Differenz der Semiotik) wird für More somit zu einem Kernproblem der sich ändernden Textausgaben. George Gascoignes Master F.J. erschien ebenfalls in unterschiedlichen Fassungen. Sowohl die eigentliche Textlichkeit als auch Fragen der Buchproduktion werden in dieser Fiktion explizit thematisiert und von Meyer in Bezug auf ihre Wirkung bei den Lesern untersucht. Behandelte Aspekte schließen Geschlechterdifferenzen, das Buch als Ware sowie die paratextuelle Lesersteuerung ein; von besonderem Interesse sind aber die im Werk selbst stattfindenden Leseakte und »Fehllektüren« (277). Das größere Konvolut, in dem Gascoigne diese Fiktion veröffentlichte, erweist sich als bunte Mischung verschiedener Textarten, die dementsprechend offenbar eine potentiell breite Leserschaft angesprochen haben. Die Unterschiede zwischen den beiden Buchversionen bleiben letztlich unerklärlich, auffallend sind jedoch die an unterschiedlichen Stellen vorgenommenen Verbesserungen im Vergleich zur Erstausgabe sowie das verminderte Bestreben, Authentizität der dargestellten Begebenheiten zu suggerieren. Zudem lässt sich eine Gattungsverschiebung weg von der Romanzen- und hin zur Novellentradition beobachten. Für eine textgenetische Analyse bedauerlich, muss Meyer auch hier konstatieren, dass keine handschriftlichen Fassungen des Stoffs vorliegen und die Explikation der Genese also mit den unterschiedlichen Druckfassungen Vorlieb nehmen muss. Die Diskussion von Lylys Doppel-Euphues geht weniger kontrastiv vor, sondern präsentiert vielmehr den kumulativen Effekt zweier sich ergänzender Texte. Das Augenmerk liegt dabei weniger auf der Textvarianz, sondern vielmehr auf der Darstellung der Gesamtnote, wobei vor allem der Bezug
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auf zahlreiche Quellentexte und Vorgängerdiskurse der englischen und antiken Literatur und Philosophie sowie die zahlreichen Weiterschreibungen des euphuistischen Modells berücksichtigt werden. Konkrete Leserdialoge bleiben dabei außen vor und werden auch dadurch erschwert, dass das Doppelwerk als beinahe alle Kunst- und Lebensbereiche abdeckende Gesamtrepräsentation zeitgenössischer Ästhetikdebatten und Sozialrealität vorgestellt wird. In diesem Kapitel überlagert, stärker noch als in den vorangegangenen Abschnitten, die Frage nach mimetischen Programmen und poetologischen Positionierungen die eigentliche Thematik der dialogischen Schreib- und Lesekultur. Meyer liest Lylys Werke als »vieldimensionale Medien-Kritik« (312), die zugleich den palimpsesthaften Charakter der Schreib- und Lesekultur deutlich macht. Wenn für Lylys Werk eine »kontinuierlich verlaufende Dislozierung innerhalb des intertextuellen Universums« (375) konstatiert wird, wirft dies zugleich grundsätzliche Fragen über die Einheit eines Textes und (ganz generell) den Werkbegriff auf, die zu einer sehr viel weiter gefassten Debatte über formale Strukturen und Strategien einladen. Hier wäre dann auch wieder Raum für den Leser, der für die Navigation in diesem intertextuellen Netzwerk konkrete Kompetenzen und Erfahrungen mitzubringen hätte. Meyer verschließt sich einer derartigen Sicht auf die Lesearbeit nicht, verweist jedoch nur kursorisch auf »die Bedeutung eines umfangreichen Archivs antiker und zeitgenössischer Werke« (380). Der Band endet mit einem knappen Ausblick, der die erbrachten Erkenntnisse unter den Schlagwörtern »Verstummen«, »Kämpfen« und »Gehorchen« diskursiv sammelt. Dort wird noch einmal deutlich, dass die Grenzziehung zwischen fiktionalen Werken und realistisch-historiographisch-didaktischen Ansprachen eine zentrale Bedeutung für das AutorLeser-Verhältnis darstellte. Generell unternimmt Meyer in seiner Studie immer wieder den schwierigen Spagat, sowohl eine historisch penibelst kontextualisierte Lektüre einzelner Werke vorzunehmen als auch die allgemeingültige Dynamik des Autor-Leser-Verhältnisses in der politisch turbulenten Frühphase des Buchdrucks herauszuarbeiten. Der Fokus auf eine relativ kleine Anzahl von detailliert besprochenen Texten wirft die Frage nach der Repräsentanz der entworfenen Antworten auf. Die relativ eng gefasste Textauswahl wird zudem von einer nicht überall bedingungslos anschlussfähigen Methodenwahl begleitet. Obwohl Lesen, Leser und Lesekultur eine zentrale Rolle in dieser Arbeit spielen, fällt die methodologische Reflexion zur Rezeptionsseite eher knapp aus. Das ausgewählte Rezeptionsparadigma beschränkt sich vornehmlich auf die Chicago School, und dort wiederum fast ausschließlich auf den Ansatz von Peter Rabinowitz. Weitere Differenzierungen in ideale, implizite, reale etc. Leser unterbleiben ebenso wie der theoretische Anschluss an die Leserausrichtung bei Bakhtin
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(und dessen Dialogizität) oder an Beiträge zu frühneuzeitlichen Lesern aus dem Forschungskontext von book culture. Die Stärke dieser Studie liegt sicherlich in ihrer detailreichen Kommentierung zahlreicher individueller Textpassagen. Mit fortschreitender Lektüre zeigt sich zudem, dass die Mimesis-Problematik mit ihrer Fokussierung auf die Repräsentationsniveaus ästhetischer Werke ein verbindendes Element sowohl der unterschiedlichen Einzelfallstudien als auch der Fragen nach Textvarianz und Schriftkritik liefern kann. Dass Meyer mit seiner Darstellung der Rezeptionseffekte auf den tatsächlichen Schreib- oder zumindest Herausgabeprozess von literarischen Texten den Finger in eine offene Wunde oder zumindest doch bedauerliche Lücke im frühneuzeitlichen Forschungsstand legt, steht ohne Zweifel fest. Gerd Bayer, Erlangen Thomas Schölderle, Utopia und Utopie. Thomas Morus, die Geschichte der Utopie und die Kontroverse um ihren Begriff. Baden-Baden: Nomos, 2011, 540 S. Die vorliegende Untersuchung eines Politik- und Sozialwissenschaftlers widmet sich mit der Utopie einer Gattung, die seit weit über hundert Jahren gleichermaßen in der Literaturwissenschaft, in der Philosophie und in der Politik- und Sozialwissenschaft großes Interesse gefunden hat. Der Arbeit dient die Utopia von Thomas Morus als Schlüsseltext in einer ungemein intensiven Begriffs- und Gattungsdiskussion. Dafür gibt es gute Gründe. Morus hat nicht nur den Namen Utopia erfunden, sein Werk ist auch insofern ein paradigmatischer Vertreter der Gattung, als der hier präsentierte Inselstaat Fiktionalität aufweist, in einen sozialkritischen Kontext eingebunden ist und den Charakter nicht eines zu verwirklichenden Musterstaats, sondern eines Gedankenexperiments besitzt. Darüber hinaus dient die Utopia durch die gesamte Geschichte der utopischen Literatur als Referenztext, und auch wenn der Bezug auf sie fehlt oder abgestritten wird, ist dies ein aufschlussreiches Phänomen. Das Grundproblem, dem sich die Arbeit stellt, ist die Frage, wie man angesichts der Vielfalt unterschiedlicher Erscheinungsformen und Definitionen der Gattung zu einer einigermaßen gesicherten Begriffsbestimmung gelangt. Dieses Problem kann, wie Vf. meint, einer Lösung zugeführt werden, wenn man berücksichtigt, »dass Mores Utopia in erster Linie als Instrument der Sozialkritik intendiert ist, das diese Funktion auf dem Wege [der Erstellung] eines alternativen, spielerisch-experimentellen Gegenbildes übernimmt« (26). Die Untersuchung ist systematisch aufgebaut. Die Einleitung erörtert zunächst die »Krise des Utopiebegriffs« in der Moderne, die sich zum Beispiel bei Karl Mannheim zeigt, für den »die Utopie ihren Beweis erst durch
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das Wirklichwerden antritt« (16), was einem Utopie-Begriff, der sich auf Morus’ Vorstellung der Utopie als ein Gedankenexperiment bezieht, die Grundlage nimmt. Daran schließen sich Darlegungen zur Etymologie und zur Verwendung des Utopie-Vokabulars als umgangssprachlicher Begriff, als »politischer Kampfbegriff« und als »wissenschaftliche Kategorie in der Sozialwissenschaft« (18 – 22) an. Als Hauptziel der Untersuchung wird die Nutzung »des bei Morus bereits mehrdeutig angelegten Sinn[s] von Utopie« (23) für die Erarbeitung eines adäquaten Begriffs der Utopie bezeichnet. Sodann werden drei wesentliche Einzelziele der Arbeit vorskizziert, (1) die Erarbeitung einer »Denktradition« durch die Sichtung von historischen Texten, die als Utopien gelten, (2) die Aufarbeitung der sozialwissenschaftlichen Kontroverse um den Begriff der Utopie im 20. Jahrhundert, und (3) der Versuch »einer kriterienbasierten Utopiebestimmung« (30 – 32). Der umfangreiche erste Teil der Untersuchung, der fast den Charakter einer eigenen Monographie annimmt, widmet sich Thomas Morus und der Utopia. Ein Problem, das Vf. zu lösen versucht, ist die Frage, wie ein Mann, »der für den Primat des Papstes und die Einheit der Kirche sein Leben opferte, rund zwanzig Jahre zuvor eine Schrift veröffentlichen konnte«, die »eine weitgehend heidnische, rationalistische und sozialistische Ordnung« beschrieb (34). Durch intensive biographische und werkbezogene Recherchen weist Vf. nach, dass es eines nicht gibt: »den zeitlich nacheinander auftretenden heiter-ironisch-irdischen Humanisten und den asketisch-jenseitigen Katholiken« (56). Man könnte meinen, die Betrachtung der Utopia im Kontext der Biographie und des Gesamtwerks von Morus sei unerheblich für die Lösung des Begriffsproblems der Utopie, aber Vf. kann zeigen, dass die Ambivalenzen in Mores Leben und Werk Einfluss auf die Utopia-Rezeption und letztlich auch auf die Grundperspektiven der Utopie-Forschung genommen haben. Dabei unterscheidet er christlich-konservative, sozialistische, biographische, mittelalterliche, neuzeitliche und humanistische Lesarten. Seine Sympathie für den sogenannten humanistischen Interpretationsansatz vermag er überzeugend zu begründen. Dieser beziehe den ironisch-heiteren Aspekt der Utopia ebenso ein wie den reformerischen Charakter und den geistesgeschichtlichen und traditionsbegründenden Kontext des Werks und biographische sowie gattungsgeschichtliche und strukturelle Gesichtspunkte (70). Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Vf. als Politologe und Sozialwissenschaftler sehr gediegene Untersuchungen zu Form und Intention von Mores Werk durchführt, wenngleich man sich eine eingehendere Würdigung der dialogischen Struktur der Utopia vorstellen könnte. Der Teil über Morus wird durch eine intensive Diskussion der entscheidenden Aspekte der utopischen Staats- und Gesellschaftsordnung in Mores Werk abgeschlossen,
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die unter dem Titel »Das Gedankenexperiment der Vernunft« erfolgt und in einer Deutung der Utopia als erasmisches »Lob der Vernunft« gipfelt (153). Als zentral für den Utopie-Begriff des Werks werden die Termini »kritische Intention« und »rationales Experiment« bezeichnet (161 – 163). Keine Begriffsbestimmung der Utopie komme, so heißt es zusammenfassend, an den Kategorien des »soziopolitischen Gegenbilds« und der »kritischen Intention« vorbei (165). Damit ist die Basis für die folgenden beiden Teile der Monographie, die Analyse der utopischen Literatur in ihrer chronologischen Abfolge und des (sozial)wissenschaftlichen Utopie-Diskurses vom späten 19. Jahrhundert bis heute, gelegt. Methodisch geht die Untersuchung nicht von einer axiomatisch festgelegten Definition der Utopie aus. »Erst als Ergebnis des historischen Überblicks und auf der Basis der Begriffskontroverse soll letztlich festgehalten werden, welche Identitätsmerkmale die Utopie bestimmen« (163). Der historische Teil kann hier nicht in extenso referiert werden. Grundsätzlich ist festzustellen, dass Vf. eine Fülle von Belegen von den antiken Wurzeln der Utopie bis zu Marge Piercys feministischer Utopie Woman on the Edge of Time (1976) und Jürgen Habermas’ Konzept einer konsensualistischen Kommunikationsgemeinschaft aus den achtziger und neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts heranzieht und auf ihre utopische Substanz befragt. Als beispielhaft für das hohe Argumentationsniveau der Darlegungen seien genannt: die Behandlung von Platons Staat, die Diskussion des Verhältnisses von Utopie und Kontraktualismus bei Hobbes und Rousseau, die Gegenüberstellung von Schnabels Insel Felsenburg als Raumutopie und Merciers L’an 2440 als Zeitutopie, die Erörterung des Verhältnisses von Utopie und Sozialismus und die Diskussion der Verwendung der Begriffe Anti-Utopie und Dystopie (292). Als Beispiel für die Dystopie dient Orwells 1984, ein Roman, der auch als »Warnutopie« bezeichnet wird (294). Ob Orwell mit seinem Werk »an die Veränderbarkeit politischer Verhältnisse« appelliert (293), ist angesichts der totalen Negativität der Vision eines absoluten Kontrollstaats, in dem kein Ansatz zu einer möglichen Reform besteht, allerdings fraglich. Und ob man das Werk als Zeitutopie im Sinne Merciers oder Bellamys verstehen kann (293), ist gleichfalls fraglich, weil die Zukunft doch sehr nahe an der Gegenwart liegt und sich der Titel 1984 als Anagramm für 1948, das Jahr der Entstehung des Romans, lesen lässt. Dieses Argument verstärkt wiederum Vf.s begründeten Hinweis auf die zeitkritische Dimension des Werks. Dass er Huxleys Brave New World als wissenschaftlich-technologische Dystopie so gut wie unberücksichtigt lässt, ist jedoch bedauerlich. Der theoretische Höhepunkt der Arbeit liegt in ihrem dritten Teil, der den Titel »Begriffskontroverse – Zum sozialwissenschaftlichen Utopiedis-
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kurs« trägt. Hier werden der Utopie-Begriff und das Verständnis des Utopischen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im wissenschaftlichen, politischen und ideologischen Kontext einer scharfsichtigen Prüfung unterzogen. Angesichts der »extrem normativ aufgeladenen Utopiedebatte« stellt Vf. mit großem Recht die Forderung auf, »die historischen Quellen der Utopie als entscheidende begriffsrelevante Faktoren ernst zu nehmen« (332 – 333). Die begriffstheoretische Diskussion subsumiert er unter die drei Kategorien: »klassisch, sozialpsychologisch und totalitarismustheoretisch« (333). Von erheblicher heuristischer Bedeutung ist dabei das Verfahren, die Vielzahl der unterschiedlichen Utopie-Bestimmungen daran zu messen, ob und wie es ihnen gelingt, »die Geschichte der klassischen Utopie zu verorten« (333). Im ersten Abschnitt wird ein »gewaltiges Forschungsdesiderat« (335) behoben, die Rekonstruktion der frühen UtopieForschung, die mit dem Begriff »Staatsroman« operiert und primär historisch und gattungsgeschichtlich orientiert ist (u. a. Mohl, Kleinwächter, Kirchenheim, Freyer, Mumford). Auch neuere Arbeiten in der klassischen Tradition, die über die frühen »Utopiechroniken« hinausgelangen, wie die von Hubertus Schulte Herbrüggen und Richard Saage, werden diskutiert. Der zweite Abschnitt widmet sich dem »intentionalen« Utopie-Begriff, der gesellschaftsverändernde Funktionen der Utopie herausstellt (besonders Landauer, Mannheim, Bloch). Der dritte Abschnitt erörtert die kritische Beurteilung der Utopie, die, namentlich bei Karl Popper, prinzipiell unter Totalitarismus-Verdacht gestellt wird. Konstatiert werden eine große Bedeutungsausweitung und eine damit verbundene Sinnentleerung des Begriffs in den letzten Jahrzehnten. An den sozialpsychologischen und totalitarismustheoretischen Bestimmungen der Utopie wird die »Entkoppelung von ihren wichtigsten historischen Quellen, allen voran der Utopia des Thomas Morus« (377), gerügt. Schölderles klarsichtige und scharfsinnige Auseinandersetzung mit diesen Utopie-Konzepten kann hier nicht wiedergegeben werden. Als beispielhaft sei die Stellungnahme zu Karl Popper erwähnt, dessen Eruierung totalitaristischer Elemente in holistischen Sozialtechnologien gewürdigt wird, dessen »Verwendung des Terminus ›Utopie‹ für den gemeinten Gegenstand« (414) aber entschieden widersprochen wird. Die Untersuchung mündet im Schlussteil in ein »begriffsanalytisches Fazit«, das in Anknüpfung an klassische Begriffsmuster eine auf thematische und formale Kriterien gegründete Definition der Utopie erstellt. Auch hier ist eine genauere Würdigung der stringenten und konsequenten Argumentationsfolge nicht möglich. Der Versuch, die eruierten mehr oder weniger konstitutiven Gattungskriterien der Utopie in einer Definition zusammenzufassen, erscheint allerdings nicht sehr gelungen:
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Eine Utopie ist der meist literarisch verfasste, fiktionale und universale Entwurf von idealtypisch und rational-experimentell konstruierten Institutionen oder Prinzipien eines Gemeinwesens, der den realhistorischen Verhältnissen in kritischer Intention gegenübergestellt und auf ein besseres Leben der Menschen gerichtet ist (481).
Hier handelt es sich eher um eine Begriffsexplikation als um eine Begriffsdefinition.1 Sie versucht zu viel in einem Satz unterzubringen und schließt Vagheiten ein wie »der meist literarisch verfasste […] Entwurf« und lässt das sonst in der Arbeit trefflich exponierte Verhältnis von Utopie und Dystopie unberücksichtigt. An diesem »Definitionsversuch« sollte man die hervorragend recherchierte und argumentierte Arbeit jedoch nicht messen, eine Arbeit, die als Meilenstein in der Forschung zur Utopie gelten muss und mit ihrer Verbindung literaturwissenschaftlicher2 und politik- und sozialwissenschaftlicher Methoden ein Modell geglückter Interdisziplinarität darstellt. Die in dieser Untersuchung vorgenommene Nutzung von Morus’ Utopia und ihrer Tradition für eine Begriffsbestimmung der Utopie überzeugt in jeder Hinsicht. Wolfgang G. Müller, Jena Ines Detmers, Wolfgang G. Müller (Hgg.), Don Quijotes Intermediale Nachleben / Don Quixote’s Intermedial Afterlives. Trier: Wissenschaftlicher Verlag, 2010. 350 S. In einer Zeit, in der Interdisziplinarität mantrahaft eingefordert wird, sich in der akademischen Realität aber nur allzu oft als monologisches und ermüdendes Aneinandervorbeireden der Disziplinen äußert, legen die Herausgeber Ines Detmers und Wolfgang G. Müller einen Band vor, der anhand der Figur des Don Quijote und einer von ihr hervorgerufenen »inter1 Handlicher ist etwa die folgende Definition, die allerdings den staatspolitischen Aspekt vernachlässigt: »›Utopien‹ sind fiktionale, anschaulich gemachte Entwürfe von positiven oder negativen Gegenbildern, die sich implizit oder explizit auf eine historische Wirklichkeit beziehen, in der sie entstanden sind«. Wilhelm Voßkamp, »Utopie«, Handbuch der literarischen Gattungen. Dieter Lamping (Hg.); Stuttgart: Kröner, 2009, 740 – 750, Zitat: 740. 2 Zu bemängeln ist freilich, dass fremdsprachige Texte in der Regel nur in deutscher Übersetzung zitiert werden. In der Bibliographie erscheinen etwa die Originaltitel von englisch- oder französischsprachigen Utopien am Schluss nur in Klammern. In der Untersuchung von Orwells 1984 hätte mehr über die Sprache des Totalitarismus gesagt werden können. Vermisst wird, wie bereits angedeutet, eine Behandlung von Huxleys Brave New World. Man sollte in dieser Hinsicht allerdings nicht zu kritisch sein, da die Arbeit insgesamt mehr Texte behandelt als alle vergleichbaren Untersuchungen mit Ausnahme der von Richard Saage, die allerdings nicht begriffsanalytisch verfährt. Interdisziplinarität hat auch ihren Preis.
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medial profilierten Interfiguralität« (9) ein Paradebeispiel einer gelungenen Komparatistik vorführt. Die hier zusammengeführten Disziplinen – von der Musik, über die Skulptur, Kunst und Literatur bis hin zu den Genres der Pop-Kultur, Comics und Computerspiele – unterstreichen eindrucksvoll, dass interdisziplinäres Arbeiten erfolgreich sein kann, so lange es sinnvoll auf die »semio-ästhetischen Veränderungen« und Entwicklungen einer Figur oder eines Stoffes begrenzt bleibt und darauf verzichtet, unter Einbeziehung artfremder Disziplinen wie Medizin, Naturwissenschaften oder Jura Komparatistik zu einem pseudo-kulturwissenschaftlichen Happening zu machen. Den Auftakt des Bandes bildet jedoch zunächst eine allzu positivistische Materialsammlung aus dem Bereich der Musik. Die Annahme, dass es möglich sei, »eine Geschichte der Musik in ihren wesentlichen Zügen vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart allein anhand von Don Quijote-Vertonungen zu schreiben« (14), verführt Friedrich Geiger und Oliver Huck dazu, das Element des Quantitativen in den Vordergrund zu stellen und den Aufsatz mit einer oft verwirrenden Vielzahl von Namen und Details zu überfrachten. Erst im zweiten Teil des langen Aufsatzes nehmen die Autoren Abstand von der vexatorischen Materialfülle und wenden sich mit ausgewählten Notenbeispielen einem ertragreichen musikalischen close reading zu. Was bereits in diesem ersten monumentalen Aufsatz anklingt und in der Folge geradezu leitmotivisch wiederkehrt, ist die These, dass Don Quijote in der Aufklärung des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts als ein verblendeter Narr gedeutet, im Zuge der Empfindsamkeit und der Romantik dann zunehmend die Rolle des Idealisten zugewiesen bekommt, der an der prosaischen Realität zu zerbrechen droht. Im darauffolgenden Aufsatz stellt Kurt Müller luzide dar, dass mit Fieldings Übersetzung des Don QuijoteStoffes ins Drama bereits eine »komplexere Funktionalisierung der Gestalt« (60) einsetzt. Kurt Müller ist hier sicher zuzustimmen, wenn er im 18. Jahrhundert eine »Dekonstruktion des farcentypisch verkürzten Figurenkonzeptes der Quijote-Gestalt« feststellt, dennoch sollte nicht gänzlich verschwiegen werden, dass mit der Erfindung weiblicher Quijote-Figuren seit Charlotte Lennox’ The Female Quixote (1752) ein satirisches Potential wider die Empfindsamkeit Einzug in die Romanliteratur hält, das schließlich in dem – in dieser Studie unerklärlicherweise unerwähnt gelassenen – Roman Northanger Abbey (1817) von Jane Austen kulminiert. Die Don Quijote-Rezeption in Jane Austens Romanen ist aber nur eine von mehreren lacunae des Bandes, die den Leser der zumeist hochwertigen Beiträge zu weiterführenden Fragen anregen. Gerhard R. Kaisers ausgezeichneter Artikel beginnt mit einem Sonett von Paul Verlaine, das Don Quijote als idealistischen misfit der Gesellschaft und als poète maudit vor-
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stellt. Bezüge, die der Autor zu Gustave Doré herstellt, sind zweifelsohne plausibel, doch ein wesentliches Element, das die Umdeutung des Don Quijote vor dem Hintergrund der »Desillusionsromantik« erklären und in ein zeitliches Kontinuum zu stellen vermag, fehlt: die Verbindung von Lord Byron zu Eugène Delacroix und Charles Baudelaire. Nicht nur die Tatsache, dass Byron in seinem Don Juan (1818 – 24) die Gattung des Epos ebenso desavouiert wie Cervantes den Ritterroman, ist hier von Bedeutung; vor allem Byrons Don Quijote-Deutung im 13. Canto hebt auf die Melancholie und bittere Tragikomik der Figur ab, deren Scheitern nicht nur die Gattungen von Komik und Tragik, sondern auch Wertekategorien von gut und böse endgültig außer Kraft setzt: Of all tales ‘tis the saddest, and more sad, Because it makes us smile. His [= Cervantes’] hero’s right And still pursues the right: to curb the bad His only object, and ‘gainst odds to fight His guerdon. ‘Tis his virtue makes him mad.1
Die in der letzten Zeile unternommene Umwertung von Tugend und Wahnsinn verbindet die romantische Sicht auf den Don Quijote mit der zur gleichen Zeit einsetzenden romantisierenden Deutung des Torquato Tasso, die Byron in seinem Gedicht The Lament of Tasso (1817) popularisiert, die von Delacroix gemalt und von Baudelaire in den Versen ›Sur le Tasse en Prison d’Eugène Delacroix‹ (1866 in den Épaves der Fleurs du mal publiziert) ins Medium der Dichtung zurückübersetzt wird. Wie Don Quijote in Verlaines Sonett oder in Johannots Bild, so wird auch Tasso sowohl bei Baudelaire als auch bei Delacroix von einer johlenden Masse der vermeintlich Vernünftigen und Tugendhaften verspottet und somit auf eine christologische Ebene gehoben. Es ist eine höchst aufschlussreiche Koinzidenz, dass Delacroix sein Ölgemälde Le Tasse dans la Maison des Fous im selben Jahr, 1824, schuf wie sein nur geringfügig kleineres Gemälde Don Quichotte dans sa bibliothèque. In der Pose der Dürer’schen Melencolia am Schreibtisch sitzend, von zahlreichen Büchern umgeben und vor sich in die Weite starrend, stellt Don Quijote ein weiteres, geradezu dandyhaftes »génie enfermé« (Baudelaire) dar, das sich von den Menschen im Hintergrund, besonders von einem Priester in hypokritischer Demutshaltung, absondert. Zwar mag Doré in seinen Illustrationen immer wieder hinter die Romantik zurückgreifen und Don Quijote als »größenwahnsinnigen Narren« (159) entlarven, doch die Bedeutung, die Delacroix als dem ›peintre de la vie moderne‹ zukommt, ist für die Geistesgeschichte der Moderne un1 Don Juan XIII, 9, 65 – 69, T. G. Steffan, E. Steffan, W. W. Pratt (Hgg.) (London 1986), 445.
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gleich größer. Daher ist Franziska Hugs Behauptung, Honoré Daumier sei der Vorreiter der Moderne, nur eingeschränkt zu vertreten. Dass Daumier sich von der traditionellen Buchillustration löst und Don Quijote als modernen Mythos darstellt (170), ist allerdings unbestritten; lediglich die Rolle, die Hug der deutschen Romantik in der Neuorientierung des Don QuijoteStoffs zuweist, scheint in Anbetracht der Tatsache, dass Daumier im eigenen Land Zeuge einer rasanten, intermedial geführten Don Quijote-Diskussion war, etwas irreführend zu sein. Die Reduktion auf Bauch und Genie, die Hug in Daumiers Gemälden von Don Quijote und Sancho Pansa durch die Abstrahierung der Bildsprache umgesetzt sieht, passt in das unversöhnlich dualistische Konzept der Anthropologie des 19. Jahrhunderts, wo der Mensch auf mehreren Kontextebenen sich in ›spleen‹ und ›idéal‹ (Baudelaire) oder in eine hebraistische und hellenistische Komponente (Matthew Arnold) aufspaltet. Dies unterstreicht auch Wolfgang G. Müller in seinem anregenden Beitrag zum Sujet des lesenden Don Quijote. Zwar bleibt auch hier Müllers Präferenz von Adolph Schrödters zweitklassigem Ölgemälde von 1860 (!) gegenüber Delacroix’ Bildkunstwerk für die romantische Rezeption des lesenden Don Quijote unerklärlich, doch die »kopernikanische Wende in der Geschichte der Quijote-Illustration« (200), die mit Doré zu beginnen scheint, unterstreicht er eindrucksvoll in seiner Interpretation von Goyas / Bracquemonds ikonoklastischem Don Quijote-Verständnis. Gemäß dem Prinzip der Shakespeare’schen equivocation in Macbeth oszilliert der lesende Don Quijote zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit, zwischen einer prekären Realitätsebene und einer Monster gebärenden Imagination. Analog zu seinem Stich ›Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer‹ in den Caprichos (1799) scheint Goya qua seiner Quijote-Gestalt zu insinuieren, dass das Lesen nicht nur die Antithetik des Daseins zu perpetuieren, sondern auch das Monströse im Menschen freizusetzen vermag. Nach weiteren spannenden Beiträgen u. a. von Astrid Lohöfer, Dietrich Briesemeister und Juliane Blank stößt der Leser im zweiten Drittel des Bandes auf den Aufsatz von Paul Goetsch, der sich dem Aspekt der Illustrationen und der Don Quijote-Rezeption in Dickens’ Pickwick Papers widmet. In einer weitgefassten und überbemühten tour d’horizon, die im 17. Jahrhundert ihren Ausgang nimmt, über Fielding und Smollett bis zu Richard Graves’ The Spiritual Quixote führt und ganze 17 Seiten in Anspruch nimmt (208 – 225!), resümiert Goetsch unweigerlich immer wieder Dinge (so z. B. die Illustration des lesenden Quijote von Vanderbanke), die in den Bereich anderer, stärker fokussierter Beiträge fallen. Wenn er auf Seite 225 schließlich zum Ausgangspunkt seiner Argumentation, zu Dickens’ intertextueller Beziehung zu Cervantes’ Roman, zurückkehrt, dann kann er
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letztlich nur feststellen, dass Pickwick und Quijote eigentlich wenig gemeinsam haben (225). Ist der eine abgemagert und dem Irrsinn nahe, so ist der andere wohl genährt, der Lektüre wenig zugeneigt und weit entfernt von Anflügen geistiger Umnachtung. Dass Dickens ein aufmerksamer Rezipient des Cervantes’schen Prä-Textes war, ist unbestritten; doch wo die Verbindungen zwischen den Pickwick Papers und dem Don Quijote-Stoff offenkundig werden, ob es sich hier gar um eine Parodie eines parodistischen Textes handelt, wird auch am Ende dieses zu enzyklopädisch angelegten Essays nicht ersichtlich. Anders verhält es sich dagegen mit den zahlreichen Artikeln, die sich faszinierenden Themen am Rande der Intermedialität widmen und immer wieder unterstreichen, wie in der Vielzahl der Gestaltungen des Don QuijoteStoffs sich auch die Demarkationslinien von Hoch- und Populärkultur verschieben. So weist Dirk Vanderbeke die Ubiquität der Don Quijote-Figur in der heutigen politischen Karikatur nach; María Isabel Vila Cabanes zeigt, dass die einstige Parodie der Ritterromanzen bis in Kinderbücher, Computerspiele, Puzzles und Kochrezepte vorgedrungen ist und Ines Detmers zeichnet die intermediale Übertragung des Don Quijote-Stoffs in Comics nach. Gerade in diesem Beitrag sieht sich der Leser immer wieder selbst in die Rolle des Don Quijote versetzt, wenn er beharrlich einer stattlichen Zahl von heißer Luft erzeugenden Windmühlen kultursemiotischen Jargons ausgesetzt wird, nur um schließlich zu der Erkenntnis zu gelangen, dass der narrative Comic als graphic novel eine Schwellengattung zwischen Pop Art und Literatur, zwischen high und low culture darstellt, oder, wie Detmers formuliert, ein »eigenständiges Liminalgenre«, eine »dispersive intermediale Spielform zwischen den bildlastigen Gattungskonventionen des Comics und den schriftlastigen Gattungskonventionen des Prosaromans« (296). Lässt man sich auf die Schlacht mit den hier evozierten theoriegeladenen Verbalmonstern ein, so erwarten den in zweifelhafte Niederungen der PopKultur vordringenden Kulturwissenschaftler Einsichten in die Wandelbarkeit des Don Quijote-Stoffs in Fix und Foxi-Geschichten, Donald DuckHeften und in Kult-Serien wie The League of Extraordinary Gentlemen. Wie sehr die immense Popularität der Don Quijote-Figur somit zu einer bedenklichen Trivialisierung und multimedialen Verramschung des Romans beiträgt, beweist nicht zuletzt auch Ina Schabert in ihrem ebenso exzellenten wie kultursprachlich elegant geschriebenen Beitrag zu den Lese-Logos. Dass »die literarische Kultur des λόγος« zunehmend »durch das Interesse am Logo ersetzt« wird (260), dass die Windmühle zu einem kontextfreien Markenzeichen zu werden droht, das die Lektüre des Romans nicht mehr voraussetzt – dies scheint der Preis zu sein, den Klassiker bzw. Mythen der Neuzeit wie Hamlet, Faust, Don Juan und vor allem Don Quijote für ihre multi- und intermediale Präsenz zu zahlen haben.
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Ohne auf alle inspirierenden Beiträge (so zum Film oder zur Rezeption Don Quijotes in Russland) gebührend eingehen zu können, lässt sich am Ende der satte 350 Seiten zählenden Studie konstatieren, dass eine solch komparatistische Sicht auf einen ursprünglich literarischen Stoff nicht nur Material hergibt, um, wie Geiger und Huck eingangs behaupteten, eine Musikgeschichte zu schreiben; die hier ausgebreitete (und oft genussvoll zu lesende) Stofffülle stellt eine alle Genres umfassende Kulturgeschichte en miniature dar, die es für weitere, zu Mythen transformierte Helden bzw. Anti-Helden unbedingt zu imitieren gilt. Norbert Lennartz, Vechta Hélie Coignée de Bourron, Le Silène Insensé, édition critique par Stéphane Macé [Mémoire des Lettres], Villeneuve d’Ascq: Presses universitaires du Septentrion, 2011. 156 S. Es gilt hier, auf eine neue Schriftenreihe und einen ungewöhnlichen Text hinzuweisen. Mémoire des Lettres soll auf dem Buchmarkt unauffindbare, alte Texte dem interessierten Leser wieder zugänglich machen. Das Prosimetrum Le Silène Insensé (1613) illustriert bestens den Sinn dieses Unterfangens. Selbst wer sich mit den in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts von den damaligen Lesern verschlungenen pastoralen Romanen oder Theaterstücken beschäftigt, wird dem Autor Hélie Coignée de Bourron kaum begegnet sein, und dies nicht, weil über ihn kaum biografische Informationen überliefert sind, sondern weil sein mit vielen Dichtungen geschmückter, im Gegensatz zu vielen damaligen Büchern kurzer Roman nur einmal gedruckt und dann gründlich vergessen worden ist. Hat Stéphane Macé ein übersehenes Meisterwerk ausgegraben? Er verneint dies angesichts unleugbarer literarischer Schwächen ausdrücklich und hebt gleichzeitig auf die Einzigartigkeit dieser sprachlich mehr der Renaissance, ansonsten eher dem Barock zuzurechnenden Wiederaufnahme von Elementen aus dem Orlando furioso von Ariost und humanistischem Bildungsgut ab. Die verwickelte Handlung berichtet von einem liebestollen, wie Ariosts Roland dadurch verrückt gewordenen Silen und seinem Opfer, der Schäferin Franie, die sich dem sie in einer Gruppe von Nymphen und Feen überraschenden Silen listig zu entziehen sucht, von diesem aber einen Satyrn als Wächter beigesellt bekommt, dessen Vergewaltigungsversuch im letzten Moment von durch ihr Geschrei alarmierten Hirten verhindert wird. Ihre unwiderstehliche Schönheit lässt sofort den Sohn des sie pflegenden Hirten in Liebe entbrennen, und sie möchte ihn heiraten, doch wird das Fest durch den eindringenden Silen gesprengt und das Liebespaar durch die Verwandlung in eine Esche vor dem Zugriff des Silens gerettet. Alle Möglichkeiten zur poetischen Ausgestaltung von Episoden und Themen nutzt der Autor
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geschickt und bietet auf diese Weise ein breites Spektrum von dichterischen Ausgestaltungen damaliger literarischer Themen an. Man versteht, dass dieses an einen bestimmten Moment der Bildungs- und Literaturgeschichte gebundene intertextuelle Spiel schnell durch gekonntere Werke ins Vergessen gedrängt wurde, amüsiert sich aber bei dessen Lektüre gleichwohl, und dies nicht zuletzt deshalb, weil selbst die Ungeschicklichkeiten zu einem besseren Verstehen der damaligen literarischen Szene verhelfen. Man könnte gegen eine derartige Ausgrabung den Einwand erheben, dass die Digitalisierung von Altbeständen großer Bibliotheken eine Veröffentlichung als gedrucktes Buch obsolet erscheinen lässt. Ich könnte aber diese alte Sprache und Teile dieses Bildungsguts ohne die vorzügliche Kommentierung des Herausgebers kaum verstehen, womit bereits eines der Verdienste dieser Edition genannt ist. Ich würde aber noch einen Schritt weiter gehen und dieses Bändchen als eklatanten Erweis der Notwendigkeit der Reihe Mémoire des Lettres bezeichnen, weil gerade die Überfülle digitalisierter Texte eine kompetente Selektion verlangt, damit das nun elektronisch zugängliche Material nicht wie das Internet zu einer Müllhalde verkommt, auf der alles massenhaft angeboten und dadurch wertlos wird. Ich gratuliere dem Reihenherausgeber Frank Greiner zur klugen Gründung dieser Serie und bezeuge Stéphane Macé meine Hochachtung für diese rundum vorbildliche Textedition. Volker Kapp, Kiel Michael Neumann, Kerstin Stüssel (Hgg.), Magie der Geschichten: Weltverkehr, Literatur und Anthropologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Konstanz: Konstanz University Press, 2011, 526 S. Der umfängliche Band, der leider ohne Index und eine kurze Vorstellung der Mitarbeiter auskommt, enthält 29 Beiträge zu Werken und Themen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Schwergewicht liegt auf Erzählungen deutscher Realisten. Hauptziel des Bandes ist es, die Auswirkungen der Globalisierung auf die zeitgenössische Anthropologie, Ethnologie und Literatur darzustellen. Hier berührt sich der Band stellenweise mit dem breiter angelegten, zuerst 2009 publizierten Buch Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts von Jürgen Osterhammel. Ein Nebenziel der meisten germanistischen Studien ist die Revision der herkömmlichen Realismuskonzeption. In der Einleitung skizzieren die Herausgeber die Anlage des Bandes und charakterisieren die einzelnen Beiträge. Sie gehen aus von einer Bemerkung des Afrikareisenden und Ethnologen Frobenius, der zufolge die Erfahrung der Fremde – wie bei Hagenbucher in Raabes Abu Telfan – die Heimat bei
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der Rückkehr anders sehen lässt als zuvor. Das Selbstverständnis der Herkunftswelt ist ebenfalls betroffen: »Diese nämlich sieht sich gezwungen, im Medium des Heimkehrers ihre eigene Außenseite in den Blick zu nehmen und dadurch Historizität und Relativität der eigenen Verhältnisse und Überzeugungen zu bewältigen« (9 f.). Die Verbindung von Anthropologie, Ethnologie und Literatur steht im Mittelpunkt des Bandes. Die Herausgeber weisen den gegen den deutschen Realismus gerichteten Vorwurf mangelnder Welthaltigkeit zurück und machen darauf aufmerksam, dass die realistische Erzählkunst an einer Anthropologie des Erzählens interessiert ist und sich immer wieder auf Umbrüche und Unsicherheiten im ›Weltverkehr‹ des 19. Jahrhunderts, auf Grenzüberschreitungen und Schwellenerfahrungen einlässt. Die nicht immer gewandt formulierte Einleitung ist zu kompakt, zumal sie die Sekundärliteratur nur stichwortartig einbezieht. Befremdlich ist, dass die Herausgeber weitgehend auf kritische Hinweise zur Kolonialliteratur und zu ideologisch fragwürdigen Entwicklungen in der zeitgenössischen Anthropologie und Ethnologie verzichten. Um bei dem eingangs erwähnten Beispiel des Rückkehrers zu bleiben: In The Open Field (1996) hat Gillian Beer einen sehr guten Überblick über das Heimkehrermotiv in der englischen Literatur gegeben und am Beispiel von Hardys The Return of the Native verdeutlicht, warum der Rückkehrer zum Fremden wird. In diesem Zusammenhang hebt sie aber auch die imperialistischen und rassistischen Tendenzen der zeitgenössischen Anthropologie und Ethnologie hervor. Wenigstens kurz hätten sich die Herausgeber des vorliegenden Bandes von postkolonialen und anderen Ansätzen distanzieren können, um zu unterstreichen, dass sie Begriffe wie Magie und Abenteuer nicht naiv verstehen. Michael Neumann und Kerstin Stüssel ordnen die Beiträge vier Gruppen zu. Die erste Gruppe beschäftigt sich mit »Reisen, Sammeln, Erzählen«, d. h. der Begegnung des ›Reisenden‹ mit der Fremde, seinen Beobachtungen und Darstellungsverfahren. So geht ein Artikel auf die mit einer Dschungelexpedition verglichene Erkundung der Armenviertel Londons in Schriften von Charles Booth und anderen ein und behandelt deren Verwendung statistischer Verfahrensweisen. Diese spielen auch in Droste-Hülshoffs »Westfalen-Werk« eine wichtige Rolle. Weitere Beiträge behandeln die sich an Alexander von Humboldts Reisen und Forschungen orientierenden Brüder Schlagintweit, ferner das Motiv der Landpartie in Fontanes literarischer Topographie sowie die Mischung von ethnographischer und exotisierender Darstellung in deutschen Südseeromanen. In einem für die Argumentation des Bandes besonders wichtigen Kapitel widmet sich Michael Neumann dem Thema »Wandern und Sammeln. Zur realistischen Verortung von Zei-
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chenpraktiken«. Storms Immensee dient als geschickt gewähltes Beispiel bei dem Versuch, die lebensweltlichen Veränderungen, die der Modernisierungsprozess und die Globalisierung mit sich bringen, mit Hilfe der Raumsemantik zu veranschaulichen. An die Semantisierung des Raums knüpft der zweite Teil des Bandes, »Medien des Realismus«, an. Zu den Medien gehören der Afrika-Diskurs, Reiseberichte, populäre Abenteuererzählungen, Photographien und verschiedene moderne Kommunikationstechniken. Als Beispiele fungieren u. a. Werke von Wilhelm Raabe und Jules Verne. Der Aufsatz »Raumfiktionen: Kartographie und Literatur um 1900« gibt viele Hinweise auf die englische Literatur sowie auf neuere Arbeiten zum »spatial turn«. Unter dem Titel »Verschollen: Erzählen, Weltverkehr und Literatur« setzt die Mitherausgeberin die Diskussion des Rückkehrers fort und erläutert an verschiedenen Beispielen die Herausforderungen, denen sich der zeitgenössische Realismus stellen muss. Den Beitrag des literarischen Realismus zur Moderne erblickt Kerstin Stüssel darin, dass er den Menschen als bindungsloses Individuum deutet und sich als Alternative zu populären Abenteuergeschichten und Fortsetzungsromanen versteht. Möglicherweise ist diese Tendenz in der englischen Kolonial- und Provinzliteratur (Hardy, Stevenson, Kipling) klarer ausgeprägt. Die dritte Gruppe von Artikeln weist nicht die (relative) Geschlossenheit der anderen Teile auf. Sie befasst sich mit verschiedenen anthropologisch und ethnologisch interessanten Themen: der Dingwelt bei Wilhelm Busch, dem Opfer in Effi Briest, der Geologie in Raabes Stopfkuchen, der anthropologischen Notwendigkeit der Literatur sowie der Magie des Ästhetischen bei Stifter. Die vierte Gruppe beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Literatur und Wissen. Eine interessante Deutung von Moby-Dick stellt die These auf, dass Melville die literarischen und wissenschaftlichen Elemente als ununterscheidbare Bestandteile einer integralen Schreibweise auffasse. »Das heißt, dass die Wissensdiskurse des Romans weder das naturalistische Programm vorwegnehmen, Darstellungsformen der Naturwissenschaften literarisch zu simulieren, noch kehren sie zu einem polyhistorischen Enzyklopädismus zurück« (394). Dieser Sachverhalt wird am Roman insgesamt und an Kapitel 79 erläutert und auf die aktuelle germanistische Diskussion über Wissen und Literatur bezogen. Auf Moby-Dick kommt ein weiterer Beitrag zurück, der sich mit charismatischer Führung beschäftigt. Wie Literatur auf zeitgenössisches Wissen reagiert, untersuchen andere Aufsätze an Werken von Raabe, Stifter und Jensen, ferner am Schaffen des Völkerpsychologen Heymann Steinthal.
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Der vorliegende Band mutet den Lesern große Sprünge zu – von der Landpartie bis zum Walfang, vom Opfer- bis zum Tanzmotiv in Südseeromanen –, entschädigt aber durch die niveauvollen Interpretationen und die aspektreichen Hinweise auf Konsequenzen der Globalisierung und die Darstellungsprobleme des Realismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Paul Goetsch, Freiburg i. Br. Barbara Handke, First Command: A Psychological Reading of Joseph Conrad’s »The Secret Sharer« and »The Shadow-Line« [Leipzig Explorations in Literature and Culture 14], Berlin / Madison, WI: Gaida Verlag, 2010. 120 S. Conrads Erzählungen lesen sich oft wie psychologische Studien. Das ließe sich gewiss für Romane schlechthin sagen, weil sie Lebenswissen, d. h. auch psychologisches Wissen, für ihre Konstruktionen von Charakteren nutzen. Auf Conrads Kunst des Atmosphärischen und Geheimnisvollen trifft die Beobachtung allerdings in besonderem Maße zu. Conrad fasziniert das heldische Verhalten, aber auch und vor allem pathologische Abweichungen davon, wenn z. B. romantische Träumer ihre eigenen Ansprüche verfehlen. Zwischen den Figuren tun sich oft enorme Spannungen auf. Sie starren (»stare«), sei es nach außer oder nach innen gerichtet. »Intense« und »mysterious« sind häufig wiederkehrende Adjektive, auch in den von Vf.in untersuchten Seegeschichten. Die Geschichte von Stevie und Verloc in The Secret Agent liest sich wie eine Bestätigung oder Vorwegnahme der Frustration-Aggression-These. Oft ist nicht klar, wie die Rhetorik des Bösen einzuschätzen ist. Handelt es sich lediglich um eine rhetorische Strategie oder verlässt die Erzählinstanz tatsächlich das psychologische Erklärungsmuster zugunsten des metaphysischen (Heart of Darkness, »The Shadow-Line«)? Eine psychologische Lektüre der Conradschen Kunst wird jedenfalls durch sie selbst nahegelegt. Barbara Handkes knappe, unprätentiöse, aber sehr lesbare Studie lässt sich von der Frage leiten, was C. G. Jungs Tiefenpsychologie zum besseren Verständnis der psychischen Prozesse in den beiden autobiographischen Erzählungen »The Secret Sharer« und »The ShadowLine« beiträgt. Dabei hält sie sich an die Konfiguration der Texte, versucht also nicht, diese als Belege für Conrads psychische Probleme zu verwenden, die 1888 mit dem plötzlichen Aufstieg zum Kapitän des Schiffes Otago verbunden gewesen sein mögen. Die auf denselben Erlebnissen basierenden Geschichten beziehen ihre Spannung aus dem Umstand, dass der Protagonist und Ich-Erzähler mit Schwierigkeiten zu kämpfen hat, sei es mit der eigenen jugendlichen Orientierungslosigkeit oder mit der (kranken) Mann-
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schaft oder mit einer entnervenden Flaute, die das Schiff in der Bucht von Bangkok zur Bewegungslosigkeit verurteilt, oder mit all diesen Umständen gleichzeitig. Das alles lässt sich auf der wörtlichen Ebene durchaus nachvollziehen, wird aber von Vf.in nicht ohne Grund als symbolische Reise in die Nacht des eigenen Selbst gedeutet, die schließlich in psychische Stabilität, Handlungsfähigkeit und Reife mündet, weil es dem Kapitän gelingt, mit seinem Unbewussten, seinem »Schatten« (Jung), schließlich ins Reine zu kommen. Das plausibelste Beispiel (von der Forschung natürlich nicht unbemerkt) dafür ist in »The Secret Sharer« der Doppelgänger Leggatt, der vom Kapitän und Ich-Erzähler selbst als »my other self« und »my secret sharer« (41) bezeichnet wird. Für den Initiationsprozess ist die Begegnung mit dem Mörder und Flüchtling Leggatt entscheidend, gestattet sie doch dem Kapitän, sein eigenes Unbewusstes, seinen eigenen Schatten, zu erkennen und zu integrieren: »he encounters Leggatt so as to enable him to recognise the shadow-material of his psyche« (113). Entsprechend dieser symbolischen Lesart steht die See für das Unbewusste, ebenso die Dunkelheit der Nacht, und das Schiff für das Selbst, dessen unterschiedliche Schichten sich in der Mannschaft spiegeln (»sub-personae in the Jungian sense«, 96). Vf.in selbst grenzt die Erklärungskraft der Jungschen Begriffe ein. Für die Beschreibung der Phasen des Individuierungsprozesses, vor allem den erreichten Endzustand, seien sie nicht recht brauchbar (114). Überhaupt ist die symbolische Lesart nicht zwingend (»both the stories can also [meine Hervorhebung, H.U.S.] be read as night journeys …«(110). Diese undogmatische Haltung finde ich nicht inkonsequent, sondern eher sympathisch und realistisch. Dass Vf.in die Spannung zwischen Literalsinn und unterstelltem, aber auch vom Text provozierten symbolischen Sinn nicht aufheben kann, ist nicht ihr anzulasten. Künstlerische Texte besitzen nun einmal nicht die Eindeutigkeit der mathematischen Sprache. Ist die Heimreise nur wörtlich oder auch symbolisch im tiefenpsychologischen Sinne zu verstehen? (»The passage homewards symbolizes the journey within …«, 35). Der Text gibt dem interpretierenden Leser einen Spielraum, den er so oder so füllen kann. Sehr überzeugend scheint mir die abschließende Erklärung der Vf.in für die Unterschiede zwischen »The Secret Sharer« , wo der Protagonist viel stärker Regression und Introspektion zuneigt, und »The ShadowLine«, wo der Reifungs- und Individuierungsprozess des Individuums von der Beziehung zur Mannschaft nicht abzutrennen ist. Dass diese stärkere soziale Orientierung mit der Kriegssituation zusammenhängt – die Geschichte wurde während des Ersten Weltkriegs geschrieben – leuchtet ein. Hans Ulrich Seeber, Stuttgart
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Eva-Christina Glaser, »Why don’t you read the way I write?« Zur Analogie des Ut Pictura Poesis bei Gertrude Stein oder wie bildende Kunst Literatur verstehen hilft [Beiträge zur Anglistik 15], Trier: Wissenschaftlicher Verlag, 2009, 336 S. Gertrude Stein war bekanntlich mit Picasso, Matisse, Juan Gris und anderen Malern der Moderne befreundet; Picasso und seinem Schaffen widmete sie ein Buch; Cézanne, den Matisse als ›Vater‹ der modernen Malerei bezeichnete, setzte auch für Steins Texte Maßstäbe. Diese Zusammenhänge wurden zunächst von den Biographen Steins beleuchtet, später von der Stein-Forschung systematisch untersucht. Dabei wurden im Laufe der Jahre unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt: stand etwa bei Hoffman die Tendenz zur Abstraktion im Mittelpunkt, so wurde später von Dubnick eine kubistische Syntax bestimmt, um eine Begriffssprache für die Parallelen zwischen Bildern und Texten zu etablieren. Andere Forscher, z. B. Perloff oder Gass, wiesen auf strukturelle Ähnlichkeiten zwischen einigen von Steins Arbeiten und dem Surrealismus oder der Dada-Bewegung hin oder entdeckten wie Schmitz postmoderne Züge in ihrem Werk. Glasers Giessener Dissertation greift auf diese Forschungstradition zurück, schlägt aber einen anderen Weg ein. Glaser bestimmt Steins Arbeiten ebenso wie die kubistische Malerei zu Recht als intermediale Experimente. Sie beschreibt und analysiert einzelne Gemälde, um ihnen sodann einige kurze Beispieltexte aus dem Fundus von Steins œuvre gegenüberzustellen und an ihnen ähnliche formale Organisationsprinzipien herauszuarbeiten. Obwohl Glaser wiederholt betont, dass Stein mitnichten die Verfahren der bildenden Kunst imitierte, geht die Studie in der Erschließung von Strukturprinzipen der Steinschen Texte doch (mit Ausnahme des kurzen Schlusskapitels) von der Beschreibung und Analyse der Gemälde aus und lässt ihre Aufmerksamkeit von diesen lenken. Die reflektierte Empirie der ästhetischen Erfahrung mit den Bildern bildet das konzeptuelle Gerüst der Studie. In ihren theoretischen Ausführungen charakterisiert Glaser die Literatur und Kunst der historischen Avantgarde als Versuche, die von Lessing theoretisierten semiotischen Eigenarten der Künste zu überschreiten und auf die Eigenarten der jeweiligen »sister art« auszugreifen. Die intermedialen Experimente der frühen Moderne stehen derart unter dem Vorzeichen einer angestrebten Verräumlichung in der Literatur bzw. einer Verzeitlichung in der Malerei und bildenden Kunst, die mit »nahezu identischen Mitteln« (143), nämlich Wiederholung, Variation, Mehrdeutigkeit und Kontrastierung bewerkstelligt werden. Unter Rekurs auf Bergson spricht Glaser ferner von einem intuitionsgestützten Vorgehen der Künstler, einem »unendlichen Vermischen von Gedanken« (151), das Fragmentarität und Kontingenz der Gemälde und Texte erkläre. Damit einher gehe der »Abbau der
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mimetischen Darstellungsfunktionen« in der Malerei (83), den Glaser auch Stein attestiert (121). Ziel Picassos sei es gewesen, eine »neuere und wirklichere Realität zu schaffen« (202), worunter Glaser ein »neues, umfassenderes Bild des Gegenstands« (145), eine »mentale Einheit, die verschiedene Perspektiven auf den Gegenstand synthetisiert«, oder eine »objektivierte Gegenstandsbehandlung« (149) versteht, während es Matisse darum gegangen sei, »das Innere beziehungsweise das Wesen der Dinge gleichsam intuitiv zu erfassen und sichtbar zu machen« (189). Handelt es sich um Varianten eines neuen Realismus, der von einem anderen Wirklichkeitsverständnis ausgeht und deshalb die traditionellen Formen der Mimesis ablehnt? Oder um Versuche, eine neue Realität des Kunstwerks zu begründen? Und wie verträgt sich eine »objektivierte Gegenstandsbehandlung« mit einem »intuitiv geleiteten Kreationsprozess«? Glaser sucht diese Fragen zu lösen, indem sie eine »grundsätzliche Verwandtschaft« (283) der Kunstrichtungen der Moderne annimmt und die ontologische Auffassung vertritt, dass alle Richtungen der bildenden Kunst von Picasso über Mondrian bis zum Surrealismus durch das Bestreben bestimmt seien, »den Rezipienten mittels ihrer Werke die eigentliche Natur der Dinge beziehungsweise die verborgene Weltordnung, sei es nun in Gestalt ihrer eigenen intuitiven Gefühle, sei es in Form der sich ihrer künstlerischen Intuition offenbarenden Wahrheiten zugänglich zu machen« (282). Auf neuere semiotische Ansätze und Analysen einzelner Werke in der Kunstgeschichte – im Hinblick auf den Kubismus und Futurismus wären hier etwa Karmel, Staller und Poggi zu nennen – nimmt Glaser hingegen nicht Bezug, obwohl ihr medienkomparatistischer Ansatz dies eigentlich nahelegte. Die Analysen der Bilder und Texte sind allerdings sehr viel konkreter als es Glasers theoretische Aussagen erwarten lassen, und die Abschnitte, in denen sie kubistische und futuristische Arbeiten sachkundig beschreibt und mit ausgewählten Texten Steins vergleicht, bestechen durch sensible und genaue Detailbeobachtungen und Strukturanalysen. Anschließend greift Glaser auf Werke von Matisse, Kandinsky, Mondrian, aber auch von Pollock, Warhol und Vasarely aus und nimmt die Analysen ausgewählter Bilder erneut als Vorlage für Lektüren einiger Texte Steins. Glaser nimmt dabei bewusst in Kauf, dass im Zuge dieser Vergleiche bestimmte Merkmale der Texte, etwa Steins charakteristische Wiederholungen, als Parallelen zu höchst unterschiedlichen Bildstrukturen und -verfahren gewertet werden, was divergierende Zuschreibungen hinsichtlich der Wirkung dieser textuellen Merkmale zur Folge hat. Mit dem Bestreben, den wegweisenden Charakter von Steins Werk für das gesamte 20. Jahrhundert herauszustellen, wird der konzeptuelle Rahmen des intermedialen Experimentierens der historischen Avantgarde unscharf. Um die Analogien zwischen den Texten und konträren Strömungen der Kunst plausibel zu ma-
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chen, spricht Glaser von der »grundsätzlichen Heterogenität« von Steins Experimenten, »die sich zwischen scheinbar ungelenkter Subjektivität und objektivierender Formalisierung bewegen« (271). Als Bedingung der Möglichkeit der Vergleiche (einschließlich derer, die aus Platzgründen unterbleiben, wie etwa ein Vergleich mit der manieristischen Malerei [284]) bleiben dann nur Steins Praktiken der Desemantisierung und des Konventionsbruchs übrig. Diese erlauben aufgrund ihrer Allgemeinheit Korrelationen mit allen Strömungen der modernen und postmodernen Kunst, doch stellt sich dann die Frage, welcher Erkenntnisgewinn von den intermedialen Vergleichen überhaupt erwartet werden kann. Der Untertitel der Studie deutet an, dass Glasers Projekt sich hier in ein pädagogisches verwandelt: sie sucht zu demonstrieren, dass Steins Lesern durch die Vergleiche mit Werken der bildenden Kunst ein »Zugang zu den auf den ersten Blick solipsistischen Schreibergüssen« (283) der Autorin eröffnet werden kann. Die Genese und Wertigkeit der seriellen Wiederholungsstrukturen, des Prinzips des »continuous present«, der abstrakten Wortkompositionen und Klangexperimente in verschiedenen textuellen Kompositionen Steins wird durch die Vergleiche jedoch nicht verständlich. Obwohl Glaser mit der Stein-Forschung sehr gut vertraut ist und auf diese sowie auf Steins Selbstkommentare häufig zurückgreift, werden die Texte ausschließlich als Arrangements formaler Strukturen betrachtet, die die Herstellung von Analogien zu Werken der bildenden Kunst gestatten. Dort, wo es Glaser um die Integrität und den Eigensinn der diskutierten Texte zu tun ist, bringt sie dieses Vorgehen in Schwierigkeiten. So führt sie aus, dass Stein in Tender Buttons nicht die Objekte beschreiben, »sondern ihr Wesen bzw. ihre Essenz direkt zu Papier bringen« wollte (255), Formulierungen, die sich an Steins Kommentare zu diesem Text anlehnen, diese aber nicht einer Interpretation unterziehen. Zugleich stellt Glaser fest, dass Stein »die Bedeutungen ihrer Wörter teilweise so stark unterminiert, dass die Verweisfunktion der Sprache gleichsam negiert beziehungsweise ausgeschaltet wird, was zur Folge hat, dass es zumindest tendenziell nur noch die Wörter selbst sind, denen die Aufmerksamkeit des Lesers gilt und nicht mehr deren außersprachliche Referenz«(256). Anders als durch den Verweis auf eine intuitive künstlerische Wesensschau kann Glaser das erklärte Ziel von Steins Darstellung mit den gewählten Mitteln nicht ins Verhältnis setzen. Eine Analyse der erheblichen strukturellen Differenzen zwischen den in Tender Buttons zusammengestellten Texten käme zu anderen Ergebnissen und würde Steins serielles Experimentieren in den Vordergrund stellen. Die Ergebnisse der Studie lassen sich daher unterschiedlich zusammenfassen und bewerten. Steins Werk wird durch allgemeine formale Merkmale charakterisiert, die auch für alle Strömungen der Malerei und bildenden
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Kunst des 20. Jahrhunderts (in unterschiedlichem Maße) geltend gemacht werden können: amimetische Zeichenarrangements werden privilegiert, die Materialität der Darstellung betont, Vieldeutigkeit gezielt hergestellt, die Kompositionsstruktur autoreflexiv ausgestellt. Glasers intermediale Vergleiche zeitigen analytische Einsichten dort, wo sie auf einer historischen Konstellation intermedialen Experimentierens beruhen. Wo diese Konstellation nicht gegeben ist und das Fehlen einer den Vergleich leitenden Begriffssprache zu Buche schlägt, ergibt sich eine fröhliche Anarchie des Konstruierens von Analogien formaler Strukturen zwischen Bildern und Texten. Dass die Fähigkeit, die Wahrnehmung eines Bildes in eine analytische Ekphrase zu überführen, die Lektüre von Steins Texten anzuregen, den Blick auf textuelle Strukturen zu schulen vermag, kommt dabei performativ überzeugend zur Geltung, auch wenn Glasers Tendenz zu umständlichen und assoziativen Formulierungen das Lesevergnügen gelegentlich schmälert. Ulla Haselstein, Berlin Tom Rogers, God of Rescue: John Berryman and Christianity. Bern: Peter Lang, 2011, 423 S. Tom Rogers’ God of Rescue: John Berryman and Christianity provides an important entry point into the work of a major mid-twentieth century American poet. Recent interest in the Middle Generation poets has produced important studies by critics like Thomas Travisano, Adam Kirsch and Bruce Bawer, and valuable essay collections edited by Suzanne Ferguson and Eric Haralson. At the center of several of them is John Berryman’s idiosyncratic achievement, but unfortunately Berryman’s suicide – he jumped from a bridge in Minneapolis in 1972 – and the presence of suicide as a theme in his poetry have often led to a heavy emphasis on the darker aspects of his work. For some, Berryman came to resemble Dr. Alan Severance, the protagonist of his posthumously published, unfinished novel Recovery, a drunkard with flashes of brilliance who is capable of soaring rhetorical flourishes. Berryman was indeed an alcoholic, but he was also a masterful poet and a distinguished scholar. Another recent essay collection, devoted exclusively to Berryman, After Thirty Falls: New Essays on John Berryman, ed. Phillip Coleman and Phillip McGowan (Rodopi, 2007), includes a piece by Tom Rogers, »The Life of Berryman’s Christ«, which heralds God of Rescue: John Berryman and Christianity, by far the most substantial and most significant study of a key component of Berryman’s poetry. Rogers’ essay drew attention to a theological study that Berryman had worked on for many years but left uncompleted, a ›Life of Christ‹. In God
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of Rescue: John Berryman and Christianity he continues to examine Berryman’s assiduous investigation of theological issues, now as reflected in his poetry. A relative critical neglect of this facet of Berryman’s poetry is attributed by Rogers to »a secular environment increasingly hostile to Christianity« (4). However, the same environment has produced several studies of the place of Christianity in Robert Lowell’s and Elizabeth Bishop’s poetry. It is the trajectory of Berryman’s career that is different. At the outset, Lowell wrote densely intellectual religious poetry but moved on to more personal and more secular themes in his later work, whereas Berryman’s early work bears few traces of overtly religious rhetoric, and his later poetry, such as the »Eleven Addresses to the Lord« from Love & Fame (1971), is not Lowell’s brand of intellectual religiousness. In his last two collections, Berryman makes use of the »Twelve Steps« propagated by Alcoholics Anonymous, and he writes nakedly personal and devotional religious poems. The additional fact that Berryman’s magnum opus The Dream Songs is full of religious doubt has sufficed to lead most critics to dismiss the role of religion in his poems as desperate outpourings of a damaged mind. Rogers dismantles this pathologizing reductionism, and in the course of over four hundred pages he demonstrates how Berryman’s poetry assimilates his sustained engagement with a wealth of religious and theological texts, not to mention the Bible itself. In May, 1972, when he was writing Love & Fame, a »God of Rescue« experience – a manifestation of divine grace rescuing him from despair – gave Berryman »a compelling inspiration to choose freely for Him« (400). This incident Berryman described »as fulfilling a search« (277). Rogers’ God of Rescue explicates and contextualizes that search, and is a welcome and necessary contribution to Berryman criticism. Berryman’s relationship to his faith was complex. His father was a Roman Catholic, and up until his father’s suicide when Berryman was twelve, he was raised a Catholic. After his mother remarried, he joined the Episcopalian church, to which his mother returned. Rogers points out that Berryman »would […] always identify that time at the age of twelve as when he lost his faith, since that was when he felt both bodily and spiritually removed from the practice of Catholicism« (17). His primary religious focus nonetheless remained Catholicism, and after his late in life conversion experience, he officially returned to the Catholic Church. His last two books exhibit his new, old faith in a highly personal manner, and the pious nature of their theology is impossible to ignore. The same cannot be said of his earlier texts. Critics tend to read a political or psychological meaning into Berryman’s use of religion, and Brendan Cooper has recently offered a »religiopolitical« reading of the Dream Songs and earlier poems in Dark Airs (Peter Lang, 2009). Rogers is the first to systematically examine, with-
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out imposing an extraneous framework, religion’s role in the entirety of Berryman's work. God of Rescue: John Berryman and Christianity is structured chronologically, with each of the five major periods in Berryman’s career accorded a chapter. Impressively, Rogers does not go for the easy targets, the obviously religious poems, first. Instead, he patiently unravels the web of references and obsessions that the poet has spun around the issues of religion, faith and doubt, starting, in his first chapter, with the earliest poetry and Berryman’s first published collection The Dispossessed (1948), which Rogers is confident enough to call »a profoundly religious work« (31). Berryman composed his first poems under the influence of W. H. Auden, William Butler Yeats and the New Critics, and many of his attitudes towards spirituality and religion were formed accordingly. But others as diversely religious as John Crowe Ransom, who espoused what Kieran Quinlan has termed a secular faith, Allen Tate, one of many literary midcentury Catholic converts, and the Jewish poet Delmore Schwartz also influenced Berryman’s evolving attitudes toward faith. The poems in The Dispossessed do not flaunt Berryman’s religious concerns, but Rogers tellingly juxtaposes them with unpublished work that is more explicitly Christian. It took Rogers’ keen eye to distinguish the Christian background from a form of cultural pessimism about »mankind […] reaping the self-destructive consequences of its own evil and selfish complacency« (68). In his commentary on, for example, »The Dispossessed«, the last poem in The Dispossessed, Rogers discusses the statement »we did not, They did« (88) as a reference not only to individual human beings’ helplessness in the face of inherited evil but also to »the relationship between divine grace and free will« (88). Doctrinal interpretations such as this sometimes crop up abruptly, testifying to Rogers’ absolute certainty in his readings; possible ambiguities are rarely reflected upon, which occasionally weakens the impact of his insights. Likewise, problems inherent in his cavalier mixture of published and unpublished work are never discussed. The end result is that at times the reader feels slightly manipulated into accepting Rogers’ strong, confident readings of Berryman’s weak, insecure faith. In 1941 Berryman married Eileen Mulligan, a devout Catholic who made him feel self-conscious about being a lapsed Catholic. This disquiet eventually led to what Rogers calls »a frustrated desire to believe«. (50). In 1947, a year before the publication of his debut collection, Berryman wrote a Petrarchan sonnet sequence which he called Sonnets to Chris, a revised version of which was published as Berryman’s Sonnets in 1967. In a »vibrantly incongruous fusion of the traditional and the modern« (95), Berryman recounts his affair with the eponymous Chris. Rogers observes
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that »except for minor variations, the poet chooses to maintain the strict Italian rhyme scheme throughout« (94), but that the language Berryman uses is »infus[ed] […] with a ›fresh idiom‹« (94). Examining the poems for religious patterns, Rogers points to the conflict »between adulterous love and Christian morality« (96), expressed as two sets of laws in conflict with each other. In the narrative of the sonnet sequence, they manifest themselves as the poet’s desire for Chris and his guilt over violating precepts of Christian morality, even though he does not possess faith in God. Rogers argues that »Berryman’s marriage […] to a practicing Catholic prompted a complicated response with regard to his own religious beliefs« (93). Chapter 2 demonstrates that even in Berryman’s early love sonnets, religion plays a vital role. Rogers’ in many respects extraordinarily well-researched book opts for depth rather than breadth in its use of sources, and restricts itself to a fairly small but thoroughly examined list of writers and theologians. Most of the religious texts and writers that Rogers regularly refers to Berryman himself enumerates in a late poem, »The Search«, and Rogers makes excellent use of them. The downside of his method is several puzzling omissions, such as Gerard Manley Hopkins. For reasons left entirely unexplained, Rogers chooses not to consider Hopkins’ work as a serious theological and poetic influence on Berryman; leaving aside the fact that »Dream Song 377« (which addresses Hopkins directly and broaches questions of faith) prefigures some of the poems in the third section of Love & Fame and in Delusions, etc., the absence of Hopkins speaks to a larger issue, i.e. the lack of historical or cultural research into the wider phenomenon of conversion. Although Rogers treats Berryman’s life and work as a narrative of a born Catholic who ends up converting back to Catholicism, he shows no awareness that Berryman’s later poetry is part of a genre and a tradition. The tradition includes Augustine and Pascal, both of whom Rogers discusses in great detail in other contexts, as well as Hopkins and Cardinal Newman, whom he doesn’t discuss at all. It is puzzling that Rogers examines Augustine’s influence yet fails to see or explain the link that connects Augustine with later converts; this, in turn, prevents him from seeing Berryman’s autobiographical work as a conscious entry in a very specific genre, the spiritual autobiography. Although Rogers assures us that the poet himself is aware of »the ongoing narrative of his life« (281), he makes no effort to highlight the generic context of which Berryman would have been aware and would surely have made use of. Quite apart from lacunae in the overall treatment of contexts in Rogers’ book, his neglect of Hopkins et al. leads to egregious oversights in his analysis of specific poems, especially the long poem Homage to Mistress Brad-
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street, Berryman’s breakthrough achievement, the focus of chapter 3. Berryman composed Homage in 8-line stanzas borrowed from Hopkins, as Gerry Murray in »Gerard Manley Hopkins: His influence on John Berryman« (Studies: An Irish Quarterly Review, 1996) has demonstrated. Additionally, Berryman shows an awareness of Puritan complexities, which isn’t quite accounted for in Rogers’ reading of the poem. Instead, Rogers is intent to prove that Anne Bradstreet’s story, as refracted in Berryman’s lens, represents a progression towards theological certainty and true faith. This contrasts, as Rogers shows, with the poet’s marked lack of them. Resultant feelings of guilt and helplessness spawn a despair prevalent in Berryman’s earlier books. The poem’s subject is »a trial of religious faith« (177) and it offers a vision of a »merciful and just« (178) God, but one that the poet seems unable to accept, and one that »contrasts radically with that to be held by Henry in The Dream Songs« (178). Rogers’ first three chapters offer comprehensive readings of The Dispossessed, Sonnets to Chris and Homage to Mistress Bradstreet, and give readers a sense of how each collection as a whole works. Chapter 4, devoted to The Dream Songs, abandons this method in view of the overall heft of the 385poem sequence. Another factor is the sudden emergence of overtly theological poems. From here on in, Rogers stops trying to convince us of his readings of whole books, and begins to explain a series of individual poems to his readers. This manner of criticism that now begins to characterize more than half the book reads more like an excellently grounded commentary than a sustained critical study. This second half of the book is highly convincing and successful. In 1955, when he accepted a post at the University of Minnesota, Berryman immersed himself in broad areas of learning: he taught courses on medieval literature, »Greek civilization« and »Christian origins«, and had to prepare himself accordingly. As a consequence, he became steeped in and fascinated by Christology, and intensively read Christological studies by Charles Guignebert, Maurice Goguel and theological studies by Karl Heim and Philip Carrington. This newfound interest quickly became embedded in poems he was writing that eventually became part of The Dream Songs, published under that title in 1969 but comprising 77 Dream Songs (1964) and His Toy, His Dream, His Rest (1968). Much as had in Sonnets to Chris and Homage to Mistress Bradstreet, Berryman decided on a particular stanzaic form first, in this case, a variation on the sonnet, and then steadily wrote poems which slowly coalesced into a narrative in the same form. Rogers selects four Dream Songs for special scrutiny, and unravels their theological argument patiently, bringing to bear a great deal of research and theological acuity. More than in the three previous chapters, we are made
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aware of how much Berryman’s poetic practice reveals a mind thinking. His skeptical examinations of God and Christianity are always respectful and thoughtful. At the heart of them, Rogers maintains, is a very specific father-son relationship which »in Hebrew literature is known as ›the Akedah‹; that is, the story in genesis of Abraham’s attempted sacrifice of his son Isaac” (246). Henry, the protagonist of The Dream Songs, serves in many ways as his author’s alter ego. Henry’s father, like Berryman’s, deserted the family when he killed himself with a shotgun. Henry’s resentment toward God is rooted, Rogers forcefully argues, in the feeling of helplessness of the abandoned son. After finishing The Dream Songs, Berryman began writing formally more irregular and autobiographically more direct poems that would form the basis of his next collection, Love & Fame (1972). Now, Rogers observes, »his subject was very explicitly his own life. »[…] Love & Fame would take the shape of a Bildungsroman in verse« (279). The collection is structured chronologically, and charts Berryman’s life from his youthful exuberance through the abysses of despair and alcoholism. The central poem, »The Search«, which recounts in nine stanzas his spiritual and theological search, employs theological references ranging from Guignebert to Titian’s comments on his painting »The Tribute-Money«. Rogers unravels every single reference and allusion in the poem; his thoroughness and learning are exemplary. Berryman’s conversion makes instant sense once explained in terms of the dichotomy between free will and divine decree that Rogers established in the first chapter. Berryman was »mercifully forced« (359) into faith, which entails the Augustinian paradox that »man can resist grace, but God’s grace makes him will it« (359). Berryman’s conversion did not banish spiritual struggle from his life. Rogers concludes with some observations on the posthumously published volumes Recovery and Delusions, etc., and comments on how basic inner conflicts between faith and doubt, despair and hope as well as sensuous desire and God’s laws determined Berryman’s relationships with others, with God, and, most importantly, informed his writing. God of Rescue: John Berryman and Christianity is not without its limitations, but it opens our eyes to an unobstructed view of the vital role of religion in John Berryman’s poetry. Marcel Inhoff, Bonn
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Sophia Komor, Susanne Rohr (Hgg.), The Holocaust, Art, and Taboo. Transatlantic Exchanges on the Ethics and Aesthetics of Representation [American Studies 183], Heidelberg: Winter, 2010. 272 S. Das Thema der Repräsentation bzw. der Darstellung der Vernichtung der europäischen Juden (Raul Hilberg) in Literatur und bildender Kunst sowie überhaupt in den unterschiedlichsten Medienformen ist eine durchaus heikle Angelegenheit. Die Rede von Tabus in diesem Zusammenhang ist daher ohne weiteres angemessen. Doch wenn man sich klarmacht, dass nur dasjenige im kulturellen Gedächtnis der Menschheit verankert bleibt, was sich mit anschaulichen Bildern verknüpft, also u. a. in irgendeiner Form künstlerisch vergegenwärtigt wird, ist die Auseinandersetzung von Künstlern mit einem geschichtlichen Ereignis wie der Judenvernichtung von exemplarischer Bedeutung. Das sogenannte global cultural memory, so die Herausgeberinnen Sophia Komor und Susanne Rohr, enthalte zwar eine international verständliche Bildlichkeit, doch würden die Akzente je nach nationalem Kontext anders gesetzt – was nicht verwundern kann, zumal man an der tatsächlichen Existenz eines weltweiten kulturellen Gedächtnisses durchaus begründete Zweifel haben kann (vgl. 223). Der Holocaust oder die Schoa (schon die jeweils gewählte Benennung gehört zur Konstruktion des globalen kulturellen Gedächtnisses), erscheint so als Teil eines semiotischen Universums von um den Globus zirkulierenden Bildern, einer Art »iconography of horror«, deren sich die Künstler in unterschiedlichster Weise bedienen können. Es lasse sich eine Bewegung in der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust feststellen, die von der Frage Abstand nimmt, wie und ob der Holocaust dargestellt werden könne und solle, und hin zu metafiktionalen Darstellungsweisen geht. Damit gehe einher, dass die mit dem Holocaust befasste Kunst nicht mehr um »Authentizität« oder angemessene Repräsentation bemüht sei, sondern sich in neuer Weise als »skandalös« erweise. Skandalös ist derartige Kunst, insofern in ihr die Dimensionen und Grenzen eines semiotisierten und mediatisierten Holocaust ausgelotet werden, dessen ontologischer Status selbst sich möglicherweise geändert habe. Radikale Tabubrüche, die mit diesen Kunstformen einhergehen, werfen verständlicherweise Fragen auf, die für die Kultur der Gegenwart zweifellos drängend sind, aber ebenso gewiss auch für unterschiedliche Gruppen anders bewertet werden dürften: »We are forced to ask ourselves: how are we to judge or evaluate this kind of art? And in what way should the Holocaust be remembered and represented considering the parameters of globalization?« (10 – 11) Diese Frage stellt sich umso mehr, als die nationalsozialistische Judenvernichtung mit besonderen Formen der Singularitätsthese verbunden wird, deren Geltung gerade angesichts der Globalisierung
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in Zweifel gezogen werden könnte (Stichwort: »roter Holocaust«). Das spezifisch amerikanistische Interesse an diesem transnationalen Thema jedenfalls ist begründet durch das an sich unstrittige Phänomen der »Amerikanisierung des Holocaust« im Bereich der kulturellen Diskurse. Es genügt, an die Bücher Norman Finkelsteins (The Holocaust Industry; polemisch) und vor allem Peter Novicks (The Holocaust in American Memory; historiographisch sachlich) und die mit ihnen verbundenen Debatten zu erinnern – schon gelangt man mitten hinein in das Feld dessen, was »Amerikanisierung des Holocaust« auch bedeuten kann: Popularisierung, Trivialisierung, Minimierung und Generalisierung (11); ergänzt werden müsste wohl noch die Kommerzialisierung im Kontext der Kulturindustrie. Die Beiträge des Bandes wurden auf sechs Abschnitte verteilt, die Texte von ganz verschiedener Art enthalten und nicht alle wissenschaftliche Aufsätze im strikten Sinne sind, so wie der Band, obwohl in einer amerikanistischen Reihe erschienen, eigentlich eine stark komparatistische und transgenerische Komponente hat und dementsprechend auch für ein »transdisziplinäres« Lesepublikum etwas zu bieten hat. Das Spektrum der besprochenen ästhetischen Auseinandersetzungen mit dem Holocaust umfasst Kunstprojekte unterschiedlichster Art, literarische Werke, Filme, Dramen und Comics, aber auch die ästhetische Theoriebildung und -diskussion im Anschluss an Adornos berühmt-berüchtigte kulturkritisch grundierte Reflexionen über das Barbarische und die Unmöglichkeit, »nach Auschwitz« Gedichte zu schreiben (206). Zu Beginn des Bandes findet sich in der Rubrik »Testimonies« ein Interview mit der Künstlerin Anna Adam neben einem Selbstbericht der Künstlerin Ruth Liberman. Diese Texte bieten eindrucksvolle und höchst differenzierte Aussagen zum Problem des Verhältnisses von Kunstschaffen und Holocaust, aber auch zu dem, was Adam als »German-Jewish illness« bezeichnet. Sie reflektiert ebenso wie Liberman auf höchst anregende und persönliche Weise die Auseinandersetzung mit jüdischer und deutscher Identität, mit dem Verhältnis ihrer jeweiligen Kunst bzw. Kunstprojekte zum Holocaust und den entsprechenden Rezeptionserwartungen von Ausstellungsbesuchern insbesondere in Deutschland. Die Darstellung der Shoa in der visual art ist Gegenstand dreier Aufsätze (Carol Zemel, Philippe Codde, Andrew Weinstein); hier soll nur herausgestellt werden, dass nach der dekonstruktiven und nicht-repräsentationistischen Wende die Leere der Bedeutung in komplett arbiträrer Weise gefüllt werden kann – was sich auch auf der Ebene der Deutungen jener Kunstwerke zeigt. Zugleich wird damit auch die Funktionalisierung des Holocaust für Gegenwartsinteressen thematisiert, etwa wenn bestimmte, von manchen als provozierend empfundene Kunstwerke von ihren Schöpfern damit gerechtfertigt werden, dass sie
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etwa auf die Manipulation der Holocaust-Erinnerung durch Israel gegenüber den Palästinensern hinweisen wollten (86 – 88). Die Kunst, welche sich mit dem Holocaust auseinandersetzt, lässt sich auch unter dem Aspekt eines »Theaters der Erinnerung« konzeptualisieren, wie es etwa der Kurator des Jüdischen Museums Norman Kleeblatt anhand von Installationen einer New Yorker Ausstellung anschaulich darlegt. Die Rolle Arthur Millers bei der literarischen bzw. dramatischen Erinnerung und Durcharbeitung des Holocaust zeichnet einer der besten Kenner des amerikanischen Dramas, Christopher Bigsby, in einer sehr differenzierten und plausiblen Analyse nach. Bigsby geht den Spannungen nach, die in Millers Auseinandersetzung vorhanden sind, insofern seine Werke zu den frühesten gehören, die sich, so in After the Fall und Incident at Vichy, direkt auf das Verbrechen der Judenvernichtung bezogen, nachdem in der antikommunistisch geprägten Nachkriegszeit auch von Seiten des jüdischen Establishment zunächst kein allzu großes Interesse an einer besonders jüdisch akzentuierten Erinnerung daran bestand. Hilene Flanzbaum thematisiert einen wesentlichen Aspekt dessen, was sie die Amerikanisierung des Holocaust nennt, nämlich den »Holocaust as Bestseller«, und zwar am Beispiel von zwei Büchern, die es zum Bestseller brachten, ohne verfilmt worden zu sein, also z. B. im Gegensatz zu Keneallys Schindler‘s List oder Szpilmans The Pianist. Es handelt sich um Elie Wiesels Night und Irene Nemirovskys Suite Française, beides keine amerikanischen Bücher, wobei Flanzbaum anschaulich zeigt, wie die Wahl von Wiesels Buch für die äußerst populäre TV-Sendung von Oprah Winfrey zu dem enormen Erfolg (sofort im Anschluss an die Sendung 1,5 Millionen verkaufte Exemplare, dann kontinuierlich so weiter) des Buches wesentlich beitrug. Was Nemirovskys Roman angeht, erreichte dieser erstaunlicherweise ebenfalls eine hohe Zahl von Käufern (und Lesern), diesmal jedoch ohne jegliche Unterstützung Oprahs. Flanzbaum knüpft an ihre Besprechung des Romans die wichtige Fragen an, wieso gerade dieser Text ein derartiges Echo in Amerika hervorrufen konnte. Beiträge wie der Philipp Coddes über »Postmemory, Afterimages, Transferred Loss: First and Third Generation Holocaust Trauma in American Literature and Film« können das im Titel enthaltene Versprechen auf gerade einmal zehn Seiten naturgemäß nicht ganz einlösen, zumal es dann exemplarisch und etwas knapp nur um zwei Romane und ihre Verfilmungen geht, nämlich Edward Lewis Wallants The Pawnbroker und Jonathan Safran Foers Everything Is Illuminated. Immerhin sind aber seine Hinweise als Anregungen für eine nähere Beschäftigung wertvoll. Deutlich unbefriedigender ist Agnes C. Muellers Beitrag, der im Anschluss an die Konzeption des »literarischen Antisemitismus« (Bogdal / Lorenz) die These
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vertritt, eine ganze Reihe jüngerer deutscher literarischer Texte »continue to articulate stereotypical, antisemitic, anti-American, and sexist rhetoric« (139). Die von ihr behandelten Texte von Peter Schneider, Bernhard Schlink, Susanne Riedel und Thomas Hettche, so ihre sehr weitgehende Kritik, täten nichts dafür, die »installation or re-installation« antisemitischer Diskriminierung im deutschen kulturellen Gedächtnis zu verhindern (150). Diese Texte würden, so Mueller, antisemitische Rhetorik »ausstellen« (exhibit), was aber auch ihrer eigenen Analyse zufolge keineswegs der Intention der Autoren entsprochen haben muss (141). Problematisch ist daran, dass diese erzähltheoretisch unterkomplexe Analyse nur unzureichend die Dimension der Figurenrede reflektiert, auf die sich diese Artikulation offensichtlich bezieht – wie auch die vagen Formulierungen »continue to articulate« oder »exhibit« andeuten. Schief, ja geradezu skurril ist dementsprechend auch die Aussage »Clearly, not all contemporary German literature is antisemitic […]«, die unausgesprochen und also ohne Beweis als Default-Option setzt, dass die deutsche Gegenwartsliteratur überwiegend antisemitisch sei (140). Entsprechend können weitergehende Schlussfolgerungen, die aus diesem falschen Befund gezogen werden, nicht recht überzeugen. Die komplexen Fragen nach der Verknüpfung von Ästhetik und Ethik im Spannungsfeld von Wahrheit und Authentizität bei der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust werden in mehreren Beiträgen thematisiert, wenn auch mit unterschiedlichem theoretischen Fokus und Material. Große Menschheitsverbrechen wie die nationalsozialistische Judenvernichtung werfen die Frage danach auf, wer das Recht hat, wie darüber zu sprechen. Darf es überhaupt fiktionale Darstellungen der entsprechenden Ereignisse geben? Und wenn ja, wer darf sie verfassen? Die Kritik vieler Autoren wie Elie Wiesel, Robert Alter oder Cynthia Ozick an Holocaust fictions konnte nicht das letzte Wort bleiben, auch wenn bis in die 1990er Jahre das Paradigma der autobiographisch inspirierten Holocaust-Literatur dominierte. Die Frage, welche Formen von Literatur den Holocaust angemessen »repräsentieren« können, musste auch im Zusammenhang mit dem Comic-Genre gestellt werden. Besonders aufschlussreich ist in diesem Kontext die ausführliche und subtile Besprechung des Superbösewichts Magneto als den Holocaust repräsentierende Figur in sogenannten SuperheldenComics. Die Autoren (Ole Christiansen und Thomas Plischke) bieten eine auch methodologisch interessante Analyse eines Interfiguralitätsphänomens; als Resultat können sie festhalten: »Comics are no longer a solely entertainment-oriented medium, and Art Spiegelman’s Maus has proven that the horrors of the Holocaust can be portrayed in an artistically satisfying and most impressive fashion.« (201) Indem auch Magneto mit einer Identität als Jude und Holocaust-Überlebender ausgestattet wurde, avan-
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cierte dieser Hintergrund zu einem nicht mehr rückgängig zu machenden Bestandteil der storyworld der Comicserie. Wie Rohr mit guten Gründen vermutet, führte die Konventionalisierung der Holocaust-Erinnerung dazu, dass trotz Jahrzehnte anhaltender theoretischer Debatten über die Dekonstruktion mimetischer Standards in dokumentarischen Darstellungen die sogenannte Holocaust-Etikette diesem Ereignis eine unbefragte besondere »Insel« der Authentizität und Wahrhaftigkeit sicherte (170). Die neuere Holocaust-Kunst, nicht zuletzt solche im Genre der Komödie, nimmt aber die Impulse der Dekonstruktion auf und verweigert sich dem, was Imre Kertész als »Holocaust-Konformismus«, »Holocaust-Sentimentalismus« etc. bezeichnet hat (vgl. auch den Eintrag »Holocaust« in: László Földényi, Schicksallosigkeit. Ein Imre-Kertész-Wörterbuch, Reinbek: Rowohlt, 2009, S. 150 f.). Rohr stellt plausibel fest, dass nicht der Wandel von repräsentationistischen zu antimimetischen Kunstformen in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust überraschend ist, sondern die lange Dauer der Vorherrschaft des repräsentationistischen Paradigmas (sie spricht von »representational commandments of the Holocaust etiquette«; 169). Rohr erwartet, womit sie Recht haben mag, dass die Dominanz nicht-historiographischer Diskurse und popkultureller Phänomene in der Mediation des Holocaust sich künftig noch verstärken dürfte. Kunstkritik im weiteren Sinne steht, ausgesprochen oder unausgesprochen, im Schatten des bereits erwähnten Adorno-Diktums, wonach es barbarisch sei, »nach Auschwitz« Gedichte zu schreiben, Andrew Gross greift das nach Auffassung mancher Kritiker lange missverstandene Diktum Adornos auf und versucht im Durchgang durch verschiedene theoretische Konzeptionen zur »Poetik« des Traumas (Jameson, Lyotard, Felman, Rothberg) den Zusammenhang von Trauma, Fiktion und dem Realen am Beispiel von Siri Hustvedts Roman What I Loved und Edmund Morris’ teilfiktionaler (und aus historiographischer Sicht gescheiterter) Reagan-Biographie Dutch zu erläutern. Theoretische Aspekte im Spannungsfeld von Holocaust, Trauma und Globalisierung sind auch Gegenstand des Aufsatzes von Sabine Sielke, der nicht zuletzt von den Risiken einer Rhetorik des Unrepräsentierbaren spricht und den Bogen vom Holocaust zum Trauma von 9 / 11 schlägt. Der Band schließt mit einem autobiographischen Text des Berliner Amerikanisten Heinz Ickstadt, der über prägende Erfahrung im Umgang mit dem Holocaust aus der Sicht seiner Generation berichtet und gegenüber den jüngeren »Provokateuren« mit ihrer neuen Sicht auf den Holocaust gleichsam die Position der älteren Generation repräsentiert. Dass die starken persönlichen Momente in einigen Beiträgen mit den eher den Üblichkeiten entsprechenden wissenschaftlichen Texten kontrastieren, wird man
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insgesamt als Gewinn des ausgesprochen lesenswerten und gehaltvollen Bandes sehen müssen. Das Buch zeigt gerade durch die Vielfalt der Herangehensweisen, warum die Kunst bzw. die Künstler sich in manchmal überraschender und womöglich sogar schockierender Weise mit der nationalsozialistischen Judenvernichtung auseinandersetzten und auseinandersetzen. Dies dürfte auch weiterhin der Fall sein; zukünftige Theoriebildung wird auch danach fragen müssen, welche Implikationen die anti-repräsentationistischen Theorien für die Mediation anderer »traumatischer« Ereignisse der Weltgeschichte (z. B. Armenien, Gulags, 9 / 11) haben. Till Kinzel, Braunschweig Stefan Rebenich, Barbara von Reibnitz, Thomas Späth (Hgg.), Translating Antiquity. Antikebilder im europäischen Kulturtransfer. Basel: Schwabe Verlag, 2010, 247 S. Die Absicht, mit dem Band einen translational turn und somit eine methodologische Wende im Umgang mit der Antike herbeizuführen, wird von den Herausgebern, einer Kulturwissenschaftlerin und zwei Professoren für Alte Geschichte und Rezeptionsgeschichte der Antike bzw. für Antike Kulturen und Antikekonstruktionen, im Titel Translating antiquity bereits angedeutet und in der Einführung unter dem Titel »›Übersetzung‹ der Antike« mit Nachdruck bekundet. An diesem Anspruch soll der Band gemessen werden. Wir skizzieren zunächst die Situation vor dem translational turn, um dessen Gegründetheit zu erweisen. Darauf untersuchen wir, wie deutlich die Herausgeber diese neue Methode von den älteren abgrenzen und in welchem Maße die Beiträge diesen neuen methodischen Ansatz realisieren. Abschließend fragen wir nach dem Wert des Bandes jenseits der von ihm angestrebten methodischen Innovation. Vor dem Aufkommen des Konzepts der transferts culturels gab es die der Quelle, des Einflusses, der Rezeption usw. Da sich jede Übersetzung vom Original entfernen muss, erzeugt sie Verluste. Die Leistung des Übersetzers wurde an seiner Fähigkeit gemessen, diese gering zu halten und zu kompensieren. Im Grunde jedoch war er immer auf der Verliererseite, denn die einzige gelungene Übersetzung wäre die wortwörtliche Abschrift, die keine Übersetzung ist. Rezeption hieß Passivität, Empfängnis. Die Kategorie stand im Gegensatz zu denjenigen der Originalität, Genialität und Schöpfung. Da wurde importiert, geborgt, gestohlen und verzehrt, was andere aus ihrem Inneren heraus produziert hatten. Mit diesen Konzepten, welche eine starke Be- und Abwertung des Untersuchungsgegenstandes mit sich brachten, war es schwer, über sprach- und kulturübergreifende Kommunikationsprozesse zu arbeiten. Das Konzept der transferts culturels machte
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auf die produktive Seite der Rezeption aufmerksam. Gerade die Abweichung vom Original, die vormals als Schwachstelle der Übersetzung angesehen worden war, wurde zu dem Ort, an dem sich manifestierte, wie der Ausgangstext in der Übersetzung zur Sicherung seiner Wirksamkeit an Bedürfnisse und Verständnishorizont eines neuen Publikums angepasst und auf eine konkrete gesellschaftliche Situation in der Zielkultur abgestimmt wurde. Das Verdienst des Kulturtransferkonzepts bestand darin, eine Reihe negativer Wert- und Vorurteile über potentielle Forschungsgegenstände beseitigt, den Gegenstandsbereich der Forschung erweitert und eine Vielzahl interessanter Forschungen ermöglicht zu haben. Gleichzeitig aber brachte es positive Werturteile und damit neue Vorurteile mit sich. Jeder bemerkte Kulturtransfer wurde positiv bewertet und so ermöglichte das Konzept eine Fülle belangloser Forschungen, deren Erkenntniswert sich darin erschöpfte, Beispiele für den Kulturtransfer zu liefern, sodass der Philosoph Thomas Gil im Berliner Frankreichzentrum einmal spottete, beim Kulturtransfer werde etwas eingepackt und verschickt, von dem niemand wisse, noch wissen wolle, was es sei. Aus dem Dilemma zwischen dem Rückfall in die alten Nationalismen und dem affirmativen Konzept des transfert culturel, mit dem die Geisteswissenschaftler den europäischen Vereinigungsprozess nicht gestalten, sondern nur zustimmend begleiten, bietet der aufgrund seines Ursprungs im colonial turn mit einem kritischen Potential ausgestattete translational turn einen Ausweg. Vorstehender Rückblick und Umweg war unerlässlich, weil die Herausgeber von Translating antiquity, wie bereits der Untertitel Antikebilder im europäischen Kulturtransfer indiziert, die von ihnen propagierte neue Methode von den älteren überhaupt nicht abgrenzen. Sie beschwören eine Wende, deren Vollzug nichts ändert. Sie erklären dem Leser, der, um das Buch ganz zu lesen, fünf Sprachen verstehen muss, »dass Übersetzung mehr bedeutet als die Übertragung von Wörtern, Sätzen und Figuren aus einer Ausgangssprache in eine Zielsprache, sondern dass es sich beim Übersetzen immer um einen kommunikativen Akt handelt. Der Übersetzer muss nicht nur die beiden Sprachen, aus der und in die er übersetzt, beherrschen, sondern vielmehr die sprachlichen wie metasprachlichen kulturellen Konnotationen des Originals für sein Zielpublikum umsetzen« (7). Diese Allgemeinplätze dürften den Leser, da diese Fragen spätestens seit dem Aufkommen des Kulturtransferkonzepts vor einem Vierteljahrhundert ausgiebig diskutiert worden sind, ebenso wenig Neues sagen wie die Feststellung, dass Wissenschaftstransfer »als Teil eines vielschichtigen Systems der transferts culturels verstanden werden« müsse (9). Über derartige truisms gehen die Herausgeber in ihrem Plädoyer für einen translational turn, gegen ein holistisches und für ein dynamisches Kul-
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turverständnis weit hinaus, wobei sie vor allem die Gedanken ihres maître à penser, Doris Bachmann-Medick, referieren, die u. a. mit folgendem Satz zitiert wird: »Kulturen werden nicht nur übersetzt, sondern sie konstituieren sich vielmehr in der Übersetzung und als Übersetzung« (8). Eine derartige Sicht hätte, wie die Herausgeber erkennen, für die Altertumswissenschaften weitreichende Konsequenzen: Ein kulturwissenschaftlich geschärfter Übersetzungsbegriff könnte helfen, Modelle neuzeitlicher Kanonbildung zu dekonstruieren, das europäische Monopol auf ein klassisches Altertum in Frage zu stellen und das Verhältnis von Zentrum und Peripherie neu zu überdenken (9).
Dieser Satz bildet den Zenit der Einführung, denn er formuliert ein überaus mutiges Programm. Würde es umgesetzt, müssten die Altertumswissenschaften die Einheit ihres Gegenstandes zur Disposition stellen und die Vorstellung, dass so etwas wie eine Antike vor deren mittels kultureller Übersetzungsprozesse in der Neuzeit erfolgter Konstitution jemals existiert habe, aufgeben. Auf dem Buchdeckel heißt es: Was ist ›Antike‹? Unsere Vorstellungen der griechischen und römischen Vergangenheiten sind das Ergebnis zahlreicher Übersetzungsprozesse.
In einem radikalen translational turn ginge es nicht darum, die Genese dieses Ergebnisses nachzuzeichnen, um es auf diesem Wege weiter zu befestigen, sondern darum, das Ergebnis aufzulösen und die aus der Vergangenheit überlieferte Mannigfaltigkeit durch neue Übersetzungsprozesse in eine Vielheit neuer, gegenwartbezogener und zukunftsgerichteter Entitäten zu übersetzen. Die Methode des translational turn besteht in der »Metaphorisierung der Übersetzungskategorie« (8). Indem ein Untersuchungsgegenstand als Übersetzung modelliert wird, werden bisher an ihm unbemerkte Eigenschaften erkennbar. Heißt es in der Einführung, in den Beiträgen würden »›Übersetzungen‹, im konkreten wie im übertragenen Sinn, sowohl als Medium als auch als Modus des Kulturtransfers interpretiert« (9 f.), so wird der Leser darauf vorbereitet, dass der Ausdruck translational turn in diesem Band keine methodische Wende bezeichnet, sondern einem methodenindifferenten Methodeneklektizismus als Feigenblatt und modisches Etikett zur Benennung und Bündelung von Heterogenem dient. Tatsächlich verzichten fast alle der im Band versammelten Autoren auf einen metaphorisierten Übersetzungsbegriff zur Modellierung kultureller Phänomene, halten an Kohärenzbegriffen wie Autor, Einfluss und Tradition fest und betrachten Kulturen als aufnahmefähige, aber stabile Gegebenheiten. Martin Vöhlers Aufsatz zum rhetorischen Terminus ›beau désordre‹ untersucht dessen Genese, Adaption und Transformation. Da Vöhler alt- wie
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neuphilologische Kompetenzen brillant ausspielt, gehört der Aufsatz ohne Zweifel zu den erstklassigen komparatistischen Arbeiten. Methodisch innovativ ist er nicht, denn gerade gegen den Komparatismus war das Kulturtransferkonzept ausdrücklich angetreten. Schon der Ausdruck ›la fortuna di …‹ im Titel des Aufsatzes »La fortuna di Cesare e Cicerone in casa Gadda« von Arnaldo Marcone lässt erkennen, dass hier die alte Einflussforschung unter der Flagge des translational turn mitsegelt. Marcone legt dar, wie Emilio Gadda durch äußere Einflüsse, insbesondere den seiner Mutter, bereits zu einer Zeit zu einer positiven Bewertung Cäsars kam, zu der ganz Europa noch unter dem Eindruck des Mommsenschen Verdikts stand: […] la presenza de la storia romana e, in particolare di Cesare, nella cultura di Gadda non fosse solo un prodotto di scuola o di interesse personale ma avesse nelle conoscenze specifiche della madre un presupposto importante (200).
Henriette Harich-Schwarzbauer, die sich mit Gaston Boissiers gleichfalls gegen Mommsens mächtige Stimme aufbegehrender Studie Cicéron et ses amis beschäftigt, spricht vom »Einfluss von Verfassern und eventuell auch von Übersetzern« und von »Vermittlung« (181) sowie davon, dass man im 19. Jahrhundert »unter dem Einfluss des deutschen Idealismus der römischen Kultur selbständige oder auch nennenswerte philosophische Leistungen kaum zugestand« (184). Mirella Romero Recio und Jaime Alvar Ezquerra untersuchen, wie seit dem 19. Jahrhundert die deutsche Historiographie über das antike Griechenland die spanische beeinflusste: Precisamente es esta visión de la historiografía alemana sobra la Hélade la que va a influir, ya muy a finales del siglo XIX y en el XX en una buena parte de los historiadores españoles […] (60).
Oswyn Murrays Studie über die im 19. Jahrhundert in England unternommene »Search to the Key to all Mythologies« charakterisieren die Herausgeber mit den Worten: Murray illustriert beispielhaft am Einfluss der deutschen Bibelkritik auf die englische Religionswissenschaft, dass Wissenstransferprozesse nur als komplexes Wechselspiel von Übernahme und Adaptation angemessen erfasst werden können (12 f.).
Tatsächlich vollzieht Murray den enthusiastischen Übergang von der Einflussforschung zum Konzept des Kulturtransfers, wie er sich andernorts vor einem Vierteljahrhundert ereignete, exemplarisch: Reflecting on this development of the ›science‹ of mythology in Britain throughout the 19th century, we can see the importance of German scholarship for its origins and the variety of channels through which German influence flowed, but
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nevertheless the subordination of this influence to the needs and attitudes of British culture: it is an excellent case-study in the complexity and limitations of cultural transference (transferts culturels) as it is defined by the French scholar Michel Espagne, that is, the manner in which one culture is transferred to another, the modes of transference and the effects on the receiving culture, the uses to which the import is put and the ways in which it is adapted to the needs of its new home. In the view of Michel Espagne there is no such thing as simple transference, appropriation or borrowing: every exchange involves change and adaptation. While normally the donor is not affected by this export, the receiving culture will always adapt and modify the material it accepts, incorporating it into existing ways of thinking (127).
Murrays Enthusiasmus verdeckt und offenbart den Kern des Kulturtransferkonzepts, der darin besteht, dass es sich selbst feiert. Der Beitrag von Eve Gran-Aymerich über »Les correspondances d’antiquisants allemands et français au XIXe siècle« zeigt, wie dieses Konzept eingesetzt werden kann, um eine Masse von Fakten, die sonst nur aufgezählt werden könnten, in eine narrative Struktur einzubinden. In einer spekulativen Seelenintrospektive erblickt Gran-Aymerich in allen Altertumsforschern zwei Grundgefühle, den Wunsch zur Zusammenarbeit und das Nationalgefühl, und zwischen beiden den Konflikt »entre désir de collaborer au progrès des connaissances et tentation de favoriser les intérêts nationaux« (220). Das Nationalgefühl treibt die Forscher aus- und gegeneinander: C’est bien le sentiment national qui inspire les deux parties, l’une et l’autre préoccupée d’assurer la suprématie du pays qu’elle représente (221).
Indem sie beide Prinzipien durch die Jahrhunderte in den Herzen der Wissenschaftler miteinander ringen lässt, gelingt es Gran-Aymerich, eine spannende generationenübergreifende dramatische (dramatique) und aufwühlende (émouvant) Geschichte zu erzählen: Pour dramatique que soit le déclenchement de la guerre pour la communauté scientifique et malgré les très vives réactions aux prises de position de T. Mommsen, les relations entre les deux rives du Rhin ne sont pas interrompues et certaines correspondances offrent d’émouvantes marques de sollicitude et d’inquiétude amicales de la part de certains savants allemands à l’égard de leurs collègues français (228).
Wie die Liebenden in einer soap opera werden die deutschen und die französischen Wissenschaftler bald getrennt, bald vereint. Die Episode schließt mit einem Happy-end, eine neue kann beginnen: La collaboration entre savants français et allemands, amorcée dès 1866 par la convention passée entre L. Renier et l’équipe allemande du CIL, est désormais fermement établie et se poursuit au-delà de la mort de T. Mommsen jusqu’en 1914, la Première Guerre mondiale marquant une nouvelle rupture (234).
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Dass sich hinter dem Kooperationstrieb Eigennutz verbirgt, wird gesagt: »Il est vrai qu’il s’agit moins d’assurer la large diffusion du savoir que de recueillir des éléments utiles au progrès de chacun« (214). Dass die Einfuhr reicher Ernten in Frankreichs afrikanischen Besitzungen durch die Epigraphik (225) Teil einer Kolonialpolitik ist, ist evident. Doch all das überstrahlt der Triumph des Kulturtransfers über die Versuchungen des Nationalstolzes: Les correspondances entretenues par les savants allemands et français attestent à quel point leurs relations, fondées sur l’estime, la confiance, la générosité dans l’échange et l’amitié, permettent d’écarter les tentations de l’orgueil national et de surmonter les conflits, pour faire prévaloir le sentiment d’appartenir à la même communauté savante et le souci partagé de l’intérêt majeur de la science (236).
In diesem Beitrag, der den Band schließt, feiert das Kolloquium in Rom von 2007, auf dem der Band beruht, den Kulturtransfer und sich selbst. Auch Corinne Bonnet bleibt mit ihrem Aufsatz über die orientalischen Religionen im »Dictionnaire des Antiquités grecques et romaines« von Daremberg, Saglio und Pottier durchaus in der Tradition der Studien zu den transferts culturels und reizt das Konzept aus, indem sie nicht den Transfer und seine Beschreibung als absolute Werte feiert, sondern den Blick auf dessen Inhalte, die constitution, mise en forme, distribution et circulation des savoirs (99 f.) richtet. Desgleichen versteht Alexander Gavrilov seine fast zur Hälfte aus einer Liste bestehende positivistische Studie über die von Katharina II. gegründete ›Kommission für die Übersetzung der fremden Bücher‹ als Beitrag zum Wissenstransfer. Eine Metaphorisierung des Übersetzungsbegriffs findet sich in Sotera Fornaros Aufsatz »Die Mythologie übersetzen. Der Briefwechsel zwischen Friedrich Creuzer und Gottfried Hermann« auf der Objektebene: Creuzer nehme »die Überlegungen von Assmann in gewisser Weise vorweg« (85). Fornaro führt den Aufsatz »Translating Gods. Religion as a Factor of Cultural (In)translatability« des Ägyptologen Jan Assmann aus dem Jahre 1996 als Beispiel für eine mit einem metaphorisierten Übersetzungsbegriff arbeitende Studie an. Sie selbst aber knüpft methodisch nicht an Creuzer oder Assmann an, sondern bleibt auf Distanz: Andererseits hat uns der Gegenstand des Briefwechsels Gelegenheit gegeben, an einen anderen Begriff von ›Übersetzung‹ zu erinnern, nämlich an die ›Übertragung‹ von religiösen Ideen aus einer Kultur in eine andere (93).
Einen avant-goût davon, wie ein translational turn schmecken könnte, gibt der Aufsatz »Les antiquaires face à l’Amérique : traduction et adaptation du passé« von Alain Schnapp. Wie Fornaro, findet auch Schnapp die Übersetzungen im metaphorischen Sinne auf der Objektebene. Er beobach-
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tet, wie die Menschen der frühen Neuzeit sich ein Verständnis von Kulturen erarbeiteten, indem sie sie als Übersetzungen anderer Kulturen deuteten. So wurden etwa die Kulturen der neuen Welt, indem sie in Analogie zu den Kulturen der klassischen Welt aufgefasst und mit den Methoden der Antiquare erschlossen wurden, lesbar, aber auch die eigene Kultur mit ihren »Indians in Cornwall, Indians in Wales, Indians in Ireland« ließ sich als Übersetzung anderer Kulturen verstehen. Bei diesen Übersetzungen handle es sich nicht nur um hermeneutische, sondern um produktive Prozesse, durch welche neue Kulturen, »cultures mixtes« (167), neue Erkenntnisse und Handlungsmöglichkeiten durch Perspektivwechsel entstanden seien: »une ethnographie inversée«, »un regard indigène qui renverse la position du colonisateur et du colonisé«, »une révolte anticoloniale qui retourne les propres armes des colonisateurs contre eux-mêmes« (168). Die von Schnapp beschriebenen Übersetzungen situieren sich vor der Konstitution des heute geläufigen Antikebegriffs. Auf die Frage »sont-ils des antiquaires?« antwortet Schnapp: »Ils sont pleinement des hommes de la curiosité élizabéthaine […]«. (161) Seine faszinierende Skizze vom Leben und Denken vor der Konstitution des modernen Antikekonzepts macht eine Zeit danach vorstellbar. Der Wert des Buches liegt nicht in methodischer Innovation, sondern in der Erschließung enormer Materialmengen. Im Zusammenspiel skizzieren die Beiträge eine Geschichte des modernen Antikekonzepts. Schnapp zeichnet das Zeitalter der curiosité. Gavrilov veranschaulicht, in welchem Maße der westeuropäische Klassizismus, dessen Kern der französische Klassizismus und die französische Aufklärung bilden, die Grundlage unseres Antikebegriffs ist: Mit Peter dem Grossen begannen die Bemühungen, antike Literatur nicht mehr über Byzanz und seine Erben oder quer durch die süd- und westrussische[n] Gebiete Osteuropas und auch nicht mehr über Moskau mit seiner Slavo-GräkoLateinischen Akademie aufzunehmen, sondern direkt aus Westeuropa nach Russland zu bringen […] (21).
Vöhler wirft einen Blick in die Werkstatt dieses Klassizismus. Die Mehrzahl der Beiträge zeigt, wie sehr das europäische Antikeverständnis des 19. Jahrhunderts von der deutschen Altertumswissenschaft mit ihrer in der protestantischen Theologie begründeten Philologie, ihrer philologisch fundierten Archäologie und ihrer an die idealistische Philosophie anknüpfenden Historiographie geprägt wurde. Dabei zeigen die Beiträge, welche Werke von europäischer Bedeutung waren, und nennen die wichtigen Namen: Böttiger, Creuzer, Cumont, Curtius, Droysen, Gerhard, Hegel, Heyne, Otfried Müller, Friedrich Schlegel, Winckelmann, Wolf und überlebensgroß: Mommsen. Der Band macht deutlich, dass die deutsche For-
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schung zur Antikekonstruktion und die sie begünstigende Forschungsförderung mit ihrer Präferenz des Weimarer Klassizismus immer noch, ein Vierteljahrhundert nach der Geburt des Konzepts der transferts culturels, an einer nationalen Orientierung festhalten und vor der europäischen Kulturgeschichte die Augen verschließen. René Sternke, Berlin Stefan Welz, Fabian Dellemann (Hgg.), Anglosachsen: Leipzig und die englischsprachige Kultur. Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2010. 170 S. Elmar Schenkel (Hg.), Englisches Leipzig: Eine Spurensuche von A bis Z. Leipzig: Edition Hamouda, 2011, 300 S. Die beiden hier vorgestellten Bände belegen eindrucksvoll die vielfältigen Wechselbeziehungen Leipzigs mit der englischsprachigen Welt. Der Sammelband Anglosachsen: Leipzig und die englischsprachige Kultur ist das Ergebnis eines 2009 vom Institut für Anglistik anlässlich des sechshundertjährigen Gründungsjubiläums der Universität Leipzig veranstalteten Symposiums. In insgesamt elf wissenschaftlichen Beiträgen befasst sich der Band mit Geschichte und Gegenwart der »universitären und regionalen Bezüge zum englischsprachigen Kulturkreis« (7). Elmar Schenkel eröffnet eloquent die Chronik der inter- und transkulturellen Wechselbeziehungen mit seiner Rückbesinnung auf die Leipziger Völkerschlacht (1813), welche nachhaltig die europäische Geschichte prägte. Auch wenn er auf der Suche nach expliziten Leipzig-Referenzen in ausgewählten englischsprachigen, historischen und literarischen Texten nur in den Romanen des britischen Schriftstellers Thomas Hardy (1840 – 1928) so richtig fündig wird, gewährt seine facettenreiche Spurensuche doch einen informativen Überblick auf die Perspektivenvielfalt bei der Rezeption der Napoleonischen Kriege in der europäischen Literatur. Kultur- und bildungsgeschichtlich relevant, aber auch aufschlussreich im Hinblick auf den aktuell sich vollziehenden Umbau der Hochschulen und Universitäten nach den Bologna-Beschlüssen ist der historisierende Blick auf die strukturellen und inhaltlichen Entwicklungen einzelner Wissenschaftsinstitute. Die Beiträge von Doris Schönefeld, Jürgen Ronthaler und Beate Seidel umreißen zu diesem Zwecke kritisch und präzise die dynamische Entwicklung der vier Teilgebiete der Leipziger Anglistik (Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft, Kulturstudien, und Sprachpraxis) seit 1875. Dabei wird eindrucksvoll vorgeführt, in welchem Maß Ideologien Einfluss auf fachwissenschaftliche Inhalte, Zielsetzungen und Entwicklungslinien ausübten. Die Vielfalt unterschiedlicher und doch miteinander verknüpfter Themenbereiche, welche sich von Clara Zetkins Rolle in der frühen britischen
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Frauenbewegung (John S. Partingdon), den parapsychologischen Studien des Leipziger Philosophen Hans Driesch (Alexandra Lembert) und Nicholas Shakespeares Leipzig-Roman Snowleg (Clausdirk Pollner) über die Geschichte des Tauchnitz-Verlages (Thomas Keiderling) bis hin zu Peter Drexlers Ausführungen zu Nikolaus Pevsners Einfluss auf die visuelle Kultur Großbritanniens in den 1940er und 1950er Jahren erstreckt, wird weiterhin durch Dietmar Böhnkes Rückblick auf Felix Mendelssohn Bartholdys (1809 – 1847) Schaffenszeit in Leipzig und Großbritannien ergänzt. Böhnkes Beitrag fokussiert nicht nur auf den fortwährenden Beliebtheitsgrad des in Leipzig verstorbenen Komponisten und die Entwicklung Leipzigs zu einer der bedeutsamsten europäischen Musikstädte, sondern skizziert auch dessen als Vorlage fiktiver Protagonisten gewährte Unsterblichkeit in den Romanen der britischen Autorin Elizabeth Sara Sheppard (1830 – 1862) sowie des britischen Schriftstellers und Zeichners George Du Maurier (1834 – 1896). Um fiktionalisierte Zeitgeschichte im weitesten Sinne geht es auch im Beitrag von Stefan Welz, der den im Leipziger Musikviertel spielenden Erstlingsroman Maurice Guest sowie das weitere literarische Schaffen der zeitweise in Leipzig ansässigen australischen Autorin Ethel Florence Lindesay Richardson (bekannt unter ihrem schriftstellerischen Pseudonym Henry Handel Richardson) u. a. auf europäische Einflüsse hin untersucht. Schlüssig arbeitet der Beitrag, mit Blick auf eine eigenständige australische Literaturgeschichte, an einzelnen Romanfiguren frühe Tendenzen einer »genuin australische[n]« Identität heraus, die sich deutlich von der narrativen Gestaltung der im outback erlebten Grenzerfahrung unterscheidet. Angesichts des übergreifenden Anliegens des Bandes, Formen inter- und transkultureller Austausch- und Transferprozesse und Wechselwirkungen interdisziplinär aufzuarbeiten, verdient Jochen Schwends Aufsatz »Friedrich Max Müller. Zwischen Orientalismus und Völkerverständigung« besondere Beachtung. Seine aus einem postkolonialen Blickwinkel vorgenommene kritische Neubetrachtung des deutschen Sprachforschers und Religionswissenschaftlers, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts an der Leipziger Universität Philologie und Philosophie studierte, betont die Aktualität von Müllers Kulturverständnis im 21. Jahrhundert. Analog zu zeitgenössischen Ansätzen einer universalistischen Erkenntnis- und Geschichtstheorie gründeten Müllers Auffassungen laut Schwend in einem »Verständnis von Kulturen als Geschichten, die Gemeinschaften, Kulturnationen, über sich selbst und ihre Anfänge erzählen« (81), welche es in ihrer dynamischen Gesamtheit einzubeziehen gelte. Eine willkommene Ergänzung zu diesem Symposiumsband bietet das von Elmar Schenkel herausgegebene Bändchen Englisches Leipzig: Eine Spurensuche von A bis Z, eine von Studierenden der Leipziger Anglistik
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verfasste Sammlung von Vignetten, in denen in vielfacher Brechung die kulturellen Beziehungsgeflechte zwischen der sächsischen Metropole und der englischsprachigen Welt beleuchtet werden. Wie ein Flaneur begibt sich der Leser hier auf eine kulturgeschichtliche Spurensuche, auf der die Stadt Leipzig in ihrer wechselhaften Geschichte, gleich dem berühmten Diktum des irischen Schriftstellers James Joyce, »places remember events«, ihre Erinnerungen preisgibt. Die Reihe der unter alphabetischen Stichworten geordneten Einträge wird eröffnet durch einen Beitrag (Christiane Müller und Carolin Schwarzenberg) zu der auch schon von Welz behandelten Schriftstellerin Ethel Florence Lindesay Richardson und ihrem Leipzig-Roman Maurice Guest. Der hier vorgestellte (meta-)fiktionale Briefwechsel zwischen der Autorin und ihrer Titelfigur lädt zur Neuentdeckung dieses seinerzeit viel gepriesenen Werkes ein. Nach facettenreichen Einblicken in die Erfahrungswelten von seit den 1990er Jahren zugezogenen anglophonen Neuleipzigern in Form von Interviews (Alissa Imsirović) und einem Bericht über das Gemeindeleben der Leipzig English Church (Miriam Speckmann) folgt ein beeindruckendes Porträt der gebürtigen Sächsin Amalie Concordia Nelle (Ulla Koch), die 1863 ihre umfangreichen Forschungsreisen auf dem australischen Kontinent begann, deren Früchte heute im Leipziger Völkerkundemuseum ausgestellt sind. Weitere Einträge widmen sich den Reiseeindrücken berühmter Schriftsteller und Dichter der angelsächsischen Welt, z. B. James Boswells (Katrin Zieger), William Carlos Williams’ (Paul Dralle) oder des schottischen Reformators Alexander Alesius (Franz Ruppricht). Berücksichtigung findet auch der 1992 in Leipzig gegründete Verein zur Förderung literarischer Übersetzung »Die Fähre« und dessen wohl prominentestes Mitglied Dr. Reinhild Böhnke, die u. a. als Übersetzerin des südafrikanischen Schriftstellers J. M. Coetzee hervorgetreten ist. Der Austausch mit englischsprachigen Kulturen in den Bereichen Wissenschaft, Forschung, Bildung und mediale Repräsentation ist ein weiterer in dem Band vertretener Schlüsselbereich. Hier finden sich u. a. biographische Porträts bedeutender Begründer und Förderer der englischen Philologie wie Richard Wül[c]ker, Max Förster und Levin Ludwig Schücking (Maria Melanie Meyer und Franz Ruppricht), Beiträge über Leipzig und den mitteldeutschen Raum als Schauplatz englischsprachiger Film- und Fernsehproduktionen (Claudia Heinichen), über die abwechslungsreiche Geschichte des Leipziger Verlagswesens vor und nach 1945 (Marko Hofmann, Claudia Pfeil, Nina Janetschke), über die mit den Namen Christian Friedrich Samuel Hahnemann (1755 – 1843) und Constantin Hering (1800 – 1880) verbundenen Anfänge und internationalen Ausstrahlungen der Leipziger Alternativmedizin (Ulla Koch, Lisa de Meer), über die englischspra-
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chige Leipzig International School (Miriam Speckmann) oder über die unter angelsächsischem Einfluss in Leipzig entstandenen spiritistischen und okkultistischen Strömungen (Nina Janetschke). Besondere Erwähnung verdient ein Beitrag, der sich mit den 1938 entstandenen Tagebuchaufzeichnungen eines dreizehnjährigen jüdischen Mädchens befasst, das auf dem Wege der seinerzeit organisierten Kindertransporte nach Großbritannien dem nationalsozialistischen Vernichtungsprogramm entkam. Einen besonderen Schwerpunkt des Bandes bildet naheliegenderweise die Beschäftigung mit Leipzig als Musikstadt. Sechs Beiträge befassen sich mit den bedeutendsten der in Leipzig tätigen Musikern und Komponisten wie Bach, die Schumanns, Mendelssohn Bartholdy und Wagner. Ausführlich wird dabei auf Produktions- und Rezeptionsprozesse im internationalen Kontext, etwa in Form wechselseitiger Konzertreisen und Aufenthalte, von Adaptionen anglophoner literarischer Texte usw. eingegangen. Lesenswert sind auch die Erkundungen der architektonischen und landschaftsgestalterischen Einflüsse Englands in den Anlagen des Schlosses Püchau und des Wörlitzer Parks. Zusammen mit einer Vielzahl weiterer Einträge, auf die nicht im Einzelnen eingegangen werden kann, präsentiert die Sammlung ein vielgestaltiges Mosaik Leipziger Kulturbeziehungen zum englischsprachigen Raum. Obwohl unabhängig voneinander entstanden, ergänzen die beiden hier vorgestellten Bände einander auf gelungene Weise. Dem Leser, der mehr wissen möchte über die wissenschaftlichen, literarischen und kulturellen Beziehungen der Stadt Leipzig zum angelsächsischen Raum, bieten sie interessante Anknüpfungspunkte für weiterführende Untersuchungen. Jana Nittel, Bremen Jürgen Brokoff, Geschichte der reinen Poesie. Von der Weimarer Klassik bis zur historischen Avantgarde. Göttingen: Wallstein Verlag, 2010. 607 S. In seinem kenntnis-, detailreichen und philologisch soliden Buch liefert Brokoff auf rund 550 Seiten eine systematische Darstellung aller Reinigungsprozesse, die die Poesie erfährt, bevor das bekannte Konzept der reinen Poesie, der poésie pure, von Paul Valéry in den 1920er Jahren festgeschrieben wird. Vorrangig interessiert dabei nicht das Resultat der Reinheit, das auf dem Feld der Kunst ohnehin nicht dauerhaft in ›Reinform‹ zu erreichen ist (vgl. 551), sondern der Prozess der Reinigung der Poesie (vgl. 11, 20) von allem »Unpoetischen« (42). Ausgehend von der Beobachtung, dass Reinheit ein relationaler Begriff ist, der in abgrenzender Beziehung zum Schmutz, zur
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Verunreinigung und zur Unordnung steht (in Anlehnung an Mary Douglas’ grundlegende Pionierstudie Reinheit und Gefährdung von 1966 entwickelt), wird deswegen eine »negative Produktionsästhetik« (21) vorgestellt, die zeigt, wovon die Poesie gereinigt werden kann: Im Wesentlichen erstens von der »praktischen Funktion der Sprache« (22) und zweitens »von der Individualität des schaffenden Künstlers« (22). Die Emanzipation der Poesie ist genauer gesagt vorrangig das Werk einer Reinigung von zunächst nicht-poetischen Elementen wie etwa der Moral (Goethe), der Prosa-Sprache (Moritz), der Philosophie (Schiller), aber auch der Sprache selbst (Hugo Ball), die anhand gründlicher Lektüren von Texten aus unterschiedlichen Epochen und verschiedenen Gattungen sowie von theoretischen Schriften nachgezeichnet wird. Brokoff schlägt einen weiten Bogen von Opitz, der in seiner Deutschen Poeterey (1624) die Reinheit der Sprache (im Anschluss an die Tradition der antiken Rhetorik und der Vorstellung vom sermo purus) hinsichtlich ihrer grammatikalischen und stilistischen Stimmigkeit fordert, über Wieland, der eine Gegenbewegung zur überzogenen Reinheitsforderung Gottscheds mit seiner ausgleichenden Profilierung der »mittelhohe[n] Stilebene« (33) einleitet, über Goethes Dramen wie Iphigenie, wo Iphigenie nicht nur das »Ethos der Reinheit« (33, 107 ff.) vertrete, sondern auch eine »Ästhetik der Reinheit« (33, 117 ff.) als Sinnbild der Kunst vorstelle, über Moritz’ Profilierung der schönen Verssprache, ihre Reinigung von der Prosa sowie die Reinigung des Kunstwerks vom schaffenden Künstler, über Schillers Spieltheorie bis zur Lyrik Platens samt seinem problematischen Ringen um formale künstlerische Vollendung, zu Conrad Ferdinand Meyers »Ablösungsprozess des Kunstwerks vom Leben des Künstlers« (417, 419) sowie zu Georges Sprachreinigungen und abschließend zu Hugo Balls radikalem Experiment einer Reinigung von der Sprache. Höhepunkte dieses Parforceritts durch die Literaturgeschichte stellen sicherlich zum einen die Kapitel zu Moritz, Goethe und Schiller und ihren Reinheitsvorstellungen dar, zum anderen die Kapitel zu den modernen Dichtern George und Ball. Der »gereinigte Bildungstrieb« (35) und die »Beschränkung auf den reinen Genuss des Schönen« (35) sind die wichtigsten Anforderungen an den Künstler nach Moritz. Neben diesen ›Reinheitsgeboten‹ ist es originell zu beobachten, dass der Künstler sich dabei für das Kunstwerk aufopfern muss, indem er seine Individualität in die objektivierte Struktur des Kunstwerks transformiert (vgl. 35). »Die Reinigung der Individualität des Künstlers« (36, vgl. 207 ff.) wird auch im Zuge von Schillers Spiel-Theorie bedeutsam, die zugleich eine Reinigung von der moralischen Wirkungsabsicht anstrebt. So kommt Brokoff bei Schiller und seinen Briefen Über die ästhe-
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tische Erziehung des Menschen (1795) zu dem gut nachvollziehbaren Ergebnis, dass der ästhetisch freie Mensch und die Unabhängigkeit der schönen Kunst zusammengehören, also die im Spiel ermöglichte ästhetische Freiheit eine Reinigung der Poesie von pädagogischen Zwecken, aber auch von philosophischen und theoretischen Diskursen impliziere. Wie die Poesie vom Poeten gereinigt werde, lasse sich auch an Platens und Meyers Gedichten studieren. Im Kunstwerk werde nämlich eine Ordnung geschaffen, die das ›bewegte Leben‹ des Künstlers wohltuend überformen könne, was die statischen Gedichte bei beiden Lyrikern erkläre. Besonders aufschlussreich und anregend sind die Kapitel zu George und Ball, wo mit dem Reinheitsgebot der Sprache bis zu ihrer Infragestellung Ernst gemacht wird. Stellvertretend seien diese deswegen genauer dargelegt. Für den frühen George konstatiert Brokoff eine interessante »Ambivalenz« (470). Sofern das Kunstwerk von den subjektiven Gefühlen des Künstlers gereinigt (vgl. 453), damit einer Abstraktion – im Sinne Worringers (vgl. 455) – unterzogen wird und dementsprechend von einer »Ästhetik der Distanz« (461, 465) gekennzeichnet ist, kann George zu den avantgardistischen ›Reinigern‹ der Poesie zählen, die die »Körperlichkeit der Verssprache« (40) fokussieren. Bei George komme so nicht nur die Reinheit der sprachlichen Form, seine viel beobachtete ›Formstrenge‹, sondern auch die »Ästhetik der harten Fügung« (488 f.) mit »einer Verssprache der weichen und zarten Töne« (41) zusammen. Da bei George der Dichter als ›geweihte‹ Person, als Seher auftrete (vgl. 466), dominiere hingegen die »Ideologie des reinen Poeten« (40, 467), die einer »Tendenz zur Verhärtung« (503) der Sprache Vorschub leiste und nach Brokoff an die Tradition der »Dichtergedichte« aus dem 19. Jahrhundert anschließe. Folgt man diesem Befund, stehen das Konzept einer reinen Poesie und das des reinen Poeten bei George konträr zueinander, ja letztes scheint ersteres zu gefährden. Die These, dass nur das »überpersönliche Kunstwerk« (467) in die ›Geschichte der reinen Poesie‹ passe, ist aber nicht ganz überzeugend, ebenso wenig, dass »das Konzept der reinen Poesie […] mit einer Stilisierung der Person des Dichters und Künstlers zum reinen (und deshalb machtvollen) Poeten unvereinbar« (470) sei. Denn gerade der ›reine‹ Dichter-Seher wird bei George – übrigens ganz ähnlich wie bei Arthur Rimbaud und Georg Trakl – auch als Garant einer reinen Poesie verhandelt: Im berühmten Gedicht Entrückung beispielsweise löst sich das lyrische Ich zugunsten der reinen Töne und der ›heiligen Stimme‹ »im rausch der weihe« auf; in Erwiderungen: Einführung wird der ›Mund‹ des ›Dieners‹ rein gebrannt. Der Seher – der reine Poet – ist bei George nicht nur der ›Gewaltherrscher‹, sondern auch der ›Diener‹ oder das ›Medium‹ der Poesie. Der ›reine Poet‹, der im Übrigen oftmals als Seher klassifiziert wird, ist also
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nicht ausschließlich mit der »personale[n] Herrschaftsgewalt des Künstlers« (470) gleichzusetzen. An dieser Stelle wäre ein Rückblick auf Hölderlins poeta-vates-Konzept anschlussfähig, wonach sich der Seher dem Göttlichen – gemäß der Feiertagshymne – nur mit ›reinem Herzen‹ zu nähern hat, oder eine vertiefende Querverbindung zu Novalis’ Monolog (vgl. 509), wo der Dichter ähnlich als ›Prophet‹ in der Funktion als Medium der ›reinen‹, weil sich selbst mitteilenden Sprache verhandelt wird. Mit Hugo Ball erlangt die Geschichte der reinen Poesie ihren Höhepunkt und vorläufigen Abschluss. Bei dem führenden Dadaisten wird die Sprache nicht nur von der semantischen Dimension (vgl. 41), von sinnhaften Zusammenhängen (519, 526 f.) – auch aus ideologiekritischen Gründen – gereinigt, sondern zuletzt ein »Verzicht auf die Sprache selbst« (529) geleistet. In dieser radikalsten Konsequenz »erfordert das Konzept der reinen Poesie nicht mehr eine Reinigung der Sprache, sondern eine Reinigung von der Sprache« (530). Zudem wird das Lautgedicht als »Reinform der menschlichen Stimme« (526), der vox humana (vgl. 533), und als »Gegenform zum bruitistischen Simultangedicht« (534) sowie gleichzeitig der öffentliche Vortrag der Gedichte profiliert (vgl. 535 ff.). Ob sich die sprachtheologische Interpretation der Lautgedichte durch den Hinweis auf Balls komödiantische Auflösung seiner Inszenierung als ›magischer Bischof‹ und als ›Narr‹ der Lautgedichte so schnell erledigt (vgl. 537 f.), ist fraglich. Wie bei George muss die Befreiung der Sprache vom Dichter nicht zwangsläufig konträr zu dessen ›heiligem Autorschaftsbild‹ stehen. Denn auch Kandinskys Programm einer ›Purifikation der Sprache‹, die Ball in seinem »KandinskyVortrag« betont, geht mit einer von Ball angestoßenen Heiligung des Künstlers und Heilsbringers Kandinsky einher, den er ernsthaft zum wahren ›Mönch‹ und ›Propheten‹ der neuen Kunst stilisiert. Wiederum wäre also das Konzept des ›reinen Poeten‹, einer Seher-Gestalt, mit dem Programm der reinen Poesie korrelierbar. Brokoffs Ergebnis, »dass reine Poesie nicht die Reinheit des Poeten, sondern die Reinigung der Poesie vom Poeten bedeutet« (396), ist zu relativieren. Der Geschichte der reinen Poesie, die an sich ein reizvolles Unternehmen darstellt, wäre insofern eine ›Geschichte des reinen Poeten‹ an die Seite zu stellen. Brokoff streift zwar die Vorstellung des ›reinen Poeten‹ kurz, aber betont nur einseitig dessen Verballhornung: Bei Hebbel und Geibel etwa erscheine der Poet »eigentümlich verklärt« (387). Mit einem stark »ideologischen Charakter« (388) versehen entfalteten diese Dichtergedichte eine soziale Funktion, da sie den Dichter der ökonomischen Sphäre scheinbar enthöben. Was für einen Radius der ›reine Poet‹ als Seher und als Garant einer »reinen Poesie« entfaltet, wäre – wie gesagt – gesondert zu diskutieren. Ob Platen mit der Vorstellung des Prophetenamtes radikal bricht (vgl.
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390 f., 394 – 395), scheint doch in der Schwebe zu bleiben, denn die Haltung, sich dem Prophetenamt zu sperren, ist selbst wiederum ein Propheten-Topos. Bei George finden sich ähnliche Verse. Dass der ›reine Poet‹ im Wesentlichen ein Bestandteil des heiligen Autorschaftsbildes darstellt, verwundert dabei nicht, ist ›Reinheit‹ doch ein besonders im religiösen Bereich angesiedelter Terminus. Gabriela Wacker, Tübingen Michael Basseler, Ansgar Nünning (Hgg.), A History of the American Short Story. Genres – Developments – Model Interpretations [WVTHandbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 14], Trier: Wissenschaftlicher Verlag, 2011, 433 S. Das vorliegende Handbuch gibt einen Überblick über die Entwicklung der amerikanischen short story und ihrer Subgenres sowie über repräsentative Autoren und Werke. Die Herausgeber führen eingangs in die Ziele des Bandes ein und behandeln ausführlich die Probleme, die eine Literatur- und Gattungsgeschichte aufwirft. Danach bereitet Michael Basseler den Hauptteil auf zweierlei Weise vor, zum einen durch eine Übersicht über wichtige Etappen der Gattungsentwicklung (2. Kapitel), zum anderen durch eine kritische Charakterisierung verschiedener Theorien und Typologien der short story (3. Kapitel). Für den Hauptteil haben die Herausgeber 24 etablierte und jüngere Amerikanisten als Mitarbeiter gewonnen. Die einzelnen Beiträge folgen in der Regel dem Muster: allgemeine Einführung, jeweils etwa drei Seiten umfassende Interpretationen zweier Short Stories, deren Einordnung in die literarische Entwicklung und das Schaffen des Autors, schließlich eine kurz kommentierte Auswahlbibliographie. Das Schema bewährt sich. Bisweilen jedoch, so etwa in dem auch stilistisch wenig überzeugenden Kapitel über afro-amerikanische Werke, erweist sich die Gedrängtheit der Darstellung als Nachteil. Die vielleicht beste Interpretation, Simon Cookes Artikel über Henry James, weicht übrigens von dem beschriebenen Schema ab und konzentriert sich auf ein Werk, nämlich auf »The Beast in the Jungle«. Aus Raumgründen ist es nicht möglich, auf alle Beiträge einzugehen (die übrigens im 2. Kapitel vorgestellt werden). Hinweise verschiedener Art müssen genügen. Die Herausgeber streben eine Balance zwischen »well-known, oft-anthologized pieces« und »some lesser known ones« an (4). Dies ist legitim, ja in einem Handbuch wünschenswert. Etwas verwunderlich ist gleichwohl, dass die Herausgeber davor warnen, von der Geschichte der short story zu sprechen, andererseits aber durch ihre Wahl der Texte der Kanonisierung Vorschub leisten. Von den 41 ausgewählten Werken sind 15 in den für deutsche Studierende leicht zugänglichen Sammelbänden von Göller / Hoffmann und
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Freese ausführlich behandelt worden. Zudem werden viele der Texte in Ahrends’ Geschichte der short story erwähnt oder kurz besprochen.1 Eingeräumt sei aber, dass die Gegenüberstellung zweier Erzählungen im Hinblick auf ein Schwerpunktthema auch bei bekannten und oft ausgelegten Werken interessante Ergebnisse zeitigt. So setzt sich Holger Kersten am Beispiel von Hartes »The Outcast of Poker Flat« und Twains »The Celebrated Jumping Frog of Calaveras County« geschickt mit Bedenken gegen die Klassifizierung der Werke als ›local color stories‹ auseinander. Kurt Müller nutzt den Vergleich von Fitzgeralds »Mayday« und Hemingways »The Short Happy Life of Francis Macomber« dazu, um auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der modernistischen Darstellung aufmerksam zu machen. Ina Bergmann erläutert an Geschichten von Flannery O’Connor und Joyce Carol Oates die Tragweite des Begriffs ›weibliche Initiationsgeschichte‹, während Jochen Achilles bekannte Geschichten von John Barth und Donald Barthelme als Beispiele für ›postmodernist metafiction‹ versteht. Die Erwartung, dass die Modellinterpretationen eines Handbuchs wenigstens kurz auf den Forschungsstand eingehen, wird von den meisten Beiträgen erfüllt, so etwa von dem erwähnten Artikel zu Henry James und in Oliver Scheidings Darlegungen zum Naturalismus bei Crane und Steinbeck. Wenig hilfreich sind dagegen die Hinweise zum Forschungsstand in der recht kurzen Interpretation von »The Murders in the Rue Morgue«. Dem Verfasser ist anscheinend entgangen, dass manchen Kritikern Dupins Lösung des Falls suspekt erscheint. Da der Besitzer des Orang-Utans durch das Fenster die Ermordung der Frauen verfolgt, sind der Seemann und das Tier als Doppelgänger anzusehen – ein Sachverhalt, den der Verfasser des Beitrags nicht erkennt, wenn er Dupins Identifizierung des Täters als korrekt bezeichnet.2 Alles in allem informiert der Band zuverlässig und anschaulich über die wichtigen Etappen der Gattungsgeschichte, literaturwissenschaftliche Begriffe und wiederkehrende Themen wie den Einfluss des Puritanismus, des Regionalismus und der Großstadt. Mehrere Artikel gehen auf GenderProbleme ein (Ina Bergmann, Kurt Müller, Gabriele Rippl). Dem Handbuchcharakter zuliebe nehmen die Herausgeber Überschneidungen mit den Gliederungsprinzipien anderer Werke in Kauf. Im Hinblick auf den Zeitraum von 1940 bis 1990 (Kapitel 16 – 22) ergeben sich deutliche Parallelen 1 Vgl. Günther Ahrends, Die amerikanische Kurzgeschichte (3. erweiterte Aufl. Trier 1996); Peter Freese (Hg.), Die amerikanische Short Story der Gegenwart: Interpretationen (Berlin 1976); Karl Heinz Göller, Gerhard Hoffmann (Hgg.), Die amerikanische Kurzgeschichte (Düsseldorf 1972). 2 Siehe zuletzt Julika Griem, Monkey Business. Affen als Figuren anthropologischer und ästhetischer Reflexion 1800 – 2000 (Berlin 2010), 88 – 94.
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zur Arbeit von Martin Scofield.3 Danach setzen die Herausgeber aber eigene Akzente mit informativen Kapiteln über ›ethnic identity‹ (Antje Kley) und 9 / 11 (Astrid Böger) sowie der kenntnisreichen und methodisch interessanten Studie zur ›Native American Short Story‹ (Wolfgang Hochbruck). Ein Höhepunkt des Bandes dürfte für Leser anderer englischsprachiger Geschichten der short story das dritte Kapitel bilden, Michael Basselers kritischer Überblick über Theorien und Typologien. Bei einem Vergleich mit dem ähnlich strukturierten Kapitel in dem Buch von Günther Ahrends fallen vor allem zwei Unterschiede auf, die bei der Bewertung der Theorien eine Rolle spielen. Erstens geht Basseler von einem erweiterten Gattungsbegriff aus, wenn er im Anschluss an Marion Gymnich und Birgit Neumann die folgenden Aspekte nennt: »textual level«, »individual-cognitive level«, »cultural-historical level« und »functional aspects« (58). Zweitens vernachlässigt er die Kürze der short story, ein Problem, für das sich Kritiker nach der Publikation von Norman Friedmans Aufsatz »What Makes a Short Story Short?« interessierten.4 Die Erweiterung des Gattungsbegriffs leuchtet ein. Vielleicht ist aber eine Wiederaufnahme der älteren Diskussion über die Kürze aus mehreren Gründen angebracht. Erstens definieren manche angloamerikanischen Kritiker nach wie vor die short story vom Umfang her.5 Zweitens neigen einige dazu, zwischen short story und Roman die ›Novelle‹ einzuschieben6 und die short story von der seit einiger Zeit beliebten short short story7 zu unterscheiden. Wie Adrian Hunter im Anschluss an den erwähnten Aufsatz von Friedman argumentiert, ist »shortness« als »a ›positive‹ quality« anzusehen, deren ästhetische Konsequenzen Beachtung verdienen.8 Paul Goetsch, Freiburg i. Br. 3 Martin Scofield, The Cambridge Introduction to the American Short Story (Cambridge 2006). 4 Norman Friedman, »What Makes a Short Story Short?«, Modern Fiction Studies 4 (1958), 103 – 117. Nachgedruckt in Hans Bungert (Hg.), Die amerikanische Short Story: Theorie und Entwicklung (Darmstadt 1972), 280 – 297. 5 Vgl. etwa Christina E. Albers, A Reader’s Guide to the Short Stories of Henry James (New York 1997), bes. xiv-xv. Verbreitet ist andererseits auch die Annahme »Discussions about the length of short stories are fraught with confusion.« So Frank Myszor, The Modern Short Story (Cambridge 2001), 8. 6 Vgl. Albers, a. a. O.; A. Robert Lee (Hg.), The Modern American Novella (London 1989). 7 Vgl. z. B. Reingard M. Nischik, Short Short Stories. Analyses and Additional Material (Paderborn 1985). 8 Adrian Hunter, The Cambridge Introduction to the Short Story in English (Cambridge 2007), 1.
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Astrid Franke, Pursue the Illusion: Problems of Public Poetry in America [European Views of the United States 2], Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2010, 281 S. This monograph responds to the resurging interest in reevaluating the practice and functions of poetry in the United States. Astrid Franke inquires into the relationship between the public and poets / poetry by guiding the reader from the era of the American Revolution to the present. The theoretical underpinnings of her study are taken from American Pragmatism, especially John Dewey. Franke juxtaposes Dewey’s ideas to those of Habermas, Adorno, and – among Americanists – Charles Altieri and Sacvan Bercovitch (see 10 – 23). She argues that, whereas American Pragmatism evolved in the first half of the twentieth century, American poets had been contemplating their relationship to a democratic public since the revolutionary era. As Franke writes in her introduction: »The assumption that poetry may contribute to a better, more democratic public life has been a source of innovation in American poetry, akin to the Romantic desire for individual expression« (6). She points out early on that the frequently problematic linkages between public and poet »occur in the poems as tensions of poetic language and form« (6) and that »the aesthetics and political functions of a text can be« (16) inextricable. Her analytical strategy focuses, first, on how individual poems portray the relationship between poet and public; second, on how these poems negotiate tensions in this relationship as well as issues discussed by the contemporary public; and, third, on the participatory aspect of reading each poem and relating to the »attitude« it conveys (26). To Franke, it is ironic that the tension between poetry as an expression of the subjectivity of individually experiencing the world or as a vehicle for discussing issues debated in contemporary society reveals, among other things, »the weakness of the individual as a social agent in the public sphere« (34). The four central chapters discuss Phillis Wheatley and Philip Freneau; Henry Longfellow and Walt Whitman; Vachel Lindsay, T. S. Eliot, William Carlos Williams, and Muriel Rukeyser; Robert Lowell and Robert Hayden. The chronological order serves the purposes of the study very well, and the groupings of poets create interesting points of departure for discussion. Franke casts Wheatley and Freneau as poets who, despite their reputation as traditionalists, nevertheless explored and expanded boundaries of form and style within generally accepted contemporaneous genres. The analysis of Wheatley’s work beautifully explains the poet’s merging of the religious and the political (see 44 – 49), her ability to convey the desired approach and attitude her readers should have (56), and her lyrical evocation of an audience whose thinking was more advanced than prevalent political notions of the time (62).
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The second chapter amply illustrates how Longfellow and Whitman carefully chiseled »their exemplary personae« (89) in order to »appeal to a moral ideal« which allowed for »Romantic ideas of self-expression« (90). Longfellow’s struggle with poems on slavery and with the then current association between moral instruction and (feminized) sentimentality becomes clear, but Franke’s psychoanalytical reading of Longfellow’s work may spark discussion (see 99 – 101). The dominance of Leo Marx’s comparative study of Longfellow and Whitman (published in 1961) seems puzzling, as does the implication that anything that might be moral or didactic presupposes total disambiguity and simplicity. Despite the predominance of the poet’s subjectivity in Romantic poetry, one may wonder whether eroticism and violence in Longfellow’s poems on slavery must necessarily reveal his subconscious rather than fantasies he projects onto others. Towards the end of the chapter, Longfellow is described as the embodiment of nineteenth-century contradictions (110) and as a »poet who made his life a model of self-control and the regulation of powerful feelings because, in his view, an American public that was more influenced by men in markets than by women in schools was in dire need of a civilizing influence« (119). The subchapter on Whitman relies, in its early subsections, on Leo Marx’s and on D. H. Lawrence’s readings of the poet’s work. Franke’s interpretation of Whitman’s references to a »hounded slave« (125 – 26) raises issues regarding essentialist views on African Americans and on the emotional capabilities of disadvantaged people who are persecuted. Similar to the discussion of Longfellow’s subconscious fascination with violence and eroticism, the argument that Whitman’s poems are »complicit« (130) with contemporary incidents of violence begs the question as to how a poet can write against violence without mentioning or describing it. The remainder of the chapter clearly demonstrates how the Civil War changed Whitman’s poet-persona and how he combines private grief and its public significance. The discussion of swamp imagery as increasingly depoliticized and as a trope for communal mourning is especially pertinent and convincing. In the conclusion of this chapter, the author promotes a progressive literary historical view according to which »[…] Whitman solved Freneau’s dilemma of how to express a passion for democracy. In a Deweyan sense, his poetry proposes that a democratic public allows the individual the greatest fulfillment of his or her potential […], and it captures the ecstasy this may provide« (148). In the third chapter, Franke argues that the study of Lindsay, Eliot, Williams, and Rukeyser, who were confronted with clashing notions of modernist and popular poetry, should be contextualized within theories of the 1920s and 1930s about »a democratic public« (150). Her choice of poets re-
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presents the range from Lindsay’s »radical populis[m]« (153) via »pragmatist poets« Williams and Rukeyser to Eliot as one of the »classical modernists« (153). Overall, this chapter confirms Franke’s central claim that »[w] ell before Dewey formulated his aesthetics in Art as Experience there were practicing pragmatist artists« (153). As Franke focuses on Lindsay’s inability to avoid the aesthetic pitfalls of the popular phenomena he included in his poetry (160 – 61), a comparison to Longfellow’s aesthetic relation to popular sentimental genres may have been instructive here. Rather, the author sees Eliot as continuing part of Longfellow’s and Whitman’s notion that »public art« (165) is meant to »elicit expectation and engagement from the reader« (164). Williams and Rukeyser, then, »did not reject modernist art but attempted to connect a sense of social purpose to experiments with language, form, and performance« (165). The discussion demonstrates convincingly how Williams goes beyond premodernist notions by encouraging readers to consciously gain insights and to achieve »critical distance« (170), rather than being morally instructed by example or moral appeal. (Nevertheless, I cannot see the reading of Williams’s »Sick African« as a poem which uses humor [174] and which thus implies the poet’s blind spot regarding racism.) The best part of this chapter is the discussion of Rukeyser’s work as both modernist and political (181). For instance, Franke demonstrates how poetic form can mirror economic structures and strategies of deception (183). Furthermore, she convincingly argues that lack of clarity in a lyrical text can be used to highlight indistinctness and inconclusiveness as a characteristic of being alive and human (185). The discussion of Lowell and Hayden, whom Franke calls »Spiritual Historians,« addresses the challenge of striving for the kind of reciprocal relationship which the poets in the previous chapter aimed at (192). Is this desire utopian in an era of »numbness« to violence and to the appeal of American ideals (196)? The author concludes that Lowell was strongly concerned with the power struggle between a poet and her / his public and that he remained rather vague and non-committal in ways Hayden did not (210, 219 – 20). Franke’s discussion of Hayden’s »Middle Passage« (221 – 27) is one of the highlights of her monograph. Hayden’s poem indicates his faithbased vision of the possibility of overcoming violence and injustice as well as his extensive knowledge of American (and thus also African American) history and literature (231 – 32). In the fifth chapter, Franke discusses poetry anthologies and websites featuring anti-war poems written in response to 9 / 11 and the Iraq war. Compared to the situation described in previous chapters, questions of power and powerlessness now loom even larger. The minute analysis of Hayden Carruth’s »Petition and Complaint« (239 – 40) serves as a case in
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point for Franke’s claim that attentiveness to the aesthetics of such poems, which at first might seem primarily issue-driven works, is a worthwhile endeavor – especially in a poem which rejects a certain type of political rhetoric while inadvertently employing it. The summary of the monograph begins in the last section of this chapter and should be read in conjunction with the four-paragraph closing chapter entitled »Conclusion.« As this study shows, poets have emphasized the agency of poetry, but they have struggled with the role of aesthetic considerations within this supposedly powerful verbal medium. Furthermore, pragmatist poets existed long before American Pragmatism began to evolve. The extensive discussion in which the author refutes Michael Warner’s argument in his Public and Counterpublics (2002) and argues that Dewey’s conceptualization of the public is more useful because of its political dimension (261) prepares the claim that Dewey’s theory is, despite its age, applicable to a globalized twenty-first-century world. While this point seems well-taken, the length of this discussion somewhat distracts from one of the major points of the monograph: the role of aesthetics, form, and style. On the last page of the conclusion, the author returns to the importance of what she calls »the linguistic design of the texts themselves« (266), again justifying this concern with Dewey and Adorno. Not only does art precede theory, but this monograph amply demonstrates how American Studies practiced in the spirit of cultural studies benefits from sensitivity to minute details in poetry. Considering and debating the predicament of poetry and its significance in and for multiple publics in the United States and beyond its borders strikes me as important and worthy of continued research efforts. Astrid Franke’s monograph contributes to this endeavor. Nassim W. Balestrini, Regensburg Peter Wenzel, Sven Strasen (Hgg.), Discourses of Mobility – Mobility of Discourse. The Conceptualization of Trains, Cars and Planes in 19thand 20th-Century Poetry. Trier: Wissenschaftlicher Verlag, 2010, 224 S. Seit unseren Tagen als Jäger und Sammler haben wir uns bemüht, Dinge und Wesen, die sich bewegen, in Worten auszudrücken – eine Bemühung, die einen guten Teil der Sprachen aller Völker ausmacht. Das Schnelle und Ungreifbare verlangt nach stabileren Beschreibungen, denn in der Sprache müssen wir diese Dinge festhalten. Indem wir sie fixieren, verfälschen wir ihre Realität und verleiben sie unseren Glaubens- und Handlungssystemen ein. Wir eignen sie uns an, unseren Diskursen und Ideologien, unseren Wünschen und Ängsten. In der Neuzeit unterscheidet das sich Bewegende jedoch von den früheren Phänomenen, insofern es menschengemacht ist. Es
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ist Technik, die nicht nur die Beute, sondern auch den Jäger nachahmt und vereinnahmt. In Bezug auf die Technik sind wir Nutzer und Getriebene, wir gebrauchen sie ebenso wie wir sie von außen sehen und fürchten. Daher ist es von besonderem Interesse, wenn wir uns die Deutungen der Dichter, jene Erben der Priester, Schamanen und Propheten, anhören. Die Herausgeber erklären ihre Präferenz für die Lyrik damit, dass diese erstens kurz sei und zweitens eben sehr metapherndicht. Und damit befinden wir uns schon in einer Welt der a-rationalen Zuordnungen und Bildlichkeiten, die die Lyrik aus den älteren Bewusstseinsschichten ererbt hat. Eine solche anthropologische Einordnung dieses Buches scheint mir notwendig zu sein in einer Zeit zunehmender Bedeutung von Neurobiologie und Evolutionspsychologie, die uns beide gleichermaßen auf unser prähistorisches Erbe verweisen, insbesondere wenn es um Technik geht, die ja als zweite Evolution gesehen werden kann. Der Band untersucht anhand von Einzelstudien die diskursive Einschätzung der drei modernen Verkehrsmittel Eisenbahn, Auto und Flugzeug. Das Fahrrad hätte als Objekt einen weiteren interessanten Akzent setzen können, zumal es das Flugzeug vorbereitet hat (die Gebrüder Wright haben zunächst Fahrräder repariert). Jedem Leser werden ohnehin noch Lücken auffallen – wie etwa die berühmten Gedichte von Whitman und Emily Dickinson über die Eisenbahn, die in keiner Anthologie fehlen. Aber es ist auch verständlich, dass man nicht alles wiederholen muss. Immerhin versucht der Band auch über britisch-amerikanische Beispiele hinauszugehen, indem er Justinus Kerner, Gottfried Keller und Filippo T. Marinetti einbezieht. Überhaupt wird auch jemand, der sich schon in das Feld eingelesen hat, neue und unbekannte Texte entdecken. Das Buch ist aus einem Forschungskolloquium an der RWTH Aachen hervorgegangen und stellt eine interessante Kooperation von Lehrenden und Studierenden dar. Ambivalenz des Technischen scheint das Stichwort zu sein, unter dem diese Beiträge gesammelt wurden. Dabei lassen sich Texte unterscheiden, wie Peter Wenzel in seinem Nachwort unterstreicht (214 f.), die das Positive oder Negative akzentuieren. So wird das Neue als gut herausgehoben, indem man es in Muster der klassischen Mythologie und der Bibel einwebt oder es gar kosmologisch aufwertet (die Lokomotiven als Titan oder das Auto als Pegasus). Natürlich steht hier der Nutzen im Vordergrund. Zu den Strategien der Herabsetzung und Kritik gehört ebenfalls ein klassischmythischer Bezug (der stürzende Ikarus etwa), Hinweise auf Unchristliches, Unreligiöses, Tabubrüche oder eine Warnung vor Unfällen. Man kann nun diesen Umgang mit Bildern auch phasenweise als Umwertung eines zunächst bedrohlichen Vehikels in ein Stück Alltag verfolgen. Frühe Texte zur Eisenbahn etwa – wie populäre Balladen der 1840er oder
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Justinus Kerners »Unter dem Himmel« – heben die Gefahr und das Dämonische hervor. In Wordsworths Eisenbahngedichten zeigen sich jedoch Ambivalenzen, während die Bahn in Edward Thomas’ »Adlestrop« von 1917 schon zum Alltag gehört und nur noch im Hintergrund wahrgenommen wird, auch wenn sie weiterhin symbolisierende Kraft hat, sozusagen als Anwesenheit des Globalen im Ländlich-Provinziellen. Ähnlich ist die Entwicklung für das Auto zu sehen (in Texten von Marinetti bis Nemerov), während beim Flugzeug noch weitere symbolische Komponenten hinzukommen. Das Fliegen ist nicht nur die Realisierung eines alten Menschheitstraums, sondern auch mit spiritueller Symbolik verbunden. Zugleich wird es zu einem Werkzeug der Zerstörung im Krieg und zu einem Symbol der Loslösung des Menschen von der Erde. Stärker noch als bei anderen Transportmitteln wird hier die Stellung des Menschen auf der Erde als eine zwischen Bodenlosigkeit und Fortschritt schwankende gekennzeichnet, was sich in einigen der präsentierten Fluggedichte zeigen lässt (Texte von Ogden Nash, Philip Levine, John Updike, Lawrence Ferlinghetti, u. a.). Der Weg vom Mythos zur Technik ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Der Mensch möchte immer wieder seinem Schicksal entkommen, das in den Mythen vorgezeichnet ist. Die Dichter zeigen, wie schwer das ist, vielleicht unmöglich. Elmar Schenkel, Leipzig Günter Leypoldt, Bernd Engler (Hgg.), American Cultural Icons. The Production of Representative Lives. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2010. 501 S. Der Untertitel des vorliegenden Bandes dürfte eine Anspielung auf die von Ralph Waldo Emerson so genannten »representative men« sein, unter denen freilich damals modellhafte Personen bzw. Männer verstanden wurden, die es im Grunde weniger zu analysieren als zu verehren galt. Allein dieser Umstand macht deutlich, welcher zeitliche und auch ideologische Abstand zwischen jener früheren Form essayistischer Vergewisserung über Modelle kultureller Existenz und der aktuellen kulturwissenschaftlichen Forschung besteht. Günter Leypoldt stellt im Einleitungstext heraus, was es mit kulturellen Ikonen auf sich hat. Es handelt sich dabei um eine Art »kulturelle Helden«, die als repräsentative Symbole einer Kultur oder Bewegung gelten können. Entscheidend ist zudem der Aspekt der Sichtbarkeit, denn es geht um die Visualisierung dieser Helden, sodass sie überhaupt erst als Ikonen rezipiert werden können. Manche dieser Figuren könnten, so Leypoldt, im Sinne Foucaults als »Gründer der Diskursivität« verstanden werden (9), auch wenn man das sicher als überzogen bezeichnen kann und eher eine façon de
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parler ist. Im Anschluss an religiöse Bildpraktiken erläutert Leypoldt, dass kulturelle Ikonen eine doppelte Funktion haben. Einerseits sind sie Symbole mit einer soziokulturell bedingten Bedeutung, die zur Schaffung einer gruppenbezogenen Identitätskonstruktion beitragen. Andererseits erfüllen sie gleichsam kultische oder rituelle Funktionen; die Anziehungskraft der Ikonen entziehe sie angeblich einer streng hermeneutischen Betrachtungsweise, sodass auf auratische Begriffe zurückgegriffen werden müsse – wie auch der Ausdruck »consecrated social spaces« nahelegt, aus dem diese Anziehung hervorgehen soll (12). Im Lichte gegenwärtiger Theoriekonzepte spricht die Einleitung von der »social production of charisma« und verknüpft die komplexe Geschichte kultureller Ikonen mit den paradoxen Beziehungen zwischen marktwirtschaftlichem (populären) Erfolg einerseits und kulturellem Reputationsverlust andererseits. Das gleichsam archetypische Schwanken der Reputation lässt sich gut am Beispiel Walter Scotts illustrieren, aber auch an seinem amerikanischen Äquivalent James Fenimore Cooper sowie am ikonischen Bedeutungsverlust eines der großen Literaturstars des 19. Jahrhunderts, Henry Wadsworth Longfellows, der vom »representative poet« zu einer bloßen »minor heritage figure« mit wenig Aussicht auf Rekanonisierung wurde (16). Analog lässt sich das Unbeständige des kulturell Ikonischen auch am Umschlag von kulturellen »Heiligen« oder Erlöserfiguren zu Sündenböcken im Sinne Girards veranschaulichen, was wiederum den Blick auf die den kulturellen Ikonen oftmals innewohnenden Ambivalenzen lenkt. Viele wichtige Figuren der amerikanischen Kultur-, Literatur- und Politikgeschichte sind in dem Band vertreten, der die Beiträge in zwei großen Abschnitten präsentiert. Im ersten Teil kommen literarische und »kulturelle« Ikonen zur Darstellung, wobei ich kulturell hier in Anführungszeichen setze, weil sich diese Bestimmung schlecht als Untergliederungspunkt für einen Band macht, der an sich schon kulturellen Ikonen gewidmet ist. »Kulturell« ist in diesem Band eher im Sinne von »künstlerisch« zu verstehen, da hier Schauspieler, Musiker, Maler und Vertreter der performance arts (in dieser Reihenfolge: James Dean, Madonna, Andy Warhol, Miles Davis) neben den deutlich in der Überzahl vorhandenen Schriftstellern stehen. Zu diesen gehört neben Anne Bradstreet als eine der wenigen weiblichen Ikonen auch William Shakespeare, dessen ambivalenter Ikonen-Status in den Diskursen um eine amerikanische Nationalliteratur im 19. Jahrhundert von Bernd Engler nachgezeichnet wird. Im Letzten erwiesen sich die Revisionsversuche der Ikone Shakespeare, wie sie von Ralph Waldo Emerson oder Jones Very unternommen wurden, als erstaunlich unwirksam, sodass man über die Amerikaner jener Zeit zu Recht mit Engler sagen kann: »they kept re-fashioning the temporarily deconstructed and disfigured Eng-
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lish bard as a demigod in their still vacant American pantheon« (76). Im zweiten Teil des Bandes kommen dann zu den Künstlerfiguren politische Ikonen und Gründergestalten hinzu; am meisten überraschend dürfte hier der lesenswerte Aufsatz über den Nicht-Amerikaner Napoleon als politische Ikone in der Frühzeit der amerikanischen Republik sein (Frank Obenland); sehr erhellend ist aber auch Winfried Flucks faszinierende Analyse des Faszinosums Kennedy, die zu nichts Geringerem als der Einsicht in »a terrible truth of democracy« führt, dass Legitimität nämlich durch Fiktionen geschaffen werden kann (488). Die Ikone Kennedy bietet dafür ein denkbar geeignetes Anschauungsmaterial, denn trotz mancher Enthüllungen sei die Kennedy-Legende intakt geblieben (470; vgl. aber 407). Es kann im Rahmen dieser Besprechung nicht darum gehen, einen vollständigen Überblick über das reichhaltig Gebotene zu geben, geschweige denn die vielen erhellenden Befunde im Einzelnen zu diskutieren. Daher seien hier nur einige behandelte Ikonen beispielhaft hervorgehoben, ohne dass dies ein Unwerturteil gegenüber den anderen Beiträgen des Bandes implizierte. Außerdem soll sehr selektiv auf ein paar methodische Probleme hingewiesen werden, die mit dem Ansatz der Ikonizitätsforschung verbunden sein können (aber nicht müssen). Die Beiträge sind nicht alle in ihrem methodischen Vorgehen über einen Kamm zu scheren, da die spezifische Ikonizität der jeweils untersuchten Figuren unterschiedliche Dimensionen der amerikanischen Kultur oder ihrer kontroversen Darstellung in den Vordergrund rückt – sei es im Falle umstrittener, keineswegs nur Einheit stiftender Ikonen wie Abraham Lincoln, der von Kurt Müller im Hinblick auf seine Rolle in der amerikanischen Zivilreligion analysiert wird, oder auch erstaunlich unumstrittener Ikonen wie Walt Whitman. So verweist etwa Walter Grünzweig im Falle Whitmans darauf, dass es »surprisingly few culture wars over Whitman« gebe (152), was wohl trotz der Appropriierung Whitmans durch die gay culture an der Proteus-Natur Whitmans liege. Denn diese eröffnete von vornherein unterschiedlichste Deutungsoptionen. Die Medialisierung der Ikone Whitman, aber auch z. B. seines Zeitgenossen Frederick Douglass, mittels photographischer Repräsentationen begleitet die höchst aufschlussreichen Kanonisierungsschicksale ihrer Bücher. Am Beispiel von Douglass lässt sich anschaulich nachvollziehen, wie Robert Levine zeigt, auf welchen Wegen die früher auch von Douglass selbst marginalisierte erste Version seiner Autobiographie (Narrative of the Life of Frederick Douglass, An American Slave) zur kanonischen Repräsentation der Sklavenerzählung in allen Standardanthologien wurde, nachdem sie lange in Vergessenheit geraten und erst 1960 wieder aufgelegt worden war. Anders gelagert wiederum ist der Fall Henry David Thoreaus, der von Klaus Benesch in seiner Ikonizität auf einen Ort, eben Walden, bezogen
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wird. Dieser fungiert als eine Art kulturkritischer Sehnsuchtsort der amerikanischen Gegenkultur und wird in immer neuen Varianten imaginiert; die Ikonizität Thoreaus lasse sich so am besten beschreiben als »metaleptic conflation of a man with a place« (114). Benesch liest dann (mit Van Wyck Brooks) sehr überzeugend Joshua Slocums Sailing Alone Around the World als nautisches Äquivalent von Thoreaus Walden, in dem das Schiff im Sinne Foucaults als heterotopischer Raum verstanden werden kann. Henry James dagegen fungiert als Ikone in dem Sinne, dass sie Ausgangspunkt für verschiedene Möglichkeiten ihres »fashioning«, ihrer Ausformung unter den Bedingungen jeweils divergierender Inanspruchnahmen, ist. Das aber erscheint MaryAnn Snyder-Körber als zugleich problematisch, denn um als eine Art »kulturelle Währung« dienen zu können, bedürfe eine Ikone der Stabilität, welche indes durch die große Variabilität der Referenz gefährdet sei (157). Besonders interessant in theoretischer Hinsicht ist ein Punkt, den Jan Stievermann zum Abschluss seines Pocahontas-Beitrages nahelegt, der sich en detail mit dem elegischen Film The New World von Terrence Malick auseinandersetzt und ihn im Kontext der langen Tradition der PocahontasIkonographie deutet. Sein eigenes Unbehagen an den »representational injustices« (312 – 313) des Filmes steht in Spannung zu der Einsicht, dass »criticism that focuses on the historical inaccuracy of artistic Pocahontas depictions take us only so far«; denn eine solche Kritik sage wenig über die kulturelle Funktionalität der Ikone (285). Es stelle sich nämlich die Frage: »Why has Pocahontas always been and still is so important to people, and how has this importance, that is, her symbolic significance been produced over the course of history?« (285 – 286). Eine methodische Schwierigkeit besteht nun aber in Stievermanns theoretischer Orientierung an Baudrillard und Vizenor, wonach auch das Bild des Indianers nur als Simulacrum ohne Referenten in der Wirklichkeit zu verstehen ist, was zusätzlich unterstrichen wird durch die idiosynkratische Schreibung des Ausdrucks indian (klein und kursiv) im Essay. Der unmittelbar folgenden Aussage, »native life must remain an ultimately evasive presence in the discourse of the colonizer« (287), wird man kritisch entgegenhalten müssen, dass dies 1) wenn überhaupt auf alles zutreffen müsste, und 2) unklar bleibt, was mit »discourse of the colonizer« gemeint sein soll. Denn man könnte den Eindruck gewinnen, als sei alles wissenschaftliche Reden als solches schon als kolonisierender Diskurs zu betrachten, was indes wenig überzeugend wäre. Die Vorstellung einer »discursive exploitation« und von victimry, so ein Neologismus Vizenors (290), ist aber insofern unbefriedigend, als sich unter den gewählten theoretischen Vorzeichen nachgerade jede diskursive Appropriation mit wenig Phantasie als ausbeuterisch darstellen lässt. Dennoch bietet
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Stievermanns Analyse viele Beobachtungen und Reflexionen, die anschaulich zeigen, welche Komplexität mit kulturellen Ikonen auf verschiedenen Ebenen verbunden sein kann. Die Auswahl der vorgestellten Ikonen amerikanischer Kultur ist insgesamt gelungen, auch wenn jede / r Leser / in das Fehlen der ein oder anderen Ikone bedauern wird. Warum zum Beispiel fehlt eine für das Bild der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts so prägende Ikone wie Ernest Hemingway? Oder warum wird ausgerechnet Benjamin Franklin, der Gordon Wood zufolge (vgl. 110 – 111) die am meisten ikonische Persönlichkeit der amerikanischen Geschichte ist, nicht in einem eigenen Kapitel gewürdigt, während John Brown sogar in zwei Beiträgen thematisiert wird? Angesichts dessen, was der umfangreiche Band tatsächlich bietet, wird man eine derartige Kritik jedoch hintanstellen müssen. Denn immerhin trägt der Band dazu bei, den Ansatz der »kulturellen Ikonologie« über die hier präsentierten exemplarischen Fälle hinaus zur Geltung zu bringen, was nur begrüßt werden kann. Ergänzend müsste in einem Folgeprojekt allerdings auch die Rolle von kulturellen Ikonen berücksichtigt werden, die nicht auf tatsächlich lebende Personen zurückgehen, sondern bloße Produkte medialer Inszenierungen sind, wie etwa fiktionale Figuren in Literatur, Film, Comic, Musik usw. Der Band erweist sich als umfangreiches Kompendium einer kulturellen Ikonologie Amerikas, das nicht zuletzt für jeden im Bereich der Amerikanistik Lehrenden theoretisch wie praktisch wertvolle Anregungen enthält. Die kulturelle Bedeutung von Bildern im weiteren Sinne für die amerikanische Kultur wird hier in überzeugenden Darstellungen ausgestellt. Die teilweise sehr ausführlichen Kapitel – was hier ausdrücklich positiv hervorgehoben werden soll – erlauben es dem Leser, sich eingehend und vertieft mit einigen Aspekten der gewählten Ikonen zu befassen. Der einzige substantielle Kritikpunkt muss sich daher darauf beziehen, dass der Band keine qualitativ angemessene Bebilderung erfahren hat, sich also nicht so anschaulich präsentiert, wie man es sich wünschen würde. Die gelegentlich abgedruckten Abbildungen sind teils nur von mäßiger Qualität, und viele Beiträge enthalten gar keine Abbildungen, was bei einem Band über Ikonizität und Ikonen kaum nachvollziehbar erscheint. So muss der Nutzer des Buches wohl auf externe Quellen zurückgreifen und parallel zur Lektüre die auch nicht immer befriedigende Online-Bildersuche einsetzen, um sich ein angemessenes Bild von Amerikas kulturellen Ikonen zu machen. Dass der Band ein Personenregister hat, ist begrüßenswert; angesichts der vielen angesprochen Themen hätte sich jedoch auch ein Sachregister empfohlen, das die Nutzbarkeit des Bandes als Hilfsmittel noch erhöht hätte. Da der Band in englischer Sprache verfasst ist, bleibt zu hoffen, dass
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sich auch die in den USA selbst angesiedelten American Studies als Wissenschaft des Eigenen von dem hier mustergültig exemplifizierten »transnationalen Blick« auf die kulturellen Ikonen Amerikas anregen lassen. Till Kinzel, Braunschweig Merle Tönnies (Hg.), Das englische Drama der Gegenwart: Kategorien – Entwicklungen – Modellinterpretationen [WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 13], Trier: Wissenschaftlicher Verlag, 2010. 263 S. Janine Hauthal, Metadrama und Theatralität: Gattungs- und Medienreflexion in zeitgenössischen englischen Theatertexten [CDE Studies 18], Trier: Wissenschaftlicher Verlag, 2009. 378 S. Unterschiedlicher könnten die beiden zu rezensierenden Bücher nicht sein: das erste ist ein Sammelband mit Aufsätzen zum englischen Drama der letzten zwanzig Jahre. Die Beiträge stammen aus der Feder renommierter anglistischer Dramenforscher und bieten einen Überblick über Entwicklungen, Tendenzen und Gattungen des englischen Gegenwartsdramas. Der zweite Band, eine Monographie, basiert auf einer Dissertation, die Metaisierungen im englischen Drama und Theater der Gegenwart untersucht, Dramen als Theatertexte versteht, denen ihre Theatralisierung bereits eingeschrieben ist und die daher ganz bewusst die für die Forschung zum Teil immer noch charakteristische Trennung von dramatischem Text und Theateraufführung zu überwinden trachtet. In der ersten Publikation wird somit das Drama im Wesentlichen als eine Gattung der Literatur analysiert, ohne auf seine theaterspezifischen Präsuppositionen zu achten; die zweite Publikation versteht das Drama vor allem als Theatertext und nähert sich diesem aus einem interdisziplinär konstruierten, kommunikations-, theaterund medienwissenschaftlichen Blickwinkel. Beide Monographien stecken somit das Spektrum ab, in dessen Rahmen Dramen (Theatertexte) bis heute interpretiert werden. Während die erste Herangehensweise mehr oder weniger ignoriert, dass Dramen in den meisten Fällen für die Bühne geschrieben werden, geht die zweite über die Tatsache hinweg, dass Dramen einen wichtigen Teil der Literatur bilden und dass im Akt der Lektüre keineswegs eine ausschließliche Fokussierung auf die eingeschriebene Theatralität des Dramas erfolgen muss. Was auf den ersten Blick als Makel oder Mangel der jeweiligen Vorgehensweise erscheint, stellt sich bei näherem Hinsehen jeweils als die Stärke dieser Vorgehensweisen heraus: Die Ausblendung der auf die Theateraufführung verweisenden Textelemente öffnet den Blick für die allgemein-literarischen Qualitäten dramatischer Texte. Die Fokussierung auf Metaisierungstendenzen im Theatertext unterstreicht dessen theatralische Qualität. Beide Blickwinkel sind richtig und notwendig, es handelt
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sich lediglich um unterschiedliche Herangehensweisen an ein und denselben Gegenstand. Drama ist immer Literatur und Theater zugleich. Spätestens nach einer erfolgreichen Theateraufführung wird ein Theatertext immer auch von den einschlägigen Verlagen (Methuen, Faber & Faber, Nick Herns, etc.) publiziert und einem breiten Lesepublikum zugänglich gemacht, das ihn so zunächst als Literatur rezipiert. Doch gehen wir der Reihe nach vor. Wie die von Merle Tönnies herausgegebene Aufsatzsammlung zeigt, erweist sich das englische Drama der letzten 20 Jahre als außerordentlich vielgestaltig und komplex, sodass sich kaum für längere Zeit dominante und nachhaltige Trends oder Tendenzen nachweisen lassen. Dies ist auch nicht die Absicht des vorliegenden Buches, das nicht auf Kanonbildung abzielt und Zentrum und Peripherie (mainstream und fringe) gegeneinander auszuspielen versucht, sondern das eher eine momentane Bestandsaufnahme des englischen Dramas der Gegenwart in einer Zeit des Umbruchs darstellt, in der sich dramatische Moden und Schreibweisen immer schneller abzuwechseln scheinen. Umso wichtiger erscheint der Versuch, einige Schneisen in dieses schier undurchdringliche Dickicht zu schlagen, und dies gelingt den Beiträgern auf hervorragende Weise. Die einzelnen Kapitel rücken jeweils eine bestimmte Untergattung des englischen Gegenwartsdramas in den Mittelpunkt. Innerhalb der einzelnen Kapitel werden nach einem kurzen historischen Rückblick auf die Vorgeschichte dieser Untergattung sodann anhand eines exemplarischen Autors und eines exemplarischen Stücks formale und inhaltliche Charakteristika dieser Untergattung beschrieben. Ein knappes aber informiertes Verzeichnis weiterführender Literatur bildet den Abschluss. Diese Struktur ist didaktisch-pädagogisch gesehen sinnvoll, insbesondere auch deshalb, weil sich das Buch nicht nur an den Kenner und Spezialisten, sondern auch an den weniger gut informierten Universitätsdozenten, Lehrer oder aber auch die Studierenden wendet, die sich einen Einblick in dieses Gebiet verschaffen wollen. Insgesamt sind 15 Einzelbeiträge versammelt: In-Yer-Face Theatre: Sarah Kane (Anja Müller-Wood), State-of-the-nation-Satire: Alistair Beaton (Bernhard Reitz), Politisches Drama zur Außen- und Weltpolitik [David Edgar – m. Erg.] (Christoph House[!]witschka), Documentary Drama: David Hare (Margarete Rubik), Dystopisches Drama: Caryl Churchill (Peter Paul Schnierer), Geschichtsdrama: Shelagh Stephenson (Mark Berninger), Postmodernes biographisches Drama: Michael Frayn (Stefanie Brusberg-Kirmeier), Psychologisches Drama: Joe Penhall (Julia McIntosh-Schneider und Anette Pankratz), Absurdes Drama: [Harold Pinter – m. Erg.] (Mine Krause), Postdramatisches Theater: Martin Crimp (Eckart Voigts-Virchow), Women’s Drama: Timberlake Wertenbaker (Beate Neumeier), Queer Drama: Mark Ravenhill
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(Anette Pankratz), Black British Drama: Kwame Kwei-Armah (Oliver Lindner), British Asian Drama: Ayub Khan-Din (Christiane Schlote) und Komödie und Farce: Tom Stoppard (Anja Müller). Im Rahmen der vorliegenden Doppelrezension kann nicht auf alle Beiträge im Einzelnen eingegangen werden, daher hier nur folgende weiterführende und kritische Anmerkungen. In Anja Müller-Woods Beitrag zum In-Yer-Face Theatre findet sich gegen Schluss die These, dass die »Abwanderung vieler Dramatiker in die Medien bzw. zum Film […] zu bestätigen [scheint], dass – zumindest für sie – das Theater kein wirklich kongeniales Medium mehr ist – vielleicht auch niemals war« (26). Dem ist entgegenzuhalten, dass viele britische Dramatiker eigentlich von Anbeginn ihrer Karriere an – Harold Pinter ist nur ein berühmtes Beispiel – ihre Karriere doppelt- oder mehrgleisig geplant haben und die Arbeit für mehrere andere Medien eigentlich der Normalfall und nicht die Ausnahme ist. Von »Abwanderung« kann hier nicht die Rede sein, eher davon, dass sie aus finanzieller Notwendigkeit heraus sich auch anderen Medien zugewandt haben. Einen Niedergang des Dramas kann man daraus sicherlich nicht ableiten. Dieser Niedergang des Dramas und Theaters wird auch in einigen anderen Beiträgen – meistens am Rande – thematisiert (warum sollte man auch das Pferd schlechtreden, auf dem man reitet?). Eckart Voigts-Virchow scheint in seinem Beitrag zum postdramatischen Theater geradezu das Totenglöcklein des konventionellen Dramas zu läuten, wenn er sagt: »Unzweifelhaft hat das Regime aristotelisch-mimetisch erzählter Geschichten in den Bildmedien Film und TV dem herkömmlichen Illusionstheater den Garaus gemacht« (160). So ist es nur allzu logisch, wenn die postdramatischen Theaterformen für ihn die Zukunft des Theaters bilden. Die Konsequenz daraus: »Ein Theatertext im postdramatischen Theater ist lediglich ein Auslöser oder ein Material in der Aufführung, nicht etwa ein hierarchisch zu denkender ursprünglicher Gehalt, den es nachzuspielen oder umzusetzen gilt« (160). Voigts-Virchow ist der Einzige in diesem Sammelband, der damit der weiter unten beschriebenen und von Hauthal vertretenen Position nahekommt, der auf die Theatralität des dramatischen Textes abzielt und sich davon Impulse für die britische Theaterszene erhofft. Ob das englische Theater im Niedergang begriffen ist oder ob sich Impulse für eine Erneuerung zeigen, wird in vielen Beiträgen diskutiert. Die Antworten auf diese Frage sind eher zögerlich oder pessimistisch. Einzig Margarete Rubik meint, dass das »Documentary Theatre zur charakteristischsten und innovativsten dramatischen Gattung des letzten Jahrzehnts« (69) geworden ist und dass damit das politische Theater »ein kräftiges Le-
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benszeichen von sich gegeben« (76) habe. Ein kräftiges Lebenszeichen? Dies trifft eigentlich nur auf Neugeborene (was das politische Theater nicht ist) oder aber Totgesagte zu. Auch im dystopischen Drama (Peter Paul Schnierer) können letztlich »keine neuen Perspektiven eröffnet werden« (91). »Bei allem ursprünglich innovativen Potential droht das reflexive Geschichtsdrama […] in eine Sackgasse zu geraten« (Mark Berninger, 107). »Das psychologische Drama […] hat seit Blue / Orange an Prominenz verloren« (Julia McIntosh-Schneider, Anette Pankratz, 138). Wo liegt also der Hoffnungsschimmer? Vielleicht im Drama nach Art Harold Pinters, der sich in Ashes to Ashes auch noch so viele Jahre nach Martin Esslin angeblich über den »metaphysischen Skandal« (Mine Krause, 146 und passim) beschwert, über die »Verlorenheit des Menschen in einer Welt ohne richtungsweisende Instanzen« (153)? Harold Pinter würde sich, wenn er dies lesen könnte, im Grabe herumdrehen – auf seine gute Seite, denn es ging ihm gerade in seiner letzen Schaffensphase eher darum, weltliche »richtungsweisende Instanzen« zu entlarven und zu kritisieren, ohne dabei nach der Metaphysik zu greifen. Hier rächt es sich, dass die Autorin die Pinter-Kritik der siebziger Jahre, die eine Grundlage für ein wesentlich realistischeres Verständnis Harold Pinters gelegt hat, nicht wirklich zur Kenntnis genommen hat. Beate Neumeiers Diktum, dass die Kategorie women’s drama »trotz gegenteiliger Behauptungen keineswegs bereits überflüssig geworden« ist (189), klingt wie das Pfeifen im Walde, und ob die »enthusiastische[n] Stimmen«, die »bereits die lang erwartete Ankunft des schwarzen Künstlers im Mainstream des britischen Kulturlebens ausriefen« (Oliver Lindner, 211) wirklich Recht behalten, wird zu beobachten sein. Dasselbe gilt für das Drama britisch-asiatischer Herkunft. Dass man demgegenüber gerade bei Stoppards Arcadia in Frage stellt, ob »dieser Komödie innovatives Potential innewohnt« (Anja Müller, 260), muss angesichts der von der einschlägigen Kritik ausführlich gewürdigten, herausragenden Qualität dieses Stücks doch einigermaßen verwundern. Es scheint so, als ob die Beiträger Innovativität nicht im Mainstream vermuten, sondern vor allem in der Peripherie – wo sie sie dann aber nicht wirklich finden. Quo vadis, drama Britannica? Janine Hauthals Dissertation ist im Gegensatz zu der als Überblick angelegten, zuvor besprochenen Publikation einem Spezialthema gewidmet: den Metaisierungsstrategien im Drama und im Theater. Beide sind für sie eng aufeinander bezogen: Sie behandelt Dramen nicht als Lese-, sondern als Theatertexte, denen ihre Theatralisierung bereits eingeschrieben ist. Mit dieser Theatralisierung ist ein Medienwechsel vom Text zum Theater verbunden, der in die Analyse unbedingt mit einbezogen werden muss. Unter »Metaisierung« (16) versteht Verf. »medien- und gattungsspezifische Verfahren der Selbstreflexion […] , für deren dramatische bzw. theat-
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ralische Ausprägungen sich die Begriffe ›Metadrama‹ und ›Metatheater‹ etabliert haben» (16 f.). In dieser Metaisierung, die sowohl anti-dramatische als auch anti-theatralische Elemente umfasst, erblickt Verf. das innovative Potential von Drama und Theater der Gegenwart. Die Arbeit setzt sich zum Ziel, ein Beschreibungsmodell zu entwerfen, »das die Gattungs- und Medienreflexion metaisierender Elemente in Bühnenstücken systematisch erfasst und ihre internen Funktionspotenziale skaliert« (22). Neben der Unterscheidung von Theater und Drama, die durchaus bereits Eingang in die Forschung gefunden hat, betont Verf. auch die Tatsache, dass ›Metaisierung‹ nicht immer gleich Illusionsstörung bedeuten muss, eine Einsicht, die nicht sehr weit verbreitet ist. Sie will darüber hinaus zeigen, dass Metadrama nicht einfach nur ›Drama über Drama‹ ist, sondern dass die Metaisierungen »auch auf die Aufführungssituation, den Medienwechsel zum Theater und die Theatertexten inhärente Theatralität Bezug nehmen können. Gleichermaßen können Spezifika des theatralen Mediums zu Gegenständen der Metaisierung werden« (26). Folglich grenzt Verf. auch (auf das Drama als Text bezogene) metadramatische und (auf das Theater als Aufführung bezogene) metatheatrale Schreibweisen voneinander ab. Auch die Medialität des dramatischen Theatertextes (Schrift, Drucktechnik) wird dabei als Element der Metaisierung mit in die Untersuchung einbezogen. Die Arbeit weist eine klare Strukturierung auf: nach einer kurzen und prägnanten Einleitung I (11 – 29) kommt zunächst ein ausführlicher theoretischer Teil II (31 – 174), in dem unter Anknüpfung an die bisher vorliegende Forschung das oben erwähnte Beschreibungsmodell entworfen wird. Im darauf folgenden Teil III (175 – 330) wendet Verf. ihr Modell auf insgesamt 6 Dramen- und Theatertexte an: Peter Nichols, A Piece of My Mind (1987), Michael Redhill, Goodness (2005), Martin Crimp, Attempts on Her Life (1997), Sarah Kane, Crave (1998), Alan Ayckbourn, Intimate Exchanges (1982 – 83) und Sarah Kane, 4.48 Psychosis (2000) bilden ihre Beispiele. Ein prägnanter Schlussteil IV (331 – 347) und eine ausführliche Bibliografie V (349 – 374) runden die Arbeit ab. Um es vorwegzunehmen: die Monographie besticht durch die Intellektualität und Differenziertheit ihrer Gedankenführung, die Präzision ihrer Formulierungen und die Schärfe des Verstandes, der dahintersteht. In ihrer Auseinandersetzung mit der bisherigen Forschung ist sie state of the art, und wer sich in Zukunft noch mit Metaisierung im Theater und im Drama beschäftigen will, muss auf Janine Hauthals Schultern klettern. Die Arbeit entwirft ein theoretisch fundiertes, gattungs- und medienspezifisches Modell der Metaisierung, mit dessen Hilfe das innovative Funktionspotenzial (post)moderner Schreibweisen und Aufführungstechniken im Drama und Theater angemessen erfasst werden kann. Sie zeigt, das ›anti-dramatische‹
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und ›anti-theatralische‹ Schreibweisen nicht gegen das Drama und Theater gerichtet sind, sondern zu seiner Erneuerung in der Gegenwart beitragen. In diesem Sinne gibt die Arbeit auch eine Antwort auf die in der zuvor besprochenen Monographie oft gestellte (doch nur selten hinreichend beantwortete) Frage, worin die Innovativität des englischen Dramas der Gegenwart zu erblicken ist. Ewald Mengel, Wien Susanne Bach (Hg.), Gewalt, Geschlecht, Fiktion: Gewaltdiskurse und Gender-Problematik in zeitgenössischen englischsprachigen Romanen, Dramen und Filmen. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2010. 248 S. Bei diesem Band handelt es sich um eine vielseitige Sammlung von Beiträgen zum Thema Gewaltdiskurse und Genderproblematik in zeitgenössischen englischsprachigen Romanen, Dramen und Filmen. Dabei liegt der gemeinsame Anspruch der neun Beiträge nicht primär in einer umfassenden Darstellung von Thematisierungen der komplexen Phänomene Gewalt und Geschlecht als narrative Kernelemente, sondern im Ausleuchten von Formen und Funktionen geschlechtsspezifischer Gewalt, in neuen Perspektivierungen tradierter Muster und möglichen gegenseitigen Impulsen zwischen Genderdebatte und Gewaltforschung. In diesem diskursiven Spannungsfeld erstrecken sich die literarischen, filmischen und performativen Gegenstände einzelner Betrachtungen von den 1980er Jahren bis in die Gegenwart und repräsentieren mit einer Auswahl der englischen, irischen, schottischen, US-amerikanischen, kanadischen und namibischen Literatur den englischsprachigen Kulturraum. Aus einer solchen Bandbreite kann eine potentiell problematische Offenheit hervorgehen, der die Herausgeberin von Beginn an bewusst entgegenzuwirken sucht: »So wenig wie ich einerseits eine Buchbindersynthese im Sinn hatte, so wenig wollte ich andererseits die BeiträgerInnen in ein vorgegebenes Korsett zwängen«. (4) Die Gratwanderung zwischen zu breiter thematischer Offenheit einerseits und beschränkenden Vorgaben andererseits meistert Susanne Bach, indem sie alle Beiträgerinnen und Beiträger zum individuellen Dialog mit einem keynote essay einlädt. So ist Martin Dornbergs vorangestellter Aufsatz Geschlecht und Gewalt: Einige Anmerkungen aus philosophischer und psychologischer Sicht als argumentativer Bezugspunkt des Bandes zu verstehen. Dornberg fasst den gegenwärtigen Stand der Forschung zu Gewaltdiskursen und Genderproblematik präzise zusammen und erstellt ein breitgefächertes Angebot aus theoretischen und methodischen Ansätzen sowie Betrachtungsaspekten des Themenkomplexes für die Analyse literarischer und performativer Phä-
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nomene. Die besondere Leistung seines Grundlagenaufsatzes liegt in der Verknüpfung psychologischer und philosophischer Ansätze, wie der Gegenüberstellung der Anatomie menschlicher Destruktivität von Erich Fromm mit wesentlichen Aspekten der feministisch orientierten Philosophien Simone de Beauvoirs, Luce Irigarays und Judith Butlers zur gesellschaftlichen Konstruktion von Identitäten, Körpern und Psychen. Darüber hinaus wendet er Gilles Deleuzes und Felix Guattaris Modelle für Verstehen von Denken und Praxis auf die Problemfelder Gewalt und Geschlecht an, um daraus analytische Kriterien für die Deutung geschlechtsspezifischen Gewaltverhaltens im Zusammenhang mit Gewalterfahrung, Traumatisierung und Gewaltausübung abzuleiten. Die folgenden Einzelbeiträge sind jedoch nicht ausschließlich durch direkte und indirekte Rückbezüge auf Dornbergs Essay miteinander verbunden, sondern können zudem in übergreifende thematische Tendenzen eingeordnet werden. Ein wiederkehrendes Motiv ist dabei das Lesen weiblicher Gewaltausübung als Infragestellung der tradierten Dichotomie weiblicher Opfer und männlicher Täter. Mit der Ambivalenz einer Umkehrung der Täter- / Opferrollen setzen sich Dorothee Birke und Stella Butter im Extremfall der Serienkillerin auseinander. Den Bruch mit Weiblichkeitsidealen durch drastische Gewaltanwendung sehen sie durch Strategien des ›Othering‹ abgeschwächt. Shattering the blood-spattered glass-ceiling (81) als emanzipatorischer Akt bleibt der Serienkillerin in ihrer Abnormität verwehrt, denn sie repräsentiert nicht ihr Geschlecht, sondern verkörpert eine entweiblichte Monstrosität. Anja Müller-Wood befasst sich mit einer ähnlich mörderischen Figur: Dr. Barbara Rafferty verwandelt in J. G. Ballards Rushing to Paradise die utopische Inselgesellschaft in eine gewalttätige, frauendominierte Dystopie. Müller-Wood erkennt in Rafferty ein Vexierbild weiblicher Stereotype und darin eine satirische Überspitzung femininer Klischees. Durch solche Strategien der Überhöhung sieht auch MüllerWood das subversive Potential der Frauenfigur abgeschwächt. Frauenfiguren als Täter und mitverantwortliche Opfer in gewaltbasierten Machtsystemen macht Susanne Bach zum Thema ihres bemerkenswerten Beitrags, in dem sie drei Romane Margaret Atwoods auf die Darstellung weiblicher Gewalt untersucht. Hierfür rekurriert Bach auf theoretische Ansätze in Dornbergs Essay und wesentliche feministische Grundüberzeugungen. So erfährt die einst beschworene ›sisterhood of women‹ in Atwoods vielschichtigem Netzwerk aus manipulierenden Tätern und kooperierenden Opfern eine komplexe Neuinterpretation. Bach erweitert den Gedanken der Umschichtung patriarchalisch konnotierter Machtverhältnisse durch ihre weibliche Besetzung um einen besonderen Aspekt: zwischen dem gesellschaftlich Sagbaren und Unhinterfragten treffen Atwoods Texte auf
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semantische Leerstellen. So müssen ungebräuchliche Begriffe wie ›sororize‹ als semantisches Gegenstück zu ›fraternize‹ neu geschrieben werden. Mit Neuschreibungen anderer Art setzt sich Lars Heiler in seiner überzeugenden Analyse der beiden Othello-Adaptionen Desdemona: A Play About a Handkerchief von Paula Vogel und Good Night Desdemona (Good Morning Juliet) von Ann-Marie MacDonald auseinander. Die bereits bei Shakespeare als gewaltdurchdrungen angelegten Geschlechterverhältnisse sieht Heiler in beiden Stücken aus feministischen Perspektiven kritisch reflektiert und komisch untergraben. Hierbei legt Vogel in der rollenspielhaften Interaktion zwischen den Frauen des Dramas ihren Schwerpunkt auf Imitation und Umkehrung der weiblich / männlichen Figurenkonzeption, während MacDonald mit der fantasierten Rettung Desdemonas durch ihre Protagonistin die Tragödie subversiv unterläuft. Bezogen auf Inszenierungen von Geschlechtlichkeit leitet Heiler hieraus eine Dynamisierung tradierter Geschlechterrollen ab, deren alternative Modellierungen von Vogel und MacDonald ausgestellt werden. Während Remodellierungen von Geschlecht im Kontext der Gewalt bisher auf der Rollenebene verhandelt wurden, scheint ein Verwischen sozialer und biologischer Geschlechtsnormierungen in Folkert Degenrings herausstechenden Studienobjekten zu gelingen: Menschen, humanoide Außerirdische und künstliche Intelligenzen spielen in Ian M. Banks Culture- und Charles Stross’ Laundry-Reihen mit konventionellen Zuschreibungen. In Banks Consider Phlebas wird durch biotechnologische Verfahren geschlechtliche Fluidität erreicht, während Stross’ ebenso gewalttätige wie künstlich erzeugte femme fatale Ramona Random naturalistisch-deterministische Zusammenhänge zwischen Geschlecht und Gewalt ins Leere laufen lässt. Degenring liest dies als Kommentar auf Produktionsmechanismen von sex und gender, dem subversives Potential im Sinne Judith Butlers innewohnt. In einem irdischeren Kontext befassen sich drei weitere Beiträge mit individueller und kultureller Traumatisierung, indem sie den gekoppelten Geschlechts- und Gewaltdiskurs auf inter- /nationale Dimensionen ausweiten. Anhand ausgewählter britischer und irischer Kriegsdramen diagnostiziert Paul Goetsch in schockierenden Gewaltdarstellungen ein besonderes Interesse am Verhältnis zwischen Opfern und Tätern, das sich vorwiegend in Interaktionen traumatisierter Charaktere ausdrückt und die Schrecken des Krieges in individualisierter, sexualisierter Gewalt widerspiegelt. Eine besondere Form der Traumatisierung sticht heraus: In Harold Pinters Ashes to Ashes erkennt Goetsch in fiktionalen Kriegserinnerungen der Protagonistin generationenübergreifende Identifizierungsprozesse mit traumatischen Gewalterfahrungen. Ähnliche Identifizierungsprozesse erfasst Sarah Heinz in Bearbeitungen des ›Cathleen ni Houlihan‹-Mythos bei W. B. Yeats und
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Martin McDonagh, in denen das nationale Konzept Irland als personifizierte Mutterfigur traumatische Gewalterfahrungen an ihre ›Töchter‹ und ›Söhne‹ weitergibt. Einleuchtend schließt Heinz aus dem sadistischen und manipulativen Auftreten der ›Mother Eire‹ in The Beauty Queen of Leenane auf eine Unterwanderung des traditionellen weiblichen Mythos und zugleich eine Dekonstruktion der idealisierten Nationalidentität. Die postkoloniale Perspektive auf Geschlechterdebatte und Gewaltdiskurse wird von Bruno Arich-Gerz um Namibia erweitert. Für seine Analyse englischsprachiger Literatur aus der Zeit nach Namibias Erlangung der Unabhängigkeit verbindet Arich-Gerz theoretische Ansätze aus Dornbergs Essay mit postkolonialen Theorien, insbesondere mit Gayatri Chakravorty Spivaks Aufsatz Can the Subaltern Speak?. Das Herausschneiden einer Zunge bei Brinks sowie das Artikulieren durch eine Mittlerfigur bei Diescho deutet er als symbolträchtige Bezüge auf Spivaks theoretisches Konzept. Die korrespondierende Gleichsetzung geschlechtlicher und kolonialer Repression und die damit einhergehende sprachliche Ohnmacht der Unterdrückten erinnert an die ›semantischen Leerstellen‹ in Susanne Bachs Beitrag. In diesem Fall wird strategisches Schweigen in Andreas’ The Purple Violet of Oshaantu zu einer Waffe gegen das verbale Vakuum. Elegant abgerundet wird der Band durch Gabriele Rippls Beitrag zu A. L. Kennedys Ästhetik der Gewalt, in dessen Rahmen sie Kennedys Funktionsmodell von Literatur auf zwei ihrer Romane anwendet. Rippls auf diese Texte bezogene Schlüsse wirken wie allgemeingültige Antworten auf die von Herausgeberin Bach aufgeworfene Frage: »Wo weiß Literatur vielleicht mehr oder anderes als die Wissenschaften?« (2) Die von Kennedy gewünschte affektive Intensität und der inszenierende Charakter von Literatur fordern die Vorstellungskraft des Lesers, der im Ausloten von Ursache und Wirkung drastischer Gewalt verdrängte Traumata therapeutisch nacherleben kann. Demnach vermag Literatur, Gewaltphänomene in all ihren Dimensionen – auch den zwischengeschlechtlichen – emotional zugänglich zu beschreiben und kathartisch nachvollziehbar zu machen. Fragen nach Art und Wirkung solcher Beschreibungen, Zuschreibungen und Neuschreibungen von Geschlecht und Gewalt in der zeitgenössischen englischsprachigen Literatur sowie die Erörterung möglicher Antworten stellen Susanne Bach und die beitragenden Autoren in diesem beeindruckenden Sammelband zur Disposition. Dabei bleibt der Band klare Antworten auf aufgeworfene Fragen schuldig. Im Spannungsfeld der Genderund Gewaltdebatte und dem damit einhergehenden argumentativen Verhandlungsspielraum für diverse Positionen können sich dem Leser eigene Antworten auf die Kernfragen des Bandes aus der Gesamtheit seiner Beiträge erschließen.
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In der Fülle und Diversität dieser Beiträge liegt allerdings auch die Problematik des Bandes. Mit einer Konzentration auf ausgewählte Aspekte der Thematik hätten diese eventuell noch eingehender und ausführlicher beleuchtet werden können. Dennoch ergänzen und bereichern sich die vielseitigen Ansätze und Arbeitsfelder der Autoren unter stetigem Rückbezug auf Dornbergs theoretisches Grundlagenangebot in einer umfassenden und ausgewogenen Sammlung. So ist das gemeinsame Vorhaben, eine sowohl facettenreiche als auch stringente Diskussion zum Themenkomplex »Gewalt und Geschlecht in der englischsprachigen Literatur der Gegenwart« zu erstellen, mit diesem Sammelband eindrucksvoll gelungen. Damit kann der fundierte und unterhaltsame Band inspirierende Anstöße für breitere Diskurse um Geschlechterrollen und Gewaltausübung in Kunst und Literatur bieten. Juliane Groh, Leipzig Michael Basseler, Kulturelle Erinnerung und Trauma im zeitgenössischen afroamerikanischen Roman. Theoretische Grundlegung, Ausprägungsformen, Entwicklungstendenzen. Trier: Wissenschaftlicher Verlag, 2008. 260 S. Themen wie ›Erinnerung‹ und ›Trauma‹ haben zurzeit nicht nur was die afroamerikanische Literatur und Kultur betrifft Konjunktur. Der Autor des vorliegenden Buches spricht zu Recht von einem regelrechten ›memoryBoom‹, den er allenthalben beobachtet. Die Begriffe freilich, die im Umlauf sind, zeichnen sich durch wenig Trennschärfe aus, beklagt Basseler. Je modischer ein Begriff, desto inflationärer und unschärfer sein Gebrauch: diese Gesetzmäßigkeit scheint sich wie schon im Fall des wenig präzisen Postmoderne-Begriffs auch hier einmal mehr zu bestätigen. Begriffliche Klarheit zu schaffen, ist das Anliegen Basselers. Dabei kann er besonders auf die Vorarbeiten des Gießener Graduiertenzentrums Kulturwissenschaften (Ansgar Nünning, Astrid Erll) mit dem Sonderforschungsbereich Erinnerungskulturen zurückgreifen, dem das Buch seine Genese verdankt. Ziel der Arbeit, so Basseler, ist es, »die Formen und Funktionen der Inszenierung erinnerungskultureller Themen und Probleme im zeitgenössischen afroamerikanischen Roman systematisch zu erfassen« (13). Die Studie gliedert sich folgerichtig in zwei Teile. Im ersten, um Begriffsschärfe bemühten theoretischen Teil wird zunächst der Grundriss einer Theorie afroamerikanischer Erinnerungskulturen entworfen, ehe auf die Formen und Funktionen der Inszenierung von Erinnerung und Trauma näher eingegangen wird. Dass der zweite, romananalytische Teil weitaus kürzer ausfällt, erklärt sich aus dem Bemühen des Autors, immer erst eine theoretische Grundlage zu schaffen, auf deren Basis dann die Analyse erfolgen kann.
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›Kulturelle Erinnerung‹ heißt der Leitbegriff der Studie, der dem des ›kulturellen Gedächtnisses‹ vorgezogen wird. Erinnerung soll im Gegensatz zum eher archivierenden Speichergedächtnis den Vorgang der Inszenierung, Aktualisierung und Dynamisierung des Erinnerns betonen. Erinnerung wäre demnach auch der dem Erzählen angemessene Begriff, geht es doch im Erzählakt immer auch um einen dynamischen Vorgang. Auch den Plural zieht Basseler dem Singular vor und spricht deshalb von ›Erinnerungskulturen‹, um deutlich zu machen, dass es unterschiedliche, durchaus miteinander konkurrierende Formen der Erinnerungsaktualisierung gibt. Am Beispiel der klassischen afroamerikanischen lieux de mémoire wie etwa middle passage, underground railroad, great migration, lynching, Harlem oder dem Süden, denen mitnichten eine eindeutige Bedeutung zuzuschreiben ist, wird diese Erinnerungskonkurrenz der Mnemotope verdeutlicht. Was der einen Erinnerungsgruppe als Schrecken erscheinen mag, begreift eine andere vielleicht durchaus als Chance. Der neben der Erinnerung für die Studie wichtigste Begriff ist der des Traumas, der in der afroamerikanischen Erinnerungskultur eine besondere Rolle spielt, zählt doch neben der Shoah die nordamerikanische Variante der Sklaverei mit ihren »Sixty Million and more« (Toni Morrison) »zweifellos zu den anerkannten Kollektivtraumata der Neuzeit«. (67) Mit dem Tod des letzten Überlebenden der peculiar institution hat sich das Trauma von einer individuellen auf eine kollektive Ebene verschoben. Trauma wird deshalb in der Studie »vorwiegend als erinnerungskulturelles, nicht als individualpsychologisches Phänomen begriffen« (69). Im Gegensatz zum individuellen Trauma, das sich einer sowohl sprachlichen wie anderweitigen Verarbeitung weitgehend entzieht, wird das kollektive Trauma als eines begriffen, das von einer Gruppe konsensuell als solches erst nachträglich konstituiert und anerkannt wird. »Ein kulturelles Trauma«, so der Autor, »wird erst retrospektiv von seinen sozialen Folgen her definiert« (70) und entzieht sich im Gegensatz zum individuellen Trauma somit nicht einer Versprachlichung. Im Gegenteil: es verlangt geradezu nach einer sprachlichen Darstellung. Während die Opfergeneration noch versuchte, die traumatische Erfahrung abzustreifen, »besteht die Aufgabe der nachfolgenden Generationen vor allem darin, eben diese in das Selbstbild zu integrieren« (75). Die Frage, in welcher Form und mit welchen Funktionen Erinnerung und Trauma in afroamerikanischen Erzähltexten inszeniert werden, wird zunächst auf einer eher allgemeinen Ebene erörtert. Da das Gedächtnis eines Textes seine Intertextualität ist, wie Renate Lachmann betont, kommt der Intertextualität besonders in deren afroamerikanischer Ausprägung des signifying besondere Aufmerksamkeit zu, wie sie von Henry Louis Gates in
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The Signifying Monkey entwickelt wurde. Texte genügen sich danach niemals nur selbst, nehmen vielfältig aufeinander Bezug, sprechen mit mehr als nur einer Stimme, greifen auf kulturell bereits verfügbare Inhalte und Formen zurück, greifen in sie ein und interpretieren und aktualisieren sie in neuen Kontexten jeweils neu. Solche Inhalte und Formen entstammen nicht zwangsläufig nur der eigenen schwarzen Erinnerungskultur, auch Texte der hegemonialen Kultur können in diese polyphone Mehrstimmigkeit eines Textes Eingang finden. Intertextualität, betont Basseler, muss weit mehr umfassen als rein innerliterarische Bezüge, soll es sich um einen erinnerungskulturell tauglichen Begriff handeln. Jazz und Blues etwa sind solche Träger, in denen sich erinnerungskulturelle Prozesse objektivieren. In den sorrow songs der Sklaven lagern sich die »siftings of centuries« ab (W. E. B. Du Bois), werden Erinnerungen weiter tradiert und dies nicht nur auf inhaltlicher, sondern auch auf formalästhetischer Ebene. Improvisatorische Aspekte beim Erzählen, ein stark rhythmisiertes black vernacular, das folk tale, die allesamt dem Oralen stärker verpflichtet sind als dem Skripturalen, gehören zu den formalästhetischen Besonderheiten afroamerikanischen Erzählens. Als die Erinnerungsgattung schlechthin bezeichnet Basseler das neo-slave narrative, in welchem der Umgang mit Erinnerung und Trauma in den verschiedensten Ausprägungen inszeniert werden kann. Basseler sieht in diesem in der zeitgenössischen afroamerikanischen Literatur so populären Narrativ das heutige Bedürfnis nach erinnerungskultureller Verarbeitung ausgedrückt. In Form von Fiktion lässt sich Trauma imaginativ aufarbeiten, eine Aufarbeitung, die auf realer, d. h. individueller Ebene immer wieder scheitern muss. Die amorphe Präsenz eines schweren psychischen Traumas, wie die Sklaverei eines ist, kann erst in der Fiktion Gestalt (morphé) annehmen. Erst in der Repräsentation ist an eine Verarbeitung zu denken. Der Theorieteil schließt mit einer Reflexion über die Funktionspotentiale von Erzählungen. Werkimmanente Aspekte des Erzählens, so wichtig sie sein mögen, bedürfen einer Weiterung in den gesellschaftlich-kulturellen Raum hinein. Mit Winfried Fluck vertritt Basseler die Meinung, dass die Annahme einer Funktion »der Punkt [sei], von dem aus es überhaupt erst möglich wird, sinnvoll über einen fiktionalen Text zu sprechen« (124). Erzählungen verstehen sich immer auch als social agents und die Funktionen sind alles andere als homogen. Im Gegenteil: sie sind so heterogen wie die literarischen Werke selbst. Mal sind sie gedächtnisbildend, mal remedial bzw. therapeutisch, mal didaktisch, mal metareflexiv, identitätsstiftend bzw. identitätsrevisionistisch. An ausgewählten Romanen von Toni Morrison, Charles Johnson, Edward P. Jones, Colson Whitehead und Paul Beatty vermag die Studie zu zeigen, wie vielfältig das Spektrum erinnerungskultureller Inszenierungen
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ist. Die Romane der fünf Autoren sieht Basseler nicht mehr dem black aesthetic der 1960er Jahre mit dessen Betonung eines selbstbewussten, affirmativen black nationalism verpflichtet, sondern sie sind für ihn Ausprägungsformen einer new black aesthetic (Trey Ellis) – heute auch vielfach als postsoul aesthetic (M. A. Neal) bezeichnet – die den gegenwärtigen ›postethnischen‹ Bedürfnissen Rechnung tragen. Die afroamerikanische Literatur der beiden letzten Jahrzehnte rückt, wie Basseler betont, immer mehr von einer bloßen Aneignung und Rekonstruktion der eigenen Geschichte ab, die nach einer Jahrhunderte währenden Marginalisierung durch die Hegemonialgeschichte in den 1960er und 1970er Jahren durchaus angezeigt schien, und wendet sich verstärkt dekonstruktiven Erinnerungsverfahren zu, die nicht mehr als affirmativ sondern als reflexiv zu bezeichnen sind. Der Fokus in der afroamerikanischen Literatur hat sich für Basseler »in den letzten Jahren von einem historical rewriting zu einem memorial rewriting hin verschoben« (45). In den Romanen wird das Erinnerte nicht einfach nur konstatiert, sondern der Vorgang des Erinnerns wird narrativ inszeniert. Basseler beobachtet diese Inszenierung in nahezu allen Romanen, die er untersucht. Aus mehreren, oft konkurrierenden »Ausblickspunkten« (Maurice Halbwachs) bieten sie ein differenziertes Perspektivenangebot, das den Leser über die oft disparaten Positionen reflektieren lässt. Starre und feste Zuschreibungen lassen sich durch solche Erzählverfahren auflösen, wie Toni Morrison dies sowohl in Beloved als auch in Jazz deutlich macht. Selbst vor der Sklaverei als identitätsstiftendem Ereignis par excellence in der afroamerikanischen Geschichte macht die Dekonstruktion nicht halt, wie Edward P. Jones’ The Known World eindrucksvoll zeigt. Auch unter Afroamerikanern gab es Sklavenhalter, ein Faktum, das die einst eindeutigen moralischen Schuldzuschreibungen verwischt. Respektlos, teilweise provokativ wird mit schwarzen Kulturikonen wie W. E. B. Du Bois oder Ralph Ellison in Paul Beattys The White Boy Shuffle umgegangen. Nicht anders ergeht es der vom black nationalism besetzten Figur eines John Henry in Colson Whiteheads John Henry Days, dessen mythischer Status regelrecht unterminiert wird. Besonders mit Jones, Beatty und Whitehead werden dem deutschen Leser drei noch wenig bekannte afroamerikanische Autoren vorgestellt, mit denen zu beschäftigen sich lohnt. Die »Formen und Funktionen der Inszenierung erinnerungskultureller Themen und Probleme im zeitgenössischen afroamerikanischen Roman systematisch zu erfassen« (13), war als Ziel der Studie ausgegeben worden. Das Ziel hat Basseler eindrucksvoll erreicht, auch wenn besonders im ersten Teil der Studie eine gewisse Systematikverliebtheit zu beobachten ist, die Dissertationen nicht selten auszeichnet. Basseler konnte hier auf die im Gießener Forscherkreis entwickelte, hoch differenzierte Begriffsvielfalt zurückgreifen, die den uneingeweihten Leser gelegentlich überfordern
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könnte. Das Mini-Schlusskapitel (212 – 17), in dem es um »weitere Tendenzen der Thematisierung, Inszenierung und Problematisierung von kultureller Erinnerung und Trauma« gehen soll, mutet eher wie ein Postskriptum an, das außer einigen weiteren Autorennamen kaum über das ohnehin schon Bekannte hinausweist. Diese Einwände ändern jedoch an dem substanziellen Wert der Studie wenig. Es ist ein auf hohem theoretischem Niveau argumentierendes, anregendes Buch, das Einblicke in den tiefgreifenden Wandel der afroamerikanischen Erinnerungskulturen der letzten Jahrzehnte gibt. Joseph C. Schöpp, Hamburg Dietmar Schloss (Hg.), Civilizing America: Manners and Civility in American Literature and Culture [American Studies – A Monograph Series 178], Heidelberg: Winter, 2009. 354 S. Compared to many other conference proceedings, the twenty-one essays in this collection show an impressive degree of thematic coherence. In his programmatic introduction, the editor Dietmar Schloss provides an informative and concise historical survey on the role of the key concepts ›manners‹ and ›civility‹ and, moreover, introduces the major critical approaches that have tried to identify the function of manners and civility in the cultural development of Western civilization, and more specifically, in the cultural development of the United States. Starting with such early analyses of the American democratic system as Tocqueville’s On Democracy, the substitution of inherited privilege and the external display of status for merit and internal value were considered the hallmark of American democracy. Schloss refers to Huckleberry Finn’s aversion to being ›sivilized‹ as a manifestation of what liberal critics since WW II have taken to be expressive of the ›typically‹ American preference for nature over culture. The identification of America as ›nature’s nation‹ emerged in the early decades of the nineteenth century. However, from the beginning, there have been literary authors – Schloss mentions Cooper, Hawthorne, and Henry James – who were convinced of the social need for imposing control on otherwise uncontrollable forces such as passion, greed, irrationality, and desire. In contrast, postmodern constructivist theory in recent decades has in Schloss’s opinion focused almost exclusively on the oppressive aspect of manners. He thus suggests a re-evaluation of the strand in American culture that did not condemn ›manners‹ but critically reflected on their function in a democratic society. For Schloss, such a shift in critical focus could lead to a new cultural sociology of America and the United States – a cultural sociology that would overcome the exceptionalist thrust of the prevalent American Studies approaches and view the United States as one civilization among others. This approach would also try to revise the idea […] that all social ›constructions‹ must be
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considered in terms of infringement and coercion. […] While the new civilization studies must not be insensitive to questions of power, hierarchy, and class, it might gain something by heeding the older theories and by considering the civilizing impulse as part of the human self. (xxxi)
In order to trace the history of manners and civility, the collection is ordered chronologically, starting with »European Antecedents« (contributions by Manfred Hinz on Italian Renaissance writers Castiglione and Gracían and by Vera Nünning on the role of gender in the conceptualisation of civilization in 18th century Britain) before moving on to the four core chapters on 1) the colonial period and Early Republic, (2) the early, (3) the late nineteenth century and (4) the period after 1900. The inclusion of ›European Antecedents‹ is by itself an expression of the desire to break with what Schloss calls the ›exceptionalist thrust‹ in American Studies, yet these essays are only somewhat loosely connected to the topic under discussion – American literature and culture. Due to the collection’s claim to establish a new ›critical paradigm‹, I will start with the essays that explicitly engage in a discussion of the programmatic statements as they are laid out in Schloss’s introduction. Several essays raise the question whether ›manners‹ and ›civility‹ are actually suitable as categories by which American cultural history can be captured in its entirety. Heinz Ickstadt’s essay on »Manners and Contemporary American Fiction« explicitly addresses the issue whether ›manners‹ are relevant only at a particular historical stage of cultural development or whether the concept can be extended from a narrow reference to »the social codes of a dominant middle-class culture […] to its particular set of values and patterns of behaviour« (cf. Ickstadt, 334) to a »wider and more general anthropological meaning, referring to the various ways in which individuals or groups behave socially« (Ickstadt, 326). The issue of definition intersects with the issue of function: Do manners predominantly have a gate-keeping function and thus always perpetuate the status quo or can they also enable social change? Simple as these questions may sound, there is no easy answer to them. Ickstadt indicates as much when he articulates his hesitation to discuss ethnic writers such as Zora Neale Hurston, Toni Morrison or Leslie Marmon Silko »in the continuity of the novel of manners« (334). I would suggest that each single case needs to be dealt with individually – Hurston’s ethnographic writing, for example, can be related very profitably to the tradition. The extension, however, is problematic as some of the contributions to the collection show. Jerome Klinkowitz’s »The Manners of Jazz in Ishmael Reed’s Fiction« (299 – 309) and Dorothea Fischer-Hornung’s »Leslie Marmon Silko’s Gardens in the Dunes« (310 – 326) – though fascinating case studies of individual texts – are based on such a broad understanding
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of the term ›manners‹ that the concept loses its potential as a critical tool of cultural analysis. While these essays seem to affirm the suspicion articulated by more than one contributor, namely that the concept has lost its relevance in the 20th century, Heinz Ickstadt himself shows otherwise. In an impressive diachronic overview, he starts with the assumption that the concept of ›manners‹ is no longer valid in the postmodern era only to invert his own thesis in the following. Ickstadt constructs a tradition that ranges from realist writers Henry James and Edith Wharton to contemporary authors such as William Gaddis, John DeLillo, Jonathan Frantzen, Richard Powers, and David Foster Wallace – all of the latter »alienated white [male] writers« who take up the novel of manners tradition as a »response […] to the ethnic novel of identity« (350). An equally substantial and theoretically inspiring contribution is Winfried Fluck’s essay »›Every man therefore behaves after his own fashion‹: American Manners and Modernity« (277 – 298). Fluck shares Schloss’s conviction that ›manners‹ should »be considered a key concept for studying American cultural history« (277), yet suggests ›modernity‹ – rather than democratisation – as the framework by which to explore the complexity of the issues involved. From such a perspective, ›manners‹, so Fluck, can be viewed as »a cultural device for the creation of consent. More specifically, such a perspective suggests that we consider manners as manifestation of a cultural practice to which critical theories of modernity refer in order to explain consent, namely the ideal and practice of self-regulation« (281). From this theoretical basis, Fluck then traces the treatment of manners through literary history, starting with Toqueville’s Democracy in America which gives expression to an »ethics of authenticity« (285) whereas literary genres such as the novel of manners or the domestic or sentimental novels foreground new ›codes of subjection‹: in the case of Cooper’s historical novels it is a ›code of masculinity‹ for which Native Americans provide the model; in the case of the sentimental and domestic novels the domestic sphere becomes the site for a female self-empowerment through voluntary subjection. The latter emplotment is also predominant in the realist phase, where self-control becomes the main objective. Starting with Freud and American naturalist writers such as Frank Norris and Theodore Dreiser, the Victorian ideal of self-control starts to be questioned. Fluck’s historical survey resonates with many essays who present case studies of individual authors or texts (specifically those on the nineteenth century). The most fruitful dialogue exists with Kurt Müller’s essay on »Manners and Civility in American Naturalism« (253 – 273). Contrary to what might be expected, ›manners‹ and codes of civility are of the utmost importance in American naturalist novels. On the basis of the author’s so-
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cial and cultural background, Müller distinguishes between the critical and ironic representation of manners in middle-class authors such as Stephen Crane and Frank Norris on the one and the foregrounding of the performative quality of manners in Jack London and Theodore Dreiser on the other hand. Susan Winnett’s »›A thin, transparent veil‹: Manners and NineteenthCentury American Novel« (205 – 214), Bettina Friedl’s »The Code of Dress and the American Novel of Manners« (215 – 227), as well as Sergio Perosa’s »Manners and Morals: Henry James and Others« (229 – 242) all explore the relation between manners and morals, thus being representative of realism’s negotiation of the competing claims for subjection of the self on the one and self-empowerment on the other hand. Henry James (Winnett, Perosa) and James and William Dean Howells (Friedl) are presented as authors whose texts express a view of manners that is far more complex than the ›typical‹ liberal position – manners are an instrument of oppression – suggests. Using manners as a form of individual self-expression and foregrounding the performative aspect of manners, both authors present ›manners‹ as a conventional code meant to affirm the social status quo. The novels, however, focus on individual actions which challenge, change, and therefore adapt exiting codes to new circumstances. While the contributors to the section on the late nineteenth and twentieth century all feel the need to justify the use of the concepts ›manners‹ and ›civility‹ as meaningful categories, the contributors on »The Colonial period and the Early Republic« as well as on the early nineteenth century see less need to reflect their use of the concept. Since Norbert Elias’s seminal study The Civilizing Process, manners have been considered instrumental »in the modernization and rationalization of Western society« (xv). The majority of essays in these sections are thus central to the conference topic. Jay Fliegelman’s »American Dramas of Self-Control« (43 – 54) identifies ›manners‹ with acts of self-control. In a broad sweeping manner, Fliegelman sketches the development of manners in America from Mary Rowlandson’s captivity narrative to Frederick Douglass’s slave narrative. Compared to most other essays in the section, Fliegelman relies on the broader anthropological concept of manners rather than on what Ickstadt calls the »›local‹ project of the English and / or American bourgeoisie« (327). Martina B. Puruker in »Colonial Encounters: Food and Civility in Early America« (55 – 69) and Dieter Schulz in »John Cotton and the Puritan Origins of American Civility« (71 – 83) revise the traditional view of the Puritan suspicion towards manners as purely external form. While Puruker’s analysis of early British responses to Native foodways focuses less on manners than on the representation of the Natives, Dieter Schulz provides an original re-reading of the controversy between Puritan authorities, such as John Cotton on the one and critics of Puritan orthodoxy such as Roger Williams and Ann Hutchin-
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son on the other hand. To him, the controversy is over civility rather than over religious issues. That the achievement of self-control and the transcendence of egotism which the Puritans aspire to should be identical with manners and civility and that »the seeds of civility lay in orthodox New England Puritanism itself«, as Schulz claims, remains open to debate. In any case, Schulz’s essay is a good example for Schloss’s claim that putting manners at the center of critical inquiry will open new and provocative insights into American cultural history. In contrast to the colonial period when American authors, as Schloss suggests, »continued to hold on to European concepts of civilization as the only valid ones«, authors in the late eighteenth and early nineteenth century »saw the possibility that the United States might develop in a different direction from the societies in Europe« (xxiv). In his contribution, David S. Shields, author of Civil Tongues and Polite Letters in British America, focuses on the ways in which politeness has always been a contested code of behavior. During the nineteenth century, so Shields, the retreat from society becomes a cultural ideal in America and thus renders manners obsolete. Will Verhoeven’s contribution on Charles Brockden Brown – although not explicitly concerned with manners – can be read as a case study on Shields’s thesis of manners as a contested code. Verhoeven accounts for Brown’s relative unpopularity as a writer by diagnosing a tension between the author’s declared commitment to an enlightenment discourse of virtue and his novels’ representation of the irrational forces that Enlightenment authors see in need of control. Jörg Thomas Richter on John Neal as well as John McWilliams and Thomas Clark on James Fenimore Cooper shed more light on how manners were used by literary authors to distinguish American democracy from European monarchies. Jörg Richter convincingly presents John Neal as an author who radically performs ›democratic manners‹ by representing the cultural and linguistic heterogeneity of Americans. McWilliams and Clark in equally well argued pieces focus on the one American author who looked upon manners as absolutely crucial for the »well-being of a republic« (Clark 155) which in his view was not based on the equality of its citizens but on a hierarchy that was no longer the result of inherited privilege but of the »natural inequality of virtue and talent« (Clark 158). Both McWilliams and Clark highlight the complexity of the debate on manners in the early decades of the nineteenth century. McWilliams presents Cooper’s ambivalent response to Frances Trollope’s polemical denigration of American manners; Thomas Clark positions Cooper in the political context of republicanism. The American public, according to Clark, perceived Cooper as anti-democratic and anti-American, thus ignoring that the author had attempted a »differentiated republican critique […] of both the failings and virtues of American society« (Clark 169).
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Among the excellent essays in this section, Herwig Friedl’s »Emerson on Manners« (173 – 184) marks a particular highlight. Friedl polemically responds to Schloss’s suggestion of using manners and civility as central categories in American Studies by declaring that »Emerson’s post-metaphysical mode of thinking does not allow or make room for the concept of the category any longer« (173). In a manner characteristic of Emerson himself, Friedl then goes on to reverse his argument (cf. 183). He shows that »Emerson’s philosophy of manners […] is a philosophy of power« (174), thus relativizing Schloss’s assessment that contemporary theory might have put too much emphasis on the coercive aspect of manners. Friedl’s brilliant explication of some of Emerson’s central concepts – besides manners these are power, character, behaviour, conduct and fashion – seems to suggest that Emerson’s position on manners marks the beginning of the end of what Ickstadt calls the »›local project of the English and / or American bourgeoisie« (327). The section on the early nineteenth century is concluded by Christopher Mulvey’s »Digging the Erie and Spreading Gentility: The Development of Public Manners in the Ante-Bellum North« (185 – 202). In a volume predominantly concerned with literary texts, this essay is the only one which adopts a cultural studies approach. Tracing the impact that the building of the Erie Canal had on American culture, Mulvey comes to the conclusion that American manners had been forged in New York state by the so-called ›Yankee-Yorkers‹ who in the 1820s moved to New York state from New England. The building of the Erie Canal had far-ranging consequences as it led to the creation of the »single greatest market in the United States« (188) and consequently to »the standardizing of behaviors« which, surprisingly, manifested itself in the field of religion. What Mulvey observes is what Ann Douglas calls the ›feminization of American culture‹ (a point also made in Friedl’s essay), namely the internalisation of moral strictures: »The extension of the notion of manners to the person in solitude is significant of a shift in attitudes« (195). The section on »The Search for American Manners in the Early Nineteenth Century« in a nutshell highlights the theoretical issues involved in Schloss’s project. From very different angles, the essays in this section suggest that the early decades of the nineteenth century mark a turning-point in the history of manners. To have highlighted both the problems and the rewards of putting ›manners‹ and ›civility‹ as central categories of cultural history is the achievement of this volume. While many of the essays openly express doubts as to the viability of the project, the high quality and the rich results presented in the individual essays show that the editor’s project deserves further exploration. Jutta Zimmermann, Kiel
NAMEN- UND WERKREGISTER Von Ulrich Barton und Daniela Czink (Die Zahlen verweisen auf die Seiten, kursive Zahlen auf die Hauptstellen. Das Register wählt aus.)
Abaelard 139 Adorno, Theodor W. 456, 459, 477 Aesop 207 Agamben, Giorgio 219, 419 Aischylos 237, 240 Alanus ab Insulis 418, 425 Alta 389 Aristophanes 233 Aristoteles 352, 421, 424 – Nikomachische Ethik 190, 352 Ashbery, John 393 – 394 Atwood, Margaret 389, 493 Bacon, Francis 383 Ball, Hugo 471– 473 Ballard, James Graham 493 Banks, Ian M. 494 Barker, George 397 Baudelaire, Charles 386, 437 Beard, Thomas 259 Beatty, Paul 498 – 499 Benjamin, Walter 411, 416 Benn, Gottfried 375 Bernhard von Clairvaux 127, 131, 137 Berryman, John 449 – 454 Bhatti, Suyatta 388 Boethius 90, 214, 418 Bölsche, Wilhelm 371– 372 Bonaventura 80 – 81 Botticelli, Sandro 210 – 211 Böttiger, Karl August 297, 466 Brentano, Clemens 225 Bronk, William 387
Brown, Charles Brockden 504 Byron, George Gordon Lord 220, 437 Catull 233 Cervantes 438 – Don Quijote 435 – 440 Chrétien de Troyes 97 – 117, 119 – 128, 132, 134, 136, 138, 142 – 145, 147, 149, 161, 173 – Le Conte du Graal 145 – Erec et Enide 97 – 104, 106, 119 – 128, 132, 134, 138, 142 – 145 – Yvain 114, 136, 147, 149, 161, 173 Cicero 421, 423, 426, 463 Coignée de Bourron, Hélie 440 – 441 Coleridge, Samuel Taylor 386 Conrad, Joseph 444 – 445 Cooper, James Fenimore 483, 500, 502, 504 Dante Alighieri 233, 417– 418, 420 – 421 Darwin, Charles 220 – 221 Davie, Donald 385 Davison, Peter 389 Day Lewis, Cecil 388 Defoe, Daniel 252, 267, 269 Dehmel, Richard 355, 358 – 359, 367 – 379 – Erlösungen 367 – 369, 373, 375, 377 – Lebensblätter 368 Dewey, John 477 – 478, 480 Dickens, Charles 220 – 221, 277, 438 – 439
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Namen- und Werkregister
Donne, John 214 – 215, 219 Durrell, Lawrence 385 – 386 Eliot, T. S. 401, 477 – 479 Emerson, Ralph Waldo 482 – 483, 505 Eulenspiegel-Volksbuch 177 – 178, 183 – 187, 192 – 206 Euripides 295, 386 Feinstein, Elaine 394 Folz, Hans 178, 416 Freneau, Philip 477 – 478 Freud, Sigmund 219, 357, 502 Fuller, Roy 390 Gascoigne, George 427, 429 Gascoyne, David 390 – 391 George, Stefan 471 – 474 Gerson, Jean 80 – 81 Glanvill, Joseph 264 – 267 Gluck, Christoph Willibald 333 – 334, 336 Goethe, Johann Wolfgang von 281 – 282, 291, 293, 295, 360 – 361, 365, 471 – Faust 365 Goodman, Paul 398 Guibert von Nogent 131 Hardy, Thomas 216, 221, 442, 467 Hartmann von Aue 99, 104, 119 – 145, 147 – 174 – Erec 99, 104 – 113, 119 – 145, 155, 173 – Gregorius 134 – Iwein 109, 114 – 116, 126, 135 – 137, 147 – 174 – Die Klage 109 Hawthorne, Nathaniel 272 – 276, 278 – 280, 500 Hayden, Robert 477, 479 Heinrich von Veldeke 107 – 108 – Eneasroman 106 – 108 Herbert, George 228, 243, 245 Herbort von Fritzlar 107 Herder, Johann Gottfried 226, 235 Hermann von Scheda 413 Hiob 207
Hobbes, Thomas 208, 221, 433 Hollander, John 388 Homer 381 Hope, A. D. 392 Horaz 89 – 90, 98, 233, 352 Huber, Ludwig Ferdinand 297 Humphries, Rolfe 394 Irving, Washington 269 Jakob von Vitry 133 James, Henry 485, 500, 502 – 503 Johnson, Charles 498 – 499 Jones, Edward P. 498 – 499 Jonson, Ben 208 Justice, Donald 395 – 396 Juvenal 82 Kaufringer, Heinrich 188 Keble, John 224 – 225, 227 – 245 Kennedy, Alison Louise 495 Kerner, Justinus 481 – 482 Kertész, Imre 459 Kleist, Ewald von 287 Kleist, Heinrich von 297 – 300, 301 – 327 – Brief eines Dichters an einen anderen 301, 303, 308 – Das Erdbeben in Chili 325 – 326 – Die Familie Schroffenstein 297 – Die Heilige Cäcilie 301 – 327 – Die Hermannsschlacht 307 – Michael Kohlhaas 304 – 305 – Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden 303, 319 – Die Verlobung in St. Domingo 305, 307 Kosmas Indicopleustes 9 – 77 – Topographia Christiana 9 – 77 Kotzebue, August von 281 – 300 Kunitz, Stanley 389 – 390 Layton, Irving 393 Leibniz, Gottfried Wilhelm 243 Lessing, Gotthold Ephraim 358, 364, 446 Levertov, Denise 385 Levezow, Konrad 289 – 290, 295, 297
Namen- und Werkregister Lindsay, Vachel 477– 479 Longfellow, Henry 477– 479, 483 Lowell, Robert 477, 479 Lukrez 233 Lydgate, John 256 Lyly, John 427, 429 – 430 MacDonald, Ann-Marie 494 Macrobius 102 – 104 Malick, Terrence 485 Mallarmé, Stéphane 403 – 409 Marie de France 98 Marston, John 208 Mather, Cotton 247 – 269 McDonagh, Martin 495 Melville, Herman 443 Merrill, James 394 Merton, Thomas 387 Miller, Arthur 457 Milton, John 209, 383 Molière 287 Monteverdi, Claudio 336 – 337 More, Thomas 427 – 429, 431– 435 Moritz, Karl Philipp 471 Morrison, Toni 497– 499, 501 Odericus Vitalis 134 – 135 Offenbach, Jacques 329 – 354 Orwell, George 433 Ovid 87, 215, 219, 335 – 336, 387, 400 Petrus Alfonsi 413 Pinter, Harold 489 – 490, 494 Platon 216, 271, 352, 387, 433 Poe, Edgar Allan 272, 276 – 280 – The Murders in the Rue Morgue 475 – The System of Dr. Tarr and Prof. Fether 272 – 273, 276 – 280 Prudentius 89 – 90 Quintilian 421 – 426 Raabe, Wilhelm 441, 443 Racine 295 Rehberg, August Wilhelm 297 Rexroth, Kenneth 397 – 398
509
Rich, Adrienne 389 Richardson, Henry Handel / Ethel Florence Lindesay 468 – 469 Rilke, Rainer Maria 378, 384, 392 – 393 Roman d’Eneas 108 Rosenroman 417, 419 – 420 Rukeyser, Muriel 384, 477 – 479 Schadow, Johann Gottfried 290 – 295, 297 Schiller, Friedrich 206, 471 – 472 Schlegel, August Wilhelm 282, 291 – 295, 300 Schlegel, Friedrich 225, 282, 466 Schopenhauer, Arthur 366 Scott, Walter 225 – 226 Shakespeare, William 207 – 221, 383, 438, 483, 494 – Hamlet 209, 212 – 213, 220, 268 – King Lear 210 – 212, 217 – Macbeth 209 – 210, 216, 220, 438 – A Midsummer Night’s Dream 219 – 220, 293 – Othello 216 – 219, 494 – Romeo and Juliet 213 – 214, 216 – The Taming of the Shrew 209 – The Tempest 220 Sitwell, Edith 385 Smith, Ian Crichton 395 Snodgrass, W. D. 388 Spee, Friedrich 223 – 246 Staël, Madame de 297 Stein, Gertrude 446 – 449 Stephan von Rouen 82, 86 Stevenson, Robert Louis 220 Stross, Charles 494 Süßkint von Trimberg 416 Swift, Jonathan 220 – 221 Tennyson, Alfred 212 Theokrit 233, 243 Thomas von Aquin 181 – 182, 418 – 419 Thomas, D. M. 393 Thoreau, Henry David 484 – 485 Trithemius, Johannes 79 Trumbull, John 272 – 276, 278 – 280
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Namen- und Werkregister
Twain, Mark 272, 279 – 280, 475 – The Adventures of Huckleberry Finn 271, 279 – 280, 500 Vaughan, Henry 244 – 245 Vergil 235 – 236, 240, 243, 335, 387, 400 Verlaine, Paul 369, 436 Vogel, Paula 494 Voltaire 287 Wells, H. G. 220 Wheatley, Phillis 477 Whitehead, Colson 498 – 499 Whitman, Walt 477 – 479, 484 Whittier, John Greenleaf 273, 278 – 280 Wieland, Christoph Martin 282, 361, 369, 471
Wiesel, Elie 457– 458 Wilbrandt, Adolf 355, 358 – 367 – Adam und Söhne 363 – 364 – Am heiligen Damm 361 – 262 – Die Brüder 359 – 361 – Er und Ich. Ein Gespräch 362 – Der Meister von Palmyra 358, 364 – 366 Williams, William Carlos 477 – 479 Winters, Yvor 390 Wolfram von Eschenbach – Parzival 127 Wordsworth, William 226 – 227, 234, 244, 383, 482 Wright, Judith 391 Yeats, William Butler 451, 494
Vorschau auf die folgenden Jahrgänge Aufsätze: M. Baisch, Theorie der Philologie. — D. Knop, De la dissimulation du malus uir à la dissimulation du bonus uir. L’Esther de Pierre Matthieu relue par Quintilien. — V. Cabanes, W. Müller, Zwei Dokumente aus der frühen Flaneurtradition. Edition und Kommentar. — G. Blaicher, Vorstellungen vom rechten Lesen im Viktorianischen Zeitalter. — J. Zanger, Slade: Mark Twain’s Conondrum. — A. Ohme, Der rätselhafte Holden Caulfield. Die Erzählstrategie in Salingers The Catcher in the Rye und ihre Konsequenzen für das Textverständnis. — Chr. Bartscherer, Der streitbare Christ: Heinrich Bölls unbotmäßige Katholizität. — K. Groß, Trickster Revisited: The Not so Unhumorous Indian. — C. Rosenthal, Essen in kulturellen Kontaktzonen.
Rezensionen: Chr. Baier, Zwischen höllischem Feuer und doppeltem Segen. Geniekonzepte in Thomas Manns Romanen Lotte in Weimar, Joseph und seine Brüder und Doktor Faustus (R. Wimmer). — M. V. Richter, Creating the National Mosaic: Multiculturalism in Canadian Children’s Literature from 1950 to 1994 (M. Buchholtz). — G. Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 10 (V. Kapp).