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German Pages 561 [562] Year 2010
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUE FOLGE, BEGRÜNDET VON HERMANN KUNISCH
IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON VOLKER KAPP, KURT MÜLLER, KLAUS RIDDER, RUPRECHT WIMMER, JUTTA ZIMMERMANN
EINUNDFÜNFZIGSTER BAND
2010
asdfghjk D U N C K E R & H U M B L O T · B E R L I N
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH Neue Folge, begründet von Hermann Kunisch
IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. VOLKER KAPP, PROF. DR. KURT MÜLLER, PROF. DR. KLAUS RIDDER, PROF. DR. RUPRECHT WIMMER, PROF. DR. JUTTA ZIMMERMANN
EINUNDFÜNFZIGSTER BAND
2010 Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch wird im Auftrage der Görres-Gesellschaft herausgegeben von Prof. Dr. Klaus Ridder, Deutsches Seminar, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Wilhelmstr. 50, 72074 Tübingen (Altgermanistik, federführend), Prof. Dr. Volker Kapp, Klausdorfer Str. 77, 24161 Altenholz (Romanistik), Prof. Dr. Kurt Müller, Institut für Anglistik / Amerikanistik, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Abbe-Platz 8, 07743 Jena (Anglistik / Amerikanistik), Prof. Dr. Dr. h.c. Ruprecht Wimmer, Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät, Katholische Universität Eichstätt, 85071 Eichstätt (Neugermanistik), Prof. Dr. Jutta Zimmermann, Englisches Seminar, Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel, Olshausenstr. 40, 24098 Kiel (Rezensionen). Redaktionsanschrift: Prof. Dr. Klaus Ridder, Deutsches Seminar, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Wilhelmstr. 50, 72074 Tübingen. Redaktion Aufsatzteil: Ulrich Barton. Redaktion Rezensionsteil: Prof. Dr. Jutta Zimmermann, Englisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Olshausenstr. 40, 24098 Kiel. Merkblatt für die typographische Gestaltung: http://www.uni-tuebingen.de/LehrstuhlRidder/LiWi-Jb.htm Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch erscheint als Jahresband jeweils im Umfang von etwa 20 Bogen. Beiträge sind in Dateiform auf Diskette und als Ausdruck an die zuständigen Herausgeber zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es wird dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig, entsprechend den im Merkblatt (s. o.) angeführten typographischen Richtlinien einzureichen. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausführung des Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Redaktion (Rezensionsteil) erbeten. Eine Gewähr für die Rezension oder Rücksendung unverlangt eingesandter Besprechungsexemplare kann nicht übernommen werden. Verlag: Duncker & Humblot GmbH, Carl-Heinrich-Becker-Weg 9, 12165 Berlin.
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH EINUNDFÜNFZIGSTER BAND
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUE FOLGE, BEGRÜNDET VON HERMANN KUNISCH
IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN VON VOLKER KAPP, KURT MÜLLER, KLAUS RIDDER, RUPRECHT WIMMER, JUTTA ZIMMERMANN
EINUNDFÜNFZIGSTER BAND
2010
asdfghjk D U N C K E R & H U M B L O T · B E R L I N
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0075-997X ISBN 978-3-428-13345-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Inhalt AUFSÄTZE Earl Jeffrey Richards (Wuppertal), Païen unt tort e crestïens unt dreit: Feindbilder im altfranzösischen Rolandslied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Matthias Däumer (Gießen), Der Held an der Klippe. Sinnesregie an den Bruchstellen des höfischen Romans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Caroline Emmelius (Göttingen), Kasus und Novelle. Beobachtungen zur Genese des Decameron (mit einem generischen Vorschlag zur mhd. Märendichtung) . . . . .
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Klaus Wolf (Augsburg), . . . denn sie sind selber auferstanden . . . : Tendenzen und Desiderate der mediävistischen deutschen Dramenforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Norbert Greiner (Hamburg), Hamlets Bücherwelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sophie Conte (Reims), Quelques réflexions sur les genres aristotéliciens dans les rhétoriques sacrées du XVIe siècle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 René Sternke (Berlin), Die Verliebte Jägerin – Die Repräsentation des barocken Bühnenwerks als Repräsentation eines zu konstruierenden Subjekts. Eine vergleichende Studie über die Verwendung des semantischen Codes des amour passion im französischen katholischen und mitteldeutschen protestantischen Kontext . . . . 125 Gabriela Wacker (Tübingen), ›Wollust im Wohlthun‹ und ›rosiges Eheglück‹. Alternative Liebeskonzeptionen zu Araspes’ enthusiastischem Liebesschwindel in C. M. Wielands Araspes und Panthea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Dietmar Kunisch (Iffeldorf), Glück, Entfremdung, Wahnsinn. Über die Brüder Eichendorff und das autobiographische Novellenfragment Das Wiedersehen . . . . . . . 173 Bernd Engler (Tübingen), Subverting the Ideologies of War in American Civil War Narratives: Ambrose Bierce’s Chickamauga and One of the Missing . . . . . . . . . . . . 199 Alberto Destro (Bologna), Rilke und das Italienische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Paul Goetsch (Freiburg), Literarische Reaktionen auf die Röntgenstrahlung. Von Wells und Conrad zu Strindberg, Mann und Woolf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Wolfgang G. Müller (Jena), »I am acting in the interests of justice«. Recht und Gerechtigkeit in den Detektivromanen von Agatha Christie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Gerd Hurm (Trier), Paradise on Speed. Discourses of Authenticity and Acceleration in Jack Kerouac’s On the Road . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Oliver Scheiding (Mainz), Inszenierung einer afroamerikanischen Gedächtnispoetik am Beispiel der Lyrik Rita Doves . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Meinhard Winkgens (Mannheim), Hybride Identitäten – Hybride Kulturen . . . . . . . .
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Inhalt
Nassim W. Balestrini (Regensburg), Lawson Fusao Inada’s Poetic Practice in His Drawing the Line (1997) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Béatrice Jakobs (Kiel), Continuité ou rupture? La forme littéraire du récit de conversion à travers les siècles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Gottfried Gabriel (Konstanz), Logische Präzision und ästhetische Prägnanz . . . . . . .
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KLEINER BEITRAG Frank J. Kearful (Bonn), Completing Elizabeth Bishop’s Poetry . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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BUCHBESPRECHUNGEN Norbert Kössinger, Otfrids ›Evangelienbuch‹ in der frühen Neuzeit. Studien zu den Anfängen der deutschen Philologie (von Matthias Kirchhoff) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Acta Sanctae Luciae, hg. Tino Licht (von Ernst Hellgardt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ingrid Kasten, Erika Fischer-Lichte (Hgg.), Transformationen des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel (von Martin Przybilski) . . . . . . . . . . . 408 Jan-Dirk Müller, Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik (von Hans Rudolf Velten) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Sebastian Coxon, Laughter and Narrative in the Later Middle Ages. German Comic Tales 1350 – 1525 (von Matthias Kirchhoff) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 Rainer Zaiser, Inszenierte Poetik. Metatextualität als Selbstreflexion von Dichtung in der italienischen Literatur der frühen Neuzeit (von Gisela Seitschek) . . . . . . . . . . 425 Björn Quiring, Shakespeares Fluch. Die Aporien ritueller Exklusion im Königsdrama der englischen Renaissance (von Elisabeth Winkler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 Jean Ehret, Art de Dieu Art des hommes. L’esthétique théologique face au pluriel de beau et au singulier de l’art (von Michaela Christine Hastetter) . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 Fabrice Preyat, Le Petit Concile de Bossuet et la christianisation des mœurs et des pratiques littéraires sous Louis XIV (von Dorothea Scholl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 Jean Balsamo (Hg.), Les traductions de l’italien en français au XVIe siècle (von Franz Obermeier) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 Daniel Casper von Lohenstein, Sämtliche Werke. Abteilung II, Dramen. Band 2: Agrippina. Epicharis (von Pierre Béhar) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 Rita Unfer Lukoschik (Hg.), Italienerinnen und Italiener am Hofe Friedrich II. (1740 – 1786) (von Italo Michele Battafarano) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Rita Unfer Lukoschik (Hg.), Der Salon als kommunikations- und transfergenerierender Kulturraum. Il salotto come spazio culturale generatore di processi communicativi di interscambio (von Volker Kapp) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450
Inhalt
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Dennis Hannemann, Klassische Antike und amerikanische Identitätskonstruktion: Untersuchungen zu Festreden der Revolutionszeit und der frühen Republik (von Jörg Thomas Richter) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Mathias Mayer, Natur und Reflexion. Studien zu Goethes Lyrik (von Gabriela Wacker) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Nikolas Immer, Der inszenierte Held. Schillers dramenpoetische Anthropologie (von Thorsten Valk) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Francis Claudon, André Encrevé, Laurence Richer (Hgg.), L’Historiographie Romantique. Actes du colloque organisé à Créteil les 7 et 8 décembre 2006 par les équipes de recherche de l’Université de Paris 12-Val-de-Marne (von Annika Krüger) . . . . . . 464 Christoph Bode, Selbst-Begründungen. Diskursive Konstruktion von Identität in der britischen Romantik I: Subjektive Identität (von Norbert Lennartz) . . . . . . . . . . . . 467 Sandra Heinen, Literarische Inszenierung von Autorschaft: Geschlechtsspezifische Autorschaftsmodelle in der englischen Romantik (von Ines Detmers) . . . . . . . . . . . . 471 René Sternke, Böttiger und der archäologische Diskurs (von Brigitte Leuschner) . . . .
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Angela Barwig, Thomas Stauder (Hgg.), Intellettuali italiani del secondo Novecento (von Susanne Winter) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 Conrad in Germany, ed. and introd. Walter Göbel, Hans Ulrich Seeber, Martin Windisch (von Jürgen Meyer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478 Paul Newland, The Cultural Construction of London’s East End. Urban Iconography, Modernity and the Spatialisation of Englishness (von Paul Goetsch) . . . . . . . . . 482 Gísli Magnússon, Dichtung als Erfahrungsmetaphysik. Esoterische und okkultistische Modernität bei R. M. Rilke (von Gabriela Wacker) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 Àngels Santa (Hg.), De Nizan à Sartre. Philosophie et narration (von Annika Krüger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 Gerd Hurm, Ann Marie Fallon (Hgg.), Rebels without a Cause? Renegotiating the American 1950s (von Hubertus Zander) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 Ann Spangenberg, Kommunikative Identität im Roman der Angelsächsischen Postmoderne: John Fowles, Peter Ackroyd, A. S. Byatt (von Ulrike Zimmermann) . . . . 499 Tra storia e immaginazione: gli scrittori ebrei di lingua italiana si raccontano, a cura di Hanna Serkowska (von Monica Biasiolo) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. Gert Ueding (von Volker Kapp) . . . . . . . .
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Brian Vickers, Sabine Köllmann, Mächtige Worte – Antike Rhetorik und europäische Literatur (von Béatrice Jakobs) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 Béatrice Jakobs, Volker Kapp (Hgg.), Seelengespräche (von Jean Ehret) . . . . . . . . . . . .
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Heimo Reinitzer, Gesetz und Evangelium. Über ein reformatorisches Bildthema, seine Tradition, Funktion und Wirkungsgeschichte (von Volker Kapp) . . . . . . . . . . . . . 520 Paul Goetsch, Machtphantasien in englischsprachigen Faust-Dichtungen: Funktionsgeschichtliche Studien (von Wolfgang G. Müller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523
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Inhalt
Bernhard H. F. Taureck, Don Quijote als gelebte Metapher (von Wolfgang G. Müller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 526 L’Éloge lyrique, sous la direction d’Alain Génetiot (von Mireille Brangé) . . . . . . . . . . .
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Travaux de Littérature 20 (2008): La Spiritualité des écrivains. Volume réalisé sous la direction scientifique d’Olivier Millet – Travaux de Littérature 21 (2009): La littérature française au croisement des cultures. Colloque des 5 – 8 mars 2008 à l’Université Paris-Sorbonne. Actes réunis par Madeleine Bertaud (von Volker Kapp) . . . 537 Wibke Reger, The Black Body of Literature: Colorism in American Fiction (von Jutta Zimmermann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 540 Marion Gymnich, Metasprachliche Reflexionen und sprachliche Gestaltungsmittel im englischsprachigen postkolonialen und interkulturellen Roman (von Ines Detmers) 544 Hilary P. Dannenberg, Coincidence and Counterfactuality: Plotting Time and Space in Narrative Fiction (von Andrea Gutenberg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 Christoph Strosetzki (Hg.), Übersetzung. Ursprung und Zukunft der Philologie? (von Isabel Müller) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551 Namen- und Werkregister (von Ulrich Barton und Thorsten Glotzmann) . . . . . . . . . .
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Païen unt tort e crestïens unt dreit: Feindbilder im altfranzösischen Rolandslied Von Earl Jeffrey Richards*
Das altfranzösische Rolandslied wird traditionell entweder als das wahre französische Nationalepos oder als das Kreuzzugsepos schlechthin betrachtet. Dies ist ein Hinweis darauf, wenn nicht sogar ein fester Beweis, dass die Fundamente für unseren berühmten zeitgenössischen ›Kampf der Kulturen‹ bereits im Mittelalter gelegt wurden. »Die Heiden haben Unrecht, die Christen haben Recht« heißt es im Gedicht, paien unt tort, chrestiens unt dreit. Man sieht normalerweise in dieser Äußerung den Beleg für eine grundsätzliche Intoleranz gegenüber dem Islam, die mit der Entstehung der Kreuzzugsideologie des Westens eng verknüpft ist. Moslems werden wie selbstverständlich als die erbitterten Urfeinde der Christen betrachtet. Diesen Automatismus leitet man aus dem streng dialektischen Aufbau des Werks ab. Gerade die Verwendung von ›Binomen‹ oder Paaren im Rolandslied wird immer wieder in dieser Hinsicht betont. Verschiedene ›Binome‹ (Roland / Olivier; Charlemagne / Marsile; Aude / Bramimunde, etc.) werden vom Dichter verwendet, um gleichfalls die Opposition von Christen und Moslems zu illustrieren. So erfindet der Dichter sogar eine sarazenische »Trinität«. Man fasst den Gebrauch von solchen Paarungen unter dem Begriff der »Dynamik des epischen Binarismus« (Karl D. Uitti1) zusammen: So steht z. B. der Mut Rolands im Kontrast zur Weisheit Oliviers, Rollante est proz e Oliver est sage. Dies stellt eine Opposition dar, die für einige Wissenschaftler das Wesentliche des Chanson de Roland ausmacht, nämlich ein Dialog über das Heldentum, der auf den Topos von fortitudo et sapientia zurückgeht, wie Ernst Robert Curtius dies einmal vor sechzig Jahren gezeigt hat, womit er die volkstümliche Herkunft des Werks in Frage stellte. Die Gegenüberstellung von Karl dem Großen und dem Anführer der Sarazenen Marsile durchzieht ebenfalls das ganze Werk, wobei die Ähnlichkeiten zwischen den beiden im Gedicht hervorgehoben werden. Als interessantes Binom gilt wohl * An dieser Stelle möchte ich mich bei David J. Wrisley (American University of Beirut), Phillip Jeserich (Freie Universität Berlin) und Matei Chihaia (Bergische Universität Wuppertal) für ihre Kommentare und Anregungen herzlich bedanken. 1 Karl D. Uitti, Story, Myth, and Celebration in Old French Narrative Poetry, Princeton 1973.
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Earl Jeffrey Richards
die Erfindung einer moslemischen ›Trinität‹ durch den Dichter, die in der ganzen Literatur des Mittelalters einmalig ist.2 Eine weitere Opposition zwischen der Braut Rolands, Aude, und der heidnischen Königin von Zaragoza, Bramimunde, wird ebenfalls häufig besprochen, um den Sinn von Bramimundes Konversion zum Christentum am Schluss des Werkes zu eruieren. Diese Binome verschleiern allerdings die eigene Historizität des Rolandslieds und bieten leider späteren, voreingenommen Lesern die Möglichkeit, eine recht moderne anti-islamische Haltung mit kolonialistischen Zügen in das Werk hineinzulesen, die dem Werk eigentlich fremd ist. In diesem Aufsatz möchte ich die übliche Bewertung dieser binären Gegensatzpaare als textuelle Belege einer automatischen Opposition zwischen Christen und Moslems in Frage stellen. Meine These ist, dass das Rolandslied weder die Kämpfe gegen die Mauren im Spanien des späten 11. Jahrhunderts noch die Situation der Kreuzritter des 12. Jahrhunderts widerspiegelt, sondern vor allem durch die historischen Erlebnisse der Normannen im östlichen Mittelmeerraum des 11. Jahrhunderts geprägt ist. Um diese These zu belegen, möchte ich zunächst den anglonormannischen Charakter der ältesten altfranzösischen Version des Rolandsliedes näher betrachten. Zweitens möchte ich die arabische und byzantinische Herkunft etlicher Eigennamen und Ortsnamen in dem Werk besprechen. Die Diskussion dieser zwei Punkte soll eine Indizienkette bilden, die unsere Aufmerksamkeit auf die Wichtigkeit des östlichen Mittelmeerraums des 11. Jahrhunderts für die Deutung des Werkes lenkt. Wenn der ursprüngliche Zusammenhang des Rolandsliedes eher hier als in Spanien liegt, und zwar in einer Zeit vor dem Ersten Kreuzzug, dann ist es nicht mehr möglich, dem Werk eine Kreuzzugsideologie zuzuschreiben. Sicherlich sind Moslems und Christen Feinde im Rolandslied, aber gerade weil Moslems als Heiden und nicht als Häretiker betrachtet werden, nimmt die Opposition der beiden eine andere Bedeutung an als bisher angenommen. Zwar gibt es bestimmte Mitglieder der muslimischen Armee, die eine fast monströse Gestalt haben – einige sollen z. B. Köpfe wie Hunde haben –, aber im allgemeinen dient die binomische Struktur des Werkes auch dazu, die Menschlichkeit des Gegners aufrechtzuerhalten, auch wenn diese Menschlichkeit eine Projektion ist. Die wissenschaftlichen Interpretationen der oppositionellen Strukturen im Rolandslied fallen bisher sehr unterschiedlich aus. Für die meisten Kritiker dienen sie vor allem einer historisch neuen Legitimierung des christlichen Märtyrertodes auf dem Schlachtfeld. Dies liegt zum Teil an der Behauptung des 2 Im Gedicht werden meistens drei Gottheiten zusammen erwähnt, wenn auch nicht immer. Dennoch entsteht im Allgemeinen doch der Eindruck, dass es sich um eine Art ›Trinität‹ handelt.
Feindbilder im altfranzösischen Rolandslied
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William of Malmesbury (gest. 1143), der über die Schlacht von Hastings schrieb: Tunc cantilena Rollandi inchoata, ut martium viri exemplum pugnatores accenderet (»dann hat man von Roland angefangen zu singen, damit das kriegerische Beispiel des Mannes die Kämpfenden anfeuert«). Für eine kleine Minderheit von Lesern (und Kritikern) fallen eher die Ähnlichkeiten zwischen Christen und Sarazenen ins Gewicht, als würde der anonyme Verfasser einen fast versöhnlichen Ton anschlagen, um die Unterschiede zwischen den verfeindeten Parteien zu überwinden.3 Um diese abweichenden Meinungen besser zu verstehen, ist es hilfreich, den historischen Zusammenhang des Rolandsliedes zu skizzieren. Man geht davon aus, dass die älteste Handschrift des Werks, (Oxford, Bodleian Library, Digby 23), in die erste Hälfte des 12. Jahrhunderts zu datieren ist.4 Diese Fassung wurde in England in die anglonormannische Mundart des Altfranzösischen kopiert – eine Tatsache, die die historische Affinität zwischen dem Inhalt des Werks und den politischen Bestrebungen der Normannen, nicht nur in England, sondern auch in Süditalien und Sizilien, unterstreicht. Der altfranzösische Chronist Wace erzählt in seinem Roman de Rou, dass am Abend der Schlacht von Hastings im Oktober 1066 ein Jongleur namens Taillefer den Truppen Wilhelms des Eroberers ein Lied vom Tod Rolands und Oliviers in Roncesvalles vorgesungen hat. Taillefer, qui mult bien chantout, sor un cheval qui tost alout, devant le duc alout chantant de Karlemaigne e de Rollant, e d’Oliver e des vassals qui morurent en Rencesvals. (Roman de Rou, v. 8013 – 8019)
Da vier andere Quellen (Geoffrey Gaimar, Henry of Huntingdon, William of Malmesbury und das Carmen de Hastingae Proelio) Ähnliches berichten, kann man zumindest sagen, dass es weniger wichtig ist, ob Taillefer das Rolands3 Hans Naumann hat bereits 1925 diesen Vorschlag gemacht, siehe sein Aufsatz »Der wilde und der edle Heide (Versuch über die höfische Toleranz)«, in: Paul Merker und Wolfgang Stammler (Hgg.), Vom Werden des deutschen Geistes, Festgabe Gustav Ehrismann, Berlin, 1925, 30 – 101. Das Argument wurde in letzter Zeit von Sharon Kinoshita wieder aufgenommen: Sharon Kinoshita, »Pagans Are Wrong and Christians Are Right: From Parias to Crusade in the Chanson de Roland«, in: dies, Medieval Boundaries. Rethinking Difference in Old French Literature, Philadelphia 2006, 15 – 45; ursprünglich veröffentlicht als »Pagans Are Wrong and Christians Are Right: Alterity, Gender and Nation in the Chanson de Roland«, Journal of Medieval and Early Modern Studies 31,1 (2001), 79 – 111. 4 David C. Douglas, »The Song of Roland and the Norman Conquest of England«, French Studies 14 (1960), 99 – 116; siehe auch: Andrew Taylor, Textual Situations, Three Medieval Manuscripts and Their Readers, Philadelphia 2002: Chapter 2: »Bodleian MS Digby 23«, 26 – 70.
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Earl Jeffrey Richards
lied tatsächlich vorgesungen hat oder nicht. Viel bedeutsamer ist die Identifikation der Normannen mit der Armee Karls des Großen. Dennoch verwundert es, dass ein Kampf zwischen Christen und Heiden am Abend einer Schlacht mit anderen Christen heraufbeschworen wird. Die Erklärung für diese paradoxe Situation ist aber einfach: Zu dem Zeitpunkt, als Wilhelm der Eroberer mit seiner Armee in England einmarschierte, waren die Normannen seit Jahrzehnten mit der Eroberung Süditaliens und Siziliens beschäftigt, aber ihre Feinde waren nicht nur »Sarazenen«, sondern auch Christen. Man denke nur an die Plünderung Roms durch die Normannen im Jahre 1084. Dies alles bedeutet, dass der unmittelbare historische Zusammenhang für das Rolandslied um das Jahr 1066, d. h. dreißig Jahre vor dem Ersten Kreuzzug, in Süditalien und in Sizilien liegt und nicht in Spanien, vor allem aber in der arabisch-normannischen Mischkultur. Letztere blühte in diesem Teil des Mittelmeers bis Mitte des 13. Jahrhunderts, eine Kultur, in der die in Sizilien und Süditalien tätigen Muslime eine wichtige Rolle gespielt haben. Folglich sollte die beinahe perfekt symmetrische Darstellung der Feinde im Rolandslied nicht aus der Optik der nachfolgenden islamfeindlichen Apologetik der Kreuzzüge betrachtet werden, d. h. in einer Perspektive, die erst ein Jahrhundert nach dem ersten Nachweis einer mündlichen Performance des Rolandsliedes entstanden ist, sondern aus der Sichtweise der Normannen in Süditalien und Sizilien vor dem Ersten Kreuzzug im Jahre 1095. Die Kernfrage ist nicht, ob die Sarazenen im Rolandslied fiktive Projektionen sind, ohne Bezug zu real existierenden Sarazenen. Sie sind zweifelsohne fiktiv. Wenn der Oxforder Roland von Baligant sagt, »Deus, quel baron s’oüst chrestientet!« (v. 3164, »Oh Gott, was wäre er für ein großer Feldherr, wenn er nur Christ wäre!«), sehen wir tatsächlich den frommen Wunsch – im wahrsten Sinne des Wortes ›fromm‹ –, den Gegner zu assimilieren und ihn zum Christentum zu bekehren. Die Sarazenen sind Heiden, paien, und nicht Häretiker, und bezeichnenderweise wird das altfranzösische Wort paien hauptsächlich nur in den chansons de geste verwendet. Deshalb handelt es sich nicht um ein ›Theater des Orients‹, das überzeichnete Sarazenen zum Amüsement des Publikums inszeniert, sondern um eine Auseinandersetzung mit der Menschlichkeit des Feindes. Für den (oder die) Roland-Dichter waren die Sarazenen als Heiden und nicht als Häretiker einzustufen. Wir haben es nicht mit einem Petrus Venerabilis zu tun, der einen Traktat gegen die »Häresie« des Islams im 12. Jahrhundert geschrieben hat, oder mit einem Dante, der Mohammed als seminator di scandalo e di scisma beschrieben hatte, sondern mit einem noch übrig gebliebenen Respekt für den Islam, der für die Kontakte mit dem Islam aus seinen ersten Jahrhunderten eher typisch war. Es gibt drei hervorragende Studien zum Bild des ›Sarazenen‹ im Westen während des Mittelalters. Für das Konstrukt des ›Sarazenen‹ für das Frühmittelalter ist die umfangreiche Untersuchung Abendland und Sarazenen von Ekkehard
Feindbilder im altfranzösischen Rolandslied
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Rotter unerlässlich.5 Er betont, dass die westeuropäischen Christen oft ein positives Bild des Islams hatten. Ein besonders wichtiges Kapitel seines Werks heißt: »Papst, Byzanz und Sarazenen: Ein Spannungsfeld«, und dabei definiert er den passenden Zusammenhang für das Oxforder Rolandslied. ›Reale‹ Sarazenen spielen eine Nebenrolle in dem Werk, auch wenn sie vom Dichter so massiv inszeniert werden, denn es geht primär um eine Auseinandersetzung nicht mit dem Islam, sondern letztendlich mit den orthodoxen Christen. Zwei andere Studien belegen die Entwicklung des Sarazenen-Bildes hauptsächlich nach dem Ersten Kreuzzug. In seinem Buch Saracens von 2002 hat John V. Tolan akribisch das Image des ›Sarazenen‹ hauptsächlich seit dem Ersten Kreuzzug nachgezeichnet.6 Die Kunsthistorikerin Debra Higgs Strickland von der Universität Edinburgh hat in ihrer hervorragenden Studie Saracens, Demons, and Jews parallele kunsthistorische Zeugnisse zusammengestellt.7 Bei Tolan und Strickland geht es um Dokumente aus der Zeit nach dem Ersten Kreuzzug, die für eine Deutung des dreißig Jahre früheren, am Vorabend der Schlacht von Hastings anzusiedelnden Rolandsstoffs leider wenig helfen. Die binomische Struktur des Werkes führt dazu, dass die Heiden des Öfteren (aber nicht immer) fast spiegelbildlich zu den Christen dargestellt werden. Dies führt teilweise zu einer grotesken Karikatur des muslimischen Gegners, aber die Absicht hinter dieser Karikatur geht auf die Wahrnehmung der Sarazenen als potentieller Konvertiten und nicht als Häretiker zurück. Es handelt sich dennoch um eine Assimilierung des Gegners im wahrsten Sinne des Wortes: Der Gegner verliert seine Eigenständigkeit und wird eben ›similär‹ oder ›ähnlich‹. Es gibt tatsächlich eine andere Möglichkeit, die man bis jetzt meines Wissens nicht in Erwägung gezogen hat: dass der Rolandslieddichter nicht im Geringsten an einer realistischen Darstellung von Muslimen interessiert war, sondern sie als Vorwand in Szene gesetzt hat, um von christlichen Gegnern zu sprechen. Die Heiden im Rolandslied würden dann als Chiffre für christliche Feinde stehen, was zumindest der Situation am Vorabend der Schlacht von Hastings entsprechen würde. Wenn ich das Wort ›Chiffre‹ benutze, dann auch bewusst als Arabismus, von sifr ( ›Zero‹, aber die Wurzel für ›Zero‹ und für ›Ziffer‹ und ›entziffern‹ . . . ). Zweifelsohne erlebt das Image des ›Sarazenen‹ im Laufe der Kreuzzüge eine drastisch negative Wandlung,8 die viele Kritiker dazu verleitet 5 Ekkehard Rotter, Abendland und Sarazenen. Das okzidentale Araberbild und seine Entstehung im Frühmittelalter, Berlin / New York 1986. 6 John V. Tolan, Saracens. Islam in the Medieval European Imagination, New York 2002. 7 Debra Higgs Strickland, Saracens, Demons, and Jews. Making in Monsters in Medieval Art, Princeton 2003. 8 Cyril Meridith-Jones, »The Conventional Saracen of the Songs of Geste«, Speculum 17 (1942), 201 – 225; Barbara P. Edmonds, »Le portrait des Sarrasins dans la Chanson de Roland«, The French Review 44 (1971), 870 – 81; Paul Bancourt, Les musulmans dans les
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hat, in den symmetrischen Strukturen des Oxforder Roland eine Art Orientalismus zu sehen.9 Man sagt ›Heiden‹ und meint eigentlich ›orthodoxe Christen‹. Das Gedicht, das Taillefer vorgetragen hat, ist nicht identisch mit der Fassung, die man im Oxforder wieder findet, stellt aber ein frühes Stadiums des Werks dar, das in der ersten Niederschrift verschiedene Sprachschichten wiedergibt. Es handelt sich zunächst um Varianten in Assonanzen, die aus unterschiedlichen Epochen stammen und dennoch so über das ganze Werk verstreut sind, dass aus sprachlichen Gründen keine Urversion des Gedichts isoliert werden kann.10 Anderseits hilft die Onomastik, mögliche historische Ereignisse zu identifizieren. Viele Eigennamen im Oxforder Roland spiegeln historische Erlebnisse der Normannen wider, die nach der Schlacht von Hastings zu datieren sind. Diese Namen werden uns später näher beschäftigen. Zunächst hilft es, die groben Details der Geschichte der Normannen im Mittelmeerraum während des 11. Jahrhunderts in Erinnerung zu rufen. Es handelt sich vor allem um die andauernde Anwesenheit der Normannen im Mittelmeerraum im Gegensatz zu deren sporadischen Einsätzen in Spanien. Es gab zwar einzelne Normannen, die zum Kampf gegen die Mauren nach Spanien aufgebrochen waren, aber sie haben dort keine Reiche wie in England, Süditalien oder Sizilien gegründet.11 Darunter war der bekannteste Roger I. de Tosny (gest. 1040). Er bildet einen starken Kontrast zu den Normannen im Mittelmeerraum, die vor allem auf Sizilien ihre muslimischen Untertanen mit Toleranz behandelt haben. Roger hat sich in Spanien den Namen Mangeur de Maures oder Maurenfresser verdient, denn laut der zeitgenössischen Chronik von Adhémar de Chabanais ließ er zur Täuschung des Gegners (per frustra) chansons de geste du cycle du roi, Aix-en-Provence 1982, 341 – 503; Norman Daniel, Heroes and Saracens, An Interpretation of the Chansons de geste, Edinburgh 1985; Jean Flori, »La caricature de l’Islam dans l’occident médiéval, Origine et signification de quelques stéréotypes concernant l’Islam«, Aevum 66,2 (1992), 245 – 56. 9 Bereits 1883 stellte Hans Prütz in seiner Kulturgeschichte der Kreuzzüge, Berlin 1883 (repr. Hildesheim 1964), 573, fest: »Im allgemeinen wurde das Bild, welches die Christen des Abendlandes sich von Mohammed und seiner Lehre machten, je länger, je mehr getrübt durch die ärgsten Fabeln und schließlich völlig entstellt durch die thörichtsten Wahnvorstellungen und die gehässigsten Verleumdungen [ . . . ]. Fast alles, was darüber berichtet wurde, war tendenziös zurechtgemacht, um die Bekenner des Islam als die hassenswürdigsten Feinde des Christentums darzustellen, den Glaubenseifer der abendländischen Christenheit so immer von Neuem zu entflammen und dadurch im Interesse der Kirche die Fortsetzung der Kreuzzugskämpfe zu ermöglichen.« 10 Robert A. Hall, Jr., »Linguistic Strata in the Chanson de Roland«, Romance Philology 13 (1959 / 60), 156 – 161. 11 Über den sporadischen Charakter der ›französischen‹ Kreuzzüge in Spanien, siehe Marcelin Defourneaux, Les Français en Espagene aux XIe et XIIe siècles, Paris 1949, besonders 122 – 193
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jeden Tag einen Gefangen wie ein Schwein töten (quasi porcum) und dann aufschneiden. Die eine Hälfte wurde gekocht und den anderen Gefangenen zu essen gegeben. Angeblich nahm Roger die andere Hälfte mit, um sie mit den Mitgliedern seines Haushalts zu verzehren.12 Eines Tages wurde einem neuen Gefangenen durch eine vorgetäuschte Nachlässigkeit die Flucht ermöglicht, damit er von diesen Ungeheuerlichkeiten (haec monstra) Bericht erstatten konnte. Dieses grausame Beispiel, das übrigens den Kannibalismus der Kreuzritter während des Massakers von Maarat an-Numan im Jahre 1099 vorwegnimmt, steht im Widerspruch zu dem Verhalten der Normannen im östlichen Mittelmeerraum vor dem Ersten Kreuzzug. Die Normannen sind ursprünglich um das Jahr 1017 als Söldner des byzantinischen Reiches nach Süditalien gekommen. Die Bewohner Süditaliens und des östlichen Teils von Sizilien sprachen zu dieser Zeit überwiegend griechisch und folgten dem Ritus der griechischen Kirche. Obwohl die normannischen Eroberungen keine Vertreibungen der muslimischen Bevölkerung bedeuteten, gab es einen wichtigen Personalwechsel, der für die Normannen typisch war: Die einheimischen Bischöfe wurden durch neue (normannische) ersetzt. Dies hat den seit Jahrhunderten andauernden Zwist zwischen der römischen und der griechischen Kirche über den so genannten »Filioque«-Zusatz13 zum Glau12 Ademari Cabannensis Chronicon, hg. P. Bourgain (Ademari Cabannensis Opera omnia, pars I, CCCM, 129), Turnhout 1999, 174 [III,55]: Item Nortmanni, duce Rotgerio, ad occidendos paganos Hispaniam profecti, innumeros Sarracenorum deleverunt, et civitates vel castella ab eis abstulere multa. Primo vero adventu suo Rotgerius, Sarracenis captis, unumquemque eorum per dies singulos, videntibus ceteris, quasi porcum per frusta dividens, in caldariis coctum eis apponebat pro epulis, et in alia domo simulabat se comedere cum suis reliqua medietatis membra. Percursis omnibus hoc modo, novissimum de custodia quasi neglegens permittebat fuge, qui haec monstra Sarracenis nunciaret, ita fabulam Tiestis veram adimplens. (»In gleicher Weise sind Normannen unter der Führung von Roger nach Spanien gekommen, um Heiden zu töten, und haben zahllose Sarazenen vernichtet und ihnen viele Städte und Burgen abgerungen. Kurz nach seiner Ankunft ließ Roger jeden Tag als List die gefangengenommenen Sarazenen einen nach dem anderen wie Schweine schlachten und teilen, während die anderen zuschauten. Er ließ sie in Töpfen kochen und tischte sie als Speisen den anderen [Gefangenen] auf und tat so, als ob er die übriggebliebenen Glieder der anderen Hälfte in einem anderen Gebäude mit seinen Leuten verspeisen würde. Nachdem er in dieser Weise alle vernichtet hatte, ließ er wie durch Nachlässigkeit einen neuen Häftling fliehen, damit jener den Sarazenen von dieser Ungeheuerlichkeit berichten konnte, und in dieser Weise gab er eine wahre Version der Fabel von Thyestes wieder.«) 13 »Wir glauben an den Heiligen Geist, / der Herr ist und lebendig macht, / der aus dem Vater und dem Sohn hervorgeht«, bzw. Et in Spiritum Sanctum, 7 7Dominum et vivificantem, qui ex Patre Filioque procedit mit dem Zusatz káM ôïõ Õ0ïõ zu dem ursprüng7 7 lichen Text káM å9ò ôN Ðíåõìá ôN DÁãéïí, ôN kýréïí, ôN æùïôôïéüí, / ôN 7k ôïõ ÐárNò 7kôôïråõüìåíïí. Siehe u. a. Bernd Oberdorfer, Filioque. Geschichte und Theologie eines o¨kumenischen Problems, Berlin 2001; Peter Gemeinhardt, Die Filioque-Kontroverse zwischen
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bensbekenntnis von Nizäa zum Überkochen gebracht, mit dem Ergebnis, dass sich im Jahre 1054 der Papst von Rom und der Patriarch von Konstantinopel gegenseitig exkommunizierten und somit das morgenländische Schisma einleiteten. Dieser besondere Beitrag der Normannen zum Schisma in puncto Dreifaltigkeitslehre wirkt, meine ich, bei der einmaligen Erfindung einer fiktiven Trinität bei den Sarazenen im Rolandslied mit. Im Jahre 1061, fünf Jahre vor der Schlacht von Hastings, beginnen die Normannen mit ihrer eigenen Invasion Siziliens, die bis 1091 andauert. Bis 1053 wurde Sizilien vom letzten Kalbiten-Emir H : asan al-Samsam regiert. Die Kalbitendynastie wurde von den schiitischen Fatimiden aus Ägypten Mitte des 10. Jahrhunderts in Sizilien eingesetzt und war höchstwahrscheinlich auch schiitisch. Diese schiitische Zugehörigkeit der Kalbiten wird später auch eine problematische Rolle bei der Entzifferung von zwei Namen der fiktiven Trinität der Sarazenen im Rolandslied spielen, aber ich möchte nicht zu weit vorgreifen. Nach dem Tod des letzten Kalbiten zerfiel das Emirat von Sizilien in drei rivalisierende Fürstentümer: 1. Enna, 2. Siracusa und Catania, 3. Trapani und Mazara. Ein wichtiges Detail dieser Eroberung Siziliens darf nicht vergessen werden: Als Robert Guiscard in Messina auf keinen Widerstand traf, verbündete er sich mit einem Emir gegen einen anderen. Ein solches Bündnis zwischen Christen und Muslimen gegen einen gemeinsamen muslimischen Gegner ist nicht weiter erstaunlich, denn christliche Soldaten haben sogar nach Ankunft der Almoraviden am Ende des 11. Jahrhunderts Seite an Seite mit muslimischen Kameraden gegen Christen gekämpft. Erst mit dem Ersten Kreuzzug am Ende des 11. Jahrhunderts und vor allem erst mit den Polemiken des Petrus Venerabilis gegen den Islam Mitte des 12. Jahrhunderts vor dem Hintergrund des Zweiten Kreuzzugs wurden solche militärische Bündnisse unmöglich. Dies heißt ganz konkret, dass Vertreter der katholischen Kirche, hauptsächlich aus Cluny (Hugo de Cluny und Petrus Venerabilis), für die Entstehung eines Feindbildes verantwortlich waren, mit dem wir uns heute immer noch herumschlagen. Angesichts dieser historischen Sachlage scheint es wahrscheinlich, dass man die Geschichte von Roland in Hastings deshalb gesungen hat, weil so etwas auf Sizilien bereits getan wurde, um die Normannen gegen ihre sarazenischen Gegner anzufeuern, oder als einfache Erinnerung an die früheren Schlachten, die zufälligerweise gegen die Sarazenen ausgetragen wurden. Diese Schlussfolgerung mag zunächst rein spekulativ erscheinen. Ich möchte daher die Arabismen im Rolandslied näher betrachten, um die Wahrscheinlichkeit der These zu erhöhen, die normannisch-arabische Mischkultur Siziliens Ost- und Westkirche im Frühmittelalter, Berlin / New York 2002, und Duncan Reid, Energies of the Spirit: Trinitarian Models in Eastern Orthodox and Western Theology, Atlanta 1997.
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im späten 11. Jahrhundert liefere den Kontext für das Rolandslied. Es geht zunächst um die Namen für drei Schwerter im Werk: um den von Rolands Pferd und auch um den von Rolands Signalhorn, das Olifant. Der amerikanische Arabist James A. Bellamy von der University of Michigan, Ann Arbor, hat die Arabismen im Rolandslied näher analysiert.14 Er ist zu erstaunlichen, meines Erachtens überzeugenden Schlüssen gekommen. Das wohl bekannteste Schwert in der ganzen französischen Literatur heißt Durendal, das Schwert Rolands. Bellamy hat zu Recht seinen Ursprung in dem arabischen Ausdruck th u al-jandal (bzw. dui l-jandal) identifiziert und philologisch erklärt. Durendal bedeutet schlicht und einfach ›Besitzer, Meister des Steins‹. Turpins Schwert heißt Almace und geht auf das arabische Wort al-m ad: ı zurück das wohl von einem altfranzösisch sprechenden Menschen als al-m a:sı verstanden würde und ›Schneider, schneidend, scharf‹ bedeutet. Ganelons Schwert heißt entweder Murglies (v. 346) oder Murgleis (v. 607). Laut Bellamy hat der anglonormannische Text des Oxforder Roland die ursprünglichen arabischen Konsonanten mrqlys behalten, was für Bellamy in diesem Fall für eine schriftliche Überlieferung des Ausdrucks spricht. In den anderen Beispielen kann es sich auch um eine schlechte Transkribierung eines arabischen Wortes durch einen anglonormannischen Sprecher handeln. Die Vokale im dem französischen Lehnwort sind hier zwar problematisch, aber Bellamy meint, dass das arabische Original wohl m ariq ‘alyas war, mit der Bedeutung ›der Tapfere, der durchstößt‹ (englisch: ›vaillant piercer‹). Bellamy erläutert außerdem, dass die Tradition, Schwerter mit Namen zu benennen, weder skandinavischer noch germanischer, sondern ursprünglich arabischer Herkunft sei, und erklärt weiterhin, dass es sich in dem Falle der drei Schwerter, deren Namen in der mündlichen Überlieferung der Roland-Legende tief eingebettet sind, zweifelsohne um erbeutete Waffen handelte. Ähnliches gilt übrigens auch für den Namen von Rolands Pferd: Veillantif. Bellamy führt Veillantif sofort auf die umgangssprachliche Form wayl lantıf zurück und erläutert, dass wayl die Aussprache von dayl ›Schwanz‹ und lantıf eine Variante von katıf ›buschig‹ sei. Mit anderen Worten, heißt Veillantif eigentlich ›buschiger Schwanz‹ – ein passender Name für ein Pferd. Die recht einleuchtende Erklärung, warum die Bezeichnungen der drei Schwerter der Rolandslied-Protagonisten alle arabischer Herkunft sind, liege auf der Hand, so Bellamy, denn es geht um erbeutete Schwerter und Pferde, die ihre ursprünglichen Namen behielten, auch wenn sie die Besitzer wechselten. Im Laufe der andauernden Kämpfe in Spanien, so Bellamy, gab es Tausende von Schwertern, die erbeutet und deren Namen trotzdem beibehalten wurden. Selbstredend wäre eine solche Situation sehr aktuell bei der normannischen Er14 James A. Bellamy, »Arabic Names in the Chanson De Roland: Saracen Gods, Frankish Swords, Roland’s Horse, and the Olifant«, Journal of the American Oriental Society 107 (1987), 267 – 277.
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oberung Siziliens, denn die Normannen standen im Laufe der dreißig Jahre andauernden Kämpfe dort in unmittelbarem sprachlichem Kontakt mit der arabisch sprechenden Welt. Die Normannen in Sizilien haben mit Moslems nicht nur gekämpft, sondern auch gelebt. Die ursprünglich arabischen Namen der Schwerter mussten sich erst mündlich durchgesetzt haben, um dann später schriftlich fixiert zu werden. Dass der Dichter oder die Zuhörer um den arabischen Ursprung der Namen dieser Schwerter wussten, scheint eher unwahrscheinlich, zumal das Schwert Durendal mit christlichen Reliquien bestückt war. Dennoch entspricht ihre Verwendung im Text dem Vorhandensein mehrerer historischer Sprachschichten im Oxforder Roland, die wiederum zeigen, dass das Werk aus rein linguistischer Sicht über mehrere Jahrzehnte tradiert wurde, bevor es schriftlich festgehalten wurde. Diese historischen Sprachschichten scheinen außerdem auf historiographische Schichten hinzuweisen, also darauf, dass Ereignisse aus dem 11. Jahrhundert – ganz spezifisch das große abendländische Schisma von 1054 und die Feldzüge des Robert Guiscard gegen den byzantinischen Kaiser 1081 bis 1085 – ihre Spuren im Rolandslied hinterlassen haben. Die sprachliche Nähe zum Arabischen bedeutet aber noch lange nicht, dass der muslimische Gegner deshalb irgendwie realistischer dargestellt würde. Das Rolandslied ist an einem Ort oder an mehreren Orten entstanden, in dem sprachliche Kontakte zu arabisch sprechenden Menschen stattfanden. Dass dieser Platz unbedingt nur Spanien sein kann, ist längst nicht bewiesen, wenn auch immer wieder stillschweigend angenommen worden. Man darf nicht vergessen, dass erst zwei Jahre vor der Schlacht von Hastings die Eroberung von Barbastro stattfand, an der viele Franzosen – nicht unbedingt Normannen – teilnahmen. Toledo fiel erst 1085. Wenn das Rolandslied vor diesem Hintergrund verfasst wurde, stellt sich die Frage, warum die Eroberung Toledos nicht im Oxforder Text erwähnt wurde. Die Antwort ist, dass der spanische Hintergrund des Rolandsliedes zwar eine traditionelle Gegebenheit des Stoffes war, dass er aber den Rahmen für ein literarisches Werk lieferte, das nicht unmittelbar auf zeitgenössische Ereignisse in Spanien hin verfasst wurde. Um alle diese Beispiele zu bewerten und um die Wichtigkeit der Onomastik hervorzuheben, möchte ich das negative Beispiel von Julia in der berühmten Balkonszene in Shakespeares Romeo and Juliet zitieren. Sagen wir einfach, dass Julia für den philologischen Beruf denkbar ungeeignet ist: »What’s in a name? that which we call a rose / By any other name would smell as sweet« (II, 2, vv. 48 – 49). Ja, die Frage ist hauptsächlich: »What’s in a name?« Denn gerade in etlichen Eigennamen des Rolandslieds findet man die Spuren bestimmter historischer Ereignisse. Es handelt sich um eine sehr alte Frage in der Rolandsliedforschung, nämlich die nach der Herkunft vieler Ortsnamen am Ende des Werkes. Bereits im Jahre 1911 hat der Darmstädter Romanist Wilhelm Tavernier behauptet, dass der
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Hilferuf am Ende des Rolandslieds, dass Karl sich zum tere de Bire beeilen soll, eigentlich eine Emendation braucht und als terre d’Ebire verstanden werden sollte.15 Diese Meinung hat übrigens auch der Entdecker des Oxforder Rolands Francisque Michel bereits 1837 vertreten. Ebire wäre in diesem Fall Epirus und somit eine Anspielung auf die Feldzüge der Normannen zwischen 1081 und 1108, die von Robert Guiscard und, nach dessen Tod im Jahre 1085, von seinem Sohn Bohemund von Tarent durchgeführt wurden. Tavernier meint, das Rolandslied sei im Jahre 1106 anlässlich der Hochzeit Bohemunds mit Constant, der Tochter des französischen Königs Philip I, verfasst worden. Seine These fand keine Zustimmung unter Rolandforschern. Dennoch: Die mögliche Verbindung zu historischen Ereignissen in diesem Teil des Mittelmeerraums hat dreißig Jahre später Henri Grégoire, der legendäre belgische Byzantinist der Université libre de Bruxelles, wieder aufgegriffen und erheblich verfeinert.16 Grégoire hat elf Ortsnamen am Ende des Gedichts historisch in der Provinz Epirus identifiziert. Die Orte liegen zum Teil im heutigen Albanien.17 Grégoire meint, der Name des Gegners von Karl dem Großen, Baligant, sei von Palaiologos abzuleiten, d. h. von Georgios Palaiologos (bzw. Palaeologus), dem Gegner Guiscards bei der Schlacht von Durazzo (Dyrrhachium, heute Dürres) im Jahre 1081, als ein normannisches Heer unter der Führung Robert Guiscards und seines Sohns, Bohemunds von Tarent, eine byzantinische Armee besiegt hat. Der belgische Mediävist hat den Turoldus, der sich im letzten Vers des Rolandsliedes nennt, Ci falt la geste que Turoldus declinet, als den Abt Turold de Petersborough (gest. 1098) identifiziert. Turold kam ursprünglich vom berühmten Benediktiner-Kloster Fécamp in der Normandie, und sein Vater oder Onkel, Odon, Bischof von Bayeux, starb in Palermo im Jahre 1097, wodurch die Verbindung Normandie-Sizilien gesichert schien. Grégoire meinte, das Rolandslied, wie man es im Oxforder Roland kennt, sei in Salerno im Jahre 1085 verfasst worden. So weit ich dies beurteilen kann, hat sich die Rolandforschung mit Grégoires Argumenten kaum auseinandergesetzt, auch wenn sie wie ein historischer Schnappschuss wirken, denn sie stellen den Grundkonsens in Frage, das Rolandslied als französisches Nationalepos zu betrachten.18 15 Wilhelm Tavernier, »Zu Roland 3995: tere d’Ebire«, Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 37 (1911), 272. 16 »Henri Grégoire (memorial note)«, Speculum 41,3 (1966), 594 – 602. 17 Henri Grégoire und Raoul De Keyser, »La Chanson de Roland et Byzance, ou de l’utilité du grec pour les romanistes«, Byzantion 14 (1939), 265 – 316. Er hat unter anderen folgende Ortsnamen identifizieren können: Val Marchis, v. 3208; Cheriant, v. 3208; Butentrot, v. 3220 (= Butentro); Jericho, v. 3228; Canelius, v. 3228, 3269; Malprose, v. 3253; Baldise, v. 3255; Val Penuse, v. 3256; Malpreis, v. 3285; Terre de Bire, v. 3995; Imphe, v. 3996. Siehe als Anhang die Karte, die er veröffentlicht hat. Siehe auch: Henri Grégoire, »The Actual Date and the True Historical Background of the Chanson de Roland«, Belgium 3,2 (1942), 60.
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Wenn man die Ergebnisse von Bellamy hinsichtlich des arabischen Ursprungs der Namen der Schwerter im Lichte der Analyse von Taverniers und Grégoires Forschung bewertet, drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass die Kontakte der Normannen im östlichen Mittelmeerraum mit dem Emirat von Sizilien und mit dem byzantinischen Reich sehr stark die Wahrnehmung der Sarazenen im Rolandslied geprägt haben. Die Erfindung einer fiktiven islamischen ›Trinität‹ im Rolandslied ist ein weiterer Beleg für dieses Fazit. In diesem auffallenden und auch häufig zitierten Beispiel für die symmetrische, nach Binomen geordnete Vorgehensweise des Verfassers, welcher dem Islam eine Trinität andichtet, handelt es sich um die drei ›Gottheiten‹ Mohammed, Apollin und Tervagant. Das lästige Detail, dass der Islam keine eigene Dreifaltigkeitslehre kennt, sondern die Einheit Allahs grundsätzlich proklamiert, scheint weder den Rolandsliedverfasser noch sein Publikum gestört zu haben. Wie im Fall der Schwerter haben wir es auch hier mit einer arabischen Etymologie für die Namen Apollin und Tervagant zu tun. Früher hat man Apollin als eine Variante von Apollo gedeutet, während der Name Tervagant der Gegenstand für viel wissenschaftliche Spekulation war und ist, vor allem weil er mit dem englischen Begriff termagant als Bezeichnung für eine ›schwierige, zickige Frau‹ gebraucht wird. Des Rätsels Lösung wurde von James A. Bellamy in dem gleichen Aufsatz gefunden, in dem er die arabische Etymologie für Durendal und die anderen Schwerter festgestellt hat. Mit viel Geschick leitet er die zwei Götzennamen von den Namen der ersten und dritten Kalifen in der sunnitischen Tradition ab: ›Apollin‹ kommt von ›Abu¯ Bakr‹, welcher der erste der vier ›rechtgeleiteten‹ Kalifen war, und ›Tervagant‹ von ›‘Utma¯n b. ‘Affa¯n‹, dem dritten Kalifen. Die drei ›Götzen‹ der islamischen ›Trinität‹ entpuppen sich als Mohammed und zwei seiner wichtigsten Wegbegleiter. Da in der christlichen Mythographie des Mittelalters Christus mit Apollo assoziiert wurde, wäre es denkbar, dass der Rolanddichter Apollin als zweite Person einer fiktiven islamischen Trinität ein18 In einem Besprechungsaufsatz mehrerer Werke (Romania 66 [1940 / 41], 382 – 395, insbesondere 386 – 395) hat Mario Roques die Argumente Grégoires in Frage gestellt. Aurelio Roncaglia hat noch schärfer gegen Grégoire polemisiert (»Gli studi del Grégoire e l’ambiente storico della Chanson de Roland«, Cultura neolatina 6 / 7 [1946 / 47], 92 – 122). Der Berliner Byzantinist Günter Reichenkron hat 1956 die Argumente Grégoires gegen die Vorwürfe von Roques und Roncaglia verteidigt. Er stellte fest: »Gerade die Sonderstellung, die die Baligantszene im Rolandslied einnimmt, lässt sich verstehen, wenn dieser Teil des Rolandsliedes im Kulturbereich der süditalienischen Normannen entstanden ist« (»Zu den ersten Beziehungen zwischen Byzanz und den ältesten französischen Chansons de geste«, Südostforschungen 15 (1956), 161 – 166, Zitat: 166). André de Mandach lehnte die Thesen Grégoires auch ab; siehe André de Mandach, Naissance et développement de la Chanson de geste en Europe, VI: La Chanson de Roland, Transferts de mythe dans le monde occidental et oriental, Genf 1973, 124 – 135, hier 129: »Si l’attribution de la conquête (normande) de l’Angleterre à Charlemagne a de quoi surprendre, celle de l’Italie du Sud et même de la Sicile à l’empereur des Francs et à Roland est véritablement stupéfiante.«
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stufte. Der Name Tervagant tritt häufig in anderen altfranzösischen Werken, auch in Mysterienspielen, als männliche Gottheit auf. Dass Tervagant später das Geschlecht wechselte, wird damit erklärt, dass er in Mysterienspielen mit langen Gewändern verkleidet war, die man mit Frauen in Verbindung brachte. Die Verballhornung der Namen dieser Personen geht wohl auf eine Mischung aus mündlicher und schriftlicher Überlieferung zurück. Man könnte z. B. spekulieren, dass ein Normanne irgendwann im Laufe eines Gesprächs mit einem Sunniten die Namen der vier Kalifen gehört hatte und dabei den Namen des Schwiegervaters von Mohammed, ›Abu¯ Bakr‹, und auch den von dessen Schwiegersohn ›‘Utma¯n b. ‘Affa¯n‹ im Kopf behalten hat. Eine andere Möglichkeit ist, dass die Normannen die Namen als Kampfschrei gehört hatten. Am Anfang des Rolandsliedes heißt es, dass Marsile Mahumet sert e Apollin recleimet. Evtl. bezieht sich das Verbum recleimet auf einen Kampfschrei während irgendeiner Schlacht, wobei es nicht zu erwarten wäre, dass sich die Schiiten auf Sizilien damals mit ›Apollin‹ auf ›Abu¯ Bakr‹ bezogen haben, auch wenn er neben Mohammed in der Prophetenmoschee in Medina begraben ist, denn für sie gilt Ali als der erste Kalif und Imam (Ali nannte sich selbst amır al-mu minın, ›Befehlshaber der Gläubigen‹; lateinisch: Mirolaminus; französisch: Miromolin). Die Überlieferungsschwierigkeiten dieser Eigennamen ist jedoch nicht so wichtig wie die Tatsache, dass das Rolandslied – und nur das Rolandslied – eine islamische Dreifaltigkeit präsentiert. Man weiß, dass sich der Konflikt zwischen der katholischen und orthodoxen Kirche als Folge der normannischen Eroberungen in Süditalien im 11. Jahrhundert zuspitzte. Das heißt, in der normannischen Wahrnehmung eines Gegners – in diesem Fall eines christlichen – im östlichen Mittelmeerraum in dieser Zeit wäre es durchaus zu erwarten, dass dieser Gegner auch in ›trinitären‹ Kategorien denkt. Die islamische ›Trinität‹ des Rolandsliedes entspricht der religiösen Auseinandersetzung, die durch die Normannen im östlichen Mittelmeerraum ausgelöst wurde. Eines scheint festzustehen: Die historischen Gegner der Normannen im östlichen Mittelmeerraum, sowohl Christen wie auch Moslems, treten im Rolandslied gleichermaßen als Heiden auf. Auch wenn alle Handschriften des altfranzösischen Rolandsliedes nach dem Ersten bzw. Zeiten Kreuzzug niedergeschrieben wurden, spiegelt das Werk entgegen der herkömmlichen Meinung nicht eine Kreuzzugsideologie wider, sondern die Hoffnung auf eine friedliche Konversion der Moslems. Die besiegten Feinde, die sich nicht taufen lassen, werden gnadenlos hingerichtet, aber wichtig ist vor allem, dass Bramimunde nach Frankreich als Gefangene gebracht werden soll, um dort »aus Liebe« zum Christentum zu konvertieren. Ihre Konversion hat noch größere Symbolkraft, wenn sie freiwillig erfolgt: Li reis creit en Deu, faire voelt sun servise; E si evesque les eves beneïssent, Meinent paien ent’r]esqu’al bapt isterie:
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Earl Jeffrey Richards S’or i ad cel qui Carles cuntredie voillet, Il le fait pendre o ardeir ou ocire. Baptizet sunt asez plus de .C. milie Veir chrestien, ne mais sul la reïne. En France dulce iert menee caitive: Ço voelt li reis par amur cunvertisset. (v. 3666 – 3674)
Obwohl die Konversion von Bramimunde sehr eng mit der Meditation über die Menschlichkeit des Gegners zusammenhängt,19 steckt eine deutliche politische Botschaft für ein christliches Publikum dahinter, die überhaupt nichts, wie oft angenommen wird, mit dem Orientalismus eines Edward Said zu tun hat, d. h. einem Mittel, den Gegner erst literarisch zu bekämpfen, bevor man versucht, ihn tatsächlich zu erobern. Im Gegenteil: Die Taufe Bramimundes am Ende des Rolandslieds, genau wie die Hinrichtung Ganelons, findet am Fest des heiligen Silvester, am 31. Dezember, statt. Viele Kritiker sehen in dieser Wahl eine Anspielung auf die in der Legende verbreitete angebliche Taufe des Kaisers Konstantin durch den damaligen Papst Silvester. Die Botschaft für ein mittelalterliches Publikum, die von der Festsetzung der Taufe Bramimundes auf Silvester ausging, wäre eindeutig gewesen. Es ist also wahrscheinlich, dass ihre Konversion sowohl an die christliche Legitimierung des Imperiums durch den Papst, als auch an die Konstantinische Schenkung erinnern sollte, und dies ausgerechnet in der Zeit, als der Patriarch von Konstantinopel den Papst exkommuniziert hatte. Immerhin hatte der päpstliche Legat in Konstantinopel im Juli 1054, Kardinal Humbert von Silva Candida, mit allem Nachdruck den Primat des Bischofs von Rom und die Konstantinische Schenkung hervorgehoben und der orthodoxen Kirche vorgeworfen, »Quelle aller Häresien« zu sein. Jetzt wird es klar: Die Moslems im Rolandslied konnten gar nicht als Häretiker bezeichnet werden, denn die ›wahren‹ Häretiker aus der Sicht der römischen Kirche in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts waren die orthodoxen Christen. Die Normannen waren dem Papst treu: Die Truppen Robert Guiscards hatten zwar Rom im Jahre 1084 verwüstet, aber sie haben die Stadt erobert, um Papst Gregor VII. wieder einzusetzen, nachdem der Gegenpapst Clemens III. den deutschen König Heinrich IV. zum Kaiser gekrönt hatte. 19 Gerard J. Brault, »›Truvet li unt le num de Juliane‹: sur le rôle de Bramimonde dans la Chanson de Roland«, in: Mélanges de langue et de littérature médiévales offerts à Pierre Le Gentil par ses collègues, ses élèves et ses amis, Paris 1973), 134 – 149; Hans Erich Keller, »La Conversion de Bramimonde«, Société Rencesvals pour l’étude des épopées romanes, VIe Congrès international (Aix-en-Provence, 29 août – 4 septembre 1973), Actes, Aix-enProvence 1974, 175 – 203; John A. Stranges, »The Significance of Bramimonde’s Conversion in the Song of Roland«, Romance Notes 16 (1974), 189 – 195; Ann Tukey Harrison, »Aude and Bramimunde: Their Importance in the Chanson de Roland«, The French Review 54,5 (1981), 672 – 679.
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Wenn der Text des Oxforder Roland mit dem berühmten Satz Karles li reis, nostre emperere magnes beginnt, spielt er möglicherweise direkt auf die Legitimität des deutschen Kaisers an, der sich gegen den Papst gestellt hat. Kehren wir zum Eingangstext zurück: »Die Heiden haben Unrecht, die Christen haben Recht«, heißt es im Gedicht, paien unt tort, chrestiens unt dreit. Es sollte jetzt klar sein, dass es sich im Rolandslied grundsätzlich um eine innerchristliche Auseinandersetzung handelt, die im Zusammenhang der normannischen Geschichte im östlichen Mittelmeerraum und der politischen Machtkämpfe des Papsttums mit dem Reich und mit der Orthodoxen Kirche zu verstehen ist. Nur sekundär sagt das Rolandslied einiges, und dies nur in ganz begrenztem Maß, über die Wahrnehmung der westeuropäischen Christen von ihren moslemischen Feinden kurz vor dem Ersten Kreuzzug aus. Ein Paradigmenwechsel in der Rolandforschung ist längst überfällig . . .
Der Held an der Klippe Sinnesregie an den Bruchstellen des höfischen Romans Von Matthias Däumer
Die Rede hat bekanntlich die Macht, den schon abgeschickten Pfeil aufzuhalten in einem Bruchteil von Zeit. Foucault, Das unendliche Sprechen1
Im folgenden Beitrag steht im Fokus der Betrachtung nicht die Ästhetik, sondern die Aisthesis2 des höfischen Romans. Es geht nicht um die arbiträren (und wissenschaftlich nicht zu beschreibenden)3 Wirkungen, die ein Text auf die Sinne (oder deren imaginäre Entsprechungen) des Rezipienten haben kann, sondern um eine steuerbare, vom Dichter geschaffene (somit textuell nachvollziehbare) und von einem Rezitator verwirklichte Regie, welche die Sinne der Rezipienten erregen soll. Ziel ist die Beschreibung einer ganz bestimmten Sensation: Wenn man die Rezeption des verlesenen höfischen Romans als eine durchgehend multisensuelle Teilhabe des Zuhörers am Text begreift, als einen Fluss, der die Sinne ergreift und mit sich reißt, was passiert dann, wenn dieser Fluss unversehens versiegt oder – den Worten Foucaults folgend – der abge1 Michel Foucault, »Das unendliche Sprechen«, in: Michel Foucault, Schriften zur Literatur, übers. Karin von Hofer und Annelise Botond, Frankfurt am Main 1988, 90 – 103, hier 90. 2 Vgl. Wolfgang Welsch, »Ästhetik außerhalb der Ästhetik – Für eine neue Form der Disziplin«, in: Wolfgang Welsch, Grenzgänge der Ästhetik, 4. Aufl., Stuttgart 1996, 135 – 177. 3 Auf die Verfasstheit der Sinne, die bei der Rezeption einer Romanverlesung zum Einsatz kommen, kann an dieser Stelle nicht zur Genüge eingegangen werden. Es wird hier implizit von der Annahme ausgegangen, dass ein Rezipient jenseits seiner Physis auch mittels der Sinne eines ›Körperschemas‹ fühlt, eines imaginären Abbilds seines Körpers, das die fiktiven Reize einer realen körperlichen Teilhabe bereitstellt (vgl. Hans Joas, »Die Konstruktion des Körperschemas«, in: Hans Joas, Die Kreativität des Handelns, Frankfurt am Main 1992, 245 – 269). Zur Auseinandersetzung mit diesem Phänomen hinsichtlich der mittelalterlichen Romanverlesung verweise ich auf meine bald erscheinende Dissertation (vgl. Matthias Däumer, Stimme im Raum und Bühne im Kopf. Untersuchung des performativen Potentials der höfischen Epen [erscheint voraussichtlich 2011], Kapitel 2.2.1).
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schickte Pfeil der Erzählung abrupt aufgehalten wird? Die Medialität des höfischen Romans erzwingt es geradezu, diesem Phänomen Aufmerksamkeit zu schenken, wurde er doch in Teillesungen und somit im Format des Seriellen performativ verwirklicht. Eine Definition des Begriffs ›Serialität‹ birgt das Problem, sich gegen viele Vorurteile durchsetzen zu müssen, da die ideale Ausprägung des seriellen Erzählens heutzutage die Fernsehserie ist, die trotz des wachsenden wissenschaftlichen Interesses häufig immer noch als niedere künstlerische Ausdrucksform gilt.4 Entfernt man sich auf verwundenen definitorischen Pfaden zu weit von dieser vorurteilsbelasteten Form des Seriellen, wird definitorische Arbeit jedoch zur Farce: Man sieht, wie zum Beispiel Werner Faulstich in seiner Untersuchung der Serialität aus kulturwissenschaftlicher Sicht, in der Serie ein »Formprinzip des Erzählens überhaupt«5, ein strukturelles Merkmal aller Künste,6 ein »Handlungsprinzip im Alltag«, das Movens hinter den gewählten Stellungen beim Sex oder erhebt es gar zum allgemeinen »Wahrnehmungs- und Ordnungsprinzip des Menschen«.7 Eine weite Definition wie diese kann für eine konkrete Anwendung auf die Vortragsreihen des höfischen Romans jedoch nicht fruchten, da nach ihr alles Serie wäre. Deshalb ist es nötig, die Fernsehserie als definitorische Folie beizubehalten. Günter Giesenfeld8 definiert Serialität mittels dieser Folie als »eine Form narrativer Geschehenskonstruktion«, bei der die augenscheinlichsten Charakteristika »zunächst als solche der Präsentation, und erst in zweiter Linie als Konsequenz aus dieser in der inneren Struktur und ästhetischen Erscheinung«9 festzustellen sind. Er geht also davon aus, dass Serialität nicht als ästhetisches Prinzip entsteht, sondern vielmehr durch die Einwirkungen ökonomischer und / 4 Für einen Überblick über den Forschungsstand zur deutschsprachigen Fernsehserie vgl. Christine Mielke, Zyklisch-serielle Narration. Erzähltes Erzählen von 1001 Nacht bis zur TV-Serie (Spectrum Literaturwissenschaft 6), Berlin / New York 2006, 527 – 545. 5 Werner Faulstich, »Serialität aus kulturwissenschaftlicher Sicht«, in: Günter Giesenfeld (Hg.), Endlose Geschichten. Serialität in den Medien (Germanistische Texte und Studien 43), Hildesheim / Zürich / New York 1994, 46 – 54, hier 48. 6 Vgl. Faulstich, »Serialität«, 49 f. 7 Vgl. Faulstich, »Serialität«, 51. 8 Der vorliegende Text folgt der Definition Giesenfelds, weil diese eine Ausweitung des Begriffs auf literarische Phänomene begünstigt. Es soll hier jedoch bemerkt werden, dass sich auch in der Grundlagenarbeit Knut Hickethiers zur Fernsehserie kaum andere definitorische Parameter finden lassen (vgl. Knut Hickethier, Die Fernsehserie und das Serielle des Programms [Kultur Medien Kommunikation: Lüneburger Beiträge zur Kulturwissenschaft 2], Lüneburg 1991). 9 Günter Giesenfeld, »Serialität als Erzählstrategie in der Literatur«, in: Günter Giesenfeld, Endlose Geschichten, Serialität in den Medien (Germanistische Texte und Studien 43), Hildesheim / Zürich / New York 1994, 1 – 11, hier 1 f.
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oder medialer Umstände auf das Kunstwerk, die sich eher zufällig als intendiert in bestimmten ästhetischen Formen niederschlagen. Die ›Variation des Schemas‹ ist eine weitere Eigenschaft des Seriellen, die Giesenfeld, Umberto Eco und anderen als ihr zentrales Gestaltungsprinzip gilt.10 Während das Monoton-Rituelle eine beruhigende Wirkung hat und die Serie zur idealen Form der Fernsehunterhaltung macht, ist die Variation innerhalb des ritualisierten Schemas das, was einen Hauptteil des Reizes der einzelnen Episode ausmacht. Eco spricht von der dem Seriellen eigenen »Dialektik zwischen Repetition und Innovation«11. Die (Fernseh-)Serie hat aufgrund der dargelegten Dialektik zwei verschiedene Ebenen der Rezeption: einerseits den naiven Reiz der Wiederholung und andererseits die reflektierende Lust an der in der Wiederholung eingebetteten Variation. Diese Dialektik bringt eine reduzierte Spannbreite der Dramatik mit sich (da das Strickmuster der Serie schnell zu durchschauen ist) sowie eine Offenheit der Handlungsstruktur. Dieses bezeichnet Giesenfeld sehr treffend als einen »Gegensatz zum Erzählen vom Typ Entwicklungsroman«12, da ein solches Erzählen stets auf ein kalkuliertes Ende hin orientiert ist, während die Serie zwar innerhalb der Episoden Enden hat, jedoch ebenfalls Elemente eines ›unendlichen Sprechens‹ (Foucault) beinhaltet. Dieses Nebeneinander von episodischem und (potentiell) unendlichem Erzählen ist ein weiteres grundlegendes Prinzip des Seriellen.13 Die richtige Mischung aus endlich-episodischen und (potentiell) unendlich-linearen Erzählelementen trägt viel zum Erfolg einer Fernsehserie bei.14 Das Serielle als ästhetisches Prinzip kann somit als eine Mischung aus zirkulärem und linearem Erzählen beschrieben werden, dessen Wirkung zwischen ritueller Beruhigung und Freude an der Variation oszilliert.15 10 Vgl. Umberto Eco, »Serialität im Universum der Kunst und der Massenmedien«, in: Umberto Eco, Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen, hg. Michael Franz, übers. Rolf Eichler, Leipzig 1990, 301 – 324. 11 Eco, »Serialität«, 314. 12 Giesenfeld, »Serialität«, 4. 13 Hickethier prägte für diesen Zusammenhang das Schlagwort der ›doppelten Formstruktur‹ der Serie (vgl. Hickethier, Fernsehserie, 10). 14 So gibt es beispielsweise nur sehr wenige Episoden der international erfolgreichen Sitcom Friends in denen sich nicht die eine oder andere Anspielung auf den linear erzählten Ablauf der Liebe zwischen Ross und Rachel findet, welche die Fans weltweit für zehn Jahre bei der Stange hielt. Dass die Geschichte dieser Liebe nach der zehnten Staffel doch schließlich zu einem Ende fand, ergab sich nicht aus den narrativen Notwendigkeiten, sondern eher aus den realen Bedingungen der Produktion. In dieser Hinsicht ist vielleicht The Simpsons als die ideale Form der Fernsehserie zu betrachten, da bei gezeichneten Charakteren das unendliche Erzählen nur im geringen Maße vom realen linearen Zeitverlauf (dem Schauspieler ausgeliefert sind) gehindert wird.
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Überträgt man diese Definition des Seriellen auf den Artusroman, so fallen einige Übereinstimmungen auf. Auch die Erzählung vom Artushof begreift sich – zumindest im späten 12. und frühen 13. Jahrhundert – als unendlich, sich jenseits der Grenzen des einzelnen Texts fortsetzend. Warum sonst hätten sich so viele Dichter immer wieder auf das gleiche Figureninventar gestürzt, sich intertextuell vernetzt und den Artushof stets aufs Neue beschrieben, wenn nicht aus dem Grund, dass sie der damit evozierten fiktiven Welt einen infiniten Status und Artus, dem Zentrum dieser Welt – im Gegensatz zu den linear erzählten Kompilationen, welche die Artuswelt linear bis zum Tod des Königs erzählen16 – eine Unsterblichkeit zusprachen? Der nachklassische Artusroman Die Krone des Heinrich von dem Türlin kann mit seinem zirkulären Zeitverlauf 17 und der Weigerung, trotz vorheriger Ankündigung, Artus am Ende des Romans sterben oder gar die Gralssphäre die Artussphäre überschatten zu lassen, als ein groß angelegtes Manifest dieser unendlichen Präsenz gelesen werden.18 Durch dieses Verständnis der Artuswelt wird jeder einzelne der Romane zu einer Episode in einem größeren Fortsetzungszusammenhang: Selbst wenn der Weg des jeweiligen Protagonisten beendet ist, stellt der einzelne Roman ein zyklisches, d. h. ein stets im Vortrag zu erneuerndes Gebilde dar. Dass der Held sich im Verlauf der Vortragsreihen auf lineare Art und Weise zu entwickeln scheint, ist dabei kein Bruch mit dem zyklischen Prinzip des Seriellen, bleibt seine Welt doch stets die gleiche und bietet die Basis für die vom nächsten Helden zu drehende Kapriole. Wir haben es also auch beim Artusroman des 12. und 13. Jahrhunderts mit einem ›unendlichen Erzählen‹ zu tun, welches episodische bzw. zyklische Muster mit einem linearen Fortschreiben verbindet. 15 Mielke kommt zu einer ähnlichen Definition von Serialität. Basierend auf dieser unternimmt sie eine weitfassende kulturwissenschaftliche Untersuchung, welche die Konstanz serieller Phänomene eindrucksvoll belegt. Als Objekt bleibt der höfische Roman und als Formprinzip des Seriellen der Cliffhanger bei Mielke jedoch weitestgehend unbeachtet (vgl. Mielke, Zyklisch-serielle Narration). 16 Gemeint sind hier bspw. der altfranzösische Prosaroman La Mort le Roi Artu aus den ersten Jahrzehnten des 13. Jh.s oder die im 15. Jh. entstandene Zusammenstellung Le Mort Darthur des Briten Sir Thomas Malory. Die Titel beider Werke zeugen vom Bewusstsein der Kompilatoren, dass ihr Vorhaben, alle Geschichten um Artus herum zu bündeln und zu einem linearen Erzählstrang zu formen, unweigerlich zur Zeitigung des um die Wende vom 12. auf das 13. Jh. noch unsterblich gedachten Garanten der fiktionalen Welt führen muss. 17 Vgl. Uta Störmer-Caysa, »Zeitkreise in der ›Crône‹ Heinrichs von dem Türlin«, in: Arthur Groos und Hans-Jochen Schiewer (Hgg.), Kulturen des Manuskriptzeitalters. Ergebnisse der Amerikanisch-Deutschen Arbeitstagung an der Georg-August-Universität Göttingen vom 17. bis 20. Oktober 2002, Göttingen 2004, 321 – 340. 18 Vgl. u. a. Alfred Ebenbauer, »Fortuna und Artushof. Bemerkungen zum ›Sinn‹ der ›Krone‹ Heinrichs von dem Türlin«, in: Alfred Ebenbauer (Hg.), Österreichische Literatur zur Zeit der Babenberger. Vorträge der Lilienfelder Tagung 1976 (Wiener Arbeiten zur germanistischen Altertumskunde und Philologie 10), Wien 1977, 25 – 49.
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Bezüglich der das Serielle konstituierenden Wechselwirkung von Schema und Variation bzw. der damit einhergehenden Rezeptionsarten des ›naiven Reizes des Rituals‹ und der ›reflektierenden Lust an der Variation‹ lassen sich strukturelle und genreabhängige Strategien unterscheiden. Strukturell ist an den Umgang mit parallel konstruierten Episoden wie denen im doppelten Kursus19 der klassischen Artusromane zu denken, da hier zwei Episoden nach dem gleichen Muster erzählt werden, bei der zweiten jedoch eine signifikante Variation stattfindet. Wenn diese Variation nichts anderes als eine bloße Steigerung ist, führt dies – vor allem aus moderner Sicht – zu der definitorischen ›reduzierten Spannbreite der Dramatik‹. Eine Art des genre- bzw. epochenabhängigen Umgangs mit der signifikanten Variation des Schemas findet sich in den Hybridisierungserscheinungen der nachklassischen Texte, welche die gewohnte fiktionale Welt des Artushofs heraufbeschwören (Schema), sie jedoch mit Elementen anderer Gattungen verbinden (Variation).20 Die Überschneidungen der an der Fernsehserie erarbeiteten Definition des Seriellen mit den Charakteristika des Artusromans könnten reiner Zufall sein oder für einen Mangel in der Definition selbst sprechen. Um dem Eindruck der Willkür und des Defizitären entgegenzuwirken, soll hier im Konkreten ein gemeinsames Phänomen der modernen Fernsehserie und des mittelalterlichen seriellen Romanvortrags aufgezeigt werden. Beim seriellen Erzählen kommt es zur Ausbildung bestimmter narrativer Muster. Eines davon ist der Cliffhanger, der plötzliche Abbruch der Erzählung bzw. das Einfrieren der fiktiven Handlung in einem Bild latenter Aktion.21 Dieser Vorgang erzeugt im Rezipienten
19 Vgl. Hugo Kuhn, »Erec«, in: Hugo Kuhn und Christoph Cormeau (Hgg.), Hartmann von Aue, Darmstadt 1973, 17 – 48. 20 Als Beispiel sei hier der eher den Spielmannsepen als dem Artusroman zugehörige Titelheld aus des Strickers Daniel von dem Blühenden Tal genannt (vgl. Stricker, Daniel von dem Blühenden Tal, hg. Michael Resner, Tübingen 1983). Zum Status solcher ›hybriden Helden‹ vgl. u. a. Stephan Fuchs, Hybride Helden. Gwigalois und Willehalm. Beiträge zum Heldenbild und zur Poetik des Romans im frühen 13. Jahrhundert, Heidelberg 1997. 21 Martin Jurga definiert den Cliffhanger wie folgt: »Es handelt sich um den abrupten Handlungsabbruch an einer besonders spannenden Stelle, der der Markierung des Endes einzelner Erzählsegmente und -einheiten dient und den (temporären) Endpunkt eines klimatischen Handlungsverlaufs bildet. Dieses Mittel [ . . . ] hat spezifische Funktionen innerhalb serieller Texte und dient der Aufrechterhaltung der Zuschauer-Text-Beziehung, die – das wäre der Idealfall – sich zu einer Gesamtrezeption der Serie verfestigt (bzw. habitualisiert)« (Martin Jurga, »Der Cliffhanger. Formen, Funktionen und Verwendungsweisen eines seriellen Inszenierungsbausteins«, in: Herbert Willems und Martin Jurga [Hgg.], Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch, Wiesbaden 1998, 471 – 488, hier 472). Es bestehen Ähnlichkeiten, jedoch auch elementare Abweichungen zur Definition
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Spannung auf das Wiederanheben der Erzählstimme und die damit einhergehende Freisetzung des Latenzzustands in erneute Handlung. Martin Jurga beschreibt die Wirkung des Cliffhangers auf den Rezipienten nach Isers Leerstellenkonzept22 als Aufruf zur Beteiligung: Die Leser [ . . . ] werden zu ›Mitautoren‹, indem sie den ausstehenden Handlungsverlauf antizipieren und die durch die Segmentierung auftretenden Informationslücken eigenhändig auffüllen. Die Cliffhanger haben in diesem Prozeß eine wichtige Funktion: Sie sollen die Beteiligung am bzw. die Einbindung der Zuschauer oder Leser in das erzählte Geschehen aufrechterhalten oder verstärken.23
An dieser Stelle deckt sich das im vorliegenden Beitrag angestrebte Konzept des Cliffhangers nicht mit dem der Medienwissenschaft. Denn es scheint doch sehr einseitig und zu sehr die Ratio des Rezipienten gegenüber seiner emotionalen Teilhabe am fiktionalen Geschehen betonend, den plötzlichen Abbruch als einen Aufruf zur ›Mitautorschaft‹ zu sehen. Natürlich werden die Rezipienten eines Cliffhangers die abgebrochene Erzählung in ihrer Fantasie fortführen, doch die Autorität einer ›Autorschaft‹ liegt ganz klar in den Händen der Fortsetzer der Erzählung. Deshalb scheint es ratsam, den Effekt nicht nur im Sinne der rational konstruierten und ebenso rational genutzten Leerstelle zu verstehen, sondern im Sinne eines irrationalen Traumas zu beschreiben, welches durch den plötzlichen Wechsel aus der Fiktion in die Realität ihrer Vermittlung entsteht. Ein Trauma wie dieses wirkt zwar sekundär auch auf die Imagination, primär aber auf eine Einschreibung ins Körpergedächtnis des Rezipienten ein; nicht die imaginatio, sondern die memoria ist als primäres Ziel des Cliffhangers zu betrachten. Dieses Verständnis des Cliffhangers als Einschreibung in die memoria deckt sich auch mit dem psychologischen Mechanismus des ›Zeigarnik-Effekts‹, auch ›Cliffhanger-Effekt‹ genannt.24 Die Psychologin Bljuma Wulfowna Zeigarnik beschrieb anhand von Experimenten im Bereich der gestaltpsychologischen Handlungstheorie im Jahr 1927 diesen Effekt aus der Beobachtung heraus, dass unerledigte Handlungen im besonderen Maße Einfluss auf das Gedächtnis des Menschen haben und (ähnlich wie das Trauma) zu Handlungszwängen führen können.25 Überträgt man diese psychologische Beobachtung auf das Rezepder rhetorischen ›Katapher‹ und des ›offenen Endes‹, welche Vincent Fröhlich in seiner Monographie zu Tausendundeiner Nacht gegen die Spezifika des Cliffhangers abgrenzt (vgl. Vincent Fröhlich, 1001. Motive und Strukturen aus 1001 Nacht in Filmen und Büchern der Gegenwart [Arabische Welt im Dialog. Inter- und intrakulturelle Perspektiven 2], Münster 2010, 24 – 31). 22 Vgl. Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1984, 297 f. 23 Jurga, »Cliffhanger«, 474. 24 Vgl. Fröhlich, 1001, 26.
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tionsverhalten beim Cliffhanger, so geht es dem Rezipienten einer Serie nur im geringen Maße darum, den Fortgang einer Handlung zu erfahren, und erst recht nicht darum, die eigene imaginierte Möglichkeit einer Fortführung mit der tatsächlichen zu vergleichen (wie dies Jurga impliziert), sondern es ist ihm ein grundlegendes und vom konkreten Geschehensverlauf unabhängiges Bedürfnis, das Offene des Handlungsstrangs zu schließen – auf welche Art auch immer. Bis das erneute Aufgreifen der Erzählung stattfindet, lässt die Erzählung den Rezipienten mit einem nicht abzuschließenden Mikro-Trauma allein, welches durch das rigorose Zurückschleudern seiner durch Fiktion erregten Sinne in die Realwelt entstanden und (vorübergehend) Teil seines Körpergedächtnisses geworden ist. Betrachtet man den Cliffhanger als ein historisches Phänomen, lohnt es sich, mit einer Erzählung aus der Steinzeit zu beginnen: Die Stammesgesellschaft sitzt um ein Lagerfeuer herum, verzehrt, was sie gerade gefangen hat, es wird etwas erzählt, und da wird man unterbrochen durch eine Gefahr, eine notwendige Arbeit. Man bricht auf und der Schluss wird erst beim nächsten Lagerfeuer erzählt.26
So stellt sich Knut Hickethier die Entstehung der ersten seriellen Erzählung vor. So kalauerverdächtig diese Imagination ist, so sehr verdeutlicht sie ein grundlegendes Charakteristikum des Cliffhangers: Er ist zu Beginn kein ästhetisches Konstrukt, sondern vielmehr ein Produkt äußerer Einwirkung auf die Erzählung. Mit dem Paradigma des Seriellen im Hinterkopf fällt es einem nicht so schwer, wie es zu erwarten wäre, vom Lagerfeuer zum Fernseher zu wechseln: ›Die deutsche Gesellschaft sitzt um einen Fernseher herum, verzehrt, was es zum Abendessen gibt, es wird etwas erzählt, und da wird man unterbrochen, die ARD schaltet zum Weltspiegel. Man bricht geistig auf ins internationale Geschehen und der Schluss wird erst am nächsten Sonntag erzählt.‹ So hört sich eine Kontrafaktur von Hickethiers Ursprungserzählung an, wenn man sie auf die allwöchentliche Ausstrahlung der Lindenstraße27 bezieht. Auch hier endet jede narrative Etappe mit dem unvermeidlichen Cliffhanger und setzt erst später wieder ein, zu einem Zeitpunkt, an dem die reale und im Falle der Linden25 Vgl. Bljuma Wulfowna Zeigarnik, »Das Behalten erledigter und unerledigter Handlungen«, Psychologische Forschung 9 (1927), 1 – 85. 26 Diese Vorstellung beschwört Knut Hickethier im Rahmen einer im Sammelband Endlose Geschichten transkribierten Podiumsdiskussion herauf (vgl. »Diskussion: Etwas Aufregung und etwas Abregung«, in: Günter Giesenfeld [Hg.], Endlose Geschichten. Serialität in den Medien [Germanistische Texte und Studien], Bd. 43, Hildesheim / Zürich / New York 1994, 33 – 37, hier 37). 27 Vgl. Lindenstraße, Produzent: Jürgen Knieper (Das Erste, ARD, seit 1985).
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straße auch die fiktive Zeit um ein bestimmtes Intervall weitergerückt sind. Jedoch herrscht hier ein entscheidender Unterschied: Während der steinzeitliche Erzähler selbst nichts von dem Zeitpunkt wusste, an dem er seine Erzählung abzubrechen hatte, sind sich die Produzenten der Lindenstraße sehr wohl bewusst, dass jede ihrer Episoden nur 30 Minuten dauert. Die Einwirkung von außen ist nicht mehr eine Koinzidenz; hier geht es um Kalkül: Der Zuschauer, in dem der konstruierte Cliffhanger am Ende der Episode Neugierde geweckt hat, wird auch nächsten Sonntag wieder einschalten – das Mammut der Lindenstraße nennt sich Quote. Unabhängig von dieser Einwirkung von außen ist es den Drehbuchschreibern der Lindenstraße aber im Gegensatz zu einem durch ein unvorhersehbares Ereignis unterbrochenen Erzähler möglich, den Cliffhanger zu planen. Die intendierte Serialität ermöglicht es, die ehemals durch eine zufällige, äußere Wirkung bestimmte Bruchstelle der Erzählung zu funktionalisieren und – dies ist hier entscheidend – ästhetisch zu formen und so wieder in die Wirkungsgrenzen des Kunstwerks zurückzuholen. Im Vergleich dieser ›Ursprungserzählung‹ und der heute populärsten Form des Cliffhangers kann man eine Ästhetisierung des Phänomens feststellen, die den ehemals zufälligen Abbruch zu einem planbaren narrativen Stilmittel werden ließ. Das narrative Stilmittel des Cliffhangers kann – im Gegensatz zu seiner koinzidenten Variante – kulturhistorisch an diversen Beispielen belegt werden. Zu denken ist, neben dem anvisierten Forschungsgegenstand, an die Vortragspraxis der Rhapsoden, die den Homerschen Epen abzulesen ist,28 die narrativen Techniken der Ritterromane des 16. Jahrhunderts29 oder die Entstehung der modernen seriellen Formate,30 die im Gegensatz zu ihrer Übergewichtung in der 28
Vgl. Gustav Adolph Seeck, Homer. Eine Einführung, Stuttgart 2004, 18 f. und 51 f. Der international bekannteste Ritterroman des 16. Jh.s Amadis von Guala, der 1508 in Spanien als Vierteiler gedruckt wurde, erschien in seiner deutschen Version von 1569 bis 1595 in insgesamt 24 Büchern (vgl. Jörg Jochen Berns, »Frühformen des Seriellen in Theaterpraxis und Erzählliteratur des 15. und 17. Jahrhunderts«, in: Günter Giesenfeld [Hg.], Endlose Geschichten, Serialität in den Medien [Germanistische Texte und Studien 43], Hildesheim / Zürich / New York 1994, 12 – 24, hier 22), ein jedes mit einem abrupten Abbruch des Erzählflusses, der den Verlegern den kommerziellen Erfolg des Folgebandes sichern sollte. Eine grandiose Parodie dieses seriellen Verfahrens im Allgemeinen sowie des besagten spanischen Erfolgsromans im Speziellen findet sich am Umbruch vom 8. zum 9. Kapitel im ersten Band von Cervantes Don Quijote (vgl. Miguel de Cervantes, Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha, übers. Ludwig Braunfels, München 1979, 75). 30 Mit dem Erscheinen der ersten Tageszeitung (1650) und vor allem dem ersten Zeitungsroman (1668) nehmen die Möglichkeiten der massenökonomischen seriellen Produktion Einfluss auf das Erzählen (zum Beispiel beim Kolportageroman). Seine Perfektionierung als ökonomisches Prinzip erfährt der Cliffhanger schließlich auf optisch-narrativer Ebene in den im wöchentlichen Takt ganzseitig in Zeitungen erscheinenden frühen Comics der 1930er Jahre und auf akustisch-narrativer Ebene in den ebenfalls in den 1930er und 40er Jahren von der amerikanischen Waschmittelindustrie gesponsorten seriellen Radio-Hör29
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Medienwissenschaft nur die Spitze des Eisbergs ausmacht. Besondere Aufmerksamkeit bezüglich der historischen Entwicklung des Cliffhangers gebührt der Wesirstochter Shahrazad, die sich jede Nacht vor dem König Shahriyar und dessen Schwur, jede seiner Sexualpartnerinnen nach der ersten Liebesnacht zu töten, rettet, indem sie ihm abends eine Geschichte erzählt, die sie jedoch an der spannendsten Stelle abbricht, so dass Shahriyar sie eine weitere Nacht am Leben lässt.31 Die Beschreibung des Cliffhangers als lebenserhaltendes Prinzip ist hier einmal mehr eine Verbildlichung dessen, was Foucault als die Eigenschaft der Erzählung bezeichnet, welche diesem Beitrag als Motto diente: Schreiben, um nicht zu sterben, [ . . . ] oder vielleicht auch sprechen, um nicht zu sterben, ist wahrscheinlich eine Beschäftigung, die so alt ist wie das Wort. Die todbringendsten Entscheidungen bleiben für die Zeit der Erzählung zwangsläufig in der Schwebe. Die Rede hat bekanntlich die Macht, den schon abgeschickten Pfeil aufzuhalten in einem Bruchteil von Zeit [ . . . ].32
Der Zusammenhang dieser Sätze mit Tausendundeiner Nacht besteht auf mehreren Ebenen: Es handelt sich bei Shahrazads Erzählstrategie um einen narrativen coitus interruptus, der Shahriyars Lust (an der Erzählung statt an der Erzählerin) entfacht, nur um ihm stets aufs Neue die Befriedigung zu versagen und so die ›todbringende Entscheidung‹ des Orgasmus immer weiter aufschiebt.33 Ebenso eröffnet sich eine andere Bedeutungsebene, wenn man sich die künstliche Bildung des sprechenden persischen Namens des Königs vor Augen führt: Shahriyar bedeutet ›König der Zeit‹, was einerseits als ›der größte König seiner Epoche‹ gelesen werden kann,34 andererseits jedoch genauso die Macht des Cliffhangers verbildlicht: Shahrazad stoppt mit ihrer Erzählung das Walten des ›Königs der Zeit‹; sie friert die erzählte Handlung bis zur nächsten Nacht ein und verhindert so ihre Segnung des Zeitlichen im todbringenden Abschluss der Erzählung.35 Diese symbolische Vieldeutigkeit der Rahmung von spielen, den so genannten ›Soap Operas‹, die in vielen Aspekten als die direkten Vorläufer heutiger Fernsehserien gelten können (vgl. Knut Hickethier, »Serie«, in: Hans-Otto Hügel [Hg.], Handbuch Populäre Kultur, Stuttgart / Weimar 2003, 397 – 403, hier 398 f.). 31 Vgl. Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten, übers. Enno Littmann, Frankfurt am Main 1976. 32 Foucault, »Das unendliche Sprechen«, 90. 33 Vgl. Fedwa Malti-Douglas, »Homosociality, Heterosexuality and Shahrazad«, in: Ulrich Marzolph und Richard van Leeuwen (Hgg.): The Arabian Nights Encyclopedia, Vol. 1, Santa Barbara / Denver / Oxford 2004, 38 – 42, hier 39. 34 Vgl. Enno Littmann, »Anhang. Zur Entstehung und Geschichte von tausendundeine Nacht«, in: Die Erzählungen aus den Tausendundein Nächten, Frankfurt am Main 1976, 674 – 738, hier 668. 35 Ich sehe – ganz im Gegensatz zu Richard van Leeuwens Lesart von Shahraz ads Handlung als Restauration der historischen Zeit (vgl. Richard van Leeuwen, »The Art of Interruption: The Thousand and One Nights and Jan Potócki«, Middle Eastern Litera-
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Tausendundeiner Nacht, von der die hier vorgeschlagenen Lesarten nur einen minimalen Bruchteil darstellen, zeugt von einer starken Selbstreflexivität bezüglich des Cliffhangers,36 welche bei intendierter Serialität einen konstituierenden Bestandteil des Phänomens ausmacht und ihm bis in unsere Zeit inhärent ist.37 Da der Cliffhanger sozusagen in Serie die Sinne reizende Bilder erzeugt, die der Rezipient in der Zeit zwischen den Episoden wie in den Körper eingeschrieben mit sich trägt, ist er im besonderen Maße dazu fähig, sich im ikonographischen Gedächtnis einer Kultur festzusetzen. Der Cliffhanger transformiert die Sinne des Rezipienten zum Mittel einer sowohl individuell-körperlichen als auch gesellschaftlichen memoria. Die erinnerungstechnische Funktionalisierung ist natürlich umso effektiver, je länger die Zeit zwischen den Episoden ist. So hat ein Cliffhanger der Lindenstraße nur eine sehr kurze Haltbarkeit: Schon am nächsten Sonntagabend ist er wieder vergessen und durch ein neues Standbild ersetzt worden. Anders verhält es sich bei Cliffhangern im Kino, wo zwischen dem Latenzzustand und seiner Auflösung in Aktion oftmals mehrere Jahre vergehen können. Die cineastische Festschreibung von Cliffhangern wird dementsprechend sehr bewusst betrieben.38 tures, 7 / 2 [Juli 2004], 183 – 198, hier 189) – die Erzählungen der Wesirstochter als eine lebenserhaltende Flucht aus der endlich-historischen in die unendlich-mythische Zeit der Fiktion, wobei letztendlich im Verlauf der Rahmenerzählung der Mythos die Historie überlagert und die Zeitigung des Lebens erlischt. 36 Vgl. Mielke, Zyklisch-serielle Narration, 49 – 58. 37 Der medialen Aktualität von Shahraz ads Erzählstrategie bezüglich der heutigen Fernsehserie verleiht Vincent Fröhlich mit den folgenden Sätzen Ausdruck: »Sie [Shahrazad] versucht bei König Schahriyar so etwas wie eine ›Programmtreue‹ zu ihrer ›Erzählsendung‹ zu erreichen, damit sie nicht ›aufgrund geringer Einschaltquoten abgesetzt‹ wird« (Fröhlich, 1001, 26). 38 So ist es keineswegs Zufall, dass man den bärbeißigen Helden einer der erfolgreichsten modernen Sagen, Star Wars, meist in einer Situation am Ende des zweiten Teils erinnert, in der er, kurz nachdem die Prinzessin ihm endlich ihre Liebe gesteht und er dies mit einem alle Emotionen in der Schwebe haltenden »I know« quittiert, in voller Bewegung in Carbonit eingefroren wird (vgl. Star Wars: The Empire Strikes Back, Regie: Irvin Kersher (20th Century Fox / Lucasfilm 1980), 1:30:50 – 1:33:55). Han Solo wird in dieser für Figur wie Publikum ›traumatischen‹ Situation zum Stand- und Sinnbild der erstarrten Narration, dem ›aufgehaltenen Pfeil‹ (Foucault), welcher erst im dritten Star Wars-Teil wieder in Bewegung gerät. Ähnlich einprägsam funktionieren viele Filmplakate, vor allem die der Horrorklassiker der späten 1950er und 1960er Jahre. Als Beispiele mögen hier der Horrorklassiker The Blob / Blob, der Schrecken ohne Namen (vgl. The Blob, Regie: Irvin Yeaworth [Paramount Pictures 1958]) oder Alfred Hitchcocks Psycho (vgl. Psycho, Regie: Alfred Hitchcock, [Paramount Pictures / Universal Pictures 1960]) dienen, wobei letzterer die Cliffhanger-Ikonographie dazu einsetzt, den Zuschauer irrezuführen, indem er auf dem Plakat Norman Bates als vermeintliches Opfer stilisiert. Ein postmodernes Genrezitat dieser Darstellungstechnik liefert das Filmplakat von Wes Cravens Scream
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Wenn wir uns nun den Cliffhangern des Mittelalters zuwenden, so müssen wir mit der medial bedingten Variante beginnen, um uns, ähnlich wie im letzten Abschnitt, zu einer Tendenz der Autonomisierung und somit Ästhetisierung des Phänomens vorzuarbeiten. Wenn das serielle Erzählen (jenseits seiner ästhetischen Formbarkeit) durch eine Einwirkung von Außen ausgelöst wird, so bedeutet die Beschreibung der bedingten Serialität beim höfischen Roman, eine Wechselwirkung von textinternen und textexternen Phänomenen zu beleuchten. Die textexternen Phänomene, welche als prägend für das Erzählen im 12. und 13. Jahrhundert gesehen werden können, sind die medialen Bedingungen, in denen Textgattungen wie der höfische Roman existieren. Es geht also um die Betrachtung von Texten, die in eine mediale Landschaft eingebettet sind, welche als heterogenes Feld oraler Erzähltradition, neu entdeckter Schriftlichkeit und der performativen Verwirklichung dieser Schriftlichkeit beschrieben werden kann.39 Wenn man sich den Text – dem letzten dieser drei medialen Zustände entsprechend – als Partitur performativer Praktiken vor Augen führt, wird die äußerliche Bedingtheit der Texte zum Teil offensichtlich: Ein höfischer Roman wie der Parzival kann aufgrund seines Umfangs nur ähnlich wie bei den Rhapsoden in einzelnen Etappen zur Aufführung gebracht worden sein.40 (vgl. Scream, Regie: Wes Craven [Dimension Films 1996]). Hier sieht man eine Schauspielerin, die mit aufgerissenen Augen und zum schreienden Mund erhobener Hand im Stil des Cliffhangers den Latenzzustand eines grauenvollen Geschehens darstellt, dessen Freisetzung in Handlung der angepriesene Film verspricht. Der Cliffhanger erhält beim Filmplakat einen autonomen Status: Er ist weder eine Ausformung des Seriellen noch abhängig von einem Erzählfluss; gewissermaßen scheinen die Filme selbst nur die Fortsetzungen dieser Cliffhanger zu sein. Als Zwischenstufe zwischen der absoluten Autonomisierung des Cliffhangers im Plakat und seiner handlungsabhängigen Verwendung im Film ist seine Funktionalisierung in ›Trailern‹ oder ›Teasern‹ zu verstehen (vgl. Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1984, 298). Die sinnliche Wahrnehmung des Cliffhangers wird bei Plakaten und Trailern unabhängig vom seriellen Format zu einem Auslöser der Erwartung von Sensationen. 39 Es hat sich eingebürgert, den mittelalterlichen Hof als eine Sphäre der Bimedialität zu beschreiben (vgl. u. a. Horst Wenzel, »Einführung: Aufführung und Repräsentation«, in: Jan-Dirk Müller (Hg.), ›Aufführung‹ und ›Schrift‹ in Mittelalter und Früher Neuzeit [Germanistische Symposien Berichtsbände XVII], Stuttgart / Weimar 1994, 141 – 148, hier 141 f.), also als ein Neben- und Ineinander von mündlicher Tradition und schriftlicher Innovation. Die Textverlesung wird dabei als eine ›Amalgamation‹ der medialen Zustände ›Oralität‹ und ›Skripturalität‹ gesehen. Von dieser Sichtweise wird in diesem Beitrag Abstand genommen, da es aus dem Blickwinkel der Performanztheorie ungenügend erscheint, die Verlesung eines schriftlich komponierten, aber stets auf seine performative Verwirklichung zugedachten Texts als uneigenständiges Produkt fremder Medialitäten zu sehen. Aus diesem Grund soll der mittelalterliche Hof als (mindestens) trimediale Sphäre verstanden werden, in der ›Oralität‹, ›Skripturalität‹ und ›Performativität‹ nebeneinander existieren (vgl. Däumer, Stimme im Raum, 1. Kapitel). 40 Wolfgang Mohr schildert einen Selbstversuch zur Ermittlung der Vortragszeit des Parzival wie folgt: »[I]ch [habe] einmal in Kiel den Versuch gemacht [ . . . ], den Studenten
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Es muss einen Rezitator gegeben haben, der den schriftlich vorliegenden Text in einen performativen Akt transformierte. Zu dieser Umformung gehörte auch, dass man für seinen Vortrag eine der Aufmerksamkeitsspanne des Publikums angemessene Länge41 und ein publikumswirksames Ende bzw. den richtigen Anfang der nächsten Teillesung fand.42 Es sollen hier exemplarisch einige (mögliche) Vortragsumbrüche vorgestellt werden. Der erste stammt aus der Krone des Heinrich von dem Türlin. Dem ansonsten paargereimten Roman wurde durch Dreierreime eine abgeschlossene Mikrostruktur in rhythmische und somit auch für den Vortrag verbindliche Einheiten verliehen,43 was die Suche nach Vortragsumbrüchen erleichtert. Eine Passage des Romans, in der König Artus im Winter auf einen fremden, nur in einem Hemd herumreitenden Ritter namens Gasoein wartet, endet mit den folgenden Versen: Wie Artvse da ergienc Vnd wie er den riter enphienc, Daz enwirt niht verswigen. Da in vand der riter ligen, Da er seinr huote phlak, Den ouch der arebeit bewak, Daz er da also lange lak.44
den ganzen ›Parzival‹ vorzulesen, um, soweit das möglich ist, auszuprobieren, wie sich ein solches Werk gibt, wenn man es vor Zuhörern zu [sic!] ›Aufführung‹ bringt. Es zeigte sich, daß ein Abend wöchentlich während des Wintersemesters nicht dafür ausreichte. Die durchschnittliche ›Aufführungsdauer‹ eines der sechzehn Lachmannschen Bücher beträgt eine bis anderthalb Stunden, das neunte Buch verlangt etwa zweieinhalb Stunden [ . . . ].« (Wolfgang Mohr, »Fiktive und reale Darbietungszeit«, in: Fritz Harkort, Karel C. Peeters und Robert Wildhaber [Hgg.], Volksüberlieferung. Festschrift für Kurt Ranke zur Vollendung des 60. Lebensjahres, Göttingen 1968, 517 – 529, hier 523). 41 Eine Untersuchung zur Länge von Vortragseinheiten bei Chrétien de Troyes und Hartmann von Aue hat Hansjürgen Linke vorgenommen (vgl. Hansjürgen Linke, Epische Strukturen in der Dichtung Hartmanns von Aue. Untersuchungen zur Formkritik, Werkstruktur und Vortragsgliederung, München 1968). 42 Zu einer näheren Auseinandersetzung mit den Bruchstellen und der Methodik, diese im Text zu finden vgl. Matthias Däumer, Das performative Potential des späthöfischen Romans. Eine rezeptionsästhetische Untersuchung der ›Crône‹ Heinrichs von dem Türlin [unveröffentlichte Magisterarbeit am Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz], Mainz 2006, 46 – 62. 43 Zur Bedeutung dieser Segmentierung durch Dreierreime vgl. Wolfgang Achnitz, »Ein rîm an drîn worten stêt. Überlegungen zur Verbreitung und Funktion von Mehrreimen in mittelhochdeutscher Reimpaardichtung«, Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 129 (2000), 249 – 274. 44 Heinrich von dem Türlin, Die Krone (Verse 1 – 12281), hg. Fritz Peter Knapp und Manuela Nieser, ATB 112, Tübingen 2000, v. 4314 – 4320.
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Die nächste rhythmische Einheit beginnt wie folgt: Artvs an der huote Lach mit hohem muote, Wan daz in ser verdroz Vmb den vrost, der was groz, Vnd daz er so lang was [ . . . ].45
Gasoein hat zuvor drei Artusritter besiegt und nähert sich nun dem Protagonisten. Hier endet der erste Vortrag, indem der Erzählfluss im Bild des bibbernd am Boden liegenden Artus einfriert. Die neue Passage beginnt mit Artus’ einleitenden Gedanken zur Misslichkeit seiner Lage, was die Zuhörer erneut in die Situation einführt. Die Spannung kann sich neu aufbauen – dann erst kommt es zur Begegnung von Protagonist und Antagonist.46 Dabei knüpfen die einleitenden Verse der zweiten rhythmischen Einheit vom Wortmaterial her an die vorhergehenden Verse an (Da er seinr huote phlak und Artvs an der huote / Lach; Daz er da also lange lak und daz er so lang was). An dem aufeinander verweisenden ›Wortmaterial‹ kann man erkennen, dass der Anfang der zweiten wohl in Hinblick auf das Ende der ersten rhythmischen Einheit konstruiert wurde. Heinrich entwickelte also allem Anschein nach den Abbruch und den Neuanfang der Vorträge im Medium der Schrift; ihren Effekt erhält die Passage jedoch erst in ihrer Verlesung. Es handelt sich hier um einen skriptural komponierten, doch performativ realisierten Cliffhanger. Seine Zielsetzung steht dabei in engem Zusammenhang mit dem Inhalt der Passage: In der ersten Vortragseinheit wurde Artus von seiner Gattin Gynever beschuldigt, im Vergleich zu Gasoein zu verweichlicht zu sein; diesen Vorwurf macht sie dem Herrscher, als er sich ob der winterlichen Kälte am Kaminfeuer wärmt.47 Die Textpassage behandelt also eine mögliche Kritik am idealen Herrscher im Zusammenhang mit seiner Anfälligkeit für Kälte. Die Kälte ist dabei in vielerlei Hinsicht symbolisch zu lesen, beispielsweise als Zeichen mangelnder herr45
Heinrich von dem Türlin, Krone, v. 4321 – 4325. Bei der Rekonstruktion der Vortragsgliederungen von Chrétiens und Hartmanns Werken richtet Linke sein Augenmerk auf ›Erzähleinsätze‹, die er definiert als »Abschnittsgrenzen, die [ . . . ] nach einer Erzählpause und unmittelbar zu Beginn der Fortsetzung des Vortrags, etwa einem vergeßlichen Publikum oder auch einem eventuell neu hinzutretenden Zuhörer alle Informationen geben, denen sie zum Verständnis der erneut anhebenden Erzählung bedürfen. Deshalb nennt er [der Erzähleinsatz] vor allem die handelnden Personen oder die handelnde Person, indem er sie mit Namen oder durch eindeutige Umschreibung unmißverständlich bezeichnet, gibt ihre Lebensumstände oder die besondere Situation an, aus der heraus sich die neu einsetzende Handlung entwickelt, und faßt wenn nötig das vorausliegende Geschehen kurz wiederholend zusammen« (Hansjürgen Linke, Epische Strukturen, 26). Die Erwartungen, die Linke an einen ›Erzähleinsatz‹ stellt, sind an dieser Stelle der Krone erfüllt. 47 Vgl. Heinrich von dem Türlin, Krone, v. 3356 – 3427. 46
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schaftlicher Autorität, aristokratischer Dekadenz, geschwächter Kampfeskraft, sexueller Impotenz oder (auf poetologischer Ebene) als Kritik am statischen Bild des Herrschers im klassischen Artusroman. Bei dieser interpretatorischen Bedeutungsbreite ist es nicht verwunderlich, dass das Standbild, welches der Zuhörer über die Memorialfunktion des Cliffhangers für die Zeit zwischen den beiden Vorträgen in sich einschreiben muss, das Bild des frierenden Herrschers ist, dessen Idealität es im nächsten Vortrag auch mittels Konkretisierung der ›Kälte‹ zu rehabilitieren gilt. Diese rückwirkende Festschreibung des Bildes findet, wie sich später zeigen wird, anhand eines weiteren Cliffhangers statt. Doch zuerst ist es nötig, sich unter medialen Gesichtspunkten einen Teil der Typen von Cliffhangern vor Augen zu führen, welche in höfischen Epen vorkommen. Ein weiteres Beispiel für einen für die Performativität konstruierten Cliffhanger stammt aus einer Dichtung primär oralen Ursprungs,48 aus dem so genannten Spielmannsepos Orendel: Hier strauchelt der Titelheld, auch der Graue Rock genannt, im Zweikampf und fällt vor seinem Gegner, dem Heidenkönig Durian, nieder. Die verzweifelte Lage des Grauen Rocks wird mit allen Mitteln der Dramatik ausgeschmückt, und die Steigerung der Spannung kulminiert in folgender Publikumsansprache:49 wa ist nu der biderbe [der Grawe Roc]? er lit vor dem kunige [Durian] dar nidere und muz verliesen sin leben, man enwelle dem leser zu drinken geben.50
Wenn diese Verse nicht wie hier von der restlichen Textumgebung separiert wären, würde man leicht über sie hinweglesen, da beim Orendel keine Mikro48 Die so genannten Spielmannsepen sind erst recht spät in Handschriften aus dem 15. Jh. belegt. Aufgrund der Reimtechnik und des Sprachmaterials nimmt man jedoch eine frühe Entstehungszeit an, im Falle des oben zitierten Orendel das Ende des 12. Jh.s (vgl. Alfred Ebenbauer, »›Orendel‹ – Anspruch und Verwirklichung«, in: Alfred Ebenbauer, Fritz Peter Knapp, Peter Krämer und Klaus Zatloukal [Hgg.], Strukturen und Interpretation. Festschrift für Blanka Horacek zum 60. Geburtstag [Philologica germanica 1], Wien 1974, 25 – 63, hier 25 – 28). Grund für diese Rückdatierung ist u. a., dass es sich beim Text um den Niederschlag einer Sprachform handelt, die wegen ihrer Formelhaftigkeit stark den medialen Regeln der Oralität verpflichtet scheint, also aller Wahrscheinlichkeit nach zu den vor-skripturalen Erzählungen gehört. 49 Diese folgende Spielart des Cliffhangers war im 12. und 13. Jh. anscheinend so beliebt, dass sie sich auch in mehreren anderen Texten in leichten Variationen finden lässt, u. a. im Laurin (vgl. »Laurin & Walberan«, in: Die aventiurehafte Dietrichsepik: Laurin und Walberan, der jüngere Sigenot, das Eckenlied, der Wunderer, hg. und übers. Christa Tuczay [Göppinger Arbeiten zur Germanistik 599], Göppingen 1999, 113 – 207, hier v. 1215 – 1218) und in der Handschrift I des Münchner Oswald (vgl. Der Münchner Oswald, hg. Michael Curschmann, ATB 76, Tübingen 1974, v. 79 – 82 der Handschrift I in der Anm. zu v. 680 der Leithandschrift). 50 Orendel, hg. Hans Steiner, ATB 36, Tübingen 1935, v. 2826 – 2829.
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strukturierung – beispielsweise durch Dreierreime – vorgenommen wurde. An der Ermangelung eines textuell eindeutig markierten Umbruchs, aber auch an der Art, wie die Verse direkt auf eine trinkselige Vortragssituation verweisen, erkennt man einen unschuldigen, der reinen Oralität verpflichteten Umgang mit einem Cliffhanger, da er nur für den Hörer existiert und noch gar nicht auf die Bedürfnisse eines eventuellen Lesers eingeht. Einhergehend mit dieser reinen Performativität des Cliffhangers ist hier auch kein zwingender Zusammenhang mit dem fiktionalen Geschehen festzustellen: Der Abbruch des Vortrags setzt einfach an der spannendsten, nicht an einer interpretatorisch interessanten Stelle ein – der Cliffhanger ist bloßer Showeffekt, sein Ziel die performative Unterhaltung und nicht der intellektuelle Reiz des Traumas. Die Spuren der performativen Praxis des Cliffhangers lassen sich in nahezu allen narrativen Dichtungen des 12. und 13. Jahrhunderts finden, wobei sein Einsatz nicht unbedingt vom Vortragsumbruch abhängig ist. Selbst dem wohl bekanntesten Ritter der Tafelrunde bleibt es nicht erspart, schutzlos über einem Abgrund zu baumeln:51 er [Parzivâl] traf in [ . . . ], daz von Munsalvæsche der templeis von dem orse in eine halden reis [ . . . ]. Parzivâl der tjoste nâch volgt. dem orse was ze gâch: ez viel hin ab, deiz gar zerbrast. Parzivâl eins zêders ast [b]egreif mit sînen handen.52
Da hängt er nun, der große Held, und obwohl sich an dieser Stelle des Texts keine Spuren für einen Vortragsumbruch finden lassen, wird die brenzlige Situation trotzdem nicht sofort aufgelöst. Stattdessen zieht der Dichter es vor, den klippenhängenden Protagonisten mit einem Kommentar zu versehen: nu jehts im niht ze schanden, daz er sich âne schergen hienc.53
Im Moment der größten Spannung wird das Publikum mit einer humoristischen Apostrophe angesprochen. Das kurzzeitig eingefrorene Bild des am Zedernast baumelnden Helden wird im Stil des Cliffhangers als Pointe für eine 51 »Anlaß für die Prägung des Begriffs ›Cliffhanger‹ gaben [ . . . ] im Kino der zwanziger Jahre [ . . . ] serielle Kinofilme (Stummfilm-Serials), bei denen das zugrunde liegende Bild wörtlich zu nehmen ist« (Jurga, »Cliffhanger«, 475). 52 Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann, übers. Peter Knecht, Berlin / New York 1998, v. 444,21 – 445,1. 53 Wolfram von Eschenbach, Parzival, v. 445,2f.
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entsprechende ironische Distanzierung zum Geschehen genutzt – die Spannung kann sich im Gelächter entladen. Dabei ist hier eine Autonomisierung des Cliffhangers festzustellen, der unabhängig vom Vortragsumbruch und somit vom Format des Seriellen den traumatisch-inkorporierenden Effekt der stillstehenden bzw. latenten Handlung im Zeichen einer eigenwilligen Ästhetisierung nutzt. Ähnlich wie beim vorigen Beispiel aus dem Orendel liest man hier natürlich leicht über die Passage hinweg, um möglichst schnell die Lösung der lebensbedrohenden Situation zu erfahren – erst ein kreativ in die Präsentation der Handlung eingreifender Rezitator kann den Cliffhanger gebührlich auskosten. Der Effekt, der hiermit hergestellt wird, zielt auf eine bestimmte Erzählhaltung ab. Wir befinden uns im IX. der Lachmannschen Bücher, an einer Stelle also, an der ein Zuhörer mehrere Vortragseinheiten mit dem zweiten Helden des Romans, Gawein, hinter sich gebracht hat. Über ein Aventiuregespräch wendet sich der Vortragende wieder dem eigentlichen Gralshelden zu. Dem Zuhörer muss Parzival an dieser Stelle noch ein wenig entfremdet sein, denn er hat sozusagen in absentia des Rezipienten seine Reise fortgesetzt. Dass der Mini-Cliffhanger im Vortrag dazu genutzt wird, ironische Distanz aufzubauen, steht also ganz im Sinne der Figuren- bzw. Rezipientenführung. Das IX. Buch fährt nach Aufbau der Distanz damit fort, dem Zuhörer den Gralshelden schrittweise wieder näher zu bringen, bis zu dem Punkt, an dem er aus Trevrizents Mund den vollen Umfang von Parzivals sündhafter Misere erfährt und die Dramaturgie einer steigenden Teilhabe am Schicksal des Helden zu einem vorübergehenden Abschluss kommt. Cliffhanger, die primär für den stillen Leser konstruiert sind, also solche, die zur Entfaltung ihrer Wirkung der performativen Aktion nicht bedürfen, findet man vor allem in den nachklassischen Romanen, die noch stärker als die klassischen Texte Züge einer medialen Selbstreflexivität aufweisen.54 Abermals soll hier die Krone als Beispiel dienen. Nachdem Gasoein Artus’ entführte Gattin Gynever auf sein Pferd gehoben hat, erfolgt die Beschreibung von Gynevers Angst vor dem Ritter und ein kurzer Kommentar zu nature und girde,55 beides Begriffe, die in diesem Textzusammenhang den männlichen Geschlechtstrieb bezeichnen. An dieser Stelle deutet bereits alles auf eine Vergewaltigungsszene hin. Doch entgegen der Erwartungshaltung eines eklatlüsternen Rezipienten richtet sich der Erzählfokus nun auf Boten, die dem Artushof die traurige Nachricht von Gynevers Entführung überbringen, dann werden viele Verse der Beschreibung des trauernden Artushofs gewidmet und der Dichter verstrickt sich in einen umfangreichen intertextuellen Exkurs zu ähnlichen Trauersituationen.56 54 55 56
Vgl. Däumer, Das performative Potential, 144 – 163. Vgl. Heinrich von dem Türlin, Krone, v. 11411 – 11461. Vgl. Heinrich von dem Türlin, Krone, v. 11519 – 11606.
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Erst nach diesen Digressionen kehrt der Text zum eigentlichen Spannungsmoment der Erzählung, dem Bild des die Artusgattin lüstern begleitenden Ritters, zurück. Auf diese Weise wird das Konstruktionsmuster des Cliffhangers zu einer skriptural-narrativen Technik umgeformt: Man braucht weder das Ende des Vortrags noch das des Buches; der Cliffhanger emanzipiert sich in seiner schriftlichen Form von der durch äußere Einflüsse bestimmten Serialität. Er dient dazu, das Spannungsmoment der Erzählung in der Schwebe und die Sinne der Zuhörer in Anspannung zu halten, während die Auflösung des in latenter Aktion eingefrorenen Bildes von Gasoein und Gynever immer weiter hinausgeschoben wird. Die Digression bzw. der Perspektivenwechsel entspricht in seiner Funktion dabei dem eines Kapitelumbruchs oder eines plötzlichen Verstummens des Vortragenden. Der Effekt dieser Technik ist der gleiche wie beim performativen Cliffhanger: Der Rezipient muss sich bis zur Fortsetzung der eigentlichen Erzählung gedulden; nur wird dieses Mal der Punkt des Neueinstiegs in die Handlung nicht vom Vortragsumbruch, sondern vom Text selbst bestimmt. Aufgrund dieser (Re-)Textualisierung und Neuverortung des Cliffhangers in einer skripturalen Ästhetik erzeugt diese Textpassage auch für den modernen Leser Spannung, während ein rein performativer Cliffhanger beim medialen Wechsel zur skripturalen Rezeption leicht verloren geht.57 Des Weiteren korreliert dieser digressive mit dem Typ von Cliffhanger, der eine Vortragseinheit abschließt: Hier bot die Kälte im Bild des bibbernden Artus eine undifferenzierte Bandbreite von symbolischen Deutungen an, die der Konkretisierung bedurften. Unter Einbezug des darauffolgenden eingefrorenen Bildes vom lüsternen Gasoein engt sich die Vielzahl der Interpretationen ein: Die anhand des ersten Cliffhangers geäußerte Vermutung, dass die Kälte auf Artus’ Sexualität verweisen könnte, wird durch das im korrelierenden zweiten Cliffhanger aufgebaute Bild des sexuell aggressiven Gasoein beinahe zur Sicherheit.58 57 Es soll hier nicht behauptet werden, dass dieser durch narrative Digression bewirkte retardierende Cliffhanger in den höfischen Romanen erfunden wird: Schon Homers Odyssee beginnt mit der Situation, dass der Protagonist, von den Göttern beobachtet und schon im zehnten Jahr seiner Irrfahrt, sich in der Gefangenschaft der Kalypso befindet. Im zweiten Gesang verlässt die Narration aber den Helden und der Zuhörer zieht, an der Hand der Pallas Athene, mit nach Ithaka, wo man von der Intrige der Freier gegen Odysseus Sohn Telemachos hört. Erst im fünften Gesang kehrt die Odyssee zurück zu ihrem Protagonisten, den sie wie einen Pfeil in einem Bruchteil von Zeit (Foucault) aufgehalten hat (vgl. Homer, Die Odyssee, übers. Wolfgang Schadewaldt, Düsseldorf [u. a.] 2004). 58 Zu einer ähnlichen Lesart dieser Szene kommt Danielle Buschinger in »Erotik und Sexualität in der Artusepik (ein Beispiel: die Krone Heinrichs von dem Türlin)«, in: Matthias Däumer, Cora Dietl und Friedrich Wolfzettel (Hgg.), Artushof und Artusroman (Publikationen der Internationalen Artusgesellschaft; Deutsch-Österreichische Sektion 7), Berlin / New York 2010, 137 – 153, hier 146 – 151.
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Was anhand der Textbeispiele aus dem Orendel, dem Parzival und der Krone beobachtet werden konnte, ist der Übergang eines anfangs von außen bestimmten auf ein Binnenphänomen des Texts, eine ästhetische Autonomisierung, die einhergeht mit dem Wechsel vom oralen über das performative zum schriftlichen Medium; mit anderen Worten: eine stufenweise Verschriftlichung59 des Cliffhangers, bei dem die ästhetische und die mediale Entwicklung parallel verlaufen. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass der Cliffhanger ein narratives Phänomen aller Kulturepochen darstellt und dass er, jenseits der historischen Wandelbarkeit der Medien, in seinen Funktionen, wie bspw. seinem Memorialeffekt, viele unhistorische Züge aufweist. Im Mittelalter überschreitet er bezüglich seiner Funktionsweisen mehr oder weniger unverändert die Schwelle zwischen Oralität, schriftlich konzipierter Performativität und Skripturalität. Die einzige Veränderung scheint zu sein, dass er sich vom auf die Vortragssituation abzielenden Unterhaltungsmittel (Orendel) mehr und mehr zum text-ästhetischen Phänomen wandelt, d. h. zu einer narrativen Technik, die erst im Medium der textgeleiteten Verlesung (erstes Krone-Beispiel, Parzival) und in einem weiteren Schritt hin zur reinen Skripturalität (zweites KroneBeispiel) zu einem Mittel der textinternen Bedeutungserzeugung wird. Doch auch dies ist eine Veränderung, die eher von den medialen Zuständen Oralität, Performativität und Skripturalität geprägt scheint, als durch eine quasi-evolutionäre Eigendynamik des Phänomens. Es scheint angesichts der (funktionalen) Unveränderlichkeit des Cliffhangers beinahe angebracht zu vermuten, dass sich unser Untersuchungsgegenstand nur den vorherrschenden Medien seiner Zeit entsprechend wandelt, so dass letztendlich ausschließlich das Medium seine Geschichtlichkeit bestimmt, während der Cliffhanger – wie Mielke dies für das serielle Erzählen an sich ausdrückt – die Funktion des Mythos einnimmt.60 Der Mythos, als das per se Unhistorische, d. h. dem Zeitenlauf Enthobene,61 hat aber von jeher die Funktion, uns die Welt in ihrem eigentlichen 59 Vgl. Wulf Oesterreicher, »›Verschriftung‹ und ›Verschriftlichung‹ im Kontext medialer und konzeptioneller Schriftlichkeit«, in: Ursula Schäfer (Hg.), Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ScriptOralia 53), Tübingen 1993, 267 – 292. 60 »Die zyklisch-serielle Narration hat sich damit als eine kontinuierliche, funktional wie ästhetisch bestimmbare Erzähltradition erwiesen, die fiktionsintern durch eine charakteristische Narrationsstruktur und Motivik erkennbar ist, und die fiktionsextern eine Wiederkehr der gesellschaftskonstituierenden mythologischen Erzählung darstellt. Sie erfüllt die tradierte, nahezu anthropologisch begründete Funktion des Mythos – die Sinnstiftung wie die gesellige Unterhaltung.« (Mielke, Zyklisch-serielle Narration, 669). 61 Der Unterschied zwischen einer ›historischen‹ und einer ›mythischen‹ Zeitvorstellung wird u. a. von Hans Hübner – in teilweiser Deckungsgleichheit mit den strukturalistischen Untersuchungen Levi-Strauss’ – als Differenz von zirkulär-unendlichen und linear-endlichen Zeitverläufen beschrieben, wobei »der mythische Mensch in zwei Zeit-
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Sinn zu erläutern. Diese existentielle Bedeutung des Cliffhangers muss jedoch das Problem (von griechisch problema: ›Vorsprung, Klippe‹)62 bleiben, an dem der Beitrag hier vorerst hängen bleibt. (Fortsetzung folgt.)
dimensionen, nämlich einmal in der heiligen Zeit [ . . . ] und in der profanen [ . . . ] [lebte]. [ . . . ] Als Sterblicher erfährt er zwangsläufig die mythischen Zyklen im Rahmen der profanen Zeit, die mythische Zeit wird in die profane und irreversible eingebettet« (Kurt Hübner, Die Wahrheit des Mythos, München 1985, 143 f.). 62 Vgl. Knaurs etymologisches Lexikon. Herkunft und Geschichte unserer Neu- und Fremdwörter, hg. Ursula Hermann, München 1983, 391.
Kasus und Novelle Beobachtungen zur Genese des Decameron (mit einem generischen Vorschlag zur mhd. Märendichtung) Von Caroline Emmelius I. Neues Erzählen im Decameron? Wie entsteht die Novelle und was macht die Besonderheit des Novellenerzählens bei Boccaccio aus? Mit diesen Fragen ist die Forschung seit langem befasst. Sie lassen sich von unterschiedlichen Richtungen aus angehen und erzeugen entsprechend unterschiedliche Antworten: Man kann erstens stoffgeschichtlich vorgehen und nach der Herkunft der erzählten Geschichten fragen. Dabei zeigt sich, dass Vieles von Boccaccio nicht neu, sondern wiedererzählt ist.1 Boccaccio ist demnach in einem gut mittelalterlichen Sinne kein Geschichtenerfinder, sondern jemand, der vorhandenes Material neu arrangiert und interpretiert.2 Eine zweite Möglichkeit besteht darin, erzähltypologisch zu verfahren: Hierbei steht weniger die erzählte Geschichte selbst – bzw.: die histoireEbene des Erzählens – als vielmehr die Medialisierung der Geschichte im erzählerischen discours im Zentrum: als Fabliau, Märe, Exempel oder bîspel.3 1 Zu Begriff und Konzept des Wiedererzählens vgl. Franz Josef Worstbrock, »Wiedererzählen und Übersetzen«, in: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze (Fortuna vitrea 16), hg. Walter Haug, Tübingen 1999, 128 – 142. 2 Ein Beispiel hierfür ist die Novelle IV,9, die auf eine Trobadour-Vida zurückgreift, deren Geschichte im Mhd. Konrad von Würzburg als Herzmaere erzählt, vgl. hierzu Hans-Jörg Neuschäfer, »Die ›Herzmäre‹ in der altprovenzalischen Vida und in der Novelle Boccaccios. Ein Vergleich zweier Erzählstrukturen«, Poetica 2 (1968), 38 – 47. Eine Übersicht zu stofflichen Adaptationen im Decameron bietet die Übersicht bei Klaus Grubmüller, Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter. Fabliau – Märe – Novelle, Tübingen 2006, 257 f.; sowie ausführlich die Kommentierung zu den einzelnen Novellen in der Decameron-Ausgabe von Vittore Branca: Giovanni Boccaccio, Decameron. Nuova edizione rivista e aggiornata a cura di Vittore Branca, 2 Bde., Turin 1992. 3 Die Verwendung der Begriffe histoire und discours bezieht sich auf den Vorschlag von Tzvetan Todorov, »Les catégories du récit littéraire«, in: Recherches sémiologiques: l’analyse structurale du récit (Communications 8), hg. Roland Barthes, Paris 1966, 125 – 151. Zur Diskussion und Kritik von narratologischen Zwei-Ebenen-Modellen vgl. Wolf Schmid, Elemente der Narratologie, 2. verb. Aufl., Berlin / New York 2008, 245 – 250.
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Auch wenn sich die Forschung mittlerweile weitgehend darin einig ist, dass Boccaccios Novellenerzählen von einem pragmatischen, zweckgebundenen Erzählen abzusetzen sei, das Geschichten illustrativ verwendet und damit in der Regel (moral-)didaktische Ziele verfolgt, so ist doch die Weite dieses Abstands immer wieder Gegenstand der Diskussion.4 Zum dritten lässt sich die Besonderheit des Novellenerzählens bei Boccaccio von der Rahmenerzählung ableiten: In dieser Perspektive ist es zentraler Bestandteil des paradoxen Projekts der brigata, ihrer körperlichen und mentalen, durch und durch menschlich-irdischen Selbstrettung vor der göttlichen Geißel der Pest. Die paradoxe Struktur zeigt sich in der Simultaneität von ästhetischem Spiel und ethischer Bindung: Als ästhetisches Projekt stellt das selbstgesetzte Spiel der brigata das literarische Erzählen frei, als ethisches bindet es dieses zugleich an eine spezifische historische Situation und ihre Voraussetzungen zurück. Entscheidend dabei ist, dass der Rezipient durch die Konstruktion der Rahmenerzählung nicht nur die klassische Rolle des Lesers oder Hörers von Geschichten übernimmt, sondern zugleich die eines Beobachters von Geschichtenerzählern und ihrer Diskurse. Denn Boccaccio erzählt nicht nur alte Geschichten neu, er erzählt vor allem, wie sie erzählt werden.5 4 Vgl. exemplarisch für die andauernde Auseinandersetzung um Traditionalität oder Modernität von Boccaccios Novellenerzählen die Position von Vittore Branca, Boccaccio medievale e nuovi studi sul Decameron (Saggi sansoni), nuova edizione riveduta e corretta, Milano 1998, der die Novelle in vorwiegend mittelalterlichen Erzähltraditionen sieht; sowie die Plädoyers für ein von mittelalterlichen Traditionen emanzipiertes ›modernes‹ Erzählen Boccaccios bei Hans-Jörg Neuschäfer, Boccaccio und der Beginn der Novelle. Strukturen der Kurzerzählung auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit (Theorie und Geschichte der schönen Künste 8), München 1969; Michelangelo Picone, »L’invenzione della novella italiana. Tradizione e innovazione«, in: La novella italiana. Atti del Convegno di Caprarola 19 – 24 settembre 1988, 2 Bde. (Biblioteca di ›Filologia e critica‹ 3,1+2), Rom 1989, Bd. 1, 119 – 154, bes. 141 – 149; Walter Haug, »La problematica dei generi nelle novelle di Boccaccio: La prospettiva di un medievista«, in: Autori e lettori di Boccaccio. Atti del Convegno internazionale di Certaldo, 20 – 22 settembre 2001 (Quaderni della Rassegna 29), hg. Michelangelo Picone, Florenz 2002, 127 – 140; ders., »Boccaccio und die Tradition der mittelalterlichen Kurzerzählung«, in: ders., Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen 2003, 394 – 409. Eine pointierte Darstellung der älteren Forschungskontroverse bietet Joachim Küpper, »Affichierte ›Exemplarität‹, tatsächliche A-Systematik. Boccaccios ›Decameron‹ und die Episteme der Renaissance«, in: Renaissance. Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen. Literatur – Philosophie – Bildende Kunst (Text und Kontext 10), hg. Klaus W. Hempfer, Stuttgart 1993, 47 – 93, hier 48 – 55; eine vermittelnde, Aspekte beider Positionen verbindende Position bezieht Grubmüller, Ordnung, Witz und Chaos, 257 – 267. 5 Vgl. für den Gedanken, dass das Novellenerzählen vom Novellarium aus zu verstehen sei, die klassische Position von Wilfried Wehle, Novellenerzählen. Französische Renaissancenovellistik als Diskurs, München 1981; sowie für die Paradoxien der Rahmenerzählung ders., »Der Tod, das Leben und die Kunst. Boccaccios Decameron oder der Triumph der Sprache«, in: Tod im Mittelalter (Konstanzer Bibliothek 20), hg. Arno Borst u. a.,
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Die folgenden Ausführungen zielen vor allem auf den zweiten Zugriff, auf die Frage nach der narrativen Form der Novelle. Sie soll genetisch und generisch zum Minnekasus in Beziehung gesetzt und narratologisch als Erzählung eines Fallgeschehens beschrieben werden. Vorzustellen ist hierzu ein Text, der ebenfalls von Boccaccio stammt und der in der bisherigen Debatte um die Entstehung der Novelle nur eine sehr untergeordnete Rolle gespielt hat. Es handelt sich um einen ausführlichen narrativen Exkurs in Boccaccios erstem großen Roman, dem Filocolo, einer Bearbeitung der im Mittelalter breit überlieferten Geschichte von Flore und Blanscheflur. Dieser Exkurs, die sog. Questioni d’amore-Episode, entwirft eine Szenerie geselliger Kommunikation, die verblüffende Analogien zu der im Decameron zeigt: Auch hier findet sich eine Gruppe junger Damen und Herren an einem lieblichen Ort zusammen, um sich unter dem Vorsitz einer Spielkönigin die Zeit zu vertreiben. Im Unterschied zum Decameron wird allerdings nicht vorrangig erzählt, sondern es werden theoretische und praktische Liebesfragen erörtert. Der Italianist Pio Rajna hat die Questioni d’amore schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu Recht als »forma embrionale del Decameron« bezeichnet und sich dabei zum einen – ganz im Sinne der Stoffgeschichte – auf die punktuellen inhaltlichen Analogien zwischen questioni und Novellen, zum anderen – im Sinne einer Geschichte kommunikativer Interaktion – auf die gesellige Inszenierung bezogen.6 Wenn im Folgenden dafür plädiert wird, die Episode der Questioni d’amore – nachdrücklicher als bislang geschehen – als intertextuelles Modell für das Erzählen von Novellen im Decameron zu lesen, dann soll es vorrangig um eine Beobachtung gehen, die sich auf die Struktur der erzählten Geschichten bezieht. Die These dazu lautet: Auf der Ebene der histoire zeigt die Novelle Boccaccios eine generische Nähe zum dilemmatischen Minnekasus. Sie kann als eine narrativ erweiterte, vervollständigte Form eines konkreten, rhetorischen (Liebes-)Rechtsfalls gelten.7 Dabei wird der Rechtsfall bereits als diskursiver, genauer: als rhetorisch gestalteter gedacht.8 Konstanz 1993, 221 – 260. Für das Wechselverhältnis von geselligem Interaktionsmodell und dem kommunikativen Akt des Novellenerzählens vgl. demnächst Caroline Emmelius, Gesellige Ordnung. Literarische Konzeptionen von geselliger Interaktion in Mittelalter und Früher Neuzeit (Frühe Neuzeit 139), Tübingen 2010 [im Druck], Kap. 5. 6 Pio Rajna, »L’episodio delle questioni d’amore nel ›Filocolo‹ «, Romania 31 (1902), 28 – 81, Zitat 28; zur geselligen Inszenierung auch Luigi Surdich, La cornice di amore. Studi sul Boccaccio (Saggi di letteratura italiana 9), Pisa 1987, 16 f.; Emmelius, Gesellige Ordnung, Kap. 4.2 und 5.3. 7 Anders als in der stoffgeschichtlichen Forschung geht es hier also nicht um eine Tradition von Motiven oder Erzählkernen, sondern um historische Varianten von Erzählstrukturen. 8 Insofern ist die Referenzdisziplin für die folgenden Aussagen vor allem die Rhetorik, nicht die Rechtsgeschichte.
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Falls es eine solche generische Verbindung gibt, so müsste sie sich auch an anderen mittelalterlichen Kurzerzählungen zeigen lassen. Das wird abschließend an einem prominenten Beispiel der mittelhochdeutschen Märendichtung, am Klugen Knecht des Strickers, versucht. Zunächst jedoch ist auf den Begriff des Kasus einzugehen, der für den Vergleich zwischen den Questioni d’amore und den Decameron-Novellen zentral ist, der in der bisherigen Forschung zur Gattungsgeschichte der Novelle allerdings bestenfalls eine Nebenrolle spielt. Stattdessen stößt man allenthalben auf den Begriff des Exempels. Es ist daher notwendig, die drei Begriffe vorab in Relation zueinander zu bringen.
II. Begriffsbestimmungen: Exempel, Novelle, Kasus Die lateinische und volkssprachliche Exempelliteratur des Mittelalters ist für die Frage nach der Entstehung der Novelle eine zentrale Referenzgröße und zwar sowohl für Positionen, die Novelle und Exempel als historisch verwandte narrative Gattungen ansehen als auch für solche, die vor allem ihre Differenzen betonen. Was ein Exempel sei, ist dabei höchst umstritten.9 Zu unterscheiden sind zwei Zugriffe, die Gattungs- und Funktionsaspekt des Exempels jeweils unterschiedlich gewichten: Die texttypologische Exempelforschung versucht eine narrative Gattung zu beschreiben. Sie fokussiert Aufbau und Struktur der erzählten Geschichte und ihre erzählerische Umsetzung als Beispiel. In dieser Perspektive ist ein Exempel eine Beispielgeschichte. Die pragmatische Exempelforschung interessiert sich dagegen für die argumentative Funktion einer rhetorischen Figur – sei es ein bloßer Name oder eine narrativ isolierbare Texteinheit – in einem übergeordneten diskursiven Kontext. Ausgehend von dem Befund, dass diese rhetorische Figur eine ranghohe historische Person oder deren Taten zitiert, wäre ein Exempel demnach als Geschichtsbeispiel zu be9 Peter von Moos, Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im »Policraticus« Johanns von Salisbury (Ordo 2), Hildesheim u. a. 21996, hat darauf aufmerksam gemacht, dass es seit der Antike zwei grundsätzliche Logiken einer im weitesten Sinne rhetorischen Exempel-Verwendung gibt: Zum einen die rhetorische Figur des exemplum als Zitat einer historischen Figur oder eines historischen Ereigniszusammenhangs im Kontext einer Argumentation, die durch Analogieschluss »zur Veranschaulichung, Bestätigung, Problemdarlegung und Problemlösung, zur Reflexion und Orientierung« eines aktuellen theoretischen oder praktischen Problems beitragen soll (induktives Exempel) (XI, vgl. auch XXV); zum anderen die Verwendung eines Narrativs als illustrierender Beleg für einen übergeordneten Satz (häufig) moral-didaktischer Natur (illustratives Exempel) (XXIV f.), wie es insbesondere die mittelalterliche Predigtliteratur zahlreich einsetzt (vgl. ausführlich 22 – 143, bes. 113 – 134); in dieser Weise differenziert auch bereits der frühere Artikel von Christoph Daxelmüller, »Exemplum«, in: Enzyklopädie des Märchens 4 (1984), 627 – 649, bes. 627 – 631. Hier wird mit der Bezeichnung Exempel zunächst der zweite Typus in den Blick genommen, weil er in der Forschung zum Verhältnis von Novelle und Exempel dominiert.
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stimmen.10 Was das Verhältnis von Exempel und Novelle betrifft, sind Arbeiten auf beiden Beobachtungsebenen durch konträre Ansichten gekennzeichnet. Texttypologisch geht Hans-Jörg Neuschäfer in seiner grundlegenden Arbeit zum »Beginn der Novelle« vor. Er kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Erzählungen Boccaccios von den verschiedenen Formen mittelalterlicher Kurzerzählungen wie Exemplum, Fabliau, Legende, Lai, Mirakel und Liebeskasus grundsätzlich unterscheiden. Die Novelle erziele im Vergleich mit den genannten Erzählformen jeweils genau gegenteilige Effekte. Für das Verhältnis von Novelle und Exempel heißt das konkret: Während das Exemplum auf ›Einpoligkeit‹ in der Figurenzeichnung setze, stelle die Novelle ›Doppelpoligkeit‹ aus; während das Exemplum den ›typischen Fall‹ illustriere, erzähle die Novelle den ›einmaligen‹; während das Exemplum ein bestimmtes normatives Prinzip zur Anschauung bringe, sei die Novelle von gegensätzlichen, konkurrierenden Normen geprägt, die nur »von Fall zu Fall ins Gleichgewicht gebracht werden« könnten.11 Dagegen betont die italienische Decameron-Forschung die generische Kontinuität zwischen Exempel und Novelle.12 Dem Exempel komme im Spektrum der narrativen Formen, auf das die Novelle Bezug nehme, eine »posizione rilevante« zu:13 Boccaccio greife nicht nur in einzelnen Fällen Geschichten auf, wie sie schon in den mittelalterlichen Exempelsammlungen vorliegen, vielmehr sei das exemplarische Erzählen als grundlegendes narratives Modell anzusehen, auf dessen Folie die Besonderheiten des Novellen-Erzählens erst beschrieben werden könnten.14 Dass Boccaccios Novelle sich hinsichtlich der narrativen Gestal10 Mit der Differenz von Gattungs- und Funktionsbegriff operieren die Artikel von Daxelmüller, »Exemplum«; und besonders Gerd Dicke, »Exempel«, in: RLW 1 (1998), 534 – 537, hier 534. Bei von Moos, Geschichte als Topik, ist das Exempel primär ein rhetorischer Funktionsbegriff, der als ›Geschichtsvergleich‹ zwar dezidiert inhaltlich bestimmt ist, dessen formale Gestalt als »Ereigniszusammenhang aus dem wirklichen oder vorgestellten menschlichen Leben naher oder ferner Vergangenheit« (XI) aber relativ offen gehalten wird (39 – 143). 11 Neuschäfer, Beginn der Novelle, 12 – 75, Zitat 64; vgl. für eine kritische Diskussion von Neuschäfers Thesen Küpper, »Affichierte ›Exemplarität‹ «, 48 – 50. 12 Vgl. den in zwei Teilen publizierten programmatischen Beitrag von Vittore Branca, Chiara Degani und Carlo Delcorno: Vittore Branca, Chiara Degani, »Studi sugli ›exempla‹ e il ›Decameron‹ «, Studi sul Boccaccio 14 (1983 / 1984), 178 – 207, hier der Forschungsbericht von Vittore Branca mit Hinweisen auf die ältere Literatur zur Exempelforschung (178 – 189), und die Auswertung zur Bearbeitung von Exempla im Decameron von Chiara Degani (189 – 208); sowie Carlo Delcorno, »Studi sugli ›exempla‹ e il ›Decameron‹. II – Modelli esemplari in tre novelle (I 1, III 8, II 2)«, Studi sul Boccaccio 15 (1985 / 1986), 189 – 214, der anhand von drei Fallbeispielen die Kontrafaktur exemplarischen Erzählens im Decameron nachweist. 13 Branca u. Degani, »Studi sugli ›exempla‹ «, 191. 14 Branca u. Degani, »Studi sugli ›exempla‹ «, 190.
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tung und diskursiven Funktion vom mittelalterlichen Exempel und seinem homiletischen Gebrauchszusammenhang unterscheide, wird allerdings auch in diesen Beiträgen nicht in Abrede gestellt. Schlagworte, die Boccaccios Erzählweise charakterisieren, sind hier vor allem contemporaneizzazione,15 realtà und concretizzazione: »In questo senso si può parlare, per il Decameron, di exempla che si concretizzano, si calano nella realtà, che diventano veramente specchi di vita.«16 Eine ergänzende und zugleich vermittelnde Position nimmt die germanistische Märenforschung ein, die argumentiert, dass nicht erst die Novellen Boccaccios, sondern schon die volkssprachlichen Kurzerzählungen des Mittelalters, besonders Fabliau und Märe, Tendenzen zeigen, sich von einem sinnfixierenden, vorwiegend moraldidaktischen Erzählen abzulösen. Klaus Grubmüller, der die volkssprachliche Kurzepik entsprechend als ›europäische Novellistik‹ bezeichnet,17 fasst diesen Befund so zusammen: Die »Auflösung der exemplarischen Stringenz bis hin zur ›Doppelpoligkeit‹ der Figuren, der ›Einmaligkeit‹ des verhandelten ›Kasus‹, der ›Ambivalenz‹ des Sinnes« mache »nicht die Besonderheit des Erzählens im ›Decameron‹« aus, sondern kennzeichne vielmehr ganz allgemein die literaturgeschichtlichen »Entwicklungstendenzen der ›exemplarischen‹ Kurzerzählung im Mittelalter, die weit über das ›Decameron‹ hinaus- und auch hinter es zurückreichen.«18 Die pragmatische Exempelforschung, die das Exempel ganz über seine Funktion bestimmt, ein Beispiel für einen übergeordneten Satz zu geben, kann auf einen Gattungsbegriff hingegen ganz verzichten. Sie interessiert sich für die überlieferte Verwendung von Texten in diskursiven oder auch narrativen Kontexten, unabhängig von der Frage, welche spezifische narrative Form der so verwendete Text hat.19 Pointiert hat Burghart Wachinger diese Ansicht formu15 Das Stichwort bei Vittore Branca, »Contemporaneizzazione narrativa ed espressionismo linguistico nel ›Decameron‹ «, in: Letterature comparate. Problemi e metodi. Studi in onore di Ettore Paratore, 4 Bde., Bologna 1981, Bd. 3, 1283 – 1306. 16 Branca u. Degani, »Studi sugli ›exempla‹ «, 198; vgl. auch Delcorno, »Studi sugli ›exempla‹ II«, 189 – 214. Zur diskursiven Transformation des moraltheologischen ragionare in chiesa in ein spielerisch-irdisches ragionare in giardino vgl. Lucia Battaglia Ricci, Ragionare nel giardino. Boccaccio e i cicli pittorici del Trionfo della morte (Piccoli Saggi 7), 2. Aufl., Rom 2000, 94 – 99, 125 – 134, 154 – 165. 17 Vgl. den Titel der Ausgabe Novellistik des Mittelalters. Märendichtung (Bibliothek deutscher Klassiker 138; Bibliothek des Mittelalters 23), hg., übers. u. komm. Klaus Grubmüller, Frankfurt am Main 1996. 18 Grubmüller, Ordnung, Witz und Chaos, 264; zusammenfassend 267. 19 Vgl. etwa zur moralischen Funktionalisierbarkeit von Fabeln und Exempeln ungeachtet ihrer »morphologische[n] Grundlagen« Klaus Grubmüller, »Fabel, Exempel, Allegorese. Über Sinnbildungsverfahren und Verwendungszusammenhänge«, in: Exempel und Exempelsammlungen (Fortuna vitrea 2), hg. Walter Haug, Burghart Wachinger, Tübingen 1991, 58 – 76, bes. 60 – 64, Zitat 62.
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liert: »Exempel ist, was als Exempel für etwas anderes dient. Erst die Funktion im Kontext macht das Exempel zum Exempel.«20 Anhand einer solchen Definition ist es schwierig, die Novellen des Decameron kategorial von anderen mittelalterlichen Erzählformen abzugrenzen. Denn auch die Erzähler der lieta brigata führen ihre Erzählungen mit exemplarischem Gestus ein. Dieser Gestus ist zum einen auf die Tagesthemen bezogen, die an acht der zehn Tage von den Tageskönigen ausgegeben werden. Die erzählten Novellen stehen zu dem jeweiligen Thema also notwendig in einem illustrierenden Verhältnis. Explizite Verweise auf das Tagesthema finden sich etwa am sechsten Tag, an dem von geistreichen, schlagfertigen und geistesgegenwärtigen Antworten erzählt wird, mit denen sich jemand aus einer prekären Situation zu befreien weiß. So leitet Neifile die vierte Novelle dieses Tages mit den Worten ein: »il che io per la mia novella intendo di dimostrarvi« (VI,4,3)21 (»Meine Geschichte soll euch hiervon ein Beispiel bringen«).22 Aber auch unabhängig vom Tagesthema illustrieren die Erzähler und Erzählerinnen mit ihren Novellen häufig eine allgemeinere Aussage: So soll – die Novelle II,9 die Wahrheit eines Sprichworts beweisen,23 – die Novelle III,1 die Ansicht belegen, die monastische Lebensform reduziere die appetiti,24 20 Burghart Wachinger, »pietas vel misericordia. Exempelsammlungen des späten Mittelalters und ihr Umgang mit einer antiken Erzählung«, in: Kleinere Erzählformen im Mittelalter. Paderborner Colloquium 1987 (Schriften der Universität-GesamthochschulePaderborn, Reihe Sprach- und Literaturwissenschaft 10), hg. Klaus Grubmüller, L. Peter Johnson, Hans-Hugo Steinhoff, Paderborn 1988, 225 – 242, hier 229 f. 21 Das Decameron wird zitiert nach der Ausgabe von Vittore Branca, vgl. Anm. 2. Die Angabe in Klammern ist wie folgt aufzuschlüsseln: Giornata, Abschnitt bzw. Novelle, Paragraph. 22 Übersetzungen zitieren, sofern nicht anders vermerkt, die Ausgabe: Giovanni Boccaccio, Das Dekameron. Mit Holzstichen von Werner Klemke, übers. Ruth Macchi nach der von Charles S. Singleton besorgten kritischen Ausgabe, 2 Bde., Berlin 1999, hier Bd. II, 25. 23 »Suolsi tra’ volgari spesse volte dire un cotal proverbio: che lo ’ngannatore rimane a piè dello ’ngannato; il quale non pare che per alcuna ragione si possa mostrare esser vero, se per gli accidenti che avvengono non si mostrasse. E per ciò, seguendo la proposta, questo insiememente, carissime donne, esser vero come si dice m’è venuto in talento di dimostrarvi« (II,9,3) (»Im Volke gibt es das Sprichwort vom Betrüger, der zu den Füßen des Betrogenen endet. Wenn seine Wahrheit auch nicht sogleich jedem einleuchtet, so wird sie doch durch viele Begebenheiten bewiesen, die sich im Leben abspielen. Unserem Thema folgend, bin ich auf den Einfall gekommen, meine lieben Mädchen, mit einer Geschichte zu beweisen, daß es in Wahrheit so ist, wie man sagt.«, Dekameron, Bd. I, 252). 24 »Ma quanto tutti coloro che cosí [i. e. jene Ansicht, nach der monastisches Leben das sexuelle Begehren minimiere, C. E.] credono sieno ingannati, mi piace, [ . . . ] di farvene piú
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– die Novelle IV,4 die These belegen, man könne sich nicht nur durch Inaugenscheinnahme, sondern auch über das Hörensagen verlieben,25 – die Novelle VI,1 die Schönheit darlegen, die die gewitzte Antwort einer Frau besitzen kann,26 – die Novelle VII,6 die These widerlegen, dass die Liebe um den Verstand bringe.27
Die verwendeten Formulierungen wie dimostrare (zeigen, erweisen) dokumentieren, dass der Gestus illustrativ-exemplarischen Erzählens aus der Perspektive der brigata-Erzähler keinesfalls desavouiert ist. Er gehört ganz selbstverständlich zum Erzählen im Decameron dazu und verbindet es mit der mittelalterlichen homiletischen Tradition.28 Hierzu passt der wortgeschichtliche Befund, dass novella im Italienischen des Trecento synonym mit esempio verwendet werden kann.29 Freilich wird man nicht behaupten wollen, dass der narrative Sinn der erzählten Novelle in diesen vordergründigen diskursiven Funktionalisierungen aufginge. Das gilt sowohl mit Blick auf die einzelne Novelle als auch mit Blick chiare con una piccola novelletta.« (III,1,5) (Aber wie sehr sich all diejenigen, die dieses glauben, täuschen, möchte ich mit einer kleinen Geschichte sehr deutlich darlegen; Übersetzung C. E.). 25 »Piacevoli donne, assai son coloro che credono Amor solamente dagli occhi acceso le sue saette mandare, coloro schernendo che tener vogliono che alcun per udita si possa innamorare; li quali essere ingannati assai manifestamente apparirà in una novella la qual dire intendo« (IV,4,3) (»Meine schönen Freundinnen, viele Menschen glauben, daß Amor seine Pfeile nur von den Augen entflammt abschösse, und sie verspotten jeden, der meint, man könne sich auch aufs reine Hörensagen hin verlieben. Daß diese Leute sich irren, möchte ich euch mit der Geschichte beweisen, die ich euch jetzt erzählen will«, Dekameron, Bd. I, 475). 26 »ma per farvi avvedere quanto abbiano in sé di bellezza a’ tempi detti, un cortese impor di silenzio fatto da una gentil donna a un cavaliere mi piace di raccontarvi.« (VI,1,4) (Aber um euch zu zeigen, von welcher Schönheit solche Reden zur passenden Zeit sind, möchte ich euch erzählen, wie eine edle Dame auf höfische Weise ein Stillschweigen über einen Ritter verhängte; Übersetzung C. E.). 27 »Molti sono li quali, semplicemente parlando, dicono che Amore trae altrui del senno e quasi chi ama fa divenire smemorato. Sciocca opinione mi pare: e assai le già dette cose l’hanno mostrato, e io ancora intendo di dimostrarlo.« (VII,6,3) (»Es gibt viele Menschen, die unbefangen behaupten, die Liebe trübe den Verstand und mache die Liebenden zu Toren. Ich halte dies für ungerechtfertigt, und alle bereits erzählten Geschichten haben meine Auffassung bekräftigt; trotzdem will ich es jetzt nochmals tun [besser: und ich beabsichtige, dies noch einmal zu beweisen; Übersetzung C. E. ]«, Dekameron, Bd. II, 118). 28 So auch Branca und Degani, »Studi sugli ›exempla‹ «, 187 f.; Küpper, »Affichierte ›Exemplarität‹ «, 59 – 62; Emmelius, Gesellige Ordnung, Kap. 5.4.1. 29 Lucia Battaglia Ricci, »›Una novella per esempio‹. Novellistica, omiletica e trattatistica nel primo trecento«, Studi sul Boccaccio 28 (2000), 105 – 124.
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auf das Novellarium. So kann Joachim Küpper zeigen, dass sich vielfach ein Hiat auftut zwischen den Sätzen, denen die Erzähler ihre Novelle subsumieren – und die eine Regelhaftigkeit und Beherrschbarkeit der Welt unterstellen –, und den kontingenten Handlungen, die in den Geschichten dominieren.30 Überdies verweise die Vielstimmigkeit der Novellensammlung auf eine »fundamentale A-Systematik der im Text stilisierten Weltordnung«, die die nur ›affichierte‹ exemplarische Lehrhaftigkeit somit geradezu programmatisch unterlaufe.31 Für das Verhältnis von Novelle und Exempel ergibt sich somit, je nach verwendetem Exempelbegriff, ein höchst uneinheitliches Bild: Während sich stoffund motivgeschichtlich eine Fülle von Kontinuitäten zwischen der DecameronNovelle und dem narrativen Exempel der mittelalterlichen Homiletik abzeichnen, die erzählten Geschichte auf der histoire-Ebene somit analoge Geschehenszusammenhänge gestalten, sind die Befunde für die erzählerische Umsetzung der Geschichten auf der discours-Ebene des Erzählens vorwiegend von Divergenzen geprägt. Wie stark man diese gewichtet, hängt maßgeblich von den Kriterien ab, die man für das Exempel als gattungsdefinierend ansetzt.32 Ein pragmatischer Exempelbegriff, der die Funktion von Narrativen in argumentativen Diskursen zu bestimmen sucht, zeitigt dagegen ambivalente Ergebnisse: Demnach schreiben die Erzähler des Decameron ihren Novellen bisweilen zwar illustrative Funktionen zu, zugleich scheinen die erzählten Geschichten diese jedoch zu unterlaufen, nicht zuletzt, weil die Position von Deutung, Kommentierung und Reflexion im Diskurs der brigata programmatisch offen gehalten ist. Für die Frage, wie sich die Novelle als narrative Form genetisch und generisch beschreiben lässt, erscheint der Exempel-Begriff deshalb ungeeignet, denn er koppelt die Gestaltung der histoire-Ebene einer erzählten Geschichte notwendig mit einer rhetorischen Funktion (als Beispiel, Vorbild, Vergleich, Problemaufriss), die ihrerseits im Decameron gerade unterdeterminiert ist. Um insbesondere die histoire-Ebene der Novelle präziser in den Blick nehmen zu können, wird daher auf einen narrativen Exempelbegriff verzichtet. Stattdessen 30
Küpper, »Affichierte ›Exemplarität‹ «, 64 – 69. Küpper, »Affichierte ›Exemplarität‹ «, 69 – 77, Zitat 71. 32 Ein Exempel, das in der antiken Tradition des Geschichtsvergleichs steht, wird in seiner Anschaulichkeit und Konkretheit einer Boccaccio-Novelle durchaus vergleichbar sein (auch wenn diese ein ganz anderes Figurenpersonal aufruft als etwa die römischen exempla maiorum), vgl. die Kriterien für Exempla bei Branca u. Degani, »Studi sugli ›exempla‹ «, 183. Ein homiletisches Exempel, das infinit für eine überzeitlich gültige Lehre verwendet können werden muss, wird hingegen lebensweltliche Konkretheit durch Typisierung ersetzen und damit in größere Distanz zur Novelle treten (von Moos, Geschichte als Topik, 32 – 39). 31
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wird der Begriff vollständig in den Bereich des Diskurses verschoben.33 Das Exemplarische einer erzählten Geschichte ist demnach ihre Diskursfunktion. Auf ein narratologisches Textmodell übertragen, kann diese Diskursfunktion sowohl textextern und als auch textintern realisiert sein. Textextern liegt sie bspw. bei der Exempelverwendung der Predigt vor: Der Diskurs der Predigt gibt dann jenen normativen (moralischen, didaktischen) Verständnishorizont vor, den die inserierte Geschichte illustrieren oder demonstrieren soll. Eine textinterne Diskursfunktion liegt dagegen mit den Epimythien von Mären vor, die ein fabula docet für den Rezipienten formulieren. In diesem Fall ist die exemplarische Diskursfunktion der Erzählinstanz der Geschichte zuzuschreiben; narratologisch ist sie damit auf der Vermittlungsebene des discours anzusiedeln. Dass die erzählte histoire auch bei Vorhandensein einer textexternen Diskursinstanz (›Prediger‹) dem diskursiven Anliegen dienstbar gemacht wird, die Diskursfunktion in diesem Fall also sowohl auf der textexternen Ebene der Diskursinstanz als auch auf der textinternen Vermittlungsebene des discours, also gleichsam verdoppelt, vorliegt, muss bei diesem Modell exemplarischen Erzählens einbezogen werden. Mit der Festlegung des Exemplarischen als Diskursfunktion wird zugleich die histoire-Ebene der Novelle (und mit ihr auch die anderer volkssprachlicher Kurzerzählungen) frei für eine neue, strukturelle Bestimmung. In diese könnte, so der Vorschlag, der Begriff des Kasus eintreten. Dieser Vorschlag ist nicht ganz neu, denn es gibt eine Reihe von Arbeiten, die im Bemühen, den Charakter der Novelle zu bestimmen, auf die Bezeichnung des Falls zurückgegriffen haben.34 All diese Beiträge beziehen sich auf jene Bestimmung des Kasus, die der Romanist André Jolles im Zuge seines erzähltheoretischen Experiments zur Definition ›einfacher Formen‹ von 1930 vorgelegt hat und die bis heute der ein33 Das ist aus der Perspektive der Exempelforschung, die sich gerade um Aufklärung des Verhältnisses von (narrativer) Form und rhetorischer Funktion bemüht, natürlich eine einseitige Reduktion (ganz im Sinne von Wachinger, »pietas vel misericordia«). Sie erscheint hier jedoch notwendig, um die verwendeten Begriffe mit einem narratologischen Textmodell korrelieren zu können. 34 Die zumeist unterminologische Bezeichnung der Novelle als kasushaft oder kasuistisch versucht dabei zum einen das Singuläre, Einzigartige, Nicht-Verallgemeinerbare der Novelle zu fassen, zum anderen den Problemcharakter einiger Geschichten, vgl. etwa Küpper, »Affichierte ›Exemplarität‹ «, 78 f.: »Die Abwesenheit von Ordnung und Stabilität, die Boccaccio im Auge hat, ist Produkt einer Kombinatorik, in der so vielfältige Aspekte zählen und den ›Ausgang‹ bestimmen, daß letztlich jedes Ereignis nur noch für sich selber steht, d. h. nicht nur narratologisch, sondern auch epistemologisch einen ›caso‹ darstellt«; sowie Paul Geyer, »Boccaccios Decameron als Schwellenwerk: Vom Karnevalesken zum Kasuistischen«, in: Das 14. Jahrhundert. Krisenzeit (Eichstätter Kolloquium 1), hg. Walter Buckl, Regensburg 1995, 179 – 211.
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zige Versuch einer literaturwissenschaftlichen Begriffsdefinition geblieben ist.35 Jolles beschreibt den Kasus als eine narrative Form, in der sich zwei einander in Bezug auf eine Norm widersprechende Handlungen oder Aussagen gegenüber stehen: Das, was in diesem Ganzen der widersprechenden Teile vor uns liegt, zeigt den eigentlichen Sinn des Kasus: in der Geistesbeschäftigung, die sich die Welt als ein nach Normen Beurteilbares und Wertbares vorstellt, werden nicht nur Handlungen an Normen gemessen, sondern darüber hinaus wird Norm gegen Norm steigend gewertet. [ . . . ] Bleiben wir im Bild der Wage [sic], so liegt letzten Endes auf jeder Schale ein Gewicht, und diese Gewichte werden gegeneinander gewogen.36
Mit dieser, am Beispiel von neuzeitlichen Rechtsfällen beschriebenen Textstruktur begibt sich Jolles in die Literaturgeschichte, um sie dort deduktiv auf die unterschiedlichsten narrativen und nicht-narrativen Texte anzuwenden. Schon für die Erzählungen der indischen Weisheitsbücher kommt er zu der Behauptung, »daß der Kasus eine Neigung besitzt, sich zur Kunstform zu erweitern – [ . . . bzw.], Novelle zu werden.«37 Und am Beispiel der französischen Minnekasuistik spitzt er diese Behauptung dann noch einmal zu: »Tatsächlich ist die Kunstform, die wir im besonderen toscanische Novelle nennen, zum guten Teil aus dem Minnehof und dem Minnekasus hervorgegangen.«38 Jolles stützt die Argumentation zu dieser These auf Beispiele aus den Questioni d’amore des Filocolo, so dass die vermeintlich allgemeine These tatsächlich in 35 André Jolles, Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 15), 7., unveränd. Aufl., Tübingen 2000 [1. Aufl. Halle / Saale 1930]. Auf Jolles beziehen sich die beiden literaturwissenschaftlichen Lexikoneinträge zum Kasus, vgl. Hermann Bausinger, »Kasus«, in: EM 7, 1025 – 1027; sowie Manfred Eikelmann: »Kasus«, in: RLW 2, 239 – 241. Eine Revision zur Wortgeschichte von Kasus und Fall sowie kritische Überlegungen zu Jolles’ Kasus-Begriff und zu seinem Konzept der ›einfachen Form‹ bietet Ruth Koch, »Der Kasus und A. Jolles’ Theorie von den ›Einfachen Formen‹«, Fabula 14 (1973), 194 – 204. Nicht nur die im folgenden diskutierten, auch die jüngst in der germanistischen Mediävistik erschienenen Beiträge, die mit dem Kasus-Begriff arbeiten, beziehen sich auf Jolles, wenn auch, der Offenheit seines Vorschlags entsprechend, auf unterschiedliche Gesichtspunkte, vgl. Hans Jürgen Scheuer, »Schwankende Formen. Zur Beobachtung religiöser Kommunikation in mittelalterlichen Schwänken«, in: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006, hg. Peter Strohschneider, Berlin / New York 2009, 733 – 770; Hartmut Bleumer, Caroline Emmelius, »Vergebliche Rationalität. Erzählen zwischen Kasus und Exempel in Wittenwilers ›Ring‹«, in: Reflexion und Inszenierung von Rationalität in der mittelalterlichen Literatur. Blaubeurer Kolloquium 2006 (Wolfram-Studien 20), in Verbindung mit Wolfgang Haubrichs und Eckart Conrad Lutz hg. Klaus Ridder, Berlin 2008, 177 – 204. 36 Jolles, Einfache Formen, 179. 37 Jolles, Einfache Formen, 191, vgl. auch 182. 38 Jolles, Einfache Formen, 196.
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einem ganz engen Sinne auf Boccaccio abzielt. Da Jolles allerdings keine Quellenangaben macht und auch der Name Boccaccio in dem besagten Abschnitt nicht fällt, ist dieser Zusammenhang bislang nicht gesehen worden.39 Hans Jörg Neuschäfer geht in seinem Vergleich von Liebeskasus und Novelle zwar von Jolles’ plakativer Formulierung aus, hält die weitgehende Identifizierung von Kasus und Novelle aber – weil Jolles die seiner Argumentation zugrundeliegenden Texte eben nicht offenlegt – für fragwürdig.40 Für seinen eigenen Vergleich wählt Neuschäfer Beispiele aus der altprovenzalischen und altfranzösischen minnekasuistischen Lyrik und aus den Liebesurteilen, die Andreas Capellanus im zweiten Buch des lateinischen Traktats De amore versammelt hat. In beiden Fällen handelt es sich um nicht-narrative Vergleichstexte, weshalb Neuschäfer kaum evidente Verbindungen zur Novelle ausmachen kann. Auch seine Beobachtung, dass im Liebeskasus die strittige Problematik stets aufgelöst werde und entsprechend nur eine Norm Gültigkeit habe, ist vor dem Hintergrund des heterogenen literarischen Diskurses, der mit dem Stichwort Minnekasuistik bezeichnet wird, nur bedingt richtig.41 Eine ausführliche historische und systematische Reflexion über die Beziehung zwischen Kasus, (illustrativem) Beispiel und induktivem historischem Exempel in der anti39 Jolles, Einfache Formen, 195 f. Es gibt weder Anmerkungen noch eine Bibliographie in Jolles’ Studie; Quellenhinweise werden, wenn überhaupt, im Text selbst, auch dann jedoch ohne Angabe der Ausgabe gegeben. Im besagten Abschnitt fehlt jedoch ein entsprechender Hinweis auf die Questioni d’amore des Filocolo. Dass Jolles die Bezüge nicht explizit macht, ist seinem Programm zuzurechnen, Aussagen über ubiquitäre Formen zu machen. In seiner neun Jahre älteren »Einleitung zum Dekameron« bezeichnet Jolles die Questioni d’amore in Anlehnung an die Formulierung von Pio Rajna, »L’episodio delle questioni d’amore«, 28, zwar als »Urform des Dekameron«, einen systematischen Zusammenhang zwischen Kasus und Novellen entfaltet er hier jedoch noch nicht, so dass die Bezugsgröße seiner These in den Einfachen Formen auch von hier aus nicht deutlich wird, vgl. André Jolles, »Einleitung« [zur deutschen Ausgabe von 1921], in: Giovanni Boccaccio, Das Dekameron. Mit 110 Holzschnitten der italienischen Ausgabe von 1492, übers. Albert Wesselski, Bd. 1, Frankfurt am Main 1972, VII – LXXXVII, hier XXVIII f. Für einen ausführlichen Nachweis zu den impliziten Bezugnahmen auf die Questioni d’amore in den Einfachen Formen vgl. Emmelius, Gesellige Ordnung, Kap. 5.2 Anm. 95. 40 Neuschäfer, Beginn der Novelle, 52 – 75, bes. 71 f. 41 Vgl. etwa Sebastian Neumeister, Das Spiel mit der höfischen Liebe. Das altfranzösische Partimen (Beihefte zu Poetica 5), München 1969, 16 und 64 – 69, der für die minnekasuistischen Streitgedichte, denen die Entscheidung des vorgelegten Dilemmas gerade fehlt, programmatische Offenheit festhält. In den literarischen Darstellungen von minnekasuistischen Spielen sind die Urteile zu den Fragen konstitutiv, in ihrer normativen Bedeutung aber durchaus umstritten, vgl. Richard Firth Green, »Le roi qui ne ment and Aristocratic Courtship«, in: Courtly Literature. Culture and Context (Utrecht publications in general and comparative literature 25), hg. Keith Busby, Erik Kooper, Amsterdam 1990, 211 – 225; zum Status der Urteile in der Questioni d’amore-Episode vgl. Emmelius, Gesellige Ordnung, Kap. 4.3.3. Zum minnekasuistischen Diskurs und seinen Texten immer noch grundlegend: Ursula Peters, »Cour d’amour – Minnehof. Ein Beitrag zum Verhältnis der französischen und deutschen Minnedichtung zu den Unterhaltungsformen ihres Publikums«, ZfdA 101 (1972), 117 – 133.
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ken Rhetorik und im mittelalterlichen Bildungssystem hat Peter von Moos vorgelegt.42 Er benötigt den Kasus-Begriff insbesondere, um das für jede Art von rhetorischer Beispielverwendung intrikate Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem zu bestimmen.43 Während das illustrative Beispiel einen konkreten Beleg für eine allgemeine Regel abgibt, das induktive Exempel durch den Analogieschluss zwischen einer spezifischen vergangenen und einer aktuellen Situation wenigstens der Tendenz nach einer Verallgemeinerbarkeit zuarbeitet, bewegt sich der Kasus in der »Vorphase des Beispielgebrauchs«, denn er bezeichnet radikal erratische Handlungskonstellationen, also gerade nicht verallgemeinerbare Sonder- und Ausnahmefälle, die ein Redner kennen muss, um sie für den induktiven Exempelgebrauch auszuscheiden.44 Unter Bezugnahme auf André Jolles und Hans Lipps45 bildet der Kasus für von Moos demnach eine Art Gegenpol zu Beispiel und Exempel, insofern er nicht auf Regularitäten, sondern auf normative Lücken verweist. Freilich ist eine scharfe terminologische Abgrenzung kaum haltbar, denn dort, wo ein Sonderfall zum juristischen Präzedenzfall wird, gewinnt er wiederum gesetzbildende Potenz.46
Von Moos’ kluger Vorschlag einer rhetorisch-juristischen Differenzierung von Kasus und Exempel ist für die folgenden Ausführungen insofern problematisch, als sie wiederum rein diskursorientiert ist. In dieser Perspektive sind Kasus und Exempel konkurrierende Begriffe. Hingegen ignoriert der Vorschlag die histoire-Ebene von Kasus und Exempel. Dass sich beide Argumentationsfiguren in ihrer formalen, d. h. vor allem narrativen Gestalt unterscheiden könnten, ist lediglich angedeutet.47 Die diskursive Bestimmung des KasusBegriffs bereitet auch der Zuordnung der Decameron-Novelle zur Tradition von Kasus und induktivem Exempel Schwierigkeiten, denn es gibt im Decameron keinen argumentativen Diskurs, der das induktive Potential der Novellen aufgriffe und im von Moos’schen Sinne für eine Problemlösung in Anschlag brächte.48 Zwar werden die Geschichten – wie oben skizziert – mit exempla42
von Moos, Geschichte als Topik, 22 – 134, 238 – 285. Die Bestimmung einer erzählten Begebenheit als partikular oder allgemein ist für die Forschung zu narrativen Exempeln so grundlegend wie herausfordernd; ein unterminologisch verwendeter Fall-Begriff ist dabei nicht eben hilfreich, vgl. Grubmüller, Ordnung, Witz und Chaos, 88 – 90. 44 von Moos, Geschichte als Topik, 26 – 31, bes. 28, Zitat 31. 45 Hans Lipps, »Beispiel, Exempel, Fall und das Verhältnis des Rechtsfalls zum Gesetz (1934)«, in: ders., Die Verbindlichkeit der Sprache. Arbeiten zur Sprachphilosophie und Logik, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1958, 39 – 65. Zum Fall-Begriff in der älteren ExemplaForschung vgl. von Moos, Geschichte als Topik, 27, Anm. 58. 46 von Moos, Geschichte als Topik, 29 f. 47 Dass dem Kasus aufgrund seiner spezifischen aporetischen Problemkonstellation eine offene narrative Struktur eignet, implizieren von Moos’ Beobachtungen, der Kasus sei »entweder nicht oder nur durch Sonderbehandlung (wie Diskussion oder Reflexion) auf ein Allgemeines zu beziehen« und neige zur Offenheit der Frage (ders., Geschichte als Topik, 29 – 31, Zitat 29). 43
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risch-illustrativem Gestus eingeführt, diese Rezeptionsvorgabe wird von den textinternen Zuhörern im Anschluss jedoch nicht wieder aufgenommen. Überhaupt ist die Reaktion der brigata auf die Novellen vorwiegend affektiv und nicht diskursiv: Zumeist wird kollektiv gelacht oder – ganz selten – geweint. Kommentiert werden die Novellen nur in allgemeinster Form. In der Regel werden sie gelobt. In einigen Fällen ist das Lob auf jenen Satz bezogen, den der Erzähler mit seiner Novelle illustrieren wollte, allermeist aber bleibt es pauschal. Auslegungen und Wertungen des Erzählten, insbesondere Kritik, findet man bei den kollektiven Reaktionen kaum, in den einleitenden Bemerkungen der folgenden Erzähler sind sie höchst selten.49 Dieses programmatisch auf kollektiven Konsens setzende, jeden kritischen Diskurs, jeden Dissens vermeidende Verfahren der textinternen Novellenrezeption50 steht von Moos’ Kasus- und Exempel-Begriff diametral entgegen: Seine Begrifflichkeit lässt sich für die Decameron-Novelle nur retten, wenn man das induktive Potential der Novelle – sei es nun kasuistisch offen oder exemplarisch applizierbar – auf die Ebene der textexternen Rezeption verschiebt. Für die Novelle als narrative Form und die Frage nach ihren generischen Mustern ist damit indes noch kein grundsätzlicher Zugriff gewonnen. Von Jolles’ Kasus-Begriff geht schließlich auch der Beitrag von Karlheinz Stierle zum Verhältnis von Geschichte und Exemplum aus, der den Übergang von pragmatischen zu poetischen Texten am Beispiel des Exempels skizziert.51 Stierle vertritt die These, dass die Transformation von der pragmatischen zur poetischen Form als Aufmerksamkeitsverschiebung zu beschreiben sei, die sich auf die Problematisierung der jeweiligen Textpragmatik richte. Erst die Irritation des pragmatischen Charakters ermögliche die Überschreitung zum poeti-
48 Für diese Zuordnung vgl. insbesondere von Moos, Geschichte als Topik, 29, 131, Anm. 315; zu Petrarcas Transformation der kasuistischen Decameron-Novelle X,10 (Griselda) in ein historisches Exempel 227 – 231. 49 Vgl. hierzu ausführlich Elisabeth Arend, Lachen und Komik in Giovanni Boccaccios »Decameron« (Analecta Romanica 68), Frankfurt am Main 2004, 178 – 194; sowie Konrad Schoell, »Das Lachen, die Tränen und die Schamröte der edlen Damen«, Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 16 (1992), 183 – 197. 50 Hierzu Emmelius, Gesellige Ordnung, Kap. 5.4. Ob in diesem textintern vorgeführten Rezeptionsverhalten der Brigata, wie Karlheinz Stierle vorschlägt, die intellektuelle Mündigkeit des textexternen Rezipienten präfiguriert ist, scheint mir – ohne die literaturgeschichtliche Leistung des Decameron schmälern zu wollen – vor diesem Hintergrund fraglich, vgl. ders., »Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte. Zur Pragmatik und Poetik narrativer Texte«, in: ders., Text als Handlung. Perspektiven einer systematischen Literaturwissenschaft, München 1975, 14 – 48 [Wiederabdruck aus: Geschichte – Ereignis und Erzählung (Poetik und Hermeneutik 5), hg. Reinhart Koselleck, Wolf-Dieter Stempel, München 1973, 347 – 375], hier 36 f. 51 Stierle, »Geschichte als Exemplum«.
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schen Text. Für das Exempel kehre sich demnach die Blickrichtung um: für den poetischen Text sei nicht die Frage, wie die Geschichte zum Exempel, sondern wie das Exempel zur Geschichte (mit pluralem Sinnangebot) werde.52 Als paradigmatisch für diesen Prozess sieht er in Übereinstimmung mit Neuschäfer die Decameron-Novelle an, an der sich die Überschreitung des Exemplums zur Geschichte beobachten lasse.53 Die »Infragestellung der [für das illustrative Exempel kennzeichnenden] Priorität des Allgemeinen« ermögliche einen »Wechsel der impliziten Einstellung von ›Nachahmung‹ zu ›Beurteilung‹. Durch diesen Wechsel der Einstellung [ . . . ] wird das Exemplum zum Kasus, bzw. zur Geschichte, die den Kasus manifestiert.«54 Stierles Bestimmung der Novelle als problematisiertes Exempel, das nicht pragmatisch einen Satz illustriere, sondern eine Geschichte präsentiere, die induktiv einen (möglicherweise unabschließbaren) Prozess der Beurteilung stimuliere, nimmt die spätere Position von Peter von Moos bereits vorweg.55 Anders als von Moos fokussiert Stierle jedoch neben den diskursiven Effekten des Novellenerzählens auch die Ebene der histoire der Novelle, ihre Struktur als Geschichte. Die folgenden Ausführungen schließen begrifflich an die genannten Arbeiten an: Sie gehen mit Stierle davon aus, dass die Novelle eine Geschichte sei, die einen Kasus manifestiert. Kasus wird mit Jolles als eine grundsätzlich offene »Form des Problematischen selbst«56 verstanden, die in der Geschichtsstruktur der Novelle eine probehafte Lösung erhält, die ihrerseits diskussionswürdig ist, 52 Diese systematische Beobachtung zu Textsorten und -funktionen korreliert Stierle zugleich mit einer literaturgeschichtlichen Entwicklung: Das pragmatische Exempel des Mittelalters wird in dieser Perspektive von der poetischen Renaissancenovelle abgelöst. Er beruft sich dabei auf Neuschäfers Untersuchung, die mit einem sehr schematischen, auf Gegensätze hin angelegten Epochenmodell arbeitet, vgl. Stierle, »Geschichte als Exemplum«, 31 – 48. Stierles literaturgeschichtliche Annahmen sind von mediävistischer Seite zu Recht kritisiert worden, vgl. von Moos, Geschichte als Topik, 19 – 21, 520 – 527. 53 Stierle, »Geschichte als Exemplum«, 32 f. 54 Stierle, »Geschichte als Exemplum«, 33. 55 Besonders eindrücklich in der Reflexion über den Kantschen Begriff der Urteilskraft, vgl. Stierle, »Geschichte als Exemplum«, 34 f. Stierle hält fest, dass der kasushafte Charakter der Novelle nicht lediglich auf eine einfache Urteilsfindung abziele, denn diese sei der Novelle als einer Geschichte von einem Fall, der zu einem Abschluss gefunden hat, bereits inhärent. Vielmehr sei die »Betätigung der Urteilskraft, die den Rahmen der im Gesetz fixierten Normen überschreitet, die nicht mehr zu Begriffen kommt, sondern als Reflexion, d. h. als Suche nach Begriffen unabschließbar bleibt, [ . . . ] das intentionale Korrelat, das die poetische Sprachhandlung Novelle von den pragmatischen Sprachhandlungen Kasus und Exemplum unterscheidet« (35). Eben diese Wirkung schreibt von Moos, Geschichte als Topik, 27 – 31, dem Kasus zu. 56 So die treffende Formulierung bei Stierle, »Geschichte als Exemplum«, 33.
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auch wenn dieses strittige Potential in der textinternen Rezeption der brigata dezidiert ausgeblendet bleibt.57 Damit zeichnet sich die folgende Korrelation der Begriffe Kasus, Novelle und Exempel mit einem Textmodell narrativer Ebenen ab: Kasus ist demnach ein Geschehensbegriff. Er bezeichnet ein problematisches Geschehen, das zwar zeitlich sequentialisiert vorliegt ist, aber als aktantiell und axiologisch offenes noch zu keinem Abschluss als Geschichte gefunden hat. Novelle wäre entsprechend ein Begriff, der die Ebene der Geschichte bezeichnet, auf der der Kasus mit einem Urteil oder einer Lösung versehen und das offene Geschehen somit abgeschlossen wird.58 Sofern die Geschichte in einem textinternen oder textexternen Diskurs einem normativen Satz subsumiert wird, für eine aktuelle Konfliktsituation handlungsleitend wirksam gemacht werden kann oder in einen offenen Reflexionsprozess führt, wird man sie wahlweise als illustratives, induktives, problematisiertes oder kasuistisches Exempel bezeichnen.59 Während Stierle den Zusammenhang zwischen Fallgeschehen (Kasus) und Fallgeschichte (Novelle) als literatursystematische Transformation pragmatischer in poetische Texte beschreibt, soll er im folgenden als ein auf Boccaccios literarisches Werk bezogener intertextueller Konnex aufgefasst werden, über den die verdeckten Implikationen von Jolles’ Behauptung, die toskanische Novelle sei aus dem Minnekasus hervorgegangen,60 konkret nachgezeichnet werden können. Das Textbeispiel der Questioni d’amore liefert zugleich jenen literaturgeschichtlichen missing link, mit dem die plakativen Thesen von Neuschäfer zur Differenz von Liebeskasus und Novelle relativiert werden können.
III. Vom Minnekasus des Filocolo zur Novelle des Decameron In der Questioni d’amore-Episode des Filocolo treffen 14 adlige Damen und Herren in einem amoenen Garten zusammen. Auf Vorschlag der Gastgeberin 57 Anders Stierle, der in der Brigata mündige, kritische Rezipienten sieht, die eine entsprechende textexterne Rezeption präfigurierten, vgl. ders., »Geschichte als Exemplum«, 36 f. 58 Die Bestimmung von Kasus als Geschehensbegriff schließt an meinen mit Hartmut Bleumer verfassten Beitrag zu Wittenwilers Ring an, vgl. Bleumer u. Emmelius, »Vergebliche Rationalität«, 194 f. Als Geschichtsbegriff ist dort Exempel gesetzt, ein Diskursbegriff fehlt. Die hier vorgelegten Überlegungen verstehen sich demgegenüber als Differenzierung. 59 Mit dem Modell narrativer Ebenen, insbesondere der Differenzierung von Geschehen und Geschichte, beziehe ich mich auf Schmid, Elemente der Narratologie, 251 – 284. Die bei mir als Diskurs bezeichnete Vermittlungsebene der Geschichte differenziert Schmid weiter in Erzählung und Präsentation der Erzählung, vgl. ebd., 253 f. 60 Vgl. Jolles, Einfache Formen, 196.
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legt jeder der Anwesenden einer gekürten Spielkönigin eine Liebesfrage vor, die kontrovers diskutiert und abschließend beantwortet wird.61 Inhaltlich variieren die Fragen gemäß der Spielregel das Thema amore, die erotische Liebe zwischen Mann und Frau. Innerhalb dieses Feldes werden unterschiedliche Aspekte herausgegriffen: Merkmale und Qualitäten des Liebespartners, die grundsätzliche Erkennbarkeit der Liebe, das Verhältnis von An- und Abwesenheit in der Liebesbeziehung, das Leiden an der Liebe. Inhaltlich stehen die Questioni damit in der Tradition minnekasuistischer Fragen, wie sie nicht nur die Partimen, sondern auch die französischen Fragensammlungen des 14. Jahrhunderts kennen.62 Strukturell ist dieser Tradition gemäß unter einer questione d’amore eine dilemmatische Frage zu verstehen, die in bezug auf einen strittigen Sachverhalt zwei oder drei nicht-identische und einander ausschließende Optionen zur Disposition stellt. Einige der Questioni weisen eben diese Struktur auf: E questo seguendo, voglio da voi sapere quale di due donne deggia più tosto da un giovane essere amata, piacendo igualmente a lui amendune, o quella di loro che è di nobile sangue, e di parenti possente, e copiosa d’avere molto più che il giovane, o l’altra la quale né è nobile né ricca né di parenti abondevole quanto il giovane (IV,47,3).63 (Und deshalb möchte ich von Euch wissen, welche von zwei Damen von einem jungen Mann, der sie beide gleichermaßen schätzt, geliebt werden sollte, diejenige, die von adligerem Blut ist, einflussreichere Eltern hat und viel mehr besitzt als der Jüngling selbst, oder die andere, die im Vergleich mit dem Jüngling weder adlig noch mächtig ist noch reiche Eltern hat.)
Diese Frage greift den populären Minnekasus auf, ob die reiche adlige oder die arme nicht-adlige Geliebte vorzuziehen sei,64 und kombiniert ihn mit dem Status des Mannes, für den die Frage entschieden werden soll.65 Sie ist somit den theoretischen Liebesfragen zuzuordnen. 61 Vgl. Giovanni Boccaccio, Filocolo (Oscar Classici Mondadori 451), hg. Antonio Enzo Quaglio, Mailand 1998, IV,17,5. Der Stellennachweis ist wie folgt aufzulösen: Buch (römische Zählung), Kapitel, Paragraph (arabische Zählung). Die Diskussion der Fragen ist in der Spielregel nicht explizit formuliert; sie ergibt sich erst aus der Spielpraxis. 62 Hierzu Alexander Klein, Die altfranzösischen Minnefragen. Erster Teil: Ausgabe der Texte und Geschichte der Gattung (Marburger Beiträge zur Romanischen Philologie 1), Marburg 1911. 63 Zitiert wird nach der kritischen Ausgabe von Quaglio: Boccaccio, Filocolo. Übersetzungen stammen von mir. 64 Vgl. Quaglios Kommentierung (Boccaccio, Filocolo, 785 [IV,50, Anm. 13]), sowie Rajna, »L’episodio delle questioni d’amore«, 52. 65 Zum Problem des gleichen oder differierenden Standes von Liebenden vgl. die Einleitung zum 6. Kapitel des ersten Buches bei Andreas Capellanus und die dort aufgeführten Dialoge: Andreas aulae regiae capellanus / königlicher Hofkaplan, De amore libri tres / Von der Liebe. Drei Bücher, Text nach der Ausgabe von E. Trojel, übers. und mit Anm. und einem Nachwort vers. Fritz Peter Knapp, Berlin / New York 2006, 20 – 31, 32 – 345.
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In den meisten Fällen aber beziehen sich die Fragen auf strittige Sachverhalte, die zuvor in kürzerer oder längerer narrativer Form dargelegt worden sind. So lautet die von Florio an die Königin gerichtete erste Frage: Ora, dico io, grandissima reina, se a voi fosse l’ultima sentenza in tale questione domandata, che giudechereste voi? (IV,19,10) (Nun sage ich, große Königin, wenn von Euch die abschließende Antwort zu solch einer Frage erbeten würde, wie würdet Ihr urteilen?)
Mit der Formulierung »in tale questione« bezieht sich Florio zurück auf die zuvor gegebene narrative Exposition seiner Frage: Er berichtet von einem Fest, auf dem er einst zwei junge Herren beobachtete, die ein Mädchen lieben und darüber in Streit geraten, wer von beiden wohl von ihr geliebt werde. Sie wenden sich an die Mutter des Mädchens, die ihre Tochter zu einer Entscheidung (»con segno o con parola«, IV,19,5 [mit Zeichen oder mit Worten]) auffordert. Das Mädchen überreicht dem einen Herrn ihr eigenes Haarkränzchen und nimmt dem anderen das seine vom Kopf und setzt es sich selbst auf. Beide Herren reklamieren nun, das jeweils ihnen gewährte Zeichen sei verbindlicher Ausdruck der Liebe des Mädchens, ohne sich einigen zu können.66 Florios abschließende questione greift diesen ungelösten Streitfall auf. Als dilemmatische Frage wäre er so zu formulieren: Liebt das Mädchen den Mann mehr, dem sie etwas übergibt oder denjenigen, von dem sie etwas annimmt? Die Verschiebung des zu entscheidenden Dilemmas von der Frage in die narrative Exposition der Frage verändert den Charakter der Liebesfragen erheblich. Es handelt sich hier nicht länger um theoretische Fragen, wie sie die minnekasuistische Literatur vorwiegend kennt, sondern um konkrete Fälle. Während die theoretische Frage kontextfrei und unmittelbar gestellt und verhandelt werden kann, ist der praktische Fall nur vor dem Hintergrund seiner konkreten Voraussetzungen zu beurteilen. Dazu aber muss er als zeitlich geordneter Geschehensablauf entfaltet werden. Entsprechend sieht die klassische Rhetorik für diesen Teil der Rede vor Gericht die Bezeichnung narratio vor.67 Solche narrationes, hier zu definieren als neutrale Darlegungen eines strittigen Sachverhalts,68 sind insgesamt neun der dreizehn Fragen vorgeschaltet.69 Das 66
Vgl. IV,19,1 – 9. Die narratio ist derjenige Teil der Rede, in der der Sachverhalt, über den es vor Gericht zu handeln gilt, parteilich dargelegt wird. Inbesondere in Reden des genus iudiciale, das mit der Verhandlung von casus hier ja aufgerufen ist, ist die narratio als notwendige Ergänzung der zu beurteilenden Streitfrage zu werten, vgl. Gert Ueding, Bernd Steinbrink, Grundriß der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode. 3., überarb. und erw. Aufl., Stuttgart / Weimar 1994, 261 – 263. 68 Eine wichtige Differenz zu den Vorgaben der klassischen Rhetorik, die die narratio als parteiliche Darlegung des Sachverhalts bestimmt, vgl. Ueding u. Steinbrink, Grundriß der Rhetorik, 261, ist hier deren Neutralität, denn Parteilichkeit verbietet sich schon auf 67
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diskursive Spiel der Liebesfragen wird damit um ein narratives Moment erweitert, das in der Spielregel so zunächst nicht vorgesehen ist. Dass die Figuren diese Abweichung wahrnehmen und ihr einen eigenen Wert beimessen, zeigt sich an den Antworten der Königin, die mehrfach neben der vorgelegten questione auch die zugehörige novella lobt: »Bellissima è la novella e la dimanda« (IV,32,1 [Sehr schön ist sowohl die Geschichte als auch die Frage]) beginnt sie ihre Antwort auf die vierte Frage, und der Erzähler kommentiert zu Beginn ihrer Antwort auf die zwölfte Frage: »Alquanto sorrise la reina di questa novella« (IV,64,1 [Über diese Geschichte musste die Königin einige Zeit lächeln]). Die Verwendung des Wortes novella für die narratio der Kasus indiziert zwar, dass hier tatsächlich beobachtet werden kann, wie »der Kasus auf die Novelle zustrebt«70, aber zugleich ist sie doch nicht terminologisch:71 Denn bei den narrationes der Questioni d’amore handelt es sich durchaus nicht um Novellen vom Format und im Stil des Decameron. Das lässt sich zum einen am Verhältnis von Fragesteller und präsentiertem Fallbericht verdeutlichen: Die Figuren in der Questioni-Episode tragen in der Mehrzahl Fälle vor, die mit ihrer eigenen Person verbunden sind. Das macht sie in Bezug auf das berichtete Geschehen zu involvierten Berichterstattern.72 Drei Fragesteller präsentieren Grund jener Struktur, die dem Dilemma inhärent ist: Dieses muss so formuliert sein, dass die vorgelegten Alternativen gleichermaßen verteidigt werden können; schließlich weiß der Fragesteller nicht, welche Seite er zu verteidigen hat. 69 Eine narratio weisen auf: QI, QII, QIII, QIV, QV, QVI, QX, QXII, QXIII. Eine wichtige intertextuelle Parallele zu den Questioni d’amore sind in dieser Hinsicht Andreas’ iudicia amoris, die ebenfalls zum Teil mit einer narratio ausgestattet sind: Die Kasus I, II, XIII, XIV, XVI und XVII haben eine narratio; die Kasus III – VIII, XII, XV und XIX weisen zumindest wenige kontextualisierende Informationen auf; die Kasus IX – XI, XVIII, XX, XXI bestehen nur aus einer einzelnen Frage, vgl. Andreas, De amore, 430 – 473 (II,7). 70 Jolles, Einfache Formen, 196. 71 Die Frage, ob das Wort novella im 20 Jahre jüngeren Decameron bereits den Status eines Begriffs hat, ist in der Forschung nach wie vor umstritten. Der extradiegetische Erzähler des Decameron hält einerseits programmatisch in der Schwebe, was eine novella sei (Proemio, 13) und hat doch selbst durchaus einen gewissen Begriff von ihr, wenn er das Exempel von Filippo Balducci in der Introduzione zum vierten Tag als »non una novella intera [ . . . ] ma parte d’una« (IV, Introd., 11) bezeichnet. Zur Forschungsdiskussion vgl. exemplarisch Branca (Boccaccio, Decameron, 9, Anm. 1); dagegen Picone, »L’invenzione della novella«; Haug, »La problematica«; sowie Enrico Malato, »La nascita della novella italiana: Un’alternativa letteraria borghese alla tradizione cortese«, in: La novella italiana. Atti del Convegno di Caprarola 19 – 24 settembre 1988, 2 Bde. (Biblioteca di ›Filologia e critica‹ 3,1+2), Rom 1989, Bd. 1, 3 – 45, bes. 28 – 32. 72 Wäre die narratio keine rhetorische Funktion, sondern ein narrativer Text, müsste man die Berichterstatter mit der Terminologie Genettes als homo- bzw. autodiegetische Erzähler bezeichnen. Für die Questioni d’amore-Episode ist gerade das Nebeneinander von rhetorischer narratio und selbständiger Erzählung kennzeichnend. Sie eignet sich daher im Sinne Stierles (vgl. ders., »Geschichte als Exemplum«) besonders gut, um Differen-
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dagegen Fälle, die sie lediglich vom Hörensagen kennen, die zeitlich unbestimmt in der Vergangenheit liegen, und bei denen die Anbindung an die eigene Person nur eine lose räumliche ist. Entsprechend tendiert ihre narratio zur Erzählung; die neutralen Berichterstatter werden unter der Hand zu heterodiegetischen Erzählern und präfigurieren damit jene Erzählhaltung, die für die Erzähler der Decameron-Novellen ausnahmslos kennzeichnend ist.73 Differenzen zwischen den narrationes der Questioni d’amore und den Novellen des Decameron betreffen aber zum anderen ganz grundsätzlich den narrativen Status der beiden Textformen: Denn im Unterschied zu den Novellen des Decameron handelt es sich bei den narrationes (in der Mehrzahl) um unselbständige Narrative. Das gilt sowohl für die aktantielle als auch für die axiologische Ebene:74 Eine narratio, die in eine offene Frage mündet, kann zwangsläufig keine Geschichte mit Anfang, Mitte und Schluss bieten. Sie bleibt aktantiell unvollständig, weil ihr das Ende fehlt, das mit der Beurteilung des strittigen Sachverhalts stets noch aussteht. Entsprechend unterdeterminiert bleibt auch die Frage der Axiologie: Es zeichnet den Kasus ja gerade aus, dass die Frage, wie die entfaltete problematische Handlung zu bewerten sei, nicht entschieden ist, sondern in der Schwebe bleibt. Die narrationes der Questioni d’amoreEpisode präsentieren insofern nur ein Geschehen, nicht aber eine Geschichte. Sie sind daher als proto- oder vornarrative Formen zu bezeichnen, die aus sich heraus keinen narrativen Sinn zu generieren vermögen.75 Ihre narrative Unvollständigkeit und Unselbständigkeit ist in diesem Zusammenhang allein deshalb akzeptabel, weil sie die ausschließlich pragmatische Funktion erfüllen, eine strittige Frage zu exponieren. zen von pragmatischen und poetischen narrativen Texten und die Voraussetzungen für die Übergänge der einen in die andere Form zu beschreiben. 73 Wehle, Novellenerzählen, 98, hat dies als »markante Dissoziation« von Erzählern und Geschichten im Decameron hervorgehoben. 74 Zur Terminologie vgl. Algirdas Julien Greimas, »A Problem of Narrative Semiotics: Objects of Value«, in: ders., On Meaning. Selected Writings in Semiotic Theory, übers. Paul J. Perron, Frank H. Collins, Foreword by Fredric Jameson, Introduction by Paul J. Perron, London 1987, 84 – 105; an Greimas anknüpfende, präzisierende Ausführungen zum Zusammenhang von Wert und Handlung sowie Axiologie und Perspektive bei Hartmut Bleumer, Die narrative Interferenz. Schritte einer historischen Narrativistik im literarischen Feld um Dietrich von Bern, Habil. masch., Hamburg 2002, 146 – 159. Für die Möglichkeit, in seine Studie Einblick nehmen zu können, danke ich Hartmut Bleumer herzlich. 75 Damit wäre der Kasus gerade keine ›einfache Form‹ wie Legende, Witz oder Märchen, sondern noch im Vorfeld narrativer Formen zu verorten. Gleichwohl will Jolles eine geschlossene narrative Form für den Kasus dezidiert nicht gelten lassen: Der Kasus höre auf, »ganz er selbst zu sein, wo durch eine positive [i. e. gesetzte, C. E.] Entscheidung die Pflicht der Entscheidung aufgehoben wird« (Jolles, Einfache Formen, 191). Damit bleibt der Kasus in narratologischer Perspektive ein Geschehensbegriff ohne Geschichtsstruktur.
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Bezogen auf Florios erste Frage zu den uneindeutigen Liebeszeichen heißt das: Aktantiell könnte dieser Fall dann zu einer Geschichte werden, wenn das Begehren eines der beiden jungen Männer zum Ziel käme, wenn also einer von ihnen tatsächlich das Mädchen bekäme. Mit der Entscheidung für einen Liebhaber wäre auch ein axiologischer Mehrwert erreicht, weil dann nicht mehr nur die Position der Frau axiologisch besetzt wäre, sondern auch umgekehrt die des erwählten Mannes. So aber bleibt nicht nur die Entscheidung des Mädchens offen, es bleibt auch unklar, ob von ihrer Seite überhaupt Liebe (und damit ein Wert) im Spiel ist. In zwei Fällen allerdings liegen in der Questioni d’amore-Episode schon mit der narratio vollständige (Fall-)Geschichten vor und es dürfte kein Zufall sein, dass Boccaccio gerade diese Geschichten in das Decameron übernommen hat. Es handelt sich dabei um die narrationes zur vierten und dreizehnten Frage, die als fünfte und vierte Novelle des zehnten Tages Eingang ins Decameron gefunden haben.76 Mit der aktantiellen und axiologischen Komplettierung der narratio zur Geschichte verliert jedoch im Gegenzug der Fall seine spezifisch offene Form und hört damit im Sinne Jolles’ auf, ›ganz er selbst zu sein‹.77 Entsprechend überflüssig wirkt die im Anschluss an die Geschichte gestellte Frage: Sie ist nicht länger notwendige Konsequenz aus einem berichteten Sachverhalt, die auf dessen Beurteilung drängt, sondern verweist in die erzählte Geschichte zurück und könnte daher so aber auch anders gestellt werden. Die Strittigkeit des Falls – oder allgemeiner: das präsentierte Problem – ist in der Geschichte längst gelöst worden und braucht daher nicht mehr zwingend extern verhandelt zu werden. Dies macht Menedons vierte Frage deutlich:78 Erzählt wird die weitschweifige Geschichte des Ritters Tarolfo, der eine verheiratete Dame liebt. Diese will ihn loswerden und stellt ihm daher die vermeintlich unmögliche Aufgabe, ihr 76 Für einen Vergleich der entsprechenden Questioni bzw. Novellen vgl. Quaglios Kommentare zu QIV (Boccaccio, Filocolo, 774 [zu IV,34 Anm. 22]) und QXIII (ebd., 792 f. [zu IV,70 Anm. 2]) sowie Brancas Kommentare zu X,5 (Boccaccio, Decameron, 1148, Anm. 1) und X,4 (Boccaccio, Decameron, 1137, Anm. 1); Rajna, »L’episodio delle questioni d’amore«, 40 – 47, 57 – 68; Dennis Dutschke, »Boccaccio: A Question of Love. A Comparative Study of Filocolo IV,13 and Decameron X,4«, The Humanist Association Review 26 (1975), 300 – 312; Edoardo Sanguineti, Lettura del Decameron, hg. Emma Grimaldi, Salerno 1989, 49 – 51; Emmelius, Gesellige Ordnung, Kap. 5.4.2.2; Luigi Surdich, »Esempi di ›generi letterari‹ e loro rimodellizzazione novellistica«, in: Autori e lettori di Boccaccio. Atti del Convegno internazionale di Certaldo, 20 – 22 settembre 2001 (Quaderni della Rassegna, 29), hg. Michelangelo Picone, Florenz 2002, 141 – 177; Hinweise auf weitere Literatur bei dems., La cornice di amore, 37, Anm. 67. 77 Jolles, Einfache Formen, 191. 78 Indem Menedon gleich zu Beginn ankündigt, seine Frage sei aus sich heraus nicht verständlich und müsse durch eine Geschichte (novella) expliziert werden (vgl. IV,31,1), deutet er die systematische Entkopplung von Fallgeschehen und Frage bereits an.
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im Januar einen frühsommerlichen Garten mit Blumen und Früchten zu verschaffen. Tarolfo beauftragt den Zauberer Tebano, der das Wunder schließlich vollbringt. Die Dame sagt Tarolfo seinen Liebeslohn zu, offenbart sich schließlich jedoch ihrem Ehemann, der ihr den Rat gibt, ihr Versprechen zu halten und sich Tarolfo hinzugeben. Als Tarolfo von der Großzügigkeit des Ehemanns erfährt, ist er so beeindruckt, dass er davon absieht, sich von der Dame entlohnen zu lassen. Der Zauberer seinerseits bewundert Tarolfo für diesen Großmut und verzichtet auf den ihm zustehenden Lohn für den Zaubergarten. Menedon lässt seine Geschichte in die folgende Frage münden: Dubitasi ora quale di costoro fosse maggiore liberalità, o quella del cavaliere che concedette alla donna l’andare a Tarolfo, o quella di Tarolfo, il quale quella donna cui egli avea sempre disiata, e per cui egli avea tanto fatto per venire a quel punto che venuto era, [ . . . ] rimandò la sopradetta donna intatta al suo marito; o quella di Tebano, il quale, abandonate le sue contrade, oramai vecchio, e venuto quivi per guadagnare i promessi doni, e affannatosi per recare a fine ciò che promesso avea, avendoli guadagnati, ogni cosa rimise, rimanendosi povero come prima (IV,31, 54 f.). (Nun ist zu fragen, welches die größte Freigebigkeit sei: die des Ritters, der der Dame zugestand zu Tarolfo zu gehen, oder die Tarolfos, der die Dame immer begehrt hatte und um deretwillen er so viel getan hatte, damit er an den Punkt komme, den er nun erreicht hatte [ . . . ] und der die Dame nun unberührt ihrem Ehemann zurückgab, oder die Freigebigkeit Tebanos, der seine Heimat verließ, obgleich er schon alt war, und hierher kam mit Aussicht auf die versprochene Belohnung und der sich so sehr bemühte, um das Zugesagte fertigzubringen und der, nachdem er sich seinen Lohn verdient hatte, alles zurückgab und arm wie zuvor blieb.)
Diese Frage formuliert keinen Fall, dessen Beurteilung auf der Basis des vorgetragenen Sachverhalts noch aussteht. Zwar liegt der erzählten Geschichte ein Liebeskasus zugrunde – eine verheiratete Dame sagt einem Werber Lohn zu und gerät damit zwischen die Normen des Eherechts und des amour courtois79 –, aber dieser Fall ist mit der quasi-richterlichen Entscheidung des Ehemannes, dass die Lohnforderung Tarolfos rechtmäßig und daher einzulösen sei, schon in der Geschichte entschieden.80 Aktantiell deutet sich somit für das Fallgeschehen ein Abschluss an. Bezeichnenderweise ist aber die erzählte Geschichte noch nicht zu Ende, denn das liebestheoretisch richtige Urteil erzeugt ein axiologisches Desiderat: Seine praktische Umsetzung würde den selbstlos gegen die eigenen Interessen und die eigene Ehre urteilenden Ehemann als moralischen Verlierer dastehen lassen. Der Fall käme zu einem Ende, aber es 79 Vgl. das 8. und das 17. Urteil der iudicia amoris (Andreas, De amore, 444 f., 462 f.) sowie zur Frage der Verbindlichkeit von Geschenken eines Werbers auch das 19. Urteil (ebd., 464 – 467). Eine analoge Problemkonstellation bearbeitet die mhd. Verserzählung Moriz von Craûn. 80 Vgl. den Urteilsspruch in IV,31,44.
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wäre kein gutes Ende. Genau über diese Wertediskrepanz reflektiert Tarolfo, als ihm die großmütige Entscheidung des Ehemannes bekannt wird: Jeder, der sich gegenüber einem so freigebigen Edelmann unangemessen und grob verhalte, eine unhöfische villania verübe, ziehe schwersten Vorwurf auf sich.81 Erst der freiwillige Verzicht des Ritters auf seinen rechtmäßigen Lohn kompensiert insofern das axiologische Desiderat und generiert einen narrativen Mehrwert, der alle am Geschehen beteiligten Personen zu ethischen Gewinnern macht: Die moralische Integrität der Eheleute bleibt unangetastet und der Werber bekommt zwar Recht, bleibt aber zugleich der Idealität seines Minnedienstes treu. Die Wirkung dieser ethischen Lösung des Falls ist so stark, dass selbst der nur ökonomisch involvierte Zauberer affiziert wird und auf einen rein materiellen Gewinn verzichtet. Die Frage nach der Gewichtung der Freigebigkeit der drei männlichen Akteure zielt also nicht auf einen Kasus, dessen aktantielle und axiologische Vervollständigung ihre Beantwortung generierte, sondern sie reflektiert den Sinn der erzählten Geschichte. Die Frage nach der Gewichtung der liberalità zwingt nicht nur dazu, das Geschehen aus der Perspektive unterschiedlicher Figuren zu beurteilen – das wäre beim Kasus durchaus analog –, sondern sie fokussiert zugleich jenen Wert, der das Fallgeschehen zur Fallgeschichte, den Kasus zur Novelle macht. Diese erzählt eben nicht von der regelgemäßen Beurteilung eines normativen Dilemmas, sondern von wertebasiertem zwischenmenschlichen Verhalten.82 Entsprechend ermöglicht die Frage zur Geschichte etwas, was die Frage zum Kasus nicht kann: Sie verweist auf die pluralen Möglichkeiten, den Sinn einer Geschichte zu bewerten.83 81 »La qual cosa udendo, Tarolfo più che prima s’incominciò a maravigliare e a pensare forte, e a conoscere cominciò la gran liberalità del marito di lei che mandata a lui l’avea, e fra sé cominciò a dire che degno di gravissima riprensione sarebbe chi a così liberale uomo pensasse villania« (IV,31,49 [Als er diese Sache hörte, begann Tarolfo sich mehr denn zuvor zu wundern und stark nachzudenken, und begann die große Freigebigkeit ihres Ehemannes zu erkennen, der sie ihm überlassen hatte, und er begann sich zu sagen, dass derjenige schwersten Vorwurf auf sich ziehe, der sich einem so freigebigen Mann gegenüber unangemessen zu verhalten gedenke.]). 82 Das gilt auch für die Fallexposition zur dreizehnten Frage, in der ein Ritter seine als scheintot begrabene Geliebte nach ihrer Genesung wieder ihrem Ehemann übergibt, vgl. IV,67. Die Decameron-Novelle X,4 übernimmt diese Geschichte, stellt dabei aber den zugrundeliegenden Kasus viel deutlicher aus: Gentil Carisendi, der liebende Ritter, wird hier in einer inszenierten Fallverhandlung zunächst einmal als rechtmäßiger Eigentümer seiner geliebten Madonna Catalina ausgewiesen, wodurch die Diskrepanz zwischen der normativ richtigen Beurteilung der Rechtslage und seinem großzügigen, guten Verhalten besonders exponiert wird, vgl. hierzu Emmelius, Gesellige Ordnung, Kap. 5.4.2.2. 83 Entsprechend müsste die sich anschließende Diskussion dem Sinn der Geschichte gelten, da dies aber das vereinbarte Spiel entscheidend verändern würde, baut Fiammetta Menedons Frage in ihrer Antwort zu einem theoretischen Kasus um (Was gilt mehr: Die Freigebigkeit mit Ehre, die mit erotischem Begehren oder die mit Geld?), den sie dann spielkonform beantwortet, vgl. IV,32 – 34.
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Die Beobachtungen erlauben den Schluss, dass die schon von Jolles beobachtete generische Verwandtschaft von Minnekasus und Novelle am Beispiel der Questioni d’amore-Episode konkret nachzuvollziehen ist. Voraussetzung für das Postulat einer generischen Nähe ist die konsequente Einschreibung der vorwiegend theoretischen Gattung der Liebesfragen in einen juristischen Situationsund Diskurszusammenhang. Die Transformation der theoretischen Frage zum praktischen Fall erfordert entsprechend den Vorgaben der klassischen Rhetorik eine narratio, die Umstände und Voraussetzungen des Falls entfaltet. In der Questioni d’amore-Episode wird hierfür die Bezeichnung novella verwendet, unabhängig davon, ob damit ein Fallgeschehen oder eine Fallgeschichte bezeichnet wird. In den meisten Fällen handelt es sich bei diesen novelle um in aktantieller und axiologischer Hinsicht protonarrative Formen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass ihr Ende – das Urteil – noch aussteht. Im Zuge der Verhandlung und Beurteilung des Falls wird dieses Ende hergestellt, allerdings nur in diskursiver und nicht in narrativer Form. Zu einer Fallgeschichte wird eine novella erst dann, wenn das Fallgeschehen aktantiell abgeschlossen, das Urteil zum Fall also bereits in die Narration integriert wird, und wenn die normative Basis des Urteils axiologisch überformt wird, wenn also der dilemmatische Rechtsfall in ein ethisches Problem überführt wird. Diese Geschichtsstruktur der Novelle hebt dann ihrerseits den Kasus auf.84 Dass diese zweite Konzeption einer novella auch für das Decameron Gültigkeit beanspruchen kann, zeigen die poetologischen Aussagen des Erzählers im Proemio der Novellensammlung. Zwar lässt er zunächst kalkuliert offen, was für ein Texttypus hier zu erwarten sei. Für die liebeskranken Damen, denen er sein Werk adressiert, beabsichtige er »di raccontare cento novelle, o favole o parabole o istorie che dire le vogliamo« (Proemio, 13 [hundert Geschichten oder Fabeln oder Parabeln oder wahre Begebenheiten, wie immer man sie nennen will, zu erzählen]).85 Aber dann präzisiert er seine Vorstellungen doch, indem er sagt, um was es in den Novellen gehen solle: Nelle quali novelle piacevoli e aspri casi d’amore e altri fortunati avvenimenti si vederanno così ne’ moderni tempi avvenuti come negli antichi (Proemio, 14). (In diesen Geschichten zeigen sich vergnügliche und bittere Liebesfälle und andere zufällige Begebenheiten, die sich in heutigen und in alten Zeiten ereigneten.)
Auch die Novelle des Decameron ist somit ein erzählter Fall.86 Im Unterschied zu den Questioni geht es hier jedoch nicht allein um Liebesfälle. Die Definition wird in dieser Hinsicht erweitert: Auch von anderen Begebenheiten 84
Vgl. Jolles, Einfache Formen, 196. Übersetzungen stammen von mir. 86 Dass die brigata-Erzähler ihre Novellen z. T. selbst so bezeichnen, vermerkt Stierle, »Geschichte als Exemplum«, 34. 85
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oder Vorfällen soll die Rede sein. Der Hinweis darauf, dass diese Vorfälle jeweils Fortuna unterworfen, also zufällig oder kontingent seien, betont eine der erzählten Geschichte zugrundeliegende offene Geschehensstruktur, die sich schon in der juristischen Fallkonzeption der Questioni d’amore-Episode andeutet. Die Betonung der Unberechenbarkeit des jeweiligen Ausgangs der Geschichte impliziert darüber hinaus die Unmöglichkeit, ihr Sinnangebot zu verallgemeinern: Denn in dem Maße, in dem der theoretische zu einem praktischen Fall wird, wird er einzigartig. Keine Begebenheit kann dann einer vorherigen oder folgenden gleichen, jeder Einzelfall ist auf Grund seiner spezifischen Voraussetzungen und seines Fortuna unterworfenen Geschehensablaufs unwiederholbar. Der sog. ›Realismus‹ des Decameron – die Obsession der Erzählinstanzen, Personen und Orte genau zu bezeichnen und die Umstände der erzählten Fälle exakt zu rekonstruieren –,87 dieser ›Realismus‹, der zu den unhinterfragten Merkmalen des ›neuen Erzählens‹ bei Boccaccio gehört,88 kann verstanden werden als die konsequente Fortsetzung der in den Questioni d’amore begonnenen Transformation von theoretischen zu praktischen Liebesfällen. Der ›Realismus‹ des Erzählens im Decameron wäre in dieser Perspektive das Produkt eines juristischen Erzählers.89
IV. Ausblick: Fallgeschehen und Fallgeschichte im Klugen Knecht des Strickers Die These zur Genese der Decameron-Novelle aus dem Liebeskasus bewegte sich literaturgeschichtlich bislang auf engem intertextuellen Raum, und es ist 87 Grubmüller, Ordnung, Witz und Chaos, 271, spricht von »manische[r] Realitätsbesessenheit«. 88 Vgl. bes. Branca, »Contemporaneizzazione«. Bislang wird der ›Realismus‹ der Novelle Boccaccios als Anleihe bei der Chronistik verstanden, vgl. Wehle, Novellenerzählen, 76. 89 Es ist eben diese, auf die Singularität und historische Spezifität des einzelnen Falls setzende juristische Erzählweise, die den Unterschied der Decameron-Novellen zur vierten und dreizehnten Questioni-Novelle, aber auch zu den Fällen des Novellino markiert. Die umgekehrte Tendenz, also der Rückbau einer spezifischen historischen Kontextualisierung, lässt sich beobachten, wenn Fälle als induktive oder kasuistische Exempla in Rechtstraktaten Verwendung finden, vgl. Christoph Daxelmüller, »Exemplum und Fallbericht. Zur Gewichtung von Erzählstruktur und Kontext religiöser Beispielgeschichten und wissenschaftlicher Diskursmaterialien«, Jahrbuch für Volkskunde, N.F. 5 (1982), 149 – 159; ders., »Narratio, Illustratio, Argumentatio. Exemplum und Bildungstechnik in der frühen Neuzeit«, in: Exempel und Exempelsammlung, hg. Haug u. Wachinger, 77 – 94; Norbert H. Ott, »Bispel und Mären als juristische Exempla. Anmerkungen zur Stricker-Überlieferung im Rechtsspiegel-Kontext«, in: Kleinere Erzählformen, hg. Grubmüller, Johnson, Steinhoff, 243 – 252. Dass mittelalterliche Erzähler am juristischen Diskurs partizipieren, dürfte nicht nur im Fall des Juristen Boccaccio, sondern – ganz grundsätzlich – angesichts der Ubiquität der juristischen Ausbildung im Mittelalter plausibel sein.
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daher zu fragen, ob man ihr eine generische Relevanz zubilligen kann, die über den Novellen-Begriff Boccaccios hinausgeht.90 Da es in der deutschen Literatur keine ausgeprägte minnekasuistische Tradition gibt, ist der Kasus-Begriff hier besonders selten anzutreffen. Gleichwohl wird in der Märenforschung durchaus mit dem Stichwort ›Fall‹ gearbeitet: Es zielt dann jedoch nicht auf Erzählstrukturen, sondern auf die Bestimmung von Partikularität oder Modellhaftigkeit der erzählten Handlung.91 Anknüpfend an die Beobachtungen zu Kasus und Novelle bei Boccaccio soll hier der Vorschlag gemacht werden, einen erzähltheoretischen Kasus-Begriff auch für die mhd. Mären fruchtbar zu machen. Ein Kasus wäre demnach basal zu bestimmen als eine protonarrative Struktur, die in aktantieller und / oder in axiologischer Hinsicht defizitär ist. Den mhd. Mären liegen vielfach solche defizitären Narrative zugrunde. Im Unterschied zu den Minnekasus sind die Fälle der Mären allerdings nicht dilemmatisch: Die Abweichung von der Rechtsnorm liegt hier vielmehr offen und eindeutig zutage. Die Besonderheit des Märenerzählens scheint nun nicht nur darin zu liegen, dass das protonarrative Fallgeschehen aktantiell bzw. axiologisch zur Fallgeschichte ergänzt und damit komplettiert wird. Mit der Formierung des Falls zur Geschichte scheint vielmehr jene problematische Konstellation erst generiert zu werden, die dem Fallgeschehen der Novelle bereits inhärent ist. In den Mären konkurrieren damit – wie in der Decameron-Novelle – zwei narrative Ebenen: die des Fallgeschehens und die der Fallgeschichte. Beide sind notwendig aufeinander angewiesen. Der Kasus benötigt die aktantiellen und axiologischen Ergänzungen der Geschichte, um zu einer sinnhaften, geschlossenen Struktur mit Anfang, Mitte und Schluss zu werden; die Geschichte generiert ihrerseits ein Problem, dessen Lösung sie jedoch nur auf der protonarrativen Basis des Fallgeschehens sichtbar zu machen vermag. In diesem Sinne sind Fallgeschehen und Fallgeschichte als korrelative narrative Strukturen zu denken. Illustrieren lässt sich dieser Vorschlag am Klugen Knecht des Strickers:92 Die Frau eines Bauern begeht Ehebruch mit dem Pfarrer. Immer wenn der Bauer und sein Knecht den Hof verlassen haben, bereitet die Frau ein üppiges Mahl zu, ruft den Pfarrer, tafelt und schläft mit ihm. Der Knecht weiß von diesem Verhältnis und ersinnt eine Strategie, wie er seinem Herrn die Wahrheit über den Rechts- und Treuebruch sei90 Für die italienische Literatur lässt sich mit der Definition der Novelle als eines in eine Geschichte transformierten Rechtsfalls vermutlich arbeiten, vgl. die Novellino-Novellen 9, 10, 15, 24, 50, 56; sowie Janos Riesz, »Nachwort«, in: Il Novellino / Das Buch der hundert alten Novellen (RUB 8511), italienisch / deutsch, übers. u. hg. Janos Riesz, Stuttgart 1988, 307 – 342, hier 322. 91 Vgl. u. a. Grubmüller, Ordnung, Witz und Chaos, 88 – 90. 92 Klaus Grubmüller ordnet diesen Text den gattungsbegründenden Texten der mhd. Märendichtung zu, vgl. ders, »Einleitung«, in: Novellistik des Mittelalters, 1005 – 1018, hier 1008 f.
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ner Frau sichtbar machen kann, denn er weiß: Worte allein, noch dazu aus dem Mund eines ständisch Untergeordneten, werden dem Herrn nicht die Augen öffnen können. Eines Tages kehrt der Knecht unter einem Vorwand vorzeitig von der Arbeit im Wald zurück und versteckt sich in der Küche, so dass er die Vorgänge, die sich dort zwischen Pfarrer und Frau abspielen, beobachten kann. Wenig später folgt ihm der Bauer nach, um den Knecht zu suchen. Die Frau beeilt sich, die Bestandteile des Mahls und den Pfarrer selbst zu verstecken. Sie hofft, Knecht und Mann schnell wieder in den Wald schicken zu können, aber der Knecht bittet zunächst um ein Essen. Während er mit dem Bauern bei einem kärglichen Mahl sitzt, berichtet er, wie ihm einst unter einem anderen Herrn beim Schweinehüten ein Missgeschick widerfuhr: Ein Wolf riss eines der Ferkel, und schleppte sich – vom Knecht mit einem Stein verwundet – ins Unterholz. In diesen Bericht flicht der Knecht nun Vergleiche ein, die eine Indizienkette ergeben und seinen Herrn auf die Spur des ehebrecherischen Geschehens bringen sollen: Das gerissene Ferkel ist so groß wie das für den Pfarrer gebratene Spanferkel, der Stein so groß wie das Weißbrot, der Wolf verliert soviel Blut wie Met in der Kanne ist und schließlich gleicht der Wolf in seiner Unterholzhöhlung dem Pfarrer unter der Bank. Der Bauer erkennt, was der Fall ist, er bestraft Frau und Pfarrer. Während das Vertrauensverhältnis zur Ehefrau beschädigt bleibt, geht das zum Knecht gestärkt aus der Geschichte hervor.
Die narrativen Ebenen liegen in dieser Erzählung geradezu musterhaft vor Augen. Die Ehebruchshandlung bildet die Ebene des Geschehens; sie ist zugleich der Fall, der dieser Geschichte (wie so vielen anderen Mären) zugrundeliegt. Dass das Geschehen in dieser Weise – also als ein Rechtsbruch – aufzufassen ist, stellt der Erzähler gleich zu Beginn aus: Hoeret, waz einem manne geschah, an dem sîn êlich wîp zebrach beide ir triuwe und ir reht. (v. 1 – 3)93
Der Rechtsbruch ist hier nicht ein einmaliger, sondern ein iterierender: Das Geschehen wiederholt sich immer wieder bis zu dem Tag, an dem der Fall aufgedeckt wird. Damit kommt das Geschehen zu jenem Abschluss, auf den der Fall stets zuläuft: Indem die Abweichung von der Norm öffentlich wird, kann sie beurteilt und bestraft werden. Da Urteil und Strafe bereits Teil des Fallgeschehens sind, liegt aktantiell eine vollständige narrative Form vor. Trotzdem ist diese Geschehensstruktur aus Fall, Urteil und Strafe noch keine Geschichte. Was ihr fehlt, ist die Ebene der Werte, die Axiologie. Die Kompensation des Rechtsbruchs durch die Strafe sorgt exakt für Genugtuung. Der dem Bauern entstandene Schaden wird ausgeglichen, das Recht wird formal wiederhergestellt. Aber einen narrativen Mehrwert erzeugt diese Handlungsstruktur aus Ordnungsverstoß und Replik94 doch nicht. Axiologisch gesehen bleibt die 93
Der Text wird zitiert nach: Novellistik des Mittelalters, 10 – 29. Die Forschung spricht hier von Schwanklogik, vgl. Hermann Bausinger, »Bemerkungen zum Schwank und seinen Formtypen«, Fabula 9 (1967), 118 – 136, bes. 126 f.; Grub94
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Ebene des Geschehens neutral und diese Neutralität der Werte spiegelt sich auch im Ausgang des Falls: Die Beziehung zwischen Bauer und Frau bleibt zwar in der rechtlichen Form der Ehe bestehen, aber Zuneigung und Vertrauen, also das, was der Ehe über den institutionellen Rahmen hinaus ihren Mehrwert verschafft, sind daraus verschwunden: Swie wol si sît des wirtes pflac, er wart ir dar nâch niemer mê sô rehte holt, als er was ê. (v. 300 – 302)
Die Ebene des Geschehens hat also die Struktur eines aktantiell vervollständigten Kasus. Weil sie aber axiologisch defizitär bleibt, kann sie nicht zur Geschichte werden. Und es ist folgerichtig auch nicht die Geschichte des Ehebruchs, die in diesem Märe erzählt wird. Im Zentrum der Geschichte stehen weder die Frau noch der Pfarrer, sondern, der Erzähler weist gleich im ersten Vers darauf hin, der Bauer. Das Fallgeschehen liefert hier lediglich Basis und Anlass für jene Geschichte, in der ein Knecht seinen Herrn in einem komplexen Verfahren aus Listhandeln, Rede und impliziter Beweisführung die wârheit sehen lässt. Erst die Ebene der Geschichte führt damit auf eine problematische Konstellation, deren Lösung sie zugleich präsentiert: Wie unter Wahrung der ständischen Differenz zwischen Knecht und Herrn prekäre Informationen kommuniziert werden können.95 Das kommunikative Verfahren des Knechts spiegelt auf metadiegetischer Ebene die Korrelation von Geschehen und Geschichte, wie sie auch für die Erzählung als solche kennzeichnend ist: Der Knecht berichtet von einem Ereignis, das ihn als untriuwe ausweist. Der Bauer meint, ein mære, eine Geschichte, zu hören,96 ohne dass das berichtete Geschehen je zu einer solchen wird. Die Geschichte, die der Bauer wahrnimmt, stellt sich erst über jene Indizienkette ein, die der Knecht in seinen Geschehensbericht einfügt. In der neuen narrativen Verknüpfung der herausgelösten Indizien ergibt sich dann jenes mære, zu deren Sinn der Bauer nach der Vorstellung des Knechts vorstoßen soll: die Wahrheit über das moralisch verwerfliche Verhalten seiner Frau zum einen, die über das sozial angemessene und damit gute Verhalten seines Knechts zum anderen.97 müller, Ordnung, Witz und Chaos, 82 – 87, bes. 86. Ebensogut und hinsichtlich der Geschehensstruktur sogar präziser könnte man von Falllogik sprechen. 95 Während die Decameron-Novelle also ein normatives Dilemma in ein ethisches Problem überführt, scheint das Stricker-Märe das ethische Problem auf der Basis eines normativ eindeutigen Verstoßes zu generieren. 96 Vgl. v. 230, 246, 263, 283. 97 In der bisherigen Forschung wird die narrative Unselbständigkeit der ›Binnenerzählung‹ des Knechts nur unzureichend konstatiert, vgl. Hedda Ragotzky, Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers (Studien und Texte zur Sozial-
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Auf der Ebene der Geschichte versetzt der Knecht seinen Herrn also mittels eines Geschehensberichts, aus dem der Bauer seinerseits eine Geschichte generiert, in die Lage, das aktantielle Ungleichgewicht auf der Ebene des Ehebruchgeschehens zu erkennen und handelnd auszugleichen. Der axiologische Mehrwert besteht in dem Verfahren des Erkennens selbst und in der Stabilisierung der wechselseitigen triuwe-Bindung zwischen Herrn und Knecht. Schließlich ist im Klugen Knecht auch die Ebene des discours dezidiert markiert: Die Geschichte der gelungenen Interaktion von Bauer und Knecht wird in der Perspektive des Erzählers zu einem Exempel für ein geschicktes Listhandeln, das, weil es die sozialen Relationen der Handelnden beachtet, moralisch aufgewertet werden kann.98 Das Stricker-Märe, so ließe sich vorläufig zuspitzen, nutzt also die protonarrative Struktur des Kasus, die die Störung und Restitution des ordo vorführt, um auf dieser Basis narrativ vollständige und daher sinntragende Geschichten zu generieren, in denen es vorrangig um die Möglichkeiten der Herstellung von normativer Einsicht und situationsbezogener Erkenntnis geht.99 Diese Geschichten können von ihren Erzählern in ganz unterschiedlicher Weise (mal mehr und mal weniger ausgeprägt) diskursiv funktionalisiert werden. Im Zusammenspiel dieser drei Ebenen (Fallgeschehen, Fallgeschichte, discours) bleibt die Frage, wie narrativer Sinn erzeugt werden kann, zugleich ständig präsent. Mit diesem erzähltheoretischen Instrumentarium wären nun weitere Texte zu prüfen: Wo wird ein präsentiertes Fallgeschehen tatsächlich zu einer problemorientierten, problemlösenden Geschichte? Wo bleibt es aktantiell unvollständig, axiologisch offen und daher ›sinnlos‹?100 Und wo wird ihm lediglich durch geschichte der Literatur 1), Tübingen 1981, 85 – 89; Klaus Grubmüller, »Schein und Sein. Über Geschichten in Mären«, in: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19), hg. Harald Haferland, Michael Mecklenburg, München 1996, 243 – 257, bes. 255 f.; Wolfgang Achnitz, »Ein maere als Bîspel. Strickers Verserzählung ›Der kluge Knecht‹«, in: Germanistische Mediävistik (Münsteraner Einführungen. Germanistik 4), hg. Volker Honemann, Tomas Tomasek, Münster 1999, 177 – 203; weniger in narratologischer als vielmehr in epistemologischer Hinsicht instruktiv ist der Beitrag von Scheuer, »Schwankende Formen«. 98 Vgl. v. 308 – 338. Zum programmatischen Stichwort der gevüegen kündikeit vgl. Ragotzky, Gattungserneuerung, 87 – 89. 99 Vgl. Ragotzky, Gattungserneuerung, 86 u. 89; Grubmüller, Ordnung, Witz und Chaos, 83 – 91. 100 Die Suche nach einer axiologisch basierten Geschichtsstruktur in der mittelalterlichen Kurzerzählung kennzeichnet in besonderer Weise die Arbeiten von Walter Haug, die sich vor allem auf das ethische Sinnangebot bzw. dessen Fehlen konzentrieren, vgl. ders., »Entwurf zu einer Theorie der mittelalterlichen Kurzerzählung«, in: Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts (Fortuna vitrea 8), hg. Walter Haug, Burghart
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die Diskursinstanz des Erzählers ein Sinn angeheftet, ohne dass es eine sinnstiftende Geschichtsstruktur aufwiese?101 Insbesondere dem Erzählen Kaufringers müsste man so auf die Spur kommen, denn Kaufringer, dessen Mären von Ordnungsverlust, grotesken Exzessen und freigesetzter Gewalt berichten,102 reaktiviert in auffälliger Weise die Geschehensstruktur des Kasus,103 zum Teil ohne sie als Erzähler noch in Geschichten überführen zu können. Möglicherweise ist die Geschichte der mittelalterlichen Novellistik auch von dieser spezifischen Korrelation der narrativen Formen geprägt: einer Tendenz, den Kasus zur Novelle zu machen, und einer gegenläufigen, in der die Geschichte sich in ein Fallgeschehen auflöst.
Wachinger, Tübingen 1993, 1 – 36; ders., »Das Böse und die Moral. Erzählen unter dem Aspekt einer narrativen Ethik«, in: Interdisziplinäre Ethik. Grundlagen, Methoden, Bereiche. Festgabe für Dietmar Mieth zum 60. Geburtstag, hg. Adrian Holderegger, JeanPierre Wils, Freiburg (Schweiz) 2001, 243 – 268; ders., »Schlechte Geschichten – böse Geschichten – gute Geschichten, oder: Wie steht es um die Erzählkunst in den sog. Mären des Strickers?«, in: Die Kleinepik des Strickers. Texte, Gattungstraditionen und Interpretationsprobleme (Philologische Studien und Quellen 199), hg. Emilio González, Victor Millet, Berlin 2006, 9 – 27. 101 Diese Möglichkeit postuliert Klaus Grubmüller, »Das Groteske im Märe als Element seiner Geschichte. Skizzen zu einer historischen Gattungspoetik«, in: Kleinere Erzählformen, hg. Haug u. Wachinger, 37 – 54, hier 45. 102 Vgl. Grubmüller, »Das Groteske im Märe«; ders., Ordnung, Witz und Chaos, 175 – 191. 103 Angedeutet ist diese Vorstellung bei Jan-Dirk Müller, »Noch einmal: Maere und Novelle. Zu den Versionen des Maere von den ›Drei listigen Frauen‹«, in: Philologische Untersuchungen. Gewidmet Elfriede Stutz zum 65. Geburtstag (Philologica Germanica 7), hg. Alfred Ebenbauer, Wien 1984, 289 – 311, hier 304 – 306; und Udo Friedrich, »Metaphorik des Spiels und Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer«, IASL 21 (1996), 1 – 30, hier 4 u. 15 f.
. . . denn sie sind selber auferstanden . . . Tendenzen und Desiderate der mediävistischen deutschen Dramenforschung Von Klaus Wolf
Sie feiern die Auferstehung des Herrn, Denn sie sind selber auferstanden, Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern, Aus Handwerks- und Gewerbes-Banden, Aus dem Druck von Giebeln und Dächern, Aus der Straßen quetschender Enge, Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht Sind sie alle ans Licht gebracht. . . . 1
Fausts bekannte Worte während seines Osterspaziergangs geben – allerdings ungewollt und mehr im Sinne einer säkularisierten Osterpredigt – durchaus zutreffend die Aufführungsmodalitäten der spätmittelalterlichen Osterspiele und ihres Publikums als repraesentatio fidelium wie repraesentatio peccatorum wieder.2 Natürlich konnte Johann Wolfgang von Goethe, der gebürtige Frankfurter mit patrizischer Herkunft, in seiner Zeit bei der Adaptation des mittelalterlichen Faust-Stoffs nichts vom Frankfurter Osterspielfragment wissen, geschweige denn von der Frankfurter Dirigierrolle oder vom Frankfurter Passionsspiel 3 und deren nicht zuletzt durch patrizische Protektion realisierten 1 Johann Wolfgang Goethe, Faust. Teilband 1: Texte. Teilband 2: Kommentare, hg. Albrecht Schöne, Bibliothek deutscher Klassiker 114, Frankfurt am Main 1994, 1, 52 / 921 – 928; 2, 234: »So wird in dieser weltlichen Auferstehungspredigt des Volkes wahrer Himmel beschrieben, steht an ihrem Ende der kollektive Jubelruf: Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.« 2 Zur mittelalterlichen Publikumsgemeinde als repraesentatio fidelium wie repraesentatio peccatorum neuerdings Johannes Janota, »REPRAESENTATIO PECCATORUM. Zu Absicht und Wirkung der spätmittelalterlichen Passionsspielaufführungen«, Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 137 (2008), 439 – 470. – Nicht zuletzt wird am Ostermorgen liturgisch die erwürdige Nacht der Passion durch das Entzünden der Osterkerze erleuchtet. Letztlich kontrastiert bei Goethe hier der Kirchen ehrwürdige Nacht freilich dem Licht der Aufklärung (enlightenment). 3 Vgl. die Neuausgabe der Frankfurter Oster- und Passionsspieltradition samt Kommentar: Frankfurter Dirigierrolle. Frankfurter Passionsspiel. Mit den Paralleltexten der
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Aufführungstraditionen. Ebensowenig spielen mittelalterliche Überlieferungszeugnisse und Aufführungen von mittelalterlichen geistlichen und weltlichen Dramen wenigstens als Kontrastfolie für Forschungen zum deutschen Drama der Neuzeit (vom epischen Theater Bertolt Brechts einmal abgesehen)4 eine nennenswerte Rolle. Ein vergleichbares Desinteresse am mittelalterlichen Drama gilt sogar teilweise für die germanistische Mediävistik, obwohl sie – zumindest in der Forschung – den früher gültigen Kanon der stauferzeitlichen5 weltlichen Epik und Lyrik erfolgreich aufgebrochen hat. Stichhaltige Gründe für dieses offenkundige Desinteresse (von dem allerdings die Schweizer Mittelaltergermanistik nicht betroffen ist6) lassen sich nicht angeben. Ganz sicher ›Frankfurter Dirigierrolle‹, des ›Alsfelder Passionsspiels‹, des ›Heidelberger Passionsspiels‹, des ›Frankfurter Osterspielfragments‹ und des ›Fritzlarer Passionsspielfragments‹, hg. Johannes Janota, Die Hessische Passionsspielgruppe, Edition im Paralleldruck, Band 1, Tübingen 1996. Klaus Wolf, Kommentar zur ›Frankfurter Dirigierrolle‹ und zum ›Frankfurter Passionsspiel‹, Die Hessische Passionsspielgruppe. Edition im Paralleldruck, Ergänzungsband 1, Tübingen 2002. 4 Beim epischen Theater sind Bezüge zum Drama des Mittelalters deutlicher gesehen worden. So äußert sich Bertolt Brecht: »In stilistischer Hinsicht ist das epische Theater nichts besonders Neues. Mit seinem Ausstellungscharakter und seiner Betonung des Artistischen ist es dem uralten asiatischen Theater verwandt. Lehrhafte Tendenzen zeigte sowohl das mittelalterliche Mysterienspiel als auch das klassische spanische und das Jesuitentheater.« Bertolt Brecht, Schriften zum Theater 3. 1933 – 1947. Über eine nichtaristotelische Dramatik. Neue Technik der Schauspielkunst. Der Bühnenbau des epischen Theaters. Über Bühnen- und Filmmusik, hg. Werner Hecht, Frankfurt am Main 1963, 64. – Vgl. Thomas Habel, Brecht und das Fastnachtspiel. Studien zur nicht-aristotelischen Dramatik (Gratia 3), Göttingen 1978. – Juliane Eckhart, Das epische Theater (Erträge der Forschung 204), Darmstadt 1983, 140: »Einen durchgehenden historischen Bezug stellen die epischen Elemente dar, die das Drama des Spätmittelalters (Osterspiel, Passions- und Mysterienspiel), des Humanismus und der Reformation (Humanisten-, Schul-, Reformationsdrama, Fastnachtsspiel) sowie die Dramen des Barock prägen, die noch nicht von den damals aufkommenden illusionistischen Tendenzen beeinflußt waren (Jesuitendrama, bestimmte Barockkomödien). Als allgemeine inhaltliche Ursache für diese formale Analogie zum epischen Theater Brechts werden die gemeinsame didaktische Intention und der Anspruch auf Darstellung gesellschaftlicher bzw. weltlicher Totalität genannt.« 5 Jedenfalls steht die Dramenforschung durchaus nicht im Zentrum der germanistischen Mediävistik, weil das mittelalterliche Drama (mit Ausnahme des Osterspiels von Muri oder der seit 1187 für die Stauferpfalz Hagenau belegten Passionsaufführungen) weder prägend an der ›Staufischen Klassik‹ partizipierte noch die ›Weimarer Klassik‹ antizipierte. – Vgl. Max Wehrli, »Osterspiel von Muri«, in: Burghart Wachinger (Hg.), Deutschsprachige Literatur des Mittelalters. Studienauswahl aus dem Verfasserlexikon (Band 1 – 10), Berlin / New York 2001, 639 – 643. – Joachim Heinzle, Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, Bd. II / 2), 2., durchges. Aufl., Tübingen 1994, 155 – 165. 6 Dieses Desinteresse betrifft nicht die Schweiz, wo zuletzt mit den opulenten Ausgaben der Werke des Berner Dramatikers Hans von Rüte und besonders des in Zürich wirkenden Jakob Rueff ehrgeizige Editionsprojekte verwirklicht wurden: Vgl. Hans von Rüte, Sämtliche Dramen, hg. Friederike Christ-Kutter, Klaus Jaeger, Hellmut Thomke,
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liegt dies nicht am geistlichen Sujet, das in anderen literarischen Bereichen (etwa der Mystik) keine Hemmschwelle für die germanistische Mediävistik darstellt. Diesen Zustand vermochte auch Hansjürgen Linke mit seinen zahlreichen sachkundigen Artikeln im Verfasserlexikon und mit seiner Darstellung im Rahmen einer größeren Literaturgeschichte nicht zu verändern, ebensowenig Rolf Bergmann mit seinem umfänglichen Katalogband.7 Allerdings fehlt der germanistischen Spielforschung – literaturhistorisch bedingt – ein Impetus wie der Dramenforschung im angelsächsischen Bereich: Dort hat traditionell das mittelalterliche Theater, wenn ich es recht sehe, explizit und implizit das Genie Shakespeare antizipiert oder zumindest kontrastiert, was nicht zuletzt der relativen zeitlichen Nähe von mittelalterlichem englischem Drama und der überragenden Gestalt William Shakespeares als Zeitgenosse der Tudors geschuldet ist.8 Von daher überrascht es vielleicht nicht, dass die einzigen ausführlicheren Forschungsberichte zum mittelalterlichen deutschen Drama einen Germanisten zum Autor haben, der nicht zuletzt im akademischen Milieu der USA reüsierte. Die Forschungsberichte von Wolfgang F. Michael9 haben bis heute 3 Bde., Schweizer Texte Neue Folge 14, Bern / Stuttgart / Wien 2000. – Jakob Ruf, Kritische Gesamtausgabe, hg. Hildegard Elisabeth Keller, 5 Bde., Zürich 2008. – Vgl. zum Berner Theaterleben die umfassende Monographie von Glenn Ehrstine, Theater, Culture, and Community in Reformation Bern, 1523 – 1555 (Studies in Medieval and Reformation Thought 85), Leiden / Boston / Köln 2002. 7 Hansjürgen Linke bestreitet einen Großteil der Artikel zum weltlichen und geistlichen Drama in der zweiten Auflage des Verfasserlexikons (Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, hg. Kurt Ruh, Burghart Wachinger u. a., Berlin / New York 1978 ff.). – Vgl. auch Hansjürgen Linke, »Drama und Theater«, in: Ingeborg Glier (Hg.), Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. 1250 – 1370. Zweiter Teil: Reimpaargedichte, Drama, Prosa (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 3,2), München 1986, 153 – 233. – Rolf Bergmann, Katalog der deutschsprachigen geistlichen Spiele und Marienklagen des Mittelalters (Veröffentlichungen der Kommission für deutsche Literatur des Mittelalters der Bayerischen Akademie der Wissenschaften), München 1986. 8 Vgl. S. L. Bethell, Shakespeare and the Popular Dramatic Tradition, London 1948. – L. W. Cushman, The Devil and the Vice in the English Dramatic Literature before Shakespeare, Halle 1910. – Alan C. Dessen, Shakespeare and the Late Moral Plays, Lincoln 1986. – Willard Farnham, The Medieval Heritage of Elizabethan Tragedey, Berkeley 1950. – John Gassner (Hg.), Medieval and Tudor Drama, New York 1963. – Cherell Guilfoyle, Shakespeare’s Play within Play: Medieval Imagery and Scenic Form in Hamlet, Othello, and King Lear, Kalamazoo (Michigan) 1990. – David Klein, Milestones to Shakespeare. A Study of the Dramatic Forms and Pageantry That Were the Prelude to Shakespeare, New York 1970. – William Tydeman, English Medieval Theatre, London 1986. 9 Wolfgang F. Michael, »Das deutsche Drama und Theater vor der Reformation«, Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 31 (1957), 106 – 153. Ders., »Das deutsche Drama und Theater vor der Reformation: Ein Forschungsbericht«, Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte,
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bezeichnenderweise keine entsprechende Fortsetzung erfahren. Diesem merkwürdigen Befund steht in den letzten Jahren dagegen in Deutschland eine teilweise experimentierfreudige und ambitionierte Editionstätigkeit gegenüber. Darunter fallen die in Tübingen und Trier in Angriff genommenen Neueditionen der Nürnberger Fastnachtspiele10 ebenso wie die synoptischen Ausgaben zu den Weltgerichtsspielen11 und den Passionsdramen der Hessischen Spielgruppe12. Alle drei Ausgaben ersetzen nicht nur ältere Editionen (häufig noch des 19. Jahrhunderts), sondern bemühen sich um editionsmethodologische Fortschritte. So wird die (im Anschluss an die einbändige Neuausgabe früher Nürnberger Fastnachtspiele)13 von Klaus Ridder und Martin Przybilski verantwortete und im Entstehen begriffene, mehrbändige Neuausgabe der zahlreichen Nürnberger Fastnachtspiele (15. bis 16. Jahrhundert), welche die veraltete, aber bislang für viele Spiele maßgebliche Edition Adelbert von Kellers14 aus dem 19. Jahrhundert ersetzt, kritischen Text und Kommentar erstmals in einer Druckausgabe mit einer elektronischen Fassung verknüpfen. Während hier in der komfortablen Texterschließung im Blick auf die Benutzer methodisches Neuland Sonderheft 47 (1973), 1 – 47. Ders., »Das Drama des Mittelalters: Ein Forschungsbericht«, Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 62 (1988), 148 – 195. Ders., Ein Forschungsbericht: Das deutsche Drama der Reformationszeit, Bern 1989. – Dagegen ein gesamteuropäischer Horizont bei Eckehard Simon (Hg.), The Theatre of Medieval Europe. New Research in Early Drama, Cambridge 1991. 10 Gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft entsteht unter der Leitung von Klaus Ridder (Universität Tübingen) und Martin Przybilski (Universität Trier) eine vollständige kommentierte Neuedition der Rosenplütschen Fastnachtspiele, der Fastnachtspiele des Hans Folz und der anonym überlieferten vorreformatorischen Nürnberger Fastnachtspiele. 11 Die deutschen Weltgerichtsspiele des späten Mittelalters, hg. Hansjürgen Linke, 3 Bde., Tübingen 2002. 12 Vgl. Frankfurter Dirigierrolle. Frankfurter Passionsspiel, hg. Janota. Wolf, Kommentar. – Alsfelder Passionsspiel. Frankfurter Dirigierrolle mit den Paralleltexten. Weitere Spielzeugnisse. Alsfelder Passionsspiel mit den Paralleltexten, hg. Johannes Janota, Edition der Melodien von Horst Brunner, Die Hessische Passionsspielgruppe, Edition im Paralleldruck, Band 2, Tübingen 2002. Klaus Vogelgsang, Kommentar zum ›Alsfelder Passionsspiel‹ und zu den zugehörigen kleineren Spielzeugnissen, Die Hessische Passionsspielgruppe, Edition im Paralleldruck, Ergänzungsband 2, Tübingen 2008. – Heidelberger Passionsspiel. Mit den Paralleltexten der ›Frankfurter Dirigierrolle‹, des ›Frankfurter Passionsspiels‹, des ›Alsfelder Passionsspiels‹ und des ›Fritzlarer Passionsspielfragments‹, hg. Johannes Janota, Die Hessische Passionsspielgruppe, Edition im Paralleldruck, Bd. 3, Tübingen 2004. 13 Frühe Nürnberger Fastnachtspiele, hg. Hans-Hugo Steinhoff und Klaus Ridder, Paderborn 1998. 14 Fastnachtspiele aus dem 15. Jahrhundert, hg. Adelbert von Keller, 3 Bde., Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 28 – 30, 46, Stuttgart 1853, 1858, Nachdruck: Darmstadt 1965, 1966.
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betreten wird, folgt die Ausgabe bei Mehrfachüberlieferung dem etablierten Leithandschriftenprinzip. Eine ausführliche und aufwendige Dokumentation von verschiedenen denkbaren Inszenierungen in Form einer Synopse ist einerseits nicht intendiert, andererseits bei der vergleichsweise konservativen Überlieferung der Nürnberger Fastnachtspiele auch nicht dringend und zwingend notwendig.15 Die voluminöse und philologisch ambitionierte Gesamtausgabe der deutschsprachigen Weltgerichtsspiele (14. bis 16. Jahrhundert) Hansjürgen Linkes wählte für die Gattung Spiel erstmals die in der Art einer Kollation senkrecht angeordnete Synopse als Präsentationsform. Diese findet im gemeinsamen, die Kernhandlung und Hauptrollen umfassenden Textnukleus aller deutschsprachigen Weltgerichtsspiele ihre textgeschichtliche Berechtigung. Dabei werden – ebenfalls im Sinne einer Kollation – sogar die frühneuhochdeutschen Graphien detailliert dokumentiert. Jedenfalls ist die so geleistete lückenlose und philologisch minutiöse Präsentation der disparaten Gruppe der Weltgerichtsspiele als editorisches Novum wie als Gewinn für die Spezialisten der Spielforschung anzusehen. Die von Johannes Janota herausgegebene dreibändige synoptische Edition der Hessischen Passionsspielgruppe (14. bis 16. Jahrhundert), deren Überlieferungsträger enge textliche Verwandtschaft bis in die Reimgestalt aufweisen, dokumentierte mit bandweise wechselnden Leittexten Um- und Neuinszenierungen und machte somit erstmals auch die Textgeschichte im Gefüge von Textkonstanz und Textvarianz innerhalb einer Spielgruppe transparent. Durch wechselnde Leittexte in den drei Bänden konnte sowohl den Textparallelen wie dem Charakter des Einzelspiels in seiner chronologischen Abfolge Genüge getan werden. Dabei wählte die Edition Johannes Janotas bewusst den Ausschnitt einer einzigen, freilich in der Literaturgeschichte prägenden Spiellandschaft als Grundlage der Synopse, nicht die gesamte Gattung wie bei den Weltgerichtsspielen in der Ausgabe Hansjürgen Linkes. Diese Beschränkung auf das spätmittelalterliche Hessen ist angesichts der erdrückenden Fülle von bis heute überlieferten mittelalterlichen Passionsspielen und ihres innerlandschaftlichen wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnisses sinnvoll. Vergleichbare Überlieferungsverhältnisse liegen etwa für die Tiroler Passionsspiele vor, die jedoch erheblich später tradiert sind im Vergleich zum Nukleus der Hessischen Passionsspielgruppe, der Frankfurter Dirigierrolle aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, welche das erste mehrtägige Passionsspiel überhaupt darstellt und 15 Gespannt darf man freilich sein, wie beispielsweise die durchaus verschiedenen inszenatorischen, insbesondere politischen Akzente der Überlieferungsträger bei Des Turken Vasnachtspil (vgl. Fastnachtspiele, hg. Keller, Bd. 1, 288 – 304 mit Apparat) editorisch und kommentierend dokumentiert werden.
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von daher eine literaturgeschichtliche Pionierrolle spielte. Ihre zugleich ungewöhnliche Überlieferungsform als pergamentener Rotulus, der verschiedene Inszenierungsschichten dokumentiert und dessen überarbeitete Schichten unter Rasur im Faksimile unsichtbar bleiben würden, dokumentierte die Ausgabe Janotas in einem auch radierte Textstellen erfassenden, aufwendigen diplomatischen Abdruck. Daneben wurde eine normalisierte Edition der Frankfurter Dirigierrolle zur Grundlage der verschiedenen Passionssynopsen. Das editorische Modell der Synopse, das in der Mittelaltergermanistik seit Joachim Bumkes Edition (1999) der Nibelungenklage wieder16 im Bereich des ›klassischen‹ Kanons gattungsübergreifend besonders hohes Ansehen genießt,17 wurde in der Edition geistlicher Spiele mit Johannes Janotas (1996) und Hansjürgen Linkes (2002) Neuausgaben zweimal und zugleich grundverschieden angewandt. Der konventionellen und nicht zuletzt ›klassischen‹ horizontalen Parallelisierung in Analogie zu einer (auch stofflich verwandten) Evangeliensynopse (also von links nach rechts oder auch umgekehrt) im Rahmen der Hessischen Passionsspielgruppe setzte Hansjürgen Linke wohl bewusst sein Modell der vertikalen Zusammenschau (von oben nach unten) entgegen. Wenngleich beide Modelle Textkonstanz und Textvarianz gleichermaßen (auch philologisch) genau dokumentieren, wurde an der Ausgabe Linkes zu Recht die mangelnde Benutzerfreundlichkeit kritisiert.18 Während in Johannes Janotas Ausgabe das einzelne Spiel zumindest in jenem Band, in welchem es jeweils als Leittext der Synopse fungiert, bequem in seinem chronologischen Handlungsverlauf nachvollzogen werden kann, ist die Chronologie der Handlung des einzelnen Weltgerichtsspiels bei Hansjürgen Linke nur durch vergleichsweise mühsames Vor- und Zurückblättern nachvollziehbar, da die Dokumentation des Spielverlaufs beim Einzelspiel zum Vorteil der minutiösen Dokumentation der Textvarianz aufgegeben wurde. Für die zusammenhängende Lektüre des einzelnen Vertreters aus der Gattung der Weltgerichtsspiele ist man weiterhin auf (die zum Teil veralteten) Einzelausgaben angewiesen. Gleichwohl zeigen die drei Editionsmodelle, dass ebenso umfängliche wie komplexe Überlieferungsverhältnisse beim mittelalterlichen Drama editions16 Vgl. Das Nibelungenlied. Paralleldruck der Handschriften A, B und C nebst Lesarten der übrigen Handschriften, hg. Michael S. Batts, Tübingen 1971. 17 Vgl. Die Nibelungenklage. Synoptische Ausgabe aller vier Fassungen, hg. Joachim Bumke, Berlin / New York 1999. – Neidhart-Lieder. Texte und Melodien sämtlicher Handschriften und Drucke, hg. Ulrich Müller, Ingrid Bennewitz, Franz Viktor Spechtler, 3 Bde., Tübingen 2007. 18 Ursula Schulze, »Synopse als Hilfsmittel und als Selbstzweck. Probleme der Textkritik beim Geistlichen Spiel«, in: Gertraud Mitterauer, Ulrich Müller, Margarete Springeth u. a. (Hgg.), Was ist Textkritik? Zur Geschichte und Relevanz eines Zentralbegriffs der Editionswissenschaft (Beihefte zur editio 28), Tübingen 2009, 221 – 232.
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methodologisch wie praktisch in den Griff zu bekommen sind. Sie bilden zugleich Modelle für die in Zukunft noch zu leistende Bewältigung ähnlich gelagerter Überlieferungsverhältnisse, die bislang nur zum geringen Teil durch moderne Editionen erschlossen sind, so dass man für die Interpretation – wie im Falle der Tiroler Passionsspiele – auf Editionen des 19. Jahrhunderts zurückgreifen muss. Hier wären neben den untereinander eng verwandten Tiroler Passions- und Fastnachtspielen ebenso die Passionsspiele der schwäbischalemannischen Spiellandschaft19 zu nennen, wobei in letzterem Fall wegen textlicher Bezüge auch ein zeitliches Ausgreifen auf die Spiele der Reformationszeit nötig ist. So rekurriert etwa das Kaufbeurer Passionsspiel des lutherischen Geistlichen Michael Hecht (Lucius) sowohl auf umfängliche Passagen des vorreformatorischen Augsburger Passionsspiels aus dem Augsburger Benediktinerkloster Sankt Ulrich und Afra wie auf das Passionsspiel des Jakob Rueff aus dem reformierten Zürich.20 Für die beiden genannten Spiellandschaften bietet sich wegen ähnlich gelagerter Überlieferungsverhältnisse und angesichts der erwiesenen Praxistauglichkeit der horizontalen Synopse mit wechselnden Leittexten bei der Hessischen Passionsspielgruppe das dort erprobte Editionsschema an. Gefragt werden darf freilich, ob solch aufwendige Textpräsentationen in Buchform publiziert werden müssen und ob nicht elektronische Ausgaben auf festem Datenträger oder im Internet durchaus als kostengünstiger und benutzerfreundlicher anzusehen sind. Andererseits ist die ›klassische‹ Buchform von der letztlich Jahrhunderte überdauernden ›Speicherfähigkeit‹ her digitalen Datenträgern mit ihren technologisch kurzlebigen und rasch überholten Speichersystemen überlegen. Editionstechnisch unproblematisch, aber keineswegs überflüssig ist dagegen der Ersatz veralteter Editionen des 19. Jahrhunderts bei Einzelspielen ohne oder mit geringer textlicher Einbindung in eine Spiellandschaft oder – traditioneller gesprochen – ohne Anbindung an genetische Stammbäume. Solche isolierten Spiele, beispielsweise das Hessische Weihnachtsspiel, wie sie sich etwa in der grundsätzlich verdienstvollen Ausgabe Richard Fronings finden21, sollten 19 Zu den Spiellandschaften (und dem teilweise beklagenswerten Editionsstand) informiert noch immer am nachhaltigsten Barbara Thoran, Studien zu den österlichen Spielen des deutschen Mittelalters. Ein Beitrag zur Klärung ihrer Abhängigkeit voneinander (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 199), 2., durchges. und erg. Aufl., Göppingen 1976. 20 Vgl. Johannes Janota, »Das Passions- und das Osterspiel aus Kaufbeuren. Zu den beiden reformatorischen Spielen (1562) des Michael Lucius (Hecht)«, Leuvense bijdragen 90 (2001), 127 – 144. 21 Vgl. Das Drama des Mittelalters, hg. Richard Froning, 3 Bde., Deutsche NationalLiteratur 14, Stuttgart 1891, 902 – 937. Klaus Vogelgsang, »Dona infernalia. Die Teufelsszene des ›Hessischen Weihnachtsspiels‹ in Neuedition mit kommentierenden Hinweisen«, in: Horst Brunner, Werner Williams-Krapp (Hgg.), Forschungen zur deutschen Literatur des Spätmittelalters. Festschrift für Johannes Janota, Tübingen 2003, 233 – 254.
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in überlieferungsnahen und (der Benutzbarkeit halber) zumindest sprachlich ausführlicher kommentierten Ausgaben dokumentiert werden. Schließlich dürften geistliche und weltliche Dramen des Mittelalters auf das Interesse nicht nurvon Germanisten, sondern auch von Historikern und Theologen rechnen, bei denen nicht ohne weiteres Kenntnisse frühneuhochdeutscher Dialekte vorauszusetzen sind. Sowohl isolierte, singuläre Spiele wie einzelne Spieltexte als integrale Bestandteile von Spiellandschaften müssen aber auch für Studierende ebenso wie für ein interessiertes (Laien-)Publikum insgesamt in preiswerten Ausgaben zugänglich sein, denn die auch für mediävistische Laien zwar verständlich kommentierten Editionen des Deutschen Klassiker Verlags22 sind zwar für ein breites Publikum konzipiert, aber eben gerade nicht wohlfeil. Selbst bei Reclam – einem Verlag, der sich früher durch preiswerte Spielausgaben einen Namen machte – ist nur noch die Fastnachtspielausgabe von Dieter Wuttke lieferbar, während die Editionen von Donauseschinger Passionsspiel sowie Redentiner Osterspiel zur Zeit vergriffen sind und auch nicht mehr neu aufgelegt werden sollen, weil (so die Auskunft von Verlagsseite)23 im akademischen Unterricht das geistliche Drama des Mittelalters im Vergleich mit dem Kanon der Stauferzeit ohnehin ein Schattendasein führe. Freilich hat eine solche Verlagspolitik wiederum verheerende Folgen für den akademischen Unterricht zum Thema ›Drama des Mittelalters‹, denn ohne preiswerte Ausgaben sind auch Seminarveranstaltungen etwa über geistliche Spiele obsolet, es sei denn man arbeitet mit Kopien und umschifft so auf halblegaler Route das Urheberrecht. Andererseits kann es auch kein befriedigender Zustand sein, darauf zu warten, bis im Internet bei Google sämtliche Ausgaben des 19. oder frühen 20. Jahrhunderts problemlos abrufbar sind. Schließlich haben heutige Leser einen Anspruch auf zuverlässige Texte auf modernem Editionsstand und mit zureichender Einführung sowie Kommentierung, wie ja analog vermutlich weder Studierende noch Lyrik-Liebhaber mit der etwa durch Carl von Kraus24 verantworteten Ausgabe von Des Minnesangs Frühling oder ihrer noch älteren Vorgänger Vorlieb nehmen wollten. 22 Vgl. Deutsche Spiele und Dramen des 15. und 16. Jahrhunderts, hg. Hellmut Thomke, Bibliothek deutscher Klassiker 136, Frankfurt am Main 1996. 23 Nach einer Anfrage (Ende 2008) meinerseits bezüglich des Redentiner Osterspiels, das ich einer Seminarveranstaltung zugrunde legen wollte. – Ich beziehe mich auf folgende Editionen: Fastnachtsspiele des 15. und 16. Jahrhunderts, hg. Dieter Wuttke, Reclams Universal-Bibliothek 9415, 7. Aufl., Stuttgart 2006. Das Donaueschinger Passionsspiel, hg. Anthonius H. Touber, Reclams Universal-Bibliothek 8046, Stuttgart 1985. Das Redentiner Osterspiel. Mittelniederdeutsch und Neuhochdeutsch, hg. Brigitta Schottmann, Reclams Universal-Bibliothek 9744, Stuttgart 1986. 24 Des Minnesangs Frühling, nach Karl Lachmann, Moriz Haupt und Friedrich Vogt neu bearb. Carl von Kraus, 32. Aufl., Stuttgart 1959.
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Der berechtigte Anspruch auf Benutzer- oder Leserfreundlichkeit schließt aber nicht nur moderne Ausgaben ein, sondern auch deren umfassende inhaltliche Erschließung in einem Kommentar. Auch er ist freilich auf eine methodologische Grundlage zu stellen, denn viele Kommentare zu mittelalterlichen Dramen haben bisher kaum je die konkrete Bühnen- und Inszenierungswirklichkeit anvisiert; auch das mittelalterliche Publikum kam selten in den Blick. Statt dessen beschränkten sich die Kommentierungen vornehmlich auf die Quellenheuristik, was im Grunde zu austauschbaren Ergebnissen führte: Man erfährt zwar immer wieder, dass beispielsweise die jeweils sehr unterschiedlich gestalteten Höllenfahrtszenen auf das apokryphe Nicodemusevangelium zurückgehen; welche je unterschiedlichen Inszenierungsabsichten sowie verschieden zusammengesetzte Publikumsgemeinden dahinter stecken, wird jedoch nicht deutlich gemacht. Dies ist letztlich im Verständnis der Überlieferungsträger begründet: Die bisherige Form der Kommentierung begriff die Spielaufzeichnungen weitgehend als Lesetexte, nicht als Dokumentation einer – wenn auch durch Handschrift und Druck vermittelten – Aufführungswirklichkeit. Sie jedoch muss im Zentrum der Spielkommentare stehen. Voraussetzung dafür ist, dass die Kommentierungsarbeit selbst reflektiert und konkret für den Szenenkommentar auf eine methodisch solide Grundlage gestellt wird. Hierzu bietet vor allem bei verwandten Spielen innerhalb einer Spiellandschaft die längst bewährte und etablierte historisch-kritische Methode der Synoptikerexegese bei gleichzeitiger Stoffverwandtschaft – jedenfalls bei den Weinachts-, Passions-, Oster- und Weltgerichtsspielen – methodische Anregungen. Natürlich kann die Eigenart bibelexegetischer Text- und Literarkritik, Form- und Redaktionsgeschichte nicht ›eins zu eins‹ für den Szenenkommentar übernommen werden. Aber eine bewusst gewählte Methode, die verschiedenen Traditionsschichten eines Textes gerecht wird, ist jedenfalls für die Kommentarbenutzer viel weiterführender als eine – in meinen Augen – ohne Methodenreflexion vorgenommene ›einschichtige‹ (nämlich auf die Quellenschicht allein bezogene) Kommentierung. Aus diesem Grund habe ich für die Kommentierung einzelner Spielabschnitte (›Szenen‹) ein fünfgliedriges Kommentarschema entwickelt und bei den Frankfurter Passionsspielen angewandt; konkret gehe ich dort nach folgendem Kommentarschema vor: 1) Sprachliche Erläuterungen. 2) Quellen. 3) Szenenparallelen25. 4) Lokale Bezüge26. 5) Szenengestaltung27. 25
Die Szenenparallelen sind innerhalb derselben Spiellandschaft zu kommentieren. Lokale Bezüge einschließlich bildender Kunst vor Ort, beispielsweise Altarbilder; auch lokale Bezüge der Spielhandlung: etwa Erscheinungsform der Bühnenfigur des Pilatus als Frankfurter Reichsschultheiß bereits in der Frankfurter Dirigierrolle sowie Bezüge der Judenszenen im Frankfurter Passionsspiel auf die Bewohner und Lebensverhältnisse in der Frankfurter Judengasse. 27 Die Szenengestaltung entspricht der Redaktionsgeschichte bei der Synoptikerexegese samt dramaturgisch-inszenatorischer Analyse. 26
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Darüber hinaus soll ein Spielkommentar jenseits der Einzelszene und auf das gesamte Drama bezogen, etwa in der Einleitung, Auskünfte geben a) zum Aufführungsbezug der Überlieferungsträger, b) zur Spielträgerschaft im Sinne der Organisatoren und Bühnenakteure samt dem zugehörigen Publikum, c) zu Bühnenort und Bühnenplan, d) zur Einbettung des Spiels in das religiöse, soziale, politische und nicht zuletzt literarische Leben, e) zum lokalen Einfluss auf Textgenese und Textbestand.28 Eine solche, auf den Aufführungsbezug zielende Kommentierung muss unter anderem auf die Vollständigkeit anstrebenden Sammlungen von Aufführungszeugnissen zurückgreifen, welche Bernd Neumann29 für die geistlichen und Eckehard Simon30 für die weltlichen Spiele vorgelegt haben. Beide Monographien erfassen eine Fülle von Belegen für Aufführungen geistlicher und weltlicher Dramen, ohne dass in der Regel (!) auch Spieltexte dazu erhalten sind. Dies liegt darin begründet, dass Aufführungsexemplare in der Hand des Regisseurs oder Rollenauszüge für einzelne Schauspieler naturgemäß einem großen Verschleiß beim Gebrauch ausgesetzt waren, was sich für deren Erhalt als misslich erwies. Die wenigen erhaltenen Spieltexte stellen also nur einen Bruchteil der einmal vorhandenen Spielbücher dar, die aufgrund glücklicher Zufälle als Reinschriften oder Leseexemplare die Jahrhunderte ›überlebt‹ haben.31 So wüssten wir etwa nichts vom äußerst reichhaltigen Lübecker Theater der sogenannten Zirkelbrüder, wenn nicht archivalische Zeugnisse darüber erhalten wären. Ebenso hat es kaum eine Stadt im deutschen Sprachraum gegeben, die im Spätmittelalter nicht Aufführungsort eines geistlichen Spiels gewesen wäre. Nicht verschwiegen sei aber, dass neben lokalen Recherchen (wie etwa zur Bischofs- und Reichsstadt Augsburg32) auch die Auswertung bislang 28 Nachweise zu den aufgeführten methodologischen Überlegungen für Dramenkommentare: Klaus Wolf, »Für eine neue Form der Kommentierung geistlicher Spiele. Die Frankfurter Spiele als Beispiel der Rekonstruktion von Aufführungswirklichkeit«, in: Hans-Joachim Ziegeler (Hg.), Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Tübingen 2004, 273 – 312. – Klaus Wolf, »Die judden sollen dis spiel in iren husen bliben. Die Ghettoisierung der Frankfurter Juden im Spiegel des stadtbürgerlichen Spiels«, in: Fritz Backhaus, Gisela Engel, Robert Liberles, Margarete Schlüter (Hgg.), Die Frankfurter Judengasse. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit (Schriftenreihe des Jüdischen Museums Frankfurt am Main 9), Frankfurt am Main 2006, 189 – 199, 333 – 335. 29 Bernd Neumann, Geistliches Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung mittelalterlicher religiöser Dramen im deutschen Sprachgebiet (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 84, 85), 2 Bde., München u. a. 1987. 30 Eckehard Simon, Die Anfänge des weltlichen Schauspiels. 1370 – 1530 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 124), Tübingen 2003. 31 Zur Problematik von Aufführungs- und Leseexemplaren vgl. die Überlegungen von Werner Williams-Krapp, Überlieferung und Gattung. Zur Gattung ›Spiel‹ im Mittelalter (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 28), Tübingen 1980.
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systematisch vernachlässigter oder übersehener Quellentypen wie beispielsweise Gerichtsakten33 neue Aufführungszeugnisse an den Tag bringen kann. Genausowenig wie die heuristische Phase somit als abgeschlossen betrachtet werden darf, muss auch die Auswertung der bislang gesammelten Spielzeugnisse insgesamt als defizitär gelten, vielmehr stellt gerade die Sammlung Bernd Neumanns eine Fülle noch zu hebender Schätze für die Spielforschung bereit. Während die systematische Analyse von Neumanns Sammlung religiöser Spielzeugnisse bezüglich Kostüm34 oder Publikum35 erst kürzlich wenigstens in Angriff genommen wurde, fehlt (trotz der Studien von Heidy Greco-Kaufmann36 zur Luzerner Bühne) eine systematische Auswertung etwa zur Frage der mittelalterlichen Simultanbühne, welche das verdienstvolle, aber mittlerweile in die Jahre gekommene Handbuch zur mittelalterlichen Bühne von Wolfgang F. Michael37 ersetzen könnte. Großer Forschungsbedarf zeichnet sich ebenso für die Gattungsfrage beim religiösen Drama ab. Genauer geht es zunächst um die Problematik von ›Liturgie versus Spiel‹ beziehungsweise ›Feier versus Drama‹, die in jüngerer Zeit Christoph Petersen (auf freilich vergleichsweise schmaler Textgrundlage)38 in den Blick genommen hat. Auch hier wird gegenwärtig etwa im Bereich der religiösen Feiern (besonders im Bereich der Gesänge) immer noch heuristische und editorische Grundlagenarbeit geleistet: Die im Entstehen begriffene kommentierte Edition der Melodien zu den europäischen Osterfeiern und Osterspielen vom Frühmittelalter bis weit in die Frühe Neuzeit hinein39 bietet für 32 Über Bernd Neumanns überaus verdienstvolle Sammlung hinaus konnten für Augsburg weitere Aufführungszeugnisse gesichert werden. Vgl. Klaus Wolf, »Theater im mittelalterlichen Augsburg. Ein Beitrag zur schwäbischen Literaturgeschichtsschreibung«, Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 101 (2007), 35 – 45. 33 Hinweise bei Janota, »REPRAESENTATIO«. 34 Vgl. Klaus Wolf, »Verfremdung oder Identifikation? Zur Problematik einer Rekonstruktion des Kostüms im geistlichen Spiel des Spätmittelalters«, in: Horst Brunner, Werner Williams-Krapp (Hgg.), Forschungen zur deutschen Literatur des Spätmittelalters. Festschrift für Johannes Janota, Tübingen 2003, 255 – 264. 35 Vgl. Janota, »REPRAESENTATIO«, passim. 36 Heidy Greco-Kaufmann, Zuo der Eere Gottes, vfferbuwung der mentschen vnd der Statt Lucern lob. Theater und szenische Vorgänge in der Stadt Luzern im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Historischer Abriß und Quellenedition (Theatrum helveticum 11), 2 Bde., Bern 2009. 37 Wolfgang F. Michael, Frühformen der deutschen Bühne (Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte 62), Berlin 1963. 38 Vgl. Christoph Petersen, Ritual und Theater. Meßallegorie, Osterfeier und Osterspiel im Mittelalter (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 125), Tübingen 2004. 39 Das von Johannes Janota geleitete Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft ist an der Universität Augsburg angesiedelt.
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künftige Untersuchungen zum Bereich ›Liturgie versus Drama‹ einen noch zu analysierenden breiten Quellenfundus. Außen vor bleiben vorläufig vergleichbare Editionen und Untersuchungen zum weihnachtlichen Festkreis. Neben der Abgrenzungsproblematik von Liturgie und Drama gibt es vergleichbare und gleichwohl ebensowenig ausgeleuchtete Grauzonen zwischen Brauchtum und Drama, erinnert sei beispielsweise an die Figur des Schülerbischofs und vergleichbares schulisches Treiben an Dom- und Klosterschulen, wo litteratlateinkundige Bühnenakteure, Autoren, Regisseure und Schauspieler, in Fülle zur Verfügung standen.40 Völlig unerforscht für den deutschsprachigen Raum ist der gesamte universitäre Bereich vom studentischen Brauchtum im rechtlich geschützten Bereich der Bursen bis zum konfliktträchtigen Treiben in der Universitäts- und Bürgerstadt. Dass es vor dem Humanismus auch ein nennenswertes Schauspiel der Hochschulen gegeben hat, ist für den deutschsprachigen Raum im Gegensatz zu Frankreich mit der auch in der Gattung Spiel überragenden Gestalt Jean Gersons nahezu unbekannt.41 Jedenfalls wäre auch das vorläufig undifferenzierte Spektrum studentischen Brauchtums und Theaters bis hin zum universitären Drama (angefangen bei der Heuristik) genauer und endlich einmal systematisch in den Blick zu nehmen und bezüglich einer Differenzierung von Brauchtum und Spiel zu klassifizieren. Für all diese Fragen steht jedenfalls eine gattungspoetologisch geordnete Heuristik nach archivalischen Zeugnissen wie Spieltexten noch aus.42 Weiterhin wäre grundsätzlich zu klären, ob die Sprache als Gattungskriterium eindeutige Zuordnungen ermöglicht, konkret geht es um die Frage, wann lateinische Dominanz liturgische Zugehörigkeit determiniert, oder welcher (quantifizierbare?) Grad an Volkssprachigkeit paraliturgische bis brauchtümliche und theatrale Gattungszuordnungen rechtfertigt. Mehr noch, insgesamt ist die Verabschiedung vermeintlicher gattungsgeschichtlicher Gewissheiten dringend geboten: Einer systematischen Erforschung harrt beispielsweise die Frage nach Epochengrenzen der Gattung geistliches Spiel. Während im katholischen Bereich, was sich am Beispiel Oberammergaus, aber auch anderer Spielorte in Bayern und Österreich gut zeigen lässt, mittelalterliche Passionstraditionen bis in das ausgehende 18. Jahrhundert und damit in die Epoche des Barock (modifiziert) fortgeführt werden und erst Bestrebungen der Aufklärung diesen Traditionsstrang 40 Bekannt ist das Zeugnis, das Gerhoh von Reichersberg über die Augsburger Domschule gibt. Vgl. Neumann, Schauspiel, Nr. 3725. 41 Vgl. Klaus Wolf, Hof – Universität – Laien. Literatur- und sprachgeschichtliche Untersuchungen zum deutschen Schrifttum der Wiener Schule des Spätmittelalters (Wissensliteratur im Mittelalter 45), Wiesbaden 2006, 151 – 154. 42 Wichtige Vorarbeiten bezüglich einer mittelalterlichen Gattungsterminologie bei Matthias Schulz, Die Eigenbezeichnungen des mittelalterlichen deutschsprachigen geistlichen Spiels, Heidelberg 1998.
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durchtrennen,43 schien es auf der protestantischen Bühne schon früher zu einem Paradigmenwechsel gekommen zu sein.44 Aber auch hier zeigen neuere Forschungen, dass es zu interkonfessionellen Hybriden kommen konnte, bei denen katholisch-altgläubige und reformatorische Textbücher ebenso wie alt- und neugläubige Schauspieler auf derselben Bühne interagierten. In der Reichsstadt Kaufbeuren (um bei dem schon erwähnten Beispiel zu bleiben) etwa führte der Melanchthon-Schüler Michael Lucius (Hecht) trotz Luthers Verdikt ein Passionsspiel vor dem Rathaus mit katholischen und protestantisch-lutherischen Akteuren auf, wobei sein Spielbuch umfängliche Anleihen sowohl beim spätmittelalterlichen Passionsspiel aus dem Augsburger Reichskloster Sankt Ulrich und Afra wie beim Zürcher Passionsspiel des Jakob Rueff machte.45 Jedenfalls ist diese katholisch-lutheranisch-zwinglianische Ökumene auf der Passionsbühne auch gattungsgeschichtlich bemerkenswert. Für Frankfurt am Main lässt sich darüber hinaus nachweisen, dass trotz neuer lutherischer Konfession die gleichen Theaterstoffe wie vor der Reformation von den soziologisch unveränderten Spielträgern am gewohnten Aufführungsort, dem Römerberg, und unter kontinuierlicher kommunaler Subventionierung sowie mit identischer antijudaistischer Agitation inszeniert wurden.46 Eine Epochenwende brachte für Frankfurt erst der Wechsel vom Laien- zum Berufstheater, welches durch englische Wanderbühnen, die im ausgehenden 16. Jahrhundert etwa die Stücke Christopher Marlowes im Gepäck hatten, repräsentiert wurde. Somit wäre für Frankfurt am Main eine dramaturgische Gattungsgrenze nicht mit der Einführung der Reformation, sondern erst rund zwei Generationen später markiert.47 Von daher kann man nicht nur für diese Spätzeit auch den problematischen Begriff des ›Volksschauspiels‹48 grundsätzlich in Frage stellen: nämlich zum einen von der Existenz professioneller Schauspieler und Theaterunternehmer her, zum anderen von der Tatsache, dass auch bei Laienspielern zumindest bei den Passionsspielen ja klerikale und weltlich-obrigkeitliche Spielüberwachung bis hin zur Spielträgerschaft zu veranschlagen sind; dadurch eignet den Passionsspielen über vermeintliche Epochengrenzen hinweg ein elitärer Charakter, was schon die Tatsache eines Passionsspiels in der Wiener Hofburg im Jahre 143249 (und zuvor 43 Vgl. Michael Henker, Eberhard Dünninger, Evamaria Brockhoff (Hgg.), Hört, sehet, weint und liebt. Passionsspiele im alpenländischen Raum (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 20 / 90), München 1990 (mit weiterer Literatur). 44 Vgl. Wolfgang F. Michael, Das deutsche Drama der Reformationszeit, Bern 1984. 45 Vgl. Janota, »Kaufbeuren«. 46 Vgl. Wolf, »Judden«. 47 Vgl. Wolf, Kommentar, 318 – 333. 48 Vgl. etwa Karl Konrad Polheim, Katalog der Volksschauspiele aus Steiermark und Kärnten, Tübingen 1992. 49 Wolf, Hof, 24 – 27.
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eine Eisenacher Aufführung auf der Wartburg vor den Ludowingern50) unterstreicht. Diese wenigen Beispiele sollen zeigen, dass selbst elementare Fragen beim mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Drama noch keineswegs abschließend geklärt sind, ja noch großer Forschungsbemühungen bedürfen. Für diese wie andere Probleme der Spielforschung ist eine interdisziplinäre Herangehensweise unumgänglich. Diese leuchtet etwa bei der Frage ›Liturgie versus Drama‹ mit der Zuhilfenahme der Liturgie- und Musikwissenschaft ein. Wie fruchtbar gerade die Einbeziehung der Liturgiewissenschaft ist, hat in jüngster Zeit Peter Macardle51 demonstriert. Ihm gelingt dabei, die bislang nur hypothetisch vorgenommene Lokalisierung des Mittelrheinischen oder Sankt Galler Passionsspiels sicherer zu machen, wobei er seine liturgiewissenschaftlichen Ergebnisse glücklich geographisch mit den sprachgeschichtlichen Untersuchungen von Hugo Stopp in der kommentierten Edition des Sankt Galler Passionsspiels52 zur Deckung bringt. Wenn die Sprachgeschichte (angesichts der üblichen Mobilität der Schreiber und Vorlagentexte) auch nicht den Königsweg der Lokalisierung darstellt, kann sie doch auch mit liebgewordenen Erkenntnissen aufräumen, etwa jener von der Tiroler Provenienz der Tiroler Spieltexte, welche vielmehr nicht zuletzt Wiener Wurzeln aufweisen.53 Die Wiener Neidhart-Fresken54 lassen nach dem bislang eher vernachlässigten Quellenwert der Kunstgeschichte für das Neidhart-Spiel am österreichischen Hof55 fragen. Dabei sollte anstelle überholter Fragestellungen nach der Priorität von Drama oder Bildwerken56 besser im Sinne einer medialen Konvergenz argumentiert werden, wie sie am Lübecker Totentanz und Osterspiel aufscheint.57 Schließlich zeigt das Lübecker Beispiel, dass die Spielforschung vor allem an die lokale 50
Vgl. Heinzle, Wandlungen, 155 – 165. Vgl. Peter Macardle, The St Gall Passion Play. Music and Performance (Ludus 10), Amsterdam / New York 2007. 52 Vgl. die sprachhistorischen Untersuchungen Stopps in der Neuausgabe: Das Mittelrheinische Passionsspiel der St. Galler Hs. 919, hg. Rudolf Schützeichel, Tübingen 1978. 53 Vgl. Max Siller, »Die Lokalisierung der mittelalterlichen Spiele mit Hilfe der (historischen) Dialektologie«, in: Ziegeler (Hg.), Ritual und Inszenierung, 247 – 254. 54 Vgl. Oskar Pausch u. a., Neidhart-Fresken um 1400. Die ältesten profanen Wandmalereien Wiens, 2. Aufl., Wien 1987. 55 Zur Wiener Neidhart-Tradtion im Spätmittelalter neuerdings Christian Schneider, Hovezuht. Literarische Hofkultur und höfisches Lebensideal um Herzog Albrecht III. von Österreich und Erzbischof Pilgrim II. von Salzburg (1365 – 1396) (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), Heidelberg 2008, 67 – 69. 56 Vgl. Anthonius H. Touber, »Passionsspiel und Ikonographie«, in: Ziegeler (Hg.), Ritual und Inszenierung, 261 – 272. 57 Vgl. Maike Claußnitzer, Sub specie aeternitatis. Studien zum Verhältnis von historischer Situation und Heilsgeschichte im Redentiner Osterspiel (Mikrokosmos 75), Frankfurt am Main u. a. 2007. 51
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Kunstgeschichtsforschung anzuschließen ist, wie dies schon länger im angelsächsischen Raum praktiziert wird.58 Dieser methodische Regionalismus, der im Blick auf die Spiele nicht nur auf die Region oder Landschaft, sondern ebenso auf Stadt und Residenz zu beziehen ist, wäre ebenso für den Anschluss der Spiele an die im Aufschwung befindliche regionale Literaturgeschichtsschreibung59 unerlässlich. Dadurch würde die Spielforschung nicht nur aus ihrer misslichen Isolation innerhalb der germanistischen Mediävistik befreit, sondern könnte am Ende sogar den organischen Anschluss an die ›großen‹ Literaturgeschichten des Mittelalters, ja deutschen Literaturgeschichten insgesamt erreichen. Für diese wiederum ist das Drama des Mittelalters60 interessant als Massenmedium, das gerade auch illiterate Schichten erreichte: Im Falle des geistlichen Spiels bot eine szenische Pastoration mit ihrer ›dramatischen‹ Wortverkündigung erheblich größere Einprägsamkeit und Nachhaltigkeit im Vergleich zur Predigt. Im Falle der Fastnachtspiele war eine zum epischen Theater analoge aktive Teilhabe illiterater Schichten an städtischer Literatur schon den Spieltexten selbst inhärent.
58 Vgl. Clifford Davidson, Drama and Art. An introduction to the use of evidence from the visual arts for the study of early drama (Early drama, art, and music monograph series 1), Kalamazoo (Michigan) 1977. 59 Die wichtigste diesbezügliche Publikation der letzten Jahre stellt Fritz Peter Knapps monumentale österreichische Literaturgeschichte dar, zuletzt erschien: Fritz Peter Knapp, Die Literatur des Spätmittelalters in den Ländern Österreich, Steiermark, Kärnten, Salzburg und Tirol von 1273 bis 1439. Band II / 2: Die Literatur zur Zeit der habsburgischen Herzöge von Rudolf IV. bis Albrecht V. (1358 – 1439) (Geschichte der Literatur in Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart 2), Graz 2004. 60 Leider sind die Handbücher zum Drama des Mittelalters von David Brett-Evans wie Wolfgang F. Michael nicht nur vergriffen und alt, sondern auch hoffnungslos veraltet. Eine Abhilfe ist auf absehbare Zeit auch nicht in Sicht, weil erst die oben geschilderten Forschungsdesiderate abgearbeitet und die genannten blinden Flecke der Forschung alle ans Licht gebracht werden müssen, bevor ein seriöser handbuchartiger Überblick gewagt werden darf. – Vgl. David Brett-Evans, Von Hrotsvith bis Folz und Gengenbach. Eine Geschichte des mittelalterlichen deutschen Dramas (Grundlagen der Germanistik 15, 18), 2 Bde, Berlin 1975. – Wolfgang F. Michael, Das deutsche Drama des Mittelalters (Grundriß der germanischen Philologie des Mittelalters 20), Berlin 1971. – Michael, Drama der Reformationszeit.
Hamlets Bücherwelten* Von Norbert Greiner I. Hamlets Begegnung mit der Welt Halten wir uns zunächst die Ausgangssituation des Protagonisten vor Augen, soweit sie der Exposition zu entnehmen ist. Ein junger Prinz, der an einer für ihr fortschrittliches humanistisches Curriculum bekannten deutschen Exzellenzuniversität seine vorzügliche Prinzenerziehung vervollkommnet hat, kehrt anlässlich des Todes seines königlichen Vaters aus Wittenberg zurück, um – gut vorbereitet, wie er ist – die Thronfolge anzutreten und – mehr noch – die Mutter über den Verlust hinwegzutrösten. Aber Hamlets Erwartungen werden gründlich enttäuscht. In der Wahlmonarchie Dänemark fiel die Nachfolgeregelung zugunsten des Onkels aus, dieser bekräftigt seinen dynastischen Anspruch durch die Heirat mit der Schwägerin, Hamlets Mutter, offenbar in der Gewissheit der nicht gerade zögerlichen Zustimmung der neuen Bettgefährtin. Hamlets Trauer über den Verlust des Vaters, seine Enttäuschung über die zerstörten Machtambitionen und sein Entsetzen über die – in seinen Augen – sexuelle Willfährigkeit der Mutter bringen sein Weltbild ins Wanken, das ihm Prinzenerziehung und Humanismusstudium vorgegaukelt haben. Die erste Botschaft der Welt, in der er ohne weitere Vorbereitung angekommen ist, an ihn lautet: Weit gefehlt! Er wird nicht gebraucht: nicht von der Mutter, die hand- und lendenfesten Trost im Bett des Onkels suchte; nicht von den Untertanen, die neuen Mut in den starken Entscheidungen des Onkels fanden; nicht vom Kronrat, der dem Onkel die Krone antrug und die Heirat mit der Schwägerin empfahl. Nur der tote Vater bedarf seiner. Davon wird noch die Rede sein. Die Tradition, in der Hamlet sich behaust glaubte, verweigert die Erfüllung ihrer Orientierung stiftenden Aufgabe. Die Tradition wird, wie sich im Verlauf * Erweiterte Fassung eines Vortrags, der unter dem Titel »Die Welt als Kloster und Freudenhaus. Hamlet und der Fluch der Tradition« am 4. 5. 2008 am Thalia Theater Hamburg gehalten wurde und in der Kurzfassung erschienen ist in Ortrud Gutjahr (Hg.), Hamlet. Theatralität und Tod in Michael Thalheimers Inszenierung am Thalia Theater Hamburg, Würzburg 2009, 52 – 63. Die vorliegende Fassung geht auf einen wesentlich erweiterten Vortragstext an der Evangelischen Akademie Hofgeismar (20. 3. 2009) zurück und wurde für die Druckfassung um weitere Überlegungen ergänzt.
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der Tragödie immer wieder zeigen wird, zu einem Fluch, der auf demjenigen lastet, der eine Aufgabe aufgetragen bekommt, für deren Lösung er keine Maßstäbe mehr kennt; denn diejenigen Maßstäbe, die die Tradition für die Lösung des Konflikts bereithält, haben keinen Bestand vor jenen neuen Maßstäben, die das neue Denken dem jungen Intellektuellen inokuliert hat. Eine in der Hamlet-Forschung allgemein akzeptierte Formel lautet: Hamlet ist die Tragödie des neuzeitlichen Intellektuellen. Die Tragik, so der Leitgedanke dieser Ausführungen, liegt im unauflösbaren Zusammenprall der Ansprüche aus traditionellem und neuem Denken. Dass die Erinnerung an diese Tradition nicht zufällig ist, machen zahlreiche weitere dramaturgische Entscheidungen Shakespeares überdeutlich. In gleich mehreren Nebenfiguren figurieren Teilelemente dieser Tradition. Die traditionelle Vorstellung vom Prinzen als perfektem Krieger, wie sie in allen zeitgenössischen Büchern zur Prinzenerziehung niedergelegt ist, verkörpert Fortinbras. Von ihm erfahren wir gleich in der ersten Staatsrede des neuen Königs, dass er sich der Rache verschrieben hat (I.2.17 – 25).1 Und zwar will er einen Vater rächen, der von Hamlets verstorbenem Vater in einem Kampf getötet worden war. Die Parallele zwischen beiden Sohnfiguren ist deutlich genug. Erst, wenn der neue dänische König ihn zurechtweisen lässt, gibt er sich damit zufrieden, statt gegen Dänemark gegen Polen zu ziehen. Die traditionelle Vorstellung vom perfekten Höfling, welcher nicht zuletzt das berühmte Buch des Italieners Baldassare Castiglione zu modischem Ansehen verholfen hatte, ist in Laertes dargestellt, der im Gegensatz zu Hamlet nicht im humanistisch geprägten Wittenberg, sondern – natürlich – in Paris studiert, und zwar durchaus aus Gründen des Amüsements, wie wir in einer folgenden Szene aus dem wohlwollenden Mund des Vaters, Polonius, erfahren (II.1.1 – 73). Auch er hat später einen Vater zu rächen. Und eine weitere, neuere Tradition, die bei der Formierung des Idealbilds vom uomo universale zunehmend wichtig wurde, nämlich die der rationalen, skeptischen Gelehrsamkeit, ist in Horatio angelegt, den Hamlet sich aus gutem Grund zum Freund und Vertrauten wählt. Alle drei Figuren, vor allem Fortinbras und Laertes, weisen demnach eine in den wesentlichen Punkten identische oder teilidentische Biographie bzw. Entscheidungslage auf, allerdings einseitig, bis auf Horatio, der aber dramaturgisch eine Sonderrolle spielt. Hamlet vereinigt die Kardinaltugenden aller drei traditionellen Rollenmuster in seiner Person, zumindest ausweislich eines liebenden Auges. »The courtier’s, soldier’s, scholar’s eye, tongue, sword« (III.1.151), bescheinigt ihm Ophelia – der ideale Prinz! Nun aber versagt das Instrumentarium, mit dessen Hilfe Hamlet auf den Ernst der Macht 1 Zitiert wird nach William Shakespeare, Hamlet, übers. mit Anmerkungen von Norbert Greiner, Einl. u. Komm. von Wolfgang G. Müller, Englisch-deutsche Studienausgabe, Tübingen 2005.
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vorbereitet werden sollte. Statt dass er sich in der Gewissheit traditioneller Orientierungsschemata einrichten und das idealisierende Buchwissen über die souveräne Erhabenheit des Menschen in Herrschaftshandeln umsetzen könnte, bricht die traditionelle Wertewelt Hamlets wie ein Kartenhaus zusammen, kaum, dass er dieser Welt als denkendes und handelndes Subjekt entgegengetreten ist. Diese Welt, die er außerhalb seines Studierzimmers zu lesen bekommt, will nicht so recht passen zu dem, was ihm die Foucaults seiner Zeit, die Pico della Mirandolas und die Erasmus von Rotterdams an anthropologischen Grundsätzen und Souveränitätsversprechungen zu lesen gegeben haben. Er sei frei, so lautete das Motto der Philosophie vom neuen Menschen, sich als neuer Prometheus die Welt neu zu schaffen kraft seines Verstandes und seiner sittlichen Vernunft. Und er sei frei, das Gegenteil zu tun, die Welt in den Abgrund zu stürzen kraft seiner politischen Rationalität und seines Willens zum Bösen. Dass dieser neue Grundsatz im Negativen wirkt, ahnt er, wenn er dem neuen König begegnet. Wir wissen: die volle Kraft des rational Bösen wird Shakespeare dann in Macbeth zu Ende denken und gestalten. Dass dieser neue Grundsatz hingegen nicht so ohne weiteres für ein am Ideal orientiertes Handeln zu gewinnen ist, muss er nun am eigenen Leibe erfahren. Zwei miteinander verbundene Erfahrungen zeichnen sich für ihn ab: einmal, dass die Tradition ihre Dienste als Handlungsdirektive versagt, und zum anderen, dass auch das an der Universität erworbene Buchwissen, die neue Philosophie, nicht zur Interpretation der Welt taugt. Hamlet wendet seine Erfahrungen sofort ins Grundsätzliche. Er leidet an der Welt, und das zeigt uns der Dramatiker, indem er einen Hamlet darstellt, der der damals modischen Krankheit der Melancholie verfällt. Der erste Auftritt Hamlets, freilich nur dieser, trägt die Signatur des Melancholikers. Sein Leiden an der Welt drückt sich aus in der selbst gewählten Distanz zur Bühnenwelt; ganz unprotokollarisch quetscht er sich, melancholisch-schwarz gekleidet, beim Aufzug des Kronrates als letzter durch die Tür, jedenfalls wenn wir die in den Frühdrucken nur selten verwendete Bühnenanweisung beim Wort nehmen. Sein erster Monolog lässt keinen weiteren Zweifel: O that this too too sullied flesh would melt, Thaw and resolve itself into a dew, Or that the Everlasting had not fixed His canon ’gainst self-slaughter. O God, God, How weary, stale, flat, and unprofitable Seem to me all the uses of this world! [...] So excellent a king, that was to this Hyperion to a satyr, so loving to my mother That he might not beteem the winds of heaven Visit her face too roughly. (I.2.129 – 134)
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Das ist juveniler Weltschmerz vom Feinsten, er trägt alle Züge der von Ficino nobilitierten philosophischen Melancholie und er wird begleitet von deren geläufigen Attitüden und üblichen Requisiten.2 Sein Buchwissen, das alte und das neue, gerät in Konflikt mit der Wirklichkeit Helsingörs. Nicht das idealisierte, an Hyperion gemessene Königsbild, an das er in seinem Monolog erinnert, setzt den Maßstab, sondern der neue Typus des machiavellistischen Machers, der mit seinem Anspruch auf die Macht erst die notwendige Kompetenz zu ihrer Ausübung beweist, wie die zweite Szene belegt. Und diese Kompetenz, diese ganz und gar neue Vorstellung von Herrschaft – Autorität durch Effizienz – wird festgeschrieben nicht durch Gottesgnadentum, sondern durch die gelungene Selbstinszenierung des Königspaares. Vor diesem wohl vorbereiteten Hintergrund erscheint ihm der Geist (I.4.38 ff.). Er bringt die Weltauffassung Hamlets vollends aus der Ordnung. Er behauptet das Unbegreifliche: Brudermord (I.4.60 – 80). Und das Unbegreifliche sei, so sagt er, auf eine derart unbeschreibliche Weise geschehen, dass er selbst nicht einmal dem Sohn die Einzelheiten des Geschehens mitteilen könne, sondern es nur in groben Zügen wiedergeben kann (I.4.1 – 22). Kein Zweifel wird daran gelassen: eine große Schuld fordert eine kühne Tat. Der Geist fordert Rache. Und wieder gerät Hamlet in eine Konfliktlage. Dass der gewählte König ein verschlagener Schurke ist, der sich gekonnt inszeniert, hat er schon begriffen. Aber auch die Mutter; nicht nur eine Hure, auch eine Mörderin? Und gleich die ganze Zeit »out of joint« (I.5.188)? Doch selbst für eine derartige, die Weltordnung verletzende Tat hält die Tradition Lösungsschemata bereit. In einer für den zeitgenössischen Zuschauer überdeutlichen Form von Intertextualität spielt Shakespeare in Szenen, Motiven, Figurennamen und Textzitaten auf Thomas Kyds The Spanish Tragedy an, die Rachetragödie jener Zeit schlechthin. Dadurch wird in Form der damals virulenten Rachediskurse eine eindeutige Erwartungshaltung ins Spiel gebracht – eine Erwartungshaltung, die sich bewusst an der Tradition orientiert und traditionelle Normen, Deutungs- und Handlungsmodelle aufruft. Dass sie noch gültig sein kann, zeigen die schon erwähnten Nebenfiguren Laertes und Fortinbras, deren dramaturgische Funktion ja gerade darin besteht, den Kontrast zwischen Tradition und neuem Denken zu konfigurieren. Beide haben – wie Hamlet – einen Vater zu rächen und greifen für ihre Entscheidung auf die durch die Tradition sanktionierten Modelle des Kriegers oder des Höflings zurück. Fortinbras fordert, geleitet durch die Ehre, den neuen dänischen König heraus und weicht nur dem Verbot des norwegischen Königs. Laertes übt 2 Vgl. Norbert Greiner, »Melancholische Wege zur Heiterkeit. Shakespeares Narren im zeitgenössischen Kontext«, in: Dieter Borchmeyer (Hg.), Melancholie und Heiterkeit, Heidelberg 2007, 107 – 140.
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– später, im vierten Akt – ebenfalls aus Rache und Ehre sogar den Umsturz, und weicht nur der geschickten politischen Taktik des Königs. Hamlet aber kann mit diesen Modellen nicht viel anfangen, setzen sie doch eines voraus: eine Bereitschaft zum Tatvollzug, die jegliche Reflexion auf ihre Legitimität ausblendet und ihr als ewigem Gesetz blind vertraut. Hamlet wird die Tradition gewissermaßen zum doppelten Problem: Die Tradition verpflichtet ihn, dem Vater zu gehorchen und zu folgen, dazu ist er bereit. Aber die für den filialen Gehorsam zur Verfügung stehenden traditionellen Mittel der Rache haben vor seiner kritisch-denkenden Vernunft, dem Instrument der neuen Zeit, keinen Bestand. Hamlet aber war diese Eindeutigkeit des Weltvollzugs schon vor der Begegnung mit dem Geist problematisch geworden. Weder Tradition noch neues Buchwissen waren geeignet, die Welt zu entziffern. Gerade auch die Zeichensprache der sozialen Interaktion öffnete sich nicht einer Entzifferung, sondern geriet zur ingeniösen Verzifferung in Form von Selbstinszenierung. Das wird noch zu zeigen sein. Der Auftritt des Geistes nun bringt keine Lösung, sondern eine Verschärfung des Problems. Warum sollte nicht auch für den Geist gelten, was für Mutter und Onkel gilt? Ist nicht auch er ein Repräsentant jener Welt, die die Kunst der histrionischen Selbstinszenierung perfektioniert hat? Kann denn stimmen, was der Geist behauptet, dass er für einen kurzen Augenblick aus dem Fegefeuer gekommen sei? Protestanten kennen kein Purgatorium. (Katholiken neuerdings auch nicht mehr, aber das konnte Hamlet noch nicht wissen.) Also ein Engel aus dem Himmel, mit einem Racheauftrag und in voller Rüstung (oder wie neuerdings auch schon erlebt, splitterfasernackt)? Oder kommt er direkt aus der Hölle, was theologisch nur denkbar ist im Auftrag des Teufels. Auch die Identität des Vatergeistes will überprüft werden.3 Hamlet steht vor einem sozialen, einem theologischen und einem epistemologischen Problem. Alles, was ihm fortan begegnet, wird dieser Leitfrage unterworfen: Wer ist wer? Was ist was? Hamlet kommt der Welt allmählich auf die Schliche, wobei ihm seine melancholisch affizierte Philosophiererei natürlich hilft. Aber sie ist nur ein kurzes, belangloses Zwischenspiel; er muss sich der Welt, indem er sie begreift, auch stellen. Der Rest der Tragödie, und das Tragische, bestehen darin, dass er die Welt begreift, ihr die Stirn bietet und dabei umkommt. Um welche Erfahrung es sich dabei handelt, wie er daraufhin der Welt entgegentritt und worin die Brisanz dieses Vorgangs liegt, werde ich im Folgenden zeigen. Ich muss dazu allerdings einen kurzen Exkurs in die Geistesgeschichte machen. 3 Zu diesem Problem zuletzt Stephen Greenblatt, Hamlet in Purgatory, Princeton 2001.
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II. Hamlets Bücher: Die Unlesbarkeit der Welt als neue Zeiterfahrung Im Mikrokosmos der individuellen Konfliktlage Hamlets spiegelt sich, wie ich glaube, ein allgemeiner Umbruchsprozess jener Zeit, der als Individualerfahrung in Hamlet Gestalt gewinnt. Dieser Umbruchsprozess betrifft in besonderem Maße das Verhältnis des Subjekts zur Welt und zu der Art, wie es Welt begreift, oder eben nicht begreift. Hans Blumenberg, mit dessen Hilfe ich diesen Umbruchsprozess erläutern möchte, hat dieses denkende Verhältnis des Subjekts zur Welt mithilfe der Buchmetapher erläutert. Zwei ›Bücher‹, so seine metaphorische Charakterisierung des traditionellen Denkens, hätten dem Menschen Jahrhunderte lang als unproblematische Quelle der Erkenntnis gedient: das Buch der Natur und das der Offenbarung. Das Buch der Natur war ausgelegt durch den in der Antike ermittelten »Bestand der Kenntnisse und Erkenntnisse über den Kosmos«4, das Buch der Offenbarung »überliefert in seinem kanonischen Umfang und mit dem Supplement seiner Interpretationen«. Allein, die »neuen Entdeckungen im Buch der Natur verlangten zuzugestehen, daß in dem einen der Bücher geschehen konnte, was für das andere ganz und gar ausgeschlossen war: das Recht der unbegrenzten Erweiterung des Textes«. Nichts, so folgert Blumenberg, war zu Beginn der Neuzeit »folgenreicher als die Ahnung von dem Aufwand, der auf der Seite des Subjekts nötig würde«, um diese Erweiterungen mit den Mitteln der Erfahrung zu verarbeiten. Darüber hinaus erweiterte sich, nicht zuletzt durch den für Shakespeare besonders einflussreichen Montaigne, der Begriff der Welt. Dieser Begriff bezog sich zunehmend über die Orientierung an der Natur hinaus auf das »Universum des Menschen, seine [ . . . ] Ausdrucks- und Kulturleistungen«. Mit diesem Schritt geht die »Welterfahrung« in »Selbsterfahrung« über.5 So problematisch es methodisch ist, eine kulturhistorische Abstraktion späterer Jahrhunderte auf die Lesart einer Figur zu projizieren, so hilfreich kann es jedoch auch sein, sie zur Konzeptualisierung einer Figurenbedeutung heranzuziehen, um die mögliche Tragweite des Figurenentwurfs zu kennzeichnen. Schauen wir uns also an, zurück zu Hamlet, was Hamlet mit seinen Büchern macht und welche Lehren er aus dem Umgang mit ihnen zieht. Mit dem Abschluss der Exposition, in der fünften Szene des ersten Aktes, bringt Hamlet seine neue Erfahrung auf eine Formel, in der er die Differenz zwischen Tradition und neuer Zeit, zwischen Buchwissen und Lebenspraxis, pointiert. Zu der Erfahrung, die uns gleich zu Beginn des Stückes vorgeführt 4 Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt (taschenbuch wissenschaft 592), Frankfurt am Main 1986, 21989, 81. 5 Ibid., 91.
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wird, dass nämlich die Welt nicht so beschaffen ist, wie sie in den philosophischen Schulbüchern beschrieben ist, kommt für Hamlet eine entscheidende neue Erfahrung hinzu, die er aus der Begegnung mit dem neuen Dänenkönig hat ziehen müssen: dass nämlich »gut« und »schlecht« nicht identisch mit »recht« und »unrecht« sind, sondern sich das Schlechte durchsetzt, wenn es von pragmatischer Effizienz begleitet ist. Und mehr noch, dass diese Form der politischen Effizienz vom Volk bzw. dem Kronrat bejubelt wird, wenn sie mit dem überzeugenden Lächeln einer charismatischen Führergestalt vorgetragen wird (I.2.1 ff.). So lautet daher seine Schlussfolgerung: »Yea, from the table ofmy memory / I’ll wipe away all trivial fond records, / All saws of books, all forms, all pressures past / That youth and observation copied there« (I.5.98 – 101).6 Hamlet greift – wie ein eifriger Blumenberg-Famulus – für die Beschreibung seiner konfligierenden Deutungsstrategien auf die Buchmetapher zurück. Die Tafeln, tables, von denen er hier spricht, erfüllten zu seiner Zeit die Aufgabe der heutigen Notizbücher. Wohlhabende Personen trugen zusammenklappbare Tafeln mit sich aus Schiefer oder Elfenbeinrahmen, die mit Wachs ausgegossen waren, auf denen sie sich Notizen machten. So übt sich auch, wie gleich noch zu sehen, Hamlet in der Kunst des tragbaren Zettelkastens, notiert Lesefrüchte, Gedanken und Einsichten. Noch spielt er nur metaphorisch darauf an und bezeichnet damit die alte »Erfahrung«, die er als »Buchwissen« verwirft. Seine Initiationserfahrungen, die Worte des Geistes und seine ersten Versuche, die neue Welt in ihrem Organisationsprinzip zu begreifen, lassen ihn nunmehr die neue Einsicht vor unseren Augen aufschreiben, auf die leer gewischte Tafel, sechs Zeilen später: »My tables – meet it is I set it down / That one may smile, and smile, and be a villain« (I.5.107 – 108). Das sind die wirklichen Bücher: diejenigen, die die Erfahrung ihn selber schreiben lässt. Der »neue« Mensch seiner Studienbücher wird von der Wirklichkeit eingeholt. Wie hatte es dort – bei Pico della Mirandola – noch geheißen? »Es gibt nichts Großes auf der Erde außer dem Menschen, nichts Großes im Menschen außer seinem Geist und seiner Seele. Wenn Du zu ihnen aufsteigst, so steigst Du über den Himmel hinaus.«7 Nun sieht er, dass der neue, erfolgreiche Herrscher Geist und Seele durch Bett und Trinkbecher ersetzt hat, dass Hyperion zum Satyr geworden ist. Der neue Mensch seiner Studienbücher war eine reine Traumgeburt, die er in zahlreichen weiteren Anspielungen nur noch parodiert. Wenig später kommt es zu der Auseinandersetzung mit seinen scheinheiligen Freunden Rosencrantz und Guildenstern. Er hat sie bereits im Verdacht, dass 6 Vgl. Aleida Assmann, »Der zerstreute Prinz. Erinnern und Vergessen in Shakespeares Hamlet«, in: Gutjahr, Hamlet, 37 – 47. 7 Pico della Mirandola, In astrologiam, Lib. III, cap. 27, Op. fol. 519; so zit. in: Ernst Cassirer, Individuum und Kosmos in der Renaissance, Leipzig und Berlin 1927, 82.
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sie nur da sind, um ihn auszuspionieren – auch sie ein leibhaftiger Beweis für die Kläglichkeit, mit der der imposante Entwurf eines neuen Menschen versandete. Hamlet nimmt ihren Verrat zum Beleg für seine neu gewonnene anthropologische Skepsis. What a piece of work is a man, how noble in reason, how infinite in faculties; in form and moving how express and admirable, in action how like an angel, in apprehension how like a god: the beauty of the world, the paragon of animals! And yet to me what is this quintessence of dust? Man delights not me [ . . . ]. (II.2.300 – 305)
Es scheint fast so, als würde Hamlet seine Freunde noch einmal an die gemeinsame Studienlektüre erinnern wollen. Aber er zitiert Pico, so will es scheinen, um ihn zu parodieren. Den wirklich neuen Menschen sieht er in einem komplexen Gewebe gesellschaftlich-kultureller Selbstinszenierung, die ihrem Gelingen einen größeren Wert beimisst als den alten zuverlässigen Tugenden und Lebensentwürfen. Das gilt für die Bewertung aller Figurenkonstellationen, zum König und zu den Freunden ebenso wie zu den alten Ratgebern und zur Mutter. Das gilt selbst für die Beziehung zum Vater, der ihm als Geist erscheint. Wie sollte das aufgehen: Ein Rachegebot für einen Christenmenschen? Der Vater als Sendbote der traditionellen Ordnung und ihrer Fragwürdigkeiten? Ist nicht auch er der moderne Verführer, der zu einem Frevel anhält? Hamlets Fragen führen zu einer grundsätzlichen Ambiguisierung von sozialen Identitäten, Beziehungen und Deutungsmodellen. Und nach der Konfrontation mit dem Geist und dessen Ansinnen sieht sich Hamlet auch jenseits der Ebene intersubjektiver Beziehungen einem Prozess zunehmender Verkomplizierung und Ambiguisierung ausgesetzt. Was kann noch als Wahrheit gelten, was als Handlungsmaßstab? Was für die Nebenfiguren noch gilt, die Tradition, hat für ihn die Gültigkeit verloren. Sich selbst problematisierende Welterfahrung, so hieß es bei Blumenberg, geht über in Selbsterfahrung. Die Deutungsgültigkeit des Buchwissens überhaupt steht in Frage. Daran muss er auch seinen besten Freund, Horatio, sogleich erinnern. Zum Abschluss der Exposition, am Ende des ersten Aktes, fasst er die sich überstürzenden Einsichten in einem Unbegreifbarkeitstopos zusammen: »There are more things in heaven and earth, Horatio, / Than are dreamt of in your philosophy« (I.5.166 – 7). Neben allen denkbaren Bedeutungen von philosophy (›Philosophie‹, ›Weltanschauung‹, ›Denkvermögen‹) heißt es auch ›Buchweisheit‹. Hamlet lässt den Vertrauten teilhaben an der gerade gewonnenen Einsicht, dass der Welt mit der erworbenen Buchweisheit nicht beizukommen ist. Im weiteren Verlauf taugt das Buch nicht mehr als Quelle, sondern nur noch als Requisit, und zwar in seinem neu begriffenen Status als unentzifferbare Folge von Wörtern. Wenn Polonius und Hamlet erstmals in einer Zweierkonstellation zusammentreffen, wird Hamlet ausweislich der Bühnenanweisung in
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der Folioausgabe als »reading on a book« (II.2.167) vorgestellt. Angesichts der Seltenheit und der Knappheit von Bühnenanweisungen in den Frühdrucken ist davon auszugehen, dass auf diesen Umstand und dieses Requisit ein besonderer Wert gelegt wurde. Das szenisch-ikonologische Programm besagt: Hamlet ist verwoben in seine Bücherwelt – der vorausgegangene Dialog zwischen Polonius und dem Herrscherpaar hatte darauf hingewiesen, dass es sich hierbei um eine wiederkehrende Beschäftigung Hamlets handele. Doch um welche seiner Bücherwelten handelt es sich? Das wollen nicht nur wir, das will auch Polonius wissen. Auf seine Frage, was er lese, antwortet Hamlet kryptisch: »Words, words, words« (191). Die Antwort gibt Anlass zu weiteren Wortspielen, mit denen Polonius zum Narren gemacht wird. Aber was besagen Hamlets Worte? Sie lassen sich auf eine direkte und eine übertragene Weise deuten: Zum einen will er Polonius herablassend ausweichen und nicht dadurch auszeichnen, dass er ihn zum Gesprächspartner in gelehrten Fragen macht; zum anderen könnte sich aber die hinter einem Scherz verborgene Einsicht ausdrücken, dass einem Buch nichts Wesentliches zu entnehmen ist außer einer Folge von Wörtern. Noch in der gleichen Szene wenig später kommt es zu dem bereits erwähnten Austausch mit Rosencrantz und Guildenstern über das Wesen des Menschen. Es ist also leicht vorzustellen, dass Hamlet während seiner Spottrede auf den Menschen als »quintessence of dust« eben dieses Buch noch in der Hand hält, in dem sich nichts weiter findet als leere ›Verbosität‹. Einzig diejenigen Texte gelten etwas, die man selbst verfasst; das hatte sich schon bei Hamlets Schreibtafeln gezeigt. Diese kann man strategisch einsetzen, unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt. Texte mögen ihren Wert als Wahrheitsträger verlieren, aber sie gewinnen als Waffen. So wie sich die Welt um Hamlet inszeniert, und wie er sich zunehmend ebenfalls inszeniert – wir dürften heute auch sagen: sich schreibt –, so setzt er fortan auch seine Texte als Teil seiner Selbstinszenierung strategisch ein. Die Schauspieler kommen Hamlet gelegen; denn auch sie verkörpern den neuen Marktwert von Texten als reinem Freizeitvergnügen, es sei denn, man weiß sie zu instrumentalisieren. Hamlet schreibt einem alten, an sich bedeutungslosen Text einen neuen Text ein und gibt ihm so einen aktuellen Tagesbezug. »You could for a need study a speech of some dozen or sixteen lines, which I would set down and insert in’t, could you not?« (II.2.25 – 27). Mit diesem Text wird der König in die Falle gehen, nicht, weil er eine Weisheit zu bieten hätte, dazu ist er viel zu melodramatisch, sondern weil die ihm eingeschriebene Drohung, mit der Hamlet zu erkennen gibt, dass er Claudius durchschaut hat, ihren Adressaten erreicht hat. Das ist ihre neue Funktion: How to Do Things with Texts.
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III. Weltverrätselung und Selbstinszenierung: Die Welt als Schauspiel Aber Hamlet hat jetzt eines begriffen: Dieser Welt kann man nur etwas anhaben, wenn man ihre Gesetzte verinnerlicht, sie beherrscht, und sie möglichst besser beherrscht als alle anderen. Wer gegen Spieler antritt, muss zum Spieler werden. Hamlet, der aus seiner Melancholie zu Beginn des Stückes durch die Brutalität der Einsicht in die wahren Weltverhältnisse geweckt wurde, begreift, dass ihm diese Melancholie wenn nicht als Krankheit, so doch als Maske hilfreich sein könnte. Er spielt von nun an den Melancholiker, und zwar den schwer affizierten, dessen Depression in blanken Wahnsinn umzuschlagen droht. Nur seine wirklich engsten Freunde weiht er ein: »I perchance hereafter think it meet / To put an antic disposition on« (I.5.171 – 172). Er spielt eine sehr kommode Rolle, genau die Rolle, die die anderen von ihm erwarten – die eingangs vermutlich tatsächlich gegebene Psychose, die glaubwürdigste, die überzeugendste Rolle, an der niemand zweifelt und die niemand als Rolle durchschaut. (Dass Hamlet später vom Schauspieler zum Regisseur wechselt, ist so bekannt, dass ich es nicht näher auszuführen brauche.) In dieser Rolle kann er sich ungefährdet am Hof bewegen und den Worten des Geistes auf den Grund gehen. Er tut es so überzeugend, dass nicht einmal die Geliebte sein Spiel durchschaut. Besonders in seiner Begegnung mit Ophelia stellt sich diese histrionische Spannung als unlösbare und auch dem Zuschauer unauflösbare Gemengelage dar. Wenn Hamlet und Ophelia sich erstmals in einer Konfiguration auf der Bühne begegnen, ist ihre Liebe bereits beendet. Ophelia hatte dem Vater von einer Begegnung mit einem verwirrten (oder verwirrt spielenden – auch der Zuschauer teilt fortan den Fluch der grundsätzlichen Ambiguisierung der Welt) Hamlet berichtet. Polonius will nun dem Herrscherpaar in einer Belauschungsszene den, wie er glaubt, liebeskranken Hamlet vorführen. Unter diesem Vorzeichen treffen Hamlet und Ophelia aufeinander, letztere mit dem Auftrag, Hamlet zum Reden zu bringen, damit eine rechte Fallstudie des liebeskranken Melancholikers daraus werde. Auch das ist eine Form der Inszenierung, und wir haben längst begriffen, wie sehr die Metapher des Bühnenspiels, des Histrionischen, zu den auffälligen Bildkomplexen dieser Tragödie gehört. Das Treffen ist ein erstes Spiel im Spiel, an dessen Probenarbeit die Zuschauer teilhaben. Das gesamte Bühnenarrangement wird vorbedacht: Ophelias Wege auf der Bühne (»Ophelia, walk you here«, III.1. 43); der Habitus, den sie annehmen soll (»with devotion’s visage / And pious action«, III.1. 47 – 48); die Requisiten, die ihr beigegeben werden (»Read on this book« [III.1. 44; gemeint ist vermutlich ein Stundenbuch8, eine Bibel dürfte zu schwer gewesen sein; ge8
Ich verdanke diesen Hinweis Christoph Gerhardt, Universität Trier.
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wiss ist jedoch – ein konventionelles Buch]); selbst die intendierte Wirkung der Inszenierung wird kommentiert. Wir wissen nicht, ob Hamlet dieses Spiel durchschaut oder ob er noch einmal in die Falle geht. Aber alles, was Hamlet in dieser Szene sagt und tut, hängt von dieser Frage ab: Ist seine Rede an Ophelia aufrichtig, oder ist sie auf die verborgenen Zuhörer hin kalkuliert? Ist sich Hamlet der Loyalität seiner Geliebten noch sicher, oder ist auch sie – wenn auch gegen ihren Willen – vom Herrschaftsapparat vereinnahmt? Dann wäre auch Ophelia eine Schauspielerin, die sie ja in dieser Szene tatsächlich ist. Oder reicht Hamlets Liebe zu ihr so weit, dass er sie schützen möchte? Genaues wissen wir nicht. Aber wir wissen eines: dass Hamlet spielt. Jetzt schlägt er zurück, und zwar mit eben jenen Waffen, die er, der lernfähige moderne Mensch, ganz schnell zu beherrschen gelernt hat. Zwei Dinge sind es. Die Welt der Selbstinszenierung muss mit Selbstinszenierung bekämpft werden. Und: Die Auseinandersetzung mit der Welt, die sich auch auf grundsätzliche Weise verrätselt hat, muss mit entsprechenden Zeichen formsymbolisch abgebildet werden. Davon gleich. Zunächst zum ersten. Hamlet spielt, und er spielt ein gemeines Spiel. Mit wirrer Rede leugnet er seine Liebe, belehrt Ophelia über die Schlechtigkeit der Welt und der Frauen, konfrontiert sie mit seinen Zweifeln: »Are you honest?« (III.1.103) Ophelia gibt vor nicht zu verstehen: »What means your lordship?« (104,106) Hamlet präzisiert und fragt nach ihrem hinter dem Wandteppich lauschenden Vater. »Where’s your father?« Ophelia: »At home, my lord.« (III.1.131) Ophelia hat schon hier verloren. Unabhängig davon, ob Hamlet das ihr aufgezwungene Spiel durchschaut oder nicht. Denn Hamlet spielt jetzt das Spiel der anderen mit, und das heißt: strategisch kalkulierte Selbstinszenierung. Ophelia lernt die Welt niemals wirklich kennen, geschweige denn beherrschen. Sie bleibt ihr ausgesetzt, ohne jegliche Orientierung – ein anderes Wort für Wahnsinn. Sie versucht zu begreifen, aber dafür fehlen ihr die Begriffe, die eindeutigen Begriffe.
IV. Die Bezeichnung der Welt Das führt uns zum zweiten Aspekt, den Ophelia nicht, Hamlet sehr wohl gelernt hat: sich in dieser Welt über diese Welt zu verständigen. Wer immer sich sprachlich angemessen auf diese Welt beziehen will, braucht dafür Bezeichnungen, die das zu Bezeichnende in ihrer Struktur widerspiegeln, die Welt formsymbolisch zum Ausdruck bringen. Für eine neue Welt, die kompliziert geworden ist, sind neue, komplizierte Zeichen nötig. Das sind die rhetorischen Figuren des Paradoxon und der Ambiguität, also die verschiedenen Möglichkeiten des Wortspiels. Das ist durchgehend die sprachliche Signatur Hamlets, wie wir
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wissen. Aus gutem Grund widersetzt sich Hamlet den Spielregeln gelungener Kommunikation. So muss auch Hamlets Position Ophelia gegenüber ambivalent bleiben, muss oszillieren zwischen Zweifeln an ihrer Loyalität und der Sorge um ihr Schicksal. Ophelias Bitte, er möge sich erklären, erfüllt er auf seine eigenwillige Weise: »That if you be honest and fair, your honesty should admit no discourse to your beauty. [ . . . ] the power of beauty will sooner transform honesty from what it is to a bawd than the force of honesty can translate beauty into his likeness.« (III.1.107 – 114) Ophelia versteht nicht. Ein ums andere Mal demontiert Hamlet ihre Beteuerungen, eindeutige Beweise für eindeutige Liebe zu haben. Vielmehr bringt er ihr Liebesverhältnis auf ein Paradoxon, das Ophelia nicht begreift. Beides ist wahr, das eine und das andere, so wie auch Schönheit nicht nur Tugend ist, sondern auch Laster und Täuschung. Was soll sie glauben? Ihr achselzuckendes »I was the more deceived« (III.1.120) grenzt an Selbstaufgabe. Was bleibt ihr zu tun? Hamlet erteilt ihr einen – scheinbar – eindeutigen Rat, den er wiederholt: »Get thee to a nunnery.« (121) Nur ein Kloster kann Ophelia vor dieser Welt bewahren. Das wäre eine mögliche Lesart. Doch es kommt noch schlimmer. Selbst dieser Rat ist alles andere als eindeutig; auch er erlaubt eine andere Lesart, kann das genaue Gegenteil meinen. Denn: »nunnery« wurde in der elisabethanischen Zeit manchmal auch als Bezeichnung für ›Bordell‹ verwendet. Wollen wir in Hamlets Spiel auch ein Misstrauen gegenüber Ophelia sehen, ist ›Bordell‹ die richtige Lesart: Sie möge sich als Instrument der Herrschenden zu dem bekennen, was sie ist, ein Köder Fleisch, den man auf Hamlet ansetzt, eine Hure. Wenn wir begriffen haben, dass die gesamte Textur vom Stilprinzip der Ambiguität gekennzeichnet ist, stellt sich gar nicht mehr die Frage, ob Hamlet das eine oder das andere meint. Entscheidend ist, dass das, was er sagt, beides meint. Die Welt ist in den Inszenierungen der Mächtigen je nach deren Plan immer zugleich ein Kloster und ein Freudenhaus, und wenn wir glauben, in dem einen zu sein, könnte es gut sein, dass wir uns im anderen befinden. Die Welt, in der Hamlet sich bewegt und die er zu begreifen beginnt, ist in all ihren Facetten durch eine prinzipielle Ambivalenz gekennzeichnet, sie ist unlesbar geworden. Mit anderen Worten, die wir Foucault entlehnen: Weder sind die Bedeutungen unserer Worte noch die Tatsachen, die unser Leben bestimmen, noch selbst die Gegenstände, die uns umgeben, eindeutig in dem Sinn, dass sie nur eine einzige, ›richtige‹ Interpretation zulassen. Vielmehr sind immer verschiedene Lesarten möglich, und welche die ›richtige‹ ist, wird durch Konvention, durch das Diktat der Mehrheit oder eines Machthabers entschieden.9 Das ist Hamlets Lesart der 9
Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt am Main, 92003, passim.
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neuen Welt. Und für deren Bewältigung ist die Tradition keine Hilfe, sondern ein Fluch. Diese zeigt sich sogar dann, wenn er mit sich selber spricht. In einem Monolog, den wir alle kennen, wägt er eine Alternative ab und spielt dabei wieder mit der Möglichkeit des Doppelsinns. Sein oder Nichtsein, das ist die Frage. Aber was ist die Frage? Schauen wir genauer hin. To be, or not to be – that is the question: Whether ’tis nobler in the mind to suffer The slings and arrows of outrageous fortune Or to take arms against a sea of troubles And by opposing end them. [ . . . ] Thus conscience does make cowards of us all, [ . . . ]. (III.1.56 – 60; 83)
Es geht um gelungene Existenz, darum, ob es edelmütiger ist, das eine zu tun oder vielleicht doch das andere, zu kämpfen oder zu dulden. Es wird noch komplizierter; die rhetorische Struktur dieses Monologs ist nämlich ambivalent. Es bleibt offen, ob die Folgezeilen, in denen die Handlungsoptionen des Widerstands oder des Ertragens einer ohnehin banalen Welt benannt werden, sich auf diese erste Zeile in einer parallelen oder in einer chiastischen Relation beziehen; beide Möglichkeiten werden in den rhetorischen Lehrbüchern der Zeit empfohlen. Es bleibt also rhetorisch unlösbar, wie das richtige »Sein« auszusehen hätte. Sein Resümee: »So macht das Wissen Feiglinge aus uns allen«. (III.1.83) Welches Wissen? Im Original steht hier »conscience«, das hieß damals ›Gewissen‹ und ›Bewusstsein‹. Das Wissen um die grundsätzliche Unlesbarkeit der Lebenswelt in allen ihren natürlichen und sozialen Erscheinungsformen, das Wissen um den Zustand der Verrätselung, den der homo semioticus, der diese Erfahrung in Worte fassen muss, wieder nur in Ambiguitäten, Wortspielen, Paradoxa vermitteln kann. Mir scheint, eben dies macht den neuen Menschen aus, den Hamlet zu begreifen beginnt und in gewisser Weise repräsentiert. Diese semiotisch komplexe Welt, diesen unaufhörlichen Prozess der Verkomplizierung, zu begreifen, heißt vor allem auch, in der sich stetig verkomplizierenden Welt das eigentliche Ordnungsprinzip zu sehen. Ein derartiger Verlust der eindeutigen Lesbarkeit beschreibt das Schicksal des neuen Menschen. Das mag uns tragisch anmuten. Insofern ist Hamlet tatsächlich die Tragödie des modernen Menschen.
V. Das Ende, nicht nur Schweigen Aber kommen wir von unseren ontologischen und epistemologischen Höhenflügen zurück in die soziale Lebenswelt Hamlets. Handfester wird der Konflikt, wie die Tragödie uns vorführt, wenn das Prinzip der »Selbstverschlüsselung«,
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wie Blumenberg es nennt, auf die moralische »Welt der Märkte und Höfe, auf Antrieb und Verhalten des Menschen übertragen wird«.10 Der ganze äußere Handlungsablauf der Tragödie entfaltet vor unseren Augen den Mechanismus der Selbsttäuschungen und Vortäuschungen, der es den Menschen ermöglicht, sich in den Vieldeutigkeiten der kulturellen Ausdruckssysteme zu verbergen und diese »zum Organ ihrer Weltnutzung« zu machen. Um es noch einmal in den Worten Blumenbergs zu sagen: »Nicht mehr die Gottheit verbirgt sich vor ihren Geschöpfen in der Natur, sondern diese verbergen sich voreinander in ihrer Kultur.«11 Doch immerhin entfaltet sich vor unseren Augen auch das Spiel der Weltbeweger. Denn der von Menschen, etwa von Claudius, gemachten Verschlüsselung tritt hier in Hamlet ein Meister der Entschlüsselung gegenüber. Beide sterben. Erst in diesem Licht wird der Schluss der Tragödie verständlich. Sie endet ja bekanntlich nicht mit jenen Worten, die so gut als Schlussworte fungieren könnten, gerade auch unter dem Gesichtspunkt der vorliegenden Ausführungen, und die wir meist für die Schlussworte halten: »The rest is silence.« (V.2.347) Nein, am Ende wird das Vermächtnis, das Hamlet mit diesen seinen Worten besiegelt, in die Tat umgesetzt. Hamlet überträgt seinen Herrschaftsanspruch, seine Stimme, auf Fortinbras. But I do prophesy th’election lights On Fortinbras. He has my dying voice. So tell him, with th’occurrents, more and less, Which have solicited – the rest is silence. (V.2.344 – 347)
Und Fortinbras ehrt Hamlet nicht etwa, wie wir es heute von einem intellektuellen Norweger erwarten würden, mit einem Nobelpreis für Literatur, sondern mit den höchsten militärischen Ehren: [ . . . ] Let four captains Bear Hamlet like a soldier to the stage, [ . . . ] and for his passage The soldiers’ music and the rites of war Speak loudly for him. (V.2.384 – 89)
Welche Ironie! Der Intellektuelle, der sich mit seinem Denken der durch martialische Ehre geprägten Tradition widersetzte, wird unter dem Gedonner von Kriegskanonen zu Grabe getragen. Fortinbras befiehlt seinen Soldaten »Go, bid the soldiers shoot.« (392) Das letzte Wort im Hamlet heißt nicht »denken«, sondern »feuern«. Und ausgerechnet auf diesen Erztraditionalisten, diesen Kriegstreiber, den Hamlet schon im ersten Akt kulturgeschichtlich über10 11
A. a. O., 111. Ebd.
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wunden hatte, fällt Hamlets Stimme. Warum? Fortinbras ist der Held der Eindeutigkeit, zu keiner Zeit »von der blassen Farbe des Denkens kränklich überzogen«. Wenn es je eine Hoffnung gibt, sich der tragischen Erfahrung Hamlets zu entziehen, dann dadurch, dass man auf Eindeutigkeit setzt und dem Zweifel als Denkprinzip keinen Raum lässt, die Welt fein säuberlich einteilt in Kloster und Freudenhaus. Dass sich indes dem Denkenden die Welt derartig eindeutigen Klassifizierungen entzieht, gehört zu der zentralen tragischen Erfahrung, die diese Tragödie entfaltet. Mit der Bücherwelt versöhnt sich Hamlet am Schluss dennoch. Er gibt gewissermaßen ein Buch in Auftrag. O God, Horatio, what a wounded name, Things standing thus unknown, shall live behind me! If thou didst ever hold me in thy heart, Absent thee from felicity awhile, [ . . . ] To tell my story. (V.2.333 – 338)
Wie wir wissen, ist dieses Buch geschrieben und über die Jahrhunderte tausendfach erzählt worden. Aber es ist kein Buch der eindeutigen Wahrheiten, sondern ein Buch, das von Unlesbarkeit zeugt, belegt durch die nicht endenden Versuche, dieses Buch auszulegen. Hamlet ist, sozusagen, Shakespeares Buch der Bücher.
Quelques réflexions sur les genres aristotéliciens dans les rhétoriques sacrées du XVIe siècle Par Sophie Conte
La prédication a pris diverses formes à l’époque médiévale: l’exhortation, l’admonestation, ou encore l’homélie, héritage des pratiques patristiques.1 Au tournant des XIIe et XIIIe siècles, au moment de l’émergence de la scolastique, apparut le sermon thématique, caractérisé par l’usage du syllogisme et l’intérêt accordé à la preuve. En Italie à la fin du XIVe siècle se dessina un courant nouveau au sein de la prédication, influencé par la rhétorique antique. On remit à l’honneur l’éloquence épidictique ou démonstrative, d’abord en faisant l’éloge des saints, puis en adaptant ce genre aux sermons doctrinaux. Les sermons reposaient alors plus sur la louange des bienfaits divins que sur l’analyse de questions théologiques abstraites. La théorie prit acte de cette évolution avec quelque retard, à la fin du XVe siècle. Les rhéteurs ecclésiastiques du XVIe siècle, qui se sont plus largement appuyés sur la rhétorique antique, ont ensuite manifesté des divergences dans la répartition des discours sacrés entre les genres oratoires, comme l’a montré John O’Malley.2 Selon lui, les choix rhétoriques sont conditionnés par l’anthropologie religieuse des auteurs et leurs convictions doctrinales. La façon dont les prédicateurs comprennent la nature de l’Écriture détermine leur choix du genre le plus approprié. Inversement, ce choix influence leur herméneutique. À la fin du siècle, Louis Carbone a écrit une ample rhétorique générale, le Diuinus orator, dans la mouvance des traités suscités par le Concile de Trente.3 Ancien élève des jésuites, il fut professeur de théologie à Pérouse et composa 1 J. W. O’Malley, Praise and Blame in Renaissance Rome, Rhetoric, Doctrine, and Reform in the Sacred Orators of the Papal Court, c. 1450 – 1521, Duke University Press, Durham (North Carolina), 1979, 36 – 76. 2 J. W. O’Malley, »Content and Rhetorical Forms in Sixteenth-Century Treatises on Preaching«, dans Renaissance Eloquence: Studies in the Theory and Practice of Renaissance Rhetoric, ed. James J. Murphy, Berkeley, University of California Press, 1983, 238 – 252; réédition: J. W. O’Malley, Religious Culture in the Sixteenth Century, Preaching, Rhetoric, Spirituality, and Reform, Aldershot 1993 (même pagination). 3 L. Carbone, Divinus orator vel De rhetorica divina libri septem (1595), Venetiis 1615.
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une œuvre rhétorique se partageant entre le domaine profane et cette somme sur l’éloquence sacrée4. Héritier de la tradition antérieure, dont il fait mention, sans compter les auteurs dont il tait les noms, ce traité est une source utile pour interroger à notre tour les rhétoriques sacrées du XVIe siècle.
I. Les classifications des genres sacrés au XVIe siècle d’après Louis Carbone Louis Carbone met l’orateur en valeur au début du Divinus orator, qui se termine par des questions relatives à la pédagogie. Au cœur du traité sont successivement étudiées l’invention, la disposition, l’amplification et les passions, puis le style, l’action et la mémoire. Le livre II, consacré à l’invention, présente les différents lieux dont peut user l’orateur. Le chapitre liminaire pose en préambule les différents types de discours.5 La question des genres oratoires, liée à l’invention et à la disposition, se pose donc en lien avec l’argumentation. Si l’invention se préoccupe du matériau argumentatif, la disposition l’envisage en situation. C’est pourquoi Carbone fait aussi usage de ces catégories au livre suivant, consacré à la disposition. Comme Quintilien, qui bien souvent, sur un sujet donné, fait l’état de la question avant de proposer son point de vue, Carbone établit un récapitulatif des classifications antérieures. Son point de départ est le modèle rhétorique classique : il présente d’abord ceux qui s’y conforment pour ensuite montrer les solutions alternatives. Son exposé ne répond donc pas à une logique chronologique. Nous nous proposons dans les lignes qui suivent d’évaluer les influences qui se devinent derrière l’exposé synthétique de Carbone, en nous laissant guider par les principales références figurant en marge de l’ouvrage.
Les classifications fidèles à la tripartition générique artistotélicienne Au premier livre de la Rhétorique, Aristote distingue trois genres oratoires, qu’il définit tout d’abord en fonction du public auquel ils s’adressent, parce que le genre conditionne la fin (ôÝëïò) du discours.6 Le genre de´libe´ratif (óõìâïõ4 Sur L. Carbone, voir M. Fumaroli, L’Age de l’éloquence, Rhétorique et »res literaria« de la Renaissance au seuil de l’époque classique, Genève 1980, 182 – 186. On trouvera une liste des traités de L. Carbone dans L. D. Green, J. J. Murphy, Renaissance Rhetoric ShortTitle Catalogue 1460 – 1700, Aldershot 2006, 96 – 97. 5 L. Carbone, Divinus orator, II, 1: Quot et quae sint concionum siue orationum genera concionatori subiecta. 6 Arist., Rhet., 1, 1358a – 1359a.
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ëåõôéküí) conseille et de´conseille (ðrïôrïðÞ / 6ðïôrïðÞ), s’adresse a` une assemble´e de´libe´rative et porte sur l’avenir. Le genre judiciaire (äékáíéküí) accuse et de´fend (káôçãïrßá / 6ðïëïãßá), s’adresse a` des juges et porte sur le passe´. Le genre de´monstratif ou e´pidictique (7ðéäåékôéküí) loue ou blaˆme (fðáéíïò / øüãïò), devant un public moins de´termine´, et s’inscrit dans le pre´sent. Ils ont chacun une fin diffe´rente: le premier vise l’utile et le nuisible (óõìjÝrïí / âëáâårüí), le second le juste et l’injuste (äßkáéïí / eäékïí), le troisie`me le beau et le laid (káëüí / á9ó÷rüí). Ce sont des genres de re´fe´rence, auxquels correspondent des modes d’argumentation. Aristote a bien conscience qu’ils ne re´sument pas en eux-meˆmes tous les discours, mais ils servent de points de repe`re. Louis Carbone présente les trois genres oratoires (tria genera) en ces termes: quae sunt, demonstratiuum siue laudationis, deliberatiuum siue deliberationis, et iudiciale siue accusationis.7 Plusieurs traités auxquels il fait référence s’en sont tenus à ce modèle classique. L’ouvrage d’Augustin Valier, évêque italien proche du cardinal Borromée, suit un plan aristotélicien en trois parties.8 La question des genres apparaît au début du traité, une fois établie l’existence d’une rhétorique ecclésiastique. La matière dont se nourrit cette dernière est double: éloignée ou proche, c’est-àdire profane ou sacrée. L’orateur peut organiser son propos selon les trois genres aristotéliciens, deliberatiuum, demonstratiuum et iudiciale. Valier rappelle en quoi consiste chacun d’eux (suasio / dissuasio; laudatio / uituperatio; accusatio / defensio) ainsi que les fins qu’ils poursuivent (utile, honestum, iustum). À propos des fins de l’art oratoire, il considère que, contrairement aux rhéteurs antiques, les rhéteurs ecclésiastiques ne doivent pas distinguer l’honnête de l’utile. Valier adapte une situation nouvelle à un cadre de pensée existant: il est trop aristotélicien pour s’affranchir du modèle. Il se montre économe dans ses définitions et ses conseils, ce qui répond à la prudence borroméenne vis-à-vis de la rhétorique. Le franciscain Diego Valadés, originaire du Mexique, est l’auteur d’une rhétorique générale en six livres, à la composition un peu lâche.9 Il consacre le livre IV aux genres oratoires et suit lui aussi la répartition aristotélicienne (demonstratiuum, deliberatiuum, iudiciale). Pour le démonstratif, Valadés prend pour exemple la deuxième épître aux Corinthiens dans laquelle Paul console ceux auxquels il s’adresse, et les loue pour ce faire. C’est le genre que le rhéteur privilégie nettement par rapport aux autres. Le but principal du délibératif est 7
L. Carbone, Divinus orator, II, 1, 70. A. Valier, De rhetorica ecclesiastica libri tres (1574), Veronae 1583. 9 D. Valadés, Rhetorica christiana ad concionandi et orandi usum accommodata (1574), Perusiae 1579 [édition en fac-simile, Mexico, Universidad Nacional Autónoma de México, 1989]. 8
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d’exhorter à la vertu: la même épître correspond aussi à ce genre. Pour le judiciaire, c’est l’épître aux Hébreux qui sert de modèle. Valadés présente ensuite les principes essentiels du genre démonstratif, en se fondant sur Aristote et Quintilien. Il illustre son propos par l’exemple d’une louange de François d’Assise. Dans le chapitre suivant, il ajoute des exemples, faisant référence à Jules César et à la province de Chichimeca, où l’on reconnaît la marque de fabrique de Valadés, toujours soucieux de sa terre d’origine. Il revient brièvement à la fin de ce chapitre sur les autres genres oratoires en rappelant la distinction existant dans l’Antiquité entre le genre judiciaire et les autres genres et poursuit son étude dans les chapitres suivants.10
Les classifications qui ajoutent le didascalicon aux trois genres aristotéliciens Carbone rappelle ensuite que certains rhéteurs ajoutent un quatrième genre (quod graece didascalicon et didacticon, latine doctrinale vocant) dont la fin est la connaissance de la vérité et la réfutation de l’erreur (veritatis cognitio et falsitatis refutatio).11 Lui-même n’est pas très convaincu : il considère que le didascalicon peut soit se dissoudre dans les trois autres genres, soit relever du démonstratif. Il lui consacre toutefois un chapitre, à titre de concession : Quamuis Christianus Orator rarius orationem solum docendi causa suscipere debet, ad quod faciendum comparatum est genus illud, quod didascalicon vocari diximus, tamen, cum accidere possit, ut populus praecipue docendus sit, vel in tota, vel in aliqua orationis parte, praesertim quibusdam in locis, et temporibus, propterea non erit inutile, si de ratione, qua hoc genus tractari debet, aliquid scribemus.12
L’auteur qui figure en marge est Alfonso Zorrilla. S’il a introduit ce genre dans la rhétorique ecclésiastique catholique, il a subi l’influence des protestants. Philippe Melanchthon en est le véritable inventeur. Considérant que le prédicateur doit enseigner la force et la nature de la religion et exhorter à la foi et à la 10 Voir en particulier : D. Valadés, Rhetorica christiana, IV, 3: Explicatur quid sit genus demonstratiuum; IV, 13: De Genere deliberatiuo; IV, 14: Definitionem et vsum Generis deliberatiui continet; IV, 17: De genere Iudiciali; IV, 18: De tribus laudandi, aut vituperandi modis. D’autres chapitres dans ce livre complètent ou illustrent ces réflexions sur les genres oratoires. 11 L. Carbone, Divinus orator, 70. 12 L. Carbone, Divinus orator, 152 : »Il est relativement rare que l’orateur chrétien soit amené à composer un discours dans le seul but d’enseigner, raison pour laquelle a été établi le genre dont nous avons dit qu’il s’appelait didascalicon. Cependant, puisqu’il peut arriver que le peuple ait besoin d’être instruit, soit dans l’intégralité du discours, soit dans une de ses parties, surtout dans certains lieux et certains moments, il ne sera pas inutile d’écrire quelques mots sur la façon dont ce genre doit être mis en œuvre«.
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morale, il a refusé le modèle aristotélicien et rejeté le démonstratif et le judiciaire. Il inventa en conséquence le didacticum qui a pour but d’instruire (docere), et deux nouveaux genres issus du délibératif, l’epitrepticum qui se propose d’exhorter à la foi (hortari ad fidem), et le paræneticum qui relève de l’exhortation morale (hortari ad bonos mores).13 Le petit traité de Zorrilla, précédé de recommandations pour l’apprentissage de la théologie, comporte deux parties.14 La première traite de l’art de la prédication (de arte concionandi), puis brièvement du prédicateur (de concionatore). La seconde porte sur le discours sacré (de sacra concione): elle étudie les parties du discours et les lieux correspondants, puis comporte quelques pages sur le bon usage du discours sacré (de recto sacrae concionis partiumque eius vsu), qui s’attachent tout particulièrement au didacticum (simplex et compositus) pour traiter rapidement le délibératif et le démonstratif. Si ce plan reprend la répartition classique entre ars, artifex et artificium, Alfonso Zorrilla se distingue dans son refus de traiter du style, chose vaine et demandant beaucoup de travail. Il accorde toute son attention à l’invention et à la disposition. C’est après avoir présenté les cinq parties de l’art oratoire que Zorrilla évoque, sous le chapitre de la »matière« (de materia artis concionandi), les trois genres oratoires sacrés: didacticum, demonstratiuum et deliberatiuum. Le genre didactique est pour Zorrilla la faculté d’instruire: didacticos enim graece, idem est, quod latine, habilis, idoneus, aptus, et appositus ad docendum. Le démonstratif réside dans la faculté de louer ou blâmer, en ayant recours à l’amplification. Le délibératif est propre à persuader ou dissuader. Louis de Grenade procède en partie de même.15 La réflexion sur les genres oratoires s’inscrit chez le Dominicain espagnol dans le passage consacré aux parties du discours (dispositio).16 Grenade fait la distinction entre l’orateur profane (ciuilis) et l’orateur sacré. C’est pourquoi il commence par rappeler les trois genres retenus par Aristote et Cicéron. Il ajoute le genus didascalicum seu dialecticum et retranche le genre judiciaire, qui ne convient pas à l’orateur sacré, si bien 13 P. Melanchthon, De officiis concionatoris [1529], Londres 1570. Voir aussi: Elementa rhetorices [1519], Berlin 2001. Voir J. O’Malley, »Content and Rhetorical Forms«, 242 – 243. 14 A. Zorrilla, De sacris concionibus recte formandis, deque ratione theologiae discendae, compendiaria formula, Romae 1543. Voir J. O’Malley, »Content and Rhetorical Forms«, 245 – 247. 15 L. de Grenade, Ecclesiasticae Rhetoricae sive de Ratione concionandi libri sex (1576), Coloniae 1611. Nous citerons une édition moderne, malgré ses nombreux défauts: Fray Luis de Granada, Retórica eclesiástica, dans Obras completas, t. XXII – XXIII, traducción al espan˜ol auspiciada por J. Climent, Madrid 1999. C’est une édition bilingue, dont le texte latin est rempli de coquilles. 16 L. de Grenade, Ecclesiasticae Rhetoricae, IV, 1: De sex orationis partibus.
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qu’il prend en considération trois genres oratoires: deliberatiuum, demonstratiuum, et didascalicum seu dialecticum. C’est en tout cas ce qu’il annonce dans le chapitre liminaire. Dans les faits, il ajoute subrepticement deux chapitres entre le demonstratiuum et le didascalicum: l’un sur l’explication de l’Écriture (lectionis euangelicae enarratio), et l’autre sur un genre mixte, qui mêle l’exégèse et l’exhortation morale, à la manière de Jean Chrysostome.17 Cette petite incohérence entre l’annonce du plan et le développement révèle la difficulté à intégrer dans la classification générique le discours issu de la tradition exégétique. Manuel López Mun˜oz propose une analyse approfondie de ce passage dans sa monographie sur la rhétorique de Louis de Grenade.18 Il considère que la complexité du texte tient à la distinction entre modus et genus et pense que le troisième et le quatrième genre sont des modi appartenant au deliberatiuum. C’est un fait que Grenade donne une définition large du deliberatiuum. Il est toutefois surprenant qu’il les ait ainsi séparés du deliberatiuum par le chapitre sur le demonstratiuum. Quoi qu’il en soit, Grenade intègre à la théorie rhétorique une pratique en honneur chez les Pères de l’Église, en partie issue de la tradition biblique, en partie issue des exercices des grammairiens antiques: l’explication de texte.19 Le traité de Louis de Grenade est parfois publié avec le De modo concionandi liber de Diego de Estella, auteur figurant lui aussi en marge du Diuinus orator.20 Or Diego de Estella prône le retour à l’homélie. Il consacre son chapitre sur la matière de l’éloquence sacrée (de materia praedicationis) à une présentation des quatre sens de l’Écriture qui impliquent les quatre types d’exégèse: littérale, morale, allégorique et anagogique. Cet ouvrage qui est moins influencé par les rhétoriques antiques ne comporte pas de questionnement sur les genres oratoires. Louis de Grenade considère que le genre nouveau qu’est le didascalicum est proche de la philosophie et de la théologie, auxquelles il emprunte des lieux et la méthode dialectique qui permet de les traiter. Il se réfère à Cicéron (De officiis) et Thomas d’Aquin qui, comme les autres théologiens, dispute de Dieu, des anges, de l’âme et autres sujets semblables. Par rapport au théologien, le prédicateur orientera davantage ses propos vers les règles de vie. Grenade en17 L. de Grenade, Ecclesiasticae Rhetoricae, IV, 2: De primo concionandi modo in genere suasorio; IV, 3: De secundo concionandi modo in genere demonstratiuo [ . . . ]; IV, 4: Tertius concionandi modus, qui lectionis evangelicae enarrationem continet; IV, 5: Quartus concionandi modus, ex superioribus mixtus; IV, 6: De genere concionis didascalico. 18 M. López Mun ˜ oz, Fray Luís de Granada y la Retórica, Universidad de Almería 2000 (ch. III, »Los géneros de la predicación«, 59 – 117, surtout 65 – 73). 19 Voir J. O’Malley, »Content and Rhetorical Forms«, 246 – 247. 20 D. de Estella, De modo concionandi liber (1592), Coloniae 1594. Voir l’édition suivante: Fray Diego de Estella, Modo de predicar y Modus concionandi, estudio doctrinal y edición crítica por Pío Sagüés Azcona, Instituto Miguel de Cervantes, Madrid 1951.
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tend ainsi se démarquer du sermon thématique médiéval: il traite de points de doctrine approfondis, mais il les adapte à la prédication.
Les classifications issues de la tradition paulinienne définissant cinq genres sacrés Carbone introduit ensuite la tradition qui, en se fondant sur Paul, définit cinq genres sacrés, didascalicum, redargutiuum, institutiuum, correctorium, consolatorium, qu’il présente ainsi: Primo genere, veritatem docemus; secundo, falsa dogmata refellimus; tertio, mores formamus, et quid agendum sit ostendimus; quarto, male facta corrigimus et reprehendimus; postremo, afflictos consolamur, erigimus, et in spem vocamus.21
D’après les sources indiquées en marge, Carbone se réfère au traité de Lorenzo de Villavicencio22. Or le rhéteur espagnol reproduit textuellement les chapitres écrits sur les genres oratoires par Andreas Hyperius, à qui appartient cette classification tirée de Paul.23 Il y a donc une source protestante derrière les références catholiques avouées. Andreas Hyperius part du constat selon lequel il est vain de vouloir reprendre les genres de la rhétorique classique parce qu’ils ne correspondent pas aux réalités de la prédication. Il se fonde sur l’épître à Timothée: Omnis scriptura diuinitus inspirata et utilis ad docendum ad arguendum ad corrigendum ad erudiendum in iustitia ut perfectus sit homo Dei ad omne opus bonum instructus.24 21 L. Carbone, Divinus orator, II, 1, 70: »Par le premier genre, nous enseignons la vérité; par le second, nous réfutons les faux dogmes; par le troisième, nous formons les mœurs et montrons ce qu’il faut faire; par le quatrième, nous corrigons et blâmons les mauvaises actions; par le dernier, nous consolons les affligés, les relevons, et les invitons à espérer«. 22 L. de Villavicencio, De formandis sacris concionibus, siue De interpretatione scripturarum populari, libri tres (1564), s.l., s.d. 23 A. Hyperius, De formandis concionibus sacris, seu De interpretatione Scripturarum populari, libri II (1553), Basileae 1573. Tel est le contenu du livre II: Caput I. Quot sint concionum genera, quotuplex status, et de duabus thematum formis. Caput II. De genere doctrinali seu didascalico. Caput III. De genere redargutiuo. Caput IIII. De genere institutiuo. Caput V. De genere correctorio. Caput VI. De genere consolatorio. Caput VII. De mixto genere concionum. Caput VIII. Tria esse concionatori semper spectanda: auditorum utilitatem, decorum in dicendo agendoque et studium concordiae. Cela constitue également le livre II du traité de L. de Villavicencio, qui ajoute un chapitre tiré d’Augustin sur la prédestination. Le libellé complet du titre de l’ouvrage indique que le rhéteur espagnol a réuni (collecti) des réflexions sur l’art de composer des discours sacrés. Il ne se prétend pas inventeur mais il ne cite pas sa source pour autant. 24 II Tim. 3, 16 – 17: »Toute Ecriture est inspirée de Dieu et utile pour enseigner, réfuter, redresser, former à la justice: ainsi l’homme de Dieu se trouve-t-il accompli, équipé pour toute œuvre bonne«.
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Il cite aussi l’épître aux Romains, dans laquelle Paul donne comme but la consolation (consolatio) qui conduit à l’espérance (Rom. 15, 4 – 6). Il en déduit qu’il faut envisager cinq genres sacrés: doctrinale (äéäáókáëéküí), redargutiuum (7ëåãkôéküí), institutiuum (ðáéäåõôéküí), correctorium (7ðáíïrèùôéküò), consolatorium (ðárákëçôéküò siue ðáráìõèçôéküò). S’il associe la redargutio et la correctio au genre judiciaire, et l’institutio aux genres de´libe´ratif et de´monstratif, il constate que les taˆches d’enseigner et de consoler, contenues dans le doctrinale et le consolatorium, e´taient confie´es aux philosophes et non aux rhe´teurs. C’est pourquoi la the´orie des rhe´teurs ne suffit pas.
La combinatoire des douze genres Carbone évoque enfin un dernier type de classement, plus contemporain, qui réunit douze genres résultant d’une combinatoire entre trois genres simples (laudare, suadere, errores refellere) et trois types de sujet (selon qu’il est question totalement, partiellement, ou absolument pas de l’Évangile) à laquelle s’ajoutent trois types d’explication de l’Évangile. La source semble être ici Francesco Panigarola, qui ouvre son traité écrit en italien par un exposé sur les genres oratoires.25 Panigarola n’ignore pas la tradition rhétorique classique, qu’il rappelle en préambule, tout comme l’existence du genre »didactique«. Mais il lui préfère une autre classification. Il distingue deux grandes catégories de discours, ceux qui expliquent l’Évangile (didascaliche) et ceux qui développent un thème donné (non didascaliche). Il extrait de la seconde catégorie neuf genres de discours, issus d’une combinatoire entre trois genres simples (exposer un sujet; louer un saint; réfuter une hérésie) et trois modes d’utilisation de l’Évangile (ne pas en faire cas; se fonder sur un passage; s’appuyer sur tout l’Évangile). Il remarque que les trois genres simples correspondent aux trois genres aristotéliciens, respectivement délibératif, démonstratif et judiciaire. Quant au commentaire exégétique, il se répartit en trois types. L’orateur peut réunir plusieurs sources pour expliquer le texte de l’Évangile en fonction des différents types d’interprétations; il peut aussi faire en sorte que plusieurs clauses du texte se rejoignent pour expliquer une clause qu’il privilégie; enfin, il peut utiliser les deux textes de l’Évangile, quand il s’agit d’un jour de fête, ou bien confronter l’Évangile du jour avec l’épître pour expliquer l’un des deux textes ou une partie de celui-ci. Carbone présente les choses un peu différemment. Selon lui, il y a trois situations de discours: le sermon sur un thème sans lien avec l’Évangile, le sermon 25
F. Panigarola, Modo di comporre una predica (1584), Venetiis 1603.
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sur un thème tiré de l’Évangile, et le sermon exégétique. Pour le sermon exégétique, il y a trois possibilités: expliquer un ou deux passages; commenter conjointement le texte de l’Évangile et l’épître; commenter l’un ou l’autre de ces deux textes. À cela s’ajoutent trois formes simples, qui consistent à louer, persuader, réfuter les erreurs (des hérétiques). Ces trois genres, outre le fait qu’ils existent en soi, peuvent se développer en lien avec une partie de l’Évangile ou avec tout l’Évangile, ce qui fait en tout neuf genres. S’y ajoutent les trois modes du sermon exégétique déjà exposés. Carbone remarque que dans le commentaire on se contente de suivre le texte pour éclairer un point de doctrine. En revanche, celui qui veut non pas seulement enseigner (docere), mais émouvoir en vue de modifier le comportement (permouere), a intérêt à choisir un thème pour organiser ses idées, afin de soutenir l’intérêt. Ainsi Carbone pose le problème de l’inscription du commentaire biblique dans les genres oratoires.
Trujillo: une classification selon les circonstances Carbone ne tire pas parti de Tomás de Trujillo, qu’il mentionne pourtant en marge.26 Ce dernier propose dans son Thesaurus concionatorum une classification en cinq genres, selon les circonstances dans lesquelles sont prononcés les discours: la prédication du dimanche, de semaine, de jour de fête, de dimanche et fête en même temps, pour une occasion particulière. S’il s’agit d’un dimanche ou d’un jour de semaine: proclamer l’Évangile; faire un discours sur certains passages; choisir un seul but et s’y tenir. Pour un jour de fête: parler de la fête elle-même; du texte de l’Évangile qui en parle; de la fête et du texte à la fois. Il en est de même quand c’est dimanche et jour de fête à la fois. Pour une occasion particulière, il faut parler du sujet qui motive cette occasion, et s’y tenir. L’ensemble du livre III du Thesaurus concionatorum de Trujillo développe ces thèmes.27 Toutefois, cette partie du traité n’est pas très développée, car la véritable intention de Trujillo, comme l’indique le titre, est de fournir des idées pour nourrir les discours. Cela fait l’objet du dernier livre, qui représente la majeure partie de l’ouvrage, les cinq livres qui précèdent ne constituant qu’une vaste introduction. Il s’ensuit, et c’est un point commun avec Panigarola que, par rapport aux rhétoriques savantes, il est plus détaché des sources rhétoriques, a fortiori des sources classiques. C’est un point de vue pratique. Ces deux classifications ont en commun de refléter l’expérience de la prédication et la réalité du temps. 26
T. de Trujillo, Thesaurus concionatorum libri sex (1570), Venetiis 1586. T. de Trujillo, Thesaurus, III: In quo demonstratur qua ratione sermones siue conciones componendae sint ex rebus tum a doctoribus, tum a Bibliis erutis, et alia tractantur ad hoc genus spectantia. 27
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Les choix de Louis Carbone Les premiers chapitres du livre III du Diuinus orator posent les fondements de la disposition en présentant les parties du discours. Carbone étudie ensuite la disposition et les lieux spécifiques à chacun des genres oratoires. Il traite d’abord les trois genres aristotéliciens, sans leur accorder toutefois la même importance.28 On reconnaît ensuite la succession des genres pauliniens.29 Mais ce qui tient lieu d’institutiuum est en fait le genre de l’homélie (Euangelica explanatio) ainsi que le genre »mixte«, qui correspond aux discours de Jean Chrysostome, articulant, à partir d’un même texte, le commentaire exégétique et les conseils moraux qui en découlent. Carbone suggère que ces genres pauliniens peuvent se résoudre dans les trois genres aristotéliciens, mais son propos n’est pas clair, dans le détail, sauf pour le correctorium et le consolatorium, pour lesquel il conseille de reprendre les lieux du délibératif (suasio).
II. Les genres oratoires classiques ou le sort des genres aristotéliciens Aristote a recueilli le fruit de débats antérieurs à Athènes pour établir les trois genres oratoires.30 Cette répartition, qui ne rendait pas compte de tous les types de discours, a été critiquée dans l’Antiquité même, sans pour autant être remplacée.31 Ainsi, dans le chapitre qu’il consacre aux genres de causes, Quintilien remet en question le nombre de trois, comme Cicéron l’avait fait avant lui.32 L’idée selon laquelle les formes du langage dépassent facilement le cadre des trois genres oratoires est exprimée par une énumération verbale: 28 L. Carbone, Divinus orator, III, 5: De dispositione concionis generis deliberatiui, siue suasorii; III, 6: De locis propriis generi deliberatiuo et suasorio; III, 7: De dispositione concionum generis demonstratiui, siue laudationis; III, 8: De locis generis laudatiui ante vitam; III, 9: De locis generis laudatiui in vita; III, 10: De caeteris locis generis laudatiui; III, 11: De dispositione concionum generis iudicialis, siue accusatorii. 29 L. Carbone, Divinus orator, III, 12: De genere didascalico, deque docendi ratione; III, 13: De methodo in redarguendo seruanda; III, 14: De dispositione concionis in qua euangelica historia explanatur; III, 15: De misto concionandi genere, deque diuersorum generum comparatione; III, 16: De correctorio concionandi genere; III, 17: Admonitiones quaedam ad recte corrigendum necessariae, deque correctione maiorum; III, 18: De genere concionandi consolatorio; III, 19: Cautiones quaedam in consolando obseruandae. 30 L. Pernot, »Aristote et ses devanciers. Pour une archéologie du discours délibératif«, Ktéma 27 (2002), 227 – 235. 31 G. A. Kennedy, »The Genres of Rhetoric«, dans Stanley E. Porter (ed.), Handbook of Classical Rhetoric in the Hellenistic Period (330 B.C. – A.D. 400), Leiden 1997, 43 – 50. [réédition 2001]. 32 Inst. or., III, 4, 1 – 16.
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Nam si laudandi ac uituperandi officium in parte tertia ponimus, in quo genere uersari uidebimur, cum querimur, consolamur, mitigamus, concitamus, terremus, confirmamus, praecipimus, obscure dicta interpretamur, narramus, deprecamur, gratias agimus, gratulamur, obiurgamus, maledicimus, describimus, mandamus, renuntiamus, optamus, opinamur, plurima alia?33
Quintilien essaie de justifier a posteriori le système ancien, auquel il adhère. Il cite l’auteur de la Rhétorique à Alexandre, qui substituait aux trois genres de causes sept espèces (species): hortandi, dehortandi, laudandi, uituperandi, accusandi, defendendi, exquirendi (quod 7îåôáóôéküí dicit).34 Mais il montre que les deux premie`res rele`vent du de´libe´ratif, les deux suivantes du de´monstratif et les trois dernie`res du judiciaire. Les rhe´teurs eccle´siastiques du XVIe sie`cle, et Carbone en particulier, ont utilise´ le meˆme type de raisonnement a` propos des genres sacre´s. Quintilien mentionne Platon, qui ajoute aux genres judiciaire (iudiciale) et délibératif (contionale) un troisième genre (ðrïóïìéëçôékÞ), propre aux discussions prive´es et se rapprochant de la dialectique. Il lui emprunte en outre une division entre le genre judiciaire et les discours prononce´s dans d’autres contextes. Au-delà de la réflexion menée par Quintilien, que nous avons choisie comme exemple parce qu’elle n’est pas sans lien avec la méthode adoptée par Carbone, force est de constater que la réalité du discours dans l’Antiquité dépasse les formes désignées par Aristote. Pour nous en tenir aux discours publics, nous pouvons mentionner les lettres publiques, les cours des philosophes et autres professeurs, dont le protrepticus (exhortation à la philosophie ou à la vie morale) et la diatribe sont des exemples, le midrash juif et l’homélie chrétienne, fondés sur l’interprétation de l’Écriture, les discours panégyriques, profanes ou sacrés et les exercices de déclamation, controverse et suasoire.35 La position de Carbone est ambiguë: s’il multiplie les allusions au fait que tout peut se résoudre dans les trois genres aristotéliciens, auxquels il donne la primauté, il n’en demeure pas moins qu’il traite, et même longuement, les genres pauliniens, sans établir de façon très claire la correspondance qu’il suggère: 33 Inst. or. III, 4, 3: »En fait, si l’on met dans la troisième catégorie le soin de louer et de blâmer, dans quel genre estimera-t-on que nous devrons nous placer, lorsque nous nous plaignons, que nous consolons, apaisons, excitons, intimidons, encourageons, conseillons, interprétons des énoncés obscurs, racontons, conjurons, remercions, félicitons, reprenons, invectivons, décrivons, recommandons, faisons des rétractations, des vœux, des conjectures et bien d’autres choses?« (traduction J. Cousin, CUF). Quintilien emploie le même procédé pour décrire le pouvoir d’expression des mains (Inst. or. XI, 3, 86 – 87). 34 Inst. or., III, 4, 9: »l’exhortation, la dissuasion, l’éloge, le blâme, l’accusation, la défense, l’enquête, (ce qu’il appelle en grec 7îåôáóôéküí)« (traduction J. Cousin). 35 Nous empruntons ces exemples à G. A. Kennedy, »The Genres of Rhetoric«, 47.
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Illud tamen addiderim, nullo modo mihi probari eos, qui oratorem Christianum in solo genere deliberatiuo, seu suasorio versari volunt. Nec etiam ei, vt aliqui faciunt, iudiciale genus omnino subtraherem; cum, re uera, aliquas huius generis partes tractet, licet in foro non versetur. Cum aliis itaque dicamus, huic artifici omnia tria caussarum genera esse subiecta; quamuis crebrius in deliberatiuo, quam in duobus aliis, et saepius in laudatione, quam in accusatione versetur.36
D’après les mentions marginales, la première remarque concernerait Antoine Riccoboni, celle sur le judiciaire viserait Louis de Grenade, et parmi ceux à l’avis desquels Carbone se range, figurerait Augustin Valier. Nous nous proposons à présent d’analyser le sort fait à chacun de ces genres dans les théories évoquées précédemment.
Le genre judiciaire marginalisé C’est à propos du genre judiciaire que Quintilien développe la disposition et l’invention, tandis qu’il accorde un chapitre à part à chacun des deux autres genres. Pour Quintilien et la rhétorique antique, le genre judiciaire est l’évidence. La perspective s’inverse dans les traités ecclésiastiques. Carbone lui trouve une utilité pour comprendre et expliquer les textes de l’Écriture, pour accuser et défendre dans l’exercice de la controverse, et enfin dans certaines circonstances offertes par exemple par les conciles ou les synodes.37 Il se réfère dans ce chapitre à l’expérience des Pères de l’Église. Valier démarque le judiciaire des autres genres: s’il est particulièrement développé dans la rhétorique profane, il se révèle moins pertinent pour la rhétorique ecclésiastique. En effet, même si l’orateur sacré blâme les vices et semble dès lors accuser, sa démarche relève cependant davantage du genre délibératif, puisqu’il incite à la vertu et essaie de détourner du vice. Il n’y a pas à proprement parler de juge ni d’accusé. En fait, le judiciaire est surtout extérieur à l’église proprement dite, puisqu’il est nécessaire quand le prédicateur lutte contre les hérétiques ou défend les innocents persécutés. Zorrilla se justifie d’avoir laissé de côté le genre judiciaire, qui est utile pour les différends et les controverses. Il considère en effet que le genre didactique 36 L. Carbone, Divinus orator, II, 1, 72: »J’ajouterais cependant ceci, que je n’approuve en aucun cas ceux qui veulent que l’orateur chrétien se limite au genre délibératif ou suasoire. Et je ne lui enlèverais pas non plus complètement, comme certains le font, le genre judiciaire, parce que, à la vérité, il est concerné par certaines parties de ce genre, bien qu’il n’exerce pas dans un prétoire. Aussi, disons avec d’autres que les trois genres de causes intéressent tous cet orateur, bien qu’il pratique plus fréquemment le délibératif que les deux autres genres, et plus souvent la louange que l’accusation«. 37 L. Carbone, Divinus orator, III, 11.
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est suffisant car les procès auxquels est confronté le prédicateur ne sont pas ceux du forum. L’objectif premier du prédicateur est d’instruire et d’équiper les consciences; pour ce faire, mieux vaut le recours à l’Écriture que les subtils arguments des avocats.
Le genre démonstratif: des conceptions fluctuantes Le genre épidictique ou démonstratif est difficile à cerner dans l’Antiquité car sa définition repose sur une ambiguïté, dès Aristote.38 Ce dernier lui a assigné pour but de louer et blâmer mais le nom qu’il lui a donné renvoie aux discours d’exhibition dans lesquels les sophistes excellaient (7ðéäåßîåéò), caracte´rise´s par leur gratuite´, par opposition aux discours de´libe´ratifs et judiciaires, re´pute´s utiles. La traduction latine par demonstratiuum, en usage chez Cice´ron et Quintilien, est fonde´e sur un contresens, et repose sur l’ide´e que l’e´loge et le blaˆme »montrent« le caracte`re, les qualite´s ou les de´fauts de l’objet loue´.39 Par ailleurs, des trois genres, c’est celui dont les contours sont les moins pre´cis. On y range souvent les discours qui ne trouvent pas place dans les deux autres cate´gories. Quintilien consacre un chapitre à l’éloge et au blâme, laus et uituperatio, selon une terminologie adoptée ensuite par les rhéteurs ecclésiastiques.40 Il remet en question la gratuité de ce genre établie par Aristote parce qu’elle ne correspond pas aux réalités romaines. Il insiste aussi sur la porosité des genres: l’éloge et le blâme sont utiles au sein des autres genres. Là ne réside cependant pas sa spécifité, car le propre de la louange est l’amplification et l’ornementation (Sed proprium laudis est res amplificare et ornare), idée reprise par les traités ecclésiastiques.41 Pour Carbone, l’orateur sacré se donne pour tâche, en suscitant la louange, de faire en sorte que l’auditoire ait envie d’imiter ce qui a été loué.42 Ce peut être des personnes, des faits ou des choses. Carbone distingue les lieux pour la louange avant la vie, pendant la vie, et d’autres lieux. Valier assigne au genre démonstratif la fonction de louer les serviteurs de Dieu et Dieu lui-même, ainsi que de blâmer les hommes mauvais pour inviter 38 L. Pernot, La Rhétorique de l’éloge dans le monde gréco-romain, Institut d’Études Augustiniennes, Paris 1993 (Collection des Études Augustiniennes, Série Antiquité, 138), tome I, 25 – 42. 39 Quintilien a fait état de l’hésitation terminologique entourant le genre épidictique: Inst. or. III, 4, 12 – 14. 40 Inst. or. III, 7, 1 – 28. 41 Inst. or. III, 7, 6. 42 L. Carbone, Divinus orator, III, 7 – 10.
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les fidèles à rendre grâce à Dieu.43 Cela étant posé, il consacre son chapitre à une description des principales vertus chrétiennes, en citant les Pères de l’Église: les actions procédant de ces vertus méritent la louange, et celles qui obéissent à un comportement contraire, le blâme. Il faut louer davantage celles qui nous rapprochent de Dieu et nous rendent semblables à lui, comme les œuvres de charité et de miséricorde ; de même pour celles qui augmentent la gloire de Dieu, comme les actes des martyrs. Le chapitre de Valier a une double fonction, qui est autant un rappel des vertus chrétiennes qu’un exposé rhétorique. Le prédicateur ne doit louer que rarement ses contemporains vivants.44 Mais Valier s’inscrit dans la tradition antique des oraisons funèbres et présente les lieux propres à ce genre, en les adaptant aux nécessités chrétiennes. Il consacre le chapitre suivant à l’amplification proprement chrétienne. Grenade limite le démonstratif aux discours prononcés lors des fêtes des saints. Il établit, à la suite de Basile, une distinction entre l’éloge des saints et le démonstratif de la rhétorique classique: la fin du discours n’est pas tant de louer les saints que d’inciter l’auditoire à les imiter. Il souligne le rôle majeur joué par l’amplification.
Le genre délibératif: un rôle prépondérant Quintilien réserve un long chapitre au genre délibératif.45 Le genre délibératif a deux noms: pars deliberatiua ou suasoria. Il a une double fonction, persuader et dissuader (suadere et dissuadere). Contrairement à Aristote et Cicéron, Quintilien considère que le champ du délibératif dépasse le cadre politique des assemblées publiques: Nobis maior in re uidetur uarietas; nam et consultantium et conciliorum plura sunt genera.46 Mais il les rejoint en disant qu’il y a trois points à envisager: quid sit de quo deliberetur, qui sint qui deliberent, qui sit qui suadeat.47 Il réfléchit aussi aux points à considérer dans le cadre du délibératif: si certains envisagent l’honnête (honestum), l’utile (utile), le nécessaire (necessarium), Quintilien remet en question le dernier point. 43 A. Valier, De rhetorica ecclesiastica, I, 19: De genere demonstratiuo, et descriptiones quarundam christianarum uirtutum. 44 A. Valier, De rhetorica ecclesiastica, I, 20: Quod parce, et raro Ecclesiasticus orator laudat eos, qui viuunt, et vnde laudis argumenta ducantur. 45 Inst. or. III, 8, 1 – 70. 46 Inst. or. III, 8, 15: »Pour moi, la variété des cas me paraît offrir en fait un champ plus vaste, parce que les consultants et les consultations présentent une grande diversité« (traduction J. Cousin). 47 Ibidem: »l’objet de la délibération, ceux qui délibèrent, et celui qui conseille«. (traduction J. Cousin).
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Carbone donne lui aussi deux noms au délibératif: deliberatiuum et suasorium.48 Il lui accorde un rôle prépondérant car lorsque le prédicateur loue, explique ou enseigne (siue laudet, siue explanet et doceat), il fait œuvre de persuasion (suasionem aliquam adhibere). Comme Valier, il distingue cinq thématiques propres au délibératif. Il prend en considération deux lieux du délibératif, le vrai (uerum) et le bien (bonum): Cum ergo homines omnes suas actiones intellectu et voluntate moderentur et efficiant; ideo ad has duas animi vires permouendas omnes machinae adhibendae sunt. Quo fit, vt ex vero, quo permouetur intellectus, et ex bono quo voluntas, atque etiam ex eorum partibus omnis in hoc genere sumenda sit probatio.49
Pour Valier, le délibératif se définit comme le fait de persuader du bien (bonorum suasio) et dissuader du mal (malorum dissuasio).50 L’orateur sacré doit détourner des vices le peuple de Dieu et l’inciter à se tourner vers la piété et les vertus chrétiennes. Le délibératif se répartit en cinq catégories empruntées à la théologie: ad credenda, ad speranda, ad timenda, ad uitanda, ad agenda.51 Valier en traitera en rhéteur, en ayant bien soin de ne pas empiéter sur le domaine de la théologie. Ces catégories désignent: l’acte de foi, en référence au Symbole des Apôtres; l’espérance en la vie éternelle qui accompagne la foi; la crainte de Dieu sur laquelle celle-ci repose; les péchés dont il faut se garder; les actes qui se font dans le respect de la loi divine et des sacrements. Ainsi, le traité quitte la rhétorique proprement dite pour se faire catéchisme. Grenade a une conception large du délibératif, qui se répartit en deux modes (modi), suasorium et dissuasorium:52 Hoc enim genus adeo concionatoris proprium est, ut in omnibus concionibus – siue quae de sanctis, siue quae de redemptionis nostrae beneficiis habentur, siue quae in explanatione euangeliorum, caeterorumque Sacrorum Librorum uersantur – hunc nobis scopum et in tota concione, et singulis eius partibus proponere debeamus, ut ad pietatem et iustitiam homines adhortemur, uel a uitiis deterreamus: quod ad hoc genus pertinet.53 48
L. Carbone, Divinus orator, III, 5 – 6. L. Carbone, Divinus orator, III, 6, 130: »Donc comme les hommes règlent et accomplissent toutes leurs actions par l’intelligence ou la volonté, tous les procédés de persuasion doivent s’appliquer à toucher ces deux qualités de l’âme. Il s’ensuit que le vrai, qui touche l’intelligence, le bien, qui touche la volonté, ainsi que les parties de ces derniers doivent fournir la preuve pour ce genre«. 50 A. Valier, De rhetorica ecclesiastica, I, 5: Genus Deliberatiuum ad quinque capita referri posse. 51 A. Valier, De rhetorica ecclesiastica, I, 6 – 18. 52 L. de Grenade, Ecclesiasticae Rhetoricae, IV, 2: De primo concionandi modo in genere suasorio. 53 L. de Grenade, Ecclesiasticae Rhetoricae, IV, 2, 44: »Ce genre en effet est à ce point propre au prédicateur que dans tous les discours sacrés, qu’ils portent sur les saints, ou 49
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Il en résulte que pour Grenade c’est le genre de référence, qui supplante le rôle exercé par le judiciaire dans la rhétorique antique. C’est pourquoi Grenade reprend, à propos du genre délibératif, la répartition des parties du discours habituellement présentée pour le genre judiciaire. Dès lors, plus qu’une forme rhétorique, c’est une intention qui définit le délibératif. Le but (ôÝëïò, pour reprendre une terminologie aristote´licienne) prend le pas sur la forme. Grenade ajoute quelques recommandations spécifiques: l’orateur sacré doit en outre, après avoir persuadé son auditoire de rechercher la vertu ou de fuir les vices, lui en montrer les moyens, ce qui le distingue de l’orateur profane qui n’a pas de tels soucis. Il illustre toutefois cette idée par une référence à Plutarque, selon qui exhorter à la vertu sans indiquer en quoi elle consiste revient à moucher une lampe au lieu de verser de l’huile pour nourrir la flamme. Il renvoie à cet effet à un ouvrage qu’il a écrit, dont il donne le titre en espagnol: Guía de pecadores. Il faut prêcher non pour se faire valoir, mais en vue du salut des âmes. D’un point de vue théorique, Grenade vante les mérites de l’amplification, à laquelle il consacre le livre III de son traité. Grenade revient sur la distinction entre l’honnête et l’utile, comme le faisait Valier. Il distingue deux sortes d’hommes avec lesquels on n’utilisera pas les mêmes arguments: Illud etiam admonendum, duo esse hominum genera, alterum indoctum et agreste, quod antefert semper utilitatem honestati; alterum expolitum, quod rebus omnibus dignitatem anteponit. Apud hunc autem, argumenta quae ducuntur ab honesto; apud illum uero quae sumuntur ab utili, fortiora sunt.54
Ce souci de l’auditoire, s’il n’est pas étranger à la rhétorique antique, est essentiel pour la rhétorique ecclésiastique, car le prédicateur est animé d’une mission. On peut rapprocher d’une façon générale le point de vue de Grenade de celui d’Érasme qui, concevant la prédication comme un acte d’enseignement de la philosophie du Christ, rejette le genre judiciaire (forense genus) et privilégie le genre délibératif (suasorium).55 Érasme donne à ce genre plusieurs dimensions: qu’ils traitent des bienfaits pour nous de la rédemption, ou qu’ils se présentent comme une explication des Évangiles et des autres Livres sacrés, nous devons nous proposer ce but, dans tout le discours et dans chacune de ses parties: exhorter les hommes à la piété et à la justice, et les détourner des vices, ce en quoi consiste ce genre«. 54 L. de Grenade, Ecclesiasticae Rhetoricae, IV, 2, 54 – 56: »On doit aussi savoir qu’il existe deux sortes d’hommes: l’un, inculte et rustique, place toujours l’utile devant l’honnête, et l’autre, civilisé, privilégie la dignité à toute chose. Auprès de ce dernier, ce sont les arguments tirés de l’honnête, tandis qu’auprès de l’autre, ce sont les arguments que l’on emprunte à l’utile qui auront plus de poids«. 55 D. Erasme, Ecclesiastes, Basileæ 1535. Edition consultée: Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami, éd. J. Chomarat, V, 4, Amsterdam 1991, 268 – 275.
Quelques réflexions sur les genres aristotéliciens
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enseigner, persuader, exhorter, consoler, conseiller, et rappeler à l’ordre.56 Il ajoute enfin le genre épidictique (encomiasticum) réparti en actions de grâces et éloges des martyrs. Érasme vient rejoindre Melanchthon et Hyperius au rang des sources lointaines inavouables par un catholique tridentin. Au-delà de la filiation que nous percevons entre Louis de Grenade et Érasme, les textes que nous avons étudiés montrent que la rhétorique sacrée se définit en fonction du but poursuivi, qui est la conversion des fidèles, au sens large de cette expression. Dès lors, même quand ces rhéteurs accordent de l’importance au genre démonstratif, et c’est souvent le cas, ils le soumettent au délibératif au sens où il est primordial d’entraîner la persuasion. De même, ils ne peuvent certes nier l’importance du didascalicon, ni la nécessité de se fonder sur les textes de l’Écriture et de les expliquer, selon une tradition bien établie par les Pères de l’Église. Cela reste toutefois soumis au projet moral, selon le modèle donné par Jean Chrysostome. Ainsi, l’étude des lieux propres à l’argumentation est un prétexte à rappeler les valeurs fondamentales de la religion catholique, qu’il s’agisse des dogmes ou de la morale: le texte rhétorique a une double fonction, technique et édifiante tout à la fois. Cet aspect est particulièrement sensible dans les rhétoriques post-tridentines qui se soucient autant de l’auditoire destinataire de la prédication que de la formation morale du prédicateur lui-même. En tout cas, la primauté donnée au but poursuivi par l’orateur sacré donne une unité à des éléments rhétoriques hybrides, empruntés à des traditions différentes, comme nous avons pu le voir par la façon dont Grenade et Carbone intègrent l’homélie dans un schéma rhétorique classique. On s’attend à envisager les difficultés posées aux rhéteurs ecclésiastiques par l’adaptation du modèle profane, car ce thème fait partie en tant que tel des préliminaires de toute rhétorique ecclésiastique. La question des genres oratoires est cependant particulièrement délicate, parce qu’elle touche à la nature même de l’éloquence, à sa définition, à ses buts. Mais l’histoire de la rhétorique nous apprend que le modèle des trois genres aristotéliciens était remis en question dans l’Antiquité elle-même et que ce questionnement se situe donc dans une tradition.
56 Erasme, Opera, V, 4, 272, l. 536 – 537: Attamen ecclesiastes potissimum versatur in docendo, in suadendo, in exhortando, consolando, consulendo, et admonendo.
Die Verliebte Jägerin – Die Repräsentation des barocken Bühnenwerks als Repräsentation eines zu konstruierenden Subjekts Eine vergleichende Studie über die Verwendung des semantischen Codes des amour passion im französischen katholischen und im mitteldeutschen protestantischen Kontext Von René Sternke
Immanuel Kant bestimmt das Objekt wie das Subjekt, da sie sich gleichermaßen jeglicher Bestimmung entziehen, durch reine Negativität. Die Einheit des Subjekts ist nicht notwendigerweise wirklich, sondern allein logischer Natur.1 Mit der Absicht, der Philosophie eine Grundlage zu geben, stellte Karl Leonhard Reinhold seinen Satz vom Bewusstsein auf: Im Bewusstsein wird die Vorstellung gleichermaßen vom Subjekt und vom Objekt unterschieden und auf das eine wie auf das andere bezogen.2 Das Objekt und das Subjekt erscheinen also nur indirekt unter der provisorischen Form der Vorstellung, diesem einzig greifbaren Band zwischen zwei Abwesenheiten. Niemals wissen wir genau, was wir dem einen, was wir dem anderen zuzuschreiben haben. Nehmen wir das Beispiel der leidenschaftlichen Liebe. Die Aktivität des der Passion Unterworfenen ist Passivität. Das Subjekt einer solchen Liebe konstruiert sich als Objekt unter der Annahme eines von ihm unterscheidbaren Subjekts. Um die Konstruktion des Subjekts zu bezeichnen, verwendet Michel Foucault bald den Ausdruck Subjektivation, bald spricht er von Objektivation des Subjekts.3 Andere sprechen von Individuation und Individualisierung.4 Die Oper konstru1 Immanuel Kant, Critik der reinen Vernunft von Immanuel Kant, Professor in Königsberg, Riga 1781 [= A], 351 – 361. 2 Karl Leonhard Reinhold, Ueber das Fundament des philosophischen Wissens von C. L. Reinhold, nebst einigen Erläuterungen über die Theorie des Vorstellungsvermögens, Jena 1791, 78. 3 Michel Foucault, »Le sujet et le pouvoir« [1982], in: ders., Dits et écrits, 2 Bde., Paris 2001, Bd. 2, 1041 – 1062. 4 Gilbert Simondon, L’individuation psychique et collective à la lumière des notions de Forme, Information, Potentiel et de Métastabilité, Paris 2007. Simondon unterscheidet die Individuation (die Erscheinung von Phasen des Seins, die Phasen im Sein sind, 13) von der
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iert ein Subjekt, indem sie es mittels des monodischen Gesanges inszeniert. Die Liebe, das Hauptthema dieser Kunst, ist ein Verfahren, um das Subjekt auf eine unerklärliche und irrationale Weise zu individualisieren. Um letzteren Gedanken zu veranschaulichen, zitiert Niklas Luhmann in seiner Studie Liebe als Passion die berühmten Worte Michel de Montaignes: »Par ce que c’estoit lui, par ce que c’estoit moy.«5 Luhmann, der im Übrigen sehr gut weiß, dass die Freundschaft selbst noch für das 18. Jahrhundert ein mit der Liebe zur Hervorbringung von Intimität konkurrierender Code ist,6 scheint es für einen Augenblick aus den Augen verloren zu haben, dass das Kapitel, in welchem Montaigne seine Beziehung zu Etienne de La Boétie mit den angeführten Worten charakterisiert, nicht den Titel De l’Amour trägt, sondern mit der Überschrift De l’Amitié bezeichnet ist.7 So dürfte es sich also lohnen, das dem Code des amour passion zum Zeitpunkt seines Aufkommens eigene Subjektivationspotential mit dem Blick des Kulturhistorikers zu analysieren. Luhmann, der beobachtet, wie dieses Konzept während der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Frankreich auftaucht, und der konstatiert, dass dieser Code zur gleichen Zeit wie der König altert,8 interessiert sich für die politische Funktion, die der Code des amour passion erfüllt, nicht im Geringsten. Indem er eilig zum puritanischen Code der Liebe als companionship weiterschreitet, bekümmert sich der Soziologe auch wenig darum, wie der Code des amour passion außerhalb Frankreichs und insbesondere im protestantischen Kontext rezipiert und adaptiert worden ist. Das also sind die Fragen, zu deren Beantwortung wir beitragen möchten, wobei wir auf die subjektivierende Funktion des amour passion ein besonderes Augenmerk richten wollen. In Les amants magnifiques von Molière präsentiert sich der die Sonne repräsentierende König – »le Roy, Representant le Soleil« – als Objekt der BegehIndividualisierung [»l’individualisation«] (der Individuation eines individuierten Seins, 133) und der Personalisierung (die Persönlichkeit konstruiert sich durch sukzessive Strukturierungen, die einander ersetzen, 135). – Pascal Michon, der uns auffordert, die singulären und kollektiven Individuen ausgehend von den Dynamiken zu beobachten, von denen sie durchquert und getragen werden, spricht von Individuation. Pascal Michon, Les rythmes du politique, Paris, 2007, 37. Vgl. auch vom selben Autor Eléments d’une histoire du sujet, Paris 1999, und Rythmes, pouvoir, mondialisation, Paris 2005. – Bernard Stiegler spricht gleichfalls von Individuation. Vgl. Bernard Stiegler, Économie de l’hypermatériel et psychopouvoir. Entretiens avec Philippe Petit et Vincent Bontems, Paris 2008, 11. 5 Michel de Montaigne, Les Essais de Michel de Montaigne. Edition nouuelle prise sur l’Exemplaire trouué apres le deceds de l’Autheur, reueu & augmenté d’vn tiers oultre les precedentes impressions, Paris 1604, 145. 6 Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt am Main 1994, 102 und 105. 7 Luhmann, Liebe als Passion, 22. – Vgl. Montaigne, Les Essais, 140. 8 Luhmann, Liebe als Passion, 100.
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rens, wenn er sagt: »Je voy le desir de me voir / Posseder la Nature entiere«.9 Molière spielt mit der grammatikalisch zweideutigen Objekt-Subjekt-Struktur dieses Satzes, wenn er gewissermaßen gleichzeitig behauptet, dass die gesamte Natur den Trieb, den König zu sehen, besitzt und dass sie von diesem Wunsche besessen ist. Der als Objekt der Lust präsentierte König wird gleichzeitig als das Subjekt eines Liebesaktes vorgestellt, das in der Lage ist, der ganzen Welt Beglückung zu verschaffen und, während es seine Zärtlichkeiten ausspendet, die Ländereien zu befruchten: Bien heureuses de toutes parts, Et pleines d’exquises richesses Les Terres, où de mes regards J’arreste les douces caresses.10
Die Erotisierung der Macht ist eine technique de captation du désir,11 eine Technik, die es dem Mächtigen, der sie beherrscht, ermöglicht, das Begehren derer, über welche Macht ausgeübt werden soll, einzufangen, für eigene Zwecke zu funktionalisieren und so die Macht zu befestigen. In dem 1654 getanzten Ballett Les nopces de Pelée et de Thetis von Isaac de Benserade ist der den Apoll repräsentierende König – »Le roy, representant Apollon« – der wohlgestaltetste aller Götter, der Gott, dem keiner gleicht und der allein in die Schönheiten der einzigartigen Siegesgöttin verliebt ist: »Amoureux des beautez de la seule victoire«. Er läuft der Daphne nicht hinterher. Er hat den Python besiegt, jene grausame Schlange, die Hölle und Fronde mit einem gefährlichen Gift angerichtet hatten: »Ce terrible Serpent que l’Enfer, & la Fronde / D’vn venin dangereux auoient assaisonné«. Ihm lag es stärker am Herzen, die Revolte zu vernichten, als der Daphne hinterherzulaufen. Doch in der letzten Strophe der vers chantés pour Apollon, die im Übrigen das Konzept des amour passion sehr schön illustriert, findet ein Umschlag statt. Ein allgemeingültiges Gesetz diktiert, dass auch er früher oder später irgend einer hinterlaufe, und verurteilt selbst den Gott: Toutefois il le faut, c’est vne Loy commune, Que veut que tost ou tard je coure apres quelqu’vne, Et tout Dieu que ie suis je m’y voy condamné: Que mes premiers soûpirs vont attirer de presse! Est-il Muse, Reine ou Déesse Qui ne voulut estre Daphné?12 9 Molière, »Les amants magnifiques, comedie melée de musique & d’Entrées de Balet par J. B. de Moliere«, in: Les œuvres posthumes de Monsieur de Moliere. Enrichies de Figures en Taille-douce, Amsterdam 1684, 71. 10 Ibid. 11 Vgl. Stiegler, Économie de l’hypermatériel et psychopouvoir, 95. 12 [Isaac de Benserade,] Les nopces de Pelée et de Thetis. Comedie Italienne en Musique, entre-meslée d’vn Ballet sur le mesme sujét, dansé par sa Majesté, Paris 1654, 6.
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Die Verdammung des Subjekts und seine Reduktion auf den Objektstatus schränkt das Feld seiner möglichen Handlungen jedoch nicht notwendig ein. Im Gegenteil, dem generellen Gesetz gehorchend, kann es sich das sich als Objekt konstruierende Subjekt gestatten, ein Gebot des Dekalogs – »Tu ne feras point adultere«13 – zu verletzen, und scheint zu dieser Transgression sogar verurteilt zu sein. Madame de Montespan und Mademoiselle de La Vallière sind nur die bekannteren unter den Frauen, welche die vor der ersten Entrée des Apollo in Les nopces de Pelée et de Thetis gesungenen Verse nicht überhörten: »Qui ne voulut estre Daphné?« 1669 verheiratete der regierende Herzog von Sachsen-Gotha, Ernst der Fromme, seinen ältesten Sohn, den künftigen Friedrich I., mit dessen Cousine, der Prinzessin Magdalena Sibylla Herzogin von Sachsen-Weißenfels. Die ernestinische, die ältere sächsische Linie zählte zu den treuesten Verteidigern des Luthertums. 1547 kostete sie diese Treue sogar die Kurwürde, die an die jüngere Linie des Hauses Sachsen, die albertinische, überging. Ernst der Fromme ließ eine Prachtausgabe der Bibel anfertigen, die sein Sohn wiederauflegen ließ. Er führte in Sachsen-Gotha den obligatorischen Schulunterricht für sämtliche Untertanen ein. Er ließ einen neuen Katechismus erarbeiten, eine Volkszählung durchführen, ließ in sämtlichen Schulen und Pfarren eine Generalinspektion vollziehen, in welcher er den Glauben, die Kenntnisse und die Lebensführung sämtlicher Untertanen, einschließlich der Pfarrer, überprüfen ließ. Wir können in diesen Maßnahmen Strategien zur Regierung der Untertanen durch den Einsatz von Subjektivationstechniken sehen.14 Vervollständigt wurden sie durch eine große Anzahl Polizeigesetze, die das Verhalten in den verschiedensten Lebenslagen reglementierten.15 Es springt in die Augen, dass das Konzept des amour passion am sachsen-gothaischen Hof nicht in derselben Form rezipiert werden konnte wie in Versailles und in Paris und dass dieses Konzept dort nicht dieselben Funktionen erfüllen konnte wie am Hofe des Sonnenkönigs. Nichtsdestotrotz sei die Heirat des Erbprinzen Friedrichs im Jahre 1669 eine Liebesheirat gewesen, die erst nach einem Sieg über den Widerstand des Vaters dieses Prinzen möglich geworden sei.16 Die Liebe spielt in den drei anlässlich 13 Biblia Latinogallica. La Bible Françoiselatine, Qui est toute la saincte Escriture, contenant Le Vieil & le Nouueau, ou Alliance, Geneve, Imprimerie de Iaques Bourgeois, 1568, p. 34v, Exode. Chap. XX. 14. 14 »[ . . . ] elle [la forme du pouvoir pastoral] est liée à une production de la vérité – la vérité de l’individu lui-même.« Foucault, »Le sujet et le pouvoir«, 1048. 15 Vgl. Jens Wilhelm Stahlschmidt, Policey und Fürstenstaat. Die gothaische Policeygesetzgebung unter Herzog Ernst dem Frommen im Spiegel der verfassungsgeschichtlichen und policeywissenschaftlichen Anschauungen Veit Ludwig von Seckendorffs, Bochum 1999, 37.
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der Eheschließung an aufeinanderfolgenden Tagen am Hofe von Sachsen-Weißenfels aufgeführten theatralischen Werken aus der Feder David Elias Heidenreichs eine Hauptrolle. Bereits die Titel dieser Bühnenwerke unterstreichen die Bedeutung der Liebe: Die von David Pohle komponierte Oper hieß Liebe kröhnt Eintracht,17 das Ballett Eintracht stärckt Heyrath18 und die Tragikomödie, das Trauer-Freuden-Spiel, Heyrath macht Friede.19 Liebe kröhnt Eintracht zeigt die Rivalität zweier Prinzen: Almer, Prinz von Phrygien, und Coder, Prinz von Bithynien, werben alle beide um die Hand Withyldes, der Tochter des Königs von Mösien. Zu Beginn des Stückes erfahren wir, dass die Zauberin Pluthild, die Schwester des Königs von Mösien und somit Tante Withyldes, es 16 Rupert Schaab, »Die Oper«, in: Roswitha Jacobsen, Hans-Jörg Ruge (Hgg.), Ernst der Fromme (1601 – 1675), Staatsmann und Reformer. Wissenschaftliche Beiträge und Katalog zur Ausstellung, Bucha bei Jena 2002, 417. 17 David Elias Heidenreich, Liebe kröhnt Eintracht: Oder | Erworbene Printzeßin aus Mösien. SCHAU-PLATZ-FEYER. Gewiedmet Dem HochFürstl. Beylager Des Durchlauchtigsten Printzen und Herrn | Herrn Friedrichs | Hertzogs zu Sachsen| Jülich | Cleve und Berg | Landgrafens in Thüringen| Marggrafens zu Meißen | Gefürsteten Grafens zu Henneberg | Grafens zu der Marck und Ravensburg| Herrns zum Ravenstein | &c. Und der Durchlauchtigsten Printzeßin und Fräulein| Fräulein Magdalenen Sibyllen | Hertzogin zu Sachsen | Jülich | Cleve und Berg | Landgräfin in Thüringen| Marggräfin zu Meißen| auch Ober- und Nieder-Laußnitz | Gräfin zu der Marck | Ravensburg und Barby | Fräulein zum Ravenstein | &c. Welches am 14ten des Winter-Monats | im 1669sten Jahre | in der Hoch-Fürstl. Magdeburgischen Residentz-Stadt Halle nach dem bey Hohen Häusern gewöhnlichen Herkommen Hochfeyerlich gehalten worden, Hall in Sachsen [1669]. 18 David Elias Heidenreich, Eintracht stärckt Heyrath: Oder | BALLET DER WOLGERATHENEN EHE. Gewiedmet Dem HochFürstl. Beylager Des Durchlauchtigsten Printzen und Herrn | Herrn Friedrichs | Hertzogs zu Sachsen | Jülich | Cleve und Berg| Land-grafens in Thüringen| Marggrafens zu Meißen | Gefürsteten Grafens zu Henneberg| Grafens zu der Marck und Ravensburg| Herrns zum Ravenstein | &c. Und der Durchlauchtigsten Printzeßin und Fräulein | Fräulein Magdalenen Sibyllen | Hertzogin zu Sachsen | Jülich | Cleve und Berg | Landgräfin in Thüringen | Marggräfin zu Meißen | auch Ober- und Nieder-Laußnitz | Gräfin zu der Marck | Ravensburg und Barby | Fräulein zum Ravenstein| &c. Welches am 14ten des Winter-Monats | im 1669sten Jahre | in der HochFürstl. Magdeburgischen Residentz-Stadt Halle nach dem bey Hohen Häusern gewöhnlichen Herkommen Hochfeyerlich gehalten worden, Hall in Sachsen [1669]. 19 David Elias Heidenreich, Heyrath macht Friede: Oder | Der erkannte Tuisco. TRAUER-FREUDEN-SPIEL. Gewiedmet Dem HochFürstl. Beylager Des Durchlauchtigsten Printzen und Herrn | Herrn Friedrichs | Hertzogs zu Sachsen | Jülich | Cleve und Berg | Landgrafens in Thüringen | Marggrafens zu Meißen | Gefürsteten Grafens zu Henneberg| Grafens zu der Marck und Ravensburg| Herrns zum Ravenstein | &c. Und der Durchlauchtigsten Printzeßin und Fräulein | Fräulein Magdalenen Sibyllen | Hertzogin zu Sachsen | Jülich | Cleve und Berg | Landgräfin in Thüringen | Marggräfin zu Meißen | auch Ober- und Nieder-Laußnitz| Gräfin zu der Marck| Ravensburg und Barby | Fräulein zum Ravenstein | &c. Welches am 14ten des Winter-Monats| im 1669sten Jahre | in der HochFürstl. Magdeburgischen Residentz-Stadt Halle nach dem bey Hohen Häusern gewöhnlichen Herkommen Hochfeyerlich gehalten worden, Hall in Sachsen [1669].
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um jeden Preis möchte, dass Coder Withylde heirate, weil sie mutmaßt, dass dieser der Sohn ihrer verstorbenen Schwester sei. Nach dem Monolog Pluthilds sehen wir diese bei dem Versuch, auf den Willen Withyldes Einfluss zu nehmen, welche von mehreren Hofdamen des mösischen Hofes umgeben ist. Alle diese weiblichen Figuren, mit Ausnahme Withyldes, hegen für den einen oder den anderen der beiden Prätendenten eine Vorliebe. Withylde allein bleibt gleichgültig, denn sie weigert sich zu lieben. Daraufhin beschreiben ihr die Damen die Liebe unter den Zügen der Leidenschaft: das Liebesfeuer nähre das Leben, stärke die Herzen und spende Freude durch süße Schmerzen. Die Liebe binde mit Banden der Freiheit. Wer wollte nicht ständig verliebt sein? Die Damen loben auch die ewige Treue, von der wir doch wissen, dass sie der amour passion am Ende meistens doch nicht in die Praxis umsetzt, ohne sie aber deswegen schon aus dem Liebesdiskurs auszuschließen.20 Keiner von ihnen gelingt es jedoch, Withylde zu überzeugen, die fortfährt, die Liebe als einen Freiheitsverlust und ein Gift zu betrachten. Auch die Ankunft der beiden Prinzen übt nicht die geringste Wirkung auf sie aus. Da fordert ihr Vater, der König von Mösien, dass die Prinzessin einen der beiden Bewerber erwähle. Später erfahren wir, dass er es gern sähe, wenn seine Tochter sich für Almer entschiede. Offensichtlich aus diesem Grunde besteht Pluthild, die Coder den Vorzug gibt, darauf, dass Withylde frei wählen könne. Der König erklärt seiner Tochter, dass die Edlen sich nicht wie der freche Pöbel betragen dürften, der seinen ungezäumten Mut nach seinen Sinnen lenke. Die Vertreter einer Dynastie hätten einen höheren Gesichtspunkt einzunehmen, ihren Ruhm, ihren Reichtum und ihre Macht zu bewahren.21 Der König gibt Withylde also zu verstehen, dass der soziale Status der Rivalen dasjenige Kriterium ist, an dem sie ihre Wahl zu orientieren habe. Da beide Prätendenten von sehr hohem Rang sind, ist dieses Kriterium aber nicht geeignet, einen Unterschied zwischen ihnen herbeizuführen. Für Withylde sind die beiden Individuen absolut äquivalent. Um ein Differenzierungskriterium zu schaffen, erklärt Withylde, dass sie denjenigen heiraten wolle, der ihr die Äpfel der Hesperiden bringe. Nach dieser Szene erfahren wir aus einem Selbstgespräch des Königs, dass er sich Almer zum Schwiegersohn wünscht. Um Almer den Sieg zu garantieren, wendet sich der König an Venus. Seine Anrufung der Göttin führt uns die große Bedeutung des Liebeskonzepts in diesem politischen Kunstwerk vor Augen. Der König nennt Venus die Quelle der Glut, die alles belebe.22 Überraschend ist, dass er Venus nicht darum bittet, direkt auf Withylde einzuwirken, sondern nur darum, Heidenreich, Liebe kröhnt Eintracht, Aiijr. »Fürsten sollen höher dencken | / Als der freche Pöbel thut | / Der den ungezäumten Muth / mag nach seinen Lüsten lencken.« Heidenreich, Liebe kröhnt Eintracht, A4r. 22 »Du Qvell der Gluth| die alles lebend macht«, Heidenreich, Liebe kröhnt Eintracht, Bijr. 20 21
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Almer, der den Zaubereien Pluthilds ausgesetzt sein wird, zu beschützen. Venus übt also keinen Einfluss auf Withylde aus. Um Almers Reise zu erleichtern, schenkt Venus Neptun eine von ihm begehrte Nymphe. Almer erhält die goldenen Früchte der Hesperiden dank dem Wohlwollen der Grazien, während er schläft. »Es ist vmb sonst| das jr früe auffstehet | vnd hernach lang sitzet| vnd esset ewer Brot mit sorgen | Denn seinen Freunden gibt ers schlaffend.«23 Coder, der die goldenen Früchte durch Gewaltanwendung zu erobern sucht, kehrt mit leeren Händen heim. So lernt der Zuschauer zwischen dem graziösen Almer und dem brutalen Coder zu differenzieren. Aber das Herz Withyldes ist dadurch längst noch nicht gewonnen, dass Almer ihr die Äpfel der Hesperiden überreicht. Als ihr Vater ihr zu gehorchen befiehlt, verspricht sie Almer Treue und Gehorsam, indem sie sagt: »Ich wil mich Euch ergeben!«24 Die Hochzeit zwischen Almer und Withylde scheint also statthaben zu können, ohne dass die Braut Liebe empfindet. Um diese Hochzeit, die ihr aus anderen Gründen missfällt, zu verhindern, schreckt Pluthild nicht davor zurück, Withylde in ein verzaubertes Schloss zu sperren. Erst nach ihrer Befreiung durch Almer erkennt Withylde im Mut dieses Helden einen Zunder, der ihr Herz in Flammen setzt.25 Am Ende der Oper singt der Chor, dass Almer das Herz Withyldes entzünde, und bittet den Himmel, zu diesem Feuer ein paar Funken der himmlischen Flammen hinzuzufügen.26 Wie wir sehen, hat die Liebesleidenschaft erst im Rahmen ihrer Institutionalisierung durch die Heirat das Recht aufzuflammen. Andererseits wird die leidenschaftliche Liebe als für die Ehe wesentlich angesehen. In dem Ballett Eintracht stärckt Heyrath, das an dem der Aufführung der Oper Liebe kröhnt Eintracht folgenden Tage getanzt wurde, werden die Tugend, die Liebe, das Geld und die Eintracht als die vier Pfeiler vorgestellt, auf denen das Haus der Ehe ruhe.27 Der Schlüssel der Trilogie wird erst im letzten der drei Stücke, dem Trauer-Freuden-Spiel Heyrath macht Friede, gegeben. Coder, der Almer, um sich an diesem Feind zu rächen, den Krieg erklärt, erweist sich am Ende als der Bruder Withyldes. Albeflied, Withyldes Rivalin, offenbart sich als Almers Schwester. So hört denn Coder auf, seine eigene Schwester zu lieben, und überträgt seine Liebe auf Albeflied, die Schwester seines einstigen Rivalen. Selbst wenn der liebenswürdige Almer über den gewalttätigen Coder immer den Sieg davonträgt, so hört der letztere deswegen keineswegs auf, seinerseits ein akzeptables Subjektivationsmodell zu repräsentieren. 23 Biblia: das ist: die gantze Heilige Schrifft: Deudsch Auffs new zugericht. D. Mart. Luth., Wittemberg 1515, Psalm CXXVII, 2. 24 Heidenreich, Liebe kröhnt Eintracht, Cijv. 25 »Diß nur allein ist meiner Liebe Zunder | / Daß er den Muth| mich zu erlösen nahm«, Heidenreich, Liebe kröhnt Eintracht, D4v. 26 Heidenreich, Liebe kröhnt Eintracht, Ev. 27 Heidenreich, Eintracht stärckt Heyrath, Bv – Bijr.
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Diese Persönlichkeit, die ihre Negativität am Ende des Stückes verliert, liefert kein Modell für eine zu vermeidende Subjektivierung. Das verachtenswürdige Subjekt wird durch die komische Figur der Oper, den Sklaven Bolpho, verkörpert, dem es nicht gelingt, den Subjektstatus zu erreichen. Als Bolpho, um nicht mehr das verschimmelte Brot, das man ihm im Schlosse gibt, essen zu müssen, einen Fisch fangen will, kehrt sich die Situation gegen ihn und nicht er fängt den Fisch, sondern der Fisch ihn. Die Zauberin Pluthild, die Antagonistin und Quelle vieler Übel, wird, nachdem sie mehrere Niederlagen erlitten hat, immer wieder in den Schoß der Familie aufgenommen. Die Tatsache, dass die Zauberin in die Gesellschaft reintegriert werden kann, zeigt, dass Fiktion und Realität zwei von einander unterschiedene Repräsentationen waren. Nicht, dass es in der Wirklichkeit keine Hexen gegeben hätte, nur wurden sie nicht wiedereingegliedert, sondern verbrannt: »DIe Zeuberinnen soltu nicht leben lassen.«28 Im Herzogtum Sachsen-Gotha gab es zwischen 1640 und 1680 112 Hexenprozesse. Die Mehrzahl der beschuldigten Personen starb auf dem Scheiterhaufen.29 Vielleicht ist diese am Hof von Sachsen-Weißenfels aufgeführte Oper aber auch ein Zeichen des Umdenkens und der Umwertungen, die sich gleichzeitig mit der Einführung der Oper und in einem umfassenderen Prozess des Mentalitätswandels vollzogen, denn in jener Epoche hörten die Hexenprozesse auf. Wenn die Realität der Fiktion kein Modell liefert, so stellt doch die Fiktion der Wirklichkeit ihre Modelle bereit. Die aus einer albertinischen Nebenlinie stammende Prinzessin Magdalena Sybilla war die Nichte des Kurfürsten von Sachsen, der seine Kurwürde der Schnelligkeit verdankte, mit welcher einer seiner Vorfahren die Partei gewechselt hatte, um sich auf die Seite des Kaisers zu stellen und in die Territorien seiner Verwandten einzufallen, der Vorfahren des Bräutigams, welche die Kurwürde einbüßten. 1702 sollte der Kurfürst von Sachsen ein weiteres Mal einen derartigen Parteiwechsel vollziehen und sich erneut bereit zeigen, die Ländereien seiner Verwandten zu besetzen. Die Trilogie, die wir analysiert haben, feiert die Liebe, die Heirat und die Eintracht, indem sie die Liebe als ein Mittel präsentiert, um die Spannungen zwischen den verfeindeten Zweigen einer Familie zu bewältigen und die Eintracht zwischen ihnen herzustellen. Das Konzept des amour passion wird hier mit dem der Ehe verbunden und in den Dienst der dynastischen Politik gestellt. Werfen wir einen Blick hinter die Kulissen. Am 13. August 1669 schrieb der Landgraf Friedrich von Hessen-Homburg an den Erbprinzen Friedrich von Sachsen-Gotha, er habe erfahren, dass jener und die Prinzessin Magdalena Sibylla einander versprochen seien. In Wiederholung dessen, was er schon bei 28
Biblia, Exodus XXII, 18. Ronald Füssel, Die Hexenverfolgungen in Sachsen-Gotha unter Ernst dem Frommen, in: Jacobsen, Ruge (Hgg.), Ernst der Fromme, 79 – 86, hier 80. 29
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seinem letzten Aufenthalt in Gotha gesagt habe, dass er nämlich »mit gedachter Princeß engagirt« sei und dass derjenige, der sie ihm nähme, ihm gleichzeitig das Leben nähme, setzte er Ort und Zeit für das Duell fest.30 Statt sich jedoch zu diesem Rendezvous einzufinden, spielte Herzog Friedrich von SachsenGotha diesen Brief seinem Vater in die Hände, der an seiner Stelle darauf antwortete.31 Wir wissen sehr wenig über die wahren Gefühle einer Prinzessin. Roswitha Jacobsen hat versucht, die Ereignisse aus den seltenen und verstreuten Anspielungen, die sich in den überlieferten Dokumenten finden, zu rekonstruieren. Es sieht so aus, als ob Magdalena Sibylla den Prinzen von HessenHomburg als Bräutigam vorgezogen hätte.32 Die Zurückhaltung Withyldes, die Aggressivität Coders und die Grazie Almers, all das findet sich in den Verhaltensweisen der Prinzessin Magdalena Sibylla, des Landgrafen Friedrich und des Herzogs Friedrich wieder. Die Geschichte von Withylde und Almer erzählt uns die Geschichte der Amouren von Herzogin Magdalena Sibylla von Sachsen-Weißenfels und Herzog Friedrich von Sachsen-Gotha; sie erzählt sie uns verschönt. Um für die kleinen protestantischen Fürstentümer Mitteldeutschlands ein Verhaltensmodell bereitstellen zu können, musste der semantische Code des amour passion Modifikationen erleiden. Die Liebe wird als ein distinguiertes, valorisiertes und sogar wünschbares Gefühl dargestellt, doch wird es nur in wohlgezogenen Grenzen und in viel engeren Grenzen als im katholischen Frankreich toleriert. Die Arie, in welcher Almer seiner Liebe Ausdruck verleiht und das Leid, aus dem dieses Gefühl hervorwächst,33 rühmt, könnte uns glauben lassen, dass diese Liebe Almers nur eine petrarkisierende Liebe wäre, die das Glück nur im Leiden, wenn auch nicht sucht, so doch findet. Die Verachtung, die der König für die Fleischeslust, wenn sie ihre Autonomie behaupten will, zum Ausdruck bringt,34 könnte uns ebenfalls daran zweifeln lassen, dass die in der Oper Liebe kröhnt Eintracht dargestellte Liebe tatsächlich das Konzept des amour passion realisiert. Auf diese Einwände können wir antworten, dass die Liebe zwischen Almer und Withylde als eine erfüllte Liebe dargestellt 30 Landgraf Friedrich von Hessen an Herzog Friedrich von Sachsen-Gotha, Homburg vor der Höhe, 13. August 1669, in: August Beck, Ernst der Fromme, Herzog zu SachsenGotha und Altenburg. Ein Beitrag zur Geschichte des siebenzehnten Jahrhunderts, Weimar 1865, 175 – 176. 31 Herzog Ernst von Sachsen-Gotha an Landgraf Friedrich von Hessen, Gotha, 18. August 1669, in: Beck, Ernst der Fromme, 176 – 177. 32 Roswitha Jacobsen, »Das Jahr 1669 in den Tagebüchern Herzog Friedrichs I. von Sachsen-Gotha und Altenburg«, Gothaer Museumsheft ’96, 55 – 70. 33 »Gleichwol vergrößert sich immer in mir / Liebe durch Leiden mit süßer Begier.« Heidenreich, Liebe kröhnt Eintracht, Ciijv. 34 Vgl. Anm. 21.
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wird, selbst wenn sich die Darstellung der Leidenschaft in der Ostentation von Symbolen erschöpft. Die geraubete Proserpina,35 die erste in Gotha aufgeführte Oper, die 1683 mit einem Johann Heinrich Hess zugeschriebenen Text und in der Vertonung von Wolfgang Michael Mylius über die Bühne ging, lässt keinen Zweifel daran, dass der amour passion, so wie man ihn an diesem protestantischen Hof verstand, einen Bezug zur Sexualität aufweist. Um die Besonderheit dieses Werks besser zu verstehen, ist es sinnvoll, zunächst einen Blick auf die Oper Proserpine von Philippe Quinault und Jean-Baptiste Lully aus dem Jahre 1680 zu werfen.36 In der französischen Oper verläuft die Handlung wie in den Metamorphosen des Ovid: Pluto sieht Proserpina, verliebt sich in sie und entführt sie. Der Konflikt zwischen Liebe und Gesetzesverstoß wird schnell erstickt: »non hoc injuria factum, / Verum amor est«, sagt Ovids Jupiter.37 In Quinaults und Lullys Oper ist die Situation des Pluto um so rührender, als es seine erste Liebe ist, die eine Bedrohung erleidet. Der amour passion liefert auch Ceres das Motiv, um den Raub ihrer Tochter zu verschmerzen und das Urteil ihres einstigen Geliebten, der die Züge des Sonnenkönigs trägt, zu akzeptieren. Die Göttin besingt, wie süß ein verlorenes Gut ist, wenn man es aus den Händen dessen, den man liebt, zurückerhält.38 Die Entscheidungen eines Herrschers, der sich als absolut träumt, verwandeln sich bei den anderen in deren Wünsche. 35 Die geraubete Proserpina| Als des Durchlauchtigsten Fürsten und Herrn| Herrn Friederichs| Hertzogs zu Sachsen| Jülich| Cleve und Berg| Landgrafen in Thüringen| Marggrafen zu Meissen | gefürsteten Grafen zu Henneberg| Grafen zu der Marck und Ravensberg| Herrn zu Ravenstein und Tonna. &c. Hertzliebteste Hoch-Fürstl. Frau Gemahlin| Die auch Durchlauchtigste Fürstin und Frau| Frau CHRISTINA, Hertzogin zu Sachsen| Jülich| Cleve und Berg| Landgräfin in Thüringen| Marggräfin zu Meissen | gefürstete Gräfin zu Henneberg| Gräfin zu der Marck und Ravensberg| Frau zu Ravenstein und Tonna | geborne Marggräfin zu Baden und Hochberg| Landgräfin zu Sausenberg| Gräfin zu Sponheim und Eberstein| Frau zu Röteln| Badenweiler | Lohra und Mahlberg| &c. Am 22. Aprilis 1683. Dero Hoch-Fürstl. Geburts-Tag Bey Hoch-Fürstlichem Wolergehen höchsterfreulich erlebete | Auff dem Friedensteinischen Schau-Platze in einem Singe-Spiel vorgestellet, Gotha [1683]. 36 [Philippe Quinault,] Proserpine, Tragedie, en musique, ornée d’Entrées de Ballet, de Machines, & de Changements de Theatre. Representée devant Sa Majesté à Saint-Germain en Laye le [3] de Fevrier 1680, Anvers 1688. 37 Les Métamorphoses d’Ovide, en latin, traduites en françois, avec des remarques, et des explications historiques. Par Mr, l’Abbé Bannier, de l’Académie royale des inscriptions et belles lettres. Ouvrage entrichi de Figures en taille douce, Gravée par B. Picart, & autres habiles Maîtres, t. 1er, Amsterdam 1732, 168. – Bannier übersetzt diese Verse (v. 524 f.) mit »C’est un crime de l’Amour«. Dubois-Fontanelle übersetzt: »cette action n’est point une injure, elle est un effet de l’amour«. Les Métamorphoses d’Ovide, traduites par J. G. Dubois-Fontanelle. Nouvelle Édition, revue, corrigée et augmentée de notes par l’auteur, avec le texte latin, & fig., 2 Bde., Paris 1802, Bd. 2, 50. 38 »Qu’un bien qu’on avoit perdu / Est doux quand il est rendu / Par les soins de ce qu’on aime«, Quinault, Proserpine, 59.
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– In Gotha ist alles ganz anders. Ausgelöst wird die Handlung durch die Sexualnot des Königs Pluto, des nachgeborenen und benachteiligten Bruders eines großen Gottes. Pluto lässt wissen, dass auch er lieben und mit gleicher Wollust spielen wolle, er erklärt, dass er ansonsten einen schrecklichen Lärm schlagen und die Elemente zur Explosion bringen wolle.39 Rat haltend, suchen Merkur, Venus und Jupiter nach einer Lösung. Dabei sind im Zusammenhang unserer Untersuchung mehrere ihrer Feststellungen von Interesse. Jupiter sagt: »Mein Bruder Pluto ist verliebet«,40 aber er ist verliebt, ohne dass seine Liebe auf ein bestimmtes Objekt gerichtet ist. Die Liebe ist also eine Verhaltensweise, die unabhängig von der Existenz eines Objekts dieser Liebe existiert. Venus sagt, man müsse dem Pluto sein Vergnügen schaffen, weil außer ihm kein Gott allein schlafe.41 Die Liebe konstituiert sich also nach einem sozialen Modell. Und dann denkt Venus, dass für Pluto alle Mädchen gleich gut sind.42 Wir wissen nicht, ob wir diese Beobachtung verallgemeinern können und daraus die Äquivalenz der Liebesobjekte ableiten können, denn Jupiter erklärt die Tatsache, dass alle Göttinnen Pluto in gleichem Maße gefallen, daraus, dass sein Bruder in ewiger Nacht lebe;43 wir können aber vielleicht schlussfolgern, dass die Objekte der Liebe austauschbar sind. Lang und breit diskutieren die Götter die politische Frage, ob es Situationen gebe, in denen es erlaubt ist, gegen das Gesetz zu handeln und Gewalt anzuwenden, um Frieden und Eintracht in einer Familie zu gewährleisten.44 Venus, die das Ziel verfolgt, ihr eigenes Reich zu vergrößern,45 gelingt es, Jupiter von ihrer Auffassung zu überzeugen. Sie ist es schließlich, die Proserpina entführt und Pluto in Begleitung mehrerer Mädchen ihres Gefolges zuführt. Nachdem er erfragt hat, welches der Mädchen die Tochter der Ceres sei, ruft der Höllenfürst aus: »Das Pflaster| da ich meine Wunden heyle«!46 Dennoch ist dieser Pluto, der die Liebesdinge mit so praktischem Sinn behandelt, kein negatives Subjektivationsmodell. Die komische Figur des Stücks ist Phorcas, der närrische Schäfer, der gleichfalls Sexualnot leidet, aber keinen Ausweg findet. Am Ende der aus Anlass des Geburtstages der Herzogin aufgeführten Oper zieht die Inszenierung eine Parallele zwischen den Amouren des Pluto und der Proserpina und denjenigen des Herzogs und 39 »Er laß mich auch mit gleicher Wollust spielen | / Sonst sollen bald die Elemente knallen | / Daß Erd und Himmel in einander fallen.«, Die geraubete Proserpina, Cr – Cv. 40 Die geraubete Proserpina, C2r. 41 »Dem Pluto muß man sein Vergnügen schaffen | / Weil keine Götter sonst alleine schlaffen.«, Die geraubete Proserpina, C2v. 42 »Diß alles kan ein Mädgen stillen«, ibid. 43 »Weil allen / der Nächte Düsterkeiten gleich gefallen.«, Die geraubete Proserpina, Cv. 44 Die geraubete Proserpina, Cv – C3r und E3r – E4r. 45 »Freue dich| Venus| dein Herrschafft wird grösser«, Die geraubete Proserpina, C3r. 46 Die geraubete Proserpina, D4r.
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seiner Gemahlin, indem sie unvermittelt von den einen zu den anderen übergeht. Die Götter des Olymps und der Hölle versöhnen sich und preisen die Eintracht, darauf erhellt sich das Theater, der Name der Herzogin schwebt herab, über diesem Namen erscheinen zwei Herzen mit den verschlungenen Initialen des Herzogs und der Herzogin, über welchen man die Fürstenkrone erblickt, welche eine Devise umrahmt: »Zwey sind eins.«47 So dient das Konzept des amour passion gleichermaßen zur Kanalisierung und Sublimation der Sexualität wie als politisches Instrument. Vier Jahre später, 1687, wird eine neue Oper auf Schloss Friedenstein bei Gotha gespielt: Die Verliebte Jägerin, Diana.48 Das Textbuch stammt von David Elias Heidenreich, dem Autor der anlässlich der Eheschließung Friedrichs I. aufgeführten Trilogie. Diana, welche die Liebe ablehnt, verliebt sich in einen jungen Schäfer. Doch selbst wenn dieser Endymion kein einfacher Schäfer, sondern ein königlicher Schäfer-Prinz ist, liebt die Göttin unterhalb ihres Ranges. Diana bespricht ihr Problem mit Morpheus, der ihr in einer Arie das Konzept des amour passion erörtert: Das Exemplum sämtlicher Götter beweise, dass es unmöglich sei, sich der Liebe zu widersetzen; man müsse sich ihr willig ergeben.49 Doch die den Konflikt zwischen Liebe und Ehre bedenkende Diana bittet Morpheus, ihr etwas von seinem Mohn zu geben, damit sie Endymion ab und zu einschläfern und ihr Leiden, indem sie seinen süßen Mund ohne sein Wissen küsse, von Zeit zu Zeit lindern könne. Diese Lösung zeigt jedoch bald Nachteile: Zunächst ist da die Schäferin Hyperippe, eine Nebenbuhlerin Dianas, die auf dieselbe Art wie jene aus dem Schlaf des Endymion ihren Nutzen zieht und auf diese Weise die Liebe der Göttin beschmutzt. Die göttliche Jägerin entledigt sich ihrer, indem sie sie erschlägt: »Da speye nun dein Blut / Und geiles Leben aus.«50 Auf die nämliche Art kann sie jedoch nicht mit Juno verfahren, von der sie in flagranti erwischt wird und die keineswegs die Auffassung der verliebten Jägerin teilt, dass die Keuschheit der keuschen Göttin durch ihre Verfahrensweise keinen Schaden nehme. Um den Knoten zu lösen, bittet Diana Jupiter, Endymion in den Rang eines Unsterblichen zu erheben und ihn im Olymp zuzulassen. Diese Rangerhöhung wird als eine Belohnung der Tugend des Endymion präsentiert. Der Konflikt zwischen Liebe und Ehre erlaubt Die geraubete Proserpina, E3v. [David Elias Heidenreich,] Die Verliebte Jägerin | DIANA. Singe-Spiel. An Des Durchläuchtigsten Fürsten und Herrn | Hrn. Friederichs | Hertzogens zu Sachsen | Jülich | Cleve und Berg | Landgrafens in Thüringen| Marggrafens zu Meissen| Gefürsteten Grafens zu Henneberg | Grafens zu der Marck und Ravensberg | Herrn zu Ravenstein und Tonna| &c. Den XV. Julii Anno 1687. Höchst-erfreulich eingetretenen Geburths-Tage Auf dem Hoch-Fürstl. Sächs. THEATRO zum Friedenstein aufgeführet, [Gotha 1687]. 49 [Heidenreich,] Die Verliebte Jägerin, C3r. 50 [Heidenreich,] Die Verliebte Jägerin, E2v. 47 48
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es, die Innerlichkeit des Subjekts auf eine sehr entwickelte, nuancierte und raffinierte Weise zu gestalten. Man könnte in dieser Oper eine Psychologie der Scham finden, jenes im Prozess der Verinnerlichung sozialer Normen und insbesondere Verbote so bedeutsamen Gefühls. Die komischen Figuren, die Modelle zu vermeidender Subjektkonstruktion, sind jeglicher edlen Gefühle bar. Die Liebschaft zwischen Tutiline und Ulex widerspiegelt die Liebe zwischen Diana und Endymion auf einem deutlich tieferen sozialen Niveau. Da die Subjektivation der Personen von niederem Stand weniger raffiniert ist, sind ihre Amouren nur die Karikatur derjenigen von Diana und Endymion. Ulex ist ein leibeigener Sklave des Endymion. Als Pan, um ihm das Konzept des amour passion zu erklären, von der Glut der Herzen, den süßen Schmerzen und dem holden Feuer singt,51 versteht Ulex überhaupt nichts. Er fragt, ob die Leidenschaft Hände und Füße habe und ob dieses Feuer geeignet sei, um Äpfel zu braten oder Hirsebrei zu kochen.52 Tutiline, Hyperippes alte Amme, begehrt den jungen Ulex. Wie Diana liebt sie unterhalb ihres Standes. Während Diana vor ihrem Geliebten allein in dessen Träumen zu erscheinen wagt, macht Tutiline dem ihrigen direkte und konkrete Anträge. Wenn Endymion die Liebe der Diana mit Liebe erwidert, so empfindet Ulex nur Ekel bei den An- und Zumutungen der Tutiline. Er nennt sie »altes RabenAaß« und empfiehlt ihr, sich lieber um ihren Sarg zu bekümmern.53 Aber Tutiline denkt nicht, dass es schon an der Zeit sei zu sterben, sie will noch leben und lässt sich so leicht nicht entmutigen. Im Gegensatz zu Diana kennt sie die Scham nicht. In einer Szene, in der sie dem Ulex vergeblich Avancen macht, werden die beiden von Jägern überrascht, die sie auf das gemeinste beschimpfen und brutal verprügeln. Schließlich gelingt es Tutiline, Ulex’ Herz zu gewinnen, indem sie ihm Geld bietet. Wie Endymion dankt Ulex sein Glück der Liebe. Im Unterschied zu den anderen Opern, die wir analysiert haben, bleiben die komischen Figuren, obgleich sie nicht weniger lächerlich sind, nicht in einem objektartigen Status eingesperrt; sie vollziehen einen sozialen Aufstieg. Am Ende, nach der Ermordung Hyperippes durch Diana und während des Aufstiegs Endymions in den Olymp, vereinigt sich das herrenlos und allein auf der Erde zurückbleibende Paar Tutiline und Ulex: »Komm nur und bleibe mein | / Wir wollen schon zusammen Herren seyn.«54 Der Germanist Eberhard Haufe hat in den komischen Figuren eine Besonderheit der Hamburger Oper sehen 51 »Lieben ist die Gluth der Hertzen | / Die von schönen Augen brennt; / Die man lauter süsse Schmertzen / Und das holde Feuer nennt.«, [Heidenreich,] Die Verliebte Jägerin, A4r. 52 »Hat es Hände? Hat es Füsse?«, »Brätts auch Oepfel in der Röhre? / Kochts auch Muß und Hirse-Brey?«, ibid. 53 [Heidenreich,] Die Verliebte Jägerin, Br und Dv. 54 [Heidenreich], Die Verliebte Jägerin, E4r.
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wollen, die von keinem Hof abhängig war. Er hat diese Personen als ein Identifikationsangebot an das bürgerliche Publikum gedeutet,55 das im Übrigen, selbst in Hamburg, nicht in erster Linie von der Bühne herab angesprochen werden sollte.56 Wir stellen hingegen fest, dass die komischen Figuren in den an Höfen aufgeführten Opern durchaus nicht fehlten, und denken, dass die Funktion dieser Figuren darin bestand, das Lächerliche jenes Verhaltens aufzuzeigen, das bei der Konstruktion eines sich vom Pöbel distinguierenden Subjekts unbedingt zu vermeiden sei. Die Oper Die Verliebte Jägerin, Diana wurde anlässlich des Geburtstages des Fürsten Friedrichs I. aufgeführt. Aus demselben Anlass kam auch das Ballett, Von dem beglückten Rauten-Krantz, dessen Titel auf das sächsische Wappen anspielt, auf die Bühne.57 In diesem Ballet treten verschiedene antike Gottheiten auf, die ihre Geschenke darbringen. Wie in dem Ballett Eintracht stärckt Heyrath von 1669, in welchem die herzoglichen Geschwister der Braut in den Rollen der antiken Gottheiten auftraten, wurden auch hier die Entréen der olympischen Götter von den Kindern des Herzogs getanzt. Während der Ouvertüre war das Theater in einer dichten Nebelwolke verborgen. Plötzlich sah man den von zwei Pferden gezogenen Wagen des Phöbus erscheinen. In der Rolle des wolkenvertreibenden Sonnengottes erkannte man den Erbprinzen, den künftigen Herzog Friedrich II., der wenige Tage später seinen elften Geburtstag feiern sollte. Die zweite Entrée war diejenige seines jüngeren Bruders, des Prinzen Johann Wilhelm, den man als Merkur von den Wolken herabschweben sah. Darauf verwandelte sich das Theater in eine bergige Landschaft, anschließend, nach den von der Allegorie der Erde gesungenen Versen in einen Garten. Flora, die in einem mit Blumen und Kränzen geschmückten Wagen vorfuhr. Sie wurde von der dreizehnjährigen Prinzessin Dorothea Maria verkörpert. Erwähnen wir nur noch einige Höhepunkte der Repräsentation: Die vierzehnjährige Prinzessin Friderique machte ihre Entrée im Wagen der Ceres, und die kleine Prinzessin Johanna, die erst sechs Jahre alt war, erschien, eine Wassergöttin darstellend, indem sie das Meer in einer Muschel durchquerte. Die weniger bedeutenden Rollen wurden von anderen Mitgliedern der Hofge-
55 Eberhard Haufe, Die Behandlung der antiken Mythologie in den Textbüchern der Hamburger Oper 1678 – 1738, hg. Hendrik Birus und Wolfgang Harms, Frankfurt am Main u. a. 1994, 250 – 259 und 263. 56 Haufe, Die Behandlung der antiken Mythologie, 14 – 17. 57 BALLET, Von dem beglückten Rauten-Krantz | So bey des Durchläuchtigsten Fürsten und Herrn | Herrn Friederichs | Hertzogs zu Sachsen | Jülich | Cleve und Berg | Landgrafens in Thüringen| Marggrafens zu Meissen| Gefürsteten Grafens zu Henneberg | Grafens zu der Marck und Ravensberg| Herrns zu Ravenstein und Tonna | &c. Glücklichst erschienenen Geburts-Tage | Auf dem Friedensteinischen Schau-Platz Vorgestellet | aufgeführet und getantzet worden | Den 15. Julii des 1687sten Jahrs, Gotha [1687].
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sellschaft getanzt. Eine der beiden Schnitterinnen im Gefolge der Ceres war mit einem Fräulein von Herberstein besetzt, bei welchem es sich wahrscheinlich um die junge Dorothea Sophia von Herberstein handelte, die seit einem Jahr nicht öffentlich, wie man das in Frankreich hielt, sondern klammheimlich und gegen eine von ihrer Mutter festgesetzte Summe die Maitresse des regierenden Herzogs war,58 der sogar Verse für sie dichtete.59 Die Identifikation der jungen Herzöge und Herzoginnen mit Gottheiten erinnerte daran, dass der Souverän seine Macht von Gott erhalten hatte. Der Chor betonte, dass all diese Gaben, welche im Laufe des Stückes von denen als antike Götter und Göttinnen verkleideten Prinzen und Prinzessinnen ausgespendet wurden, aus der Hand Gottes kamen. Die Identifikation der Tänzer mit ihren Rollen trug zur Subjektivation der Individuen bei: Sie fühlten sich dadurch nicht nur in ihren hervorragenden sozialen Status ein, sondern wurden obendrein veranlasst, sich mimetisch mit den durch die verschiedenen Gottheiten konstituierten Gefühlsund Verhaltensmodellen zu identifizieren. Schließlich stand das barocke Theater auch in der Tradition des Schuldramas. In diesem Zusammenhang muss die neunte Entrée unsere besondere Aufmerksamkeit beanspruchen: Das Theater verwandelt sich in einen Wald. Die vers chantés, welche die Erscheinung und den Tanz der Jägerin Diana ankündigen, vergessen nicht, deren Liebe zu Endymion zu erwähnen, der sie von Zeit zu Zeit auf die Erde ziehe, um sich küssen zu lassen. Die Göttin, die in einem von zwei Hirschen gezogenen Wagen erscheint, wird verkörpert durch die sechzehnjährige älteste Tochter des Herzogs, die Prinzessin Anna Sophie. Vier Jahre später, 1691, sollte diese Prinzessin mit dem Reichsgrafen Ludwig Friedrich von Schwarzburg-Rudolstadt verheiratet werden. Die Tatsache, dass die Tochter des regierenden Herzogs von Sachsen-Gotha ihren Rang verließ, wurde gerechtfertigt durch die Liebe. In einem Stück mit dem Titel Die Zwischen Cypressen Grünende Myrthen,60 das aus Anlass der Vermählung aufgeführt wurde, erkennen Venus, Cupido, Hymen und die Provinz Thüringen in dieser Hochzeit ein Zeichen, welches
58 Friedrich I. von Sachsen-Gotha und Altenburg, Die Tagebücher 1667 – 1686, hg. Roswitha Jacobsen, 3 Bde., Weimar 1998 – 2003, Bd. 3, 672. 59 Friedrich I. von Sachsen-Gotha und Altenburg, Die Tagebücher, Bd. 2, 453. 60 Johann Friedrich Keil, Die Zwischen Cypressen Grünende Myrthen | Als die Durchläuchtigste Prinzessin Anna Sophia | Hertzogin zu Sachsen | Jülich | Cleve und Berg | auch Engern und Westphalen | Landgräfin in Thüringen| Marggräfin zu Meissen | Gefürstete Gräfin zu Henneberg | Gräfin zu der Marck und Ravensberg | Fräulein zu Ravenstein und Tonna &c. Dem Hochgebohrnen Grafen und Herrn | Herrn Ludwig Friedrichen| Der Vier Grafen des Reichs | Grafen zu Schwartzburg und Hohnstein | Herrn zu Arnstatt | Sondershausen | Leutenberg | Lohra und Klettenberg | & c. Den XV. Octobris Anno 1691. Auf dem Fürstl. Hause Friedenstein Wiewol | der erheischenden Zeit nach | in aller Stille | vermählet wurde | nechst-folgenden Reim-Gespräch Aus unterthänigster Schuldigkeit entdecket Durch Johann Friedrich Keilen| Fürstl. Sächß. Pagen-Hofmeister zum Friedenstein, Gotha [1691].
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ankündigt, dass die Reichsgrafschaft Schwarzburg-Rudolstadt bald zu einem Fürstentum erhoben werde, was sich neunzehn Jahre später tatsächlich ereignen sollte.61 Die Parallele zwischen dem Schicksal der Göttin Diana, die Endymion liebt, und demjenigen der Herzogin Anna Sophie, die sich mit dem Grafen von Schwarzburg-Rudolstadt verbindet, springt in die Augen. Diese Hochzeit, die es dem Grafen von Schwarzburg-Rudolstadt erleichterte, in den Rang eines Reichsfürsten erhoben zu werden, war zweifelsohne Bestandteil der Politik des Hauses Sachsen-Gotha. Der semantische Code des amour passion gestattete es den verschiedenen sozialen Akteuren, das politische wie das menschliche Problem mitteilbar und handhabbar zu machen, indem es diese Probleme in eine symbolische Sprache übersetzte. Es ist nicht daran zu zweifeln, dass die psychologisch raffinierte Darstellung der verliebten Göttin für die Prinzessin Anna Sophie von Sachsen-Gotha ein Subjektivationsmodell bereitstellte. Ungefähr 1693 ließ der Hof von Braunschweig-Wolfenbüttel zu Ehren des Herzogs Friedrichs II. von Sachsen-Gotha, den wir in der Rolle des Phöbus gesehen haben, die Oper Narcissus von Friedrich Christian Bressand aufführen.62 Der Verfasser huldigt dem illustren Besucher nur in der Vorrede, in welcher er darlegt, dass allein die Schönheit dieses Fürsten es vermocht hätte, den Blick des Narziss von dessen eigenem fatalen Bildnis abzuwenden, und dass allein die Tugend dieses Herzogs dieser Schönheit noch überlegen sei. Die politische Funktion der Repräsentation ist weniger evident als in den Schauspielen, die wir analysiert haben. Es scheint, dass der Inhalt der Werke sich zu diesem Zeitpunkt immer stärker von der Gebrauchssituation ablöste, so dass sie in anderen Kontexten wiederverwendbar wurden. Mehrere Opern, die Bressand für den Hof von Braunschweig-Wolfenbüttel gedichtet hatte, wurden von der Hamburger Oper aufgenommen. Dafür wurde die subjektivierende Funktion der Stücke immer bedeutsamer, und die Problematik des amour passion sowie die damit eng verbundene Problematik der Identität des Subjekts gewannen an Boden. In Narcissus sind sämtliche Personen auf der Suche nach Liebe. Jeder liebt jemanden, der ihn nicht liebt. Die einen sind unglücklich, die anderen verrückt, aber niemand will sich freimachen von seiner Leidenschaft. Niemand verzweifelt. Mehrere Personen täuschen sich über ihre eigene Identität und diejenige der anderen, und manche täuschen die anderen über ihre Identität. Alle 61 Vgl. Vinzenz Czech, Legitimation und Repräsentation. Zum Selbstverständnis thüringisch-sächsischer Reichsgrafen in der Frühen Neuzeit, Berlin 2003, 254 – 256. 62 Friedrich Christian Bressand, Narcissus, Singe-Spiel auf dem Brauschw. Schauplatz vorzustellen. Dem Durchleuchtigsten Fürsten und Herrn | Hn. Friderichen| Hertzogen zu Sachsen | Jülich | Cleve und Berg | Landgrafen in Thüringen| Marggrafen zu Meissen | Gefürsteten Grafen zu Henneberg | Grafen zu der Marck und Ravensberg | Herrn zu Ravenstein und Tonna &c. Unterthänigst zugeschrieben von F. C. Bressand, Braunschweig [um 1693]. Vgl. http://diglib.hab.de/wdb.php?dir=drucke/textb-402.
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Nymphen lieben Narziss, der niemanden liebt und überhaupt nicht lieben will. Narziss liebt allein die Ruhe. Sein Vater, der Flußgott Cephisus, beschwört ihn, sich der Liebe hinzugeben, weil der Seher Tiresias vorausgesagt habe, dass Narziss, wenn er sich selbst erkenne, untergehen werde.63 Die Liebe ist also ein Mittel, welches das Subjekt daran hindert, sich selbst zu erkennen. Als Narziss einen schönen Jüngling erblickt, verliebt er sich in diesen und glaubt, nun in das verrückte Universum der anderen einzuziehen. Die aber begreifen sofort, dass ihr Fall sich von demjenigen des Narziss unterscheidet. Sie versuchen, ihn daran zu hindern, das Objekt seiner Liebe anzusehen. Als Narziss sich darüber klar wird, dass er selbst es ist, den er liebt, und dass seine Liebe niemals beantwortet werden wird, gibt er sich auf und stirbt. Die Liebe wird präsentiert als ein Gesetz, dem niemand entgeht. Der Versuch, nicht zu lieben, stellt ein nonkonformistisches Verhalten dar, das bestraft zu werden verdient. Narziss erkennt in seinem Schicksal eine Rache des Himmels.64 Doch das Ende der Oper ist heiter. Der Tod des Narziss ist kathartisch und führt dazu, dass die Paare sich finden oder wiederfinden. Die Metamorphose, die das Leiden in Gedächtnis verwandelt,65 ist weder die Bestrafung eines Bösewichts noch die Glorifizierung eines Märtyrers, sondern verleiht Narziss einen ewigen Ruhm66 in der irdischen Welt der Verliebten. Das große Problem des amour passion, die Endlichkeit einer solchen Liebe, wird weder in Liebe kröhnt Eintracht noch in Die geraubete Proserpina noch in Die Verliebte Jägerin, Diana berührt. In Narcissus scheint es auf, aber um beiseitegewischt zu werden – durch eine wenig überzeugende Lösung: Jupiter und Juno versprechen einander, von nun an auf Untreue und Eifersucht zu verzichten. Aber ist der Charakter der Götter nicht ein für alle Male festgelegt? Indem es sich als liebendes Subjekt konstituiert, konstruiert sich das Subjekt als normiertes und in Hinsicht auf seine Identität blindes Subjekt. Der Preis für die Singularisierung des Subjekts ist seine Zerstörung. Indem er sich selbst erkennt, ähnelt Narziss den Hexen, deren Identität erst durch ihr eigenes – in der Regel durch die Folter herbeigeführtes – Geständnis festgestellt werden kann. Das Subjekt konstruiert sich als Subjekt eines Diskurses, der Rest vollzieht eine Metamorphose in Blume, Echo, Asche und Rauch. 63
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»Dein Sohn wird untergehn| wenn er sich selbst wird kennen.«, Bressand, Narcissus,
»Der himmel übt an mir nun seine rach.«, Bressand, Narcissus, J4r. 65 »Beseufzt nicht ferner sein geschicke | / weil sein gedächtnüs sol verewigt seyn«, »So blüht Narcissus’ zier | so wird das angedenken / der Echo stets gehöret in der Welt. Nach quälen und nach kränken / ist ihr geschick vom himmel festgestellt.«, Bressand, Narcissus, Kv et K2r. 66 »Narcissus blüht in neuem glückes-stande«, »Edle blume | blühe | blühe! / blühe | blühe! / daß dein glanz sich stets erhöh«, Bressand, Narcissus, Kv et K2r. 64
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Die Musik der Opern und Ballette, über die wir gesprochen haben, ist nicht überliefert; in manchen Fällen wissen wir nicht einmal den Namen des Komponisten. Musik, Tanz, Kostüme, Dekorationen, Maschinen, die raschen Verwandlungen des Bühnenbilds und die pyrotechnischen Effekte wirkten gewaltig auf die Sinne der Zuschauer, um deren intellektuellen Kapazitäten eine Niederlage zu versetzen.67 Von allen Psychotechniken, die bei der Konstruktion des liebenden Subjekts eingesetzt wurden, war die Musik die mächtigste. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts protestierte der Klerus sowohl in Paris68 als auch in mehreren Städten des protestantischen Deutschland69 gegen die Aufführungen der Opern, denen er vorwarf, die Liebesleidenschaft zu erzeugen. In Gotha war es der Rektor des Gymnasiums, Gottfried Vockerodt, der einen erbitterten Kampf gegen Opern und Komödien unternahm. Er warf den Operisten vor, den Verstand der Menschen zu zerstören und ihnen chimärische Liebesvorstellungen einzuflößen.70 Dabei war er kein Feind der Musik, die er als Gabe Gottes betrachtete und dem Gottesdienst vorbehalten wollte.71 Diese Proteste bestätigen, dass die Höfe in den Residenzstädten Mitteldeutschlands im Laufe des 17. Jahrhunderts, indem sie beeindruckende Repräsentationen veranstalteten, zu den wichtigsten Subjektivationszentren wurden. Die Repräsentation des amour passion bildete, auch wenn dieses aus Frankreich übernommene Konzept nur in einer abgeschwächten Form rezipiert wurde, ein äußerst wirksames Subjektivationsmittel. 67 Vgl. die Beschreibung des »Wasserspringens« der Fontainen im Garten von Versailles durch Johann Christoph Emmerling in: Beschreibung der Reise nacher Franckreich Durch Holland, Braband, und Flandern und der Retour Durch Champagne, Burgund, Schweitz Elsas und das Reich Alß Solche Der Durchlauchtigste Fürst und Herr Herr Friederich Hertzog zu Sachsen, Jülich, Cleve und Berg, Landgraff in Thüringen, Marggraff zu Meißen, Gefürsteter Graff zu Henneberg, Graff zu der Marck und Ravensberg, Herr zu Ravenstein u. Tonna. p. den 12.ten Augusti des 1687.ten Jahres Von Dero Fürst. Residenz Gotha aus im Nahmen Gottes glücklich antrat, undt den 15.ten Aprilis 1688. Wiewohl nach sehr gefährlicher in Darmstadt Deroselben zugestoßenen Unpäßlichkeit, endlich noch bey hohem Wohlwesen endigte, benebst der pag: 275. angehengten Relation, von oberwehnter S.r HochFürst. Durch. indisposition, auch dem Extract der völligen Tour Sub pag: 411. undt einem vollkommenen nach dem Alphabeth gerichteten Register, Alles mit Fleiß bemercket und auffgeschrieben von S.r HochFürst. Durchl.t unterthänigst treügehorsambsten Cammerdiener, Johann Christoph Emmerling, Forschungsbibliothek Gotha, Chart. A 544, fol. 193 – 195. 68 Vgl. Jérôme de La Gorce, L’Opéra à Paris au temps de Louis XIV. Histoire d’un théâtre, Paris 1992, 73 und 93. 69 Haufe, Die Behandlung der antiken Mythologie, 16 und 133 – 135. 70 Gottfried Vockerodt, Mißbrauch der freyen Künste | insonderheit Der Music | nebenst abgenöthigter Erörterung der Frage: Was nach D. Luthers und anderer Evangelischen Theologorum und Politicorum Meinung von Opern und Comödien zu halten sey?, Franckfurt 1697, 123. 71 Vockerodt, Mißbrauch der freyen Künste, 20.
›Wollust im Wohlthun‹ und ›rosiges Eheglück‹ Alternative Liebeskonzeptionen zu Araspes’ enthusiastischem Liebesschwindel in C. M. Wielands Araspes und Panthea Von Gabriela Wacker
Für gewöhnlich konstatiert die Wieland-Forschungsliteratur eine »große Wandlung«1 in Wielands literarischem Schaffensprozess, die sie auf das Jahr 1757 datiert.2 Diese manifestiere sich vornehmlich in Wielands Werdegang vom »Seraph zum Sittenverderber«3, d. h. vom metaphysisch orientierten Platoniker zum psychologisch interessierten Anthropologen und in seinem für die Aufklärung typischen Übergang des Bezugspunkts Gott zur Natur.4 Ferner spiegele sein Gattungswechsel5 von der »geschlossenen Form eines Lehrgedichts«6 bei seinem Erstlingswerk Die Natur der Dinge7 (1752) über den Dialogroman Araspes und Panthea. Eine moralische Geschichte in einer Reihe von Unterredungen8 (1760) zur neuen »offenen Gattung«9 Roman wie Der Sieg der Natur 1 Friedrich Sengle, Wieland: Mit 23 Bildern und Beilagen, Stuttgart 1949, 89. Sengle prägt die weitere Forschungsliteratur nachträglich mit seiner These von der »bestürzend plötzlichen und tiefgreifenden Wandlung« (Sengle, Wieland, 92) Wielands. 2 Vgl. Margit Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien: Christoph Martin Wielands »Natur der Dinge«, Würzburg 1989, II und 95. Vgl. Jutta Heinz (Hg.), Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart / Weimar 2008, 58. 3 So der Untertitel des I. Bandes von Thomas C. Starnes, C. M. Wieland. Leben und Werk, Sigmaringen 1987. 4 Vgl. Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, IV. 5 Vgl. Horst Thomé, Roman und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Vorgeschichte der deutschen Klassik, Frankfurt am Main / Bern / Las Vegas 1978, 83. 6 Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, III. 7 Im Folgenden werden Zitate aus Wielands Die Natur der Dinge zitiert nach: Christoph Martin Wieland, Die Natur der Dinge, in: C. M. Wieland, Sämmtliche Werke, hg. von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, Bd. 13: Die Natur der Dinge. Moralische Briefe. Der Anti-Ovid u. a., Hamburg 1984. Diese Ausgabe der Natur der Dinge wird im Folgenden mit ND abgekürzt und die Seitenziffer folgt im Haupttext jeweils unmittelbar dem Zitat. 8 Im Folgenden werden Zitate aus Wielands Araspes und Panthea zitiert nach: Christoph Martin Wieland, Araspes und Panthea, in: C. M. Wieland, Sämmtliche Werke, hg.
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über die Schwärmerei oder die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva10 (1764) und die Geschichte des Agathon11 (1766 / 67) Wielands »anthropologische Wende«12.13 Sein wenig beachtetes Frühwerk, insbesondere sein großes Tübinger Lehrgedicht Die Natur der Dinge, wird von daher oftmals lediglich als »negative Gegenfolie für die späteren Schriften«14 gelesen. Vorzugsweise die »Schwärmerkur«15 seiner Protagonisten, etwa die des Araspes, des Don Sylvio oder des Agathon, thematisiere den aufgezeigten Paradigmenwechsel und impliziere allenfalls eine selbstkritische Auseinandersetzung mit seiner ›jugendlichen Weltanschauung‹16. Im Anschluss an Thomé17 betont Hacker bereits zu Recht immerhin die notwendige »Erweiterung der anthropologischen Kategorien«18, die als »Entstehungsbedingungen des modernen Romans«19 zu verstehen sind. Dass Wielands ›Wende‹ gerade kein abruptes Wandlungsschema vom Paulus zum Saulus vorstellt, offenbaren indes die zahlreichen und mannigfaltigen Rückgriffe seiner späteren ›Schwärmerkuren‹ auf seine frühe Liebeskonzeption in Die Natur der Dinge, die keinesfalls nur karikierend, sondern vielmehr im von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, Bd. 5: Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit u. a., Hamburg 1984. Diese Ausgabe von Araspes und Panthea wird im Folgenden mit AP abgekürzt und die Seitenziffer folgt im Haupttext jeweils unmittelbar dem Zitat. 9 Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, III. 10 Im Folgenden werden Zitate aus Wielands Don Sylvio zitiert nach: Christoph Martin Wieland, Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva. Erste Fassung, hg. Sven-Aage Jørgensen, Stuttgart 2001. Diese Ausgabe des Don Sylvio wird im Folgenden mit DS abgekürzt und die Seitenziffer folgt im Haupttext jeweils unmittelbar dem Zitat. 11 Im Folgenden werden Zitate aus Wielands Geschichte des Agathon zitiert nach: Christoph Martin Wieland, Geschichte des Agathon. Erste Fassung, hg. Fritz Martini unter Mitwirkung von Reinhard Döhl, Stuttgart 1979. Diese Ausgabe der Geschichte des Agathon wird im Folgenden mit GA abgekürzt und die Seitenziffer folgt im Haupttext jeweils unmittelbar dem Zitat. 12 Vgl. Thomé, Roman und Naturwissenschaft, 120. 13 Vgl. Thomé, Roman und Naturwissenschaft, 116 / 117; vgl. Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, I – IV. 14 Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, II; vgl. Thomé, Roman und Naturwissenschaft, 84. 15 Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, IV. 16 Vgl. Emil Ermatinger: Die Weltanschauung des jungen Wieland: Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung Frauenfeld 1907. 17 So interpretiert zuerst Thomé den »Wandel des literarischen Stils« als Ausdruck bzw. Konsequenz der inhaltlichen »Wandlung von der Transzendenz zur Immanenz« (Thomé, Roman und Naturwissenschaft, 123; vgl. 83 / 84). 18 Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, III. 19 Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, IV; vgl. 106 – 107.
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Sinne einer produktiven Rezeption fortgeschrieben wird. Einflechtungen seiner Grundtheoreme der Natur der Dinge in späteren Werken wie Araspes und Panthea bestätigen eher eine von der Natur der Dinge nahe gelegte Anreicherung des ›alten Systems‹, als dass sich eine radikale Ablehnung eruieren ließe.20 Im Rahmen einer vergleichenden Lektüre von Die Natur der Dinge und Araspes und Panthea soll mit speziellem Fokus auf die Eros-Lehren im Folgenden erneut die Kontinuität in Wielands gedanklicher Entwicklung untermauert werden. Wielands wenig rezipierter Dialogroman Araspes und Panthea ist nämlich ein solches Beispiel für Wielands Rezeption seines frühen Lehrgebäudes und markiert dementsprechend ein exemplarisches »Zwischenstadion« der so genannten Wielandschen ›Biberacher Wende‹ von seraphischer Schwärmerei zu metaphysischer Skepsis und ironiereich gelassener Nüchternheit – die sich im Zuge von Wielands Rückkehr nach Biberach 1760 nach seiner Loslösung von Bodmer vollzieht.21 Wieland verbringt nach Abbruch seines Jura-Studiums in Tübingen einige Jahre in der Schweiz: Von Oktober 1752 bis Juni 1758 lebt Wieland in Zürich, bis Juni 1754 verweilt er bei Bodmer als Gast und als dessen enger, poetischer Mitstreiter.22 Im Anschluss daran ist Wieland als Hauslehrer in Bern bei Friedrich von Sinner bis Mai 1760 beschäftigt, wo er Araspes und Panthea fertig stellt. Die Entstehungszeit dieses Dialogromans ist im Vergleich zum Lehrgedicht Die Natur der Dinge, das er als junger Student in Tübingen in gerade mal zehn Wochen niederschreibt,23 langwierig: Bereits 1752 fasst Wieland den Plan, greift ihn 1756 wieder auf, bis 1760 eine gemäßigte Fassung anstatt der nicht erhaltenen Erstfassung von 1757 erscheint, die zum Teil sicherlich Anregungen und Korrekturen seiner neuen Muse Julie Bondeli in Bern erfährt, einer späteren Brieffreundin von Jean-Jacques Rousseau.24 Als Vorlage 20 Vgl. Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, 93 – 109; vgl. zur Kontinuitätsthese mit Blick auf Wielands Entwicklung allgemein: Julius Steinberger, »Wielands ›Metamorphose‹ in seiner eigenen Beurteilung«, Archiv für das Studium der neueren Sprache 59 (1905) Bd. 115, 290 – 297, hier 292; vgl. Karl Hoppe, Der junge Wieland. Wesensbestimmung seines Geistes, Leipzig 1930, 4; vgl. John A. McCarthy, »Wielands Metamorphose«, DVjs 49 (1975), Sonderheft 18. Jahrhundert, 149 – 167. McCarthy bietet eine differenzierte Aufstellung der Forschungspositionen zu »Wielands Metamorphose« (McCarthy, »Wielands Metamorphose«, 149 – 150); vgl. Hermann Müller-Solger, Der Dichtertraum: Studien zur Entwicklung der dichterischen Phantasie im Werk Christoph Martin Wielands, Göppingen 1970, 52. 21 Vgl. Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, 101. 22 Vgl. Hans-Georg Kemper, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit: Empfindsamkeit, Bd. 6,1, Tübingen 1997, 390 – 394. 23 Vgl. Kemper, Empfindsamkeit, 389. 24 Vgl. Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, 102; vgl. Sengle, Wieland, 91 f.; vgl. Ermatinger, Die Weltanschauung des jungen Wieland, 151 f.; vgl. Sven-
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dienen ihm Xenophons Cyropädie und Shaftesburys Soliloquy, or Advice to an Author (1710).25 Araspes und Panthea kann als erster Beleg für Wielands veränderte Sichtweise hinsichtlich seiner Bemühung um eine Integration des Sinnlichen zur Erfassung des ›ganzen Menschen‹ gelesen werden.26 Exemplarisch lässt sich anhand kritischer Gegenmodelle zu Araspes’ Liebestrunkenheit die Transformierung seines frühen Liebeskonzepts ablesen. In Araspes und Panthea unterzieht Wieland erstmals seinen theoretischen, in Die Natur der Dinge entwickelten kosmologisch-harmonischen Weltentwurf im Zeichen einer sympathetisch, platonisch-hermetisch ausgerichteten Liebesphilosophie einer eingehenden kritischen Prüfung:27 Der liebestolle Schwärmer Araspes fungiert als Sprachrohr des ›jungen Wieland‹, ja geradezu als karikaturhafte Inkarnation der Sympathielehre der Natur der Dinge, wenn er als scheinheiliger Anhänger der rein ›geistigen Liebe‹ als Deckmantel seiner allzumenschlichen Leidenschaft – geweckt durch die körperlichen Reize und die Schönheit der attraktiven Gefangenen des Cyrus – auftritt und zuletzt als ›Opfer‹ seiner triebgesteuerten Leidenschaft entlarvend in Szene gesetzt wird, wodurch das harmonische Gebäude der Natur der Dinge sinnfällig ins Wanken gerät. So taumelt Araspes, der für seinen persischen Gebieter Cyrus den Auftrag, die schöne Panthea zu bewachen, sorglos übernimmt, weil er sich seiner platonischen Art zu lieben sicher zu sein glaubt, unweigerlich in ein Wirrsal von Leidenschaft und Begierde nach ihrem sinnlichen Besitz, wovon ihn schließlich nach misslungenem Überwältigungsversuch des Liebesobjekts nur die zum Verständnis und Verzeihen geneigte Freundschaft seines Herrschers zu heilen vermag. Araspes’ Fall ist als ›Tugendprobe‹28 angelegt, die in den Augen Cyrus’ auch gar nicht zu bestehen ist (vgl. AP, 385). Im Zentrum des Dialogromans steht die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen einer ›gesunden Liebe‹, die es dem Einzelnen ermöglicht, ohne Preisgabe seiner Identität und Integrität zu lieben. Im Vorbericht zu Araspes und Panthea formuliert Wieland sein Anliegen, einen »ebenso lehrreichen als unterhaltenden Beytrag zur Geschichte des menschAage Jrørgensen, Herbert Jaumann, John A. McCarthy, Horst Thomé (Hgg.), Christoph Martin Wieland: Epoche – Werk – Wirkung, München 1994, 45; vgl. Heinz (Hg.), Wieland-Handbuch, 249. 25 Vgl. Manfred Dick, »Wandlungen des Menschenbildes beim jungen Wieland: ›Araspes und Panthea‹ und Shaftesburys ›Soliloqui‹ «, Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 16 (1972), 145 – 175, hier 148; vgl. Ermatinger, Die Weltanschauung des jungen Wieland, 151. 26 Vgl. Dick, »Wandlungen des Menschenbildes beim jungen Wieland«, 148; vgl. Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, 101. 27 Vgl. Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, 101 – 105. 28 Vgl. Walter Erhart, Entzweiung und Selbstaufklärung. Christoph Martin Wielands »Agathon«-Projekt Tübingen 1991, 44 – 61.
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lichen Herzens, in Form von Gesprächen« (AP, 183) darzubieten.29 Das klassische delectare et prodesse-Programm der Natur der Dinge30 wird beibehalten; die Form des Dichtens über die Liebe ändert sich aber signifikant: So öffnet sich die monologische Struktur des Lehrgedichts mit seiner rhetorisch-didaktischen Affektlenkung31 einer multiperspektivischen Darstellung in Dialogform; der von der Muse enthusiasmierte und legitimierte Sänger32 der Natur der Dinge weicht gleichwertigen Dialogpartnern in Araspes und Panthea.33 Der vorwiegend verstandesgeleiteten Durchdringung metaphysischer Zusammenhänge in Die Natur der Dinge – wie die Stellung des theistischen Gottes angesichts materialistischer Atheismen, die Wirkung der die Schöpfung durchwaltenden Sympathie, der Leib-Seele-Dualismus und die Astralleibkonzeption als commercium mentis et corporis, die vier Klassen im vitalistischen Weltsystem, die Theodizeeproblematik – zur Aburteilung materialistischer, pantheistischer und naturalistischer Stoßrichtungen34 steht nun die Erforschung des menschlichen Herzens in ›dramatischen Gesprächen‹ als Korrelat zur Erfassung der ›Gesamtheit des Menschen‹ entgegen. Das bestimmende Thema der Empfindsamkeit, nämlich die Korrelation von Herz und Kopf, Sinnlichkeit und Verstand rückt in den Vordergrund.35 In den Figuren Arasambes und Araspes zeigt sich zeitweise paradigmatisch die Aufspaltung in Kopf und Herz, die in Cyrus als Idealbild zusammenwirken, der wiederum bezeichnenderweise während des dramatischen Geschehens in der Ferne verweilt und nur anfangs und gegen Ende mahnend ins Geschehen eingreift. 29 Während Wieland eine »Geschichte des menschlichen Herzens« (AP, 183) schreibt, geht der junge Schiller hingegen in seinen Philosophischen Briefen – rund ein Vierteljahrhundert später – umgekehrt von einer Bestandsaufnahme der ›Geschichte der Vernunft‹ aus. Interessant ist diese Parallele zur ähnlichen Rezeption der empfindsamen Denkweise, weil bei Wieland wie bei Schiller dank eines Erziehungsprozesses im weitesten Sinn letztlich die Ausbildung des Verstandes mit der Herzenstätigkeit im Hinblick auf tugendhaftes Handeln einhergeht. 30 Vgl. Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, 76. 31 Vgl. Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, 82 f. 32 Gut platonisch – denn Plato dient Wieland als Gewährsmann (vgl. ND, 16) – ruft der Sänger in Die Natur der Dinge eingangs mit hymnisch beschwörendem Ton die Wahrheit als Ziel seines Aufstiegs von der Betrachtung mit »blöde[m] Aug« (ND, 16) zu ihrer Schau als »Urbild jeder Welt, der Gottheit Ebenbild« (ND, 16) an. Wunsch und Aufgabe des Poeten sei es nämlich, die Wahrheit in »erhabnen Bildern / Voll von Begeisterung und kühnem Feuer [zu] schildern« (ND, 16) und zwar mit der Absicht, die Liebe in seiner »Brüder Herz« (ND, 16) zu gießen. 33 Vgl. Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, III. 34 Vgl. Heinz (Hg.), Wieland-Handbuch, 152 – 156; vgl. Jrørgensen u. a. (Hgg.), Christoph Martin Wieland, 27 – 29. 35 Araspes diagnostiziert in seiner Seele einen »gewaltige[n] Kampf von Leidenschaft und Pflicht, Vernunft und Liebe« (AP, 299). Vgl. zu den Signaturen der Empfindsamkeit allgemein Kemper, Empfindsamkeit.
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Wielands Hinwendung zur Körperwelt lässt ihn seine ›platonische Liebe‹ zunächst zur »chimere aller chimeren«36 werden, wie er in einem Brief an Schinz 1752 betont: Plato ist ohnstreitig ein übertriebener Philosoph den es zuweilen zu verdriessen scheint, daß wir Menschen sind. Seine Betrachtungen werden sehr oft zu Phantomen u: Hirngespinstern. Es ist daher sehr gut dass mann, wenn mann zu tief in das Reich der Ideen hinein gekommen ist, wieder in die Körperwelt zurük kehre [ . . . ].37
Zwischen Ideenwelt und Körperwelt changieren auch die Unterredungen in Araspes und Panthea. Schon das expositionsartige Gespräch zwischen Cyrus und Araspes (vgl. AP, 187 – 202) enthält eingangs bereits die Gegenüberstellung zweier möglicher Arten zu lieben – die geistige und die sinnliche Variante – als Reaktionsweisen auf den Umgang mit der sich in Cyrus’ Gefangenschaft befindenden, lieblichen Susianerin.38 Entscheidend für die folgende Diskussion über das Eros-Thema ist hierbei die in Platons Symposion vorgetragene PausaniasRede mit ihrer Unterscheidung zwischen gemeinem und himmlischem Eros,39 die Wieland letztlich beide als dualistische Liebesformen anerkennt und auf ihre Gegensätzlichkeit und Kombinierbarkeit durchspielt. Favorisiert Wieland eindeutig den zur Tugend führenden Eros in Die Natur der Dinge, zollt er nun dem gemeinen Eros in Araspes und Panthea seinen Tribut, indem er ihn zumindest als natürliche Komponente des Liebenden vorstellt. Araspes vertritt hierbei zunächst das platonische Liebes-Modell der Natur der Dinge, das die Herrschaft der Vernunft über die Sinnlichkeit (vgl. AP, 193), das Programm des Schönen als des Inzitaments zum tugendhaften Handeln im 36 Christoph Martin Wieland, Wielands Briefwechsel, Bd. I: Briefe der Bildungsjahre (1. Juni 1750 – 2. Juni 1760), hg. H. W. Seiffert, Berlin 1963; 78; vgl. Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, 97. 37 Christoph Martin Wieland, Wielands Briefwechsel, Bd. I, 75; Hacker zeigt im Anschluss an McCarthy mit solchen Belegstellen, dass Wieland sich bereits 1752, also deutlich vor der sonst auf 1757 veranschlagten Wandlung vom rigorosen Platonismus abgrenze und seine wahre ›Gesinnung‹ nur wegen einer von ihm angestrebten Einladung zu Bodmer nach Zürich hintanstelle (vgl. Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, 96 / 97; vgl. McCarthy, »Wielands Metamorphose«, 157 f.). Einen großen Einfluss auf seinen Gesinnungswandel sei nach Hacker auch dem Arzt Zimmermann, Wielands langjährigem Freund, zuzuschreiben, der ihn an den französischen Materialismus und die französische Literatur der Aufklärung hinführe, ferner dem influxus physicus-Modell mehr Eigenrecht zugestehe und dadurch letztlich Wielands ›anthropologische Wende‹ fördere (vgl. Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, 99 – 100; vgl. Thomé, Roman und Naturwissenschaft, 119 f.). 38 Vgl. Sengle, Wieland, 90. 39 Vgl. Platon, Symposion, hg. und übers. Franz Boll, München 19966, 180c – 181e; vgl. McCarthys Studie zur Bedeutung der »zwei Amorn« in: Bruchstücke zur Psyche (vgl. McCarthy, »Wielands Metamorphose«, 153 f.).
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Zeichen des Kalokagathie-Konzepts, kurz die »unschuldige Liebe« (AP, 196) beinhaltet: Aber die Liebe, die sich am bloßen Anschauen der Vollkommenheit begnügt, kann nie von der Weisheit verdammt werden. Sie ergetzt sich an Tugend und innrer Güte, an Schönheit; dem Leibe der Tugend, und an Anmuth, ihrer sichtbaren Ausstrahlung, ohne daß dieses Wohlgefallen eine andere Wirkung haben sollte, als den angebornen Trieb der Seele nach Vollkommenheit auf sich selbst zu richten, damit sie sich bestrebe, die Schönheit, die sie außer sich bewundert, auch in sich hervor zu bringen. (AP, 193)
Seine ethisch-moralische Weltsicht, die von der Freiheit des Menschen (vgl. AP, 196) und seinem Gefühls für den »Unterschied des Guten und Bösen« (AP, 198) im Sinne der moral sense-Theorie Shaftesburys,40 einer »sympathetische[n] Liebe« (AP, 200) eines jeden zu seinen Mitmenschen und von dem Bestreben nach einer »schöne[n] Eintracht und Zusammenstimmung« (AP, 199) geprägt ist, leitet sich ebenso vom kosmologischen Ansatz der Natur der Dinge ab: Alles Schöne, alles Erhabne, alles was in seiner Art vollkommen ist, oder dem Urbild der Vollkommenheit, das in meiner Seele schwebt, sich nähert, zieht meine Liebe an. Die ganze Schöpfung nährt die heilige Flamme. Von Schönheit zu Schönheit in ewig steigenden Graden fortgezogen, verirre ich mich oft in sprachloser Entzückung, die alle Gedanken verschlingt, und die Seele in süßes Erstaunen und wundervolle Ahnungen versenkt, die ich nicht zu enthüllen vermag. (AP, 198)
Mit der Betrachtung der »grenzenlosen Schönheiten der göttlichen Natur« (AP, 199) anfangend, sei es Aufgabe des Menschen, »diese endlosen Reihen von Wesen und Geschlechtern der Wesen in einen harmonischen Plan verwebt« (AP, 199) analytisch zu durchdringen, um die im Makrokosmos vorherrschende Harmonie im eigenen Mikrokosmos zu etablieren, so dass jeder einzelne auf Grund seiner Tugendhaftigkeit einen »Zuwachs an Schönheit« (AP, 199) beisteuert. Für ein Mitglied des menschlichen Geschlechts gezieme es sich, »einen mächtigen Zug von sympathetischer Liebe zu [s]einen Brüdern zu empfinden, ihren Wohlstand zu [s]einem eignen zu machen [ . . . ]« (AP, 200). Die Zentralstellung der Liebe ergibt sich aus ihrer Funktion, »diese ganze majestätische Schöpfung, ihr großes Werk, mit Leben und beseelenden Sympathien [zu] erhitz[en]« (AP, 195). 40 Hoppe weist bereits auf die »in Wielands seelischer Struktur begründet liegende Verwandtschaft mit Shaftesbury« (Hoppe, Der junge Wieland, 87) hin, die Dick und Dehrmann eingehend untersuchen (vgl. Dick, »Wandlungen des Menschenbildes beim jungen Wieland«, 145 – 175; vgl. Mark-Georg Dehrmann, Das »Orakel der Deisten«. Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, Göttingen 2008; vgl. ferner Jørgensen u. a. (Hgg.), Christoph Martin Wieland, 44 f.; vgl. Erhart, Entzweiung und Selbstaufklärung, 46). Am deutlichsten formuliert Arasambes das moral sense-Theorem, indem er darauf pocht, dass Araspes sich selbst ein Urteil sprechen müsse anhand des ihm »angebohrene[n] Gefühls, von dem was recht und edel ist« (AP, 352).
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Im Zentrum von Araspes’ Natur der Dinge-Rezeption steht das dort vorwiegend im zweiten und sechsten Buch dargelegte Liebeskonzept, wonach die Liebe auf das gerichtet ist, was schön und geordnet ist (vgl. ND, 95, 102, vgl. 163) und gleichsam als vereinigendes Band (vgl. ND, 44, 87, 96) zwischen allen Stufen der Wesen – im Bild der chain of being respektive der catena aurea41 gefasst – vermittelt sowie als Antrieb zur Sublimierung des Geistes fungiert. Der »edle Trieb« (ND, 95) des Menschen wird mittels Beschauung geordneter, schöner Dinge dank einer »weise[n] Kunst« (ND, 94) entfacht: Die Lieb’ umfasset nur was sie durch Schönheit rührt, Was gut und nützlich scheint, und süße Lust gebiert; Sie ist der schönste Strahl vom schöpferischen Blicke, Die Wurzel unsrer Lust, der Keim von höherm Glücke. (ND, 95)
Nicht von ungefähr wird Gott zudem bisweilen in Die Natur der Dinge als »Künstler« (ND, 73, vgl. ND, 30) apostrophiert bzw. stets als Gott der Liebe (vgl. ND, 5, 45, 88 u. a.) erkannt, dem die überhitzte Phantasie und die verführende Zauberin der Wollust gegenüberstehen (vgl. ND, 90),42 denn die »Pracht« (pulchritudo) der Welt wie die Schönheit des Kunstwerks fungieren gleichsam als seine Offenbarungsquelle und somit als Manifestation des Guten (bonitas), Nützlichen, Schönen und Wahrhaft-Seienden im Sinne des Kalokagathie-Programms.43 Das Gefühl der Liebe, von der Schönheit erweckt, führt zu Gott: »Dich [die Liebe, GW] fühlt der schwächste Wurm, dich fühlen Serafim, / Dich fühlt der Schöpfer selbst! Du führest uns zu ihm« (ND, 96). Wie in Ficinos De amore dient das Schöne also als Erscheinungsform des Guten und als ›Anstachelung‹ zu einem tugendhaften Leben, das mit einem maximierten Lustgefühl einhergeht.44 Gemäß der Attraktionslehre Ficinos ist die Liebe als Anziehungskraft zwischen sich ähnlichen Wesen zu verstehen, mit Hinweis auf »die mächt’gen Sympathien, / Wodurch sich wechselweis verwandte Seelen ziehen« (ND, 97):45 »O Liebe, süßer Zug zu Wesen, die uns gleichen, / Du herrschest unbegrenzt in allen Schöpfungsreichen« (ND, 96). 41 Vgl. zur hermetisch grundierten ›Kette der Wesen‹, chain of being, in Die Natur der Dinge materialreich Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, 19 – 44, vgl. Jørgensen u. a. (Hgg.), Christoph Martin Wieland, 28, vgl. Kemper, Empfindsamkeit, 405. 42 Die »göttliche Wollust« (AP, 241) besteht auch in Araspes und Panthea darin, das Glück der Freunde zu mehren. Sie ist explizit der zauberischen-dämonischen Wollust der Leidenschaftlichkeit entgegengesetzt (vgl. AP, 196; vgl. ND, 89). 43 Dick weist auf Wielands Shaftesbury-Rezeption hin (vgl. Dick, »Wandlungen des Menschenbildes beim jungen Wieland«). 44 Vgl. zu Ficino: Werner Beierwaltes, Marsilio Ficinos Theorie des Schönen im Kontext des Platonismus, vorgetragen am 28. Juni 1980, Heidelberg 1980.
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Des Weiteren wird Gott als »Quell der Lust«46 (ND, 255) erkannt, denn er birgt der »Wahrheit Licht« (ND, 255), dessen Schau für den »Seraf« (ND, 255) im Gegensatz zur weltlichen Liebe die »höchste Himmelslust« (ND, 255) verspricht. Den noch von Schranken begrenzten endlichen Menschen drängt es zwar anfangs nach irdischen Gütern, die schlussendlich freilich nur »Schein und Eitelkeit« (ND, 257) sind und lediglich eine weltliche Lust bereiten, die uns in ihrer Abbildfunktion aber gleichwohl schon auf »größer[e] Seligkeiten [ . . . ] vorbereiten« (ND, 257): Was von Vollkommenheit hier unser Herz genießet, Was uns durch Anmuth reitzt, und schöne Symmetrie In edlen Zügen zeigt; der Töne Harmonie, Der Farben süßes Spiel, kurz was uns hier entzücket, Ist jenem Urbild matt und stumpf nur abgedrücket. (ND, 257 / 258)
Ohne die Freuden des Diesseits abzuwerten (vgl. ND, 259) wird ferner dem Sklaven der Wollust (vgl. ND, 258) der »Freund der Tugend« (ND, 259) gegenübergestellt, dessen Lust an irdischen Gütern seine »Sehnsucht« (ND, 259), der Wahrheit nachzustreben, vorantreibt. Cyrus hingegen sieht Araspes’ »sehr geistige Liebe« (AP, 193) mit Blick auf »die Schwäche des menschlichen Herzens« (AP, 198) gefährdet, indem er in drastischen Bildern die Gefahr für den Schwärmer ausmalt, der »in immer nähernden Kreisen um die schöne Flamme flatternd, zuletzt mit versengten Schwingen zu Boden taumel[t]« (AP, 201). Ihm selbst genügt schon Araspes’ Erzählung von der Schönheit Pantheas, um die Begierde, das »Urbild« (AP, 183) zu sehen, präventiv unterdrücken zu müssen. Seine Befürchtung besteht nämlich darin, über die Neigung zu einer einzigen Schönheit unwillkürlich seine Pflicht als Staatsmann zu vergessen (vgl. AP, 192, 198). Der ›böse Zauber‹ einer leidenschaftlichen Liebe stürze ferner in
45 Vgl. Marsilio Ficino, Über die Liebe oder Platons Gastmahl, übers. Karl Paul Hasse, hg. und eingel. Paul Richard Blum, Hamburg 1994, 73; vgl. hierzu ähnlich Kemper, Empfindsamkeit, 408; vgl. die zum Teil ironische Auseinandersetzung mit dem SympathieBegriff im Don Sylvio (DS, 163 ff.): Alle Quellen der sympathischen Liebe referierend – von Plato (Präexistenz) über die hermetische Tradition (Schwerkraft, Magnetismus) bis zu Shaftesbury (Schwesterseelen) – wird die Liebe schlussendlich als schlicht natürliches Phänomen gekürt (vgl. DS, 165 / 166), während Donna Felicias Wirkung auf Don Sylvio und seine Erwiderung ihrer Empfindungen ebenso wie Pedrillos Zuneigung zu Laura mit dem Theorem der gegenseitigen, magnetischen Anziehungskraft erklärt wird (DS, 272 ff.; 424; vgl. zur unkritischen Verwendung des Sympathiebegriffs, DS, 252, 257, 263). 46 Wieland bedient sich mitunter neuplatonischen Vokabulars (vgl. ND, 254 f.), um die Wesen als Ausfluss aus Gott bzw. als zum Urquell zurückfließende »Ströme« (ND, 254) zu umschreiben, was aber keineswegs über die entschieden kontra-neuplatonische Annahme, ablesbar an der durchweg hervorgehobenen prinzipiellen Trennung von Gott und Welt, hinwegtäuschen kann (Vgl. Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, 7; vgl. Jørgensen u. a. (Hgg.), Christoph Martin Wieland, 28).
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»unmännlichste Sklaverey« (AP, 194), mache uns nach Verlust der Geliebten zum »Schatten« (AP, 194) unserer selbst. Bezweifelt wird von Cyrus nachdrücklich die Möglichkeit einer Vereinigung von Pflicht und Neigung, Vernunft und Herz, Tugendübung und Müßiggang in Sachen leidenschaftlicher Liebe. Ironischerweise kulminiert sogar Araspes’ Lobeshymne auf die von ihm stark idealisierte Panthea als »Ebenbild der himmlischen Milde« (AP, 189) in der Bemerkung, dass ihr reizender Anblick »auch den Flug eines Unsterblichen zurück hielte, sich an seinem Anschauen zu ergetzen« (AP, 191). Ebenso weisen bereits Araspes’ anfänglich getätigte Beschreibungen des »Urbild[es]« (AP, 188) Panthea sinnliche Komponenten auf, wie dies seine Hervorhebung der »blendende[n] Weise ihres Halses und ihrer Arme« (AP, 190) erahnen lässt. In Die Natur der Dinge gilt im Übrigen ausschließlich Gott als »Urbild« (ND, 16, 88, 258) aller schönen Erscheinungen. Cyrus’ kritische Prognose bezüglich Araspes’ Umgangs mit Panthea bewahrheitet sich. Araspes’ geistige Einstellung und sein Liebeskonzept wandeln sich: Nur scheinbar bedient er sich weiterhin seiner alten Sprache, die in Diskrepanz zu seinen inneren Wünschen steht. Araspes selbst referiert indes, seine Gefühle verschleiernd, den Weg des Aufstiegs, wie in Die Natur der Dinge postuliert: »Ein sanfter liebreicher Schauer wallt durch mein Wesen, meine Natur scheint sich zu erhöhen, mein Leib wird ätherisch, ich empfinde mit neuen Sinnen und athme eine reinere Luft.« (AP, 252) Dick erkennt hierin zu Recht »die psychologische Meisterschaft Wielands, daß er die Entfernung des seiner selbst so sicheren Araspes von der Tugend nicht mit einem jähen Bruch, sondern ganz auf dem Boden der Tugend selbst mit der schwärmerischen Übersteigerung der tugendhaften Eigenschaften der Panthea beginnen lässt«.47 Insofern kann als das Hauptthema von Araspes und Panthea auch das »Mißverhältnis zwischen Bewusstsein und Sein«48, »Ichgefühl und Lebenserfahrung«49, besser Imagination und Realität, Schwärmertum und wohltemperiertem Enthusiasmus benannt werden. Arasambes entlarvt dementsprechend Araspes’ quasi häretische Stilisierung Pantheas zur »himmlischen Seele« (AP, 253), zur »gegenwärtige[n] Gottheit« (AP, 254, vgl. 270) bzw. »göttliche[n] Schöne[n]« (AP, 255) bis zum »Himmel von Tugenden« (AP, 256) als Produkt seiner »erhitzte[n] Fantasie« (AP, 257). Bereits in Die Natur der Dinge werden falsche Lehrmeinungen oder Irrtümer ebenso als Resultat der übersteigerten Phantasie abgewertet.50 47
Dick, »Wandlungen des Menschenbildes beim jungen Wieland«, 157. Dick, »Wandlungen des Menschenbildes beim jungen Wieland«, 165. 49 Vgl. Hoppe, Der junge Wieland, 57. 50 Vgl. hierzu die Die Natur der Dinge verwandte Kontrastierung von überhitzter Phantasie (vgl. ND, 40, 70, 77, 89, 117, 132) mit den Wirkungen der gesunden Phantasie (vgl. ND, 20, 200). 48
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Scharfsinnig weist Arasambes auf den Makel der von Araspes’ immer wieder vorgetragenen Liebeskonzeption hin, der darin besteht, dass zwar theoretisch die »zarte Empfindlichkeit für das Schöne [ . . . ] die ächte Mutter des Heldengeistes und der Tugend« (AP, 256) sei, der kopflos verliebte Araspes sich aber lediglich einbilde, graduell im Geisterreich aufzusteigen, während er in Wahrheit den Gegenstand nicht als Begrenztes oder Initialzündung zurücklasse, sondern bis ins Unendliche steigere und dadurch ungerechtfertigt zur »obersten Gottheit« (AP, 258) erhebe. Statt des Liebhabers wird also das Liebesobjekt vergeistigt, indem Araspes das Menschliche unzulänglich vergöttert, seine eigenen Empfindungen aber letztlich größer als der imaginierte Gegenstand selbst sind (vgl. AP, 259). Araspes unterliegt von daher letztlich einem doppelten Fehlschluss, da er wegen übersteigerter Liebessehnsüchte sein Liebesobjekt idealisiert: »Unsere mit unendlicher Liebe befruchtete Seele, aber von Sinnlichkeit umnebelt, irret entweder im Gegenstand oder im Maß der Liebe« (AP, 261). Eben mit diesem Einwurf verfolgt Arasambes konsequent das ›wahre System‹ der Natur der Dinge und demaskiert Araspes’ Konzept einer platonischen Liebe als Deckmantel seiner Fixierung auf das Sinnliche: Er trennt strikt zwischen den Reichen des Irdischen und des Göttlichen, denn ersteres berge lediglich »mangelhafte Nachahmungen eines vollkommenen Urbildes, trübe Ausflüsse einer reinen Urquelle der Vollkommenheit, Ordnung und Schönheit« (AP, 260) und diene ausschließlich der Entfachung unseres präexistent eingeborenen »Trieb[es] nach dem Unendlichen« (AP, 261)51, daher sein Rat: »Hefte nicht eine Neigung, die so unbegrenzt ist als die Natur und ihr göttliches Urbild, auf einen einzelnen Gegenstand, wie schön er auch seyn mag« (AP, 262). Die Tugend zeigt sich in der Hinwendung zum Allgemeinen und nicht in der Konzentration auf einen einzelnen Gegenstand.52 Gegen jedwede pantheistische Annahme gerichtet, fungiert die Schönheit der »körperliche[n] Welt« (AP, 260) ausnahmslos als Anstoß der »Wiedererinnerung oder [eines] weissagende[n] Vorgefühl[s] [ . . . ], daß wir bestimmt sind, auf endlosen Stufen [ . . . ] hinauf zu klimmen« (AP, 261), wie es die platonische AnamnesisLehre vorgibt.53 Wahre, reine Liebe zeige sich erst nach ›Vergeistigung‹ und 51 Vgl. »Drum mischte Gott der Lust, die aus der Körperwelt / Uns zuströmt etwas ein, das aus ihm selber quellt, / Verschlammt mit trübrer Fluth. / Was unsern Sinn vergnüget, / Scheinbare Trefflichkeit, die uns nicht lang betrüget / Noch mehr, ein wirklich Gut, das unser Herz erfüllt, / Ist dem Ursprünglichen von fern’ nur nachgebildt« (ND, 257). In der Geschichte des Agathon erklärt Agathon seine Verwirrung mit Rekurs auf Plato damit, dass seine Seele »aus dem Ocean des reinen ursprünglichen Lichts, der die überhimmlischen Räume erfüllet, plötzlich in den Schlamm des groben irdischen Stoffes heruntergestürzt worden ist« (GA, 308). Ferner wird der Enthusiasmus Agathons wiederum als »die Quelle seiner Fehler sowohl als seiner schönsten Taten« (GA, 519) erkannt. 52 Vgl. Dick, »Wandlungen des Menschenbildes beim jungen Wieland«, 157. 53 Vgl. ND, 101, 225, 254.
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Abkehr von der Leiblichkeit und v.a. mit Blick auf selbstvollbrachte Tugendübungen (vgl. AP, 263): »Ehe du, vom Leib entfesselt, ganz Seele wirst und nur zu Seele dich näherst, schmeichle dir mit keiner Liebe, an die nicht auch der Leib seine Anforderungen mache«54 (AP, 263). Eine scharfe Kritik der untugendhaften Bestrebungen des den Sinnen Verfallenen ist in der Natur der Dinge mehrmals artikuliert: »Der Sinnlichkeit Betrug, der Sturm der Leidenschaften, / Läßt keinen edlern Trieb in eurer Seele haften« (ND, 19). Interessanterweise vertritt zwar Arasambes nun die Idee einer keuschen Liebe, lehnt wie Cyrus aber, um sich selbst zu schützen, eine Begegnung mit Panthea ab (vgl. AP, 249 / 250), was bereits die Unmöglichkeit einer praktischen Umsetzung der platonischen Liebe offen legt. Heillos verblendet und die nunmehr zweite Warnung in den Wind schlagend, bezichtigt Araspes dagegen seine Kritiker der »eiskalte[n] Fühllosigkeit« (AP, 265) und überfordert gedanklich dabei seine »Nymfe« (AP, 267), wie etwa Schillers Stürmer und Dränger Ferdinand, im Liebesabsolutismus verfangen, seine Luise:55 Ein einziger deiner Blicke wäre genug, mich durch tausend Hindernisse und Gefahren zu jeder edlen That zu beflügeln. Dein Lächeln wäre mir dir reichste Belohnung für Herkulische Arbeiten, mehr als Kronen und Welten voll Sklaven der kleinen Seele des Eroberers. (AP, 266)
Indes bleibt Araspes selbst aber in Kontrast zu seinen ausgemalten Fähigkeiten untätig und erliegt zusehends der »fiebrische[n] Hitze [seiner] kranken Seele« (AP, 278), wie er selbst im Monolog erkennt: 54 Vgl. »Ein Geist, der Stoff und Bild von seinem Kleid entblößt, / Und was zufällig ist, Vom Wesentlichen löst; / Dem kömmt der Ausspruch zu, der soll den Willen lenken, / Und oft durch seine Macht, verblendte Triebe kränken« (ND, 220). 55 Vgl. Friedrich von Schiller, Kabale und Liebe. Ein bürgerliches Trauerspiel, in: Schillers Werke: Nationalausgabe. Neue Ausgabe, Bd. 5, hg. Herbert Kraft u. a., Weimar 2000; vgl. den Liebesabsolutismus Ferdinands: »Ein Lächeln meiner Luise ist Stoff für Jahrhunderte, und der Traum des Lebens ist aus bis ich diese Träne ergründe« (Schiller, Kabale und Liebe, 102); »Du, Luise, und ich und die Liebe! – Liegt nicht in diesem Zirkel der ganze Himmel?« (Schiller, Kabale und Liebe, 100). Ferdinand kann als »Sprachrohr« der idealistischen Liebesphilosophie des jungen Schiller bezeichnet werden, wie Araspes zunächst als Verfechter des theoretischen Systems des jungen Wieland auftritt. Schillers kritisches Verhältnis seinen eigenen Jugendschriften gegenüber lässt sich an einer vergleichenden Lektüre seiner Philosophischen Briefe mit Kabale und Liebe eruieren, das als Experiment angesehen werden kann, in dem theoretisch formulierte Gedanken einer Idee, nämlich des abstrakten Liebesbegriffes der Theosophie des Julius mittels dramatischer Durchführung Ferdinand in Kollision mit dem Miteinander der Menschen in der Realität, v.a. mit Luises Liebesverständnis geraten lässt (vgl. insgesamt die aufschlussreiche Analyse von Günther Sasse, »„Der Herr Major ist in der Eifersucht schrecklich wie in der Liebe.“ Schillers Liebeskonzeption in den Philosophischen Briefen und in Kabale und Liebe«, in: Konflikt, Grenze, Dialog. Kulturkontrastive und interdisziplinäre Textzugänge. Festschrift für Horst Turk zum 60. Geburtstag, hg. Jürgen Lehmann u. a., Frankfurt am Main 1997, 173 – 185).
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Alle Ruhe ist aus meinem Herzen gewichen; alle blühenden Hoffnungen meines Lebens sind dahin! Was ist aus dir geworden, meine Seele? Ein Spiel fieberischer Träume; ein Ball, von streitenden Leidenschaften hin und her geschlagen. (AP, 292)
Im erneut erfolgenden Gespräch mit Arasambes bekennt Araspes ferner den in ihm tobenden »Kampf von Leidenschaft und Pflicht, Vernunft und Liebe« (AP, 299). Ambivalent gebrochen, sieht er sich einerseits determiniert, andererseits paradoxerweise einverstanden mit seiner vernunftlosen Unfreiheit: »Ich fühle die ganze Schwere meiner Ketten, und doch wünsche ich nicht frei zu seyn.« (AP, 300). Er schwankt zwischen dem Gefühl »winselnder Verzweiflung« (AP, 301) und dem Empfinden der »bittersüßen Qual der Liebe« (AP, 307) gemäß Sappho und Petrarca, die ihm – in seinen Träumen im Bild der Natur gespiegelt – einerseits aus »elysische[n] Auen« (AP, 301), andererseits aus »schroffe[n] Felsen und jähe[n] Abgründe[n]« (AP, 302) besteht. So bleibt ihm abschließend nur die Apologie seiner Leidenschaft mittels einer »Umwertung aller Werte«56, indem er seine bedingungslose Liebe als »erhabne Raserey« (AP, 308) und »enthusiastischen Taumel« (AP, 308) legitimiert – im Sinne des Topos des außer sich seienden Liebenden – und ihr dieselben Prädikate zuschreibt, die zuvor seine tugendhafte Einstellung auszeichnete. Ähnlich wie bei bedingungslos liebenden Stürmern und Drängern gerät der ›Kopf-Herz-Ausgleich‹ bei übermäßiger Leidenschaft ins Wanken. Für Araspes ist dementsprechend gerade das »Herz« der »höchste Vorzug der Menschheit vor der thierischen Welt« (AP, 216). Die Fokussierung auf das Herz erweist sich aber als die Kehrseite der Verkopfung, und beide Extreme scheitern an der Realität, wie der weitere Fortgang erkennen lässt. Weder Araspes’ Leidenschaftlichkeit noch Arasambes’ rationale Kritik daran überzeugen. Flucht vor dem Gegenstande der Leidenschaft scheint von daher der einzige Ausweg, so Arasambes (vgl. AP, 303) und auch Panthea, die Araspes’ Liebesbekunden im Gespräch mit Mitleid und einem Freundschaftsangebot erwidert (vgl. AP, 314 f.), da sie »Mitleiden« (AP, 315) für den vor Liebe »Kranken« (AP, 315) empfindet. Einzig die Bediente Pantheas, Mandane, erkennt das bevorstehende Ausmaß der »Gebrechlichkeit der menschlichen Natur« (AP, 327), das vornehmlich von eitler Selbstliebe herrühre (vgl. AP, 325). Die von Araspes vermeinte »Verwandlung« (AP, 339) nach der Unterredung mit Panthea und seinem den Rückfall provozierenden heimlichen Anblick Pantheas beim Baden bezieht sich interessanterweise wiederum nur auf die Rezeption des Gegenstandes, der nun nicht mehr vergöttlicht, sondern fassbarer ins allzu Menschliche transferiert wird, denn »der Mensch ist nicht zu ätherischer Liebe gemacht« (AP, 344), so Araspes’ neue, nunmehr deutlich antiplatonische Denkart: »Wie schön es ist ein Mensch zu seyn, so kommt es mir nicht zu, sie anders als nach menschlicher 56
Dick, »Wandlungen des Menschenbildes beim jungen Wieland«, 158 / 159.
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Weise zu lieben« (AP, 344). Das verstohlene Beobachten von Pantheas sinnlicher Schönheit beim Badeakt lässt Araspes mit Wonne triumphieren, »daß Panthea eben so irdisch ist, als die übrigen Weiber« (AP, 344). Die Inkorporierung seiner »geistigen Empfindungen« (AP, 344), so der Tadel Arasambes’, verdanke er hierbei seiner »Lehrerin« (AP, 344) Erfahrung, d. h. der sinnlichen Wahrnehmung ihres Körpers. Um seine Hoffnung auf Gegenliebe zu nähren, verwandelt Araspes so seine »streng geglaubte Göttin« in eine »milde Sterbliche« (AP, 347), ja fasst gar den Plan, von Cyrus Panthea als seine Belohnung zu erbitten (vgl. AP, 350). Eben dieser Gesinnungswandel von extremer Vergöttlichung bis zur übersteigerten Versinnlichung seines geliebten Gegenstandes spiegelt seine eigene, ins Wanken geratene Stellung in der chain of being, wie er sich diesen Zustand mit dem Bild des »Nachen, den der brausende Orkan und die schäumende Wuth der Wogen bald an die Wolken schleudert, bald in schwindliche Tiefen hinab stürzt« (AP, 292), selbst diagnostiziert.57 Ebenso einseitig wie sein Tugendideal wirkt nun der Umschlag in die einseitige Verherrlichung von Pantheas Körperlichkeit. Nach missglücktem Vergewaltigungsversuch sieht Araspes seine Untat zwar einerseits als Schande (vgl. AP, 380), sich selbst aber andererseits als bemitleidenswert an,58 weil er, allein auf diese harte »Probe« (AP, 385) gestellt, der »Versuchung« (AP, 385) erliegen musste. Sein erneuter »plötzlicher fürchterlicher Wandel« (AP, 379) in das alte Muster der »rechtschaffenen Denkart«, gemäß welcher er nunmehr mit Rücksicht auf seine Reputation in der Gesellschaft seinen »lasterhaften Taumel« (AP, 380) verdammt, lässt dabei seine Rehabilitierung als ad absurdum geführt erscheinen. Deswegen merkt Dick mit guten Gründen an, dass eine Tugend um des Ansehens und Ruhmes willen wiederum nur Araspes’ »eigennützige[s] Verhalten«59 anzeige. Allerdings findet sich in Die Natur der Dinge in der Auseinandersetzung mit den Arten der gelingenden Tugendpraxis zumindest eine Anerkennung des uneigennützigen Ruhmes, der mit Blick auf Sokrates darin besteht, »der Brüder Heil zu mehren« (ND, 262). Arasambes lehnt Araspes’ Scheinargumentation konsequent ab, weil damit der Mensch seine Verantwortung an höhere Instanzen wie Gott oder die Natur 57 Vgl. Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, 38, 101; ähnlich wie bei Araspes wird im Don Sylvio die Gefahr des Schwärmers benannt »aus dem glorreichen Stande der Engel herab zu stürzen, und in eine grobe materielle Leidenschaft zu sinken, die in ihren Folgen endlich zu einer so unanständigen Verkörperung führt, als diejenige ist, wodurch die Welt mit Sünden bevölkert wird« (DS, 167). Der religiöse Kontext wird dabei aber umgehend relativiert. 58 Erhart weist zu Recht auf die fragwürdig werdende Kategorie des ›Mitleids‹ in Araspes und Panthea hin (Erhart, Entzweiung und Selbstaufklärung, 55). 59 Dick, »Wandlungen des Menschenbildes beim jungen Wieland«, 162.
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übertrage, indirekt das Böse auf sie zurückführe, die Taten des Tugendhaften abgewertet statt honoriert würden und er sich selbst dagegen in die Rolle des Opfers gegebener Umstände manövriere (vgl. AP, 386). Er erinnert damit an Araspes’ Eingangsthese vom freien Willen des Menschen, denn »die Gesetze würden keine Strafen auf die Verbrechen setzen, wenn es nicht in unserer Macht stünde, zu sündigen oder recht zu handeln« (AP, 196). Trotz dieser berechtigten Kritik im Verbund mit seiner expliziten Mitleidsverweigerung (vgl. AP, 385) vermag aber bezeichnenderweise der Vertreter des ›alten Systems‹, keine praktikable Lösung für Araspes’ Gefühlszwiespalt zu eruieren. Insbesondere findet nämlich im Weiteren seine religiöse Bezugnahme auf die Sündhaftigkeit des Menschen keine weitere Beachtung in Cyrus’ säkularer Beurteilung.60 Cyrus hingegen bezeugt wahres Einfühlungsvermögen hinsichtlich der von ihm eingesehenen »natürliche[n] Folge der Wirkungen der Schönheit und der Liebe« (AP, 391): An deinem Platze, wie Du dem täglichen Anschauen der schönen Panthea ausgesetzt, würde ich das gleiche gelitten haben. Deine Erfahrung lehrt dich jetzt, daß ich Ursache hatte, die schöne Gefahr zu meiden. (AP, 390)
Sein Mitleiden ergibt sich aus der identifikatorischen Einschätzung, selbst fehlbar zu sein, eine Mitschuld an der Misere zu tragen und sich bewusst der ›Probe‹ entzogen zu haben. Insofern erweist er sich als der sympathetische Mensch, da er »Nachsicht gegen die Schwäche der gebrechlichen Menschheit« (AP, 391) übt. Wieland selbst sieht in Araspes keinen »reuigen Sünder, sondern einen patienten [ . . . ], den Cyrus durch das einzige Mittel wider eine solche Liebe, [ . . . ] nehml. durch die Entfernung von dem geliebten Object heilet«61. In diesem Sinne wird Araspes von allen Beteiligten, sich selbst eingeschlossen, als krank (vgl. AP, 278, 281, 291, 310, 315, 325, 347) eingestuft, und zwar in Folge seiner überhitzten Phantasie (vgl. AP, 205, 216, 257, 276, 353). Die »Pathologisierung der Affekte«62 stellt dabei modellhaft »die Abhängigkeit des Menschen von seiner physischen Disposition«63 vor Augen und spielt gleichsam die moralisch60
Vgl. ähnlich Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, 102. Christoph Martin Wieland, Wielands Briefwechsel, Bd. I, 313; Vgl. Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, 104; vgl. das Schwärmertum Don Sylvios, das sich aus seiner Vermischung des Wunderbaren der Feenwelt mit dem Natürlichen der Alltagswelt (vgl. DS, 23 f., 33), der nicht sorgfältig unterschiedenen Wahrnehmung der zweifachen Art von Wirklichkeit (DS, 64) ergibt, wird mittels des Siegs der Natur über die Einbildungskraft (vgl. DS, 252) als Prozess der Heilung des dem Fieber erlegenen Schwärmers geschildert (vgl. DS, 231 f., 413 u. a.). 62 Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, 103. 63 Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, 104. 61
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religiöse Argumentation eines Arasambes aus, die Cyrus bei seiner Bewertung gänzlich außer Acht läßt.64 Cyrus’ Angebot an Araspes, als Spion aus dem begangenen Laster an Panthea eine Tugend für das Vaterland zu machen, soll ihn als Tätigen wieder zum Tugendhaften führen. In dieser Wohltat, die der »Urheber aller der Übel« (AP, 392) seinem Freund gegenüber leistet, sieht Hacker zu Recht ein »Plädoyer für den ganzen Menschen«65. Allerdings wird letztlich nun doch der Fluchtweg als oftmals angepriesenes Heilmittel für Araspes’ aporetische Situation favorisiert, um mittels Entsagung die Katastrophe abzuwenden. Araspes’ Selbsterkenntnis, da er seinen »furchtbarsten Ankläger« (AP, 379) in seinem eigenen Busen verortet, bezieht sich auf seine »zwey ganz verschiedne[n] Seelen« (AP, 397), eine gute der Tugend und eine schlechte des Lasters, die sich gegenseitig bekriegen. Araspes’ Umdenken, der Sieg seiner guten Seele erfolgt allerdings allzu unerwartet bzw. ist nur aufgrund von Cyrus’ Erscheinen, der wiederum v.a. als starke gesellschaftliche Autorität bzw. »übermächtiges Gewissen«66 auftritt, denkbar: Allein Cyrus’ Gegenwart bewirkt das Weichen der »schändlichen Seele« (AP, 398), die »mit gelähmten Flügeln zu Boden [flattert]« (AP, 398; vgl. 201), so dass Interpreten wie Dick ihm verständlicherweise allein die »Urheberschaft der Wandlung«67 zuschreiben, wohingegen Araspes wiederum nur eine »schwankende Bewegung [seiner] Seele«68 erfahre, ohne sie beeinflussen zu können.69 Plausibilisierbar ist Araspes’ abruptes Umdenken nur im Sinne einer dramatischen Verdeutlichungsstrategie, dass nämlich die Kenntnis der ›Krankheit‹ im Sinne eines praktischen Erziehungsprozesses der ›Heilung‹ vorangehen musste.70 Dieses aufklärerische Menschenbild vertritt Wieland bereits in Die Natur der Dinge.71 Es impliziert ferner den Gedanken, dass die ›Fehler‹ des Menschen, seien es nun die der Vernunft oder die des Herzens, nach Erkenntnis der eigenen 64
Vgl. Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, 104. Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, 102. 66 Dick, »Wandlungen des Menschenbildes beim jungen Wieland«, 162. 67 Dick, »Wandlungen des Menschenbildes beim jungen Wieland«, 163. 68 Dick »Wandlungen des Menschenbildes beim jungen Wieland«, 163. 69 Vgl. ähnlich Petrowski, Weltverschlinger, Manipulatoren und Schwärmer, 252. 70 Friedrich von Schiller, Philosophische Briefe, in: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 8: Theoretische Schriften, hg. Rolf-Peter Janz u. a., Frankfurt am Main 1992, 208 – 233, hier 215. Schiller formuliert hinsichtlich seiner ›Geschichte der Vernunft‹ in den Philosophischen Briefen ähnlich signifikant: »Wir gelangen nur selten anders als durch Extreme zur Wahrheit – wir müssen den Irrtum – und oft den Unsinn – zuvor erschöpfen, ehe wir uns zu dem schönen Ziele der ruhigen Weisheit hinauf arbeiten« (Schiller, Philosophische Briefe, 208 / 209). 71 Vgl. Wieland: »Oft ist des Kranken Qual der einz’ge Weg zur Kur« (ND, 270; vgl. 268). 65
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Unzulänglichkeit ausgemerzt werden können. Betont wird in Araspes und Panthea nun explizit die Notwendigkeit der »Erfahrung« (AP, 397) am eigenen Leib.72 So erscheint Araspes’ Schwärmerei auch nicht nur als unverzeihliche Untat disqualifiziert, sondern erfährt vielmehr eine Rechtfertigung als integraler Bestandteil der Fortbildung zum ›reifen‹ Menschen. Dafür spricht ferner, dass Araspes erst nach seinem Irrweg, seiner ›feindlichen‹ Auseinandersetzung mit Panthea die Aufgabe als Spion im gegnerischen Lager übernehmen kann.73 Freilich zeigt sich an Araspes und Panthea nun Wielands vielbeschworene »anthropologische Wende«74 mit neuem Fokus auf die psychologische Durchdringung vornehmlich der Leiblichkeit und Affektbeladenheit des Menschen.75 Der platonischen Art zu lieben, die sich als unlebbar erweist bzw. die allein durch die Flucht vor der Versuchung garantiert werden könnte, wird nun aber, wie gesehen, nicht die Anerkennung der sinnlichen Liebe als der Weisheit letzter Schluss gegenübergestellt.76 Vielmehr soll die eigennützige Liebe des Araspes, die Mandane zu Recht als puren Narzissmus und Egoismus entlarvt (vgl. AP, 325), in eine altruistische Liebe, eine für die Mitmenschen tätige Tugendliebe umgewandelt werden, so die Forderung des Arasambes, die dieser aber nur theoretisch formuliert, ohne Araspes’ Affekte als ›natürlich‹ anzusehen: »Deine Freunde, dein Vaterland, und dieses grenzenlose Ganze, von dem wir Glieder sind, haben stärkere Ansprüche an deine Liebe, als das vollkommenste Weib« (AP, 262). Beispielhaft für dieses Postulat stehen Cyrus’ Einsatz für sein Reich wie seine Freundesliebe zu Araspes, aber auch Arasambes’ liebevolle Zuwendung zu seiner Mutter, die er, ironisch formuliert, einer Begegnung mit Panthea vorzieht (vgl. AP, 264). Spiegelbildlich zu Araspes’ Liebesabsolutismus kann deshalb freilich auch die Herrschaft eines Tyrannen, der als Kontrastfigur zu Cyrus auftritt, in Frage gestellt werden. Schon Mandane, Pantheas Bedienstete, paralle72 Ähnlich wie bei Araspes ist es in den Philosophischen Briefen ein Freund, Raphael, der den unkundigen Schwärmer Julius bewusst in die Krise mittels einer »Einimpfung« (Schiller, Philosophische Briefe, 216) stürzt, d. h. ihn »einige Ausschweifungen der grübelnden Vernunft« (Schiller, Philosophische Briefe, 209) durchstehen lässt. 73 Vgl. Jørgensen u. a. (Hgg.), Christoph Martin Wieland, 45. 74 Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, 100. 75 Vgl. Thomé, Roman und Naturwissenschaft, 124. 76 Sengles These von der kritisierten »Scheinsynthese der Empfindsamkeit« (Sengle, Wieland, 90) wegen der deutlich erkennbaren »Glorifizierung der Leidenschaft« (Sengle, Wieland, 91) ist einseitig. Erhart betont zwar ebenfalls, dass die »Gefahren einer Empfindsamkeit« zum Vorschein kommen, wenn diese die »Widersprüchlichkeit der Affekte ausklammere«, betont aber auch das Misstrauen Mandanes, das dazu anhalte, die »trügerische Oberflächensemantik« der »Sprache der Affekte« zu studieren (Erhart, Entzweiung und Selbstaufklärung, 60).
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lisiert die der Leidenschaft Ergebenen mit »inwendigen Tyrannen« (AP, 324), die »Tugend und Vernunft nicht neben sich leiden« (AP, 324) können.77 Vor der leidenschaftlichen Liebe warnend, skizziert Cyrus die Ausmaße der »tyrannischen Gewalt der Liebe« (AP, 195). In einer Diskussion zwischen Araspes und Panthea über die Notwendigkeit der »Plagen« (AP, 225) verursachenden und »menschliche Übel« (AP, 225) herbeiführenden Kriegszüge des menschenfreundlichen Cyrus (vgl. AP, 221, 223, 225), der an und für sich »in der Glückseligkeit der Menschen seine eigene« (AP, 222) sucht, sind diese grundsätzlich als Prävention schlimmerer Zustände zu entschuldigen (vgl. AP, 226): Wenn Cyrus alle Drangsale des Kriegs über seine Feinde herwälzt, so errettet er in dem gleichen Augenblick ganze Völker, mit denen er durch engere Bande verknüpft ist, von eben diesen oder von noch größern Übeln, die er nur durch diese Mittel von ihnen abwenden kann. (AP, 227)
Einerseits werden die blutigen Taten in der Natur der Dinge auf das schärfste verurteilt (ND, 262), andererseits klingt eine an die Theodizeeproblematik erinnernde Argumentation an, weswegen die Übel toleriert und ›zugelassen‹ werden, weil sie als gering im Vergleich zum allgemeinen, zu befördernden Guten interpretiert werden (vgl. ND, 271). Cyrus’ altruistisches Handeln zeugt exemplarisch von einer »Güte und Zärtlichkeit des Herzens« (AP, 229), »seine großmütige Seele umfasset das menschliche Geschlecht« (AP, 229), »denn es ist ein göttliches Geschäft, Eintracht und Ordnung unter den Menschen zu stiften, und eine göttliche Wollust, Glückliche zu machen« (AP, 241). »Wollust im Wohltun« (AP, 243) ist das unbestechliche Kennzeichen eines Cyrus, der sich nicht in der Liebe zu einer einzelnen Frau verliert, weil seine »Begierde von allen Menschen geliebt zu seyn« (AP, 242) größer ist. Eben die Nähe eines charismatischen Menschen zur Tugendhaftigkeit offenbart die ›ethische Stufenleiter‹ der Glückseligkeit: Aber die Freuden des Menschenfreundes und die Wonne eines Gottes strömen, nur im Grade verschieden, aus der gleichen Quelle. [ . . . ] mich dünkt, meine eigenen Bedürfnisse nehmen ab, je mehr ich die eurigen vermindere, und meine Glückseligkeit werde immer unbegrenzter, je mehr ich andere glücklich mache.78 (AP, 244)
Angezeigt wird damit das Programm einer universalen Liebe, dessen »weit ausgebreitete Liebe ganze Völker, ja das Ganze Geschlecht der Menschen umfasst« (AP, 192). Araspes selbst formuliert diese Einsicht in seiner Lobeshymne auf 77 Ähnlich Schiller: »Liebe ist die mitherrschende Bürgerin eines blühenden Freistaats, Egoismus ein Despot in einer verwüsteten Schöpfung« (Schiller, Philosophische Briefe, 226, vgl. 221; vgl. GA, 565). 78 Vgl. »Welche Schönheit [ . . . ] ich außer mir hervorbringe, bringe ich mir hervor, welchen ich vernachlässige, zerstöre, zerstöre ich mir, vernachlässige ich mir« (Schiller, Philosophische Briefe, 222).
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Cyrus schon vor seinem »Irrthum« (AP, 262), ohne freilich seiner Einseitigkeit selbstständig entgegenwirken zu können. Neben der universalen Liebeskonzeption als neuem Horizont für die ›Ganzheit des Menschen‹ wird aber noch eine weitere Alternative aufgezeigt. In diametralem Gegensatz zu Araspes’ Erfahrung wird nämlich auch Panthea auf die »Probe« (AP, 373) gestellt, deren »zweifelhafte Seele« (AP, 207) mit Bezug auf das Schicksal ihres Gemahls Abradates zeitweilig die von ihr nicht zu erkennende Kraft einer »unsichtbare[n] Hand« (AP, 208), das Geschick des »Himmel[s]« (AP, 212, 213) in Frage stellt, bis sie jedoch die Bewährung hinsichtlich Araspes’ Annäherungsversuch im Beweis der »Obermacht der Tugend« (AP, 376) besteht (vgl. AP, 373). Nach platonischem Konzept sieht sie in ihrem Geliebten die »bessere Hälfte [ihrer] Seele« (AP, 210), nach weltlichem Liebeskonzept findet sie Stabilität in ihrer durchweg geleisteten Treue ihrem Gatten gegenüber.79 In ihr sieht deshalb Arasambes sein Idealbild der Liebenden verwirklicht, so dass seine Mahnungen wiederum nur im Falle des Araspes fehlschlagen, an und für sich aber eine Berechtigung haben: »Aber laß dich erinnern, daß die Bande, welche Abradates mit Panthea verknüpfen, so heilig sind, als die ewige Eintracht und Harmonie der Schöpfung« (AP, 353). Damit wird die kosmologische Harmonie der Natur der Dinge, im Bild des Liebesbandes gefasst, insofern umgedeutet, als nun als deren Entsprechung die Ehe und nicht mehr das Vergeistigungsbestreben des Seraphen in den Vordergrund tritt. Eben dasselbe Ergebnis weist auch der Schlussgesang des Wechselgesangs zwischen den drei Sklavinnen der Panthea auf: Wenn Weisheit und Tugend mit der zärtlichen Sympathie den holden Hymen herbeyführen, dann möge euer Herz der süßen Beredung weichen, und von geheiligter Liebe wallen, der Quelle des Lebens und des häuslichen Glücks. (AP, 369)
Der in Rollen aufgeteilte Disput der drei Sklavinnen ist für die Konzeption des Eheglücks aufschlussreich: Er umfasst zunächst die Position der sorglos Nichtliebenden (Zelis), der unglücklich Verliebten (Gulindy) und der geheiligten, weil ehelich abgesegnet Liebenden (Scheristany). Entgegen der die Liebe degradierenden jungfräulichen Einsamkeit einerseits,80 sowie der schmerzvollen, weil den Begierden des anderen ausgelieferten, enttäuschenden Liebe andererseits, feiern die Frauen schlussendlich die »weise Liebe« (AP, 369) des Ehe79 In Xenophons Cyropädie folgt Panthea ihrem in der Schlacht gefallenen Gatten sogar bis in den Tod (vgl. Dick, »Wandlungen des Menschenbildes beim jungen Wieland«, 149). 80 Als Geistesverwandte sowohl Gulindys als auch Zelis’ kann die von der Männerwelt enttäuschte und deswegen spröde gewordene Donna Mencia von Rosalva erkannt werden, die im Don Sylvio als Vertreterin der »Feindin der Schönheit« (DS, 18) und »transzendentalen Keuschheit« (DS, 18) wegen ihrer altbackenen Sittenstrenge ins Lächerliche gezogen wird.
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glücks als die die Extreme relativierende Liebeseinstellung. Der idyllisch ausgemalte »bequeme Ort« (AP, 362), mit anmutiger Quelle und lieblichen Rosenbüschen als locus amoenus dargestellt, wird in diesem Wettstreit mit den kunstlosen Vogelsängern bildlich fortgesponnen: Der sinnlich gesteuerte Mann ist in Zelis’ Bild der flatterhafte Sommervogel und die Frau die nicht beachtete Blume (vgl. AP, 363), die in Abkehr vom Mann als »sorgloses Reh« (AP, 364) und im »Frühling [ihres] Lebens« (AP, 365) stehend in der sie feiernden Natur Ruhe findet und ungestört in narzisstischem Wohlgefallen gedeihen kann. Gulindys Rosenkränze hingegen verwelken als Spiegel ihrer unglücklichen Lage (vgl. AP, 364), wie die »Blume [ihrer] Jugend« (AP, 366) verdorrt. Scheristanys Rosengärten wiederum blühen (vgl. AP, 365) dank ihrer erfüllten Liebe, so dass, wenn sie selbst stürbe und verwelkte, »ein künftiges Geschlecht« (AP, 368) aus ihrem Spross für sie weiterblühe. Die Motive der Rose, der Blume und des Schmetterlings81 stehen auch für Araspes’ Verhältnis zu Panthea. Im Kummer um die Trennung von ihrem Mann wird Panthea eingangs von Araspes als »geknickte Rose« (AP, 188) beschrieben, wie er ironischerweise beim Dozieren über die kosmische Allsympathie den Menschen über den »bunte[n] Schmetterling, der von Blume zu Blume flattert, ihre geistigen Düfte einzusaugen« (AP, 199), erhebt, weil er nicht nur wie das Tier empfinde, sondern auch mit Verstandeskraft begabt sei und ferner ein Gefühl für die Schönheit der Natur, v.a. der Rosen und Rosenlippen (vgl. AP, 216 / 217), entwickeln könne. Diametral gegensätzlich hierzu 81 Vgl. die Bedeutung des Schmetterling-Motivs im Don Sylvio, wo Don Sylvio sich auf der Jagd nach einem blauen Schmetterling in einem Wald verirrt und dort ein Miniaturbildnis findet (vgl. DS, 37 ff.). Ohne Felicia zu kennen, stilisiert er zunächst ihr vermeintliches Abbild zum »Bildnis einer Göttin« (DS, 38) und begibt sich hernach auf die Suche nach dem »Urbild« (DS, 251, 437), weil es ihm als Schwärmer unmöglich ist, »die reine und unsterbliche Flamme zu ersticken, die [ihre] göttliche Schönheit in [seiner] Brust entzündet hat« (DS, 145). Bei Araspes spielt das Motiv des »Urbilds« (vgl. AP, 188) in seinem Versuch Cyrus gegenüber, ein Abbild von Panthea zu skizzieren, ebenfalls eine große Rolle, zumal seine Zeichnung Pantheas in ihrer Übertriebenheit ebenso wie bei Don Sylvio in Diskrepanz zum entsprechenden Gegenstand steht. Noch ungeheilt von seinem Schwärmertum erliegt Don Sylvio jedoch Donna Felicias »materielle[r] Schönheit« (DS, 324), die sie mit den »intellectualischen Reitzungen ihres Geistes« (DS, 324) zu paaren versteht, indem er »lauter Aug, Ohr und Seele für seine Göttin« (DS, 324) ist, wodurch der fortschreitende Prozess ihrer Vermenschlichung von Seiten Don Sylvios angedeutet ist. So versucht Don Sylvio zwar zunächst mittels Übersteigerung seiner Phantasie seine Liebe zu Donna Felicia einzudämmen, indem er seine eingebildete Prinzessin noch vollkommener als Donna Felicia denken will, was ihm aber nicht gelingen mag (vgl. DS, 268 / 269, 271). Per Analogie-Schluss meint Don Sylvio dann im Urbild Donna Felicia das Abbild zu erkennen, woraufhin ihn Felicia wiederum über ihre Ähnlichkeit zu ihrer Großmutter Donna Dorothea (vgl. DS, 435 f.) aufklärt. Das eingebildete Abbild erfährt insgesamt eine Korrektur, indem er – übrigens gut platonisch gedacht – erkennt, dass es nur »ein armes Schatten-Bild der Liebe, die ihm das Urbild selbst einflössen würde« (DS, 252), ist.
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verurteilt er, noch idealistisch denkend, den »müßige[n] rosenbekränzten Weichling« (AP, 195), der der »Tyrannin des Herzens« (AP, 196) und der »Zauberin« (AP, 196) der wollüstigen Liebe erliege, und betitelt im nächsten Atemzug Panthea »als zauberische Schöne« (AP, 201), vor deren Anziehungskraft er gefeit sei. Das Motiv der »auf buhlerischen Rosen« (ND, 89) liegenden »Zauberin« (ND, 89) Wollust (vgl. ND, 258), die den nach Lust Jagenden und der »falschen[n] Fantasie« (ND, 89) Erliegenden anlockt, entstammt dem Bildbereich der Natur der Dinge. Wie die negativ konnotierte Wollust des untugendhaft Liebenden mit einer ›Wollust des Wohlthuns‹ kontrastiert, zeigt, wie oben ausgeführt, das Beispiel des Cyrus. In seiner Verteidigungsrede Arasambes gegenüber analogisiert Araspes die verzeihliche, weil natürliche Freude an einer Blume mit seiner Hinwendung zu Panthea (AP, 250), weil in ihrer Nähe alles um ihn herum aufblühe (vgl. AP, 252). In seinen Träumen tritt Amor dementsprechend von »unsterblichen Rosen« (AP, 301) umkränzt auf. Als Voyeur in der »Rosenlaube« (AP, 340) sitzend, umschreibt er Pantheas Nacktheit als »schamhafte Rosenfarbe« (AP, 337), auf die er am liebsten »zuflatterte« (AP, 337), wie sich hingegen zuvor die zweite Sklavin wünscht, dass die »stolz aufgeblühte Rose« (AP, 333) Pantheas Locken schmücken möge. Dies erinnert zugleich an Mandanes Verherrlichung von Pantheas Jugend, in der sie sich »von der zarten Knospe bis zu dieser vollen Blüthe entfalte[n]« (AP, 288) konnte und in »lächelnder Rosenfarbe« (AP, 288) vor ihr stand.82 Die Erweiterung der
82 Vgl. In der Geschichte der Hyacinthe, einer weiteren »Geschichte des Herzens« (DS, 316) im Don Sylvio, beschreibt die »Alte« das Heranwachsen zur reifen, liebensfähigen Frau folgendermaßen: »Wie du ein Kind warest, da war das alles schön und gut; jetzt da du groß bist, und wie ein junges Rosenknöspchen aufzugehen anfangst; jetzt taugst du zu was besserm; eine Rose ist nur dazu da, dass man sie pflücke, und die Rosen von deiner Art haben das besondere, dass sie nur desto schöner blühen, wenn sie gepflügt sind« (DS, 283). Entgegen der von der Kupplerin verhüllt angefachten »Flammen, die bloß durch die Schönheit oder ein beydseitiges Bedürfnis angezündet und durch die Begierden unterhalten werden« (DS, 307), die in der Sichtweise Don Eugenios lediglich dazu führen, dass »die Rose« (DS, 309) »allerley Ungeziefer um sich her sumsen lassen muß« (DS, 309), präferiert er die »wahre Liebe, die sich auf ein geheimes Verständniß der Herzen gründet, und mit gegenseitiger Hochachtung verbunden ist« (DS, 307), die wiederum nur durch das Eheglück abgesichert werden kann. Als Donna Felicia des unter einem »Rosengebüsch« (DS, 163) schlummernden Don Sylvio erstmals gewahr wird, beginnt sie als Rosenliebhaberin, »etliche Rosen zu brechen« (DS, 163), während sie sich in ihn verliebt. Das irdische Glück findet sich am Ende des Don Sylvio in der Hochzeitsfeier zwischen Donna Felicia und Don Sylvio, zwischen Don Eugenio und Hyacinthe alias Donna Seraphina von Rosalva und zwischen Pedrillo und Laura. Damit erweist sich das Rosenmotiv im Verbund mit der Erkenntnis der richtigen Liebe und der Einwilligung in sie mittels des Ehebundes auch im Don Sylvio als maßgebend. Im Sinne von Pedrillos’ Ansicht, dass es »doch immer besser unter Christen-Menschen zu leben [ist], als unter solchem Zaubervolk« (DS, 429), lässt sich differenzierter belegen, dass der Don Sylvio zwar schon als Satire auf Wielands eigene religiöse Schwärmerei gelesen werden kann, gleichwohl im
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Seele und ihr Aufschwingen zu höheren Sphären wird in der Natur der Dinge entsprechend als Aufgehen des »Rosenknopf[s]« (ND, 227) bis zur »volle[n] Rose« (ND, 227) beschrieben. Araspes aufdringlicher Gewaltversuch an Panthea soll seinem Wunsch gemäß auf einer »blumige[n] Bank« (AP, 375) stattfinden, wobei das Ringen mit ihr letztlich doch auf »zerknickten Blumen« (AP, 381) geschieht, bis ihm schließlich nach seinem misslungenen Annäherungsversuch das Gras zu »Dornen« (AP, 377) wird. Die exemplarisch aufgezeigten Passagen, v.a. die Badeszene, zeigen einen deutlichen Bezug zur Thematik und Bildwahl des Wettgesangs der Sklavinnen: Hier wie dort droht der an das Hohelied83 erinnernden paradiesischen Idylle, die an die Treue der »schönen Rose« Panthea gegenüber Abradates erinnert, die Zerstörung durch den Eintritt der »Schlange« (AP, 325, 365) Araspes, in der sowohl Zelis als auch Mandane den schmeichelnden Betrüger sehen. Das Hohelied, das generell neben vielen anderen Deutungsvarianten auch schlicht als Verherrlichung der ehelichen Liebe interpretiert werden kann,84 wird in diesem Kontext in Araspes und Panthea nicht nur zur Anzeige des Eheglücks von Panthea und Abradates und ihrer schmerzlichen Trennung alludiert, sondern parallel zur Problematisierung von Araspes’ unstattlicher Annäherung an Panthea herangezogen: Bezug genommen wird generell auf den anmutigen Rahmen in der Natur, wie im ›Lied der Lieder‹ entfaltet, der sowohl bei Scheristanys Schilderung der Liebe als auch bei Pantheas zeitweise ungestörtem Baden sowie bei Araspes’ eingebildetem Liebesglück geschildert wird. Die wahre Liebe vermag, dass »die Schönen blüh’n« (ND, 201). Hierbei wird die liebende Frau als »Blume«85 wegen ihrer reinen Schönheit betitelt, die den Liebhaber vornehmlich mit den Augen »bezaubert«86 (vgl. AP, 201, 275, 276), aber freilich auch mit ihrer schönen Erscheinungsform. Panthea ist wie die Liebende im Hohenlied liebeskrank,87 weil auf der Suche nach ihrem Geliebten, Abradates. In Bezug auf Araspes wird das Motiv des Fliehens und der Liebeskrankheit nun ironisch variiert, weil sich Panthea gerade nicht auf der Suche nach ihm befindet – dem ohnehin unablässig zur Flucht Eheglück wiederum wesentliche Elemente des Enthusiasten integrierbar sind. Von daher sind v.a. die schillernden, weil teilweise durchaus positiv konnotierten Bezugnahmen auf das Sympathiekonzept zu berücksichtigen (vgl. DS, 252 / 253, 257, 263), die dann Verwendung finden, wenn es sich um eine authentische Liebesanwandlung handelt. 83 Ermatinger erinnert »der Schmelz und Glanz der Sprache« (Ermatinger, Die Weltanschauung des jungen Wieland, 153) bereits an das Hohelied. 84 vgl. Die Bibel, Gen 2, 24. 85 Die Bibel, Hohelied 2, 1 [im Folgenden mit Hld. angezeigt]. 86 Hld. 4, 9. 87 Hld. 2, 5; 5, 8.
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vor seiner leidenschaftlichen Liebe geraten wird – sondern selbst die Flucht vor dem nicht ernsthaft Liebenden, weil unmäßig Liebeskranken ergreifen muss, womit wiederum die schillernden Abschlussworte des Hohenliedes »Fort, fort, mein Geliebter«88 gemäß dem sensus litteralis direkt auf ihn gemünzt werden können, wie dies u. a. Arasambes auch artikuliert: »Fliehe, fliehe, mein Freund! Fliehe diese allzu reitzende Schöne« (AP, 303).89 An die paradiesische Vorzeit der Menschen erinnernd, findet die Liebesbegegnung des Hohenliedes im »verschlossene[n] Garten«90 unter einem »Apfelbaum«91 statt, die, wie gesagt, durch den Verführungsversuch der »Schlange« (AP, 325, 365) gestört würde: »Die keusche Liebe, die süße Quelle92 des häuslichen Glücks, würde zum thierischen Bedürfnis eines Augenblicks erniedriget« (AP, 353). So wie im Hohenlied der Vergleich zwischen dem »Riß eines Granatapfels«93 und der »Schläfe hinter dem Schleier«94 der Schönen gezogen wird, ist es bereits für Araspes eine Überschreitung des Erlaubten, wenn er nach Pantheas Zerreißen ihres Schleiers den Anblick der »schöne[n] Bildung und blendende[n] Weiße ihres Halses und ihrer Arme« (AP, 190) genießt.95 Des Weiteren erfährt die Schöne des Hohenliedes wie Panthea bezeichnenderweise Gewalt von »Wächtern«96. Wörtlich genommen basiert das Eheglück im Hohenlied nicht nur auf geistiger Seelenverwandtschaft, sondern v.a. auf der unablässig gegenseitig versicherten sinnlichen Schönheit von sponsa und sponsus, womit der Körperlichkeit des Menschen also ihr Recht eingeräumt wird, ohne in einen oberflächlichen Sensualismus verfallen zu müssen – eben diese Sichtweise könnte Wieland als alternative Synthese für seinen Leib-Seele-Dualismus im Sinn ha88
Hld. 8, 14. Erhart sieht hingegen im Hinweis auf die Flucht ein Plädoyer für eine »Strategie der Affektvermeidung« (Erhart, Entzweiung und Selbstaufklärung, 55), ohne das Potential der ›utopischen ordo‹ des Hohenliedes zu würdigen. 90 Hld. 4, 12. 91 Hld. 2, 3; 8, 5. 92 Im Hohenlied wird die Liebende öfters als »Quelle« (Hld. 4, 12; 4, 15) des Gartens, also des Eheglücks beschrieben. 93 Hld. 4, 3; 6, 7. 94 Hld. 4, 3; 6, 7. 95 Ähnlich wird Pedrillos Zuneigung zur schönen Teresilla durch den »Eindruck, den die Rosen und Lilien ihres verjüngten Gesichts« (DS, 202) auf ihn machen, eingeleitet, die nach der Entledigung ihres Halstuches – vergleichbar mit Araspes – so zunimmt, dass »seine Leidenschaft, mit Überhüpfung aller Grade, wodurch eine platonische Liebe unvermerkt fortzuschleichen pflegt, auf einmal so hoch [ist], daß die schöne Teresilla, so groß auch immer ihr Vertrauen auf die Stärke ihrer Tugend seyn mochte, gar bald Ursache bekam, sich in eigner Gefahr zu glauben« (DS, 202). 96 Hld. 5, 7. 89
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ben.97 Während der Einsatz für die Gesellschaft freilich ein säkulares Tugendprogramm in Aussicht stellt, ist der Lobpreis des Eheglücks jedoch mittels leicht erkennbarer Bezugnahme auf die Cantica canticorum ansatzweise religiös fundiert,98 da die Schönheit der Natur nicht nur als Spiegel der inneren Befindlichkeit der Protagonisten fungiert, sondern physikotheologisch gedeutet im Mikrokosmos des Eheglücks die Harmonie im Makrokosmos durchscheinen lässt. In der Natur der Dinge wird das Eheglück eine Stufe unter des Seraphen »Himmelslust« (ND, 255) angesiedelt, da diese süßer sei als die langdauernde »Lust so himmlisch sie auch ist, / Die in zwey zärtlichen vereinten Herzen fließt« (ND, 255). An anderer Stelle finden sich ebenfalls wohlwollende Töne, die das Eheglück zumindest auf Erden favorisiert: Das Band, wodurch schon hier auf dieser düstern Erden, Ein tugendhaftes Paar kann paradiesisch werden, [ . . . ] [Die Liebe!] voll Zärtlichkeit knüpft sie ein gleiches Paar Fest an die Tugend an; was jedem eigen war, Ist jetzt des andern Gut, eins wird aus zweyen Herzen. (ND, 191)
Freilich kann man nun im Hinblick auf Araspes und Panthea von einer Wandlung des lehrhaften Gehalts des Lehrgedichts zur »Wiedergabe menschlicher Wirklichkeit«99 sprechen, doch ist diese Wirklichkeit wieder geprägt von einem Leib-Seele-Dualismus, der gerade in der »Zwitterform von Drama und philosophischem Dialog«100, im »formalen Experiment«101 eines ›Dialogromans‹102 eine adäquate Ausdrucksform findet, zumal weder der Subjektivität eines Stürmers und Drängers noch einer rein platonischen Liebeskonzeption der Vorzug gegeben wird: Wielands inhaltlichem »Sowohl-Als-Auch«103, da er 97 Vgl. zu Wielands Interesse (in seinen Schweizer Jahren im Umfeld seiner Sympathien-Schrift) an den Mystikern, für welche das Hohelied ein zentraler Text ist: Jørgensen u. a. (Hgg.), Christoph Martin Wieland, 37 – 38. 98 Dick sieht in der Leidenschaft des Araspes eine »passive Unfreiheit« (Dick, »Wandlungen des Menschenbildes beim jungen Wieland«, 164) gemäß stoischem Denken, weswegen seine Krankheit auch nur durch die »Korrektur der falschen Meinungen« (Dick, »Wandlungen des Menschenbildes beim jungen Wieland«, 164) behoben werden könne. Er betont von daher Wielands säkulare Sichtweise wegen der ins Zentrum gestellten natürlichen »Unberechenbarkeit des Lebens« (Dick, »Wandlungen des Menschenbildes beim jungen Wieland«, 64), was richtig ist, aber die parallel entfaltete religiöse Fundierung des Eheglücks nicht genügend berücksichtigt. 99 Dick, »Wandlungen des Menschenbildes beim jungen Wieland«, 164. 100 Entgegen Ermatinger, Die Weltanschauung des jungen Wieland, 152. 101 Andrejs Petrowski, Weltverschlinger, Manipulatoren und Schwärmer. Problematische Individualität in der Literatur des späten 18. Jahrhunderts, Heidelberg 2002, 243. 102 Vgl. Heinz (Hg.), Wieland-Handbuch, 250. 103 Dick, »Wandlungen des Menschenbildes beim jungen Wieland«, 165.
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nur weitere, gleichermaßen anerkannte Lösungsmöglichkeiten der Integration der geistigen Liebe in die Bejahung der Sinnlichkeit des Menschen aufzeigt, entspricht damit die Form des Dialogs. Insofern kann Araspes und Panthea als »Grenzstein und Bindeglied«104 oder »Übergangsstellung«105 zwischen Wielands frühen Schriften und seinen nachfolgenden, v. a. den großen Romanen, wahrgenommen werden. Vorerst wird in Araspes und Panthea die rein vergeistigte Liebe problematisiert und disqualifiziert, die allzu sinnliche Liebe eine Stufe ›abgekühlt‹, und schlussendlich rücken eine Art altruistische Vaterlandsliebe sowie das Eheband eine Stufe hinauf, so dass nunmehr gilt: »Dem Freund der Tugend nur strömt mit der Seelenruh / Sogar die Sinnenlust ganz rein und lauter zu« (ND, 259). Die von McCarthy eruierte Forschungstendenz, gemäß welcher Wieland eine »totale Hinwendung zur diesseitigen Sinnlichkeit«106 praktiziere, ist demnach fragwürdig. Obgleich dem übersteigerten Phantasten Araspes, der unweigerlich von sinnlicher Begierde übermannt wird und in Folge davon die platonische Liebe und Tugend verwirft, eine natürliche Menschlichkeit nicht abgesprochen wird, negiert Wieland den unpraktikablen Enthusiasmus des Seraphen nicht gänzlich zugunsten einer unkontrollierten, heißblütigen Liebeskonzeption. Vielmehr zeigt sich das Bestreben, den verzeihlichen Fehltritt des Araspes aufgrund seiner egoistischen Liebeseinstellung durch die Hingabe an eine altruistische Liebe im Dienste des Herrschers zu revidieren. Araspes trägt dabei bereits typische Züge eines Stürmers und Drängers, ohne aber dessen subjektivistischer Herz-Zentrierung zu erliegen.107 In empfindsamer Manier soll die Vernunft die Übermacht des Herzens regulieren und wieder in Einklang mit sich bringen. Araspes’ Korrumpierung platonischer Liebesvokabeln offenbart dabei zunächst einen »Zusammenbruch der empfindsamen Kommunikationsideale«108. Dass eine ›Herz-Kopf-Balance‹ zuletzt doch angestrebt 104
Ermatinger, Die Weltanschauung des jungen Wieland, 155. Dick, »Wandlungen des Menschenbildes beim jungen Wieland«, 165. 106 McCarthy, »Wielands Metamorphose«, 150. McCarthy schlussfolgert mit Blick auf die Comischen Erzählungen hingegen äußerst treffend, dass der platonische Idealismus dort zwar geläutert werde, aber als integraler Bestandteil der »Doppelseitigkeit der menschlichen Natur« (McCarthy, »Wielands Metamorphose«, 166 – 167) als eines der bestimmenden Lebensprinzipien für Wieland unersetzlich bleibe. Vgl. zu McCarthy: Horst Thomé, »Probleme und Tendenzen der Wielandforschung 1974 – 1978«, Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 23 (1979), 492 – 513, hier 494. 107 Wieland nimmt so zwar die schrankenlose »Subjektivität« (Dick, »Wandlungen des Menschenbildes beim jungen Wieland«, 164) des Sturm und Drang vorweg, bleibt aber gerade nicht bei einer »Rechtfertigung der Neigungen und Begierden« (Dick, »Wandlungen des Menschenbildes beim jungen Wieland«, 159) stehen, wie es Dick nahe legt (vgl. Erhart, Entzweiung und Selbstaufklärung, 48). 108 Erhart, Entzweiung und Selbstaufklärung, 54. 105
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werden kann, verbürgt Pantheas Standhaltevermögen gegenüber Araspes’ Verführungsversuch in Kombination mit Cyrus’ rechtzeitigem Eingreifen. Parallel zu der im Zentrum des Geschehens stehenden Araspes-Handlung, die von der Forschungsliteratur allein Beachtung findet, zeigt sich mit Blick auf die eingewobene Hohelied-Sprache ein von Arasambes aufgestelltes, von Panthea am eigenen Leibe praktiziertes Eheleben-Modell, das interessanterweise im Vergleich zur Natur der Dinge eine Aufwertung erfährt, da es gleichsam die Harmonie des Kosmos im Kleinen auf Erden zu spiegeln vermag: Damit wird die in Die Natur der Dinge vom Begeisterten intendierte Entdeckung der ›neuen Welt‹ jenseits der Wirklichkeit mittels Konkretisierung des sympathetischen Liebesbandes zum Eheband ins Diesseits verlagert und ein paradiesische Züge tragendes Zusammenstimmen von Leib und Seele, Herz und Kopf, die als dualistische Grundpfeiler des Menschen weiterhin anerkannt werden, vorgestellt. Dabei tritt der metaphysisch-religiöse Rahmen der Natur der Dinge allerdings in den Hintergrund, ist aber mit Blick auf die Fundierung der Ehekonzeption noch nicht gänzlich säkularisiert. Thomé weist anschaulich darauf hin, dass Wielands Thematik des Frühwerks im Sinne einer »Weiterführung moralischer Positionen«109 fortwirkt, der literarische Formwandel bis zum Roman sich aber aus dem »Wandel der Begründungszusammenhänge«110 ergibt, da nicht mehr vorwiegend deduktiv im Rahmen der Metaphysik, sondern empirisch, psychologisch argumentiert wird. Ähnliche, die Ehe umschreibende und sie empfehlende Motive finden sich im Don Sylvio.111 In gewisser Weise kann ferner Die Geschichte des Agathon als Fortschreibung von Araspes und Panthea gesehen werden.112 Denn im »Vor109
Thomé, Roman und Naturwissenschaft, 497 / 498. Thomé, Roman und Naturwissenschaft, 497 / 498. 111 Hacker liefert bereits erste Ansätze zur Interpretation des Don Sylvio in Kombination mit Wielands Kritik an seiner eigenen seraphischen Phase (Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, 106), indem Don Sylvio als weiteres Beispiel für die »Heilung eines Schwärmers« (Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, 105) herangezogen wird. Der dort beobachtbare Prozess der Realisierung, im Zeichen der ›anthropologischen Wende‹ und der ›Rehabilitierung der Sinnlichkeit‹ stehend, nehme das commercium mentis et corporis der Natur der Dinge weiterhin als Grundlage Ernst, der kausalen Erzählweise entspreche die Lückenlosigkeit der Chain of Being, die Idee der Perfektibilität werde in eine gesellschaftliche Stufenleiter integriert, zum Opfer fiele die Gottesinstanz als Bezugspunkt, weil abgelöst von der Natur, so Hackers Sichtweise (Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien, 105 – 109). 112 Im »Vorbericht« zu Araspes und Panthea heißt es, dass zeitgleich zu Araspes und Panthea »die Idee der Geschichte Agathons in seiner Seele lebendig zu werden anfing und sich nach und nach ausbildete, wiewohl (äußerer Umstände wegen) noch einige Jahre verfloßen, ehe er an die wirkliche Ausarbeitung derselben Hand anzulegen vermögend war« (AP, 184). Die Geschichte des Agathon wird vornehmlich als Wielands »Abrechnung mit dem eigenen Platonismus« (Heinz (Hg.), Wieland-Handbuch, 85) gelesen. 110
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bericht« zur Geschichte des Agathon formuliert Wieland wiederum die zentrale Frage nach der »Beschaffenheit des menschlichen Herzen« (AP, 5) unter noch eingehenderer Berücksichtigung der individuellen »Umstände« (GA, 5) des Protagonisten. In Form des Romans übernimmt nun explizit der »auktoriale Erzähler das multilaterale Geschäft der Wahrheitsfindung«113, die als »individuelle Leistung«114 zu bewerten ist. Wie in Araspes und Panthea ist das vorherrschende Thema eine ähnliche Lösungssuche hinsichtlich des Dualismus von reiner Geistigkeit und purer Sinnlichkeit. Fast wörtlich und in der Tradition des Araspes trägt der anfangs schwärmerisch veranlagte Agathon unermüdlich das metaphysische System der Natur der Dinge vor (vgl. GA, 25 / 26, 36 – 39, 53 – 55, 56 – 65, 219 ff., 240, 244 ff.) und gerät dabei in kritischer Auseinandersetzung mit seinem ihn herausfordernden, weil materialistisch-sophistisch argumentierenden Widersacher Hippias (vgl. GA, 43 – 47, 56 – 65, 76 – 108), der die schöne Danae als Verführerin auf ihn ansetzt, in einen »Tumult der Leidenschaften« (GA, 341). Gekoppelt an die Betonung der Aufrichtigkeit des Schwärmers (vgl. GA, 7) findet sich argumentativ wiederum die Notwendigkeit der Probe (vgl. GA, 10, 16, 118, 536): Agathon wird demnach aus der »Ruhe« (GA, 38, vgl. 207, 215 f., 297) seines in jungen Jahren genossenen, delphischen Lebens gerissen und mit der Liebe zu den »Wollüsten der Sinne« (GA, 46) konfrontiert. Die aus der Verbindung mit Danae und den Diskussionen mit Hippias resultierenden »Misshelligkeiten zwischen dem Kopf und dem Herzen« (GA, 372) veranlassen Agathon, die Frage nach einer harmonischen Vereinigungsmöglichkeit von Vernunft und Leidenschaft aufzuwerfen (vgl. GA, 147, 546). Mittels Demaskierung des »vermeinten Urbild[s]« Danae, die ihm anfangs als eine »himmlische Schönheit in einem irdischen Schleier« (GA, 159) erscheint – wenngleich das Urbild daraufhin zeitweise für ihn wieder durch die unerkannte Schwester Psyche verkörpert wird (vgl. GA, 494), bis ihn schlussendlich die »Gemälde« (GA, 590) wiederum an Danae erinnern –, entlarvt Agathon zunächst die »schlaue Buhlerin« (GA, 343), denn: Wegen seiner Liebe zu ihr habe er sich zum »Sclaven« (GA, 347) seiner selbst degradiert, da er einer »fiebrischen Hitze« (GA, 348) erlegen sei, wobei er egoistisch seine Pflichten vergaß (GA, 348) – so das zumindest selbstkritisch formulierte, dem des Araspes vergleichbare Fazit des Ausmaßes seiner Leidenschaft. »Die Schwäche des menschlichen Herzens« (GA, 359) ist – wie in Araspes und Panthea – als menschlich zu entschuldigen, da aus ihren Irrtümern gelernt werden kann (vgl. GA, 171) und man von der Erfahrung belehrt erkennt, »daß sich in der moralischen Welt, wie in der materialistischen, nichts in gerader Linie fortbewegt, und daß man selten anders als durch viele Krümmen und Wendun113 114
Thomé, Roman und Naturwissenschaft, 497 / 498. Thomé, Roman und Naturwissenschaft, 498.
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Gabriela Wacker
gen zu einem guten Zweck gelangen kann« (GA, 476; vgl. 470). Indirekt zeigt sich hierbei, dass weder der »tierische Materialismus« (GA, 369) noch die »geheimnisvolle Geister-Lehre« (GA, 369) mit Blick auf die Konstitution des Menschen einseitig verabsolutiert werden dürfen, zumal »der Enthusiasmus des Theosophen zwar unschädlicher als das System des Wollüstlings [ist]; aber der menschlichen Gesellschaft eben so unnützlich« (GA, 371). Selbst wenn sich also die platonischen Erziehungsmuster, die Agathon in früher Kindheit in den Hainen zu Delphi erfährt, in Konfrontation mit der Welt als unzulänglich, nicht lebbar und von daher lächerlich erweisen, haben sie gleichwohl »tiefe Wurzeln in seiner Seele geschlagen« (GA, 539), weswegen die geschmacklose, wenn auch realistischere Lebensphilosophie eines Hippias als ebenso unattraktiv erscheint, so dass im daraus resultierenden Schwanken Agathons (wie auch Danaes) zwischen Weltflucht und Weltsucht zumindest – wenn auch bezeichnenderweise wiederum in Form einer Utopie115 und der idealisierten Gestalt des Archytas in Tarent – die praktisch relativierten, weil von der Erfahrung angereicherten Jugendideale weiterhin fruchtbar gemacht werden. Als »Kenner der Geheimnisse der Natur« (GA, 558) und als »weißer Staatsmann« (GA, 558) stellt Archytas »etwas idealisches in dem Gemische von Majestät und Anmut« (GA, 562; vgl. 564) vor, das umso überzeugender wirkt, als es »in dem Gegenstande selbst« (GA, 563) ist. Die praktische, »nutzenbringende« Liebe verbürgt gemäß Archytas das vereinigende Band der Natur der Dinge: Archytas verband alle häuslichen und bürgerlichen Tugenden, mit dieser schönsten und göttlichen unter allen, welche sich auf keine andre Beziehung gründet, als das allgemeine Band, womit die Natur alle Wesen verknüpft. (GA, 566 / 567)
Mit Blick auf Archytas findet sich nicht nur ein Lob auf das wohltemperierte Zusammenleben im Staat (vgl. GA, 565), sondern wiederum auch – an die zwei Alternativen zum Liebestaumel in Araspes und Panthea erinnernd – auf das Glück des Familienlebens, das »als regelmäßiges und schönes Ganzes« (GA, 115 Hacker interpretiert die Natur der Dinge als »kosmologische Ordnungsutopie« (Hacker, Anthropologische und kosmologische Ordnungsutopien). In der Geschichte des Agathon findet sich zwar eine verheerende Kritik an einer solchen Art von Utopie (vgl. GA, 412), die allerdings nicht zwingend auf die Tarent-Utopie bezogen werden sollte. Der viel diskutierte »offene Schluss« mit seinen unterschiedlichen Romanschlüssen aufgrund der drei variierenden Fassungen (vgl. Heinz [Hg.], Wieland-Handbuch, 266 – 268) könnte im Sinne der »Leiter [ . . . ], an der das Ende fehlt« (ND, 101) an des Menschen uneingeschränktes Perfektibilitätspotential erinnern. Dass v. a. in der dritten Fassung eine Rückkehr zur metaphysischen Ordnung angezeigt wird, betont Wellbury zu Recht (David Wellbury, »Die Enden des Menschen. Anthropologie und Einbildungskraft im Bildungsroman (Wieland, Goethe, Novalis)«, in: Karl-Heinz Stierle; Rainer Warning (Hgg.), Das Ende. Figuren einer Denkform, München 1996, 600 – 639, hier 613). In Form einer utopischen Anders-Welt ist eine »providentielle Ordnung« impliziert (Joseph Vogl, Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, 2. Aufl., Zürich / Berlin 2004, 219).
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568) erscheint. Ferner wird die platonische Art zu lieben in die Freundesliebe bzw. Geschwisterliebe hinüber ›gerettet‹ (vgl. GA, 570 / 571).116 Wie gesehen, sind also sowohl die Natur der Dinge als auch Araspes und Panthea als ›Elementarbücher‹ für ein Verständnis der großen Romane Wielands – insbesondere für die Fundierung seiner Sympathielehre – unersetzlich. Der liebende Mensch ist im Anschluss an Die Natur der Dinge trotz mannigfaltiger Höhen und Tiefen stets der absolute »Mittelpunct« (GA, 545), zumindest in seiner »kleinen Welt« (GA, 45).117
116 Angestrebt wird generell eine ›mittlere Position‹ durch die Mäßigung gegensätzlicher Kräfte (vgl. GA, 371). Vgl. Peter Pütz: »Christoph Martin Wieland«, in: Benno von Wiese (Hg.): Deutsche Dichter des 18. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk, Berlin 1977, 340 – 370; vgl. Klaus Nolting, Die Kunst zu leben oder Die Natur weiß nichts von Idealen: eine Untersuchung zur Grundhaltung der Mäßigung in Werk und Leben Christoph Martin Wielands, Frankfurt am Main / Berlin u. a. 1995. 117 Die Vorstellung Gottes als des aus religiös-metaphysischer Sichtweise postulierten ›Mittelpunktes‹ ist damit relativiert, was sich u. a. an der säkularisierten Verwendung des ›Urbild‹-Begriffes nachweisen lässt.
Glück, Entfremdung, Wahnsinn Über die Brüder Eichendorff und das autobiographische Novellenfragment Das Wiedersehen Von Dietmar Kunisch I. Ein Herz und eine Seele Auf diese schöne Formel hat man sich geeinigt, um das Verhältnis der Brüder Joseph und Wilhelm von Eichendorff in ihrer gemeinsamen Jugendzeit bis zu der schmerzlichen Trennung im April 1813 zusammenfassend zu beschreiben. Diese glückliche, prägende Zeit mit ihren Wurzeln in der Heimat Lubowitz und seinem patriarchalisch-menschlichen Geist, der unkonventionelle Freundschaften gedeihen ließ, mit den gemeinsamen Schul- und Studienjahren, mit den Ferien als unbeschwerten »Jubelperioden«, mit den Reisen und zum Teil abenteuerlichen Fahrten, mit den lebensbestimmenden menschlichen Begegnungen ließe sich trefflich schildern; das würde aber – obwohl als Folie für alles Folgende unverzichtbar – den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. In den verfügbaren Monographien1 lässt sich das alles gut nachlesen – die dieser Zeit gewidmeten Kapitel sind meist, weil gut bezeugt, die gelungensten. Eins aber darf nicht außer Acht gelassen werden, weil es allgemein nicht so gesehen wird und als tragender Grund, als Vorbild und Inspiration wesentlich hierher gehört: der Freundschaftsenthusiasmus des 18. und frühen 19. Jahrhunderts mit seinem Höhenflug seit der »Empfindsamkeit«. Wilhelm Ludwig Gleim bringt dies in einem Brief an Ramler zum Ausdruck, wenn er schreibt: 1 Paul Stöcklein, Joseph von Eichendorff in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1963; Hermann Korte, Joseph von Eichendorff, Reinbek 2000; Günther Schiwy, Eichendorff. Der Dichter in seiner Zeit, München 2000; Hartwig Schultz, Joseph von Eichendorff. Eine Biographie, Frankfurt am Main 2007. Ergänzend wurde herangezogen: Hartwig Schultz: Schwarzer Schmetterling. Zwanzig Kapitel aus dem Leben des romantischen Dichters Clemens Brentano, Berlin 2002. Im übrigen wird zitiert aus: Sämtliche Werke des Freiherrn Joseph von Eichendorff, Historisch-Kritische Ausgabe, begr. Wilhelm Kosch und August Sauer, fortgef. Hermann Kunisch ({) und Helmut Koopman, zuletzt: Tübingen 1996 ff. (zitiert: HKA römische Bandzahl und Seitenzahl; wo noch keine Neubearbeitung vorliegt: HKA1 römische Bandzahl und Seitenzahl); Joseph von Eichendorff. Werke in sechs Bänden, hg. Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach und Hartwig Schultz, Frankfurt am Main 1985 – 1993 (zitiert: DKV Band-und Seitenzahl).
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»Was ist die Welt ohne Freunde? Eine Wüste Sinai« (1762), und Schiller erhebt das Freundschaftsideal in seiner Ballade Die Bürgschaft (1789) geradezu zum politischen Programm. Bekannt waren der Kreis um Gleim mit seinem Halberstädter ›Freundschaftstempel‹, die Brüder Stolberg, der Göttinger Hainbund, die Freundschaft zwischen Schiller und Goethe und den Brüdern Grimm, in der Malerei die ›Nazarener‹, um nur die bekanntesten zu nennen. Geprägt haben die Brüder Eichendorff zunächst die Erfahrungen im schwärmerisch-poetischen ›Eleusischen Bund‹ um den Grafen Loeben in Heidelberg und vor allem die Begegnung mit Arnim und Brentano in Berlin, deren Freundschaft in vielem, so etwa der gegenseitigen Anrede »Herzbruder«, vorbildlich wurde. Freunde sind Gleichgesinnte, mit deren Hilfe die eigenen Wertvorstellungen, Lebensauffassung und Weltsicht überhaupt erst Wirklichkeit werden können; sie sind vor allem Ursprung und Voraussetzung künstlerischen Schaffens.2 So schmieden Arnim und Brentano bereits 1803 den Plan zu einer gemeinsamen Sammlung eigener Gedichte, Lieder der Liederbrüder, sie verwirklichen (1805 – 1808) das einzigartige Des Knaben Wunderhorn als synthetisches Kunstwerk und hegen einen weiteren Plan zu einem ›Volksbücherprojekt‹ (1809). Wenn sie noch 1814 eng zusammenarbeiten (gegenseitiges Vorlesen, Besprechen, Korrigieren), so nennen sie das »Synpoetisieren«3 und genau das tun die Brüder Eichendorff auch, ganz im Sinne der Zeit. Das Tagebuch berichtet davon – Wilhelm hatte für beide im Garten von Lubowitz zwei Tische gezimmert – am 31. Mai 18104: »Diesen Monath: eben nicht sehr zeitig aufgestanden, bei den schönen Tagen mit allem Zubehör draußen geschrieben auf kleinen Holztischchen (Wilhelms Anlagen), wovon das eine unten in der Hasengartenlaube, das andere oben an dem einsamen Pfeiler errichtet war.« Dass sie auch in Wien in der gemeinsamen Stube dichteten – Joseph an Ahnung und Gegenwart, Wilhelm an einem Trauerspiel und einem Lustspiel – ist bekannt und bezeugt durch einen Brief Josephs vom 17. Dezember 1812 an Loeben. Man muss sich also die Brüderfreundschaft der Eichendorffs eingebettet denken in eine Grundströmung der Zeit, die sie getragen, inspiriert und dichterisch beflügelt hat, und so kann man auch hier mit einigem Recht sagen: sie waren ein Herz und eine Seele.
2 Harald Lemke, »Freundschaft als Thema, Ursprung und Gegenstand von Kunst«, Vortrag bei der Jahrestagung der Dt. Gesellschaft für Ästhetik, März 1996. Quelle: http://www. haraldlemke.de/texte/Lemke_Kunst_Freund.pdf (letzter Zugriff am 10. Februar 2010). 3 Schultz, Schwarzer Schmetterling (der Reihe nach): 96, 147 ff., 236 f., 154. 4 Schiwy, 305.
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II. Poetisches Prinzip und Realitätsprinzip Waren sie es wirklich? Oder genauer gefragt, inwieweit waren sie es? Auf der Ebene des gemeinsamen Lebens und Erlebens haben wir die Antwort bereits in wenigen Andeutungen gefunden. Aber auf der Ebene der Persönlichkeiten, der Charaktere noch nicht und da muss die Antwort lauten: nein, sie waren sehr unterschiedliche, teilweise geradezu entgegengesetzte Naturen. Nun findet man nirgendwo abgerundete Charakteristiken der beiden Brüder, und so können im Folgenden aus den Biographien, Briefen und Tagebüchern nur Einzelzüge zusammengetragen werden, die sich hoffentlich, bei spärlicher Quellenlage, halbwegs zu Lebensbildern runden, die die Überschrift dieses Kapitels verständlich machen. Zunächst zu Joseph: Alle Gesprächspartner, die ihm begegnet sind, beschreiben nicht einen Menschen, der »sich auf große Demonstrationen« einließ (Theodor von Schön) oder von besonderer geistiger Ausstrahlung war, sondern jemanden, von dem »eine Atmosphäre natürlicher Güte«, von »Heiterkeit« (Adolf Schöll), ja von »Reinheit« (Theodor von Schön; Karl Albert Schaeffer) ausging. Theodor Storm schildert seine persönlichen Eindrücke in einem Brief vom 24. Februar 1854 zusammenfassend: Er ist ein Mann mit mildem, liebenswürdigem Wesen, viel zu innerlich, um, was man gewöhnlich »vornehm« nennt, an sich zu haben. In seinen stillen blauen Augen liegt noch die ganze Romantik seiner wunderbar poetischen Welt.5
Ein unscheinbarer Zug mag diese ersten Eindrücke ergänzen: Die große Tierliebe des kleinen »Seppel« – so nannten die Eltern den Jungen –, und auch noch des Studenten, der in Wien winzige Zaunkönige und eine kleine giftlose Schlange als Stubenkameraden hielt.6 Als Kontrast dazu notierte ein Freund aus dem ›Eleusischen Bund‹ über den Bruder Wilhelm: »Die Rede war von Tierliebe und dem höheren Sinn der Freundschaft mit Tieren. Des Barons herrliche Bestialität.«7 Auch in der Liebe scheint Joseph eine natürliche, glückliche Art gehabt zu haben. Dies bezeugen die unschuldigen, jugendlich-seligen, auch schmerzlichen Beziehungen zu dem »Philippinchen« und der »kleinen „Morgenröthe« in Lubowitz und später in Heidelberg zum »Käthchen von Rohrbach«. Diese Mädchen waren alle blutjung, offenbar quicklebendig, voller Anmut, sehr lieb und liebenswert. Wenn Joseph über die »frühere sinnlichreizende mutwilligspielende Lebhaftigkeit« seiner jungen Braut Luise schreibt (Breslau 1816), so 5 6 7
Stöcklein, 144 f. Stöcklein, 46 und 101. Schiwy, 270.
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kennzeichnet er damit einen weiblichen Typus, dem er spontan sehr zugetan war. Aber es gibt auch eine andere Seite des Verhältnisses zu Frauen, die von Sinnlichkeit und kaum verdecktem Begehren geprägt ist, wie es einige frühe Gedichte bezeugen. So in der Jugendschwärmerei für die Breslauer Schauspielerin Amalia Schaffner und in der Beziehung zu der Choristin in Wien: »Sehr lieb. Am kleinen eisernen Ofen. Schwartze lange Haare aufgelöst.«8 Dass von Wilhelm, bis auf ein gemeinsames Abenteuer mit Madame Hahmann,9 nichts dergleichen überliefert ist, mag bezeichnend sein. Ein für Joseph wesentlicher Bereich muss noch angesprochen werden, in dem es offenbar keinen Gleichklang zwischen den Brüdern gab: die Religiosität. Aus Ahnung und Gegenwart kennen wir den Passus, in dem Friedrich von seiner Lektüre der Leidensgeschichte Jesu erzählt, mit der »eine neue Epoche, die entscheidende für mein ganzes Leben« begann, und er nicht begreifen konnte »wie mein Hofmeister und alle Leute im Hause [ . . . ] nicht ebenso gerührt waren und auf ihre alte Weise so ruhig fortleben konnten.«10 Paul Stöcklein hat die erste christliche Grundahnung ein »Urerlebnis« genannt und hinzugefügt, dass diese prägende Erfahrung »nicht gemeinschaftvertiefend« gewirkt habe;11 dies betrifft wohl auch das Verhältnis von Joseph und Wilhelm. Nicht ganz sicher ist, ob die Stelle über Friedrichs Bruder Rudolf in Ahnung und Gegenwart, dass er nicht ein einziges Mal zu einem Kirchenbesuch zu bewegen war, auch auf Wilhelm übertragen werden kann.12 Deutlich aber wird eine tiefe Skepsis gegenüber dem Wirken Gottes in seinem unten noch zu zitierenden Brief über die Gräuel des Krieges und darüber, dass Christus gekommen sei, »um das Schwert zu bringen«, wie sie für Joseph nicht denkbar ist. Eine kluge Charakterisierung Loebens mag diesen Zug verdeutlichen; er schreibt 1810 an Wilhelm: Schreibe, spiele, singe, dunkler, seltsamer Mensch, der, eigentlich ohne tiefe Andacht, dennoch seine Andacht hält, indem er [ . . . ] der Lieder viele und eigentümliche zu geben vermag.13
Gerade aber diese frühen Lieder, die fast ausnahmslos aus der Zeit der Freundschaft mit Loeben stammen, unterscheiden sich in einem wesentlichen Merkmal von denen Josephs, nämlich darin, »dass die religiöse Komponente in 8
Tb. vom 6. Dezember 1811; Korte, 20, Schiwy, 97. Vgl. selbst dazu deutlich einschränkend Schiwy, 206. 10 HKA III, 55. 11 Stöcklein, 34 f. 12 Obwohl der Kommentar zu Ahnung und Gegenwart in HKA III darauf hinweist, dass Friedrich (Joseph) und Rudolf (Wilhelm) Züge der Brüder Eichendorff tragen. 13 HKA1 XIII, 238. 9
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der Dichtung Wilhelms von Anfang an weniger Bedeutung hat: Es fehlt die für den Schlegel- und Loeben-Kreis bezeichnende Marien-Lyrik. Nur wenige Gedichte tendieren zur religiösen Lyrik; Wallfahrt und Kreuzrittertum sind fast immer Metaphern für eine Lebensfahrt, die sich nicht an den Normen der christlichen Kirche orientiert.«14 Als ein Beispiel seien die Schlusszeilen aus Wilhelms letztem Gedicht an seinen Bruder (dem einzigen überlieferten), seiner endgültigen Absage an die Poesie von etwa 1819,15 angeführt: Grüße unsres Kampfs Genossen; Ihnen auf den Flügelrossen Reich’ ich meines Grams Gedicht! Ob in diesem ew’gen Wehe Ich verderbend untergehe, Ob ich siegend auferstehe, Gott, ich weiß es selber nicht!
Bei manchem Rhetorischen, Formelhaften, irgendwie entlehnt Wirkenden dieser Verse ist doch vor allem die letzte Zeile verräterisch und ganz anders als die häufigen Schlussformeln in Josephs Gedichten. Gott wird hier angerufen, aber nur noch als bloße Requisite, beinahe umgangssprachlich und leer. Ihm tritt ein Ich gegenüber, das bei allem Weh doch irgendwie allein zurechtzukommen scheint. Hätte der Verfasser Joseph statt Gott angesprochen – wenn es denn vom Metrum her sich hätte einrichten lassen – wie glaubhaft, wie persönlich berührt und berührend würde dieser Schluss gewirkt haben. Eine Hommage an einen Bruder, der in seinem gesamten Werk einem Glauben Ausdruck verliehen hat, den man wiederfinden kann, wenn man den Träumen seiner Kindheit die Treue hält16, dem das eigentlich Unmögliche gelungen ist, die fast reine Substanz von Religion durch seine Kunst zu bewahren und zu verklären. Die Biographen sind sich einig, dass der 5. April 1813 ein Schicksalstag für die Brüder war. Noch nie waren die Unterschiede der beiden so deutlich hervorgetreten wie bei ihrer ersten und im Grunde endgültigen Trennung.17 Wilhelm tut das, was die Realität erforderte und was bei der inzwischen hoffnungslosen finanziellen Lage des elterlichen Besitzes das einzig Richtige war: er bleibt in Wien und bemüht sich durch Adam Müllers Vermittlung um eine Stelle im Österreichischen Staatsdienst. Seine erste Aufgabe war, von Trient aus die Verbindung zwischen dem Tiroler Landesoberkommissär von Roschmann und dem bei der Österreichischen Armee befindlichen Hoflager 14 15 16 17
DKV 1, 1148. Text: DKV 1, 578; zur fraglichen Datierung um 1831 siehe DKV 1, 1162 f. Vgl. Rüdiger Safranski, Romantik. Eine deutsche Affäre, München 2007, 213. Korte, 57.
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durch äußerst strapaziöse Kurierfahrten aufrechtzuerhalten. Er begann damit eine erfolgreiche Beamtenlaufbahn, die ihn bis zu der Stelle eines Kreishauptmanns von Trient führte.18 Zwei Gewissheiten, die er aus diesen ersten beruflichen Erfahrungen gewann, hat Hermann Korte hervorgehoben.19 Einmal wird ihm klar, dass ihm Josephs völlig entgegengesetzte Entscheidung im Kern unverständlich blieb, »denn das Leben wird geradenach, besonders zu itziger Zeit so ernsthaft, dass man mit (einem poetisch orientierten Leben) unendlich unglücklich wird«, wie er zu der Erziehung seiner Schwester Louise bemerkt.20 Zum anderen erfährt er den Krieg, ganz realistisch und wiederum im Gegensatz zu Joseph, als einziges Desaster und beschreibt den »fürchterlichen Eindruck«, als er auf dem Wege nach Paris »die schwarzen stinkenden ganz nackten Leichname bei Troyes . . . im Chausseegraben liegen fand«. Er fährt fort, seine radikale Ablehnung des Krieges auch theologisch zu erläutern: Überhaupt, um zu wissen, was der Krieg sei, muss man im Nachtrab der Armee auf eben verlassenen Schlachtfeldern sein. Wer es gesehn hat, wird bekennen, Christus habe den Frieden gepredigt, wenn er auch gekommen ist, um das Schwert zu bringen.21
Ganz anders Joseph: er zieht in den Krieg und schließt sich, ohne Geld etwa für eine Cavallerieausrüstung, mit seinem Freund Philipp Veit am 29. April dem Lützowschen Freikorps an, mit dem vergeblichen Wunsch, sich in einer Schlacht auszuzeichnen. Vergleicht man dies mit dem Realismus, mit dem Wilhelm bemüht ist, sein Leben zu ordnen, so wird es unverständlich erscheinen, um so mehr, als Joseph in den Augen seiner Kriegsgefährten als »ein lieber Kamerad« galt, »der aber nach seiner träumerischen, sanften Art für das rauhe Kriegshandwerk nicht geschaffen scheint.«22 Setzt man es aber in Bezug zu der geschichtlichen Situation in Preußen – der vernichtenden Niederlage am 14. Oktober 1806 bei Jena und Auerstedt, dem erniedrigenden Friedensschluss am 9. Juli 1807 von Tilsit, dem darauf einsetzenden großartigen Aufbruch in den Stein-Hardenbergschen Reformen, zu denen selbst ein Verfassungsversprechen Friedrich Wilhelms III. (1810) gehörte – so wird man den Enthusiasmus verstehen, mit dem gerade die Lützower freiwillig in diesen »Volkskrieg« zogen. Alle Entzückungen, Schrecken und Schmertzen eines ganzen Jahrhunderts drangen auf mich ein und übertaumelten mich und ich konnte nur als ein Trunkener mit dem gewaltigen Strome dahinbrausen [ . . . ], 18 Franz Schumacher, »Wilhelm Freiherr von Eichendorff«, Aurora 5 (1935), 58 – 73; Christine Schodrok, »Wilhelm von Eichendorff, des Dichters Bruder«, Aurora 26 (1966), 7 – 21. 19 Korte, 57 f. 20 HKA1 XIII, 253. 21 HKA1 XIII, 28. 22 Schiwy, 354.
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so beschreibt Joseph in geschichtspoetischen Metaphern »diese grandiose Völker-Poesie« des Krieges. Wenn er, nach dem ersten Sieg über Napoleon, im April 1814 von einem »Frühlinge [ . . . ] der Jahrhunderte« spricht, so drückt sich darin eine grenzenlose Begeisterung aus, der aber ein ernster Idealismus innewohnt: Gott hat uns ein Vaterland wiedergeschenkt, es ist nun an uns, dasselbe treu und rüstig zu behüten und endlich eine Nation zu werden, die unter Wunden erwachsen und von großen Erinnerungen lebend, solcher großen Gnade des Herren und der eignen kräftigen Tiefe sich würdig beweise.23
Wir haben nun schon mehrfach vergleichend von Wilhelm gesprochen; es müssen aber noch einige Züge seiner Gestalt hinzugefügt werden, die nur scheinbar allein ihn betreffen. Er ist wohl, dies nur eine Randbemerkung, in manchem der bessere Schüler und Student gewesen. Nach Franz Heiduk erlangt Joseph bei einem ersten Studienabschluss, der »Philosophischen Promotion«, den Grad eines Bakkalaureus, während sein Bruder, dessen Auszeichnung »neidische Ärgerniß« verursachte, die höhere akademische Stufe eines Licentiaten erreichte.24 Auch als Beamter scheint er insgesamt glücklicher agiert zu haben als sein Bruder. Immerhin gelang ihm schon 1820 ein kleines juristisches Meisterstück, wie es aus Josephs Beamtenzeit nicht berichtet wird. Ein neues Militärgesetz sollte für Tirol eingeführt werden, und man übertrug Wilhelm die Ausarbeitung des Gesetzesvorschlags. In drei Monaten verfasst er eine zweihundert Seiten starke Vorlage, die er selbst in der Ratsversammlung vortragen musste. Danach »hatte ich den für Beamte untergeordneter Kategorie vielleicht seltenen Trost, dass ein einstimmiges Bravo ertönte. Diese Arbeit setzte mich seitdem in einigen Kredit bei den übrigen Beamten.«25 Ganz anders als der zurückhaltende, allerdings von wichtigen Begegnungen tiefer berührte Joseph, wird Wilhelm allenthalben »ein unbestrittenes Talent für Unterhaltung« bescheinigt. Er entwickelte sich schon bald zu einem glänzenden Sänger und Gitarristen, der von gesellschaftlichen Erfolgen verwöhnt wird.26 Gerne zitiert wird eine Szene aus Innsbruck vom Herbst 1815, die der Arzt Hermann Friedländer erzählt: Philipp [Veit] hat hier einen Freund wiedergefunden, den Baron von E., dessen Gesellschaft unsere Tage hier zu den heitersten und schönsten macht, die wir jemals genossen. [ . . . ] Und dann die herrlichen Abende bei E.! Er wohnt unmittelbar am Inn, den 23 24 25 26
HKA XII, 27 ff. und 45. Korte, 20 und Anm. 30. HKA1 XIII, 99. Stöcklein, 49.
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höchsten Bergmassen gegenüber [ . . . ] Gern sehe ich dort hinan, indeß E. seine schönen Romanzen zur Guitarre singt, vom geheimnisvollen Rauschen des Flusses begleitet.27
Zum Schluss nun noch ein Merkmal in Wilhelms Charakter, das wie weniges bestimmend war und den leitenden Gedanken dieses Kapitels bestätigt: den grundlegenden Gegensatz im Wesen der Brüder. Glücklicherweise haben wir hierzu einige authentische Zeugnisse. In einem späten autobiographischen Entwurf (1853) schreibt der alte Dichter: »Mein stets heiterer Gegensatz gegen den verständigeren, kälteren Wilhelm, der etwas Tragisches hatte, noch dadurch vermehrt, dass er, eben deshalb, weniger beliebt war als ich.«28 Die Schwester Louise bestätigt dies in einem ebenfalls späten Brief an den Neffen Hermann (1858): »Wenn die Brüder bestraft werden sollten, soll Dein Vater um Verzeihung gebeten, geweint und Besserung versprochen haben, während sein Bruder Wilhelm stumm und starr blieb, tagelang keinen Bissen aß und durch nichts zur Abbitte zu bewegen war.«29 Und auch Wilhelm kennt diese emotionale Kälte an sich, wenn er versichert: »meine Augen sind eben nicht übervoll, um gewöhnlich Tränen zu vergießen«.30 Schließlich noch ein frühes Zeugnis aus Ahnung und Gegenwart; Friedrich sagt über seinen Bruder Rudolf: »Da er wenig lernte und noch weniger gehorchte, wurde er kalt und übel behandelt. Oft wurde ich ihm als Muster vorgestellt, und dies war mein größter und tiefster Schmerz, den ich damals hatte, denn ich liebte ihn unaussprechlich.«31 Im Roman werden die Brüder getrennt und sehen sich erst spät wieder. Den tiefen Eindruck dieses Wiedersehens fasst Friedrich in die Worte: »O, mein lieber Bruder, [ . . . ] so habe ich dich denn wirklich wieder! Ich habe dich immer geliebt. Und als ich dann größer wurde und die Welt immer kleiner und enger, und alles so wunderlos und zahm, wie oft hab’ ich da an dich zurückgedacht und mich nach deinem wunderbaren härteren Wesen gesehnt.«32 Wir rühren hier an das eigentliche Geheimnis des Verhältnisses der Brüder Joseph und Wilhelm von Eichendorff. Trotz oder, das kann man jetzt schon sagen, gerade wegen ihrer in vielem grundlegenden Gegensätzlichkeit verbindet sie doch durch die überaus glückliche Jugendzeit hindurch eine tiefverwurzelte innere Zugehörigkeit und Liebe. Wilhelm, mit seinem »kälteren« Sinn für das Reale, hat dabei die leitende, selbst das Tägliche des gemeinsamen Lebens 27 28 29 30 31 32
Stöcklein, 99 f., Schiwy, 385 f. HKA V / 4, 84. HKA V / 4, 348. HKA1 XIII, 44. HKA III, 47. HKA III, 288.
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bestimmende Rolle übernommen: »Wilhelm innerlich mit dem Commandostab«;33 Joseph, mit seinem »milderen«, poetischen Wesen, sozusagen als Erlebnisträger, die emotionale Tiefe dieser Brüder-Freundschaft hinzugefügt.
III. Eine symbiotische Beziehung Zu diesem Kapitel habe ich bei einer ganzen Reihe von Psychologen der verschiedensten Fachbereiche angefragt und folgende Auskunft erhalten: auch in der Fachwelt wird der Begriff Symbiose nicht anders als umgangssprachlich gebraucht, und so fehlt, bis auf Untersuchungen zu Mutter-Kind-Beziehungen, eine irgendwie zitierbare Theorie. Allerdings, und das liegt ganz in der Linie dieser Untersuchung, gilt sie als eine in ihrer Intensität besonders erstrebenswerte, produktive, gelingende Form der Beziehung von Geschwistern, Freunden / innen und in der Ehe. Als problematisch wird nur ihr fast unumgängliches Ende angesehen; doch davon später.34 Wir befinden uns ja ohnehin in einer Zeit der Anfänge von Psychologie; einer Zeit, in der sie noch unter dem humanen Begriff ›Erfahrungsseelenkunde‹ gelehrt wurde. Daran, ganz im unmittelbaren schönen Wortsinn verstanden, wollen wir uns halten, da es ja um eine lebendige Brüderfreundschaft geht und um einen literarischen Text, der davon handelt.35 Zeugnisse unverbrüchlicher Liebe und Treue zwischen Freunden, Brüdern und Liebenden reichen weit zurück in die abendländische Tradition. Vertraut war z. B. lange Zeit Homers Schilderung der Freundschaftstreue zwischen Achill und Patroklos in der Ilias, wie Achill unter Einsatz des eigenen Lebens den Tod seines Freundes an Hektor rächte und dessen Leichnam um Patroklos’ Grabhügel schleifte. Bis heute lebendig geblieben ist die schöne mythische Geschichte von dem alten Liebespaar Philemon und Baucis, die, obwohl arm, als einzige den verkleideten Göttern Zeus und Hermes Gastfreundschaft gewährten. Als Dank wurden sie zu Priestern in einem goldenen Tempel bestellt und ihr Liebeswunsch erfüllt, sich nie trennen zu müssen, so dass sie zusammen sterben konnten. Diese heutige Vertrautheit gilt besonders auch für den Mythos um Castor und Pollux, den Zwillingsbrüdern, die als Söhne des Zeus ›Dioskuren‹ genannt wurden. Auch hier zur Erinnerung: nach dem Tod Castors ließ Zeus auf Bitten des unsterblichen Pollux zu, dass beide innig-verbun33
Tb. vom 9. März 1807. Unter den Befragten sei stellvertretend Michael von Rad genannt, der am einleuchtendsten geantwortet hat. 35 Zumal auch den beiden Eichendorffs bei ihren frühen Studien in Breslau und Halle solche Erfahrungslehren vermittelt worden sind (Korte, 18; Schiwy, 162). 34
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denen Brüder zusammenbleiben durften und nun abwechselnd einen Tag im Olymp und einen Tag in der Unterwelt leben konnten. Dies ist bis heute sprichwörtlich geblieben, und so wundert es nicht, dass, als Beispiel, Arnim seinem Freund Brentano ein Gedicht widmete, das Kastor an Pollux überschrieben ist.36 Um bei diesen Freunden zu bleiben, sei aus einem Brief Brentanos zitiert, der von der Erinnerung an das gemeinsame, intensiv empfundene Schlüsselerlebnis einer kurzen Rheinreise inspiriert ist. Brentano schreibt an Arnim, der sich auf einer Kavalierstour durch Europa befindet: »Ich hätte eigentlich mit dir reisen sollen, es reißt sich gut mit uns, und ich liebe wenige Menschen so wie dich, ich kann die Idee nicht ertragen, einstens ohne dich zu leben«.37 Dies ist sozusagen die Innensicht eines symbiotischen Verhältnisses. Zwei Zitate sollen verdeutlichen, wie selbstverständlich, fast distanziert belustigt, aber auch einfühlsam und hellsichtig man solche Beziehungen damals und noch heute von außen betrachten konnte. Eichendorff schreibt 1857 in dem memoirenhaften »Zeitbild« Halle und Heidelberg rückblickend über Arnim und Brentano: Beide verhielten sich zu Görres eigentlich wie fahrende Schüler zum Meister, untereinander aber wie ein seltsames Ehepaar, wovon der ruhige mild-ernste Arnim den Mann, der ewig bewegliche Brentano den weiblichen Part machte. Arnim gehörte zu den seltenen Dichternaturen, die [ . . . ] besonnen über dem Leben stehen [ . . . ]. Den lebhafteren Brentano dagegen riss eine übermächtige Phantasie beständig hin, die Poesie ins Leben zu mischen [ . . . ].38
In ganz anderer Weise ein Zeugnis aus unserer Zeit: eine feurige Ehrenrettung einer geliebten Frau, die als launisch, schlampig, verschwenderisch, ja als »Grisette« galt. Ludwig Marcuse schreibt über Heine und dessen wunderbar unverbildete Lebensgefährtin Mathilde: Mathilde war nicht deshalb die einzige Frau, die den immer verliebten Heine halten konnte, weil Heine verblendet war, sondern weil sie sein Leben ergänzte. Man hält seit je zuviel von dem Gemeinsamen, das zwei in der Ehe verbinden soll. »Kantianer sucht Kantianerin zwecks Ehegemeinschaft«: diese unphilosophische Annonce ist die groteske Ausgeburt eines allgemein verbreiteten Irrtums vom Wesen der Zweisamkeit. [ . . . ] Jeder Mensch ist ein Fragment; das Fragment leidet unter dem, was ihm fehlt: wo Zweisamkeit einen Sinn hat, ist sie eine Symbiose zwischen zwei Wesen, die einander jene Kräfte abgeben, welche dem andern fehlen.39 36
Schultz, Schwarzer Schmetterling, 93 f. Schultz, Schwarzer Schmetterling, 87 f. 38 HKA V / 4, 157. 39 Ludwig Marcuse, Heinrich Heine: Melancholiker, Streiter in Marx, Epikureer, Zürich 1980, 273. 37
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Die vielleicht schönste, klassisch gewordene Äußerung, die ich zu diesem Thema gefunden habe, stammt von Goethe. Seit etwa 1794 hatte sich die Beziehung zu Schiller zu einer tiefen Freundschaft entwickelt. Es finden sich nun in Briefen Goethes ungewohnte Schlussformeln, wie z. B.: »Leben Sie wohl und lieben mich, es ist nicht einseitig.« (18. März 1795) Und so schreibt der Dichter zu seiner Freundschaft mit Schiller in dem Aufsatz Glückliches Ereignis: Selten ist es, dass Personen gleichsam die Hälfte voneinander ausmachen, sich nicht abstoßen, sondern sich anschließen und einander ergänzen.
Joachim Pfeiffer schlägt im Folgenden einen Bogen zurück zur Antike, von der wir ausgegangen sind: Goethe spielt hier auf das Gleichnis von Platon im ›Gastmahl‹ an: Platon erklärt die gegenseitige Anziehung der Liebenden so, dass sie irgendwann eine Einheit waren, dann in zwei Hälften geteilt wurden und von da an auf der Suche nach der anderen Hälfte sind, um wieder zur Einheit zurückzufinden. Die Anwendung dieses Gleichnisses auf Schiller ist sicher das größte Kompliment, das Goethe seinem Freund machen konnte.40
Er greift diesen Gedanken noch einmal auf, wenn er zu Schillers Tod an Zelter schreibt: »Ich verliere nun einen Freund und in demselben die Hälfte meines Daseins.« Es zeigt sich, dass solche Erfahrungen von innerlichsten menschlichen Beziehungen und das Bewusstsein davon über die Zeiten hinweg im Denken der Menschen eingebettet waren. Man wusste immer schon, dass die große Nähe zweier Menschen dazu führen kann, dass der andere Teil des eigenen Selbst wird, indem Eigenschaften, Fähigkeiten, Kräfte, Denk- und Empfindungsweisen des anderen ganz selbstverständlich in die eigene Identität einbezogen werden. Das wichtigste Wort aus den angeführten Zeugnissen ist das vom ›ergänzen‹, durchaus in seinem ursprünglichen Sinn zu verstehen: die Menschen verschmelzen auf einer höheren Stufe zu einer Einheit.41 Gerade in der uns betreffenden Epoche des Freundschaftsenthusiasmus sind solche Gedanken lebendig und so wurde selbst das Fehlen, besser das NichtErreichen solcher Beziehungen als existentieller Mangel empfunden. Es ist auf40 Joachim Pfeiffer, »Männerfreundschaften in der Literatur des 18. Jahrhunderts«, Freiburger Frauenstudien 6 (2000), 193 – 210. 41 Geradezu als Muster solcher äußerst produktiven symbiotischen Freundschaften können die Brüder Grimm gelten. So schreibt Jakob schon 1805 an seinen Bruder: »denn lieber Wilhelm wir wollen uns einmal nie trennen«; und bei seinem Tod nannte er ihn: »die hälfte von mir.« Siehe Steffen Martus, Die Brüder Grimm, Berlin 2009, 100 f. und 502 f.
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schlussreich, eine nur allzu bekannte Strophe aus Schillers Ode An die Freude unter diesem Aspekt einmal neu zu lesen, wobei besonders die Worte vom »großen Wurf« und vom »Erringen« auf ein unverzichtbares Lebensziel hindeuten. Wem der große Wurf gelungen, Eines Freundes Freund zu sein, Wer ein holdes Weib errungen, Mische seinen Jubel ein! Ja – wer auch nur eine Seele Sein nennt auf dem Erdenrund! Und wer’s nie gekonnt, der stehle Weinend sich aus diesem Bund.
Nun ist schon angesprochen worden, dass vor allem spätere Krisen in einer symbiotischen Beziehung zu tiefen Erschütterungen bis hin zu pathologischen Auswirkungen führen können. Solche kritischen Momente sind zu denken als notwendiger Ablösungsprozess bei Geschwistern, schleichende Entfremdung der Partner, Misslingen oder jähes Ende des Gemeinschaftslebens. Für die Verstörungen, ja die Wunden, die eine solche Beendigung eines innigen, freundschaftlichen Zusammenlebens mit sich bringen kann, sei noch einmal Brentano angeführt. Die Dichterfreunde lebten seit einiger Zeit zusammen in Berlin bei der Familie Pistor. Seit fast zehn Jahren war Arnim zudem befreundet mit Brentanos Schwester Bettine; seine Heiratspläne hielt er aber bis zuletzt vor dem Freund aus Angst vor dessen Gerede geheim. Bettine und Achim heiraten für ihn unerwartet am 11. März 1811. Nach Brentanos ersten entsetzten Reaktionen und dem Auszug Arnims kommt es bald zu einer Wiederannäherung der Freunde; aus dieser Zeit ein Brief Brentanos, der, weil beispielhaft, des längeren zitiert werden soll: Ich bin nicht gestern schnell von dir weggegangen, weil du mich gekränkt, sondern weil ich in meiner Seele so tief kranck und traurig bin, als ich es jemals in meinem Leben geweßen, ich trat schon in dein Hauß mit einer Betrübniß, die mich seit mehreren Wochen zerreißt, und deren Ende ich nicht absehe, da ich nun so still in deinem Garten stand, und die (Pistorschen) Kinder sah und dich und Betine herumhandthieren, und mich mit meiner ganzen Seele, mit meinem Leben tief traurig und erstickt fühlte, und wie ein eingeschlafenes Glied, stieß mich deine Anrede zurück, nicht von dir, nur von der ganzen Welt, ich war ganz vernichtet, ganz zertreten, aber ich habe noch keinen Augenblick gelebt, ohne dich innig und aufrichtig zu lieben [ . . . ].42
Um den in diesen Worten sich ausdrückenden unfassbaren Verlust erträglich zu machen, entwirft er schon bald einen abenteuerlichen Plan. »Allen Ernstes schlägt er Arnim vor, zu dritt mit Bettine zusammenzuleben. Nur in dieser 42
Schultz, Schwarzer Schmetterling, 264 f.
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Dreiergemeinschaft könne er wieder eine Zukunftsperspektive gewinnen, würde er als unmündiger Mensch wieder Halt finden«.43 Für ein tragisches Scheitern einer solchen Beziehung sei an ein weithin bekanntes Ereignis aus der Kunstgeschichte erinnert: es war die Verzweiflung darüber, dass sich die Atelier- und Lebensgemeinschaft mit Paul Gauguin nicht verwirklichen ließ, die van Gogh Anfang Januar 1889 dazu trieb, – völlig außer sich – sich in der bekannten Weise so schrecklich zu verletzen. Vor allem das unumgängliche, jähe Ende von symbiotischen Verhältnissen durch den Tod des geliebten Anderen, das den Überlebenden lebenswichtiger Selbstanteile beraubt, kann, ja vielfach muss zu tiefen Erschütterungen führen, zu denen auch, so sieht man es heute, der völlig unerklärliche, plötzliche »Tod aus der Seele« des Zurückgebliebenen gehört.44 Ich denke dann noch an eine allgemeine Lebensschwäche, auch an eine akute Ichschwäche, an eine tiefe Depression bis hin zum Wahnsinn. Für die letztere Möglichkeit habe ich keinen Beleg gefunden, sie wurde aber von einer Psychoanalytikerin in einer kurzen Notiz bestätigt. Man müsste dazu auf heutige Fallgeschichten zurückgreifen können, zu denen ich naturgemäß keinen Zugang habe. Ein letztes Beispiel führt aus den extremen und seltenen Reaktionen hin zu einer menschlichen, eher einfühlbaren, irgendwie fast tröstlichen Ebene und zurück zur Familie Eichendorff. Schon vom März 1816 datiert ein Briefentwurf Josephs an seinen Bruder über seine junge geliebte Frau Luise von Larisch. Und es ist zu hoffen, dass der folgende abschließende Satz dieses Entwurfs nun mit anderem Verständnis aufgenommen wird. Joseph schreibt an Wilhelm: »Betrachte Sie hinfüro gantz als Eins mit mir, denn sie ist es in aller Hinsicht.«45 Obwohl wir von dem langen gemeinsamen Leben der beiden so gut wie nichts wissen,46 zögere ich nicht, Eichendorffs Ehe zu den glücklichen, sich ergänzenden, innig-gelungenen Beziehungen zu zählen, von denen hier die Rede war. Und es ist nur zu gut verständlich, dass der Dichter nach Luises Tod am 3. Dezember 1855 in einen seelischen Zustand tiefer Traurigkeit, Schwermut und Lebensverzweiflung verfällt. Aus diesem ganz un-eichendorffschen Lebensgefühl heraus – ich denke mir sein gesamtes Leben und Schaffen gern unter dem Leitvers »bleib wach und munter« – entsteht in der zweiten Hälfte von 43
Schultz, Schwarzer Schmetterling, 321. Christina Berndt, »Gebrochene Herzen. Tod aus der Seele«, Quelle: www.süddeutsche.de vom 11. Januar 2008, abrufbar unter: http://www.sueddeutsche.de/wissen/823/ 429576/text/print.html (zuletzt geprüft am 10. Februar 2010). 45 HKA XII, 66. 46 Siehe jedoch den übermütig-humorvollen »Mieth-Contract«, den das Ehepaar am 12. September 1832 mit Otto von Wolfersdorff als Untermieter abgeschlossen hat; Schiwy, 506 f. 44
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1856 sein letzter im eigentlichen Sinn autobiographischer Entwurf Aus den Papieren eines Einsiedlers. Dort heißt es nun programmatisch: »Durch das Gantze ein tragisches Gefühl von der Nichtigkeit u. Vergänglichkeit des Weltglantzes u. Lebens.«47 Die Brüder Eichendorff scheinen nun ganz aus dem Blick geraten zu sein, dem ist aber nicht so. Zur Erinnerung: das erste Kapitel sollte als Folie für alles folgende die äußere Verbundenheit und innere Zugehörigkeit, die unverbrüchliche Einheit der Freunde in ihrer Jugendzeit andeuten; das zweite ihre in manchem scheinbar unvereinbare Gegensätzlichkeit zeigen, und das dritte verdeutlichen, dass gerade dies ihre Jugendfreundschaft einfügt in den abendländischen Traditionszusammenhang überaus kostbarer, erstrebenswerter symbiotischer Beziehungen. Sie waren, obwohl jeder tüchtig für sich, sozusagen nur »Fragmente«, oder, wie Goethe sagt, nur »Hälften«, die sich durch den bestimmenden, leitenden Realismus des einen und durch das Emotional-Poetische des anderen »ergänzt« haben zu einer reichen, produktiven Lebensgemeinschaft, die dem entsprach, was Goethe mit der Formel »Polarität und Steigerung« über sein Verhältnis zu Schiller meinte.48 Sie haben sich am 5. April 1813 in Wien getrennt und sollten sich nun 1817 wiederbegegnen: davon handelt die fragmentarische Novelle Das Wiedersehen mit dem rätselhaften Schluss, dass der eine »verrückt« wird, als er den anderen auf einmal wiedersieht.
IV. Was sagt der Novellen-Text? Die klaren, einfachen Bilder des Fragments lassen sich rühmen, ihre Unmittelbarkeit und Anschaulichkeit, ihre fast realistischen Züge und schließlich die Frische und das Tempo des Erzählens. Doch nicht das wollen wir vertiefen, sondern der Frage nachgehen, in welchem Maß die These einer symbiotischen Beziehung zwischen den Freunden hier in den Möglichkeiten der Erfahrungsseelenkunde erkannt und dargestellt worden ist. Dabei gehen wir von der Gewissheit aus, dass ein Kunstwerk nur gewinnen kann, wenn es in einer umfassenden Idee, in einem bestimmten, tragenden Erkenntniszusammenhang seinen Mittelpunkt hat. Eingangs wird die Heimat der Freunde Leonhardt und Ludwig beschworen, unverkennbar, wie auch im zeitgleich entstandenen Marmorbild Lubowitz mit allen Elementen, die das Heimweh des Dichters von nun an immer wieder wachruft. Landschaft und Schloss erscheinen dabei in ihrer doppelten 47
HKA V / 4, 93. Rüdiger Safranski im Gespräch mit Ijoma Mangold und Adam Soboczynski: »Die waren schon dicke miteinander«, Die Zeit vom 13. August 2009, 35. 48
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Bedeutung als »Urbereich menschlichen Glückes und existentieller Bedrohung«.49 [A]ber mitten in dem Glantze des großen Lebens deckte oft ein Lied, ein Vöglein das einsam vom Dache sang, und alle Jahr der Frühling die alte Heimath mit ihren gewaltigen Errinnerungen vor ihnen auf, wie ein Meer von Stille, in dem das Hertz vor Wehmuth untergehen möchte.
Die tüchtigen Freunde waren nun in ihrem Jugendrausch auf einem Gipfel ihrer gemeinsamen Entwicklung angelangt, den der Dichter mit folgenden Worten beschreibt: In dieser schönsten Zeit waren die beiden Freunde angelangt. Da sie beide innerlich reich genug waren, so bildeten sie fast ohne alle anderweitige Verbindung miteinander ein eigenthümlich wirksames Leben in Kunst und Wißenschaft, und alle ihre Bildung war so nothwendig in einander verwachsen, daß sie, obgleich jeder tüchtig für sich, doch nur erst beide ein Gantzes auszumachen schienen.
Was immer sich der Leser dieses Versuchs unter dem Begriff ›Symbiose‹ vorgestellt haben mag: eine klarere, überwältigend endgültigere Formulierung des Gemeinten lässt sich nicht denken. Sie könnte geradezu als ein klassischer, noch heute unumschränkt gültiger Lehrsatz aus der Erfahrungsseelenkunde gelten. »Da erfolgte plötzlich ein Riß durch ihr gantzes Leben.« Sie müssen sich unter Tränen und Schmerzen voneinander trennen, und beim Abschied wird die bange Frage nach dem Wiedersehen gestellt. Damit ist die Novelle zügig bei ihrem eigentlichen Thema angelangt. In diesen knappen zwei Druckseiten finden sich auch deutliche Hinweise auf die unterschiedlichen Charaktere der beiden Freunde. Leonhardt findet in seinem Zimmer ein an ihn gerichtetes Abschiedsgedicht Ludwigs; die zweite Strophe beschwört noch einmal das Glück ihrer gemeinsamen Jugendzeit und spricht davon, in einem dichterisch-schönen Bild, welche Rolle Leonhardt in dieser Freundschaft übernommen hat: Mein lieber Herzensbruder! Still war der Morgen – Ein Schiff trug uns beide, Wie war die Welt voll Freude! Du faßtest ritterlich das schwanke Ruder, Uns beide treulich lenkend, Auf froher Fahrt nur einen Stern bedenkend.
Und noch ein weiteres Merkmal seines Wesens tritt beim Abschied hervor, wenn es heißt: »und die Thränen brachen zum erstenmale in seinem Leben un49 Hermann Kunisch, »Joseph von Eichendorff, ›Das Wiedersehen‹. Ein unveröffentlichtes Novellenfragment aus der Handschrift mitgeteilt und erläutert von H. K.«, Aurora 25 (1965), 7 – 39, hier 30.
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aufhaltsam aus seinen Augen.« Dies deutet auf eine seltsame Gefühlsarmut des Freundes, die erst in diesem tragischen Moment überwunden werden kann. Zu Ludwig heißt es nur wie beiläufig, aber treffend, er sei »dichterisch und der mildere von beiden« gewesen, und sein Dichtertum habe seinen Grund ganz in der Liebe zu seinem Freund gehabt, wie es das Abschiedsgedicht ergänzt: Was so mein Herz hinausgeströmt in Töne: Es waren Widerspiele Von Deines Busens ewigem Gefühle.
Bis hierher entspricht das Erzählte in allen wesentlichen Einzelheiten dem tatsächlichen Leben der Brüder Eichendorff. Die Heimat, die gemeinsam durchlebte, glückliche, zukunftsfrohe Jugendzeit, ihr Zusammenwachsen zu einer innigen Einheit, ihre schmerzliche Trennung und, das ist frappierend, auch ihre uns nun schon bekannten gegensätzlichen Wesenszüge sind hier, natürlich poetisch überhöht und verklärt, erkannt und getreu dem Leben nachgebildet. Von daher kann nicht der geringste Zweifel aufrecht erhalten werden, dass in Leonhardt Wilhelm und in Ludwig Joseph von Eichendorff widergespiegelt ist. Liest man aber das wenige, was bisher zum Wiedersehen veröffentlicht wurde, so kommt man nicht umhin einzugestehen, dass bereits hier die Dinge umstritten sind. Ich will mich auf zwei Stellen aus dem Novellentext beschränken, um den Ursprung solcher Dissonanzen, ihre Berechtigung, aber auch ihre denkbare Auflösung zu erörtern.50 Die erste Äußerung über das weitere Leben Leonhardts lautet: »Er wurde Soldat und überall ausgezeichnet, und selbst, wenn die Waffen ruhten, häufig berathen [= um Rat gefragt] und zu bedeutenden Verhandlungen verschickt.« Kommentiert man diese Stelle, so muss man festhalten: nur Joseph wurde Soldat, keiner der Brüder wurde ausgezeichnet und Wilhelm wurde zu Verhandlungen verschickt; unser Grundschema Wilhelm = Leonhardt und Joseph = Ludwig scheint also vom Dichter nicht durchgehalten worden zu sein. Noch schwieriger oder auch eindeutiger, wie man es nimmt, liegen die Dinge bei der zweiten Aussage über Leonhardt: »So wurde er, was immer Ludwigs sehnlichster Wunsch gewesen, ein Dichter, ohne es selbst zu wißen oder zu achten.« Folgt man unserer Zuordnung, so müsste man gegen den Novellentext aufbegehren, denn biographisch verhält es sich naturgemäß genau entgegengesetzt: Ludwig = Joseph wird ein Dichter. Solche völlig überraschenden Überblendungen der Figuren sind zusammen mit fiktionalen Elementen immer wieder zu beobachten und haben die Interpreten dazu verleitet, die Verhältnisse 50 Einzelheiten und dichterische Freiheiten bei der Zuordnung von Biographischem und Erzähltem mag man den verfügbaren Kommentaren in HKA V / 4, DKV 2 und Joseph von Eichendorff, Sämtliche Erzählungen, hg. Hartwig Schultz, Stuttgart 1990, entnehmen.
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ganz umzukehren und in Leonhardts Leben ein Spiegelbild Josephs zu sehen und entsprechend Ludwig Wilhelm zuzuordnen, und zugleich bemerkt, dass dieses Grundschema »mannigfach gebrochen, ja umgekehrt« wird.51 Mein Vater hat dies mit einer interessanten Wende ins Psychologische zu erklären versucht, nämlich, dass Joseph von Eichendorff im Grunde sowohl Leonhardt wie Ludwig sei, sich also »selbst als vielfältig, als nicht mit einem Namen fassbar erfuhr.« Ihm folgt Brita von Schönberg, indem sie ergänzt, dass keine einfachen Identifikationen möglich seien, sondern beide Figuren Exponenten der Persönlichkeit Josephs.52 Ich will einen anderen Weg gehen und versuchen, den Identitätsaustausch der Figuren allein aus der Bestimmung ihres gemeinsamen Lebens als symbiotisches Verhältnis zu erklären. Ich gehe dabei nicht wie die genannten Interpreten davon aus, dass ein Mensch, eben Joseph von Eichendorff, sich im Vorgang der Selbsterkenntnis auf zwei Figuren in der Fiktion aufspaltet, sondern ganz entgegengesetzt, dass zwei Menschen in den ihnen zugeordneten Figuren als Einheit begriffen werden. Es hatte doch geheißen: »alle ihre Bildung war so nothwendig ineinander verwachsen, daß sie [ . . . ] doch nur erst beide ein Gantzes auszumachen schienen.« Die Identitäten verschmelzen also zu einer Einheit, in der die Ichgrenzen sich auflösen: so kommt es zu der Überblendung der Figuren. Es werden nicht nur Anteile des anderen dem eigenen Ich einverleibt, sondern auch das Eigene auf den anderen als Wunschvorstellung projiziert: in diesem Fall das Dichtertum Josephs auf den Bruder übertragen. Dass dies möglich sein könnte, dass der Dichter so die Symbiose im Rahmen der Erfahrungsseelenkunde bis zu ihrer äußersten Konsequenz zu Ende gedacht und dargestellt hat, dafür habe ich keinerlei theoretische Erklärungen, sondern nur eine äußerst stimmige briefliche Äußerung Clemens Brentanos, der sich ja schon vielfach als ergiebige Quelle für seelische Vorgänge und Befindlichkeiten erwiesen hat, die er in seinen unzähligen Briefen aus dem Augenblick heraus, aus dem Tag, den schnell wechselnden Lebensphasen heraus seismographisch aufgezeichnet hat. Er schreibt an Achim von Arnim zu Weihnachten 1802: [E]s ist mein Plan, mich einstens zu dir zu gesellen, wie dein Diener, und dein Freund, und dein Geselle, der das deinige wie das seinige, das Seinige aber nur das deinige nennt.53 51
H. Kunisch, 23, 28, 31, 33 und DKV 2, 779 f., 781, 786. H. Kunisch, 31; Brita von Schönberg, »Das Verhältnis der Brüder Eichendorff. Dargelegt an biographischen und dichterischen Zeugnissen, insbesondere dem Novellenfragment ›Das Wiedersehen‹«, Aurora 28 (1968), 36 – 44, hier 39. 53 Schultz, Schwarzer Schmetterling, 86 f. Vordergründig betrachtet könnte es aber auch sein, dass Eichendorff bei seiner bekannten biographischen Scheu, die allzu eindeutigen Lebensspuren des Anfangs einfach verwischen wollte, um eindeutige Identifikationen unmöglich zu machen. 52
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Ich lasse das nun auf sich beruhen und wende mich der Frage zu, inwieweit eine denkbare Krise dieser Symbiose noch in der Novelle mitgestaltet ist. Denn ihr droht nur eine Gefahr, deren zerstörerische, pathogene Auswirkungen wir schon kennengelernt haben: das Ende. Aus tiefer Angst davor beschwört eingangs der Dichter geradezu das Fortdauern der Freundschaft zwischen Leonhardt und Ludwig in Vorstellungen, die ganz der Epoche geschuldet sind: Die lange Gewohnheit des Zusammenlebens hatte sich dabei in eine unwiderstehlich gewaltige Liebe zu einander verwandelt und so gaben sie sich oft feierlich das Wort, nie zu heiraten, um bis zum Tode so miteinander fortleben zu können.
Doch die Novelle erzählt ja nicht davon, sondern von eben diesem Ende als befürchtetem Tod des einen Freundes und als angstvoll geahnter (in der Novelle) und dann tatsächlich eingetretener (im wirklichen Leben) Entfremdung der Freunde / Brüder während ihres Getrenntseins. Beide Formen des Endes dieser Freundschaft führen – das ist der zentrale Gedanke dieser Überlegungen – zum schließlichen Wahnsinn. Der angenommene Tod des Freundes kommt nur in dem dritten für die Novelle vorgesehenen Gedicht zur Sprache, das wieder von Ludwig stammt. In der ersten Strophe sind es die »blühenden Tiefen, die Ströme, die Auen«, die ihm zurufen: »Dein Bruder ist todt!« Und in der zweiten Strophe sind es wieder diese Stimmen der beseelten Natur, die zu ihm sprechen: Die werden dir singen Von ihm Tag und Nacht Mit Wahnsinnes-Macht Die Seele umschlingen.
Leonhardt liest dieses Gedicht, und seine Gefühle und Gedanken binden es ganz in die Erzählung ein. Er spricht halblaut vor sich hin: »welche träumerische Verwirrung der Gedanken, wie das Bild eines müden, halbwahnsinnigen Schmertzes.« Bedenkt man, dass das Gedicht von Joseph in Lubowitz geschrieben wurde und an den Bruder gerichtet ist, so korrespondiert hier der Novellentext wieder genauestens mit dem tatsächlichen Leben. Von April bis August 1814 galt Wilhelm, weil er nicht geschrieben hatte, als in den Kriegswirren verschollen. In diesem August schreibt Joseph sowohl das Gedicht wie auch in einem Brief an den Freund Loeben: »Eine unbeschreibliche Wehmuth ergreift mich oft in unserem Garten, wo alle Blumen und Bäume mich nach ihm zu fragen scheinen, und es fällt mir wohl manchmal gar ein, dass er gestorben. Ich schreibe dieß mit tiefen Schauern, denn ich weiß nicht, wie ich ihn überleben soll.«54 Gedicht, Brief und Novellentext handeln von derselben quälenden Befürchtung, dass der Bruder nicht mehr leben könnte, von dem möglichen 54
HKA XII, 39 f.
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Ende dieser Lebensfreundschaft und seinen erschütternden Auswirkungen, dem Wahnsinn des Zurückgebliebenen. Noch zwingender eingebettet in die Novelle und eng verbunden mit dem ersehnten Wiedersehen als ihrem eigentlichen Thema ist die Möglichkeit der Entfremdung der Freunde. Schon bei ihrem Abschied heißt es im Text: Der Wagen stand vor der Thür. »Wenn wir in der Ferne einander mit der Zeit fremde würden, wie andere Leute« – sagte Leonhardt zu Ludwig, und die Thränen brachen zum erstenmale in seinem Leben unaufhaltsam aus seinen Augen. Ludwig sagte nichts, denn diese Worte hatten ihn plötzlich mit einem eiskalten Schauer erfüllt, und er stürzte fast ohne Besinnung die Stiege herab. Langsam fuhr er durch die Straßen [ . . . ].
Und wenige Zeilen später stellt Ludwig die bange Frage: »Werde ich Dich jemals wiedersehen?« sagte Ludwig immerfort still in sich. Und als endlich die lezten Häuser vorüberflogen und die Stadt hinter ihm in unkenntlichen Duft versank und draußen die ersten Lerchen ihn aus der heiteren Luft begrüßten, da weinte er aus gantzer Seele.
Diese Passagen sind erfüllt von einer »eiskalten« Ahnung und Angst; aus ihnen spricht ergreifend eine existentielle Not angesichts des möglichen Endes dieser Freundschaft. In den vielen Jahren ihrer Trennung bestätigt sich das Fremdwerden der Freunde in den immer seltener werdenden Briefen Ludwigs, deren »Hast und Ungleichheit [ . . . ] Leonhardten häufig betrübte«, und die wohl manches enthielten, »das Leonhardt kaum mehr erkannte«. Auch Leonhardt beginnt, den Freund in den glücklichen Wendungen seines erfolgreichen Lebens zu vergessen, »und das Bild des geliebten Freundes versank immer tiefer und unkenntlicher in dem alles überbrausenden Strome der letzten Zeit.« Schließlich, nach der Lektüre des letzten Gedichts von Ludwig, bittet Leonhardt dessen Frau Johanna, recht ausführlich aus dem Leben des Freundes zu erzählen, indem er die Befürchtung abzuwehren sucht: »es ist nicht möglich, es kann mir da nichts fremde seyn.« Das Motiv der Entfremdung der Freunde ist also vielfältig in die Novelle eingewoben und lässt das Wiedersehen in der Konsequenz des Erzählten als den Moment erscheinen, in dem sich dieses befürchtete Fremdwerden bewahrheitet oder als unbegründet erweist. Das Novellenfragment, als dessen tragenden Erkenntniszusammenhang wir die Gefährdungen, aber eben auch das unsagbare Glück einer Lebensfreundschaft ausgemacht haben, war offenbar doch auf die zweite Möglichkeit hin angelegt. Es gibt aber noch einen weiteren Textzeugen, eine nachträgliche Arbeitsnotiz, die den zuerst benannten Ausgang der Geschichte nahelegt; die Notiz lautet: (Zu vollenden. Das Wiedersehen geschieht aber in Lubowitz. Ludwig wird verrückt, da er Leonhardten aufeinmal wiedersieht etc. – )55
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Die beiden Motive, Wiedersehen und Wahnsinn, erscheinen hier in unausweichlicher Verschränkung, und es bleibt abschließend zu fragen, ob nicht der Grund für diese Engführung in der tatsächlichen Wiederbegegnung der Brüder zwischen August und Anfang Oktober 1817 in Lubowitz liegen könnte.
V. Entfremdung Für diese Hypothese ist es zunächst von Bedeutung, sich über die Entstehungszeit von Novellenfragment und Plannotiz zu einigen. Schon mein Vater hat dargelegt, dass die Erzählung als eines der ersten Projekte nach der Rückkehr aus dem Krieg und mit Beginn erneuter literarischer Produktion, also etwa 1816 / Anfang 1817 niedergeschrieben worden sein muss. Ich konnte dies bestätigen und mit weiteren guten Gründen eine Datierung »nicht vor Herbst 1817«, also nach dem Marmorbild und dem ersten Kapitel des Taugenichts, als wenig einleuchtend zurückweisen.56 Die Novelle war noch nicht vollendet, als in diesem Herbst 1817 die Brüder nach fast fünf langen Jahren in Lubowitz wieder zusammentreffen, und nun wird, unter dem Eindruck dieser Begegnung, die Notiz mit der veränderten Konzeption an exponierter Stelle in der Handschrift nachgetragen. Was war in den Jahren seit 1813 geschehen? Für diese Zeit haben wir nur zwei unmittelbare Zeugnisse: ganze zwei Briefe Wilhelms an seinen Bruder und die Stellen in der Novelle, die sich auf das Briefschreiben beziehen.57 Es hatte dort geheißen, dass der eine der Freunde mit den Jahren immer seltener 55 Hermann Kunisch, 20 f., schreibt dazu: »jenes schicksalhafte Sichkreuzen der lange getrennt gewesenen Wege der Freunde kann nicht am Ort des stillen Waltens der Johanna vor sich gehen«, sondern nur dort, wo die Stimmen der Tiefe, der verwirrenden Lieder des Spielmanns im zauberischen Garten zur Frühlingszeit locken. Lubowitz sieht er als Heimat und Ort der Zuflucht, aber auch als Ort des Untergehens im »Nichtmehrwissen und Nichtmehrleiden«, im »Aufgelöstwerden der Persönlichkeit« (26). – Obwohl Brita von Schönberg wiederholt die Entfremdung hervorhebt, nennt sie für den Wahnsinn Ludwigs zwei andere Gründe: dass er als Dichter verstummt und sich so »nicht mehr von dem befreien kann, was ihn bedrängt«, und dass er in Leonhardt der »Lebensform der Weite« begegnet, die in ihm als Möglichkeit angelegt war, auf die er jedoch verzichtet hatte. (38) – Günther Schiwy schreibt (384): »Wird er wahnsinnig, weil ihn das Wiedersehen mit Leonhardt aus dem mühsam gewonnenen Gleichgewicht bringt zwischen der rettenden Geborgenheit in der Liebe zu Johanna und der dichterischen Berufung, der Ludwig, wenn auch mühsam und mit Einschränkungen, treu geblieben ist?« – Als Einleitung zu längeren Textzitaten liest man bei Hartwig Schultz (153): »das Alter Ego Ludwig in der Novelle so enden zu lassen, zeigt, wie bewegend diese Begegnung gewesen sein muss.« 56 Vgl. DKV 2, 799, HKA V / 4, 185 ff. und Schiwy, 377. 57 Josephs Briefe an Wilhelm sind nicht erhalten; das ist für die Einsicht in diese Brüderfreundschaft ein herber Verlust.
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geschrieben hatte, bis seine Stimme schließlich ganz verhallte. Dies trifft genau auf Wilhelm zu. Und allein dieser äußere Befund hat den Bruder gequält und ist symptomatisch für Wilhelms Verhältnis zu ihm und ihrer Freundschaft. Er verlässt damit den Grund, auf dem ihre innige Beziehung zu allererst gedeihen konnte, den Freundschaftsenthusiasmus der Epoche, zu dem ein ebensolcher Briefkult gehörte. »Liebesbekundungen und Treuegelöbnisse, Lebenserfahrungen und Lektürefrüchte, Publikationsprojekte und Zukunftsvisionen« werden (wie bei Arnim und Brentano) vor allem im Medium des Briefes ausgetauscht.58 Mit ihrem Freund Loeben hatten die Brüder diese für die Zeit wie weniges kennzeichnende Mitteilungsform ja einüben können, auch wenn ihnen das zeittypisch Schwärmerische, gelegentlich Exaltierte, das »Mythische und Mystische des inneren Lebens« in dessen Briefen59 nicht gelegen haben mag. Aber Wilhelm fällt ganz aus dieser Möglichkeit, die Freundschaft weiter zu tragen und zu pflegen, heraus und überlässt den Bruder seinen Nöten.60 Wie steht es um die Inhalte seiner Briefe? Die Novelle hatte von einer »leidenschaftl. Hast und Ungleichheit« des Geschriebenen erzählt, die den Freund »häufig betrübte« und von manchem, das er »kaum mehr erkannte«. Solches zeigt sich auch in dem, was Wilhelm schreibt. Der erste Brief handelt fast ausschließlich von seinen »Courierreisen«. Aber schon hier wird etwas angesprochen, was dann den zweiten weitgehend beherrscht. Er spricht von den »herrlichen« italienischen Frauen, deren »Neugier« oder auch »Lüsternheit« er hervorhebt; sie seien »bis zur Langweiligkeit zuvorkommend«, meistens »manirierte Weiber« und zu einem »leeren pseudopoetischen Quersprung« geneigt.61 Was ihn bewogen hat, sich auf diese Welt einzulassen, ist schwer zu sagen, aber vielleicht mit einem Satz von ihm selbst besser zu verstehen. Er schreibt: »Es ist natürlich, daß ich mich in geschäftsfreien Augenblicken ermüdet und zu einer Art Berauschung geneigt fühle, durch die man in ein plattes Leben poetische Sprünge zu bringen hofft.«62 Der zweite Brief jedenfalls handelt für den Zeitraum von gut drei Monaten fast ausschließlich von vier solcher Liebschaften, nur durch gesellschaftliche Rücksichten eingedämmten Affären oder Tändeleien. Und es ist gut verständlich, dass solche »Hast und Ungleichheit« Joseph kaum mehr wiedererkannt haben mag. 58
Schultz, Schwarzer Schmetterling, 87. HKA1 XIII, 21. 60 Wie fahrlässig Wilhelm die Korrespondenz mit dem Bruder vernachlässigte, wird daran deutlich, dass er einen angefangenen Brief (vom 16. April 1820) über seinen Abschiedsschmerz nach ihrer Begegnung in Wien, erst elf Jahre später am 2. September 1831 an Joseph schickt; vgl. Schiwy, 410. 61 HKA1 XIII, 18, 29, 41, 42. 62 HKA1 XIII, 29. 59
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Schwerwiegender und betrüblicher war der Satz, der am Ende des Tagebuchbriefes von 8. Juli 1814 steht: »Die Poesie in Versen hat sich seit 3/4 Jahren von mir getrennt.«63 Auch hier kündigt Wilhelm ein Grundelement dieser Brüderfreundschaft auf, nämlich das von der Stimmung der Zeit beflügelte »Synpoetisieren«.64 In seinem letzten überlieferten Gedicht von etwa 1819 findet er für dieses poetische Verstummen angemessene Worte: Wenig ist zurückgeblieben Von des Sängers alten Trieben Von dem heimatlichen Port.65
Die Begeisterung für Dichtung, das selber und zusammen Dichten war eben auch ein Stück Heimat in einem höheren Sinn, etwas, was für Joseph kaum wesentlicher zu denken ist, der noch im Alter bekennt (1853): »Denn, nach meiner Art, musste mir alles hohe p. nur durch das Medium der Poesie kommen.«66 Sein Bruder hat dieses »Hohe« aufgegeben und eigentlich verraten. Am meisten verletzt und befremdet haben wird ihn das Folgende. Während sich Wilhelm für »alle die Liebe« bedankt, von der Joseph geschrieben hatte, bekennt er selbst: Jedesmal, wenn ich einen Brief von Dir erhalte, fühle ich einen wunderbaren Schmerz, der eigentlich keinen Namen hat; ich denke, ich liebe Dich nicht so, wie es Deine Liebe um mich verdient, und dann wird mir, wie wenn in der Nacht eine Musik aus der Ferne tönt und aus tiefem Schlaf zu einem träumenden Schlummer weckt, in den die Melodie noch ergreifender singt, und aus dem man erwacht, wenn die Töne verklungen sind. Man sucht sie, aber es ist alles finster und still.67
Es ist erschütternd zu sehen, wie Wilhelm, anders als bei seinen sonstigen Schilderungen, die er mit »Pointen« und »Kunstgriffen« zu literarisieren versucht, hier zu einem eigenen authentischen Stil findet und mit einer Offenheit schreibt, die allein in so einer innigen Freundschaft wie der der Brüder möglich erscheint, nur, um dem Bruder zu bekennen, dass sie sich auseinander gelebt haben, sich bis zu einem gewissen Grad fremd geworden sind. Mehr noch: es ist tragisch zu begreifen, dass Joseph all die Jahre an etwas festgehalten hat, nämlich der unverbrüchlichen Liebe zwischen den Brüdern, das es so in wahrer Gegenseitigkeit wohl nie gegeben hat.68 HKA1 XIII, 53. 64 Fouqué hatte noch 1814 von beiden Brüdern Beiträge für sein Frauentaschenbuch erbeten; Brief vom 26. November 1814, HKA1 XIII, 68. 65 DKV 1, 578. 66 HKA V / 4, 86. 67 HKA1 XIII, 25, siehe auch 28 f. 68 Schon früh hat er Anzeichen dessen wahrgenommen: in Ahnung und Gegenwart folgt auf die weiter oben zitierten Stellen, in denen Friedrich bekennt, wie »unaussprech63
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Und nun das Wiedersehen: Joseph hatte es wie nichts sonst herbeigesehnt; dem Bruder aber war nur der unmögliche Satz eingefallen: »Sollten wir einst zusammenkommen«, so wolle er ihm die Briefe seiner Geliebten, Gräfin S., mitteilen, denen »in Deutschland höchstens ein sehr geübter Dichter« gleichkommen würde – sonst nichts. Wilhelm hatte offenbar ohne Bruch durch die Trennung von Joseph eine reale, aber eng begrenzte Lebenslinie und -bestimmung gefunden, und so muss man sich seine Erscheinung in Lubowitz als relativ weltgewandt, selbstsicher und mit sich einverstanden vorstellen, wenig dazu aufgelegt, auf den Bruder in der alten Weise zuzugehen. Er hatte einen Beruf, erste Bestätigungen, konnte manches erzählen wie die persönliche Begegnung mit dem Kaiser; das war ein großer Trost für die gebrochenen Eltern. Vielleicht war es so, dass er zum ersten Mal in seinem Leben deren volle Zuneigung genoss. Er schreibt am 15. Oktober 1817 nach dessen Abreise an Joseph: Der Abend wurde bis zum Essen mit Erzählungen meiner Reisen und Irrfahrten, nicht ohne Interesse für die Zuhörer und zur innigsten Freude des Papas, die sich zuweilen in einem ungewohnt langen tiefgerührten Blicke auf mich äußerte, zugebracht.69
Joseph dagegen hatte buchstäblich nichts vorzuweisen. Er war fast sinnlos durch die Randbereiche der Kriegsereignisse geirrt, seinem Roman war zeitbedingt kein nennenswerter Erfolg beschieden, er hatte keinen Beruf, kein Auskommen; statt dessen eine junge Familie, deren Zustandekommen die Eltern heftig bekämpft hatten. Für sie, tief gebeugt vom Schicksal, war er nur eine weitere, schwer erträgliche Sorge. All dies, im Kern die angstvoll geahnte Entfremdung von dem Bruder und das uneingestandene Absterben ihrer Freundschaft, wird bei der Wiederbegegnung in Lubowitz bewusst; erschüttert und überstürzt ihn, so dass der Dichter über diesen unfassbaren Verlust auf der Vorderseite der unfertigen Novelle notiert: »Ludwig (= Joseph) wird verrückt, da er Leonhardten aufeinmal wiedersieht etc.« Während Wilhelm in seinem weiteren Leben kaum mehr über den engen Horizont einer Amtsstube hinausblickte und seinen Bruder mehr und mehr aus den Augen verlor, hat Joseph noch viele Jahre an seiner tiefen Liebe zu ihm festgehalten. Noch 1835 ruft er in einem Gedicht die ganze Innigkeit, Treue und Bruderliebe ihrer Lebensfreundschaft wach, so als wäre sie nicht längst verdorrt. lich« er seinen Bruder geliebt und sich nach dessen »härterem« Wesen gesehnt habe, fast gleichlautend der Satz »Rudolf schien wenig auf diese Worte zu achten«, HKA III, 47 und 288. 69 HKA1 XIII, 77.
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Dietmar Kunisch Heimweh. An meinen Bruder. Du weißt’s, dort in den Bäumen Schlummert ein Zauberbann, Und Nachts oft, wie in Träumen, Fängt der Garten zu singen an. Nachts durch die stille Runde Weht’s manchmal bis zu mir, Da ruf’ ich aus Herzensgrunde, O Bruderherz, nach dir. So fremde sind die andern, Mir graut im fremden Land, Wir wollen zusammen wandern, Reich’ treulich mir die Hand! Wir wollen zusammen ziehen, Bis daß wir wandermüd’ Auf des Vaters Grabe knieen Bei dem alten Zauberlied70
Erst sehr spät im Leben gesteht sich Eichendorff ein, dass der ganze Reichtum und das tiefe Glück dieser Brüderfreundschaft zerbrochen ist an Entfremdung durch die unpoetische, gefühlskalte Art Wilhelms. Den Tenor eines schon erwähnten autobiographischen Entwurfs umreißt er als »ein tragisches Gefühl von der Nichtigkeit u. Vergänglichkeit des Weltglantzes u. Lebens.« Beispiele für diese tragisch-desillusionierte Welt- und Lebenssicht sieht er in seinem Berufsleben, in seinem Heldentum, im Tod Luises und schließlich: »in der Freundschaft, der versauerte Wilhelm! –«
VI. Das Wiedersehen und das Lebenswerk Abschließend nun noch ein kurzer Blick auf die Stellung und Bedeutung des Wiedersehens im Leben und Gesamtwerk des Dichters. 70 HKA I / 2, 102 f. Aufschlussreich ist der Prosaentwurf zu diesem Gedicht. Dort heißt es einleitend: »Wir sind voneinander im Wandern abgekommen.« Und in dem Entwurf der zweiten Strophe finden sich die Zeilen: Ich ruf’ aus Hertzensgrunde, Mein Hertzensbruder, nach Dir, O gib mir wieder Kunde, O wende Dich zu mir! Beide Stellen zeugen, im Gegensatz zu dem fertigen Gedicht, von der uneingestandenen Entfremdung Wilhelms: das war aber die Realität.
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Das Jahr 1816 brachte ja in vielem den endgültigen Abschied von der Jugend. Und zugleich, nach all den Turbulenzen der vergangenen Jahre, dem »Umtreiben«, wie Eichendorff es selbst nennt, einen Neuanfang, eine lebensbestimmende Wende: mit einer jungen Familie in der Heimat, für die gesorgt werden musste, mit dem endgültigen Abschied von einem Leben auf dem Lande (Lubowitz) und entsprechend dem Beginn einer beruflichen Laufbahn als Referendar im preußischen Staatsdienst in Breslau. Sibylle von Steinsdorff kennzeichnet die Situation Eichendorffs treffend, indem sie schreibt: »Die einschneidende Veränderung der äußeren Lebensumstände bedingt in dieser Zeit eine gesteigerte Selbstreflexion des Autors.«71 Aus dieser Situation heraus entstehen zeitgleich die Novellen Das Wiedersehen und Das Marmorbild. Wie weniges sonst autobiographisch hinterlegt und motiviert, markieren sie einen eminent wichtigen Neuanfang in Leben und Werk des Dichters. Beide setzen Luise in Johanna und Bianka ein liebevolles Denkmal; darüberhinaus gestalten sie jeweils ein lebensbestimmendes inneres Drama, das nur mit gesteigerter Selbstreflexion zu bewältigen war. Glück und Entfremdung im Verhältnis zu seinem Bruder und, gegen die Verlockungen rauschhafter Sinnlichkeit, das Einstehen für eine Liebe, in der das Erotische, das Seelische und das Religiöse als Ganzheit gelebt werden konnten, werden erkannt, bewusst gemacht, ja, aber werden sie tatsächlich bewältigt? Beide Erfahrungen erweisen sich mit Blick auf das weitere Schaffen Eichendorffs nicht als entwicklungspsychologische Episoden, sondern geradezu als Kardinalthemen des dichterischen Werks. Für das Marmorbild ist dieses Fortwirken schon mehrfach gesehen worden.72 Für das Wiedersehen zeigt sich die Konstellation zweier Brüder – nimmt man die Freundespaare hinzu, so wird dies noch deutlicher – geradezu als Strukturgesetz des gesamten Schaffens. Am deutlichsten in der Novelle in Versen, aus dem 30jährigen Kriege als Protestantismus und Katholizismus, im Allegorischen dramatischen Spiel in Versen als das alte Regime und die Demagogie, im Julian als Heidentum und Christentum, in Robert und Guicard und öfter.73 Nun mag man bedauern, dass uns das Wiedersehen nur als Fragment überliefert ist, während das Marmorbild in schöner (vielleicht zu schöner?) Vollendung vor uns liegt. Gerade diese Vollendung hat aber ihren Preis. Der liegt in der vom gelebten Leben abgehobenen, hochstilisierten, symbolisch-allegorischen Darstellungsweise. 71 Sibylle von Steinsdorff, »Das Marmorbild«, in: Erzählungen der deutschen Romantik, hg. und komm. Albert Meier, Walter Schmitz, Sibylle von Steinsdorff und Ernst Weber, München 21998, 418 – 432, hier 420. 72 Schiwy, 542 ff. 73 Weiterführend HKA V / 4, 195.
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Beim Wiedersehen ist das ganz anders. Es ist lebensnaher, realistischer, plastischer, frischer, zukunftsweisender und bestätigt überzeugend meine These vom Notwendig-Fragmentarischen der autobiographischen Schriften Eichendorffs, zu der ich einmal geschrieben habe: »dass nämlich die Form zu zerbrechen scheint, dass Vollendung unmöglich wird und dass die Möglichkeit der Ganzheit gerade dort verloren geht, wo ein literarisches Werk sich ganz einem gelebten Leben und den Erfahrungen eines neuzeitlichen Ich zuwendet.«74 Schließlich bedeutet das Wiedersehen den Beginn der lebenslangen Annäherung Eichendorffs an die verlorene Heimat, an die eigene Jugendzeit und an sich selbst in Fragmenten und immer erneuten Ansätzen,75 unter denen – wie auch unter den sonstigen Novellen – es sich glänzend behauptet als ein kleines Meisterstück an Erzählkunst und »begriffenem Leben«.
74 Dietmar Kunisch, Joseph von Eichendorff, Fragmentarische Autobiographie. Ein formtheoretischer Versuch, München 1985; ders., »Zum Autobiographischen bei Eichendorff«, Aurora 49 (1989), 135 – 149. Winfried Woesler scheint diese These zu bestätigen, wenn er schreibt: »Das, was der Autor allegorisch erzählen wollte, hätte er wohl kaum vermitteln können oder wollen mit einer nach heutigen Maßstäben wirklichkeitsnäheren Bianka – oder gar Venus – als Hauptfigur«, W. W., »Frau Venus und das schöne Mädchen mit dem Blumenkranze in Eichendorffs ›Marmorbild‹ «, Aurora 45 (1985), 33 – 48, hier 46. 75 Es ist das große Verdienst von Wolfgang Frühwald und Hermann Korte, die weitreichende Bedeutung von Eichendorffs autobiographischen Schriften aufgegriffen und gewürdigt zu haben. Wolfgang Frühwald, »Die Entdeckung der Erinnerung«, in: DKV 5, 845 ff. Korte, 107 f. und 133 f. Während Hartwig Schultz diskussionslos befindet: »Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte bietet keiner dieser Ansätze.« H. S., »Selbsterinnerungen«, Aurora 66 – 67 (2007), 9 – 19, hier 10.
Subverting the Ideologies of War in American Civil War Narratives: Ambrose Bierce’s Chickamauga and One of the Missing By Bernd Engler
Ambrose Bierce’s Civil War stories, which were first published in a collection entitled Tales of Soldiers and Civilians in 1891,1 have drawn much critical attention for several decades, but the motives that may have compelled the writer in the late 1880s and early 90s to return to an already distant period in American history – and in the history of his own life – still remain obscure. Most critics do not even address the question of why Bierce turned his war experience into fiction almost thirty years after he had encountered war as a soldier in the Ninth Indiana Infantry. In his existentialist reading of Bierce’s Civil War stories as »vignettes of cosmic irony wherein man is brought to realize his insignificance in the face of the all-encompassing universe of war«, Eric Solomon, for instance, only points out that the Civil War had brought about a traumatic »shock of recognition« that eventually led to Bierce’s cynicism, »bitterness«, and cosmic irony.2 More recent studies by Cathy N. Davidson and David M. Owens equally avoid dealing with the historical context of the conception and publication of Bierce’s stories and, by implication, with questions of his potential motivation for writing them.3 The only study which might of1 San Francisco 1891. The collection was republished in 1983 under the title In the Midst of Life: Tales of Soldiers and Civilians in a London edition by Chatto & Windus, and then, in 1898, under the same title with some alterations and additions in New York and London by G. P. Putnam’s Sons. Bierce’s tales will be quoted with page references from In the Midst of Life and Other Stories, ed. Marcus Cunliffe, New York 1961. 2 Eric Solomon, »The Bitterness of Battle: Ambrose Bierce’s War Fiction«, Midwest Quarterly: A Journal of Contemporary Thought 5 (1964), 147. 3 Cf. Cathy N. Davidson’s The Experimental Fictions of Ambrose Bierce: Structuring the Ineffable, Lincoln / London 1984, and David M. Owens’s The Devil’s Topographer: Ambrose Bierce and the American War Story, Knoxville 2006. Although Owens addresses matters of biography, he is solely interested in the details of the intersections of Bierce’s war fiction and the documented history or geography that allow one to decide whether Bierce was »faithful to the larger historical context of the war« and where he made »modifications to the actual geography of the settings« of the battles depicted in his stories (6).
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fer an explanation for Bierce’s ›belated‹ endeavor to come to terms with his obviously gruesome experiences during some of the bloodiest battles of the Civil War – including those at Shiloh, Chickamauga, Lookout Mountain, and Missionary Range – is T. J. Jackson Lears’ most intriguing discussion of the transformation of American culture from the 1880s through the 1910s in his No Place of Grace (1981).4 Without explicitly dealing with Ambrose Bierce’s fiction, however, Lears points at the emergence of a martial ideology which very much dominated the intellectual climate of the 1880s and 90s and which – so my own contention – seems to have provoked the bitter anti-militant stand Bierce took in the Civil War stories written during that period. In his study Lears asserts that for cultivated Americans during the late nineteenth century, concern with martial virtue did help to focus many of the particular dilemmas generated by the crisis of cultural authority. To bourgeois moralists preoccupied by the decadence and disorder of their society, the warrior’s willingness to suffer and die for duty’s sake pointed the way to national purification; to those who carved authentic selfhood, the warrior’s life personified wholeness of purpose and intensity of experience. War promised both social and personal regeneration. (Lears, 98)
Although the martial ideal had inspired imperialists of all ages, it is noteworthy that it very much informed the thinking of the opinion-making elites during the 1880s and 90s and was generally considered »moral medicine« and an »antidote to overcivilization« (cf. Lears, 100, 103, and 112). If American Romantics and Victorians had relied on their culture’s regeneration through romance and the cult of domesticity, late nineteenth-century American worshippers of the new cult of a strenuous life foregrounded the notion of regeneration through violence. Yet society’s growing fascination with martial vigor was not only a reaction against what was considered a fateful ›feminization‹ of American culture during the nineteenth century;5 it was also a means of resolving the social and political tensions which originated in the rapid processes of industrialization and urbanization and the social antagonisms they brought along. Even anti-imperialists and pacifists like William James »idealized the intensity of life at war« (Lears, 123), and writers such as Oliver Wendell Holmes, 4 T. J. Jackson Lears, No Place of Grace: Antimodernism and the Transformation of American Culture, 1880 – 1920, New York 1981. So far, Lears’ study has only generated one article expressly dealing with Bierce’s critique of the nineteenth-century martial spirit: Giorgio Mariani, »Ambrose Bierce’s Civil War Stories and the Critique of the Martial Spirit«, Studies in American Fiction 19 (1991), 221 – 228. Mariani’s argument addresses, however, only Bierce’s well-known and highly explicit tirades against the war that can be found throughout his writings. 5 Cf. Ann Douglas’ exhaustive analysis in her The Feminization of American Culture, New York 1977.
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Jr. recalled their generation’s Civil War experience in terms of a semi-religious conversion to the fundamental truths of life: »Through our great good fortune«, Holmes claimed in a Memorial Day speech in 1884, »in our youth our hearts were touched with fire. It was given to us to learn at the outset that life is a profound and passionate thing«.6 The fact that Ambrose Bierce began to turn his Civil War experiences into stories during the 1880s was certainly not a result of his having finally overcome a trauma which had previously kept him from recalling the horrors of the various battles he had encountered during his military career. It was rather the emerging glorification of the martial ideal and of the cult of Civil War heroism which provoked his anti-military narratives. But Bierce did not only confront the reader with a more ghastly version of the Civil War; he also sought to analyze the ideological foundations on which the architects of the new militarism were able to build their own political agendas. In this respect, the following reading of two of Bierce’s Civil War stories – Chickamauga and One of the Missing – is primarily interested in the author’s attempts at making the reader aware of the hidden ideological blue-prints which made the resurgence of the martial ideal in late nineteenth-century America possible. Obviously, Bierce could have easily written the martial kind of stories his American audience cherished,7 and – in contrast to many other writers who produced gallant tales of Civil War heroes – he could also have written about the war with strong claims to historic authenticity. He had pursued a military career and experienced war first-hand. After having spent a year at the Kentucky Military Institute, he had enlisted as a volunteer with the Union Army when the Civil War broke out, started his military career as a drummer-boy with the Ninth Indiana Infantry, fought in several battles, was wounded at Kennesaw Mountain, and eventually left the army as a lieutenant. Stories such as One of the Missing or the often anthologized »An Occurrence at Owl Creek Bridge« seem to translate Bierce’s own experience of war directly into war narratives that convey to their readers authentic reports of acts of heroism as well as instances of horror and desperation. But contrary to the common view that Bierce’s stories reflect their writer’s wish to document a particular historic moment or his psychological need to work through some traumatic experience, one should be aware of the fact that the author rather responded to the new glorification of war as a means of cultural regeneration and the ensuing change in public opinion about the Civil War – and war in general. 6
Oliver Wendell Holmes, Jr., »Memorial Day« (1884), in: Speeches, Boston 1913, 62. Cf. chapter 3: »The Destructive Element: Modern Commercial Society and the Martial Ideal« in Lears’ No Place of Grace and especially his analysis of Louise Imogen Guiney’s poetic works. 7
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Any attempt at analyzing the motivation which might have caused a writer to recount his Civil War experiences more than two decades after the end of the war seems, however, to be condemned to remain a matter of mere speculation. Yet Ambrose Bierce’s tales do not only tell more or less reliable and seemingly authentic stories of the Civil War; they also give evidence of the writer’s preoccupation with the ideological formations which he considered responsible for the pervasive upsurge of a martial and even militaristic spirit in late nineteenth-century America that T. J. Jackson Lears has described in his seminal study No Place of Grace. Thus, the following reading of Bierce’s Civil War tales will foreground the hidden agendas that go far beyond and even subvert the representational impetus of his narratives. But what is the basis of this radical distrust of the teller and of the tale? Do Bierce’s hyperbolic and extremely sarcastic statements on the absurdity of all truth claims in The Devil’s Dictionary really offer sufficient evidence and weight for the assumption that the author was not interested in documenting the experience of war in an authentic manner?8 Do his war tales really subvert all efforts at establishing truth claims? Indeed, they do: Take, for instance, Bierce’s story Chickamauga which – with its adoption of a child’s perspective on the horrors of war – seems to offer a perfect example of a revisionist rendering of one of the most ghastly battles of the Civil War. On the surface, it certainly establishes a highly convincing micro-historical perspective, but this attempt at writing »history from below« nevertheless remains utterly flawed by the extreme unreliability of the child’s vision. The narrator’s scathing sarcasm is too obvious, for instance in his ridiculing the child’s confrontation with the first formidable enemy in his quest for military adventure. We learn that, equipped with a wooden sword, the little boy advances »like many a mightier conqueror« from the bank of a creek close to his parents’ home into a nearby forest. Yet there 8 Bierce’s epistemological scepticism pervades his entire œuvre and does not at all lend itself to a glorification of military deeds. On the contrary, history is seen as an »account mostly false, of events mostly unimportant, which are brought about by rulers mostly knaves, and soldiers mostly fools«, Ambrose Bierce, The Enlarged Devil’s Dictionary [EDD], ed. Ernest Jerome Hopkins, Harmondsworth 1967, 164. In The Devil’s Dictionary Bierce also asserts that any attempt at capturing history unavoidably leads to an insight into the highly erroneous and wholly subjective nature of all acts of perception, cognition and recollection. Thus, Bierce’s sardonic definition of the verb »recollect«: »To recall with additions something not previously known« (EDD, 263) questions common assumptions about the nature of historical knowledge and historiography to an extent which makes all efforts to report the experience of war in a documentary fashion an absurdity. On Bierce’s epistemological skepticism see Ansgar F. Nünning, »›The Realm of the Unknown‹ : Epistemological Skepticism, Historical Revisionism, and the Transgression of Boundaries in Ambrose Bierce’s Short Stories«, in: Revisioning the Past: Historical Self-Reflexivity in American Short Fiction, ed. Bernd Engler and Oliver Scheiding, Trier 1998, 183 – 210.
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he suddenly found himself confronted with a new and more formidable enemy: in the path that he was following sat, bolt upright, with ears erect and paws suspended before it, a rabbit! With a startled cry the child turned and fled, he knew not in what direction, calling with inarticulate cries for his mother [ . . . ], his little heart beating hard with terror – breathless, blind with tears – lost in the forest! (28)
Obviously, the narrator of Bierce’s story Chickamauga is not interested in offering a child’s perspective on war as an authentic or even valid one. He is far too eager to disqualify the little boy’s vision as totally inadequate, and, as far as the rendering of the Battle of Chickamauga is concerned, we get no direct information on this extremely bloody battle as the disoriented child only wakes up from a deep slumber after the enemy has retreated and left the battle-ground covered with dead and wounded soldiers. The little boy studies the scene with »childish curiosity«, and, due to his utterly unreliable perspective, he even mistakes the soldiers to be large animals. He regards the maimed and bleeding men as a merry spectacle, and – recalling a scene in which »his father’s Negroes crept upon their hands and knees for his amusement« – he eventually mounts and rides one of the wounded soldiers who creep along the battlefield to find some help in their agony. As may already be gathered from these few remarks, Ambrose Bierce’s shift in perspective is not meant to offer a revisionist reading of Civil War history based on the micro-historical perspective of a non-military, but nevertheless reliable, observer. Although assuming the unconventional perspective of a little boy would have been an effective means of highlighting the extreme cruelty of a battle which, within a few hours, left some 40,000 casualties on the battleground, Bierce refrains from using such a perspective for easy effects or a sentimental rendering of the war scene. Instead of strategically employing the child as an unconventional and thus particularly effective focalizer, Bierce keeps reminding the reader of the deficits the child’s perspective entails: »Not all of this did the child note« (30), he informs the reader, or tells him that »[a]n observer of better experience in the use of his eyes would have noticed« (31) many details in the battle-scene which completely escape the notice of the little boy. But what message does Ambrose Bierce intend to convey if he is interested neither in a traditional nor a revisionist rendering of a Civil War battle? Why does he introduce a little boy as the central focal point of an innovative way of communicating a particular war experience? An answer to this question may be found in a passage located at the very beginning of Chickamauga which critics have almost completely disregarded in their endeavors at coming to terms with the story, although it is probably the most crucial passage in the entire narrative. Critics tend to read it as a rather awkward, somewhat digressive and far too wordy and unctuous exposition that
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is only meant to prepare the reader for the story proper of the child’s experience of the cruelties of war.9 One sunny autumn afternoon a child strayed away from its rude home in a small field and entered a forest unobserved. It was happy in a new sense of freedom from control, happy in the opportunity of exploration and adventure; for this child’s spirit, in bodies of its ancestors, had for many thousands of years been trained to memorable feats of discovery and conquest – victories in battles, whose critical moments were centuries, whose victors’ camps were cities of hewn stone. From the cradle of its race it had conquered its way through two continents, and passing a great sea, had penetrated a third, here to be born to war and dominion as a heritage. The child was a boy aged about six years, the son of a poor planter. In his younger manhood the father had been a soldier, had fought against naked savages, and followed the flag of his country into the capital of a civilized race to the far South. In the peaceful life of a planter the warrior-fire survived; once kindled, it is never extinguished. The man loved military books and pictures, and the boy had understood enough to make himself a wooden sword, though even the eye of his father would hardly have known it for what it was. This weapon he now bore bravely, as became the son of an heroic race, and [ . . . he] assumed, with some exaggeration, the postures of aggression and defence that he had been taught by the engraver’s art. [ . . . The] intrepid victor was not to be baffled; the spirit of the race which had passed the great sea burned unconquerable in that small breast and would not be denied. (27 – 28)
Given the long-term perspective the narrator adopts in this passage – covering thousands of years in the phylogeny of the human race – the reader may come to the conclusion that Bierce propagates an anthropological critique of the conditio humana. »From the cradle of his race«, mankind’s evolution seems to have favored human inclinations toward conquest and aggression. The child’s spirit was obviously »born to war and dominion as a heritage« and thus it is small wonder that the little boy follows the warrior-impulse that is so deeply ingrained in his mental or even ›biological‹ system. Yet, while Bierce seems to criticize the human race as being a chance product of regrettable evolutionary determinants or of an evolutionary mis-conditioning, he also offers another less obvious explanation for the warrior-like spirit that governed the little child and – by implication – an entire nation engaged in a most gruesome civil war. Although Bierce seems to take an anthropologist’s broad view of the development of the human race, he also introduces an argument that clearly identifies the »son of an heroic race« as an American. Talking about the war-like »spirit of the race«, the narrator refers twice to its having »passed the great sea«. The 9 The only critic who pays particular attention to the opening paragraph is Cathy N. Davidson in her seminal study The Experimental Fictions of Ambrose Bierce, but she does not read Bierce’s text as a highly ironic response to the dominant martial spirit of the late nineteenth century. Davidson claims that the story’s introductory passage foregrounds a »heritage of destruction« which is the »real handicap of the child« (Davidson, 42).
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spirit of the race is also defined as having »conquered its way through two continents« and having »penetrated a third«. Yet, why does the narrator qualify the so-called spirit of the race in such a circumlocutory and pompous way? And why does he twice specify this spirit as having traversed the Atlantic Ocean? While modern readers tend to have problems with deciphering the implications of these references, the contemporaneous reader might have grasped the target of Bierce’s sarcasm more easily. Obviously Bierce did not wish to blame the evolutionary process for having caused the Civil War; he rather wanted the reader to reflect on an ideological blue-print that had determined the course of American history from early colonial times to the end of the nineteenth century, a blue-print which had fuelled the spirit of conquest and which indirectly may also have influenced the national, as well as personal, modes of experiencing and making sense of the Civil War. Historians know the ideological blueprint referred to here by the Latin term of translatio imperii. This concept propagated the idea that the pattern of the rise and fall of empires displayed a geographical movement of the leading world powers from East to West, i.e. from the early empires in the Orient, via Greece and Rome, to England and eventually to the New World. In America, the translatio imperii-concept was employed in numerous early Puritan texts justifying the exploration and settlement of the New World as well as in hundreds of documents that glorified Western expansion,10 the forceful relocation of Native Americans in the 1820s, 30s and 40s, and finally the expansionist visions of American imperialists in the 1880s and 90s.11 It found its most memorable formulation in George Berkeley’s 10 For illustration, cf. some random examples from the sixteenth through the eighteenth century such as Edward Hayes, »A Report of the Voyage and Successe Thereof, Attempted in the Yeere of Our Lord, 1583«, in: Richard Hakluyt (ed.), The Principall Navigations Voiages and Discoveries of the English Nation, Cambridge (MA), 1965, 679 – 697, Cotton Mather, Magnalia Christi Americana: Or, the Ecclesiastical History of New England, London 1702, especially the »General Introduction«, Samuel Sewall, Phænomena Quædam Apocalyptica [ . . . ], Or, Some Few Lines towards a Description of the New Heaven, Boston 1697, Philip Freneau, A Poem, on the Rising Glory of America; Being an Exercise Delivered at the Public Commencement at Nassau-Hall, September 25, 1771, Philadelphia 1772, Jedidiah Morse, The American Geography, Elizabethtown 1789, and many other similar documents. 11 For an example of the imperialists’ blending of the translatio imperii-ideology with a providential reading of history during the 1880s see, for instance, Josiah Strong’s »The Anglo-Saxon and the World’s Future«: »It seems to me that God, with infinite wisdom and skill, is training the Anglo-Saxon race for an hour sure to come in the world’s future. Heretofore there has always been in the history of the world a comparatively unoccupied land westward, into which the crowded countries of the East have poured their surplus populations. But the widening waves of migration, which millenniums ago rolled east and west from the valley of the Euphrates, meet to-day on our Pacific coast. [ . . . ] The time is coming when the pressure of population on the means of subsistence will be felt here as it
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verse line »Westward the Course of Empire Takes Its Way« which, almost 100 years after its original publication in the poem »On the Prospect of Planting Arts and Learning in America« (1752), became the chief slogan of the advocates of American expansionism. It also served as a perfect excuse to the nation’s Indian policy pursued, for instance, by Andrew Jackson during the 1820 and 30s, a policy the text directly refers to by pointing out that the little protagonist’s father began his military career as an »Indian hunter«.12 Although Bierce did not posit a direct causal link between the translatio imperii-ideology, US Indian policy, expansionism, and the eventual outbreak of the Civil War, he obviously wanted to point out that American politics were fuelled by a martial ideology. This ideology tended to read American history as being governed by a providential design which had predestined the New World to be the site of the fulfilment of the process of a westward-moving enlightenment, regeneration, and eventually salvation. By employing the translatio imperii-concept, political leaders could easily stylize nineteenth-century America as the culmination of a historical development reaching back to antiquity and singling out the American nation as the political force which was bound to establish an »empire of liberty« (Thomas Jefferson) and could thus also fulfil millennialist prophecies of a thousand year reign of peace on earth. So far, the argument that Ambrose Bierce was primarily interested in challenging some of the hidden ideological assumptions of pre-Civil War American politics has been based on two observations: First, in using the reference to the Battle of Chickamauga in the title of his story, Bierce seems to direct his readers’ expectations toward a more traditional documentary account of a particular Civil War battle, but he does so only to subvert the very expectation initially raised. Instead of obtaining reliable eye-witness information on a particular military encounter during the war, Bierce’s readers of the 1890s are informed of the historic events by a narrator who engages in and, at the same time, ridicules the perspective of a little boy who sleeps through the battle and is only confronted with its terrible aftermath which makes him realize that his home was is now felt in Europe and Asia. Then will the world enter upon a new stage of its history – the final competition of races,for which the Anglo-Saxon is being schooled. Long before the thousand millions are here, the mighty centrifugal tendency, inherent in this stock and strengthened in the United States, will assert itself. [ . . . ] Thus, while on this continent God is training the Anglo-Saxon race for its mission, a complemental work has been in progress in the great world beyond. God has two hands. Not only is he preparing in our civilization the die with which to stamp the nations, but, by what Southey called the ›timing of Providence‹, he is preparing mankind to receive our impress«; Josiah Strong, Our Country: Its Possible Future and Its Present Crisis, New York 1885, 174 – 175, 178. 12 Cf., for instance, Andrew Jackson’s »Second Annual Message«, in: A Compilation of the Messages and Papers of the Presidents, 20 vols., New York 1897, Vol. 3, 1082 – 1086.
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destroyed and his mother killed by a shell. Second, in the rather awkward opening of his story, Bierce confronts his readers with concepts which dominated the nationalist discourse in nineteenth-century America, thus pointing out that the story might be less concerned with a faithful representation of the experience of war than with a critique of ideologies that shaped the official version of a nation’s experience of war – often in contradiction to personal experience. As a matter of fact, we learn that the little child’s experience of war is only heroic as long as he is engaged in his fantasy world of knightly adventures, but that all gestures of heroic strife become insignificant in the face of the destruction of his home and the death of his mother. The argument proposed so far brings up the question, however, whether the results of this reading can be used for a more general assessment of Ambrose Bierce’s narrative objectives. If the assumption that the writer pursued a more common strategy of disrupting his readers’ expectations in his Civil War narratives is correct, evidence for such a claim should also be available in other stories by him. And indeed, Bierce’s story One of the Missing – among others – offers such evidence by, on the one hand, engaging in a seemingly realistic and psychologically convincing account of a soldier’s feelings in a stress situation, while, on the other hand, disrupting the narrative by a most exaggerated meditation on the principles of predestination and chance. Early on in the story which allows us to follow a Union soldier, Private Jerome Searing, on his obviously dangerous reconnaissance mission, we encounter a passage which seems utterly out of place as it keeps us from learning more about the military adventure in which the protagonist is engaged. In finding out that the Confederate army has left its former position and seeing the rear-guard of the enemy retiring, Searing is well aware of »his duty to return to his own command with all possible speed and report his discovery« (43). But giving in to some strange destructive impulse, he feels tempted to cock his rifle and shoot at the retiring army although he knows quite well that this is a severe breach of military order, and that randomly killing a Confederate soldier »would probably not affect the duration and result of the war« (43). In this moment of suspense, the pace as well as the focus of the narrative dramatically change. The war narrative gives way to the following pseudo-metaphysical speculation on the principles that seem to govern history: But it was decreed from the beginning of time that Private Searing was not to murder anybody that bright summer morning, nor was the Confederate retreat to be announced by him. For countless ages events had been so matching themselves together in that wondrous mosaic to some parts of which, dimly discernible, we give the name of history, that the acts which he had in will would have marred the harmony of the pattern. Some twenty-five years previously the Power charged with the execution of the work according to the design had provided against that mischance by causing the birth of a
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certain male child in a little village at the foot of the Carpathian Mountains, had carefully reared it, supervised its education, directed his desires into a military channel, and in due time made it an officer of artillery. By the concurrence of an infinite number of favoring influences and their preponderance over an infinite number of opposing ones, this officer of artillery had been made to commit a breach of discipline and flee from his native country to avoid punishment. He had been directed to New Orleans (instead of New York), where a recruiting officer awaited him on the wharf. He was enlisted and promoted, and things were so ordered that he now commanded a Confederate battery some two miles along the line from where Jerome Searing, the Federal scout, stood cocking his rifle. Nothing had been neglected – at every step in the progress of both these men’s lives, and in the lives of their contemporaries and ancestors, and in the lives of the contemporaries of their ancestors, the right thing had been done to bring about the desired result. Had anything in all this vast concatenation been overlooked Private Searing might have fired on the retreating Confederates that morning, and would perhaps have missed. As it fell out, a Confederate captain of artillery, having nothing better to do while awaiting his turn to pull put and be off, amused himself by sighting a fieldpiece obliquely to his right at what he took to be some Federal officers on the crest of a hill, and discharged it. The shot flew high of its mark. (43 – 44)
This passage indeed seems to be totally misplaced, and it very much goes against the grain of the entire narrative. On the one hand, it replaces the report of Jerome Searing’s experience in a military campaign at Kennesaw Mountain, where – by the way – Ambrose Bierce was wounded, with an abstract and rather lofty speculation on the »wondrous mosaic to some parts of which, dimly discernible, we give the name of history« (43 – 44). On the other hand, it also changes the narrative pace from one of slow motion to one of extreme timelapse, i.e. from reporting the events and the thoughts of the protagonist in the time frame of their real or at least possible occurrence to an absurdly condensed report of the entire life of a Confederate officer in a few snap-shot-like observations. Moreover, the narrator changes his point of view from reporting what can be seen, known or felt by Jerome Searing to the Olympian or rather divine view in which the entire course of history can be grasped at a glance, displaying a very complex, but nevertheless most harmonious, single design. In spite of the fact that critics have unwaveringly refrained from commenting on these all too obvious changes, they deserve some attempt at explanation. Why did Bierce introduce this seemingly misplaced and somewhat dysfunctional paragraph? As in his story Chickamauga, Ambrose Bierce confronts the reader with some of the major ideological blue-prints that governed public discourse on war in general, and the Civil War in particular. These blue-prints also very much influenced the individual’s experience of the Civil War by providing master-narratives that, in the first place, shaped the personal emplotments of what seems to be an authentic experience, but what in fact is a mere product of cultural dispositions. Experience is always charged with, and thus distorted by,
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such dispositions. As can be gathered from numerous documents which represent the official as well as the personal ›interpretations‹ of the Civil War, nineteenth-century Americans tended to apply traditional Puritan models of making sense of history to their experience of the Civil War. Most Americans saw the war in terms of a fulfillment of a providential design in which God had ordained the war as a means of testing his chosen people and chastising them for the sins of slavery.13 Most Americans also interpreted history as a predestined process in which a divine power directed a »vast concatenation« (44) of factors toward salvation, the ultimate goal of (American) history. Yet, by showing that a providential reading of the occurrences would presuppose an absurdly complex concatenation of historic events, and also by illustrating that such a concatenation would actually display the total randomness of historical causalities,14 Bierce exaggerates the rhetoric of providential historiography to such an extent that the very concept of divine preordination and intervention is called into question. But what about Bierce’s hidden agendas which – as has been claimed – subvert the representational impetus of realistic war tales? Are his war tales only pseudo-documentary vehicles by means of which the author tried to transport his implicit messages? And what is the relation of these messages to the experience of war – both on a personal and a national level? 13 An example of such an interpretation can be found, for instance, in Henry W. Grady’s widely distributed speech The New South (1886) in which Grady claims that all the destruction experienced during the Civil War had had a higher purpose: »What does [the Confederate soldier find when] he reaches the home he left so prosperous and beautiful? He finds his house in ruins, his farm devastated, his slaves free, his stock killed, [ . . . ] his comrades slain, and the burdens of others heavy on his shoulders. Crushed by defeat, his very traditions are gone. [ . . . ] What does he do – this hero in gray with a heart of gold? Does he sit down in sullenness and despair? Not for a day. Surely God, who had stripped him of his prosperity, inspired him in his adversity. As ruin was never before so overwhelming, never was restoration swifter. [ . . . ] I am glad that the omniscient God held the balance of battle in His Almighty hand and that human slavery was swept forever from American soil – that the American Union was saved from the wreck of war« (Henry W. Grady, The New South and Other Addresses, ed. Edna Henry Lee Turpin, New York 1904, 29 – 30 und 39 – 40). Providential readings of American history had also been very popular in pre-Civil War American political oratory; cf., e.g., Robert C. Winthrop, An Address, Delivered before the New England Society, in the City of New York, December 23, 1839, Boston and New York 1840, or Alfred H. Guernsey, »Providence in American History«, Harper’s Monthly Magazine 17.101 (October 1858), 694 – 700. 14 See, for instance, the passage at the end of the »wondrous mosaic«-digression which, by foregrounding the notion of chance, flatly contradicts a providential reading of history: »Private Searing might have fired on the retreating Confederates that morning, and would perhaps have missed. As it fell out, a Confederate captain of artillery, having nothing better to do while awaiting his turn to pull put and be off, amused himself [ . . . ]« (44, italics mine).
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The answer to these questions can only be a provisional one, but within the context of a resurgence of a martial spirit in the course of the 1880s and 90s, it is highly plausible. Although Ambrose Bierce could have easily accomplished the task of offering factual, eye-witness reports of his own experience of the Civil War, he obviously wanted to confront his readers with reports which were realistic enough to fully engage his audience, and also ›ex-centric‹ enough to subvert common expectations. But Bierce also intended to make his readers aware of the ideological master-narratives that determined the forms of emplotment – tragic, heroic, satiric etc. – which individuals, but also society at large, unwittingly projected onto their own experiences of war. Experience – Bierce maintains – can never offer an authentic view of events as it is always based on preconceptions which determine its very nature and structure. Moreover, experience is trapped in communal master-narratives that keep the individual from questioning the presuppositions that very much determine the emplotment or ›storification‹ of the experiential data from the outset. By creating stories in which the semi- or pseudo-realistic report of war scenes flatly contradicts the common ideological blue-prints projected onto the interpretations of the nation’s course of history, Bierce forces the reader to rethink the ideological dispositions that keep him imprisoned in the matrix of national ideologies. By designing story patterns which propose incompatible emplotments of historic events, the reader is forced to rethink his culturally-endowed modes of experiencing and making sense of history. Such incompatible master-narratives are, for instance, to be found in Bierce’s Chickamauga in the translatio imperii-emplotment which calls for a heroic and providential reading of the spirit of conquest or war and the battle-scene emplotment which demonstrates that the notion of heroism is at best a concept applied to a fairy-tale world. In One of the Missing, the incompatibility of the proposed emplotments is highlighted by the »wondrous mosaic«- and »providential design«-metaphors, on the one hand, and the protagonist’s gradually growing insight into the insignificance of his (rat-like) existence and the absurdity of his death, on the other. By juxtaposing incompatible emplotments in his Civil War stories, Bierce in fact challenges the very notion of the authentic representation of experience: How can something be represented truthfully, if truth itself is but a compound of individual and collective delusions? Bierce obviously wished to take an anti-militaristic stand as American society of the 1880s and 90s drifted more and more toward imperialistic political agendas, yet in making his stand he did not only confront his readers with a gruesome image of war, but also with an intriguingly sarcastic analysis of the ideological blue-prints which formed the very basis of America’s imperialistic policies at the end of the nineteenth century.
Rilke und das Italienische* Von Alberto Destro
Auch Dichter arbeiten mit Klischees. Wie verhält sich nun Rilke zum Klischee des Italieners als ›Menschen des Südens‹? Sagen wir gleich, dass er mindestens in seiner Jugendzeit dieser Schablone verpflichtet bleibt. Rilke hat einen frühen Kontakt zu Italien, das er schon als Kind 1883 oder 1884 anlässlich von Sommerferien im Friaul und dann wiederholte Male besucht, um die Mutter, die oft ihre Ferien in Riva del Garda verbringt, zu begleiten oder zu besuchen. Und von Riva del Garda aus wird der junge Dichter 1896 seine erste Reise nach Venedig sowie 1898 die andere, wohl wichtigere, nach Florenz antreten. Letztere wird ihren Niederschlag im Florenzer Tagebuch finden, das der Freundin Lou Andreas Salomé gewidmet ist. Im Florenzer Tagebuch finden wir eine Darstellung des italienischen Volkes, die der Selbsterfahrung der Italiener nicht entspricht. Dort ist nämlich von einem Florentiner Volk die Rede, das äußerst laut sein, in einem praktisch dauerhaften Straßenkarneval leben und durch die dunkle Hautfarbe charakterisiert sein soll. In einem Gedicht vom 18. 04. 1898 verabsolutiert sich dieses Bild als »braunes Volk«.1 Es handelt sich dabei selbstredend um Poesie, nicht um einen Reisebericht und auch nicht um soziologische Beobachtungen. Man kann also an die Freiheit des lyrischen Wortes appellieren, wie dies für andere Textsorten unmöglich wäre. Was allenfalls bleibt, ist, dass diese Worte ein südliches Klischee wiedergeben, das kaum akzeptiert werden kann. Wenn wir Florenz besuchen, scheint der Prozentsatz von Leuten mit schwarzen Haaren und dunkler Haut nicht besonders hoch zu sein. Solche Merkmale kennzeichnen kaum einen toskanischen oder florentinischen Menschentyp. Man sollte gleich hinzufügen, dass diese Rilke’schen Beobachtungen sehr peripher erscheinen im Vergleich zu seinen wesentlichen Interessen. Die Beobachtung des Volkes war für den Goethe der Italienischen Reise sicher wichtig, da sie einer umfassenden Aufmerksamkeit für die Landschaften, die er eben * Vorgetragen beim Rilke-Festival in Sierre am 26. 08. 2009. 1 Vgl. Rainer Maria Rilke, »Und soll ich sagen, wie mein Tag verrollt?«, in: Tagebücher aus der Frühzeit, hg. Ruth Sieber-Rilke, Frankfurt am Main 1975, 16.
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besuchte, mit Bezug sowohl auf die Natur als auch auf die Menschen zugeordnet war. Rilke hingegen ist in Florenz auf der Suche nach Anderem, und findet es auch tatsächlich, nämlich die künstlerische Renaissance-Kultur, die gerade in Florenz einen ihrer Höhepunkte fand. In Rilkes Text wäre es möglich, eine Art Übersicht der großen Kultur der Renaissance in ihrer toskanischen Variante zu finden, über deren Vollständigkeit oder Detailtreue ich hier allerdings nichts sagen möchte. Es fällt leicht, darauf hinzuweisen, wie tief Rilkes Ansicht hier durch die Darstellung der Kultur der Renaissance in Italien von Jacob Burckhardt beeinflusst wurde, ein Buch, das ein gewisses Italienbild in der europäischen Geisteswelt jahrzehntelang geprägt hat. Bei Rilke ist das Florenz, das der Reisende erlebt, fast ausschließlich die Renaissance-Stadt, nur wenig die mittelalterliche, keineswegs die moderne und zeitgenössische. In dieser Perspektive mag interessant sein, kurz darauf einzugehen, was Rilke an Italienischem in diesen Jahren der Jahrhundertwende liest. Über einige seiner Lektüren sind wir durch die Übersetzungen, die er unternimmt, besonders gut informiert. Im siebten und letzten Band der Sämtlichen Werke (1997) erscheint ein gewichtiger Sektor von Übersetzungen aus mehreren europäischen Sprachen. Unter ihnen betrifft die Mehrzahl natürlich die französische Sprache. Es kann ja keinen Zweifel geben, dass die fremde Sprache, die Rilke am nächsten steht, das Französische ist, das er schon als Kind von der Mutter erlernt hat, eben weil es die Sprache der gehobenen Gesellschaft war. Die Kenntnis des Französischen ist also, kurz gesagt, sehr vertieft. Die Kenntnis des Italienischen steht dem in vielem nach, obwohl sie nicht irrelevant ist. Rilke sprach Italienisch nur begrenzt und nicht fließend, aber er konnte es ziemlich leicht lesen, auch im Falle von sprachlich komplizierten Klassikern. Er hat zahlreiche Gedichte Michelangelos übersetzt, die heute wegen des archaischen und hochliterarischen Charakters ihrer Sprache petrarkistischer Prägung auch für Italiener mittelmäßiger Kultur ein sprachliches Hindernis darstellen würden. Ich will aber nicht Rilkes Übersetzungen im Einzelnen untersuchen.2 Ich hebe nur hervor, dass meines Wissens eine eingehende, umfassende Studie solcher Übersetzungen noch aussteht.3 Ich möchte mich hier später nur auf ein Detail konzentrieren, und zwar auf seine Übertragung von L’Infinito von Giacomo Leopardi. Seine Übersetzungen aus dem Italienischen werden hier sonst nur deswegen herangezogen, weil sie uns einige seiner Lektüren bezeugen. 2 Alle Übersetzungen aus dem Italienischen sind im Bd. 7 der Sämtlichen Werke, 736 – 917, versammelt. 3 Die kurzen Hinweise, die Helmut Wocke solchen Übersetzungen widmet, sind heute als eher unkritisch und kaum brauchbar zu bewerten, wie verdienstvoll seine Pionierarbeit zum Thema Rilke und Italien auch war. Vgl. Helmut Wocke, Rilke und Italien. Mit Benutzung ungedruckter Quellen dargestellt, Gießen 1940, 76 – 94.
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Auf Michelangelo wurde schon hingewiesen. Er liest dann sicherlich Dante sowie Petrarcas lyrisches Werk, das er in Teilen ziemlich gut zu kennen scheint. Eine geringere Vertrautheit ist mit dem lateinischen Petrarca bezeugt, möglicherweise wegen der sprachlichen Hürde. Dann erscheinen in dieser idealen Leseliste weitere Autoren wie Jacopone da Todi, Cino da Pistoia oder Lorenzo de’ Medici, die oft als Dichter zweiten Ranges angesehen werden, es aber nicht sind, wenn sie auch die Größe Petrarcas oder Michelangelos nicht erreichen. Die Lektüre von Tasso und Leopardi ist sodann belegt. Dies alles gehört in das Bild eines kultivierten Dichters, wie Rilke es nur mit der Zeit geworden ist. Er konnte auf keine regelmäßige Schulbildung zurückblicken (im Unterschied etwa zu einem Hofmannsthal) und hatte nicht das Glück, in ein kulturell stimulierendes familiäres Ambiente hineingeboren zu werden. Rilke hat sich seine literarische Kultur im Laufe der Jahre sozusagen selbst aufgebaut. Zu dieser selbständigen Entwicklung einer persönlichen Kultur gehört auch sein Umgang mit der italienischen Literatur. Wenn wir uns aber seinen Lektüren zeitgenössischer Autoren zuwenden, müssen wir interessanterweise feststellen, dass seine Aufmerksamkeit durch Namen angezogen wird, die heute kaum etwas besagen. Er liest beispielsweise schon 1897 Lorenzo Stecchetti, einen Vertreter der Mailänder Scapigliatura, der seinerzeit viel Aufsehen erregte wegen der skurrilen Aggressivität seiner Gedichte, die mit der gebildeten Haltung der italienischen Tradition (die auch nach Manzonis ›Revolution‹ weiterhin bestand) brach und nicht selten spätromantische Sentimentalität mit sprachlicher Herausforderung verband. Stecchetti, der zu Lebzeiten einen gewissen Namen hatte, rangiert heute eher im Hintergrund der Literaturszene. Es überrascht, dass Rilke ihn nicht nur liest sondern auch übersetzt, zumal er selbst in seiner Dichtung nie plakativ provokatorisch à la Stecchetti war. Rilke liest und übersetzt weiter Gedichte von Ada Negri,4 die hauptsächlich als Erzählerin bekannt ist und als Lyrikerin wegen ihrer gefühlsbetonten Effekthascherei heute kaum lesbar erscheint. Einer ihrer Romane, Tempeste (Stürme), befindet sich in Rilkes Nachlassbibliothek, sowohl in der deutschen Übersetzung aus dem Jahre 1902, als auch in der italienischen Originalausgabe von 1897 mit Randnotierungen von einzelnen Wörtern in deutscher Übersetzung, offenbar eine Sprachübung des sprachlich noch unsicheren Dichters.5 Und schlimmer noch, Rilke übersetzt mehrere tränentriefende Gedichte von einer gewissen Contessa Lara (dem Pseudonym von Evelina Cattermole Mancini), die heute zu Recht in Vergessenheit geraten ist. Andere Namen führen uns zu früheren Jahrhunderten. So z. B. der Petrarkist Francesco Maria Molza aus dem Cinquecento, oder die recht obskuren spä4 Zu Rilkes Übersetzungen von Stecchetti und Ada Negri vgl. Brief an Hedda Sauer vom 26. 02. 1897. 5 Vgl. Hans Jansen, »Rilkes Bibliothek«, Philobiblion 33,4 (1989), 311.
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teren Dichter Jacopo Vincenzo Foscarini, Giovan Battista Felice Zappi und Giuliano Cassiani, die wahrlich keine bleibenden Spuren in der italienischen Literaturgeschichte hinterlassen haben. Von letzterem überlebt in Rilkes Nachlassbibliothek die Gedichtsammlung Saggio di Rime vom Jahre 1770.6 Diese Auswahl lyrischer Stimmen lässt wegen ihrer Zufälligkeit mehrere Fragen aufkommen. Es handelt sich nicht um Vertreter der großen italienischen Tradition, weder der Vergangenheit noch der Gegenwart. Dazu kommt noch, dass Rilke sie nicht nur zur Kenntnis nimmt, also liest, sondern sich auch die Mühe gibt, sie zu übersetzen. Dies ist leicht befremdlich, zumal er die wirklichen Protagonisten der zeitgenössischen Literatur, wie etwa Carducci und Pascoli, kaum zu beachten scheint. Für D’Annunzio ist dies nicht ganz der Fall, obwohl wir nicht in der Lage sind, genau anzugeben, was Rilke von ihm wirklich gelesen hat. Alles in allem ist das Bild der Rezeption der italienischen Literatur bei Rilke eher zufällig und unsystematisch. Ein klares Ordnungsprinzip ist nicht sichtbar. Sicher werden die Klassiker aus der älteren Tradition zur Kenntnis genommen, was auch durch die Fähigkeit ermöglicht wird, sie trotz der manchmal schwierigen hochliterarischen Sprache im Original zu lesen. Aber was weitgehend zu fehlen scheint, ist eine sichere Orientierung, was die Zeitgenossen betrifft. Bei diesem Panorama würde ich die Übersetzung eines Gedichtes von Cordula Poletti unter dem Titel Inno a Afrodite7 nicht überbewerten, handelt es sich doch um einen Höflichkeitsakt der Dichterin gegenüber, die den Zeitchroniken vor allen Dingen wegen ihrer Freundschaft mit Eleonora Duse bekannt ist, und die Rilke selbst durch die große Schauspielerin in Venedig kennen lernte.8 Cordula Poletti hatte ihre Hymne an Aphrodites Rilke gewidmet, und dieser tat ihr seinerseits den Gefallen, das Gedicht zu verdeutschen. Das hat mit gesellschaftlichen Spielregeln eher als mit literarischen Werturteilen zu tun. Ich will nun etwas eingehender die Rilke’sche Übersetzung von Leopardis L’Infinito9 besprechen, weil mir dies gestattet, ein Problem, das auch in den beiden kleinen poetischen Versuchen in italienischer Sprache vorkommt, unter die Lupe zu nehmen. Drei Punkte an dieser Übersetzung verdienen, wie mir scheint, eine besondere Aufmerksamkeit. Beginnen wir beim Titel, den Rilke nicht übersetzt, um die italienische Überschrift zu behalten. Auf diese Weise unterscheidet er sich von fast allen deut6
Ibid., 298. Rilke, Sämtliche Werke, VI, 772 – 773. 8 Rilke nahm 1912 bedauernd Anteil an der schließlichen Krise der Beziehungen zwischen der Duse und der Poletti, wie es aus den Briefen an Marie von Thurn und Taxis vom 12. und 23. Juli 1912 hervorgeht. 9 Ibid., 768 – 769. Die Übersetzung wurde aus dem Nachlass erst in: Corona 8,1 (1938), 26, veröffentlicht. 7
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schen Übersetzungen dieses Gedichtes, die Das Unendliche vorschlagen10 (nur diejenige von Gustav Brandes bringt Die Unendlichkeit, was mir eine sehr gute Lösung scheint). Rilkes Entscheidung für die italienische Überschrift ist keineswegs belanglos. Er ist nämlich dadurch der Frage aus dem Weg gegangen, welche Interpretation dem italienischen Titel L’Infinito zu geben sei. Was ist nun dieses Unendliche, von dem bei Leopardi die Rede ist? Gerade beim Durchlesen der verschiedenen Übersetzungen auf dem Hintergrund von Rilkes Entscheidung für die Beibehaltung des italienischen Wortes ist mir aufgefallen, wie mehrdeutig und zum Teil widersprüchlich der Sinn dieses Terminus sein kann. Wir kennen zum Beispiel ein metaphysisches Unendliches, das uns unkenntlich ist, weil es über die menschliche Erfahrung und Existenz hinausgeht. Doch existiert auch ein Unendliches, das ein Unbestimmbares ist, d. h. der physikalische Raum, der nicht abgemessen und also nicht perzipiert werden kann. Die Frage muss also gestellt werden, welches Unendliche Leopardi intendiert hat. Auch ohne mich in die Diskussion dieses Punktes vertiefen zu wollen, glaube ich behaupten zu dürfen, dass er nicht das metaphysische Unendliche gemeint hat, sondern das Unendliche als Unbestimmbares. Man denke etwa an die »interminati spazi«, die unbegrenzten und unabmessbaren Räume von V. 4, die sich auf die für den Menschen unerkennbaren kosmischen Räume beziehen, die allerdings physikalische Räume sind und nur insoweit unendlich genannt werden dürfen, als der Mensch ihre Grenzen nicht wahrnimmt und nicht kennt. Hier könnte also von Leopardis Dichtung behauptet werden, sie sei eine Dichtung der antimetaphysischen Weltlichkeit. Die Lektüre der Übersetzung wäre somit der Anlass zu einem Versuch der Interpretation. Die Übersetzung erscheint also als ein hermeneutisches Unternehmen, das den Ausgangstext deutet, klärt und problematisiert. Die deutsche Übersetzung soll nicht nur als Hilfe für ein des Italienischen unkundiges Lesepublikum aufgefasst werden, das sie notwendigerweise benötigt. Sie kann auch für ein italienisches Publikum einen hermeneutischen Zugang zum Originaltext darstellen, der ihm Deutungsschlüssel sichert, die sonst vielleicht jenseits seines Horizontes geblieben wären. Dies alles gilt sozusagen ex negativo für die Entscheidung Rilkes, den italienischen Titel beizubehalten, eine Entscheidung, die die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Mehrdeutigkeit des Wortes lenkt. Rilke hat sich natürlich erlauben dürfen, die Originalform des Titels beizubehalten, weil dieser auch jenseits der Alpen allgemein bekannt war, aber die Hypothese kann kaum von der Hand gewiesen werden, dass er diesen Weg gerade deshalb eingeschlagen hat, um der Aufgabe zu entgehen, das mehrdeutige semantische 10 Vgl. L’Infinito nel mondo, 2, Centro Nazionale di Studi Leopardiani in Recanati, Recanati 1988, wo acht deutsche Übertragungen dieses Gedichtes aus den Jahren 1837 – 1985 abgedruckt sind (50 – 57).
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Potential des Wortes ins Deutsche transponieren zu müssen, dessen er sich zu dieser Zeit (wir sind in Duino, Anfang 1912) noch nicht voll bedienen kann. Man kann dabei nicht unerwähnt lassen, dass gerade die antimetaphysische Bedeutung, die im Lexem, das Leopardi benutzt hat, zu vernehmen ist, mit der Antimetaphysik von Rilkes Welt bestens im Einklang gewesen wäre. Die andere Bemerkung zur Übersetzung bezieht sich auf den Schluss des Gedichtes, der Leopardis Aussage tiefgehend modifiziert. Leopardi spricht von der »Süße« des Schiffbruchs, d. h. der Hingabe an die Perzeption der kosmischen Räume, die mit der Begrenztheit der alltäglichen Erfahrung zutiefst kontrastieren. Rilke betont im Gegenteil nicht die Süße eines Augenblicks, in dem das rationelle Denken abhanden kommt, sondern den innerlichen Charakter dieses Erlebnisses vom Schiffbruch der Ratio: Eine schwache und nur unvollständige Übersetzung, wie mir scheint, die der Rilke’schen Welt eher als der des Originals verpflichtet ist und jedenfalls den Kernpunkt von Leopardis lyrischer Aussage verfehlt.11 Die Sache wird aber noch problematischer an einem Punkt der Übersetzung, der mir schulmäßig rundweg ein Fehler zu sein scheint. Es handelt sich um die zentralen Verse des Gedichtes: Ma sedendo e mirando, interminati Spazi di là da quella, e sovrumani Silenzi, e profondissima quiete Io nel pensier mi fingo, ove per poco Il cor non si spaura.
Die letzten Worte werden von Rilke folgendermaßen übersetzt: »und über ein Kleines geht mein Herz ganz ohne / Furcht damit um«. Nun, Leopardis Original, in banale Prosa umgesetzt, bedeutet hingegen »wo wenig fehlt, dass mein Herz von Angst ergriffen wird«. Rilkes Übersetzung besagt das Gegenteil, nämlich »dass mein Herz nach kurzer Zeit furchtlos reagiert«. Die genaue ›Übersetzung‹ des italienischen »spaurirsi« versteht Rilke als Negation von »Angst haben«, nicht also »Angst bekommen«, sondern »keine Angst haben«. Ist dies kein Fehler? Ich habe andere deutsche Übersetzungen von L’Infinito in die Vergangenheit zurückverfolgt und bin zur ersten deutschen Übersetzung von Leopardis Canti (nach der Erstausgabe von 1831) gelangt, die Karl Ludwig Kannegiesser in Leipzig im Jahre 1836 veröffentlichte. Auch sie schlägt eine Lösung vor, die mindestens mehrdeutig erscheint und jedenfalls in dieselbe Richtung geht wie 11 Eine positivere Bewertung dieser freien Übertragung des Schlussverses gibt Fabio Russo, »Due Canti di Leopardi tradotti da Rilke«, Studi Germanici, N. S., XIV, 2 – 3 (1976), 337.
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später Rilke und heute noch Hans Magnus Enzensberger.12 Letzterer übersetzt: »wo auch das Herz / bald keine Angst mehr kennt«. Kannegiesser hatte übersetzt: »daß ein Weilchen doch / Das Herz nicht bebt«, was etwas weniger explizit als die Übersetzungen Rilkes und Enzensbergers ist, aber unweit von ihnen liegt. Ich gestehe, dass mir vor dieser Übereinstimmung bei zeitlich so weit auseinander liegenden Übersetzungen Zweifel gekommen sind, ob mein Verständnis des Originals richtig ist. Ich habe versucht, mir darüber klar zu werden, ob meine Lektüre, die in allen italienischen Schulen vermittelt wird, über das Herz, das von Angst ergriffen wird, zutrifft, und ich glaube behaupten zu dürfen, dass wirkliche Zweifel über den Sinn des Wortes »spaura«, wie Leopardi es benutzt, nicht statthaft sind. Aber ich möchte hervorheben, wie die Gelegenheit zu dieser Problematisierung von einem traditionell gesicherten Verständnis durch Übersetzungen gegeben worden ist. Übersetzungen bestätigen sich dadurch als hermeneutische Mittel nicht nur zum Lesen von anderssprachiger Literatur, sondern auch zur Deutung und Vertiefung von literarischen Texten in der eigenen Sprache. Eine letzte Frage bleibt, auf die ich hier nur hindeuten kann, nämlich die nach den tiefgehenden Motivationen der Kette von Missverständnissen von »spaura« in den deutschen Übersetzungen von L’Infinito. Dabei darf nicht unerwähnt bleiben, dass auch richtige Übersetzungen nicht fehlen, wie zum Beispiel diejenige des Italianisten Wilhelm Theodor Elwert, die nach seinem Tod in der Anthologie Italienische Dichtung aus acht Jahrhunderten (Darmstadt 1997) erschienen ist.13 Es mag interessant sein, zu bemerken, dass die Missverständnisse, von denen hier die Rede ist, fast nur in den deutschen und sehr selten in den Übersetzungen in andere Sprachen vorkommen. Wie mir scheint, kann die Erklärung in einer Tiefenstruktur der deutschen Sprache selbst gesucht werden, die auch gute und erfahrene Übersetzer, wie sie Rilke, Enzensberger oder Kannegiesser zweifellos sind, zu einer irrtümlichen Deutung des Wortes geführt hat. Was ist bei diesen Übersetzern passiert? Man hat den Anfangsbuchstaben von »spaura« in einem starr verneinenden Sinn verstanden. Dies ist auch im Italienischen nicht unmöglich. Man denke an das Wortpaar »legare« / »slegare«, wo »slegare« das Gegenteil von »legare« bedeutet. Mit anderen Worten scheint die starre Deutung vom anfänglichen »s« bei »spaura mit 12 Es handelt sich um eine unveröffentlichte Übersetzung, die Enzensberger dem Verfasser anlässlich eines Seminars an der Universität Bologna zu mehreren Beispielen moderner poetischer Übersetzungen zukommen ließ. 13 Unter den Übersetzungen, die im zitierten L’Infinito nel mondo erscheinen, verfälscht den Sinn von »spaura«, außer den schon genannten Kannegiesser und Rilke, auch Hanno Helbig (1987), während Joseph Maurer (1985) zu einer andersgearteten, aber nicht minder falschen Formulierung seine Zuflucht nimmt. Andere Übersetzer, darunter Paul Heyse, übersetzen korrekt. Helmut Wocke, der Rilkes Übersetzung kurz bespricht, merkt nicht, wie falsch er die Vorlage übertragen hat. Vgl. Wocke, Rilke und Italien., 79.
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negativer Bedeutung (= »die Angst überwinden«) eine Überbewertung des Präfixes »s«, wie dies natürlich anderswo im Italienischen wohl möglich wäre. Dies aber könnte auf die enorme Rolle zurückgeführt werden, die Verbpräfixe im Deutschen spielen, wo sie den Sinn des Verbs variieren, umkehren oder sogar ersetzen können. Manche deutsche Übersetzer haben sich, mit anderen Worten, durch ihre sprachliche Sensibilität lenken lassen, in der tief verwurzelte Mechanismen ihrer Muttersprache weiterhin am Werk blieben. Diese Hypothese könnte dieses Kuriosum der Missverständnisse verstehen helfen, die fast nur in der Tradition der deutschen Übersetzungen von L’Infinito vorkommen. Aber kehren wir zu Rilke und seinem Verhältnis zur italienischen Sprache zurück. Unsicherheiten beim aktiven Gebrauch des Italienischen bleiben bei ihm bis zuletzt. Mancher Brief aus den Jahren der Reifezeit ist voll grammatischer Ungereimtheiten und archaischer Ausdrücke, die einen Umgang mit italienischen Schrifttexten aus vergangenen Jahrhunderten bezeugen (es sind die Jahre, in denen Rilke Michelangelo übersetzt). Ein banales Brieflein vom 24. Mai 1914 an eine italienische Übersetzerin, Cecilia Braschi, die den Cornet ins Italienische gebracht hatte, und nur den Zweck hat, einen Termin zu einer Begegnung vorzuschlagen, erscheint sowohl grammatikalisch als auch, was die Stilebene angeht, unkorrekt, ist es doch voll rhetorischer Verzierungen und verwendet einen Wortschatz, der völlig unzeitgemäß ist.14 Die späteren Briefe an die Mailänder Comtesse Lalla Gallarati Scotti, wie übrigens deren Repliken, sind in einem viel korrekteren Französisch verfasst. Trotz solcher Unsicherheiten und trotz der mangelnden Vertrautheit mit der italienischen Sprache und Literatur wagt es Rilke, ein paar Gedichte in dieser Sprache zu schreiben. Es handelt sich um ein allgemeines Problem. Rilke hat bekanntlich um die Jahrhundertwende versucht, Gedichte in russischer Sprache zu schreiben,15 und viel später, zwischen 1922 und seinem Tod, hat er vier schmale Bände Gedichte in französischer Sprache veröffentlicht. Rilkes französische Gedichte können in den Kanon dieser Literatur aufgenommen werden, ›funktionieren‹ sie doch poetisch nicht minder als die gleichzeitigen und parallelen deutschen Gedichte. Sie gehören zu den Texten, die die letzte Schaffensphase des Dichters mit einem eigenen Akzent versehen. Rilke ist ein großer deutscher Dichter, und er weiß es. Das, was nach seiner eigenen Wahrnehmung und der der Zeitgenossen der Höhepunkt seiner poetischen Produktion ist, erreicht er 1922. Danach beginnt er, auch und zeitweise vorwiegend auf Französisch zu schreiben. Dies ist eine schöpferische Geschich14 Das Brieflein wird im Band Rainer Maria Rilke, Lettere milanesi, hg. Lavinia Mazzucchetti, Milano 1956, 40 f. photographisch wiedergegeben. Der Band enthält den Briefwechsel mit der Gräfin Gallarati Scotti in italienischer Übersetzung. 15 Heute in Rilke, Sämtliche Werke, IV, 947 – 959.
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te von außerordentlichem, auch literaturtheoretischem Interesse. Er leidet unter keinem Zwang (wie es im Gegenteil ein paar Dezennien später bei manchen Exilautoren der Fall sein wird) und doch beginnt er eine wohl bekannte, aber immerhin fremde Sprache nicht nur in der Briefkommunikation (also aus sozial-kommunikativen Gründen), sondern auch zu einem Zweck zu benutzen, der ihn selbst im Mittelpunkt seiner Persönlichkeit angeht, in der poetischen Kommunikation. Die Beweggründe dazu können wir uns aufgrund der kritischen Hypothese vorstellen, die der italienische Germanist Furio Jesi, ein genialer, vorzeitig verstorbener Interpret der Poesie Rilkes, vor mehreren Jahren zum ersten Mal 1976 formulierte.16 Jesi untersuchte das subtile Spiel, das sich im Augenblick einstellt, wo der Dichter in einer Sprache schreibt, die nicht die seinige ist, und somit sich auf ein Sagen einlässt, das gleichzeitig kein Sagen ist. Er sagt nämlich etwas poetisch. Aber dieses Sagen erfolgt in einem anderen sprachlichen Medium, ist also ein Nicht-Sagen in seiner Sprache. Wenn man in einer Sprache dichtet, die einem nicht als die eigene gehört, schafft man das Paradoxon des Sagens, das auch ein Nicht-Sagen ist. Diese Entscheidung für eine andere Sprache ist höchst reizvoll, besonders im Falle Rilkes, der sich vor allem in der letzten Phase seines schöpferischen Werdegangs stets im paradoxen Bereich bewegt, wo, wie er selber behauptet, »das Unsagbare« gesagt werden soll. Die Verwendung der Fremdsprache gehört in die Erfahrung des Sagens von Unsagbarem, ist ein Sagen in einer Sprache, die nicht diejenige ist, die sie sein sollte, nämlich die Sprache der spontanen Ausdrucksweise, die Muttersprache. Wenn wir uns aber nun den französischen Gedichten der letzten Lebensjahre zuwenden, wie sie in den Sämtlichen Werken stehen, und sie mit den deutschsprachigen vergleichen, müssen wir eine grundlegende Differenz feststellen. Der späte deutschsprachige Rilke ist oft – nicht immer, aber in wachsendem Maße – ein schwieriger Dichter, der gewissen Experimenten der abstrakten bildenden Kunst an die Seite gestellt werden kann, ein Dichter, der zur Abstraktheit und d. h. in hohem Maße zur Asemantizität tendiert. Ein sehr spätes Gedicht vom November 1925, Gong, thematisiert gewissermaßen gerade eine solche Befreiung des poetischen Textes von jeglichem realen oder sachlichen Bezug im Hinweis des Schlussverses, wo als Kulminationspunkt die Aussage »unser, an Alles, Verrat« genannt wird.17 Es geht um den Verrat »an Alles« durch die poetische Sprache, die gewissermaßen fingiert, etwas auszusagen, aber es nur fiktiv sagt. Sie besagt nämlich etwas, aber in Wirklichkeit will sie nichts Sachliches sagen, um zuletzt nur sich selbst zu sagen: Die Formulierung stellt sich als Inhalt des Gedichtes selbst dar. Solche geistige Akrobatik gehört 16 Vgl. Furio Jesi, Esoterismo e linguaggio mitologico. Studi su Rainer Maria Rilke, Messina, Firenze 1976. 17 Rilke, Sämtliche Werke, II, 186 – 187.
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vollkommen in die poetische Krise des frühen 20. Jahrhunderts und, wenn der Tod nicht dazwischen getreten wäre, hätte sie sicher Rilke dazu geführt, bei der Entwicklung der nachexpressionistischen Poetiken eine zentrale Rolle zu spielen. Wir besitzen über diese mögliche historische Rolle nur einige Indizien, gleichsam Zeichen, die die Entwicklungslinie angeben, an der er arbeitete. Der Tod hat uns der zu erwartenden reiferen Früchte beraubt. Dies alles gilt allerdings nur für einen Teil der deutschsprachigen Gedichte. Bei den veröffentlichten französischen Gedichten18 tritt uns ein anderer Rilke entgegen, und zwar ein viel leichterer, entspannter und zugänglicher Dichter. Er ist selbstverständlich dem deutschen Rilke, was Themen, Anklänge und bildliches Repertoire angeht, zutiefst verwandt, aber bei ihm fehlt jene sprachliche und logische Akrobatik, die die allerletzte Phase eines Teils seiner deutschen Produktion kennzeichnet. Es ist so, als ob das fremde, wie wohl voll beherrschte Sprachinstrument im Augenblick, wo er sich einer anderen Sprache bedient, wie ein Filter wirkte und einige der radikalsten Entscheidungen hemmte, die im Gegenteil die letzte Grenze darstellen, zu der er in den letzten Lebensjahren drängte. In diesen Kontext gehören die beiden kurzen Gedichte in italienischer Sprache, die wir besitzen.19 Natürlich ist kein Vergleich mit der französischen Produktion möglich. Auf der einen Seite finden wir vier Gedichtsammlungen, auf der anderen nur zwei Versuche in italienischer Sprache, die zudem in einem Falle sicher und im anderen höchst wahrscheinlich unvollendete Bruchstücke sind. Und doch, was in diesen italienischen Versuchen weht, ist dieselbe Luft, die die französischen Gedichte atmen. La nascita del sorriso (1920) Vinse il Dio quella chi solo al mondo Ebbe la fonte nel suo angelico viso. Cantimi, inclita Musa, il primo giocondo Quello, nostro ancora, primo sorriso ........................... ........... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
Rilke befindet sich in Berg am Irchel bei Zürich im November des Jahres 1920 mitten in einer persönlichen und schöpferischen Krise, die in seinem Leben beispiellos ist. Sobald wie nur möglich, kurz nach Ende des Krieges, hat er München verlassen und sich in die Schweiz begeben, das vom Krieg unberührte 18
Vgl. Ibid., II, 513 – 745. Ibid., II, 749. 20 Die Geburt des Lächelns: »Den Gott überwand die, die allein auf der Welt / in ihrem Engelsantlitz die Quelle hatte. / Sing mir, ruhmwürdige Muse, das erste frohe, / das unsrige noch, seltene Lächeln. / . . . . . . . . . . . . . / . . . . . . . . . . . . . / .« Übers. von mir. 19
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Land, wo er dank seiner Vertrautheit sowohl mit der deutschen wie auch mit der französischen Sprache nicht fürchten musste, in die Isolierung zu verfallen. Die Entscheidung für die Schweiz wird weiterhin durch den Willen mitbedingt, auch die äußerlichen Vorkriegsbedingungen wiederzufinden, die es ihm ermöglichen sollen, den Faden der Reflexionen aufzunehmen, aus denen die Duineser Elegien einst im Jahre 1912 ausbruchsartig entstanden waren, um dann bald abzubrechen und ein riesiger Torso zu bleiben, der auf seine Vollendung jahrelang harrte. Das folgende Dezennium ist eine Zeit der angstvollen und nahezu orientierungslosen Suche, zu der auch Übersetzungen sowie Versuche in italienischer und – in reichlichem Maß – französischer Sprache gehören. Der Fall dieses kurzen italienischen Fragments ist besonders interessant. Im November 1920 schreibt Rilke ein deutsches Gedicht unter dem Titel Die Entstehung des Lächelns (ein Titel, der allem Anschein nach eine editorische Rückübersetzung aus dem parallelen italienischen Fragment ist), wo er besingt, wie ein Gott versucht, die Vehemenz der urtümlichen Leidenschaften der primitiven Menschheit mit der Hilfe von »einem jüngsten Weibe« zu mildern. Das Gedicht stellt eine unvollendete mythische Erzählung dar, und Rilke selbst hat eine kurze Prosafassung geliefert, die uns erklärt, dass ein Gott in der ungeschrieben gebliebenen Folge des Gedichtes die ungestümen Spannungen der Leidenschaften der Urmenschen durch das Lächeln eines Mädchens zu mildern versucht hätte, ein Lächeln, das ein »Consentment des Geistes, in uns zu sein,«21 dargestellt hätte. Der Prosaentwurf wird durch die vier Zeilen in italienischer Sprache eingeleitet, denen wiederum zwei Zeilen Punkte folgen. Es handelt sich also deutlich um ein Fragment. Nun wäre sehr interessant, zu wissen, ob das deutsche Gedicht der Prosafassung mit dem mottoartigen italienischen Fragment vorangeht, oder ob zuerst die paar italienischen Zeilen niedergeschrieben wurden, um dann unterbrochen zu werden und zur Prosafassung überzugehen. Der Herausgeber der Sämtlichen Werke behauptet, Rilke habe nach den deutschen Versen »nachträglich eine Inhaltsangabe in Prosa« geschrieben. Wenn dem so ist, muss der besondere schöpferische Prozess auffallen. Rilke steht bei der Arbeit am deutschen Gedicht vor einer Hemmung und versucht mehrere Wege, um sich zu befreien: den Rekurs auf eine Fremdsprache und die Formulierung in Prosa dessen, was den Inhalt der mythologischen Verserzählung hätte ausmachen sollen. Wir können hier nicht das kleine philologische Rätsel lösen, wir begnügen uns, darauf hinzuweisen, dass der Dichter in einem Augenblick der schöpferischen Krise auch seine Zuflucht zu einer anderen Sprache nimmt, obwohl wir heute uns kaum erklären können, warum dabei die problematisch beherrschte italienische Sprache und nicht das Französische in Anspruch genommen wurde. Schon der Kommentar in den 21
Ibid., II, 455.
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Sämtlichen Werken hebt hervor, dass zwei morphologische »Versehen« in den vier italienischen Versen vorkommen, einmal »chi« für »che« und dann »cantimi« für »cantami«. Der Kommentar geht dabei an einer anderen Stelle vorbei, die auf Italienisch kaum akzeptabel ist. Ich meine die für das italienische Sprachempfinden überlange Adjektivierung, die die letzten anderthalb Verse umfasst, die auf Deutsch im Gegenteil problemlos bestehen könnte, und die zudem einen weiteren morphologischen Fehler aufweist, nämlich »quello, nostro«, wo die italienische Grammatik nur »quel, nostro« erfordern würde. Die Szene scheint folgendermaßen rekonstruiert werden zu können. Das deutsche Gedicht (Glaub nicht, es war seit immer. Jene Hände) ist an einen toten Punkt gelangt. Der Dichter versucht seine poetische Idee anders weiterzuführen, indem er zum Italienischen übergeht und dabei die Tonlage wechselt, die nicht mehr erzählerisch, sondern hymnisch ist. Er muss aber bald vor den Schwierigkeiten halt machen, die ihm eine unvollkommen beherrschte Fremdsprache bereitet. Dann fixiert er schriftlich den Inhalt der nicht ausgeführten Verserzählung in einer Prosanotiz, deren Adressat uns unbekannt ist. Wenn diese Rekonstruktion, die wohl wahrscheinlich ist, aber nur auf Vermutungen basiert, zutrifft, stellen die vier Zeilen des italienischen Gedichtes nur den Gedichtanfang dar, den Rilke nicht hat weiterführen können – was sich daran zeigt, dass er zwei weitere Verse hinzusetzt, die nur aus Punkten bestehen, die also eine Lücke signalisieren. Mit anderen Worten: La nascita del sorriso ist kein Motto zum nachträglich verfassten Prosaentwurf, wie es der Herausgeber der Sämtlichen Werke behauptet, sondern stellt einen verunglückten Versuch dar, durch einen neuen Ansatz in einer Fremdsprache das Thema auszuarbeiten, das er im deutschen Gedicht zu behandeln begonnen hatte, ohne es zufrieden stellend auszuführen. Es ist keine irrelevante Differenz, ob es um ein Motto geht oder um den gescheiterten Beginn eines neuen Gedichtes. Es ist keine philologische Spitzfindigkeit und keine professorale Grille, dies feststellen zu wollen, denn, was hier vorgeht, ist etwas, was in der Literaturgeschichte unzählige Male bezeugt ist, aber eine Frage darstellt, deren Lösung auf immer neue Weisen gesucht wurde. Ein Motto ist ein Zusatz zu etwas, was aus sich selbst besteht oder bestehen kann. Ein neues Gedicht gleichen Themas nach einem offenbar als ungenügend empfundenen Versuch, ist etwas sehr Verschiedenes. Vor der Unmöglichkeit, die poetische Komposition weiter zu bringen, rekurriert Rilke auf einen Umweg, nämlich die Fremdsprache. Was er von der Fremdsprache erwartete, kann heute natürlich kaum mehr erschlossen werden. Vielleicht eine innere Distanznahme zum behandelten Stoff, vielleicht einen anderen poetischen Modus, denselben Stoff anzugehen: Ein Indiz dafür wäre demnach die nicht mehr erzählerische, sondern hymnische und leichtere Tonlage der Behandlung. Wie dem auch sei, klar ist, dass wir uns einem Vorgang gegenübersehen, der auch theoretisch von hohem Interesse wäre, ohne dass wir uns hier länger damit aufhalten können, ihn zu besprechen.
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Gehen wir nun zum anderen italienischen Gedicht über, das ebenfalls unvollendet ist und auf den 7. bis 10. August 1924 in Muzot datierbar ist. Dimmi uccello, sempre vai lì dove il cuore ti porta? Mai non t’inganni mai non cedi al vento? Io spesso, su queste ali dell’alma vado incerto. L’Angelo inoccupato d’una fanciulla chi dorme verso un punto del cielo torna il mio cuor.22
Abgesehen vom »chi« anstelle von »che«, wie es uns im anderen, schon besprochenen italienischen Gedicht begegnet, sind hier ein paar sprachliche Unsicherheiten hervorzuheben, wie etwa »inoccupato« (eine ziemlich seltene Form, die allerdings auf einer gehobenen literarischen Sprachebene vielleicht noch akzeptabel wäre) und vor allem »torna« im Schlussvers als transitives Verb, was im Italienischen unmöglich ist. An seine Stelle wäre »volge« zu setzen. Und weiter: Im zweiten Vers könnte man sich fragen, ob der leicht holprigen rhythmischen Form des Rilkeschen Textes »lì dove il cuore ti porta« nicht vielleicht die glattere italienische Satzform »lì dove ti porta il cuore« vorzuziehen wäre. Rilke hat sich in diesem Fall durch die strenge Satzstruktur der deutschen Sprache beeindrucken lassen, die im Nebensatz die Folge SubjektVerb verlangt. Auch hier wäre, mit anderen Worten, Rilkes Sprachgefühl weiterhin nach den Spielregeln der Muttersprache tätig gewesen. Auch in diesem Falle hätten wir also mit einer schwerwiegenden Interferenz von Grundstrukturen der Muttersprache, wie – wohl bei gegenläufiger Richtung – bei der Übersetzung von »spaura« in Leopardis L’Infinito zu tun. Dies gäbe zu Fragen über das wechselseitige Spiel von Ausgangssprache und Zielsprache beim Umgang mit literarischen Texten Anlass, denen wir hier nicht nachgehen können. Es war aber vielleicht nicht unnütz, auf die Komplexität solcher schöpferischen Vorgänge selbst bei einer sprachlich so empfindsamen Persönlichkeit wie Rilke, hingewiesen zu haben. Insgesamt hat das kurze Gedicht einen unvollendeten Charakter. Der Leser könnte noch etwas über den »punto del cielo« erwarten, wohin seine Aufmerksamkeit gelenkt worden ist. Es kann jedenfalls den französischen Gedichten dank der Einfachheit und Singbarkeit seiner Sprache an die Seite gestellt wer22 »Sag mir, Vogel, fliegst du dorthin / immer, wo dich dein Herz hinführt? / Irrst du niemals, / weichst du nie dem Wind? / Ich schwebe auf diesen Flügeln / der Seele unsicher oft. / Der unbeschäftigte Engel / eines schlafenden Mädchens / gegen einen Punkt des Himmels / wendet mir das Herz.« Übers. von mir.
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den. Auch thematisch gehören die beiden Chiffren des Mädchens und des Engels zum persönlichsten Bestand der späten Dichtung Rilkes. Hier wirken diese beiden Gestalten symbiotisch, um des Dichters Seele (der Vogel als Sinnbild der Seele ist seit jeher ein fester Bestandteil der westlichen figürlichen Tradition) nach einem Himmelspunkt zu richten, und dies, wie man vermuten kann, unabhängig von oder sogar gegen seinen Willen. Das Gedicht, wiewohl anscheinend anspruchslos, verfehlt nicht seine Wirkung und bestätigt Rilkes Entscheidung (wie weit explizit gewollt?) für eine leichte Tonlage, wenn er in einer anderen Sprache – besonders im Französischen – dichtet. Der Schluss, zu dem man gelangen muss, ist also, dass die schwere, zukunftsträchtige schöpferische Arbeit, die aus Rilke einen Protagonisten der großen Geschichte der Weltlyrik im 20. Jahrhundert machte, dem Deutschen, der Sprache des echten, vollen Ausdrucks, vorbehalten wurde. Und das Deutsche führte ihn in Richtung auf eine neuartige Poetik der bildlichen Abstraktion, die wir nur noch am Horizont des vorzeitigen Ausgangs seines durch die Krankheit unterbrochenen Lebens ahnen können. Das Französische (zumindest bei den veröffentlichten Gedichten), und gelegentlich das Italienische, waren für Augenblicke einer leichteren, weniger problematischen und komplizierten Tonlage reserviert: Gleichsam zwei Seiten allerdings einer einzigen schöpferischen Medaille, die gerade aus dem Zusammenspiel und der Wechselwirkung beider kreativer Ausrichtungen Kraft und Tiefe gewinnt.
Literarische Reaktionen auf die Röntgenstrahlung Von Wells und Conrad zu Strindberg, Mann und Woolf Von Paul Goetsch Einleitung Bei Versuchen mit einer Kathodenröhre entdeckte Wilhelm Röntgen am 8. 11. 1895 die später nach ihm genannten X-Strahlen. Knapp zwei Monate später teilte er der Öffentlichkeit mit, dass diese Strahlen verschiedene Substanzen durchdringen können, dabei geschwächt werden und auf einer fluoreszierenden Scheibe oder photographischen Platte Schattenbilder von Gegenständen erzeugen.1 Die Nachricht löste eine rege Forschungstätigkeit aus.2 Die diagnostischen Möglichkeiten, die die Strahlen der Medizin eröffneten, wurden schnell erkannt und genutzt. Ähnliches gilt für die Materialforschung. Auch in anderen Bereichen spielte die Röntgenstrahlung alsbald eine Rolle, so etwa in der medizinischen Therapie oder als Beweismittel in Gerichtsverfahren. Wegen des Interesses verschiedener Disziplinen wurden die Strahlen näher erforscht und schließlich als elektromagnetische Wellen im Spektrum zwischen der extremen UV- und der Gamma-Strahlung beschrieben. Allmählich erkannte man ihre Gefährlichkeit, schränkte ihre Verwendung in Diagnostik und Therapie ein und entwickelte die Röntgengeräte in technischer Hinsicht weiter. Später kamen neue Geräte und Verfahrensweisen wie die Computertomographie, die Magnetresonanztomographie und der Ultraschall hinzu. Begründete die frühe wissenschaftliche Rezeption ein bis heute andauerndes Interesse an Röntgens Entdeckung, so war das Echo der breiten Öffentlichkeit im Jahre 1896 sensationell groß, wenn auch kurzlebig. Was vor allen anderen Anwendungsmöglichkeiten faszinierte, war der Blick in das Innere des mensch1 Vgl. Otto Glasser, Wilhelm Conrad Röntgen und die Geschichte der Röntgenstrahlen, Berlin 1959,16 – 23. 2 Vgl. ebd.; Bettyann Holtzmann Kevles, Naked to the Bone: Medical Imaging in the Twentieth Century, New Brunswick 1997; Lisa Cartwright, Screening the Body: Tracing Medicine’s Visual Culture, Minneapolis 1995.
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lichen Körpers. Röntgen hatte eine Aufnahme der Ringhand seiner Frau angefertigt. Bereits im Mai 1896 veranstaltete Thomas Alva Edison in New York eine Sonderausstellung über ›X-rays‹ und fand deshalb großen Anklang beim Publikum, weil er den Besuchern die Gelegenheit gab, die Hände röntgen zu lassen. Folgerichtig tauchten bald darauf Röntgengeräte auf Jahrmärkten auf. Wenn die Öffentlichkeit mit Neuem konfrontiert wird, versucht sie häufig, das Neue durch den Rückgriff auf Bekanntes einzuordnen und verständlich zu machen. Das war auch 1896 der Fall. Einige Zeitgenossen sprachen von »memento-mori-Strahlen« und meinten: The fashion now – to bask in Röntgen rays, Whereby as naked skeletons we’re shown Ere victor Death has claimed us for his own.3
Andere zogen in Versen und Karikaturen die neue Entdeckung ins Komische und warfen zum Beispiel die Frage auf, welche Konsequenzen der pornographische Blick auf und in den Körper habe. Im März 1896 verfasste der Amerikaner Lawrence K. Russel für Life folgende »Lines on an X-ray Portrait of a Lady«: She is so tall, so slender, and her bones – Those frail phosphates, those carbonates of lime – Are well produced by cathode rays sublime, By oscillations, amperes and by ohms. Her dorsal vertebrae are not concealed By epidermis, but are well revealed. Around her ribs, those beauteous twenty-four, Her flesh a halo makes, misty in line. Her noseless, eyeless face looks into mine. And I but whisper, »Sweetheart, Je t’adore.« Her white and gleaming teeth at me do laugh. Ah! Lovely, cruel, sweet cathodagraph!4
Auch die spätere Literatur griff Motive wie Tod, Sexualität und Totentanz auf. Sie beschäftigte sich aber extensiver mit der Röntgenstrahlung und setzte sich mit ihren tatsächlichen oder möglichen Konsequenzen auseinander. Im folgenden Überblick werden vier Schwerpunkte der Rezeption unterschieden, denen tendenziell die Wahl eines bestimmten literarischen Genres entspricht: 1. die phantastisch-spielerische Auslotung der Entdeckung (Science-Fiction); 2. die Gestaltung oder Infragestellung des esoterischen Potenzials ›unsichtbarer‹ Strahlen (Gespenster-Geschichte, ›psychic detective story‹); 3 4
Zit. Glasser, Röntgen, 33, 294. Zit. ebd., 34 f.
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3. die Röntgenstrahlung als Symbol psychologischer und zeitgeschichtlicher Probleme (realistisch-mythisierende Erzählungen); 4. Röntgens Entdeckung als ein Faktor neben anderen, die einen Wandel des Weltbildes rechtfertigen (nachimpressionistische Malerei, Strindberg, ›stream-of-consciousness novel‹).
Der phantastisch-spielerische Umgang mit der Entdeckung 1899 hielt Ernst Haeckel die Entwicklung der Naturwissenschaften für weitgehend abgeschlossen und erwartete vorerst »keine prinzipiellen Änderungen« mehr.5 Ein Jahr später hingegen meinte der amerikanische Historiker Henry Adams im Rückblick auf die Zeit seit Röntgens Entdeckung: In these seven [sic] years man had translated himself into a new universe which had no common scale of measurement with the old. He had entered a supersensual world, in which he could measure nothing except by chance collisions of movements imperceptible to his senses, perhaps even imperceptible to his instruments, but perceptible to each other, and so to some known ray at the end of the scale.6
Wenn man die Entdeckungen seit Röntgen und nach 1900 sowie den theoretischen Paradigmenwechsel der neuen Physik (Quantentheorie, Relativitätstheorie) berücksichtigt, so ist Adams zuzustimmen. Die mit dem Umbruch in der Physik gegebenen Möglichkeiten spielte die Science-Fiction durch. Unter den ersten Autoren, die das Thema der Röntgenstrahlung abwandelten, war der naturwissenschaftlich ausgebildete H. G. Wells. Sein Roman The Invisible Man (1897) erzählt die Erfolgs- und Leidensgeschichte der Titelgestalt, des Erfinders Griffin.7 Diese beeindruckt den skeptischen Naturwissenschaftler Kemp so sehr, dass er feststellt: »This beats ghosts« (57). Der Unsichtbare ist weder ein traditioneller Geist noch ein normaler Mensch, sondern gleicht den neuen Geistern in Röntgenbildern: In 1896, the Old Photography had been dwarfed by the sensational New Photography. [ . . . ] Perhaps the Invisible Man is the New Ghost. The Society for Psychical Research’s scientific approach to ghost study exposed numerous ghost frauds and in effect killed off many people’s belief of the Old Ghost. Wells, drawing from a rich history of ghost literature and the implications of Röntgen’s discovery, has created something more 5 Zit. Michael Titzmann, »Teil III: Revolutionärer Wandel in Literatur und Wissenschaften«, in: Karl Richter, Jörg Schönert, M. Titzmann (Hgg.), Die Literatur und die Wissenschaften 1770 – 1930, Stuttgart 1997, 297 – 322, hier 299 f. 6 Ernest Samuels (Hg.), The Education of Henry Adams, Boston 1975, 381 f. 7 Zitate im Text nach The Invisible Man, New York 1992.
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frightening, more horrible, and more violent than the old English middle-class ghost. As science killed off the Old Ghost, Wells used science to create the New Ghost.8
Eine von Wells genannte Quelle des Romans ist The Perils of Invisibility (1870).9 In dieser Ballade von W. S. Gilbert erfüllt eine gute Fee den Wunsch eines von seiner Frau geplagten Mannes und schenkt ihm Unsichtbarkeit. Sie versäumt es jedoch, auch seine Kleidung unsichtbar zu machen. Da seine Frau ihm geistesgegenwärtig die Hose wegnimmt und er wegen seiner Leibesfülle keinen Ersatz findet, irrt er fortan als beweglicher Kleiderständer durch die Welt und verblüfft und schockiert seine Mitmenschen: The poor old fellow had no rest; His coat, his stock, his shoes, his vest, Were all that now met mortal eye – The rest, invisibility.10
Wells übernimmt das Motiv der partiellen Unsichtbarkeit und ahmt in einigen Episoden die farcenhaften Erfahrungen des Unsichtbaren nach. Er lehnt sich ferner an Werke wie The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde und Frankenstein an. Griffin ist kein unterjochter Ehemann, sondern wie die Protagonisten der Romane von Robert Louis Stevenson und Mary Shelley ein ehrgeiziger Naturwissenschaftler mit faustischen Zügen.11 Von der Lösung des Problems der Unsichtbarkeit erhofft er sich schnellen Ruhm und Macht sowie Freiheit von allen gesellschaftlichen und moralischen Zwängen (66). Um seine Labortätigkeit zu finanzieren, bestiehlt Griffin seinen Vater und nimmt dessen Selbstmord in Kauf. Schließlich probiert er wie Jekyll seine Erfindung an sich selbst aus. Er verwandelt sich in ein Wesen, dessen Körper unsichtbar ist, während die Kleidung sichtbar bleibt. Wie Frankenstein erschafft sich Griffin ein zweites Ich, das auf andere Menschen monströs wirkt und aggressiv auf die Feindseligkeit reagiert, die ihm entgegenschlägt. An Shelleys Roman erinnern weitere strukturelle und inhaltliche Parallelen: Griffins um Mitleid werbende Geschichte von seinen Erfahrungen mit der Unsichtbarkeit, seine wachsende Isolation und seine Suche nach einem Partner, schließlich seine der 8 Allen W. Grove, »Röntgen’s Ghosts: Photography, X-Rays, and the Victorian Imagination«, Literature and Medicine 16 (1997), 141 – 173, hier 171. 9 Vgl. Ingvald Raknem, H. G. Wells and His Critics, Oslo 1962, 398. Nicht zugänglich war Charles H. Hintons Stella (1895), eine ›scientific romance‹ mit einer unsichtbaren Titelheldin. 10 James Ellis (Hg.), The Bab Ballads by W. S. Gilbert, Cambridge (MA), 1970, 292 – 293, hier 293. 11 Siehe Paul Goetsch, Machtphantasien in englischsprachigen Faust-Dichtungen, Paderborn 2008. Zu Wells’ und Nietzsches Übermensch vgl. Frank McConnell, The Science Fiction of H. G. Wells, New York, 1981, 111.
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Frustration entspringende Wut, die den Wunsch weckt, eine anarchistische Schreckensherrschaft zu etablieren, und ihn wie Frankensteins Monster zum Brandstifter und Mörder werden lässt. Sieht man davon ab, dass Griffin eine Mixtur zu sich nimmt, um sein Blut farblos zu machen, so orientiert sich Wells bei der Ausgestaltung des Motivs der Unsichtbarkeit an Röntgens Entdeckung. Kemp gegenüber erklärt Griffin, dass er nicht mit Röntgenstrahlen gearbeitet habe. Dann jedoch beschreibt er seine Vorgehensweise auf eine Weise, die Röntgens Versuchsanordnung ähnelt: [ . . . ] the essential phase was to place the transparent object whose refractive index was to be lowered between two radiating centres of a sort of ethereal vibration [ . . . ]. No, not these Röntgen vibrations – I don’t know that these others of mine have been described. Yet they are obvious enough. I needed two little dynamos, and these I worked with a cheap gas engine. My first experiment was with a bit of white wool fabric. It was the strangest thing in the world to see it in the flicker of the flashes soft and white, and then to watch it fade like a wreath of smoke and vanish. (68)
Die Tatsache, dass Röntgenstrahlen auch absorbiert werden können, liegt Wells’ Darstellung der partiellen Unsichtbarkeit zugrunde. Griffins Strahlen durchdringen zwar den menschlichen Körper, einschließlich des Gerippes, vermögen es aber nicht, unverdaute Nahrung und Kleidung zum Verschwinden zu bringen. Griffins anfängliche Euphorie weicht deshalb bald der Enttäuschung, denn völlig unsichtbar ist er nur, wenn er nackt und hungrig ist. Nicht einmal dann ist er freilich sicher. Hunde riechen ihn, und Menschen erkennen seine Fußspuren, hören ihn sprechen und niesen. Ist er wegen der Kälte angezogen, können Passanten an den Bewegungen der Ärmel und Hosenbeine seinen Standort erraten. »[I]n a cold and dirty climate and a crowded civilised city,« so klagt er, ist Unsichtbarkeit kein Vorteil, sondern »a helpless absurdity« (88). Deshalb sieht er sich meistens gezwungen, den unsichtbaren Körper zu vermummen und sich in der Öffentlichkeit als »a wrapped-up mystery, a swathed and bandaged caricature of a man« (88) zu bewegen. Sichtbar wird sein Körper erst wieder, als eine wütende Menschenmenge ihn tödlich verletzt. Wells kritisiert zwar den ›romantischen‹ Naturwissenschaftler, der sich über die gesellschaftlichen und moralischen Normen erhebt, wirbt aber andererseits um Sympathie für Griffin. Er betont die Einsamkeit des Forschers und das mangelnde Verständnis breiter Kreise für die Naturwissenschaften. Erzählerisches Kapital schlägt er aus der frühen englischen Rezeption von Röntgens Entdeckung. Vor allem der erste Teil des Romans, der verschiedenartige Reaktionen der Bevölkerung auf Griffin behandelt, ist »an astute presentation of the wonder, fear, and confusion surrounding Röntgen’s discovery«.12 Diese Kom12
Grove, »Ghosts«, 169.
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plexität zeichnet The Invisible Man vor anderen Werken der Science-Fiction aus, die sich mit Röntgenstrahlen und verwandten Erscheinungen befassen. Beispielsweise verbindet der Roman The Great Awakening: The Story of the Twenty-Second Century (1899) von A. A. Merrill die Entdeckung neuer Strahlen mit der Hoffnung, die Tuberkulose besiegen zu können. In der Short Story A Thousand Deaths (1899) von Jack London stellt ein Wissenschaftler mit einem an Crookes’ Röhre erinnernden Gerät fest, dass sein Sohn noch lebt. In Jack Adams’ Nequa, or, The Pattern of the Ages (1900) verfügt eine unterirdische Zivilisation am Nordpol über eine hoch entwickelte Apparatur, die die Untersuchung aller Organe ermöglicht. Dagegen lernt ein Zeitreisender in W. S. Harris’ Life in a Thousand Worlds (1905) eine mit starken Strahlen arbeitende und deshalb effektive Form der Gedankenphotographie kennen. In späterer Science-Fiction dient die Herstellung von Röntgenbildern unter anderem dazu, Erdenbürger bei der Begegnung mit forgeschritteneren Zivilisationen als Menschen zu identifizieren (Laurence Mannings The Man Who Awoke, 1933) oder Bakterien, die die Gestalt von Menschen angenommen haben, zu entlarven (John Campbells The Brain Stealers of Mars, 1936). In Gertrude Athertons Roman Black Oxen (1923) wird die Verjüngung der Gräfin Zattiany auf die Röntgenstrahlung zurückgeführt.13 Auf Röntgengeräte und verwandte Apparaturen nicht angewiesen ist Superman: Der Comics-Held (ab 1938) hat von Geburt an Röntgenaugen, die alles außer Blei durchdringen können.14 Wells selbst wandte sich übrigens schon mit dem Roman The First Men in the Moon (1901) von »those Röntgen rays there was so much talk about« ab und neuen Strahlen zu und beeinflusste auch hiermit die weitere Entwicklung der Science-Fiction.15
Das esoterische Potenzial der Röntgenstrahlung Röntgens Entdeckung gab dem zeitgenössischen Okkultismus Auftrieb. Auf der Suche nach Belegen für ihre Annahmen vertrauten besonders die Spiritisten, die Mitglieder der Society for Psychical Research waren, auf den dokumentarischen Wert von Photographien der normalerweise dem menschlichen Auge verborgenen Wirklichkeit. Die bereits in den 1860er Jahren entwickelte Geisterphotographie, die mit Vorliebe Porträts Lebender mit geisterhaft wirkenden Bildern von Toten kombinierte, war wegen ihrer kommerziellen Aus13 14 15
Die angeführten Beispiele nach Kevles, Naked, 117 ff. Siehe auch den Film X – the Man with the X-Ray Eyes (1963) von Roger Corman. H. G. Wells, The First Men in the Moon, London 1993, 12.
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richtung weitgehend als Beweismittel diskreditiert.16 Umso interessanter waren die geisterhaften Bilder, die die Röntgenaufnahmen lieferten. Röntgen hatte bei seinen Experimenten u. a. mit der von William Crookes entwickelten Kathodenröhre gearbeitet. Crookes, ein angesehener Chemiker, beschäftigte sich seit 1870 mit der Frage, ob elektromagnetische Wellen oder radioaktive Strahlung manchen spiritistischen Phänomenen zugrunde liegen. In seiner Funktion als Präsident der Society for Psychical Research erklärte er 1897, dass es vielleicht möglich sei, mit Hilfe von Röntgenstrahlung Gedanken zu übertragen und so das das Problem der Telepathie zu lösen: [ . . . ] in those rays we may have a possible mode of transmitting intelligence [ . . . ]. Let it be assumed that these rays or rays even of higher frequency, can pass into the brain and act on some nervous centre there. Let it be conceived that the brain contains a centre which uses these rays as the vocal cords and sound vibrations [ . . . ], and sends them out, with the velocity of light, to impinge on the receiving ganglion of another brain. In this way some, at least, of the phenomena of telepathy, and the transmission of intelligence from one sensitive to another through long distances, seem to come into the domain of law, and can be grasped.17
Andere Zeitgenossen hegten darüber hinaus die Hoffnung, dass eines Tages nicht nur Knochen, sondern auch Gedanken photographiert werden könnten. Wiederum andere nahmen an, dass die Strömungen, die von jedem Menschen ausgehen, auf einer photographischen Platte Spuren hinterlassen. »So konnte behauptet werden, [ . . . ] nicht nur Gedanken, sondern auch Gemütsbewegungen, Gefühle, Träume, ja die Seele selbst und andere fluidale Emanationen des menschlichen Körpers festhalten zu können.«18 Auch diejenigen, die an Hellsehen glaubten oder es für möglich hielten, wurden durch die Entdeckung 16 Vgl. Vincent Chéroux, Andreas Fischer, et al. (Hgg.), The Perfect Medium: Photography and the Occult, New Haven 2004; Andreas Fischer (Hg.), Im Reich der Phantome: Fotographie des Unsichtbaren, Ostfildern-Ruit 1997; Patrice Petro (Hg.), Fugitive Images. From Photography to Video, Bloomington 1995; Bernd Stiegler, Theoriegeschichte der Photographie, München 2006, 115 – 130; Yuri Tsivian, »Media Fantasies and Penetrating Vision: Some Links Between X-Rays, the Microscope, and Film«, in: John E. Bowlt, Olga Matich (Hgg.), Laboratory of Dreams: The Russian Avant-Garde and Cultural Experiment, Stanford 1996, 81 – 99. 17 William Crookes, »Address by the President«, Proceedings of the Society for Psychical Research 12 (1896 / 7), 338 – 355, hier 353. Siehe ders., Researches in the Phenomena of Spiritualism, London 1926. Auf Crookes’ Einstellung zur Telepathie verweist schon der Roman L’Eve future (1886) von Villiers de l’Isle-Adams. Vgl. Sabine Haupt, »Strahlenmagie: Texte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zwischen Okkultismus und Sciencefiction«, in: Moritz Baßler, Bettina Gruber, Martina Wagner-Egelhaaf (Hgg.), Gespenster: Erscheinungen – Medien – Theorien, Würzburg 2005, 153 – 176, hier 169. 18 Clément Chéroux, »Ein Alphabet unsichtbarer Strahlen: Fluidale Fotografie am Ausgang des 19. Jahrhunderts«, in: Fischer, Reich, 11 – 22, hier 17.
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Röntgens ermutigt. In La Revue spirite fragte Jules Bois 1896, ob es neben X-Strahlen nicht auch X-Blicke geben könnte.19 Alles in allem stärkte die Entdeckung der Röntgenstrahlen den Glauben an die Möglichkeit der Abbildung des Unsichtbaren und schien die Experimente der Esoteriker und Parapsychologen zu legitimieren. Dies wirkte sich auf zwei literarische Genres, die Gespenster- und die Detektivgeschichte, belebend aus. Autoren wie Algernon Blackwood, William Hope Hodgson und Sax Rohmer übernahmen spiritistische Vorstellungen, was z. B. in Hodgsons Carnack The Ghost-Finder (1913) und Rohmers The DreamDetective eine Transformation der Detektivgeschichte in der Art von Conan Doyle zur Folge hatte. Autoren wie Henry James und Rudyard Kipling hingegen psychologisierten die Gespenstergeschichte und gingen auf Distanz zum Okkultismus. Als Beispiel für die erste Darstellungstendenz soll hier Rohmers Case of the Haunting of Grange dienen; die zweite Tendenz wird durch James’ The Turn of the Screw repräsentiert. Morris Klaw, der Amateurdetektiv Sax Rohmers, unterscheidet sich deutlich von Sherlock Holmes. Doyles Detektiv gibt sich als Empiriker und logisch argumentierende ›Denkmaschine‹, führt aber die von ihm untersuchten Fälle hauptsächlich mit Hilfe seiner Imagination einer überraschenden Lösung zu. Morris Klaw gelangt zu nicht minder überraschenden Lösungen. Er geht jedoch von anderen Voraussetzungen aus und spezialisiert sich auf Fälle übernatürlichen Zuschnitts. Während Holmes Sammler und Experte auf Wissensgebieten wie Fußspuren, Tabaksorten und alte Manuskripte ist, verfügt Klaw, der ein Antiquitätengeschäft besitzt, über eine große Bibliothek mit Werken über mysteriöse Vorkommnisse und rätselhafte Kriminalfälle. Er hat sich lange in Ägypten und Yucatan aufgehalten und beschäftigt sich gern mit okkulten Phänomenen. Ist Holmes gegenwartsorientiert und gebärdet er sich in den frühen Erzählungen wie ein dekadenter Ästhet der 1890er Jahre, so wirkt Klaw wegen seiner altmodischen Kleidung und seines esoterischen Zugriffs auf Kriminalfälle als Exzentriker, der einer archaischen Welt angehört, die gegenüber der Magie und dem Übernatürlichen offen ist.20 Beispielsweise geht Klaw in Erzählungen wie Case of the Blue Rajah davon aus, dass wertvolle Gegenstände, zum Beispiel Diamanten, eine eigene, sich der 19
Zit. ebd. Vgl. auch C. W. Leadbetter, Clairvoyance, 3. Aufl., London 1908, 11 f. Vgl. Alexandra Lembert, »Nebulöse Gefilde: Äther in der britischen Literatur um 1900«, in: Albert Kümmel-Schnur, Jens Schröter (Hgg.), Äther: Ein Medium der Moderne, Bielefeld 2008, 205 – 226; dies., »›Thoughts are things‹: Magical Objects, Objective Magic and Sax Rohmer’s The Dream-Detective (1920)«, in: Elmar Schenkel, Stefan Welz (Hgg.), Magical Objects and Beyond, Glienicke 2007, 127 – 144. Zitate im Text nach Sax Rohmer, The Dream Detective, Garden City 1925. 20
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menschlichen Kontrolle entziehende Geschichte haben, die durch Wiederholungen gekennzeichnet ist. Klaw glaubt: »The Cycle of Crime is as inevitable as the cycle of ages. Man’s will has no power to check it« (143). Die ›mentale Photographie‹ schätzt er als »a great science« (113) und als Kunst (218). Er bedient sich ihrer zum Beispiel in Case of the Haunting of Grange. Als Verfasser des Buchs Psychic Angles, das neue Ansichten über Geister und Gespenster vorträgt, wird Klaw zu einem Landsitz gerufen, auf dem es zu spuken scheint. Da er in seinem Buch die mit dem Herrenhaus verknüpften Gespenstergeschichten behandelt hat, wird ihm schnell klar, dass das aktuelle Gespenst sich anders als seine Vorgänger verhält und deshalb mit einem Besucher des Landsitzes identisch sein muss. Um diesen zu entlarven, hält er sich nachts in dem Raum auf, in dem das ›Gespenst‹ aufzutreten pflegt. Er lässt die maßgeblich von der Vergangenheit geprägte Atmosphäre des Raums auf sich wirken und erwartet, dass er die Gedanken des neuen Eindringlings lesen kann: »This intelligence, [ . . . ] a living or dead one, has thoughts then, and thoughts [ . . . ] are things« (257). Mit seinem »inneren Auge« verarbeitet er die am Schauplatz kursierenden Gedanken früherer Besucher zu Bildern, um sie dann gleichsam zu photographieren.21 Vor dem erfolgreichen Abschluss seiner Gespensterjagd hat er lediglich das Problem zu erkennen, ob sich die Gedankenbilder auf die aktuelle Situation oder auf historische »thought-forms« (207) beziehen. Seine Tochter Inis, die ihm zeitweilig als Medium dient, erfasst im Traum die Gefahr, in der er schwebt, und rettet ihm das Leben. Klaw selbst lockt den Täter in eine Falle und nimmt in Kauf, dass dieser im Brunnen des Landsitzes umkommt. In einer anderen Erzählung spricht Klaw einmal von »the art of the odic photograph« (218). Mit »odic« bezieht er sich auf die von Freiherr von Reichenbach postulierte Lebenskraft Od oder, allgemeiner gesprochen, auf den Äther und mit ihm verknüpfte zeitgenössische »Vorstellungen von einem magnetischen Fluidum, das durch Mensch und Kosmos fließt«.22 Als Trägermedium der von ihm entdeckten Strahlen hat Röntgen 1896 ebenfalls den Äther genannt.23 In diesem Kontext verdient Beachtung, dass Klaw gelegentlich auch ›sehen‹ kann, was hinter Türen und Wänden vor sich geht (268). In Case of the Haunting of Grange heißt es: »when first I slept at Grange, I secured, among a host of other dreadful negatives, the negative of one who lurked in a secret hiding place. I saw him come creeping from the chimney corner, bearing a great mace which I recognized for one that had hung in the hall!« (276 f.). 21 22 23
Vgl. Lembert, »Gefilde«, 209. Vgl. ebd. Vgl. Glasser, Röntgen, 23.
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Alles in allem ist Klaw, der von anderen Figuren als verrückter Theoretiker (1) bezeichnet wird, als Detektiv äußerst erfolgreich. Sax Rohmer erfüllt damit eine Konvention der Genres Detektiv- und Gespenstererzählung. Der von seiner Frau verfassten Biographie ist zu entnehmen, dass er sich aber auch privat für Okkultes interessierte und Experimente auf diesem Gebiet durchgeführt hat.24 Henry James hatte über seinen Bruder William Kontakt zur Society for Psychical Research. Ob er 1897 den Vortrag Hysteria and Genius gehört hat, in dem Frederick Myers der Gesellschaft Freud vorstellte, ist unbekannt. Jedenfalls war er sich der Spannungen zwischen Spiritisten, Parapsychologen und Psychologen bewusst.25 Im Vorwort zu The Turn of the Screw schreibt er, die alten Geistererzählungen seien oft genug abgewandelt worden, während die neue Variante der Gespenstergeschichte, die Studie psychischer Gestörtheit, zu rational und wissenschaftlich geprägt sei und deshalb nicht »the dear old sacred terror« ihrer Vorgänger hervorrufen könne.26 Nachdem James traditionelle Geistergeschichten verfasst hatte, machte er in The Turn of the Screw den Versuch, die beiden erwähnten Erzähltypen miteinander zu verbinden.27 In der Geschichte wird eine zwanzigjährige Frau als Gouvernante für den zehn Jahre alten Miles und die achtjährige Flora eingestellt – unter der Bedingung, dass sie ihren Arbeitgeber, den Onkel der Kinder, nicht belästigt. Von der Persönlichkeit des Gutsherrn beeindruckt, widmet sich die junge Frau begeistert ihrer neuen Tätigkeit. Alsbald machen ihr aber die Abwesenheit des Arbeitgebers und ihre alleinige Verantwortung für die Kinder zu schaffen. Sie fühlt sich einsam und lauscht fasziniert, als sie erfährt, dass Miss Jessel, ihre Vorgängerin, eine Affäre mit Quint, einem Mann der Unterschicht, gehabt habe. Im weiteren Verlauf projiziert die Gouvernante immer stärker ihre Wünsche und Ängste auf die Kinder. Als Pfarrerstochter trennt sie streng zwischen Gut und Böse. Die Kinder hält sie für Engel, die es vor dem Bösen zu bewahren gilt. Sie kann beispielsweise nicht verstehen, dass Miles gern zur Internatsschule zurückkehren und unter Jungen sein möchte. Aus Furcht vor der Korruption der Kinder unterstellt sie, dass diese ein verbotenes (sexuelles) 24
Vgl. Lembert, »Gefilde«. Zu Freuds Verhältnis zum Okkultismus vgl. David S. Katz, The Occult Tradition From the Renaissance to the Present Day, London 2005, 146 – 152. 26 Zit. nach Deborah Esch, Jonathan Warren (Hgg.), Henry James: The Turn of the Screw, New York 1966. The Turn wird zitiert nach der Ausgabe: Penguin Popular Classics, London 1994. 27 Siehe vor allem Shoshana Felman, »Henry James: Madness and the Risk of Practice (Turning the Screw of Interpretation)«, in: Esch, Warren, James, 196 – 228. Vgl. auch Monika Schmitz-Emans, »Gespenstische Rede«, in: Baßler, Gruber, Wagner-Egelhaaf, Gespenster, 229 – 251, bes. 236 ff. 25
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Wissen besitzen und heimlich Kontakt mit den Verstorbenen Miss Jessel und Quint haben. Sie beobachtet das Verhalten der Kinder, nimmt sie ins Kreuzverhör und versucht, sie zur Beichte zu zwingen. Flora bricht zusammen und will nichts mehr mit ihr zu tun haben. Miles gesteht, er habe sich an der Schule böser Bemerkungen schuldig gemacht, stirbt aber in dem Moment in den Armen der Gouvernante, als diese triumphiert und glaubt, ihm den Dämon Peter Quint ausgetrieben zu haben. Wie eingangs schon angedeutet, ist die Gouvernante erstens Protagonistin einer Gespenstergeschichte und möchte die Kinder vor den Gespenstern der Vergangenheit schützen und ihre Unschuld verteidigen, d. h. sie vor dem Erwachsenwerden bewahren. Zweitens ist die junge Frau Hauptfigur in der psychologischen Studie einer Hysterikerin. Sie zieht die Kinder in ihre sexuellen Phantasien hinein – Miles nennt sie kurz vor dem Höhepunkt der Erzählung eine Teufelin (121) – und lastet ihnen an, was sie selbst obsessiv beschäftigt. Während sie in der Geistererzählung Flora vertreibt und Miles ›tötet‹, verliert sie in der psychologischen Studie beide Kinder, weil sie deren Reifeprozess nicht aufhalten kann. Die zweite in The Turn of the Screw angelegte Geschichte dementiert die viktorianischen Mustern folgende Geistererzählung,28 so wie diese umgekehrt suggeriert, dass sich die Handlung um okkulte Ereignisse dreht. Für die Ambiguität des Werkes sind die unzuverlässige Erzählerin und die aus ihrer Sicht kommentierten widersprüchlichen Aussagen der anderen Figuren verantwortlich. Zur Mehrdeutigkeit trägt aber auch bei, dass James einer brieflichen Äußerung zufolge die Handlung als »a merely pictorial [ . . . ] subject« konzipiert hat.29 Daniel Schwarz hat in diesem Zusammenhang die Rolle des Blicks in moderner Malerei und in James’ Erzählung untersucht und gefolgert, dass die Gouvernante sich immer wieder exponiert und den Blick (›gaze‹) der anderen auf sich lenken möchte.30 Allen Grove weist demgegenüber darauf hin, dass photographische Begriffe wie ›to fix‹ und ›to frame a picture‹ die Geisterauftritte umschreiben.31 Diese Beobachtung bedarf freilich der Ergänzung. Auf der ersten Seite von The Turn of the Screw fällt in einer Erzählrunde der Name »Griffin’s ghost«. Dass es sich dabei um eine Anspielung auf die Titelgestalt von dem kurz zuvor erschienenen Roman The Invisible Man von H. G. Wells handelt, kann nur vermutet werden. James lässt sich auf die Science-Fic28 Vgl. Paul Goetsch, »Old-Fashioned Children: From Dickens to Hardy and James«, Anglia 123 (2005), 45 – 69. 29 Brief an F. W. H. Myers (19. 12. 1898), zit. Esch, Warren, James, 115. 30 Vgl. Daniel Schwarz, »Manet, James’s The Turn of the Screw and the Voyeuristic Imagination«, Henry James Review 18 (1997), 141 – 175. 31 Vgl. Grove, »Ghosts«.
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tion-Elemente bei Wells nicht ein, ist aber möglicherweise von Wells’ Darstellung des Unsichtbaren angeregt worden. Typisch ist die erste Begegnung der Gouvernante mit Peter Quint. Sie erblickt auf dem entfernten Turm des Landsitzes einen Mann. Sie identifiziert ihn sofort als ihren Arbeitgeber, erkennt dann aber schockartig, dass sie sich getäuscht hat. Die Tatsache, dass sie den Mann nicht kennt, verändert ihre Gefühlslage: »An unknown man in a lonely place is a permitted object of fear for a young woman privately bred« (27). Aus dieser Stimmung heraus verändert sich auch ihre Wahrnehmung der Umwelt: »It was as if, while I took in – what I did take in – all the rest of the scene had been stricken with death. I can hear again, as I write, the intense hush in which the sounds of evening dropped« (27). Wird hier das Bild des fremden, Furcht erregenden Mannes gleichsam negativ eingerahmt, um die Enttäuschung der Frau auszudrücken, so erwachen kurz darauf, weil der Mann immer noch sichtbar und »as definite as a picture in a frame« ist, die Neugier der Gouvernante und ihre Sehnsucht nach Kontakt: »We were confronted across our distance quite long enough for me to ask myself with intensity who then he was and to feel, as an effect of my inability to say, a wonder that in a few instants more became intense« (27). Wie lange diese Phase andauert, vermag sie im Nachhinein nichts zu sagen. Stattdessen fällt ihr auf, dass die dominante Blickrichtung wechselt. Der Mann beginnt, sie anzustarren und zu fixieren (28), als teile er ihre Neugier und verlange nun seinerseits Auskunft über ihre Identität. Daraufhin kann sich die Gouvernante eine Beziehung zu dem Mann vorstellen: »We were too far apart to call to each other. But there was a moment at which, at shorter range, some challenge between us, breaking the hush, would have been the right result of our straight mutual stare« (28). Bei der zweiten Begegnung mit dem Mann blickt er sie durch ein Fenster an und wirkt so vertraut, dass sie meint, sie habe ihn eigentlich schon immer gekannt. Als sich sein Blick abwendet und er andere Objekte fixiert, glaubt sie auf einmal, dass er nicht ihretwegen, sondern wegen der Kinder gekommen sei. Sie spürt »a sudden vibration of duty and courage« (32), eilt auf die Terrasse und hält dort vergebens nach dem Mann Ausschau. Sie klammert sich an den Gedanken »He was there or was not there: not there if I didn’t see him« (33). Dann geht sie zum Fenster und schaut wie vorher der Mann in das Wohnzimmer hinein. In diesem Augenblick betritt die Haushälterin das Zimmer und erschrickt, als sie durch die Scheibe das Gesicht der jungen Frau bemerkt. Auch nach anderen Auftritten der Geister sucht die Gouvernante den Ort auf, von dem sie beobachtet wurde. Renate Brosch folgert: Die Art, wie sich die Gouvernante im Angesicht der numinosen Gefahr verhält, nämlich geheimnisvoll, gefährlich und vor allem mimetisch, verwischt die Grenzen zwischen ihr und dem Phantastischen. Diese Annäherung zwischen der fiktionalen Figur
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und den Geistern in effektvollen, ja dramatischen Positionierungen ist narrative Strategie, die erreicht, dass die Ebenen der Realität und des Phantastischen eins werden; uns ist – wie die Kritiken zeigen – die Gouvernante zumindest genauso suspekt wie die Geister. Diese Strategie, die James in den Romanen auf andere Weise verfolgt hat, kann man als Teil seiner erkenntniskritischen Konzeption von Wahrnehmungsreizen als subjektabhängig, momentabhängig und nicht kommunizierbar sehen.32
Die Hinweise auf das Doppelgängermotiv, die Fixierung und Rahmung des anderen, sowie die subjektive Umkehr der Blickrichtung legen nahe, dass es hier nicht allein oder primär um Geisterphotographie geht, sondern um die Darstellung von Vorgängen in der Gouvernante – um die Bildersammlung, in der sie sich spiegelt. Quint, der in der Außenwelt sichtbar wird, ist Produkt ihrer Phantasie, ein dämonischer Doppelgänger, den sie genauso wie Miss Jessel von den Kindern fernhalten möchte. Anstatt zu erkennen, dass sie selbst einen negativen Einfluss auf die Kinder ausübt, steigert sie sich in die Rolle einer Märtyrerin und Retterin hinein: »I was a screen – I was to stand before them. The more I saw, the less they would« (42). Folgt man der Deutung von Mathias Clasen, so verweist die Ausdrucksweise der Erzählerin hier erneut auf Photographien und Röntgenaufnahmen: If she means a literal screen [ . . . ] then »The more I saw the less I would« would appear to mean that if she stays on the lookout, she can spot the ghosts before the children do and then place herself between them. Alternatively, she could be thinking of a photographic plate as a kind of screen; in this interpretation, she »blocks« the light that is the ghosts, and by implication, develops the image for her own eyes only. She [ . . . ] could also mean a lead screen, a screen blocking X-rays, in which interpretation the ghosts have special (penetrative) vision which threatens the children and which the governess must block.33
James’ Verknüpfung der Erfahrungen einer Gouvernante mit einer Gespenstergeschichte erinnert an Jane Eyre und andere viktorianische Werke, die Realismus und ›Gothic horror‹ miteinander verbinden. Seine Skepsis gegenüber den Konventionen der Geistergeschichte und seine Neigung, Photographie und Röntgenstrahlung symbolisch zu verstehen, weisen dagegen auf die modernistische Erzählkunst voraus.
32 Renate Brosch, Krisen des Sehens. Henry James und die Veränderung der Wahrnehmung im 19. Jahrhundert, Tübingen 2000, 431 f. 33 Mathias F. Clasen, »Disturbing Images: X-Ray and ›The Turn of the Screw‹ «, in: Jakob Stongaard-Nielsen (Hg.), Henry James and Visuality http://www.human.dh/engelsk/ pages/henryjames/[accessed 28 May 2008], 14 f.
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Die Symbolik der Röntgenstrahlung in realistisch-mythisierenden Werken Mehrere Werke, die auf Röntgens Entdeckung anspielen, sind nicht primär an der Röntgenstrahlung im wissenschaftlichen oder medizinischen Alltag interessiert, sondern an der symbolischen Bedeutung, die ihr zugeschrieben wird. Die Autoren greifen die Assoziationen mit Tod und Totentanz auf, die schon in der öffentlichen Diskussion von 1896 eine Rolle spielten; sie zitieren bisweilen esoterische und mythologische Vorstellungen und konzentrieren sich auf die psychologischen Konsequenzen des mit der Röntgenstrahlung gegebenen neuen Wissens. Als Hauptbeispiel für diese modernistische, realistisch-mythisierende Darstellungsweise dient im folgenden Heart of Darkness. Im September 1898 besuchte Joseph Conrad in Glasgow Dr. McIntyre, einen der ersten Radiologen. Er bewunderte dessen Grammophon und Röntgengerät und staunte über die Aufnahme seiner Hand sowie die Durchleuchtung des Oberkörpers eines anderen Gastes. Beeindruckt war er auch von der sich anschließenden Unterhaltung über das Verschwinden der Materie und die Bedeutung unsichtbarer Wellen, d. h. die Existenz einer »eternal force that causes the waves«.34 Als er im Dezember 1898 mit der Niederschrift von Heart of Darkness begann, dürfte er sich an seinen Besuch erinnert haben. In Heart of Darkness kommt zwar kein Grammophon vor, doch ist die Trennung von Körper und Stimme ein wichtiger Aspekt der Geschichte.35 Für den Erzähler Marlow ist der immer wieder als sprachgewaltiger Redner charakterisierte Kurtz zunächst eine Stimme, die ihn aus dem Inneren Afrikas zu rufen scheint. Sie wird sodann, je mehr Marlow unter den Einfluss der Umwelt gerät, zu einer dämonischen Stimme seines Inneren. Entsprechend verwandelt sich die geographische Reise nach Zentralafrika in eine Seelenreise. Das Motiv der ›körperlosen Stimme‹ wird im Rahmen der Erzählung variiert: Als die Nacht hereinbricht, wird Marlow für seine Zuhörer immer mehr zu einer aus dem Dunkel kommenden Stimme, zu einem Medium, das von einer schrecklichen Wirklichkeit kündet, die sonst durch die Prinzipien und Spielregeln der Zivilisation verdeckt wird. In The Invisible Man meint Griffins Vermieterin plötzlich seinen Mund zu erblicken, »an enormous mouth wide open, a vast and incredible mouth that swallowed the whole of the lower portion of his face« (6). 34 Brief vom 29. 9. 1898, in: Frederick R. Karl, Laurence Davies (Hgg.), The Collected Letters of Joseph Conrad, vol. 2: 1898 – 1902, Cambridge 1986, 95. Vgl. die Röntgenaufnahme von Conrads Hand, Plate 1. Heart of Darkness wird zitiert nach Youth. Heart of Darkness. The End of the Tether, London 1960. 35 Zu Conrads »Edison-haunted text« vgl. aus anderer Perspektive Ivan Kreilkamp, »A Voice Without a Body: The Phonographic Logic of Heart of Darkness«, Victorian Studies 40 (1991), 211 – 244, hier 233.
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In Conrads Erzählung heißt es von dem auf der Bahre liegenden Kurtz: »I saw him open his mouth wide – it gave him a weirdly voracious aspect, as though he had wanted to swallow all the air, all the earth, all the men before him« (134). Anders als Griffin hat Kurtz tatsächlich den Herrscher gespielt und sich wegen seiner Besitzgier den ›Kannibalen‹ angenähert, denen er ursprünglich die Zivilisation bringen wollte. Negativ charakterisiert werden Kurtz’ Mund, Stimme und Rhetorik auch durch ein wissenschaftlich-technisches Vokabular aus den Bereichen Elektrizität und Schallwellen: »The power of the man is inextricable from an uncanny verbal ability that vacillates between presence and absence, distance and terrifying clarity. This is also the vacillation of the phonograph«.36 Ein Röntgengerät kommt in Heart of Darkness genauso wenig vor wie ein Grammophon, vielleicht deshalb, weil Conrad zeitlich frühere Erlebnisse (er hielt sich 1890 im Kongo auf) verarbeitet. Der Arzt und Phrenologe, der Marlow vor der Abreise untersucht, misst dessen Schädel, gibt aber dann zu, dass diese Methode nicht greift, denn die eigentlichen Veränderungen, die im Afrika-Reisenden vor sich gehen, sind innere Vorgänge. Um diese darzustellen, rekurriert Conrad bekanntlich auf den kolonialen Diskurs. Er arbeitet mit Gegensatzpaaren wie ›moderne Zivilisation und primitive Gesellschaft‹, ›Weiße und Schwarze‹, ›Hell und Dunkel‹, kritisiert und unterläuft aber sodann diese Oppositionen, ohne allerdings, wie die Auseinandersetzung mit Chinua Achebes Fundamentalkritik gezeigt hat, den kolonialen Diskurs ganz verabschieden zu können. Dass er dabei Anregungen von H. G. Wells, dem von ihm geschätzten ›phantastischen Realisten‹,37 erhielt, hat Patrick McCarthy an den Themen Darwinismus und Macht veranschaulicht.38 Im vorliegenden Kontext ist relevant, wie Conrad den Gegensatz zwischen Weißen und Schwarzen mit Hilfe der Motive Unsichtbarkeit, Kleidung und Nacktheit gestaltet. Eine Gestalt in The Invisible Man reagiert auf den Auftritt des Unsichtbaren mit den Worten: ›This chap you’re speaking of, what my dog bit. Well – he’s black. Leastways, his legs are. I seed through the tear of his trousers and the tear of his glove. You’d have expected a sort of pinky to show, wouldn’t you? Well – there wasn’t none. Just blackness. I tell you, he’s as black as my hat.‹ (13)
Ähnlich geht Conrad mit konventionellen Urteilen und Vorurteilen um. Wiederholt betont er die Hautfarbe und Körperlichkeit der Afrikaner und be36
Kreilkamp, »Voice«, 233. Brief an Wells vom 4. 12. 1898, in: Karl, Davies, Letters, 138. Conrad spielte in dieser Zeit mit dem Gedanken, The Invisible Man ins Polnische zu übersetzen. 38 Vgl. Patrick A. McCarthy, »Heart of Darkness and the Early Novels of H. G. Wells: Evolution, Anarchy, Entropy«, Journal of Modern Literature 13 (1986), 37 – 60. 37
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zeichnet sie häufig als Schatten,39 ein Ausdruck, der an mythische Unterweltsreisen erinnert, aber auch die Schattenbilder evoziert, die eine Röntgenaufnahme von einer Person liefert. Wenn überhaupt Kleidung im Zusammenhang mit Afrikanern erwähnt wird, dann ist es in der Regel die von Wilden, zum Beispiel Lendenschurze, die, hinten geknotet, Tierschwänzen gleichen. Die Körperlichkeit der Schwarzen wird anfangs von Marlow romantisiert: Now and then a boat from the shore gave one a momentary contact with reality. It was paddled by black fellows. You could see from afar the white of their eyeballs glistening. They shouted, sang; their bodies streamed with perspiration; they had faces like grotesque masks – these chaps, but they had bone, muscle, a wild vitality, an intense energy of movement, that was as natural and true as the surf along their coast. (61)
Als er bald danach auf der Handelsstation aneinander geketteten Schwarzen, angeblichen Kriminellen, begegnet, beginnt er, den Kolonialismus als »merry dance of death and trade« (62) zu durchschauen. Die Schwarzen erscheinen ihm jetzt als »unhappy savages«, deren Kleidung und körperliche Verfassung anzeigen, dass sie unter den Kolonialherren wie Tiere dahinvegetieren: Black rags were wound round their loins, and the short ends behind waggled to and for like tails. I could see every rib, the joints of their limbs were like knots in a rope: each had an iron collar on his neck, and all were connected together with a chain whose bights swung between them, rhythmically clinking. [ . . . ] All their meagre breasts panted together, the violently dilated nostrils quivered, the eyes stared stonily uphill. (64)
Der ›Röntgenblick‹ auf die Knochen, Gelenke und ausgemergelten Körper dieser und anderer »moribund shapes« und »black shadows of disease and starvation« (66) stellt Marlows Maßstäbe in Frage. An sich achtet er auf Ordnung und Disziplin und deshalb auch auf ordentliche europäische Kleidung. Jetzt aber fragt er sich, was es bedeutet, wenn ein toter Schwarzer ausgerechnet ein weißes Tuch um den Hals geschlungen hat. Er verspottet den schwarzen Aufseher, der zum Zeichen seiner Vertrauensstellung bei den Kolonialherren eine alte Uniformjacke trägt, an der ein Knopf fehlt. Als Wunder ironisiert er die elegante Erscheinung des weißen Buchhalters: [I]n the first moment I took him for a sort of vision. I saw a high starched collar, white cuffs, a light alpaca jacket, snowy trousers, a clear necktie, and varnished boots. No hat. Hair parted, brushed, oiled, under a green-lined parasol held in a big white hand. He was amazing, and had a penholder behind his ear (67). 39 Siehe auch Martine Hennard Dutheil de la Rochere, »Body Politics: Conrad’s Anatomy of Empire in Heart of Darkness«, Conradiana 36 (2004), 185 – 205, bes. 195 ff.; Aglaja Hildenbrock, Das andere Ich. Künstlicher Mensch und Doppelgänger in der deutschund englischsprachigen Literatur, Tübingen 1986, 248 – 264.
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Abgesehen von den Hinweisen auf Haar, Hand und Ohr, gleicht der Buchhalter als Kleiderständer dem Unsichtbaren in Wells’ Roman. Marlow räumt ein, dass er grundsätzlich Menschen schätzt, die nach längerer Zeit im Urwald immer noch auf ihr Äußeres Wert legen. Da er jedoch herausfindet, dass der Buchhalter eine schwarze Frau gezwungen hat, seine Kleidung in Ordnung zu halten, merkt er sarkastisch an: »Thus this man had verily accomplished something« (68) und lenkt so die kritische Aufmerksamkeit auf europäische Maßstäbe und Vorurteile. Vollends bloßgestellt wird die Buchhaltermentalität des Chief Accountant durch seine Reaktion auf das Leiden eines Sterbenden: »The groans of this sick person [ . . . ] distract my attention. And without that it is extremely difficult to guard against clerical errors in this climate« (69). Die gleiche Inhumanität legt der Leiter der Handelsstation an den Tag. Marlow nennt ihn einen Mephisto aus Pappe und glaubt: »[I]t seemed to me that if I tried I could poke my finger right through him, and would find nothing inside but a little loose dirt, maybe« (81). Während er zu den anderen Weißen, so etwa den habgierigen ›Pilgern‹, auf Distanz geht, lernt er seine schwarze Bootsmannschaft schätzen. Als Blut des verwundeten Steuermanns auf seine Schuhe spritzt, wirft er diese ins Wasser, eine Handlung, die wie folgt gedeutet werden kann: Just as Lear in his madness tears off his clothes and then his boots to mark his nakedness to the world, and the bitterness of his journey, so Marlow casts off the shoes that have carried him on this pilgrimage of blood, and for a moment sheds civilized protection in a symbolic acknowledgement of his role.40
Den Höhepunkt von Marlows Pilgerschaft bzw. dem ›Albtraum seiner Wahl‹ (141) stellt seine Begegnung mit Kurtz dar, der in den letzten Stunden seines Lebens an die sterbenden und toten Schwarzen im ersten Teil der Erzählung erinnert. Marlow formuliert seinen ersten Eindruck wie folgt: His covering had fallen off, and his body emerged from it pitiful and appalling as from a winding-sheet. I could see the cage of his ribs all astir, the bones of his arm waving. It was as though an animated image of death carved out of old ivory had been shaking its hand with menaces at a motionless crowd of men made of dark and glittering bronze. (134)
Später vergleicht er den in die Wildnis fliehenden Kurtz mit »a vapour exhaled by the earth« und einem Schatten (142). Dass Kurtz’ Gesicht und Schädel aus Elfenbein zu sein scheinen (115), weist auf das Objekt seiner Begierde hin und evoziert zugleich Totenköpfe. Diese Metaphorik stellt erneut eine enge Verbindung zwischen Kolonialismus und Totentanz her.41 Die Ausbeutung einer Kolonie kommt in der For40 Paul Edwards, »Clothes for the Pilgrimage: A Recurrent Image in Heart of Darkness«, Mosaic 4 (1971), 3: 67 – 74, hier 70. 41 Vgl. u. a. Henry J. Laskowsky, »Heart of Darkness: A Primer for the Holocaust«, Virginia Quarterly Review 58 (1982), 93 – 110; Garrett Stewart, »Lying as Dying in Heart
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mulierung Marlows der gewaltsamen Entnahme der Eingeweide eines Landes gleich (87); für diese Aufgabe sind nach Meinung des Managers der Handelsstation diejenigen am besten geeignet, die von vorneherein keine Eingeweide besitzen (74). Dass Kurtz dies erkannt hat, glaubt Marlow den letzten Worten des Sterbenden – »The horror! The horror« (156) – entnehmen zu können. Indem er Kurtz’ Bemerkung als »some sort of belief« (151) und Absage an die Vergangenheit versteht, kann er in die alltägliche, europäische Welt zurückkehren.42 In dieser nimmt der Erzähler Marlow freilich eine Sonderstellung ein, nämlich als ›Buddha in europäischer Kleidung‹, als Europäer, der von seinen Erfahrungen gezeichnet ist (»He had sunken cheeks, a yellow complexion, [ . . . ] an ascetic aspect«, 46), und als Buddha-Gestalt, die das Nichts geschaut hat. Rückkehr zur Normalität – das heißt auch, dass Marlow im Auftrag von Kurtz dessen Verlobte aufsucht und sie trotz seiner Bedenken mit der Lüge tröstet, Kurtz habe zuletzt von seiner Liebe zu ihr gesprochen. Marlow ist sich der Ungeheuerlichkeit seiner Lüge bewusst, bedeutet sie doch, dass er als Medium oder Übermittler einer Botschaft aus der Totenwelt versagt hat: »It seemed to me that the house would collapse [ . . . ], that the heavens would fall upon my head.« Dann jedoch gewinnt die Skepsis die Oberhand (»The heavens do not fall for such a trifle.«), und er verteidigt seine Lüge als Rücksichtnahme auf Kurtz’ Verlobte (162).43 Von dieser Frau gibt die Erzählung drei Beschreibungen. Bei der ersten handelt es sich um ein von Kurtz zu Beginn seines Afrika-Aufenthalts gemaltes Bild, »a small sketch in oils, on a panel, representing a woman, draped and blindfolded, carrying a lighted torch« (79). Auf paradoxe Weise verbindet das Bild Darstellungen der Gerechtigkeit und Freiheit miteinander. Bezieht man es auf Kurtz’ Verlobte, so drückt es den Geist aus, der den jungen Kurtz beflügelte, als er Licht ins dunkle Afrika bringen wollte und blind für die Realität war. Der zweiten Beschreibung liegt ein Porträtphoto der Verlobten zugrunde: »She struck me as beautiful – I mean she had a beautiful expression. I know that the sunlight can be made to lie, too, yet one felt that no manipulation of light and pose could have conveyed the delicate shade of truthfulness upon those features« (154 f.). Obgleich Marlow die Authentizität des Photos hervorhebt, kann er seine Zweifel an der Objektivität von Photographien nicht unterof Darkness«, PMLA 95 (1980), 311 – 331; Jeffrey Berman, »Marlow Explores the Boundaries Between Life and Death«, in: Claire Swisher (Hg.), Readings in Heart of Darkness, San Diego 1999, 48 – 56. 42 Vgl. Paul Goetsch, »›The Horror! The Horror!‹ Last Words from Dickens to Conrad«, Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik 51 (2005), 168 – 185. 43 Zu Marlows Verlegenheit und Sentimentalität in der Besuchsszene sowie zu seiner Lüge vgl. Cedric Watts, Conrad’s ›Heart of Darkness‹: A Critical and Contextual Discussion, Mailand 1977.
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drücken.44 Damit bereitet er auf die dritte Beschreibung vor, die seiner Erfahrung eher entspricht. Marlow schildert seinen Besuch bei der immer noch trauernden Verlobten und fühlt sich durch die Einrichtung ihres Salons an einen Sarkophag erinnert. Im Vergleich zum ersten Bild wirkt die Frau blass. Licht kommt nicht mehr von einer Fackel, sondern allein von ihrer Stirn und ihrem Haar. Ihre Gestik macht sie für Marlow zu »a tragic and familiar Shade« (160). An einer Stelle der dritten Beschreibung meint Marlow, die Frau werde von einem »ashy halo« (157) umgeben. Dieses Symbol verweist auf die Metaphorik, mit der der Rahmenerzähler Marlows ungewöhnliche Darstellungsweise erläutert: »[T]o him the meaning of an episode was not inside like a kernel but outside, enveloping the tale which brought it out only as a glow brings out a haze, in the likeness of one of these misty halos that sometimes are made visible by the spectral illumination of moonshine« (48). Marlow und sein Autor verlassen sich, anders formuliert, nicht auf realistische, quasi photographische Abbildung, sondern beziehen in ihr suggestivsymbolisches Erzählen ähnlich wie ein Röntgenbild die schattenhafte Wirklichkeit ein, die das fokussierte Objekt umgibt. Die trauernde Verlobte, die sich an die Erinnerung klammert und getröstet, belogen, werden will, trägt einen »ashy halo«. Dieser kennzeichnet auch das Werk als Ganzes, denn Conrad stellt die menschlichen Anstrengungen und Illusionen immer wieder aus der Perspektive des Totentanzes dar. Heart of Darkness ist mit Thomas Manns Der Tod in Venedig verglichen worden.45 Ein Vergleich mit Der Zauberberg dürfte noch ergiebiger sein. Mit Conrads Werk verbinden Manns Roman folgende strukturelle und thematische Parallelen: – die mythische Reise des Protagonisten in eine durch Krankheit und Tod gekennzeichnete Welt der Schatten, die jeweils auf eigene Weise den Zustand Europas bzw. der Zivilisation enthüllt; – die Internationalität des Figurenensembles, die die Kontrastierung verschiedener weltanschaulicher und moralischer Standpunkte erlaubt; – die Infragestellung der im ›Flachland‹ oder im englischen Alltag geltenden Normen und Illusionen; – die Ansteckung der Figuren durch die dekadente Umwelt; 44 Vgl. Garrett Stewart, »Reading Figures: The Legible Image of Victorian Textuality«, in: Carol T. Christ, John O. Jordan (Hgg.), Victorian Literature and the Victorian Imagination, Berkeley 1955, 345 – 367, hier 358 f. 45 Vgl. Anthony Fothergill, Secret Sharers. Joseph Conrad’s Cultural Reception in Germany, Oxford 2006.
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– die Auseinandersetzung der Protagonisten mit der Realität Afrikas bzw. des Sanatoriums (Marlows Ringen mit Kurtz im Dschungel, Castorps ›Schneevision‹); – schließlich die in einer Botschaft gipfelnde Absage an die erlebte Realität (Marlows Deutung von Kurtz’ letzten Worten, Castorps Einsicht, man dürfe dem Tod um der Liebe und Güte willen keine Herrschaft über seine Gedanken einräumen) – eine Absage, die angesichts der Zeitumstände problematisch erscheint.
Bei einem gründlichen Vergleich, der hier aus Raumgründen nicht möglich ist, wären neben dem Einfluss Goethes, Schopenhauers und Nietzsches auch die Unterschiede zwischen den Werken zu beachten. Anders als Conrad verarbeitet Mann in seinem breit angelegten Roman viel naturwissenschaftliches Wissen.46 Er spielt nicht nur auf die Röntgenstrahlung an, sondern nutzt Röntgengeräte und -bilder zur Ausgestaltung einzelner Szenen und zur symbolischen Vertiefung des Geschehens.47 Im »Durchleuchtungslaboratorium« (245), bei dem man nicht wusste, ob man »in dem Atelier eines Photographen, einer Dunkelkammer oder einer Erfinderwerkstatt und technischen Hexenoffizin« (258) war, erlebt Hans Castorp die erste Röntgenaufnahme mit: »Entladungen knallten wie Schüsse. [ . . . ] Lange Blitze fuhren knisternd die Wand entlang« (259 f.). Noch mehr als dieses Gerätegewitter beeindruckt Castorp das Bild seiner Hand, das einen Blick in das eigene Grab zu erlauben scheint und ihm seine Sterblichkeit bewusst macht (263). Mit Andacht und Schrecken, aber auch mit der zerrenden »Lust der Indiskretion« (263) schaut er sich Joachim Ziemßens »leeres Gebein« (261) an. Seine Aufmerksamkeit wird dabei vor allem von Joachims Herz in Anspruch genommen – »von etwas Sackartigem, ungestalt Tierischem, dunkel hinter dem Mittelstamm Sichtbarem [ . . . ] – das sich gleichmäßig ausdehnte und wieder zusammenzog, ein wenig nach Art einer rudernden Qualle« (262). Dazu merkt Peter Brooks an:
46 Vgl. Dietrich v. Engelhardt, Hans Wißkirchen (Hgg.), Der Zauberberg – die Welt der Wissenschaften in Thomas Manns Roman, Stuttgart 2003; Malte Herwig, Bildungsbürger auf Abwegen. Naturwissenschaft im Werk Thomas Manns, Frankfurt am Main 2004; Hermann Kurzke (Hg.), Stationen der Thomas-Mann-Forschung. Aufsätze seit 1970, Würzburg 1985; Wolfgang Riedel, »Literatur und Wissen. Thomas Mann: Der Zauberberg«, Archiv 238 (2001), 1 – 18; Thomas Sprecher (Hg.), Das ›Zauberberg‹-Symposium 1994 in Davos, Frankfurt am Main1995. – Zitate im Text nach Thomas Mann, Der Zauberberg, Frankfurt am Main 1954. 47 Vgl. Karla Schultz, »Technology as Desire in The Magic Mountain«, in: Stephen D. Dowden (Hg.), A Companion to Thomas Mann’s The Magic Mountain, Rochester 1999, 158 – 176; Eckhard Heftrich, »Der Totentanz in Thomas Manns Roman Der Zauberberg«, in: Franz Link (Hg.), Tanz und Tod in Kunst und Literatur, Berlin 1993, 335 – 350.
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Mann [ . . . ] uses the relatively new technology to rewrite an age-old trope of the heart as the seat of emotions and character. [ . . . ] The passage extends remarkably the traditional realist view of the body by taking the gaze within, to turn what is usually conceived as moral and spiritual – indeed, religious – into something bodily. The tone of Hans Castorp’s reaction suggests that there is a loss as well as a gain associated with this demystification of the heart: a realm held to be sacred has been penetrated and secularized; it has been drained of transcendence.48
Mit dieser Betonung des Körperlichen stimmt überein, dass Castorps Liebe zu Clawdia Chauchat sich als Liebe zum sterblichen Körper definiert und sich in seiner Fetischisierung ihres Röntgenbildes äußert. Möglicherweise hat diese Verquickung von Sexualität, Tod und Röntgenaufnahme A. S. Byatt angeregt. In dem Roman The Biographer’s Tale (2000) stehen typisch postmoderne Schwierigkeiten beim Schreiben von Biographien im Mittelpunkt. Der junge Wissenschaftler Phineas beschäftigt sich mit dem Leben und Werk eines Naturforschers und entschließt sich, auf poststrukturalistische Konstruktionen zu verzichten. Bei der Materialsammlung lernt er Vera Alphage (›Anfang der Wahrheit‹ ?) kennen. Diese ist Radiologin und bewahrt die Röntgenbilder ihrer Patienten in ihrem nüchtern eingerichteten Schlafzimmer auf; dort zeigt sie die Sammlung ihrem Liebhaber. Während Phineas mit Roland Barthes Photographien als Todessymbole negativ beurteilt, behauptet Vera: »Most people think my pictures are morbid. I don’t see why. They’re pictures of the living, not the dead. Some of them are worn or damaged, but they’re all alive, they’re pictures of our inner life, so to speak.«49 Diese Auffassung wird freilich erschüttert, als sie mit der Krebserkrankung eines Patienten konfrontiert wird. Eher an Heart of Darkness als an Der Zauberberg erinnert The Book of the Dead (1938) von Muriel Rukeyser.50 In diesem Gedichtzyklus wendet sich die politisch engagierte Autorin einem Industrieskandal in West Virginia zu: Ohne dass Schutzmaßnahmen getroffen worden wären, mussten Arbeiter, darunter viele Schwarze, im Bereich eines von ihnen gebohrten Tunnels, siliziumhaltige Mineralien abbauen; viele erkrankten und starben an Silikose. Rukeyser greift 48 Peter Brooks, Body Work. Objects of Desire in Modern Literature, Cambridge (MA), 1998, 263 f. 49 A. S. Byatt, The Biographer’s Tale, London 2000, 186. 50 Vgl. vor allem Gerd Hurm, »Water and ›the land’s disease‹: Poetics and Politics of Muriel Rukeyser’s ›The Book of the Dead‹ «, in: Klaus Benesch, Kerstin Schmidt (Hgg.), Space in America: Theory – History – Culture, Amsterdam 2005, 193 – 208; Anne F. Herzog, Janet E. Kaufman (Hgg.), ›How Shall We Tell Each Other of the Poet?‹ The Life and Writing of Muriel Rukeyser, New York 1990; David Kadlec, »X-Ray Testimonials in Muriel Rukeyser«, Modernism / Modernity 5 (1998), 23 – 47; Michael Thurston, »Documentary Modernism as Popular Front Poetics: Muriel Rukeyser’s ›Book of the Dead‹«, Modern Language Quarterly 60 (1999), 59 – 83.
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poetische Techniken der Moderne auf, spielt auf das ägyptische Totenbuch und mythisches Geschehen an und verwendet Methoden der dokumentarischen Literatur der New-Deal-Ära. Sie zitiert parlamentarische Protokolle und lässt Opfer, Hinterbliebene, Ärzte, Juristen, Vertreter der Wirtschaft und Politik sprechen. Ihre eigene Reise vor Ort ist zum einen eine Art Photoreportage nach dem Muster der 1930er Jahre, bei der sie sich selbst als ›camera eye‹ definiert, zum anderen eine Reise in eine typisch amerikanische Kleinstadt, die sich in ein Totenreich verwandelt hat. Im folgenden Zitat begründet der Hinweis auf das Röntgengerät den Vergleich eines kranken Arbeiters mit dem Zustand der Umwelt: He stood against the rock facing the river grey river grey face the rock mottled behind him like X-ray plate enlarged diffuse and stony his face against the stone.51
Anhand von Aussagen vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss stellt Rukeyser dar, welche wichtige Rolle Röntgenaufnahmen im Streit um die Schuld- und Entschädigungsfrage spielten. Da die politisch-juristischen Auseinandersetzungen praktisch ergebnislos verliefen, möchte die Autorin die Erinnerung an die Opfer wachhalten und die Katastrophe von West Virginia als symptomatisch für die Verfassung des ganzen Landes verstehen: let always now the map and X-ray seem resemblent pictures of one living breath our country worked by error and one air.52
Röntgenstrahlung und Wandel des Weltbildes Über die Physik des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts schreibt Sabine Menninghaus: Die Erforschung des Atoms ergab ein völlig neues Bild von der Beschaffenheit der Materie. Philosophisch betraf diese Forschung grundlegende Änderungen in den Vorstel51
Muriel Rukeyser, The Collected Poems, New York 1978, 80. Ebd., 99. – Ein weiteres Beispiel, das die Rassendiskriminierung und Ausbeutung mit dem Thema der Unsichtbarkeit (hier der fehlenden Anerkennung) verknüpft und das Motiv der Röntgenstrahlung an einem Höhepunkt des Geschehens einsetzt, ist Ralph Ellisons Roman Invisible Man (1957). Siehe vor allem Maureen F. Curtin, »Materializing Invisibility as X-Ray Technology: Skin Matters in Ralph Ellison’s Invisible Man«, Literature Interpretation Theory 9 (1999), 281 – 311. 52
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lungen von Materie und Energie. Auch die Erkenntnisse in der Quantenphysik betrafen die Diskussion um diese Begriffe und führten in diesem Zusammenhang die Konzepte von Welle und Partikel ein. Die atom- und quantenphysikalischen Theorien rückten die Physik in die Nähe der Metaphysik, denn sie berührten die Frage nach der Erkennbarkeit der objektiven Wirklichkeit. Die geistesgeschichtliche Relevanz der Relativitätstheorie bildet die letzte Facette in der Erörterung von Beziehungen zwischen Ästhetik und Naturwissenschaft. Einsteins Lehre veränderte elementare Kategorien menschlicher Erfahrungen: Zeit und Raum, die Relativität von Beobachtungen oder das kosmologische Modell.53
Die Röntgenstrahlung war mithin nur eine von mehreren Entdeckungen, die die Physik revolutionierten. Freilich war sie von 1895 an, zwei Jahrzehnte lang, auch »die letzte, aber expressivste Schaubühne der Naturdimension, die für alle Spekulationen und avantgardistische Bildsprachen« offen stand.54 Eine Reihe von Künstlern und Schriftstellern hat sich mit den Implikationen der neuen Physik auseinandergesetzt. Andere haben unter dem Einfluss des Spiritismus weltanschauliche Konsequenzen gezogen. Mögen diese auch unterschiedlich ausfallen, gemeinsam ist den Künstlern und Schriftstellern der Wunsch, den auf die sichtbare Welt fokussierten Realismus ihrer Vorgänger hinter sich zu lassen oder so zu transformieren, dass innere Vorgänge, Strukturen und Energien ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Dabei fungiert die Röntgenstrahlung wie andere Strahlen auch als Metapher für die angestrebte Vision der inneren Wirklichkeit. Relativ gut erforscht ist in diesem Zusammenhang die Kritik der avantgardistischen Malerei an der Oberflächenkunst der Realisten und Impressionisten.55 Große Kunst, so erklärte Frantisek Kupka, macht »aus dem Unsichtbaren und Nichtgreifbaren [ . . . ] eine sichtbare und greifbare Realität«.56 Wassily Kandinsky und andere Künstler ließen sich von esoterischen Annahmen leiten. So fragte etwa der Futurist Umberto Boccioni: 53 Sabine Menninghaus, Vorstellungsweisen künstlerischer Transformation: Naturwissenschaftliche Analogien bei Aldous Huxley, James Joyce und Virginia Woolf, Münster 2000, 11. 54 Wolfgang Hagen, »Der Okkultismus der Avantgarde um 1900«, in: Sigrid Schade, Georg Tholen (Hgg.), Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München 1999, 338 – 357, hier 351. 55 Vgl. Kevles, Naked, 116 – 141; Linda Dalrymple Henderson, »Die moderne Kunst und das Unsichtbare: Die verborgenen Wellen und Dimensionen des Okkultismus und der Wissenschaften«, in: Bernd Apke, et al. (Hgg.), Okkultismus und Avantgarde: Von Munch bis Mondrian 1900 – 1915, Frankfurt am Main 1995, 4 – 31; dies., »X Rays and the Quest for Invisible Reality in the Art of Kupka, Duchamp, and the Cubists«, Art Journal 47 (Winter 1988), 323 – 340; dies., The Fourth Dimension and Non-Euclidean Geometry in Modern Art, Princeton 1985. 56 Zit. Henderson, Dimension, 1.
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Who can still believe in the opacity of bodies [ . . . ] when our sharpened and multiplied sensibility allows us to perceive the obscure disclosures of mediumistic phenomena? Why should we continue to create without taking into account our perceptive powers which can give results analogous to those of X-rays?57
Auch Röntgenbilder selbst dienten als Vorbild. Von Edvard Munch (1897) und Frantisek Kupka (1910 / 12) bis hin zu Paul Klee ahmten Künstler Röntgenbilder nach oder stellten Sujets wie ›Der Künstler und der Tod‹ auf eine Weise dar, die an Röntgenbilder erinnert.58 Auch ließen sie sich durch die multiperspektivische Röntgenphotographie und die 1912 entstandene Röntgenkristallographie anregen.59 Es ist sicherlich falsch, den Kubismus und andere zeitgenössische Stilrichtungen auf die Entdeckung Röntgens zurückzuführen, doch war diese ein Faktor unter mehreren, die die Abstraktion von der sichtbaren Welt, die Konzentration auf Flächen und geometrische Strukturen sowie die Darstellung eines Gegenstandes aus verschiedenen Perspektiven oder in seiner zeitlichen Dynamik gefördert haben. Auch Schriftsteller wollten mit dem Oberflächenrealismus brechen. Obwohl sie, wie die beiden folgenden Beispiele zeigen, von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgingen, verließen sie sich auf teilweise vergleichbare Darstellungstendenzen. August Strindberg beschäftigte sich seit den 1880er Jahren intensiv mit Photographien und hegte lange den Wunsch, als Naturalist die Realität photographisch getreu abbilden zu können. Er wandte sich dann aber vom Naturalismus ab. Unter dem Einfluss des Okkultismus widmete er sich der ›Photographie des Unsichtbaren‹ und hoffte, der ›Zola des Okkulten‹ zu werden.60 Er knüpfte an die Tradition der Geisterphotographie an und erwartete, mit den Bildern, die er von sich anfertigte, die Aura seiner Persönlichkeit einfangen zu können. Er verstand sich als Spezialist für Strahlen, war über die Entdeckung Röntgens pikiert und meinte noch im Jahre 1907: »[T]here are no special rays, whether Röntgen, Becquerel or radium«.61 Gleichwohl strebte er in seinen späten Dramen der Röntgenstrahlung analoge Wirkungen an. So experimentierte er mit 57
Zit. Kevles, Naked, 130. Vgl. J. P. Smith, »Paul Klee und Karl Brandel«, Art International 22 (April – Mai 1978), 6 – 7, 18 – 20. 59 Vgl. Kevles, Naked, 125; Susanne Black, »Domesticating the Crystal: Sir Lawrence Bragg and the Aesthetics of ›X-ray Analysis‹ «, Configurations 13 (2005), 257 – 282. 60 Vgl. John L. Greenway, »Penetrating Surfaces: X-Rays, Strindberg and The Ghost Sonata«, Nineteenth-Century Studies 5 (1991), 29 – 46, hier 38. Siehe auch Linda H. Rugg, Picturing Ourselves. Photography & Autobiography, Chicago 1997, 81 – 131; Evert Sprinchom, » ›The Zola of the Occult‹: Strindberg’s Experimental Method«, Modern Drama 17 (1974), 251 – 266. 61 Zit. Greenway, »Surfaces«, 38. 58
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visuellen Techniken, um auf der Bühne jene Wirklichkeit sichtbar zu machen, die sich hinter den Kulissen, dem Rollenspiel der Figuren und ihren Masken verbirgt. In Gespenstersonate (1907) eröffnen mehrere Schauplatzwechsel – etwa von Außen nach Innen – unterschiedliche Einblicke in die Figurenwelt. Die gleiche Funktion haben neben Wänden, die durchlässig werden, die Demaskierung der Personen und auffällige Veränderungen von Requisiten und szenischen Symbolen, ferner die Tatsache, dass eine Figur wie das Milchmädchen nicht von allen Gestalten der Alltagswelt gesehen wird und Wanderin zwischen verschiedenen Welten zu sein scheint. Indem Strindberg die an das realistische Drama geknüpften Erwartungen enttäuscht, legt er dem Publikum nahe, dass die Wahrheit jenseits der Alltagswelt der Figuren zu finden ist: What we initially perceive is false. Hypocrisy and deception reside behind the walls of the modern well-to-do bourgeois house presented in the first act. As they are gradually exposed, they threaten to shatter the very foundations not only of the house but of society and the whole social order as well. The play’s revolutionary message has, however, been immersed in an atmosphere of resignation and religious sentiments so that when The Ghost Sonata ends, the only future that seems to remain is one of eternal death.62
Auf dem Weg zum modernen Roman in der Art von To the Lighthouse (1927) war für Virginia Woolf Dreierlei wichtig: die Auseinandersetzung mit der postimpressionistischen Malerei, die Distanzierung vom zeitgenössischen Realismus und die Beschäftigung mit dem neuen naturwissenschaftlichen Weltbild. Roger Fry organisierte 1910 und 1912 in London Ausstellungen von Cezanne, Van Gogh und anderen Postimpressionisten. Virginia Woolf war tief beeindruckt und verstieg sich zu der Behauptung, um 1910 habe sich der menschliche Charakter verändert. In ihren Werken ist allenthalben der Einfluss der modernen Malerei erkennbar. In To the Lighthouse gewinnen expressive Farben, die Gestalt von Gegenständen sowie ihre Verbindung zu anderen Objekten große Bedeutung – nicht nur für die Malerin Lily Briscoe und die Erzählerin, sondern auch für das subjektive Erleben anderer Figuren. Harvena Richter schrieb 1970: [S]cenes and objects are simplified into a few lines; shapes are abstracted into flat forms such as trapezoids or ovals; color is squeezed out raw in blots of yellow, green, blue, red; an invisible frame is placed around the object so that it stands out whole, separate from, yet in spatial relationship to, the things around it.63 62 Freddie Roken, »The Camera and the Aesthetics of Repetition: Strindberg’s Use of Space and Scenography in Miss Julie, A Dream Play, and the Ghost Sonata«, in: Göran Stockenström (Hg.), Strindberg’s Dramaturgy, Stockholm 1988, 107 – 128, hier 124. 63 Harvena Richter, Virginia Woolf: The Inward Voyage, Princeton 1970, 74. To the Lighthouse wird zitiert nach der Ausgabe: London 1955.
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Inzwischen ist diese Beobachtung in mehreren Untersuchungen ergänzt und erhärtet worden.64 Woolf strebt eine der Malerei analoge Darstellung an, bei der die individuelle Wahrnehmung und Imagination entscheiden, wie die Wirklichkeit gesehen wird. Es geht nicht um realistische Abbildung. Vielmehr soll die sichtbare Welt »durchdrungen, neu gesehen und im Kunstwerk neu aufgebaut werden«.65 Hierfür erforderlich ist eine der Röntgenstrahlung vergleichbare Durchleuchtung. Im Falle von Mr. Tansley gelingt diese Lily Briscoe mühelos: »Sitting opposite him could she not see, as in an X-ray photograph, the ribs and thigh bones of the young man’s desire to impress himself lying dark in the mist of his flesh – that thin mist which convention had laid over his burning desire to break into the conversation?« (141 f.). Lily erfasst, dass sich hinter dem konventionellen Verhalten des jungen Mannes der Wunsch nach Anerkennung und Bestätigung verbirgt, und liefert damit einen weiteren Beweis für die Fähigkeit zur Einfühlung, die ihrer künstlerischen Tätigkeit zugute kommt. Trotz ihres Einfühlungsvermögens braucht Lily allerdings für die Fertigstellung des Bildes von Mrs. Ramsay mehrere Jahre. Der Abschluss der Arbeit ist erst möglich, als sie die Ausstrahlung dieser Persönlichkeit akzeptiert und in den Mittelpunkt des Gemäldes die ›Linie‹ rückt, die – wie sonst der Baum – in der Bildersprache des Romans das Wesen von Mrs. Ramsay symbolisiert. Offensichtlich taugen die Methoden des herkömmlichen Realismus nicht für die von Woolf angestrebte Suche nach der Essenz des Lebens. In ihrer Polemik gegen die Werke von Bennett und Galsworthy kritisierte sie den Materialismus dieser Autoren und forderte eine stärkere Beachtung der geistigen und schöpferischen Aspekte des Lebens. Im Unterschied zu Strindberg stand sie auch skeptisch dem zeitgenössischen Okkultismus gegenüber. Wie aus dem Essay Henry James’s Ghost Stories hervorgeht, schätzte sie den Ansatz, den James in The Turn of the Screw gewählt hatte. In The Haunted House und anderen Werken ahmte sie James nach und war wie er bereit, mit Hilfe von Motiven des Übernatürlichen jene Geister zu beschreiben, die im Menschen selbst wohnen und zu seiner geistigen Wirklichkeit gehören – zu »a state of mind which is profoundly mysterious and terrifying«.66 Beispielsweise spielt Woolf bei der Ge64 Siehe zum Beispiel Willi Erzgräber, Von Thomas Hardy bis Ted Hughes, Freiburg 1995, 265 – 295; Diane F. Gillespie, The Sisters’ Arts. The Writing and Painting of Virginia Woolf and Vanessa Bell, Syracuse 1988, bes. 267 – 306; Lisa Ruddick, The Seen and the Unseen: Virginia Woolf’s To the Lighthouse, Cambridge (MA), 1970; Marianna Torgovnick, The Visual Arts, Pictorialism, and the Novel: James, Lawrence, and Woolf, Princeton 1985. 65 Sabine Volk-Birke, »›Nothing is simply one thing‹: Das Problem der Wahrnehmung in Virginia Woolfs Roman To the Lighthouse«, Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 34 (1993), 115 – 130, hier 129. 66 George M. Johnson, »A Haunted House: Ghostly Presences in Woolf’s Essays and Early Fiction«, in: Beth Rosenberg, Jeanne Dubiko (Hgg.), Virginia Woolf and the Essay, New York 1997, 235 – 254, hier 241.
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staltung von traumatischen Erfahrungen in Mrs. Dalloway mit dem Motiv der telepathischen Kommunikation zwischen der Titelfigur und Septimus Smith. Mrs. Dalloways seelische Verfassung, ihr Gefühl der Körperlosigkeit, veranschaulicht die Autorin durch den Vergleich mit einem unsichtbaren und unbekannten Gespenst.67 Einem Geist gleicht auch Mrs. Ramsay, als sie Jahre nach ihrem Tod neben Lily Briscoe am Fenster zu sitzen scheint. Diese Erinnerungsvision beflügelt Lilys Arbeit. Sie ist sich zwar bewusst, dass sie sich alles nur vorstellt, vertraut aber ihrer Intuition. In einer vergleichbaren Szene heißt es: And this, Lily thought, taking the green paint on her brush, this making up scenes about them, is what we call »knowing« people, »thinking« of them, »being fond« of them! Not a word of it was true; she had made it up; but it was what she knew them by all the same. She went on tunnelling her way into her picture, into the past. (267)
Als Lily schließlich das Bild vollendet, geht auch Virginia Woolfs autobiographisch orientierter Roman zu Ende. Die Bedeutung der visionären Augenblicke in Woolfs Bewusstseinsroman ist verschiedentlich beschrieben worden. Unter Bezug auf Woolfs Essay On Being Ill hat Menninghaus darauf hingewiesen, dass Woolf die schöpferische Energie mit dem Bild des tanzenden Netzes umschreibt. Dieses Symbol impliziert Partikel und Welle und bezeichnet die Energie, »die im Universum ausgetauscht wird und sich [ . . . ] unter anderem in Form von kosmischer Strahlung auf die Erde auswirkt«.68 In To the Lighthouse dient das Symbol, das Woolfs Beschäftigung mit der modernen Naturwissenschaft belegt, vor allem dazu, die schöpferische Tätigkeit von Mrs. Ramsay und Lily Briscoe zu veranschaulichen. Beide Gestalten versinken zeitweise im Unterbewussten und beziehen von dort neue Kraft in der Form von Bildern, Erinnerungen und Gefühlen, die wellenförmig nach oben steigen. Von Mrs. Ramsay heißt es: And that was what now she often felt the need of – to think; well not even to think. To be silent; to be alone. All the being and the doing [ . . . ] evaporated; and one shrunk, with a sense of solemnity, to being oneself, a wedge-shaped core of darkness, something invisible to others. Although she continued to knit, and sat upright, it was thus that she felt herself; and this self having shed its attachments was free for the strangest adventures. When life sank down for a moment, the range of experience seemed limitless. And to everybody there was always this sense of unlimited resources, she supposed [ . . . ]. (99)
Während Mrs. Ramsay die aus dem Unterbewussten gewonnene Energie für ihre Rolle als Gastgeberin nutzt, setzt Lily »the fluidity of life« für die Voll67
Vgl. ebd., 249. Menninghaus, Vorstellungsweisen, 257. Einen Überblick über die Bildforschung gibt Elfi Bettinger, Das umkämpfte Bild: Zur Metapher bei Virginia Woolf, Stuttgart 1993. 68
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endung ihres Bildes ein (245). Beide Gestalten erschaffen in »dem ewigen Fließen des Lebens« einen »Moment der Dauer«.69
Schluss Dieser Überblick hat die Rezeption von Röntgens Entdeckung im Zeitraum von 1896 bis 1930 verfolgt. Von einigen Hinweisen abgesehen, wurden Werke neueren Datums nicht berücksichtigt. Das gilt z. B. für die die Geisterphotographie zitierenden Fernsehspiele Samuel Becketts70 und den Künstlerroman Durchleuchtung (2007) des Österreichers Ferdinand Schmatz. Vernachlässigt wurden auch jene Werke des 20. Jahrhunderts, die Röntgengeräte und -aufnahmen als Fakten der Lebenswelt auffassen und ihnen keine tiefere Bedeutung beimessen. Anders als in Manns Der Zauberberg erwähnen einige Sanatoriumsromane die erforderliche Durchleuchtung nur am Rande.71 In anderen Werken ist die Bestimmung des Röntgenstatus der Zähne ebenso selbstverständlich wie der Plan eines Arztes, mit dem angeschafften Röntgengerät Geld verdienen zu wollen.72 Mit dem Oberflächenrealismus, den Virginia Woolf in dem Essay Mr. Bennett and Mrs. Brown kritisierte, ist es auch noch vereinbar, wenn ein Poet bei der Durchleuchtung seiner Füße in einem Schuhgeschäft auf den Gedanken kommt, ein Gedicht über den Fährmann Charon zu verfassen.73 Dass eine Entdeckung, mit deren Folgen viele Menschen im Laufe ihres Lebens konfrontiert werden, schließlich in den Alltag integriert wird, bedarf keiner weiteren Erklärung. Nicht so selbstverständlich ist jedoch, dass sie geraume Zeit nicht nur das breite Publikum, sondern auch Künstler und Schriftsteller fasziniert und die künstlerische wie literarische Entwicklung beeinflusst hat. Wie der Überblick zeigt, ist die zum Teil spektakuläre und nachhaltige Rezeption der Röntgenstrahlung auf das Zusammentreffen verschiedener Faktoren zurückzuführen. 69 Menninghaus, Vorstellungsweisen, 261. – Ein weiteres Beispiel für die in diesem Abschnitt beschriebene Tendenz sind die Romane von D. H. Lawrence. Vgl. Michael Whitworth, Einstein’s Wake: Relativity, Metaphor, and Modernist Literature, Oxford 2001, bes. 146 ff. 70 Vgl. Wolfgang Hagen, »Veronica on TV: Ikonographien im Äther – Baraduc . . . Beckett«, in: Kümmel-Schnur, Schröter, Äther, 277 – 310; Katherine Weiss, »Animating Ghosts in Samuel Beckett’s Ghost Trio and . . . but the clouds . . .«, Journal of Beckett Studies 18 (2009), 105 – 122. 71 Vgl. Klabund, »Die Krankheit: Eine Erzählung« (1917); Hermann Hesse, Der Kurgast (1925). 72 Vgl. Günter Grass, Örtlich betäubt (1969); Sinclair Lewis, Arrowsmith (1925). 73 Vgl. Vladimir Nabokov, The Prize (1952).
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Ein Faktor ist die Popularität der Photographie. Die Röntgenaufnahmen erschienen als Weiterentwicklung des relativ neuen Mediums und eröffneten zahlreiche neuartige Möglichkeiten. Andererseits hatten die Unsichtbarkeit der Strahlen und der Blick in das Innere des Menschen, den sie erlaubten, etwas Unheimliches an sich, wie die Assoziationen mit Skeletten, dem Tod und dem Totentanz belegen. Darin ähnelte die Röntgenstrahlung der unheimlichen Macht über den einzelnen Menschen, die im Mesmerismus und den hypnotischen Experimenten Charcots eine Rolle spielte. Es dürfte kein Zufall sein, dass die Röntgenstrahlung wie die Hypnose in der zeitgenössischen Unterhaltungsliteratur sich einiger Beliebtheit erfreute. Ein weiterer wichtiger Rezeptionsfaktor ergibt sich aus der Tatsache, dass zwar der praktische Nutzen von Röntgens Entdeckung bald erkannt wurde, doch längere Zeit die Art der Strahlung und ihr Verhältnis zu anderen Strahlen unbekannt und umstritten waren. Dies stimulierte die Science-Fiction, rief aber auch Esoteriker auf den Plan, die mit Hilfe der Röntgenstrahlen oder verwandter Strahlen den Weg zu einer jenseitigen oder anderen, besseren Welt zu finden hofften. Wie mehrere der behandelten Beispiele deutlich machten, war die Esoterik eine Triebkraft der ästhetischen Moderne und trug zur Überwindung des Mimetischen, zur Abstraktion vom Realismus und zur Hinwendung zum inneren Erleben bei. Als die Werke der abstrakten Kunst und die modernistischen Romane von Joyce und Woolf erschienen, hatte jedoch die anfangs kaum beachtete radioaktive Strahlung der Röntgenstrahlung bereits den Rang abgelaufen. Sie faszinierte ihrerseits wegen des Leuchtcharakters des Elements, des Versprechens einer »unerschöpflichen Energie« und wegen der »möglichen Heilwirkungen«.74 Wie im Falle der Röntgenstrahlung wurde auch ihre Gefährlichkeit erst später erkannt.
74 Elmar Schenkel, »Radium und Literatur«, in: ders., W. F. Schwarz, Ludwig Stockinger, Alfonso de Toro (Hgg.), Die magische Schreibmaschine, Frankfurt am Main 1998, 387 – 406, hier 391. Vgl. auch Christoph Asendorf, Ströme und Strahlen. Das langsame Verschwinden der Materie um 1900, Berlin 1989; S. R. Weart, Nuclear Fear. A History of Images, Cambridge (MA), 1998.
»I am acting in the interests of justice« Recht und Gerechtigkeit in den Detektivromanen von Agatha Christie Von Wolfgang G. Müller I. Das Problem Da es in diesem Beitrag in der Hauptsache um einen literarischen Detektiv geht, der das Gesetz in seine Hand nimmt, was entscheidende juristische Fragen aufwirft, sind einige grundsätzliche Bemerkungen zu politisch-juristischen Sachverhalten vorauszuschicken. In Statuen und Abbildungen erscheint die Göttin der Gerechtigkeit Justitia gewöhnlich mit der Waage in der einen und dem Schwert in der anderen Hand. Die Waage symbolisiert das Abwägen des Rechts, das Schwert die Macht, mit der das Recht durchgesetzt wird. Wenn die Justitia sitzend dargestellt ist, hat sie manchmal ein abgeschlagenes Haupt im Schoß. Wie Rudolf von Ihering kommentiert, wäre das Schwert ohne die Waage »die nackte Gewalt« und die Waage ohne das Schwert »die Ohnmacht des Rechts«.1 Dass die Durchsetzung des Rechts notwendigerweise den Einsatz von Gewalt erfordert, erläutert Jacques Derrida am Beispiel der englischen Wendung »to enforce the law«: Sie »erinnert uns daran, dass die Gerechtigkeit, die vielleicht nicht dasselbe ist wie das Recht oder das Gesetz, nur dann rechtens zur Gerechtigkeit, nur dann zur Gerechtigkeit des Rechts werden kann, wenn sie über die Kraft verfügt und Gewalt in sich birgt [ . . . ].«2 Die im Recht gegebene Beziehung zu »Kraft, Gewalt, Macht, Gewalttätigkeit«3 schließt als extremste Möglichkeit den Tod ein. Die der Justitia zugeordnete Symbolik von Recht und Schwert drückt aus, dass die Gerichtsbarkeit als Organ des Staats über Leben und Tod entscheiden kann. Nach der Abschaffung der Todesstrafe gilt als deren Ersatz der lebenslängliche Freiheitsentzug. Die 1 Rudolf von Ihering, Der Kampf ums Recht, Frankfurt am Main 1960, 253. Siehe auch Martin Honecker, Grundriß der Sozialethik, Berlin 1995, 584. Als Zeichen der Überparteilichkeit trägt die Justitia vielfach auch eine Binde über den Augen. 2 Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, übers. Alexander García Düttmann. Frankfurt am Main 1991, 21. 3 Derrida, Gesetzeskraft, 27.
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Auffassung, dass allein das Recht als Verkörperung des Willens des Staats die Autorität hat, über Leben und Tod seiner Bürger zu entscheiden, hat eine lange Tradition im verfassungsrechtlichen Denken. Auf einige kanonische Vertreter dieser Tradition sei hingewiesen. Gemäß Thomas Hobbes’ Leviathan (Kapitel 28: »Of Punishments and Rewards«) hat jeder Mensch sein Recht auf Selbsterhaltung und damit die Anwendung von Gewalt zu diesem Zweck – »subduing, hurting, or killing in order thereunto«4 – bei der Staatsgründung niedergelegt und dem Souverän und seiner Justiz die Entscheidung über Leben und Tod überlassen. In einem Kapitel aus Rousseaus Contrat social, das mit »Du droit de vie et de mort« überschrieben ist, heißt es, wenn der Herrscher entschieden habe, dass ein Bürger sterben müsse, müsse er dieses Schicksal erleiden: »il doit mourir, puisque ce n’est qu’à cette condition qu’il a vécu en sûreté jusqu’alors, et que sa vie n’est pas un bienfait de la nature, mais un don conditionnel de l’État.«5 Am klarsten wohl drückt John Locke in Two Treatises of Government diesen Gedanken in seiner Definition von politischer Macht / Gewalt aus: Political power, then, I take to be a Right of making Laws with Penalties of Death, and consequently all less Penalties, for the Regulating and Preserving of Property, and of employing the force of the Community, in the Execution of such Laws, and in the defence of the Common-wealth from Foreign Injury; and all this only for the Public Good.6
Die Auffassung, dass der Souverän die absolute Macht über Tod und Leben besitzt, kann, wenngleich sie problematisch ist, als eine Konsensposition in der politisch-philosophischen Tradition von der Frühen Neuzeit an gelten. Sie wird prominent von Michel Foucault7 und von Giorgio Agamben8 vertreten wie auch von Juristen, wie das folgende Zitat aus einer Verlautbarung des Supreme Court der Vereinigten Staaten von Amerika veranschaulicht: »From the point of view of society, the action of the sovereign in taking the life of one of its citizens differs dramatically from any other legitimate state action.«9 Dass angesichts des Gewaltmonopols des Staats Tötungsdelikte, aus welchen Motiven auch immer, und die Anstiftung zum Mord und Selbstmord mit aller Strenge 4 5 6
Thomas Hobbes, Leviathan, Harmondsworth 1976, 354. J.-J. Rousseau, Du contrat social, Paris 1954, 256. John Locke, Two Treatises of Government, ed. Peter Laslett, New York et al. 1988,
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Michel Foucault, Histoire de la sexualité, Bd. 1: La volonté de savoir, Paris 2001. Giorgio Agamben, Homo Sacer: Sovereign Power and Bare Life, übers. Daniel Heller-Roazen, Stanford (Cal.), 1998. 9 Zitiert nach Adam Thurschwell, »Law and Literature and the Right to Death«, in: Gert Hoffmann (Hg.), Figures of Law. Studies in the Interference of Law and Literature, Tübingen / Basel 2007, 45 – 62, hier: 47. 8
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des Gesetzes geahndet werden, muss hier nicht weiter diskutiert werden. Von hohem rechtlichem Interesse sind aber Fälle, in denen Einzelpersonen unter Umgehung des Rechts dem Recht Geltung zu verschaffen und für Gerechtigkeit zu sorgen versuchen. In der Detektivliteratur finden sich derartige Fälle in den Romanen Agatha Christies, deren Protagonist der belgische Detektiv Hercule Poirot ist. Die Forschung hat wiederholt auf die große Konstruktionskunst hingewiesen, welche die Autorin bei der Erzeugung immer neuer hochkomplexer und raffiniert ausgetüftelter Täterrätsel unter Beweis stellt, und auf die geniale Beobachtungs- und Kombinationsfähigkeit des Ermittlers, der auch die schwierigsten Fälle untrüglich zu lösen weiß. Eine andere, nicht minder wichtige Seite des Handelns dieses Detektivs ist weniger beachtet worden. Es handelt sich darum, dass Hercule Poirot dazu tendiert, den Verbrecher nach erfolgreichem Abschluss der Ermittlung nicht, wie es seine gesetzliche Pflicht wäre, der Polizei zu überstellen, die ihn ihrerseits der Gerichtsbarkeit zu überliefern hat. Hercule Poirot ist im Gegenteil bestrebt, dem überführten Verbrecher selbst sein verdientes Schicksal zukommen zu lassen und so auf eigenem Wege für Gerechtigkeit zu sorgen. Er tut dies meist auf eine indirekte, verdeckte Weise, so dass die Öffentlichkeit kaum etwas von seinem diesbezüglichen Agieren erfährt. Von besonderem Interesse sind die Fälle, in denen er das dem Staat vorbehaltene Recht, über Leben und Tod zu entscheiden, für sich in Anspruch nimmt. Hier handelt es sich nicht eigentlich um eine Form von Privatjustiz, da der Detektiv das Recht nicht aus persönlichen Gründen bricht, sondern in seiner Funktion als Ermittler in einem Kriminalfall. Es ist wichtig, dass es in Christies Romanen immer um Leben und Tod geht und dass die hier untersuchten Romane zu einer Zeit entstanden, in der im Vereinigten Königreich die Todesstrafe für Mord noch existierte.10 Durch die Art und Weise, wie Poirot für Gerechtigkeit sorgt, setzt er sich in Widerspruch zum offiziellen Recht. Hierin zeigt sich eine subversive Dimension bei Christie, die zur Kenntnis zu nehmen ist. Christies Poirot-Romane sind, wie zu zeigen sein wird, ein unerwartetes Beispiel dafür, dass, wie es Derrida ausdrückt, der Literatur immer eine »Art von subversiver Gesetzlichkeit offenstand«.11 Ein Problem für den Detektiv liegt darin, dass er sein Handeln tarnen muss, da er als Ermittler in der Öffentlichkeit nicht als selbst ernannter ›Richter‹, das heißt hier, als jemand, der ohne gesetzliche Legitimation dem Recht Geltung 10 In der einem wichtigen Handbuch vorangestellten Datenliste – »Crime Fiction: A Chronology« – wird das Jahr der Abschaffung der Todesstrafe im United Kingdom (1965) angeführt. Martin Priestman (Hg.), The Cambridge Companion to Crime Fiction, Cambridge et al. 2003, xv. 11 Jacques Derrida, Préjugés. Vor dem Gesetz, Wien 1992, 87.
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verschaffen will, in Erscheinung treten darf. Ein weiteres Problem stellt der knappe Zeitraum dar, der ihm nach der Beendigung der Ermittlung – der Lösung des Falls – für die Herstellung von Gerechtigkeit zur Verfügung steht. Hier lässt sich in verschärfter Form ein Problem erkennen, das Jacques Derrida als »die Dringlichkeit [der Gerechtigkeit], welche den Horizont des Wissens verstellt«12, bezeichnet. Nach Derrida »wartet« die Gerechtigkeit »nicht«. Er stellt die Behauptung auf: »Eine gerechte, angemessene Entscheidung ist immer sofort, unmittelbar erforderlich, ›right away‹. Sie kann sich nicht zuerst eine unendliche Information besorgen, das grenzenlose Wissen um die Bedingungen, die Regeln, die hypothetischen Imperative, die sie rechtfertigen könnten.«13 Damit deutlich wird, was Derrida meint, sei eine längere Passage zitiert: Auch wenn man von der Hypothese ausgeht, daß die Zeit und Überlegenheit, die Geduld des Wissens und die Meisterschaft unbegrenzt sind, ist die Entscheidung in ihrer Struktur endlich, so spät sie auch getroffen werden mag: dringliche, überstürzte Entscheidung, in der Nacht des Nichtwissens und der Nicht-Regelung. Diese Nacht ist nicht die eines Fehlens der Regel und des Wissens, sondern die einer erneuten Einrichtung oder Einsetzung der Regel, der definitionsgemäß kein Wissen und keine Garantie vorausgehen.14
Derrida weist als möglichen Grund für seine These der Dringlichkeit von rechtlichen Entscheidungen auf das Konzept der Performativität hin, »der performativen Struktur der Handlung als Justizakt oder Rechtstat«, die »der performativen Struktur der Sprechhandlungen« zuzuordnen sei.15 Hercule Poirot hat seine rechtlich relevanten Handlungen in kürzester Zeit zu vollziehen. Ihnen eignet die »Dringlichkeit«, von der Derrida spricht, in höchstem Maße. Sie sind insofern allerdings implizit performativ, weil Poirot nicht Recht spricht und kein Urteil verkündet, sondern weil er Recht umsetzt, eine für rechtens gehaltene Tat vollzieht in der Einsamkeit einer Entscheidung, die er höchstens mit dem überführten Verbrecher teilt, den er mit der Notwendigkeit der Gerechtigkeit konfrontiert und dem er letztlich »den Prozeß macht«. Im Folgenden sollen einige Romane Christies, in denen diese Problematik deutlich hervortritt, betrachtet werden.16
12
Derrida, Gesetzeskraft. 53. Derrida, Gesetzeskraft, 53 – 54. 14 Derrida, Gesetzeskraft, 54. 15 Derrida, Gesetzeskraft, 55. 16 Von unschätzbarem Wert für die hier behandelte Thematik ist die Staatsexamensarbeit von Felicia Becher, » ›I am the law!‹ – Die Konzeption des Detektivs in Agatha Christies Hercule-Poirot-Romanen und das Problem von Recht und Gerechtigkeit«, Jena 2001, wenn auch der Verfasser des vorliegenden Beitrags eigene Wege zu gehen versucht. 13
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II. Hercule Poirot als Kenner des Rechts: The Mysterious Affair at Styles Mit ihrem Roman The Mysterious Affair at Styles (1920) eröffnete Agatha Christie das sogenannte Goldene Zeitalter des Detektivromans, das von 1920 bis 1939 andauerte, und sie blieb die wichtigste Autorin dieses Zeitalters. Konzipiert ist der Detektivroman Christies als ein Puzzlespiel, eine Denksportaufgabe mit einem Mord und etwa zehn Tatverdächtigen, von denen jeder der Mörder sein könnte, wobei sich am Schluss der am wenigsten Verdächtige – »the least likely person« – als Täter erweist. Es ist eine der Konventionen des Detektivromans geworden, dass derjenige der Täter ist, von dem man es am wenigsten annimmt. Dass die Charakterisierung von Christies Romanen als puzzles oder Denksportaufgaben allerdings bei weitem nicht ausreicht, sollen die nachfolgenden Analysen zeigen. Schauplatz von The Mysterious Affair at Styles ist wie oft bei Christie ein Herrensitz auf dem Land in der Nähe eines Dorfs, auf dem eine Großfamilie mit verschiedenen Generationen und Gästen versammelt ist. Die Gesellschaft der Gentry (der landbesitzenden Oberschicht) wird hier in der Zeit des ersten Weltkriegs noch einmal zum Leben erweckt. Das Country-Home-Milieu hebt sich gerade vor dem Hintergrund des Krieges in Europa als Idylle oder besser: scheinbare Idylle ab.17 Der Ich-Erzähler Hastings ist als Invalide von der Front in Belgien nach England zurückgekehrt. Der Detektiv ist Hercule Poirot, der sich in seinem Beruf in Belgien großen Ruhm erworben hat und sich jetzt als Kriegsflüchtling mit einigen anderen Belgiern als Gast auf dem Landgut Styles in England aufhält. Poirot wirkt mit seiner kleinen Statur, dem eiförmigen, zur Seite geneigten Kopf, seinem militärischen Schnurrbart, dem dandyhaften, affektiert wirkenden Auftreten und einer 17 Die Tatsache, dass so gut wie jeder in der Welt der Romane Christies als Mörder in Frage kommt, lässt die folgende Aussage problematisch erscheinen: »Im golden age hat die Romantopographie vor allem die Funktion, Geschlossenheit zu signalisieren, eine homogene, heile und essentiell apolitische Welt, die durch einen Außenseiter – den Mörder, den es zu eliminieren gilt – bedroht wird. [ . . . ] Der Täter wird ausgesondert. Die heile Welt ist wiederhergestellt.« Evelyn Keitel, »Klassische Detektivgeschichten im Golden Age: Agatha Christie«, in: Vera Nünning (Hg.), Der amerikanische und britische Kriminalroman. Genres – Entwicklungen – Modellinterpretationen, Trier 2008, 29 – 42, hier: 33. Wenn es die Aufgabe des Lesers sein soll, »to suspect every one« (Russel H. Fitzgibbon, The Agatha Christie Companion, Bowling Green Ohio 1980, 19), wenn es in den Romanen zu »[a] continual shifting of suspicion from one to another« (Earl F. Bargainnier, The Gentle Art of Murder: The Detective Fiction of Agatha Christie, Bowling Green Ohio 1980, 145) kommt, dann kann es sich hier nicht um eine »heile« Welt handeln. Auf die innere Konflikthaftigkeit in Christies Welt weist Robert Barnard hin in A Talent to Deceive: An Appreciation of Agatha Christie, London 1980 (Chapter 6: »Strategies of Deception«), auf Unsicherheit als ein grundsätzliches epistemologisches Phänomen Alison Light, Forever England: Femininity, Literature and Conservatism between the Wars, London 1991, 57 – 59.
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adretten Kleidung, auf der sich kein Staubkorn verliert, sowie mit dem ständigen selbstbewussten Hinweis auf die exzellent arbeitenden kleinen grauen Zellen in seinem Gehirn fast wie eine Karikatur (was in den Verfilmungen der Poirot-Romane akzentuiert wird), aber er erweist sich als ein unerbittlicher Wahrheitssucher18 und ein Mann mit einem hoch entwickelten moralischen Bewusstsein19 und einer starken Leidenschaft für die Gerechtigkeit.20 Die Ausgangssituation des Romans, dessen Handlung hier nicht in extenso wiedergegeben werden kann, ergibt sich aus den ungemein komplizierten Erbschaftsverhältnissen in einer landbesitzenden Familie. Opfer eines Mords wird in diesem Roman die verwitwete Emily Cavendish, die in zweiter Ehe mit Alfred Inglethorp verheiratet ist. Ihr erster Ehemann hat, aus erster Ehe, zwei Söhne in die Familie gebracht. Nach dem Tod ihres Mannes hat Emily Cavendish das Haus geerbt und den größten Teil des Einkommens für ihre Lebenszeit. Ihre Stiefsöhne, zwei lebensuntüchtige junge Männer, sind im Testament von ihrem Vater schlecht bedacht worden, ihre Stiefmutter ist ihnen gegenüber aber großzügig. Die Spannung, die durch Emilys zweite Ehe mit Alfred Inglethorp, einem Außenseitertyp, den niemand leiden kann, namentlich die Cavendish-Brüder und der Erzähler Hastings, in der Familie herrscht, wird durch den Giftmord an Emily Inglethorp gesteigert. Eine erbrechtliche Komplizierung des Falls liegt darin, dass die Ermordete aufgrund eines Streits mit ihrem zweiten Mann offensichtlich kurz vor ihrem Tod ihr Testament geändert hat, das allerdings verschwunden ist. Es handelt sich also um eine verwirrende Situation, in der jeder mehr oder weniger von dem Tod der Herrin des Hauses profitiert und jede der genannten Figuren und noch viele weitere ein Tatmotiv hätten. Hercule Poirot, der von Hastings zu Hilfe gerufen worden ist, muss also ein fast unentwirrbares Knäuel von Beziehungen und Interessen auflösen. Zusätzliche Schwierigkeiten bieten die Eigenart des Tatorts – das seit Edgar Allan Poes The Murders in the Rue Morgue bekannte Problem des verschlossenen Raums – und die Raffinesse des Mords. Der Detektiv und der Leser wer18 Poirots folgende Aussage in The Murder of Roger Ackroyd, Glasgow 1978, 117 ist eine von vielen ähnlichen: »Understand this, I mean to arrive at the truth. The truth, however ugly in itself, is always curious and beautiful to the seeker after it.« 19 Agatha Christie sieht die Detektivgeschichte als eine Verbrecherjad, aber auch als »a story with a moral«, »the old Everyman Morality Tale«, »the hunting down of Evil and the triumph of the Good.« Zitiert nach Ulrich Suerbaum, Krimi: Eine Analyse der Gattung, Stuttgart 1984, 85. 20 Seine Ermittlungsarbeit vollzieht er im Interesse der Gerechtigkeit: »I am acting in the interests of justice.« (The Murder of Roger Ackroyd, 91). Deshalb ist eine Charakterisierung von Poirots »felicitous combination of common sense, deductive reasoning, and flashes of intuition to solve his cases«, so richtig sie sein mag, einseitig. Patricia Maida, Nicholas B. Spornick, Murder She Wrote. A Study of Agatha Christie’s Detective Fiction, Ohio 1982, 104.
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den mit einem ausgeklügelten Giftmord konfrontiert, der so gut wie nicht auflösbar ist. Wie sollte man auf die Idee kommen, dass der Mörder dem Herzmittel von Mrs. Inglethorp, das Strychnin in ungefährlicher Dosis enthielt, Brom zusetzte, durch das sich das Strychnin als Satz am Boden der Flasche absetzte und vierzehn Tage später mit der letzten Dosis in tödlicher Menge eingenommen wurde? Dass Poirot bereits in diesem ersten Roman als jemand charakterisiert wird, der Kenner des Rechts ist und der Gerechtigkeit zum Sieg verhelfen will, zeigt sich im Laufe seiner Ermittlung. Obwohl so gut wie alle Anwesenden auf dem Landsitz Styles ein Tatmotiv haben, kommt als Täter in der Hauptsache Alfred Inglethorp in Frage. Er profitiert am meisten vom Tod seiner Frau und wurde von der Familie, weil er sehr viel jünger als seine Frau war, von vornherein als Erbschwindler betrachtet. Zudem wirkt sein Verhalten äußerst verdächtig, da er vor der Vergiftung seiner Frau offen Strychnin im Dorf gekauft hatte und sich nach ihrem Tod weigert, ein Alibi beizubringen. Paradox ist nun, dass Poirot interveniert, als die Polizei Inglethorp verhaften will, und stattdessen den ältesten Stiefsohn der Ermordeten, John Cavendish, als Verdächtigen hinstellt und somit dafür verantwortlich ist, dass dieser die Demütigung eines Gerichtsprozesses erleiden muss. Die ganze Zeit ist sich der Detektiv sicher, dass Inglethorp der Täter ist, ihm fehlt aber der entscheidende Beweis, ihn zu überführen. Er durchschaut Inglethorps Strategie, die darauf hinausläuft, falsche Beweisgründe gegen sich zu fabrizieren, die bei einer Anklage vor Gericht keinen Bestand haben würden, sodass er frei gesprochen werden müsste. Nochmals dürfte er dann nicht wegen desselben Verbrechens angeklagt werden. Hier zeigt sich, dass Poirot sich über die britische Rechtslage im Klaren ist, der zufolge eine Person nicht zweimal wegen ein und desselben Vergehens angeklagt werden darf. Um den Mörder in Sicherheit zu wiegen und den entscheidenden Beweis für seine Schuld zu finden – »that last link in my chain«21 – nimmt er es hin, dass mit John Cavendish ein Unschuldiger verhaftet und angeklagt wird. Er hält entlastende Beweismittel sogar absichtlich zurück. Was zwischen Inglethorp und Poirot vorgeht, ist eine Auseinandersetzung eines Verbrechers und eines Detektivs, die beide von überragender Intelligenz und Findigkeit sind. Inglethorp ist bestrebt, einen Umstand im Rechtssystem auszunutzen, um sich der Verurteilung zu entziehen. Poirot, der, wie gesagt, Experte in Rechtsfragen ist, erkennt diese Absicht und versucht, sie mit allen Mitteln zu vereiteln, ohne den Verdächtigen Verdacht schöpfen zu lassen. Er sagt zu Hastings: »Yes, he [the suspect] is intelligent. But we must be more intelligent. We must 21 Agatha Christie, The Mysterious Affair at Styles, Frogmore / St. Albans 1978, 151. In weiteren Zitaten aus diesem Roman wird im Text jeweils die Seitenzahl in Klammern angegeben. Dieses Verfahren wird auch auf die anderen untersuchten Romane Christies angewandt.
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be so intelligent that he does not suspect us of being intelligent at all.« (116) Beim Versuch, den Täter zu überführen, sind ihm alle Mittel, auch illegale, recht. Zu Hastings sagt er: »We have to deal with a most clever and unscrupulous man, and we must use any means in our power – otherwise he will slip through our fingers.« (151) Zu diesen Mitteln gehört auch, dass er bei der polizeilichen Gerichtsuntersuchung, »at the police court proceedings« (151), gegen den unschuldig angeklagten John Cavendish nicht in Erscheinung tritt: »I must not appear in the case.« Im Gerichtsverfahren – »at the trial« (151) –, so wird implizit deutlich, würde er für die Verteidigung eine Aussage zugunsten von John Cavendish machen. Als der wahre Mörder und seine Komplizin (Miss Howard, die sich nach außen hin als Feindin von Mr. Inglethorp dargestellt hatte) dank Poirots Raffinesse überführt sind, erläutert Poirot Hastings gegenüber, dass er im Zweifel war, ob er John Cavendish vor dem Verfahren hätte retten sollen, er diese Entscheidung aber verworfen habe, weil es ohne seine Zurückhaltung nicht zur Überführung des wahren Täters gekommen wäre. I was trying to decide whether or not I would clear John Cavendish at once. I could have cleared him though it might have meant a failure to convict the real criminals. They were entirely in the dark as to my real attitude up to the very last moment – which partly accounts for my success (151).
Und dann zieht er überraschend ein weiteres Motiv für sein Verhalten aus dem Ärmel. Es sei ihm um die Rettung des Glücks einer Frau – »a woman’s happiness« (188) – gegangen. Die Frau von John Cavendish hätte sich von ihrem Mann abgewandt, sie sei aber in dessen Notlage wieder an seine Seite zurückgekommen: »Nothing but the great danger through which they have passed could have brought these two proud souls together again.« (188) Hastings reagiert empört: »The colossal cheek of the little man! Who on earth but Poirot would have thought of a trial for murder as a restorer of conjugal happiness!« (188 – 189) Als Hastings Kritik an Poirots Vorgehen zu erkennen gibt, beschwört der Detektiv das Eheglück als das größte Gut: »And you are wrong in condemning it. The happiness of one man and woman is the greatest thing in all the world.« (189) Wenn man Poirot eine derartige humane Einstellung auch abnehmen kann, so bleibt für den Leser doch kein Zweifel daran, dass sein ungesetzliches Handeln in der Hauptsache dazu diente, die beiden Verbrecher zur Strecke zu bringen. Das Argument, dass er das eheliche Glück John Cavendishs und seiner Frau retten wollte, wirkt eher wie eine zusätzliche Rechtfertigung seines illegitimen Handelns auf der menschlichen Ebene. Er übt auf diese Weise dem jungen Mann gegenüber, dem er im Wissen um seine Unschuld eine Anklage vor Gericht zugemutet hat, ausgleichende Gerechtigkeit.
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III. The Murder of Roger Ackroyd: Der dem unzuverlässigen Erzähler aufgenötigte Suizid Erzähltechnisch ist The Murder of Roger Ackroyd (1926) Christies größter Wurf, ihr kühnstes Werk, das bei ihren Schriftstellerkollegen im Detektivgenre Empörung ausgelöst hat, von Narratologen aber bewundert wurde. Es bietet sich als Extremfall des unzuverlässigen Erzählens dar. In der Detektivliteratur – wie wohl in der gesamten Erzählliteratur – gab es bis zum Erscheinen dieses Romans keinen Präzedenzfall dafür, dass ein Ich-Erzähler – hier Dr. Sheppard, der Hercule Poirot, wie Dr. Watson bei Sherlock Holmes und Captain Hastings in anderen Poirot-Romanen Christies, bei der Aufklärung eines Mordfalls assistiert – bis ins Detail genau erzählt, aber seine Verwicklung in den Fall unerwähnt lässt. Auf diese Weise fällt die Lösung des Täterrätsels mit der Einsicht in die Erzählstruktur des Texts zusammen. Eine Erörterung der Frage von Recht und Gerechtigkeit, die sich hier auch stellt, kann also nicht ohne Beachtung der erzählerischen Anlage des Texts erfolgen. Auf inhaltliche Gegebenheiten soll nur so weit eingegangen werden, als es für das Verständnis der Rechtsproblematik notwendig ist. Schauplatz des Romans ist das fiktive Dorf King’s Abbott in England. Mrs. Ferrars hat ihren Ehemann getötet. Sie wird erpresst, kann dem Druck nicht mehr standhalten und begeht Selbstmord durch eine Überdosis Veronal. Sie hat ihrem Geliebten, Roger Ackroyd, einen Brief mit einem Geständnis ihrer Tat hinterlassen. Als Ackroyd den Brief in Gegenwart seines Arztes, Dr. Sheppard, vorlesen will, wird er von Dr. Sheppard umgebracht. Der Arzt war nämlich der Erpresser. So wird die Geschichte aber nicht erzählt. In diesem Roman öffnet sich die Schere zwischen story (histoire) und discourse (discours) weiter als sonst in der Detektivliteratur. Das Überraschende und Kühne an diesem Roman ist nämlich, dass der Verbrecher Dr. Sheppard der Erzähler ist, ein Chronist, der uns über alle Einzelheiten, die ihm bekannt sind, bis ins genaueste unterrichtet, das Hauptfaktum, nämlich dass er selbst der Täter ist, jedoch verschweigt. Das Täterrätsel ist hier also gleichzeitig ein Erzählerrätsel. Mit der Aufklärung des Täterrätsels am Schluss löst sich auch das Geheimnis der Erzählstruktur auf. Man kann dieses Verfahren als eine Irreführung des Lesers verstehen, einen Trick, der gegen alle Gesetze der Fairness und der Figurenpsychologie verstößt. Auf der anderen Seite muss man Christies Erzählkunst bewundern, denn sie hat diese grandiose Lesertäuschung als erste in die Detektivliteratur eingeführt. Dr. Sheppard ist, wie gesagt, wohl das extremste Beispiel des unzuverlässigen Erzählers in der Literatur. Er ist höchst präzise in allem, nur seine Täterschaft lässt er unerwähnt. Die Konstruktion des Täterrätsels und die Technik des unzuverlässigen Erzählens sind somit unlöslich miteinander verbunden. Es ist auch einfach zu simpel, wenn man Dr. Sheppard bloß als Lügner bezeichnet. Wenn man genau hinschaut, stellt man fest, dass Dr. Sheppard als Erzähler
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nicht lügt, sondern sich an den entscheidenden Stellen seines Berichts doppeldeutig und ausweichend ausdrückt. Christie betonte dies in einem Interview: »I don’t cheat, you know. I just say things that might be taken two ways.«22 Seine verbale Zurückhaltung wird auch auf seine Verschwiegenheitspflicht als Arzt zurückgeführt. In der »Apologia« am Schluss kommentiert Sheppard sein eigenes Erzählen selbstzufrieden, die Technik der bloßen Andeutung, z. B. in der Beschreibung seines Verlassens des Tatorts – »wondering if there was anything I had left undone.« (220) – und in dem Kommentar »did what little had to be done!« (220) Umso ironischer erscheint am Ende das Scheitern seines Versuchs, in seiner Erzählung den großen Detektiv Poirot in einem Fall vorzuführen, in dem er das Täterrätsel nicht lösen kann. Aufschlussreich ist die Gestaltung der Paarung von Detektiv und Detektivgehilfe, in der Dr. Sheppard – wie Dr. Watson bei Conan Doyle – ein Arzt, der Mörder ist. Es kommt zu einem Katz-und-Maus-Spiel zwischen Poirot und Sheppard. Der Detektiv setzt den Arzt gegen Schluss des Romans zunehmend unter Druck. Er gibt in der abschließenden ›Konferenz‹ mit den Tatverdächtigen zu erkennen, dass er die Identität des Mörders mit absoluter Sicherheit kennt, und droht ihm mit der Polizei, ohne seinen Namen zu nennen: I who speak to you – I know the murderer of Mr. Ackroyd is in this room now. It is to the murderer I speak. To-morrow the truth goes to Inspector Raglan. You understand? (209)
Es kommt geradezu zu einer doppelten Identität zwischen Detektiv und Gehilfe. Poirot insistiert auf ihrer Zusammenarbeit, auf ihrer Zusammengehörigkeit: »You and I, M. le docteur, we investigate this affair note by note. Without you I shall be lost« (91). Hier liegt natürlich Ironie vor, wie sich vom Ende des Romans her erweist. Der Roman hat eine komplexere Erzählstruktur, als bisher angedeutet wurde. Sheppards Bericht – 20 Kapitel – liegen nämlich in Kap. 23 bereits vor; Poirot bekommt sie zu lesen. Er lobt Sheppard ironisch wegen seiner Bescheidenheit (»modesty«), er habe seine Persönlichkeit (»personality«) im Hintergrund gehalten. Er sei bei der Mitteilung der Fakten höchst akkurat, nur in Hinblick auf seinen eigenen Anteil zurückhaltend gewesen, »reticent as to your own share in them« (198). Am Ende fordert Poirot Sheppard auf, sein Manuskript zu beenden und damit seine eigene Überführung darzustellen. Der Detektiv setzt ihn unter Druck, spielt Schicksal, sorgt in eigener Handlungsmacht für Gerechtigkeit. Er bringt den Mörder dazu, Selbstmord zu begehen. So wie dieser – Dr. Sheppard – Mrs. Ferrars in den Selbstmord durch eine Überdosis von Veronal getrieben hat, so suggeriert er, solle der Mörder selbst Veronal nehmen (218, 221). Sheppard nennt das in seiner abschließenden Apologia »a kind of poetic justice« 22
Bargainnier, The Gentle Art of Murder, 145.
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(221). Poirot lässt den Verbrecher sich selbst richten. Rechtlich ist Poirots Vorgehen natürlich höchst fragwürdig. Anstiftung zum Selbstmord ist, unter welchen Umständen auch immer, eine Straftat. Aber Christies Detektiv versteht sich nicht als bloßer Ermittler, der einen Mordfall aufklärt und den überführten Täter der Polizei überstellt. Früher im Roman charakterisiert er einem Anwalt gegenüber seine Aufgabe mit den folgenden Worten: »I am acting in the interests of justice« (91). Die Option, mit der Poirot Sheppard droht – »To-morrow the truth goes to Inspector Raglan. You understand?« (209) – kommt für Poirot, der sich selbst als Vollstrecker des Rechts definiert, nicht in Frage. Warum stellt Poirot Sheppard nicht in der Öffentlichkeit bloß? Warum treibt er ihn in den Selbstmord? Dass Poirot ihm den Ausweg in den Suizid als »easy death«23 eröffnet, um ihn vor dem Tod durch den Strang zu retten, ist aufgrund der Brutalität und Rücksichtslosigkeit des Verbrechers, eines hinterhältigen Erpressers und kaltblütigen Mörders, wohl kaum anzunehmen. Der Grund für Poirots Vorgehen liegt in seiner Sympathie für Sheppards detektivisch hochbegabte Schwester Caroline, eine Art Vorläuferin von Mrs. Marple, die einzige wirklich sympathisch gezeichnete Figur in dem Roman, welche die Wahrheit über ihren Bruder nicht erfahren und der ein Familienskandal erspart werden soll. Welche Motivation hier auch vorliegt, es zeigt sich, dass Poirot den Verbrecher höchst ungern der Polizei überstellt. Für ihn fallen die erfolgreiche Ermittlung und die Vollstreckung des Urteils zusammen. Festnahme und Verurteilung des Verbrechers durch die Staatsorgane sind dem Detektiv offensichtlich zuwider. Er zieht es vor, den Fall auf einer persönlichen Ebene – ohne Einschaltung der Staatsmacht – zu Ende zu bringen. Darin lässt sich ein subversives Potential erkennen, eine Neigung zu einem Handeln, das grundlegende staatliche Institutionen, die für die Urteilssprechung und -vollstreckung zuständig sind, übergeht. IV. Murder on the Orient Express: Poirots Umgang mit einem gemeinschaftlich begangenen Mord Eine Behandlung der Frage von Recht und Gerechtigkeit in Agatha Christies Poirot-Romanen kann Murder on the Orient Express (1934) nicht unberücksichtigt lassen. Da die Rechtsproblematik in diesem Roman, so raffiniert das Täterrätsel auch konstruiert sein mag, verhältnismäßig offensichtlich ist, können wir uns hier kürzer fassen. Das Problem, mit dem es Hercule Poirot in diesem Fall zu tun hat, ist die Ermordung eines Passagiers in dem geschlossenen Raum (»locked room«) eines Wagons des Orient-Expresses, dessen Leiche zwölf Dolchstiche aufweist, die mit unterschiedlicher Kraft und Sicherheit ge23
Agatha Christie, The ABC Murders. London 1936, 246.
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führt wurden. Der Detektiv findet heraus, dass das von allen Beteiligten als äußerst unsympathisch empfundene Opfer, der Amerikaner Mr. Ratchett – schon bei seiner ersten Begegnung am Anfang des Romans vergleicht Poirot den ihm noch Fremden mit einem wilden Tier (»wild animal«) und hat den Eindruck, das »Böse« sei an ihm vorbeigegangen (»the impression that evil had passed me by very close«)24 –, in Wahrheit der Kindesentführer und -mörder Cassetti ist, der, rechtskräftig verurteilt, durch einen Trick der Justiz entkommen war und sich einer möglichen Lynchjustiz entzogen und unter falschem Namen Amerika verlassen hatte. Christie lehnt sich hier an einen tatsächlichen Fall an, die Entführung des Sohns des berühmten Flugpiloten Charles Lindburgh.25 Im Laufe seiner Ermittlungen erfährt Poirot, dass alle zwölf im Zug reisenden Passagiere in einem Zusammenhang mit dem Mordfall in Amerika – »the Armstrong case« – standen und emotional mit der betroffen Familie verbunden waren. Es stellen sich in dem Roman in der Hauptsache zwei zusammengehörige rechtliche Fragen. Die erste betrifft die gemeinschaftliche Tötung des Verbrechers Ratchett (alias Cassetti), die, anders als bei einer Lynchjustiz, sorgfältig vorbereitet ist und nach einem ausgeklügelten Plan durchgeführt wird, wenngleich die Vielzahl von Einstichen von der Wut und dem Hass der Beteiligten zeugt. Die Tötung wird, nachdem der Verbrecher der offiziellen Gerichtsbarkeit entgangen ist, wie ein Tribunal inszeniert, an dem, wie in einer Jury, zwölf Personen beteiligt sind. In dem Körper des Opfers sind zwölf Einstiche zu verzeichnen. Poirots Rekonstruktion des Ablaufs der Tat zeugt davon, dass er Bewunderung für die Täter empfindet, die in stringenter Handlungslogik die Verurteilung und Exekution des der Justiz entgangenen Verbrechers nachholen: Ratchett had escaped justice in America. There was no question as to his guilt. I visualized a self-appointed jury of twelve people who condemned him to death and were forced by exigencies of the case to be their own executioners. And immediately, on that assumption, the whole case fell into beautiful shining order (227).
Der Detektiv, der es liebt, seine Fälle außerhalb des üblichen Rechtswegs abzuschließen und auf eigene Faust für Gerechtigkeit zu sorgen, kann Sympathie mit den Tätern und der Logik ihres Handelns, die für ihn geradezu einen ästhetischen Reiz birgt, nicht verhehlen. Wenn die selbsternannte Jury auch das Todesurteil zu vollstrecken glaubt, das von der amerikanischen Justiz über Cassetti verhängt wurde,26 bleibt das Verhalten der Täter dennoch rechtswidrig und müsste zu einer Verhandlung 24
Agatha Christie, Murder on the Orient Express, London 1934, 22 – 23. Charles Osborne, The Life and Crimes of Agatha Christie. A Biographical Companion to the Works of Agatha Christie, London 1999, 112. 26 »We decided then and there [ . . . ] that the sentence of death that Cassetti had escaped had got to be carried out.« (231) 25
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und Verurteilung führen. Wie Poirot mit diesem Problem umgeht, ist die zweite zentrale rechtliche Frage des Romans. Der Detektiv präsentiert als Ergebnis seiner Ermittlungen zwei mögliche Lösungen des Falls. Dies widerspricht seinem sonstigen Verhalten, das immer zur Aufdeckung der Wahrheit und zur Benennung des Schuldigen führt. Offensichtlich schlägt Poirot zwei Lösungen vor, um den Tätern die Möglichkeit zum Davonkommen zu geben. Seine erste Erklärung ist, dass ein Fremder – ein Feind Ratchetts aus dem Gangstermilieu – den Zug bei seiner letzten Haltestelle bestiegen und den Mord begangen habe und dann wieder ausgestiegen sei. Die zweite Lösungsmöglichkeit des Falls ist die Erklärung des Mordes als gemeinschaftliche Tat, auf die Poirots gesamte Ermittlungstätigkeit hinausläuft. Dass überhaupt kein Zweifel daran besteht, dass die zweite Lösung die richtige ist, zeigt sich darin, dass eine der anwesenden Personen – Mrs. Hubbard, die Großmutter des ermordeten Kinds – ihre Bereitschaft erklärt, die Alleinschuld an der Tötung Ratchetts auf sich zu nehmen, und den Tatbestand nochmals klipp und klar benennt: »Society had condemned him [Ratchett]; we were only carrying out the sentence.« (233) Im Widerspruch zu diesem Geständnis und den gesamten Erkenntnissen, die während der Ermittlung gewonnen wurden, entscheiden sich Poirots Freund, der Direktor der Eisenbahnlinie M. Bouc, und der Arzt Dr. Constantine auf eine suggestive Frage Poirots hin für die erste der beiden Lösungen, womit sich der Detektiv bereitwillig zufrieden gibt: »›Then‹, said Poirot, ›having placed my solution before you, I have the honour to retire from the case . . ..‹« (233) Dass Poirot bei seiner Lösung des Falls eine Rechtwidrigkeit begeht, die einer Falschaussage gleichkommt, bestätigt ein Rechtsgrundsatz in The Purjury Act 1911, s.5: If any person knowingly and wilfully makes (otherwise than an oath) a statement false in a material particular [ . . . ], he shall be guilty of a misdemeanour and shall be liable on conviction thereof on indictment to imprisonment [ . . . ].27
Es sei noch auf einen Dialog eingegangen, der die Rechtsproblematik, die in dem Roman behandelt wird, bedeutsam reflektiert, nämlich Poirots Verhör eines der Verdächtigen, Colonel Arbuthnot. Der Detektiv hat den Befragten über die Ermordung Ratchetts unterrichtet. Daran schließt sich ein Diskurs über Recht und Gerechtigkeit: ›Then in my opinion the swine [Ratchett] deserved what he got. Though I would have preferred to have seen him properly hanged – or electrocuted, I suppose, over there.‹ ›In fact, Colonel Arbuthnot, you prefer law and order to private vengeance?‹ ›Well, you can’t go about having blood feuds and stabbing each other like Corsicans or the Mafia,‹ said the Colonel. ›Say what you like, trial by jury is a sound system.‹ Poirot looked at him thoughtfully for a minute or two. ›Yes,‹ he said. ›I am sure that would be your view. [ . . . ]‹ (119). 27
Zitiert nach Becher, »›I am the law!‹«, 30.
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Dieser Dialog ist doppelbödig. Der Colonel lässt keinen Zweifel daran, dass das ›Schwein‹ Ratchett den Tod verdient hat, obwohl er, wie er sagt, es vorgezogen hätte, wenn der Mörder in einem regulären Verfahren durch den Strang oder den elektrischen Stuhl hingerichtet worden wäre. Poirot konstatiert darauf – allerdings in der Frageform –, dass der Colonel Recht und Ordnung der privaten Rache vorziehe, was dieser entschieden bejaht; daraufhin erklärt er, dass ein Verfahren durch eine Jury ein gutes System sei. Daraufhin schaut ihn der Detektiv eine oder zwei Minuten lang nachdenklich an. Dieser Moment des Nachdenkens ist eine signifikante Pause, eine Leerstelle, die von der Erzählinstanz sicher mit Absicht gesetzt wurde und die vom Leser gefüllt werden kann. In ihr bündelt sich die gesamte Rechtsproblematik des Romans. Poirot mag darüber reflektieren, ob Arbuthnot, den er wie andere Passagiere an dieser Stelle sicher schon verdächtigt, wirklich meint, was er sagt, das heißt, ob er tatsächlich die Verurteilung durch eine Jury vorzieht oder ob er die gemeinschaftliche Rache von zwölf Personen – die Zahl der Angehörigen einer Jury – auch für eine Art rechtlichen Handelns hält. Zu beachten ist zudem, dass, wie Christie-Leser wissen und wie bereits erörtert wurde, auch Poirot ein gespaltenes Verhältnis zur offiziellen Gerichtsbarkeit hat. Er verhindert ja am Schluss des Romans auch ein Gerichtsverfahren. Mit der anschließenden Reaktion – »I am sure that would be your view« – geht der Detektiv dann wieder in die Routine der Ermittlungsarbeit über, wobei Ironie im Spiel ist, denn für diese Bemerkung hätte es keines längeren Nachdenkens bedurft.
V. Death on the Nile: Die Gewährung der Freiheit zum Suizid Christies Death on the Nile (1934) ist ein Roman, der im Zusammenhang mit Poirots Umgang mit einer Reihe größerer und kleinerer Verbrechen von Diebstahl und Mordversuch bis zum Mord rechtliche Fragen aufwirft und die Problematik des Mords bis ins Theologische hinein reflektiert. Hier soll nur der Romanschluss, in dem sich wiederum die Frage des Suizids stellt, einer näheren Betrachtung unterzogen werden.28 Ganz ohne eine Erörterung einiger grundsätzlicher Aspekte der Handlung ist dies aber nicht möglich. Zunächst sei die Haupthandlung von Death on the Nile knapp skizziert: Das zentrale Verbrechen ist die Ermordung der reichen amerikanischen Erbin Linnet Doyle während einer Schiffsfahrt auf dem Nil. Die Amerikanerin hatte Simon Doyle geheiratet, der zuvor mit ihrer Freundin Jacqueline De Bellefort verlobt war. Letztere verfolgt die frisch vermählten Eheleute bis nach Ägypten und verbirgt die Feindseligkeit und die Rachegefühle, die sie den beiden gegenüber 28
Eine detaillierte Analyse findet sich in Becher, »›I am the law!‹«, 41 – 54.
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empfindet, nicht. Als Linnet ermordet wird, ist Jacqueline die Hauptverdächtige. Es stellt sich aber heraus, dass Simon Doyle die Amerikanerin nur geheiratet hat, um an ihr Geld zu kommen, und dass er und Jaqueline de Bellefort dann wieder ein Paar geworden sind und gemeinschaftlich einen ingeniös erdachten, bizarren Mord geplant und ausgeführt haben. Dass Christie hier wiederum mit großer Virtuosität ein ganzes Arsenal von Verdächtigen aufbietet, die aus aller Herren Länder kommen und alle ihre persönlichen Geheimnisse und Probleme haben und ihre eigenen Interessen verfolgen, sei nur am Rande bemerkt. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass in diesem Fall Sympathie und Antipathie in besonders hohem Maße in Poirots Ermittlungsarbeit hineinspielen. Er zeichnet sich in diesem Roman, schon bevor überhaupt ein Verbrechen begangen wurde und er als Detektiv gefragt ist, mehr denn in anderen Werken als ein genau und sensibel wahrnehmender und moralisch wertender Beobachter aus. Dies zeigt sich früh, als er in einem Restaurant in London das ihm noch unbekannte Paar Jaqueline de Bellefort und Simon Doyle beim Tanzen beobachtet und er erkennt, dass die Frau an der Beziehung der beiden emotional wesentlich intensiver beteiligt ist als der Mann. Christie drückt Poirots Reaktion mit dem Mittel des freien indirekten Stils, der Körpersprache und des Gedankenzitats aus: There was something else beside laughter in her eyes. Hercule Poirot shook his head doubtfully. ›She cares too much, that little one,‹ he said to himself. ›It is not safe. No, it is not safe.‹29
Der Detektiv registriert bei den äußerlich gut zu einander passenden Partnern – »a well-matched pair« – eine Diskrepanz der emotionalen Beteiligung, die ihn Böses ahnen lässt. Dieses Gefühl wird in einem weiteren – nun französischen – Gedankenzitat auf den Punkt gebracht: »Une qui aime et un qui se laisse aimer.« (17) Die Sympathie und die Sorge um Jacqueline bleiben für Poirot bestehen, als er sie auf dem Schiff in Ägypten wieder trifft. So hofft er, dass sie nichts mit dem Tod von Linnet Doyle zu tun hat: »I shall be glad if it is so, for I have for that little one much sympathy.« (122) Diese Sympathie ist um so erstaunlicher, als der Detektiv, der mehr als andere seiner literarischen Kollegen im Detektivgenre den Dialog pflegt,30 außerordentlich unbequeme Gespräche mit Jacqueline hatte, z. B. in der Situation in Assuan, als er sie warnt ihre Rivalin weiter zu verfolgen:
29
Agatha Christie, Death on the Nile, London 1993, 16. Friedrich Ungerer, »The Conversational Game: A Discourse-Linguistic Approach to Agatha Christie’s Detective Stories«, in: H. Gustav Klaus, Stephen Knight (Hgg.), The Art of Murder. New Essays on Detective Fiction, Tübingen 1998, 90 – 107. 30
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›Mademoiselle, I beseech you, do not do what you’re doing.‹ ›Leave dear Linnet alone, you mean!‹ ›It is deeper than that. Do not open your heart to evil.‹ Her lips fell apart; a look of bewilderment came ito her eyes. Poirot went on gravely: ›Because – if you do – evil will come. . . Yes very surely evil will come. . . It will enter in and make its home within you, and after a while it will no longer be possible to drive it out.‹ Jacqueline stared at him. Her glance seemed to waver, to flicker uncertainly. She said: ›I – don’t know – ‹ Then she cried out definitely, ›You can’t stop me.‹ ›No,‹ said Hercule Poirot. ›I cannot stop you:‹ His voice was sad. ›Even if I were to – kill her, you couldn’t stop me.‹ ›No – not if you were willing to pay the price.‹ Jacqueline de Bellefort laughed. ›Oh, I’m not afraid of death! What have I got to live for, after all? I suppose you believe it’s very wrong to kill a person who has injured you – even if they’ve taken away everything you had in the world?‹ Poirot said steadily: ›Yes, Mademoiselle. I believe it is the unforgivable offence to – to kill.‹ (57)
Dieser Ausschnitt aus einem längeren Dialog ist in mancherlei Hinsicht aufschlussreich. Poirot warnt Jacqueline davor, auf ihrem unguten Weg weiterzugehen und ihr Herz dem Bösen zu öffnen. Es geht also nicht nur um die verbrecherische Tat allein, sondern um das Böse, dem die Täterin anheim fallen würde. Gleichzeitig überkommt Poirot ein Gefühl der Ohnmacht. Er sieht ein, dass er den Mord, den die Frau begehen möchte, nicht verhindern kann: »›I cannot stop you:‹ His voice was sad.« Dem Detektiv sind Grenzen gesetzt. Aber er ist unerbittlich in der Frage, dass wer einen Tod verschuldet, dafür zahlen muss (»to pay the price«) und dass der Akt des Tötens das unverzeihliche Vergehen ist, »the unforgivable offence«. An anderer Stelle in dem Roman – im Gespräch mit Mrs. Allerton – vertieft er diesen Grundsatz theologisch. Die Frage von Tod und Leben liege allein in der Hand Gottes: »Such people [politische Mörder] forget that life and death are the affair of the good God.« (70) Als Mrs. Allerton entgegnet, dass Gott seine Instrumente (»his instruments«) wähle, betont der Detektiv, dass ein solches Denken gefährlich sei: »There is a danger in thinking like that, Madame.« (70) An Poirots Überzeugung, dass die Entscheidung über Leben und Tod in der Hand Gottes liegt, kann kein Zweifel bestehen. Dieser sich hier bekundenden Religiosität entsprechend ist die Diktion des soeben betrachteten Dialogs von Ausdrücken wie »heart«, »evil« und »unforgivable offence«, also Wörtern mit einer theologischen Konnotation durchzogen. Death on the Nile schließt mit einer hochdramatischen Situation, in der das Mörderpaar Jacqueline und Simon – nicht ohne Zutun Poirots – den Tod fin-
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det. Nach britischem Recht wären zwei Mörder wie Jacqueline und Simon als englische Staatsbürger zum Tod verurteilt worden, auch wenn sie ihre Mordtaten außerhalb des United Kingdom verübt hätten. In einem Gesetz aus dem Jahre 1861 – Offences Against the Person Act 1861, Section 9 – heißt es: Where any murder or manslaughter shall be committed on land or outside the United Kingdom, whether within the Queen’s dominions or without, and whether the person killed were subject of Her Majesty or not, every offence committed by any subject of Her Majesty in respect of any such case, whether the same shall amount to the offence of murder or manslaughter, may be dealt with, inquired of, tried, determined, and punished, in England or Ireland.31
Da Christies fiktive Welt im britischen Recht einen Realitätsbezug hat, ist die entsprechende Ahndung des Vergehens der beiden Mörder vorgezeichnet. Colonel Race, hier Poirots Assistent, der sich selbst dazu beglückwünscht, dass er kein Polizist ist (»I’m not a damned policeman, thank God!«, 232), macht zwar einen Unterschied zwischen der Schuldhaftigkeit der beiden Verbrecher – der Mann verdiene den Strang, die Frau tue ihm leid –, aber zu machen sei da nichts: ›[Simon] Deserves to be hanged,‹ said Race. ›He’s a cold-blooded scoundrel. I’m sorry for the girl – but there’s nothing to be done about it.‹ (249)
Poirot versucht, wie wir sehen werden, in dieser Situation dennoch etwas zu bewirken. Der Gedanke, Jacqueline davonkommen zu lassen, regt sich in ihm allerdings nicht. In einem längeren Gespräch mit ihr, das auf die oben zitierte erste große Unterhaltung der beiden zurückweist, fragt Jacqueline: »But it wouldn’t have occurred to you to let me off« (245). Poirot verneint die Frage. Mord kann für ihn trotz aller Sympathie für die Täterin nicht ungesühnt bleiben. Aber der Unterschied zwischen den beiden Mördern des Romans bleibt bestehen. Christie lässt Jacqueline betonen, dass sie, anders als ihr Geliebter, die schlafende Lynnet Doyle nicht hätte kaltblütig töten können: The only thing I was glad about was that I hadn’t got to do it. I simply couldn’t have! Not go along in cold blood and kill her when she was asleept. You see, I hadn’t forgiven her – I think I could have killed her face to face, but not the other way . . . (247)
In der Darstellung der Landung des Schiffs in Shellal kommt es vor dem Abtransport des Verbrecherpaars zu einem unerhörten Schlusseffekt: Jacqueline bent down and tied the lace of her shoe. Then her hand went to the stocking top and she straightened up with something in her hand. There was a sharp explosive ›pop‹. Simon Doyle gave one convulsed shudder and then lay still. 31
Zitiert nach Becher, »›I am the law!‹«, 52.
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Jacqueline de Bellefort nodded. She stood for a minute, pistol in hand. She gave a fleeting smile to Poirot. Then, as Race jumped forward, she turned the little glittering toy against her heart and pressed the trigger. She sank down in a soft huddled heap. Race shouted: ›Where the devil did she get that pistol?‹ Poirot felt a hand on his arm. Mrs Allerton said softly, ›You – knew?‹ He nodded. ›She had a pair of these pistols. I realized that [ . . . ]‹ Mrs Allerton said: ›You wanted her to take that way out?‹ ›Yes. But she would not take it alone. That is why Simon Doyler has died an easier death than he deserved.‹ (251 – 252)
Jacqueline hat auf einmal eine Pistole in der Hand. Sie erschießt ihren Geliebten und, ehe jemand eingreifen kann, sich selbst. Colonel Race ruft erzürnt aus, woher sie die Pistole hatte. Poirot wusste, wie sich zeigt, dass Jacqueline noch eine zweite Pistole hatte. Er ließ nicht danach suchen, weil er ihr die Möglichkeit zum Suizid geben wollte. Damit, dass sie vor sich selbst ihren Geliebten töten würde, hatte er nicht gerechnet. Insofern ist seine Rechnung nicht aufgegangen. Das Verhalten des Detektivs, der vorher im Roman ausdrücklich gesagt hatte, die Entscheidung über Tod und Leben liege allein in der Hand Gottes, ist hier höchst problematisch. Er hat zwei Leichen auf seinem Konto, was sein Gewissen allerdings nicht im Geringsten belastet. Einzig dass Simon Doyle, dem Erbschaftsschwindler und kaltblütigen Mörder seiner Ehefrau, der Tod durch den Strang erspart worden ist, bedrückt ihn: »Simon Doyle has died an easier death than he deserved.« Der Schluss dieses Romans zeigt, wie weit Christies Detektiv in seinem Versuch gehen kann, auf eigene Faust für Gerechtigkeit zu sorgen. Das partielle Scheitern seines Plans, das darin liegt, dass der Hauptverbrecher einer Verurteilung zum Tod entgeht, veranschaulicht, wie prekär Poirots Umgang mit dem Recht ist. Death on the Nile veranschaulicht deutlicher als andere Romane Christies, in welch hohem Maße Hercule Poirot als ein Detektiv konzipiert ist, der auf seiner Suche nach Gerechtigkeit an der Polizei und der offiziellen Justiz vorbei handelt. Die Dringlichkeit seines Handelns rührt daher, dass er den Fall und die Rechtsfrage geklärt haben will, bevor das Schiff landet und die Polizei an Bord kommt. VI. Curtain: Der Extremfall – der Detektiv als Mörder und die Frage des Suizids Was die Fragen von Recht und Gerechtigkeit und von Verbrechen und Sühne betrifft, ist auch Christies letzter Roman – Curtain: Poirot’s Last Case (1975) – von höchstem Interesse. Der Roman entstand Anfang der vierziger Jahre, das Manuskript wurde aber über 30 Jahre lang in einem Banksafe verschlossen gehalten und erst 1975 veröffentlicht, als Christie wusste, dass sie keinen anderen
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Poirot-Roman mehr schreiben würde. Curtain kann also als ein vorgezogenes literarisches Vermächtnis der Autorin angesehen werden. Dazu fügt sich, dass dieser Roman den Detektiv – nun ein alter, hinfälliger, von Arthrose und Herzschwäche geplagter Mann – und seinen Helfer, Captain Hastings, der inzwischen seine Frau verloren hat, zum Schauplatz des ersten Poirot-Romans, dem Herrengut Styles zurückführt, das nun eine Pension geworden ist. Im Kontext der vorliegenden Fragestellung nimmt dieser Roman in der Tat eine extreme, nicht hintergehbare Position ein. Hier findet sich zum ersten ein teuflischer Täter, der seine Mordtaten nicht selbst begeht, sondern die Situationen so manipuliert und die Aggressivität seiner Opfer so anstachelt, dass sie die Morde stellvertretend für ihn begehen.32 Dabei geht er so raffiniert vor, dass er als Anstifter zum Mord nicht identifizierbar ist. Poirot hat die betreffenden Fälle – fünf an der Zahl – mit Hilfe von Zeitungsberichten so genau studiert, dass er den Urheber der Untaten, den er X nennt, erkennt. Er weiß, dass X unter den Gästen in Styles ist, und dass X, wenn er um Poirots Wissen weiß, ihn töten wird. Etwas, das in allen Christie-Romanen potentiell hervortritt, nämlich dass jeder ein Mörder sein könnte, wird hier verallgemeinert. Darin reflektiert der Roman, was bei Christie selten ist, die historischen Umstände seiner Entstehungszeit, der Zeit des Zweiten Weltkriegs. So erfolgt ein Bezug auf die Thematik der Euthanasie. Hastings Tochter Judith, die sich als Assistentin des Wissenschaftlers Franklin auf Styles aufhält, vertritt die Auffassung, dass unwertes Leben zu Recht auszulöschen sei: Unfit lives, useless lives – they should be got out of the way. There’s so much mess about. Only people who can make a decent contribution to the community ought to be allowed to live. The others ought to be put painlessly away.33
Hastings ist so erschüttert durch die Einstellung seiner Tochter, dass er ihr sogar einen Mord zutraut. Christies Anthropologie, der zufolge jeder das Potenzial zum Mörder hat, erscheint hier radikalisiert. Das Verbrechen wird zum Teil des menschlichen Wesens. Zum zweiten ergibt sich aus der Trennung von Täter und Verursacher der Tat ein neues Problem für den Detektiv. Für Poirot bleibt nur die Lösung, dass er den wahren Verbrecher, Norton, selbst zerstört und zwar auf eine solche Weise, dass er dessen Tötung als Selbstmord erscheinen lässt. Somit wendet er kriminelle Methoden an: »In effect, he decides to stop a crime and contain a killer by using methods of the criminal, with whom it is, to say the least, dangerous to identify.«34 32 Eine hervorragende Analyse der Handlung dieses Romans liefert Peter Hühn, »The Politics of Secrecy and Publicity. The Functions of Hidden Stories in Recent British Mystery Fiction«, in: Jerome H. Delamater, Ruth Prigozy (Hgg.), Theory and Practice of Classic Detective Fiction, Westport (Conn.), 1997, 39 – 50. 33 Agatha Christie, Curtain: Poirot’s Last Case. London 1993, 113. 34 Maida, Spornick, Murder She Wrote, 102.
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Um zu verdeutlichen, dass Poirot nicht anders handeln kann, als er es tut, ist ein Blick auf Norton erforderlich. Christie bringt ihn als Manipulator, der die Kunst der Dissimulation, Insinuation und Suggestion im Extrem beherrscht, mehrfach mit Jago in Shakespeares Othello zusammen, der den Protagonisten so perfide in die Eifersucht treibt, dass er seine arglose Frau tötet. In Christies Curtain ist es Norton, der, wie Poirot herausgefunden hat, als Anstifter für eine Reihe von Morden verantwortlich ist, ohne je den Schatten eines Verdachts auf sich zu ziehen. Dieses Werk möchte er in Styles fortsetzen, was für Poirot besonders brenzlig wird, als Norton u. a. alles daran legt, Hastings, den Freund und Helfer des Detektivs, dazu zu veranlassen, Major Allerton, einen notorischen Frauenhelden, der, wie Norton suggeriert, Hastings Tochter Judith verführen will, umzubringen – eine Intrige, die Poirot gerade noch zu verhindern weiß. Ein Ausschnitt aus der Szene zwischen Hastings und Norton sei zitiert. Voller Zorn glaubt Hastings eine Liebesszene zwischen Allerton and Judith zu sehen: They were there. I saw Judith’s upturned face, saw Allerton’s bent down over it, saw how he took her in his arms and the kiss that followed. Then they broke away quickly. I took a step forward. Almost by main force, Norton hauled me back and round the corner. He said: ›look here, you can’t – ‹ I interrupted him. I said forcefully: ›I can. And I will.‹ ›It’s no good, my dear fellow. It’s all very distressing but all it comes to is that there’s nothing you can do.‹ I was silent. He might think that that was so, but I knew better. Norton went on: ›I know how ineffectual and maddened one feels, but the only thing to do is to admit defeat. Accept it, man!‹ I didn’t contradict him [ . . . ] (125).
Norton bedient sich hier zunächst eines körpersprachlichen Mittels. Er reißt Hastings, der sich auf die beiden vermeintlichen Liebhaber stürzen will, zurück (»Norton hauled me back«) und hindert ihn an einer gewaltsamen Reaktion. Danach simuliert er Sympathie mit Hastings’ Gefühlen, verneint (dissimuliert) jedoch gleichzeitig den Sinn von dessen Handlungsdrang. Wenn er sagt, es gebe nichts, was man tun könne, und man müsse die Niederlage einstecken, stachelt er Hastings’ Handlungswillen umso mehr an. Wie die Verwendung des Nomens »man« signalisiert, ist in Nortons Worten ein indirekter Appell an die Mannhaftigkeit beschlossen. Es ist Nortons Strategie, Hastings durch suggestive Simulations- und Dissimulationsstragien zu einer Tat anzustacheln. Zugleich exkulpiert der Verführer sich selbst durch den – geheuchelten – Versuch, Hastings vom Handeln abzuhalten. Dass Nortons Rechnung aufzugehen scheint, zeigt das folgende Kapitel, in dem Hastings die Ermordung Allertons durch Gift vorbereitet. Jedenfalls zeigt diese Episode des Romans, dass es für Poirot an der Zeit ist, Norton das Handwerk zu legen, was er aufgrund dessen Raffinesse nur tun kann, indem er ihn im wahrsten Sinne des Wortes unschädlich macht.
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Poirot erläutert seine Vorgehensweise, seine Motivation und die Frage der rechtlichen Bewertung der Vernichtung seines perfiden Gegners35 in seiner letzten Äußerung, die sich in einem Brief findet, der Hastings lang nach dem Abschluss des Geschehens in Styles zugestellt wird. Wie bereits im Zusammenhang mit The Murder of Roger Ackroyd gesagt wurde, ist das Verhältnis von story (histoire) und discourse (discours) bei Christie meistens durch größte Diskrepanz gekennzeichnet. Auch in Curtain erhellt sich das wahre Geschehen erst am Schluss des Romans, nämlich in dem Brief an Hastings, einem Gegenstück zu Dr. Sheppards »Apologia« in The Murder of Roger Ackroyd. Poirot erläutert in dem Brief zunächst die Gefährlichkeit seines Gegners. Er sei hier am Ende seiner Laufbahn auf einen vollkommenen Verbrecher getroffen, der eine Technik entwickelt habe, die diesen vor der Überführung geschützt habe, »the perfect criminal, the criminal who had invented such a technique that he could never be convicted of crime.« (198) Als literarisches Vorbild führt er Shakespeares Jago an: »Iago is the perfect murderer. The deaths of Desdemona, of Cassio – indeed of Othello himself – are all Iago’s crimes, planned by him, carried out by him. And he remains outside the circle, untouched by suspicion« (198). In Jagos Kunst der Manipulation und Suggestion findet er »the perfection of the art of murder«: »Not even a word of direct suggestion. He is always holding back others from violence, refuting with horror suspicions that have not been entertained until he mentions them« (198).36 Daraufhin argumentiert Poirot anthropologisch. Er geht davon aus, dass jeder Mensch ein potentieller Mörder sei: »In everyone there arises from time to time the wish to kill – though not the will to kill.« (198) Die Technik Nortons sei es nun gewesen, die natürlichen Schranken des Anstands, die den Menschen vor dem Mord bewahren, niederzureißen, »not to suggest the desire, but to break down the normal decent resistance.« (199) Als literarisches Beispiel führt er wiederum Othello an (202). Als konkreten Fall bezieht er sich auf die Tatsache, dass es Norton gelungen sei, selbst einen Menschen wie Hastings, der weniger als jeder andere mit einem Mörder gemein hat, so zu manipulieren, dass er eine Mordtat begehen wollte. Als Ergebnis dessen, was der Detektiv in Styles erfahren hat und was er über Norton weiß, kommt für ihn nur dessen Tötung in Frage, die er allerdings so arrangiert, dass sie wie ein Selbstmord aussieht. Hastings gibt er jedoch einen Hinweis auf seine Täterschaft, indem er Norton mit der Pistole nicht durch die Schläfe, sondern »symmetrically, in the 35 Das Problem von Poirots bewußter Falschaussage in Kapitel 14, die einen Mord zum Verdruss von Norton wie einen Selbstmord aussehen läßt, muss ich übergehen. 36 Poirot erweist sich hier als Literaturkritiker. So kritisiert er durchaus plausibel Shakespeares Verwendung des Taschentuchs (198) als ein Mittel, »the clumsiest of devices« (198), das die Überführung Jagos möglich macht, und er charakterisiert das Problem von Desdemonas Liebe klarsichtig (202), wenn man ihm vielleicht auch nicht folgen kann.
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exact centre of the forehead« (217) erschießt, ein Zeichen, das Hastings freilich nicht zu erkennen versteht. Nachdem Poirot den Ablauf des Geschehens und seine Motivation für sein Handeln erläutert hat, stellt er die Rechtsfrage: ›Eh bien, I have no more to say. I do not know, Hastings, if what I have done is justified or not justified. No – I do not know. I do not believe that a man should take the law into his own hands . . . ›But on the other hand I am the law! As young man in the Belgian police force I shot down a desperate criminal who sat on a roof and fired at people below. In a state of emergency martial law is proclaimed. ›By taking Norton’s life, I have saved other lives – innocent lives. But still I do not know . . . It is perhaps right that I should not know. I have always been sure – too sure . . . ›But now I am very humble and say like a little child »I do not know . . .«‹ (218).
Diese Äußerungen sind ein Ausweis des Zweifels. Poirot weiß nicht, ob sein Handeln gerechtfertigt war oder nicht. Dreimal sagt er »I do not know.« In der Situation der epistemologischen Unsicherheit, mit welcher der Roman schließt, zeichnet sich dennoch die Selbstdefinition des Detektivs als das Recht / Gesetz markant ab: »I am the law!«37 Er sieht in sich das Recht verkörpert. Wenn er erklärt, der Mensch solle das Gesetz nicht in seine eigene Hand nehmen, für sich aber eine Ausnahme macht, beansprucht er einen übermenschlichen, quasi göttlichen Status für sich selbst. Was als Hybris erscheinen könnte, wird allerdings durch die Gefühle der Unsicherheit und die Demutsbekundungen am Schluss der zitierten Passage relativiert. Die Doppeldeutigkeit in der Frage nach dem Recht von Poirots Handeln am Ende des Romans findet eine Entsprechung in der Darstellung des Tods des Detektivs. Poirot entfernt sein Herzmittel so weit vom Bett, dass er es bei einem Anfall nicht erreichen kann. Es handelt sich also um eine Art von Suizid. Zugleich aber legt er sein Schicksal damit aber in die Hand Gottes: »I prefer to leave myself in the hands of the bon Dieu. May his punishment, or his mercy, be swift!« (218 – 219). Er unterwirft sich einem Gottesurteil, für das er allerdings durch die Entfernung der Herzampullen die Voraussetzungen geschaffen hat.38 Die letzte Unterwerfung unter den Willen Gottes – nachdem der Detek37 Sein Argument, dass er, indem er Nortons Leben nimmt, unschuldige Leben (»innocent lives«) rettet, stützt er durch die Parallele mit einer Notstandssituation, die den finalen Todesschuss rechtfertigt. 38 Die folgende Äußerung vereinfacht den komplexen Sachverhalt: »Da er [Poirot] trotz der subjektiven Überzeugung von der moralischen Berechtigung seines Tuns nicht sicher war, ob er nicht seine Kompetenz bei weitem überschritten hätte, richtete er sich selbst, indem er seine Herzmedizin entfernte und auf den nächsten Anfall wartete.« Ulrich Suerbaum, Krimi. Eine Analyse der Gattung, Stuttgart 1984, 95 – 96. Noch weniger triftig
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tiv zuvor durch die Hinrichtung Nortons göttliche Macht für sich beansprucht und sich mit dem Gesetz gleichgesetzt hatte (»I am the law!«) – stimmt durchaus mit den bereits angeführten Belegen für die Religiosität Poirots überein.
VII. Schluss In ihrer Abfolge lassen die betrachteten Romane eine sich zunehmend verstärkende Tendenz des fiktiven Detektivs erkennen, Gerechtigkeit außerhalb der Grenzen der staatlichen Rechtsinstanzen zu suchen, eine Tendenz, die ihren Höhepunkt im letzten Poirot-Roman findet. Die bis ins 20. Jahrhundert bestehende rechtsphilosophische Theorie, dass allein der Souverän über Leben und Tod entscheidet, wird auf der fiktiven Ebene von Christies Poirot-Romanen untergraben. Die hier diskutierte Rechtsproblematik ist auch Schlüssel zu anderen Romanen Christies, z. B. zu ihrem bekanntesten Werk, Ten Little Niggers (1939)39, das vom Anfang bis zum Ende als ein Tribunal konzipiert ist: Zehn Personen, die jeweils ein Kapitalverbrechen zu verantworten haben, das zu keiner Verurteilung durch die Justiz führte, werden in Analogie zu dem Abzählreim »Ten Little Niggers« in einem Haus auf einer einsamen Insel einer nach dem anderen mit ihrer Schuld konfrontiert und ›hingerichtet‹. Die Anklageerhebung erfolgt durch eine Stimme auf einem Grammophon. Die Betroffenen realisieren schon sehr bald, dass einer von ihnen der Mörder sein muss. Dem Leser wird früh klar, dass Lawrence John Wargrave, der in dem Roman durchweg »Justice Wargrave« genannt wird, für das ganze Geschehen verantwortlich ist. Das ist für Christie unüblich, und man hat ihr vorgeworfen, das Täterrätsel sei hier zu leicht zu lösen. Das ist aber nicht triftig, weil es in diesem Roman in der Hauptsache um die Darstellung des Tribunals, die Verurteilung und systematische Hinrichtung der Schuldigen geht und um die Art, wie sie nach der Urteilsverkündung mit ihrer Schuld und Angst umgehen. Justice Wargrave stellt sich mit seiner Obsession, der Gerichtsbarkeit entkommene Verbrecher ihrer Verurteilung und Exekution zuzuführen, als eine extreist Dunkers Kommentar: »Allerdings tötet der Detektiv aus edlen Motiven, um einen Verbrecher unschädlich zu machen, und entzieht sich nach der Tat der Strafe. Mit seinem Mord straft sich Poirot freilich selbst Lügen, denn er hat doch immer wieder betont: ›I do not approve of murder.‹« Michael Dunker, Beeinflussung und Steuerung des Lesers in der englischsprachigen Detektiv- und Kriminalliteratur, Frankfurt am Main 1991, 150. 39 Aus Gründen der ›politischen Korrektheit‹ wurde der Roman umgetauft, sehr rasch in Amerika – wo er 1940 unter dem Titel Ten Little Indians erschien – und nach Christies Tod auch in England. Seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts hat sich And Then There were None als Titel generell durchgesetzt. Hierzu Charles Osborne, The Life and Crimes of Agatha Christie, London 2000, 169 – 170. Die Umbenennung führte naturgemäß auch zu Eingriffen in den Text. Ein Philologe arbeitet selbstverständlich mit dem ursprünglichen Text.
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me Verkörperung der Privatjustiz dar. Man kann ihn als eine Projektion Hercule Poirots verstehen, wofür auch eine Stelle in Curtain einen Anhaltpunkt gibt. Als Christies Detektiv dort die bereits erwähnte Theorie, dass jeder Mensch ein potentieller Mörder sei, entwickelt, spricht er von der Möglichkeit, dass er sich selbst als ein von Gott autorisierter Vollstrecker von Todesurteilen – also wie Justice Wargrave – vorkommen könnte: »I, Hercule Poirot, might come to believe myself divinely appointed to deal out death to all and sundry« (209). Man könnte die Detektivliteratur insgesamt im Hinblick auf die Problematik von Recht und Gerechtigkeit untersuchen und Werke von der trivialisierten Form des außerhalb der Legalität operierenden Privatdetektivs Mike Hammer in Mickey Spillanes I, the Jury (1947), der sich selbst zum Richter und zur Jury macht, bis zu der sehr komplexen Behandlung des Themas in Friedrich Dürrenmatts Der Richter und sein Henker (1951) heranziehen, wo der bejahrte Polizeidetektiv Kommissar Bärlach einen »Henker« benutzt, um einen Großverbrecher, dem die offizielle Justiz nichts anhaben kann oder will, wegen eines Verbrechens zu »richten«, das er gar nicht begangen hat. Es dürfte aber wohl kein Œuvre in der Detektivliteratur geben, das in einer umfassenderen und konsequenteren Weise als Christies Poirot-Romane eine Konzeption eines Detektivs realisiert, der auf außergesetzlichem Weg Gerechtigkeit durchzusetzen versucht. In der Art, wie Poirot an den staatlichen Institutionen der Polizei und des Rechts vorbei für Gerechtigkeit sorgt, ohne dass sein rechtswidriges Handeln je offiziell bekannt wird, ist eine subversive Qualität beschlossen, die der »subversiven Gesetzlichkeit« entspricht, welche der Literatur laut Derrida seit eh und je offen stand. Das, was Derrida als eine Möglichkeit andeutet, nämlich dass eine Gerechtigkeit außerhalb oder jenseits des Rechts vorstellbar wäre40, ist in Poirot realisiert, wenngleich in einer Form, an die der französische Philosoph wohl nie gedacht hat. Es besteht aber kein Zweifel daran, dass Derridas Theorem »Die Gerechtigkeit des Rechts, die Rechtsprechung, die Gerechtigkeit als Recht ist nicht (dasselbe wie) die Gerechtigkeit«41 als eine philosophische Grundlage der fiktionalen Welt der Detektivromane von Agatha Christie gelten kann. Wenn es in der Kritik vielfach heißt, dass die Erzählkunst des Golden Age of Detective Fiction das System gesetzlicher Bestrafung als unveränderlich gegeben akzeptiere42 und Dennis Porter diesen Erzähltypus geradezu mit dem repressiven Staatsapparat gleichsetzt43, so trifft dieses Urteil 40
Derrida, Gesetzeskraft, 30. Derrada, Gesetzeskraft, 25. 42 John Scaggs, Crime Fiction, London / New York 2005, 45. 43 Dennis Porter, The Pursuit of Crime: Art and Ideology in Detective Fiction. New Haven (Conn.), 1981, 121. 41
»I am acting in the interests of justice«
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auf Agatha Christie nicht zu. Die viel gerühmte »queen of crime«44 ist also weit mehr als bloß eine geniale Konstrukteurin ingeniöser Täterrätsel, und die Welt ihrer Romane ist mit dem Attribut ›heil‹45 ganz und gar nicht zutreffend charakterisiert.
44 45
Eine Reihe solcher Benennungen zählt Bargainnier, The Gentle Craft, 1 auf. Keitel, »Klassische Detektivgeschichten«, 33.
Paradise on Speed Discourses of Authenticity and Acceleration in Jack Kerouac’s On the Road By Gerd Hurm
». . . and though he was a con-man, he was only conning because he wanted so much to live and to get involved with people who would otherwise pay no attention to him.«1 »Craft is craft.«2
I. A few pages into Jack Kerouac’s 1957 novel On the Road, readers are introduced in prototypcial fashion to an essential feature of one of its key figures, to Dean Moriarty: The most fantastic parking-lot attendant in the world, he [Dean Moriarty] can back a car forty miles an hour into a tight squeeze and stop at the wall, jump out, race among fenders, leap into another car, circle it fifty miles an hour in a narrow space, back swiftly into tight spot, hump, snap the car with the emergency so that you see it bounce as he flies out; then clear to the ticket shack, sprinting like a track star, hand a ticket, leap into a newly arrived car before the owner’s half out, leap literally under him as he steps out, start the car with the door flapping, and roar off to the next available spot, arc, pop in, brake, out, run; working like that without pause eight hours a night, evening rush hours and after-theater rush hours, in greasy wino pants with a frayed furlined jacket and beat shoes that flap. (OR, 6)
The passage speaks of central issues of On the Road, of cars, speed, energy, and ecstatic modes of living. It also focuses on the underdog margins of society, on a beat outsider (whose shoes flap), and on dire working conditions on the fringes of affluent postwar America. Kerouac transforms the contents of the parkinglot action innovatively into the form of his narrative, or in the phrase of his con1 All references to On the Road are from the Viking 50th anniversary reprint: Jack Kerouac, On the Road, New York 2007, 4. All subsequent references to the novel will be incorporated in the text abbreviated to OR. 2 Jack Kerouac, »Essentials of Spontaneous Prose«, in: The Portable Beat Reader, ed. Ann Charters, New York 1992, 57 – 58, here 58.
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temporary, Marshall McLuhan, the medium becomes the message.3 Short verbs express fast action – »start,« »hump,« »snap,« »leap,« »arc,« »pop,« »run« – and the cumulative sentence structure expresses a non-hierarchical vision of pure expression through movement. The text is the thing or, as Kerouac would write in a letter to his friend Neal Cassady, the real-life model for Dean Moriarty, about his composition of On the Road: he typed fast and »went fast because the road is fast.« In the same letter in 1951, Kerouac also told Cassady that between April 2 and April 22 he had finished a »125,000 [word] full-length novel . . . Story deals with you and me and the road.« He reported that he had typed the »whole thing on strip of paper 120 foot long . . . just rolled it through typewriter [ . . . ] rolled it out on floor and it looks like a road.«4 It is in proto-modernist fashion then that form follows function in Kerouac’s account of his speed narrative: the scroll is the road, the road is speed, and hence speed is the scroll. In a nutshell, this is for Kerouac’s Beat generation bible the mythical claim to fame (or at least a central part of it).5 Only recently, Howard Cunnell, who edited the 1951 scroll version of On the Road in 2007, reaffirmed this core assumption of Kerouac criticism, correlating the frenzied improvisation of speed typing with accelerated aesthetics in adjacent fields: Kerouac’s clattering typewriter is folded in with Jackson Pollock’s furious brushstrokes and Charlie Parker’s escalating and spiraling alto saxophone choruses in a trinity representing the breakthrough of a new postwar counterculture seemingly built on sweat, immediacy, and instinct, rather than apprenticeship, craft, and daring practice.6
As many critics have noted, the close link between acceleration and authenticity is one of the chief driving forces that turned the road narrative into a key document of the emerging youth and pop culture in the 1950s.7 Central figures of American literature and culture in the second half of the twentieth century, 3 Michael Hrebeniak links the parking-lot episode explicitly with Marshall McLuhan’s media theory in Action Writing. Jack Kerouac’s Wild Form, Carbondale 2006, 42. See also Gabriele Spengemann, Jack Kerouac: Spontaneous Prose, Frankfurt am Main 1980, 357. 4 Kerouac qtd. in Howard Cunnell, »Fast This Time: Jack Kerouac and the Writing of On the Road«, in: On the Road: The Original Scroll, ed. Howard Cunnell, New York 2007, 1 – 52, here 1. 5 Criticism has related speed to the novel’s aesthetic in a variety of ways. Marco Abel, for instance, in a Deleuzian reading, sees its effects as follows: »The speed generated by the process of typing, paralleling the speed accumulated by Dean and Sal’s perpetual motion, checked only by occasional stops and expressions of desire for a home, produces a certain flatness of the reading experience.« »Speeding across the Rhizome: Deleuze Meets Kerouac On the Road«, Modern Fiction Studies 48 (2002), 227 – 56, here 238. 6 Cunnell, »Fast«, 2. 7 Gilbert Millstein’s review in the New York Times proved highly influential by defining On the Road’s quality to be that of an »authentic« novel. »Books of the Times«, in: Kerouac, On the Road, New York 2007, ii – iii, here ii.
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as for instance Allen Ginsberg, Bob Dylan, or Thomas Pynchon, claimed Kerouac’s search for authentic modes of living as a model for their own work and thus cemented the status of On the Road as a countercultural classic.8 Readers and artists were fascinated by Kerouac’s representation of acceleration, excess, and ecstasy, made explicit in a famous opening passage in which the narrator Sal Paradise announces that »the only people for me are the mad ones, the ones who are mad to live, mad to talk, mad to be saved, desirous of everything at the same time, the ones who never yawn or say a commonplace thing, but burn, burn, burn« (OR, 5 – 6). On the Road became the text that seemed to express most congenially the rebellious forces challenging a tranquilized fifties mainstream culture. In this vein, the 2007 blurb of the 50th anniversary edition still praised Kerouac’s novel as »the quintessential American vision of freedom and hope« and as the »book that changed American literature and changed anyone who has ever picked it up« (OR, i). However, On the Road is probably not only the most influential, but also one of the most contested narratives of postwar American culture. Initially, in the early years of Kerouac criticism, discussions of the shortcomings and contradictions of the novel were downplayed or benignly neglected as attempts by mainstream forces that wanted to deny Beat literature access to university classrooms and libraries. However, over the years a persistent number of scholars and critics have continued to argue that the achievement of Kerouac’s book should be assessed more critically, challenging what they perceived as the »celebratory« mode of much Beat scholarship.9 The challenge is two-fold. Some scholars have denied that On the Road is the innovative masterpiece its admirers claim it to be.10 The most pronounced position in this respect has been taken by Harold Bloom. In the introduction to what is probably the most influential recent publication on Kerouac outside the confines of Beat scholarship, Bloom lambasted On the Road as a »rather drab narrative,« claiming that it had »no literary value whatsoever.«11 Other critics have maintained that 8 Morris Dickstein, Leopards in the Temple: the Transformation of American Fiction, 1945 – 1970 Cambridge 2002, 101. 9 Erik R. Mortenson, »Writing a New Nation: Literary Bohemianism and the Re-conceiving of America«, Journal of Modern Literature 31 (2008), 137 – 142, here 141. In July 2009, for instance, the prestigious literary website Second Pass proposed that On the Road be deleted from the canon of great twentieth-century books. The Contributors, »Fired from the Canon«, 9 July 2009, http://thesecondpass.com/?p=1663 (29 September 2009). 10 In his introductory essay on the scroll version, Howard Cunnell reasserts the claim that Kerouac became the »most successfully experimental writer« of his generation. »Fast«, 3. 11 Harold Bloom sees the novel as a mere »period« piece that does not transcend its narrow focus. »Introduction«, in: Jack Kerouac’s On the Road, ed. Harold Bloom, Philadelphia 2004, 1 – 2, here 1.
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On the Road is a »conservative novel«12 which resumes and upholds discourses that do not confront or subvert mainstream assumptions about gender, ethnicity, and class.13 Gainsaying its rebellious posture, its treatment of outsiders has been criticized as upholding a problematic version of romantic primitivism that continues to misrepresent the lives of the underprivileged.14 In this situation, the present essay suggests a distinct path for a reassessment of Kerouac’s »novel of contradictions.«15 It attempts to overcome the misleading dichotomies of traditional and modern, mainstream and countercultural that have thus far dominated the debate. It will instead expose and address the possible sources for the complicated conflict that lies at the core of the split response to the novel. It acknowledges the contrary diversity of readings as genuine responses in which the unbroken fascination with Kerouac’s road epic exists side by side with reading experiences that deny the book to be a critical accomplishment or even »a good novel.«16 The essay will focus this re-examination by analyzing the crucial relationship that exists between discourses of acceleration and authenticity on various levels of the narrative. As a first step, it will review the legend of the spontaneous composition of Kerouac’s speed narrative. Although challenged and debunked repeatedly, the myth persists in a variety of ways in contemporary assessments of Kerouac’s achievements.17 12 Mark Richardson, »Peasant Dreams: Rereading On the Road«, Jack Kerouac’s On the Road, ed. Bloom, 207 – 231, here 217. 13 Steve Wilson, for instance, argues that Kerouac »romanticizes the life of the downtrodden.« (»Buddha Writing: The Author and the Search for Authenticity in Jack Kerouac’s On the Road and The Subterraneans,« Midwest Quarterly: A Journal of Contemporary Thought 40 (1999), 302 – 315, here 314). Tim Cresswell notes that the treatment of gender is rather »unsophisticated«. »Mobility as Resistance: A Geographical Reading of Kerouac’s On the Road«, Transactions of the Institute of British Geographers 18 (1993), 249 – 262, 258. 14 Douglas Malcolm, »›Jazz America‹ : Jazz and African American Culture in Jack Kerouac’s On the Road«, Jack Kerouac’s On the Road, ed. Bloom, 93 – 114, here 112. Richardson argues that Kerouac does not notice the underprivileged: »Sal Paradise never really sees the poverty in the California work camps, though he lives in and around them for several weeks. This blindness is what enables him to reflect with such amused charm at what he considers the quaint man˜ana culture of the Mexican-American workers.« »Peasant Dreams«, here 217. See also Matt Theado, Jack Kerouac, Columbia 2000, 112. 15 Malcolm, »Jazz«, 112. Kerouac’s contradictions have been noted by a variety of critics. Erik R. Mortenson, for instance, highlights his »inconsistent« treatment of time conceptions. »Beating Time: Configurations of Temporality in Jack Kerouac’s On the Road«, College Literature 28 (2001), 51 – 67, here 65. 16 Dickstein, Leopards, 100. 17 Among the first to criticize and deflate the myth in detail were Tim Hunt, Kerouac’s Crooked Road: The Development of a Fiction, Berkeley 1996, and Brinkley Douglas, »In the Kerouac Archive«, Archive Monthly 282 (1998), 49 – 76. On this issue see also R. J. Ellis, Liar! Liar! Jack Kerouac – Novelist, London 1999.
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II. To summarize Kerouac’s project in most succinct terms, On the Road presents the questing journey of two figures, Dean Moriarty, a dropout »jailkid« (OR, 1), and Sal Paradise, a dropout writer, by reporting their small and big adventures on the road across the U.S. Sal Paradise, the narrator, is to learn from his friend, the frantically driven Dean, the art of ecstatic, fulfilled living. Even though the trip starts out as a mythic exploration of the American West – Dean is introduced as a »sideburned hero« of the »West« (OR, 2) – it is a journey, finally, without a sure destination as the protagonists criss-cross with high speed over the »raw land« (OR, 307). The account of their travels, a picaresque narrative of disconnected episodes tied together by the »purity of the road« (OR, 135), allows Kerouac to present the subculture of outsiders, hobos, and ethnic minorities that was largely absent at this point in American fiction. Explicitly related to a quest for the good life, for searching the »ecstatic joy of pure being« (OR, 195), for pursuing kicks related to sex, drugs, and jazz, the trip ends, however, without a sense of satisfaction. At the close of the narrative, Dean Moriarty keeps speeding in search of kicks, while Sal Paradise is disappointed by the hollowness and inconclusiveness of his companion’s ecstatic quest: »With frantic Dean I was rushing through the world without a chance to see it« (OR, 206).18 Initially, the evaluation of Kerouac’s achievement was complicated by the fact that the novel’s claim to authenticity became associated predominantly with the representation of the underlying autobiographical events. Kerouac’s achievement was seen in collapsing and erasing the difference between autobiography and fiction, turning his life and that of other Beat figures like Neal Cassady, Allen Ginsberg, and William S. Burroughs into an intimate »truestory« narrative.19 The innovative thrust of Kerouac’s autobiographical »nonfiction novel«20 was explained by the specifics of the spontaneous composition process of On the Road.21 As Kerouac noted himself in letters, notebooks and 18 Warren French even calls On the Road a »defeatist book.« Jack Kerouac, Boston 1986, 44. 19 Kerouac qtd. in: Selected Letters, 1940 – 1956, ed. Ann Charters, New York 1995, 242. Ann Douglas, for instance, praises what she calls Kerouac’s poetics of intimacy. She holds that »Kerouac, for some of us, becomes almost synonymous with our private lives, the secret culture of our inmost thoughts and affections, the legend as well as the history of our existence.« » ›Telepathic Shock and Meaning Excitement‹ : Kerouac’s Poetics of Intimacy«, College Literature 27 (2000), 8 – 21, here 9. 20 Cunnell, »Fast«, 26. 21 Ellis noted early that most »critics of Kerouac’s writing focus on how Kerouac’s writing and his life inter-relate. This misses the point. It is how Kerouac’s writing works as fiction that really matters, and this emphasis better helps us understand the sources of his achievement and his continuing popularity.« Liar, 9.
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essays, he attempted to bypass with his aesthetics of spontaneity the limitations of craft, rational planning, and logic. The creation of the scroll version of On the Road figured as a proto-romantic art project in which creativity and authenticity were associated primarily with a spontaneous overflow of powerful emotions. Kerouac’s speed typing seemed to provide material proof that a unique form of authentic writing had been accomplished.22 However, as has been known for quite some time, the legend surrounding the spontaneous composition proved misleading. Kerouac’s account has been challenged on two grounds. Against his claim to have recorded experiences in his typing sessions with »100 % personal honesty,«23 friends and fellow artists remarked early that Kerouac had changed, embellished, and exaggerated many of the events.24 More important, the spontaneity of the composition itself has been debunked as one of the chief fake Beat myths. Rather than improvising his narrative from scratch, Kerouac had prewritten and repeatedly revised parts of the manuscript in preparation for the legendary act of continuous speed typing. Douglas Brinkley sums up the criticism: Kerouac’s archives tell a different story of the novel’s inception. A scroll does survive, but the manuscript that Kerouac typed at his apartment on West Twentieth Street, in Manhattan, was the outcome of a fastidious process of outlining, chapter drafting, and trimming – begun long before April of 1951. Not only did he have a coherent and detailed one-page plot line for each chapter; but much of the dialogue, too, had been written before April. Some journal entries were incorporated directly into the manuscript.25
As much as speed typing the scroll in three weeks may be impressive physically, the act itself consisted of a fair amount of conventional re-writing and copying and thus needs not to be considered purely as an unplanned, spontaneous composition process.26 Also, in the long period that followed the typing 22 Hrebeniak, for instance, argues that Kerouac’s spontaneous aesthetic has a »revolutionary social purpose at the deepest level of form«. Action Writing, 1. 23 Charters, Letters, 356. 24 Carolyn Cassady, Off the Road: My Years with Cassady, Kerouac, and Ginsberg, New York 1990, 7. George Mouratidis concludes: »The presentation of Dean Moriarty as well as Kerouac’s treatment of events in On the Road is a mythic, idealized retelling«. »›Into the Heart of Things‹: Neal Cassady and the Search for the Authentic«, in: The Original Scroll, ed. Cunnell, 69 – 81, 76. See also George Dardess, »Jack Kerouac«, in: The Beats: Literary Bohemians in Postwar America, ed. Ann Charters, Detroit 1983, 278 – 303. 25 Brinkley, »Archive«, 53. 26 His colleague Philip Whalen has given a detailed account of Kerouac’s typing routine: »He would sit – at a typewriter, and he had all these pocket notebooks, and the pocket notebooks would be open at his left-hand side on the typing table – and he’d be typing. [ . . . ] Then he’d make a mistake, and this would lead him off into a possible part of a new paragraph, into a funny riff of some kind that he’d add while he was in the process of copying. Then, maybe he’d turn a page of the notebook and he’d look at that page and
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spree – the scroll was finished in 1951, the book published in 1957 – Kerouac repeatedly and willingly altered the look of his manuscript.27 Some changes were related to publisher’s concerns; others he submitted himself freely. Immediately after finishing the scroll version, for instance, Kerouac began revising it laboriously for weeks. Contrary to the legend spread and upheld by Kerouac (»craft is craft,« »no revisions,« »never afterthink«),28 planning and design played an important role at all stages in the completion of On the Road. The scroll version of On the Road, now published in an edited transcript for the first time, is certainly more frank about some fifties taboo topics, but it is not, as the Beat legend had it for a long time, a more authentic version of a once suppressed and emasculated text.29 Its editor, Howard Cunnell, also states unequivocally that »the scroll does not call into question the authenticity of the published novel.«30 The scroll is then best perceived as one more of the various proto-versions of On the Road that document Kerouac’s extensive practice of revising and editing his texts. On the whole, then, the innovative aesthetic power and authenticity of On the Road should not and cannot be related primarily to the speed and spontaneity of the composition process. The scroll legend initially added to the aura of the subculture classic, but does not help to explain why the text continues to fascinate and puzzle readers today. Therefore a distinct approach to the issues surrounding the aesthetics of On the Road is in place.
III. One of the theoretical models to reopen the debate about the interrelation between discourses of authenticity and acceleration in Kerouac’s road novel is realize it was no good and he’d X it out, or maybe part of that page. And then he’d type a little bit and turn another page, and type the whole thing, and another page, and he’d type from that.« Whalen qtd. in Cunnell, »Fast«, 23 – 24. For an important essay on the distinct conceptions of improvisation, see David Sterritt, »Revision, Prevision, and the Aura of Improvisatory Art«, The Journal of Aesthetics and Art Criticism 58 (2000), 163 – 172. 27 Cunnell, »Fast«, 27; Brinkley, »Archive«, 53. 28 Kerouac, »Essentials«, 58. 29 Tom Clark, Jack Kerouac, New York 1984, 152. The decision by Howard Cunnell to edit the scroll by omitting all insertions that Kerouac added to the manuscript in the course of the composition, in a sense, perpetuates parts of the myth of spontaneity in that the layout of the 2007 reprint suggests a finished process. Even though the editor Howard Cunnell grants that »Kerouac may have begun correcting the novel at any time,« he decides to strip away »these corrections and revision« and restore the »lined-through typewritten text.« »Note on the Text«, Scroll, Cunnell, 101 – 102, here 101. 30 Cunnell, »Fast«, 4.
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offered by Hartmut Rosa’s comprehensive sociological study Beschleunigung, published in 2005, which explores in depth the social and cultural dynamics of time, speed, and acceleration.31 Rosa’s study discusses the speeding up of the modes and media of experience and expression in modernity in the general context of an accelerated process of secularization. Merging insights from different disciplines in unique fashion, Rosa resumes and elaborates on the broader thesis that the most important development in the conception of time in the last century and a half is the shift in which a secular concept of time comes to replace a sacred one as guiding discourse.32 In the transcendental homelessness of the modern world, the promise of eternal happiness is transferred to ephemeral, yet ecstatic moments of the present. Affected by this shift, modern art and literature become crucial sites in which the secular search for epiphanies of rich and authentic instants of time is conducted. Kerouac’s speed project is related closely to this modernist revaluation of time. The novel expresses this very attitude by claiming that its chief aim is to reveal that »life is holy and every moment is precious« (OR, 58).33 Kerouac’s search for »IT« (OR, 127), his term for this shift toward secularized forms of fulfilment, needs to be related to this modernist trend and set in the context of the specific historical moment. Kerouac’s concept of »IT« thus can be shown to represent a crucial trend in the postwar period in which all spheres of American society undergo a most dramatic phase of acceleration. In the »explosion of cars on the road,«34 the massive proliferation of prefabricated suburbs and dynamic supermarkets in the late 40s and 50s, American culture experienced a tremendous push in the speeding up of the secularized lives of its citizens. In a sense, Kerouac’s aesthetic experiment can be interpreted as an attempt to come to terms with this new dimension of social acceleration: speed typing becomes the correlate to speed living. The parking-lot episode, in its representation of fast-paced work and glorified speed, captures this new trend congenially. Acceleration is it – its protagonists are literally »born on the road« (OR, 1). In addition, the scene highlights a transition to a distinct mode of accelerated social behaviour. Occupation here is no longer related to middle-class working ethics that stress stability, persever31 Rosa conceives of categories like acceleration, speed, and time as socially, historically, and culturally variable constructs. Beschleunigung, Frankfurt am Main 2005. For a synopsis of Rosa’s arguments in English see »Social Acceleration. Ethical and Political Consequences of a De-Synchronized High-Speed Society«, Constellations. An International Journal of Critical and Democratic Theory 10 (2003), 3 – 52. 32 Rosa, Beschleunigung, 9 – 67. 33 Regina Weinreich also discusses »IT« as an »epiphany.« Kerouac’s Spontaneous Poetics, New York 2002, 54. 34 Dickstein, Leopard, 96.
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ance, and endurance. As much as Dean Moriarty is shown in the classic fashion of a prototypical professional who masters his task, he also quits his job after a short time for more kicks. Other figures in the novel also change roles and professional identities at a fast pace as long-term planning seems inadequate. Again, Dean embodies the prototype of fast-paced living to the degree that his obsessive movements signal almost a state of alienated reification: He had become absolutely mad in his movements; he seemed to be doing everything at the same time. It was a shaking of the head, up and down, sideways; jerky, vigorous hands; quick walking, sitting, crossing the legs, uncrossing, getting up, rubbing the hands, rubbing his fly, hitching his pants, looking up and saying ›Am,‹ and sudden slitting of the eyes to see everywhere; and all the time he was grabbing me by the ribs and talking, talking. (OR, 114)
In the light of Rosa’s analysis of accelerating processes in late modernity, one may say that Kerouac’s record of postwar modes of living foreshadows and negotiates a crucial shift in the attitude toward life, work, and experience. As Rosa argues, the speeding up of social and economic relations results in a new type of personality in late modernity which he labels the »drifter.«35 Deprived of stable social and cultural parameters, the drifter adapts quickly to fast changing roles and masks. In the job market, for instance, he is attuned to fast occupational changes. A profession no longer provides permanence, but only an opportunity to act as a professional for a short period of time. One does not acquire the fixed social identity of a baker or a car mechanic, but only works temporarily in a bakery or in a car repair shop.36 Embodying such modes of living, Dean and Sal engage in inventing and testing a whole series of roles and identities in On the Road. In the course of their journeys, they play with different jobs and masks as parking-lot attendant, guard, »special policeman,« or grape picker (OR, 6, 64, 82). In recording these trends, Kerouac’s novel may be said to foreshadow a new type of work ethic. Dean and Sal test jobs briefly and move on, regardless of whether they like or dislike their occupation. At one point, Sal thinks that he has found his »life’s work« as a cotton picker, yet a few days later he is on the move again (OR, 96). At this point in American postwar culture, the experimenting and playing with fast changing roles and masks in the social sphere coincides with similar trends in the art world in which traditional modernist approaches are negotiated, tested, and appropriated in self-reflexive fashion. A common ground of the diverse aesthetic projects of key period artists like James Dean, Allen Ginsberg, or Bob Dylan is their congenial focus on experiments with shifting roles and masks. Exploring new forms of authenticity in their fields, these artists test 35 36
Rosa, Beschleunigung, 352. Rosa, Beschleunigung, 362 – 390.
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alternative ways in overcoming alienating modes of expression. Anticipating late modernist or postmodernist aesthetic strategies, they experiment with masks to obtain a distinct sense of artistic authenticity. Marjorie Perloff, for instance, argues that Allen Ginsberg creatively fuses extant discourses in developing his role and voice of an »urban Jewish Huck Finn.«37 At the same time, James Dean plays with public and private masks of rebellion and intimacy to achieve a new degree of authenticity for his characters on screen.38 Finally, Bob Dylan, a man of many masks, starts his career as a protean pop performer by challenging time after time the role expectations of his audiences.39 Kerouac, too, presents such experiments with masks and double-voiced modes of speaking in On the Road. For example, he documents how Sal imitates »Hemingway« diction (OR, 78), Dean reverts to »business-like tones« (OR, 114), and Carlo Marx (alias Allen Ginsberg) turns to »semi-ironical« speeches and develops the prophetic mask of »The Voice of the Rock« (OR, 130). More important, Kerouac has his narrator Sal Paradise introduce his muse Dean Moriarty right in the beginning as a mask-shifting confidence man (OR, 4). Dean, the figure who seems to embody spontaneous intuition through his uncontrolled and uncontrollable acts, is surprisingly conceived as an expert and saint in mock role-playing. He figures as a »holy con-man« (OR, 5). The question, of course, is of how precisely faking identities and fast shifting masks can be related to the claim of producing enhanced forms of authenticity. It is this essay’s conviction that an exploration of this seeming incongruity and incompatibility will go a long way to explain the coexistence of affirmative and oppositional readings of On the Road.
IV. The investigation of the uses of frontier folklore and oral traditions in On the Road in itself is no novelty in Kerouac criticism. The incorporation of oral 37 Marjorie Perloff, »A Lion in Our Living Room: Reading Allen Ginsberg in the Eighties«, in: Poetic License: Essays on Modernist and Postmodernist Lyric, Evanston 1990, 199 – 230, here, 211. See also my essay »Rebellion as Affirmation: Allen Ginsberg’s American Poetics in The Gates of Wrath«, in: Rebels without a Cause? Renegotiating the American Fifties, ed. Ann Marie Fallon and Gerd Hurm, Oxford 2007, 57 – 75. 38 Axel Arens, James Dean, München 1989, 7 – 35; Stefan Brandt, »Performanz und Selbstermächtigung: Zur Ästhetik des Körperlichen bei James Dean«, in: James Dean lebt! Jugendkultur und Starkult in Film und Musik, 1950 – 2000, ed. Werner Kremp, Trier 2006, 11 – 52; Gerd Hurm, »Acting Authentic: James Dean, Rebellion, and Post-War Negotiations of an American Icon«, in: American Cultural Icons: Configurations, Re-Figurations, ed. Bernd Engler and Günter Leypoldt, Würzburg 2010, forthcoming. 39 Greil Marcus, Invisible Republic: Bob Dylan’s Basement Tapes, New York 1997.
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discourses associated with the American West has been offered for quite some time as an explanation for the authenticity of and fascination with Kerouac’s »poetic tall tales.«40 However, as will be shown in the following, Kerouac’s novel cannot be linked in consistent terms with essentialist concepts of authenticity that have thus far been applied in criticism.41 It takes a distinct model to explain the complex effects of conning and tall-talking in On the Road. Kerouac himself provided several hints that American oral traditions proved important in his novel’s quest to discover the »inherent goodness in American man.«42 One of the most influential models for Kerouac was Mark Twain’s frontier tall tale Adventures of Huckleberry Finn. Kerouac establishes obvious parallels to Twain’s vernacular narrative in On the Road and even refers to it in a letter as a literary »spinebone«43 to his project. In addition, Kerouac invokes American frontier discourses of the West at crucial moments in the narrative. He thus defines Dean’s »wild yea-saying overburst of American joy« right in the beginning as having a »Western« basis (OR, 7 – 8). He also ties Sal Paradise’s quest to the symbolic geography of American exceptionalist discourse by claiming that it is ultimately related to the »West« of his »future« (OR, 15). However, all in all, if one were to accept the West as guiding point and key discourse for progress and orientation in Kerouac’s quest, the presence and representation of frontier traditions is disappointing and inconsistent. The only unambiguously positive representation of Western authenticity is the »raw life« recorded early in the narrative in a Midwest diner: We stopped along the road for a bite to eat. The cowboy went off to have a spare tire patched, and Eddie and I sat down in a kind of homemade diner. I heard a great laugh, the greatest laugh in the world, and here came this rawhide old timer Nebraska farmer with a bunch of other boys into the diner; you could hear his raspy cries clear across the plains, across the whole gray world of them that day. Everybody else laughed with him. He didn’t have a care in the world and had the hugest regard for everybody. I said 40 Brinkley, »Archive«, 50. See, for instance, John D. Seelye, »The American Tramp: A Version of the Picaresque«, American Quarterly 15 (1963), 535 – 553. 41 Gary Lindberg, for instance, reads Dean as an essentialist embodiment of »a modern con man« and an »archaic trickster« whose »primal energy crashes through all cultural bounds«. The Confidence Man in American Literature, Oxford 1982, 269. Both Hunt and Hrebeniak rely on Walter Ong’s model of a medial essentialism to explain Kerouac’s use and understanding of oral discourses. W. T. Lhamon also relates an important part of the »raw spontaneity« of Kerouac’s art to his incorporation of »American orality.« in: Deliberate Speed: The Origins of a Cultural Style in the American 1950s, Washington 1990, 161, 151. 42 Kerouac qtd. in Brinkley, »Archive«, 68. For an early interpretation of the use of frontier myths see Alexander Fanger, Jack Kerouacs »America«. Mythos und Vision, Hamburg 1981, 158 – 219. 43 Kerouac qtd. in Brinkley, »Archive«, 60.
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to myself, Wham, listen to that man laugh. That’s the West, here I am in the West. He came booming into the diner, calling Maw’s name, and she made the sweetest cherry pie in Nebraska, and I had some with a mountainous scoop of ice cream on top. »Maw, rustle me up some grub afore I have to start eatin myself raw or some damn silly idee like that.« And he threw himself on a stool and went hyaw hyaw hyaw hyaw. »And thow [sic] some beans in it.« It was the spirit of the West sitting right next to me. I wished I knew his whole raw life and what the hell he’d been doing all these years besides laughing and yelling like that. (OR, 18 – 19)
While the passage singles out the exceptional capacity for laughter in a »Nebraska farmer« as an embodiment for Western authenticity, the episode does not suggest any hints for further orientation or values to live by. The incident does not and cannot provide guidance for Sal’s search. This absence of signs of Western authenticity need not be assessed primarily as a flaw or inconsistency in the novel. A way of explaining the marginal position of »precious« moments associated with the West is to comprehend Kerouac’s novel as a Beat jeremiad. Its function is exactly to mourn the vanishing of the »proud tradition« of the West (OR, 30).44 Indeed, the jeremiad tinge in the search for truth, authenticity, and fulfilment in the mythic West may be said to be captured most succinctly by the telling name of Kerouac’s narrator Sal »Salvatore« Paradise. Salvatore is to recover a paradise on speed – he is to find a new Eden that lies in the translatio imperii tradition in the West.45 From this vantage point it seems logical that Kerouac attempts to turn his model Dean Moriarty, the »sideburned hero« of the »West,« into a »new kind of American saint« (OR, 38). However, as has been noted in critical commentary, there are problems for readings which try to show that Kerouac’s quest can be simply equated with American frontier traditions.46 If anything, On the Road is not fully consistent in using and referring to American exceptionalist discourse. This is particularly 44 For the uses of the jeremiad in American literature, see Sacvan Bercovitch, The Rites of Assent: Transformations in the Symbolic Construction of America, New York 1993. 45 John Lardas notes: »Kerouac’s symbolic revisioning of national character was intended to reconnect American to its wilderness origins and its living soul. [ . . . ] Reminiscient of Huckleberry Finn’s search for the good society, Kerouac’s narratives are attempts to salvage paradise before it becomes a distant memory.« The Bop Apocalypse: The Religious Visions of Kerouac, Ginsberg, and Burroughs, Urbana 2001, 202. At various points in the narrative Kerouac assumes a jeremiad pose, suggesting that it is important to go back to the true roots of the past and to redefine the values of the present. This attitude seems most concisely embodied in the »American flag« that is hoisted »upside down« by Sal as a guard and »special policeman« (OR, 66). Lardas observes that Kerouac and the Beats imagined a »new American frontier.« They »were simultaneously rebellious and beholden to the mythic language of America.« Bop Apocalypse, 19, 177. 46 Cf. Ellis, Liar, 66 – 72.
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true for its use of the symbolic geography of the American West. As much as the narrative repeatedly evokes discourses of the West, it also undermines their larger relevance. As Sal points out, East and West become indistinguishable in the course of his quest. For example, he notes at one point that there is something »holy about the East« (79) and that there exists a »wilderness in the East« (105) similar to that in the West. Even more, there is no lack of kicks in leaving a frustrating West behind: »We were hot; we were going east; we were excited« (208).47 As critics have pointed out, it appears as if accelerated movement in itself seems to be the sole solution to obliterate the loss of progress and orientation in the symbolic dichotomy of East and West: »We all realized we were leaving confusion and nonsense behind and performing our one noble function of the time, move« (OR, 134).48 The difficulty in assessing Kerouac’s novel properly in this context results from the fact that his jeremiad simultaneously invokes and undermines mythic concepts. This is also true for the special relationship of speed and progress to American exceptionalist discourse in On the Road. One of the striking and recurring elements in the quest is that recorded incidents are related time and again to an exceptionalist notion of superiority and excellence. The novel therefore abounds with a host of superlatives. To name only a few examples, Sal has »the hardest job« (179) and »the beatest time« (171) of his life as he encounters and records »the maddest guy in the world« (OR, 175), »the gonest little girl« (61), »the beatest characters in the country« (OR, 87), »the beatest suitcase in the USA« (188), »the saddest night« (195), the »best driver« in the world (212), or the »fastest, whoopingest ride« (101). Sal is interested in moments that are the »beatest,« »smallest,« »cutest,« »funniest,« »greatest« (OR, 87, 50, 81, 63, 97), as in the diner episode where he notes in short space the »sweetest« cherry pie in Nebraska and that the farmer with »greatest laugh« in the world has the »hugest« regard for everybody (OR 18 – 19). Still, the presence of American exceptionalist rhetoric in the superlatives of On the Road is also undercut continually. Many of the superlatives which readers encounter are outrageously subjective; frequently they are undermined by a mocking tone. Yet, as Kerouac admonishes his readers in the very beginning, they need to be critical and independent-minded in their judgment as they are listening to tall-talking performances of con-men. Viewed from this vantage point, the parking-lot episode presents itself as a masterpiece in tall-talking and thus as a perfect introduction to further trickster performances in the novel. 47 At one point, Sal also notes: »It was beginning to look like the soft sweet East again; the great dry West was accomplished and done.« (OR, 236) 48 For complex readings of the theme of movement and mobility in the context of American exceptionalist discourses see, Cresswell, »Mobility as Resistance«, 249 – 262.
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In the episode, Sal seems to showcase the exceptional nature of Dean by announcing him as »the most fantastic parking-lot attendant in the world« (OR, 6). However, at second sight, the event reveals itself as part of an exquisite hoax. First, you really cannot back a car at the incredible speed of »forty miles« (OR, 6) and stop it »at the wall.« At the speed of forty miles you crash into the wall unless you brake well in advance. If you slow down, however, you do not actually park the car at a crazy speed in a »tight squeeze.« Sprinting for almost »eight hours« in »track star fashion« with »shoes that flap« is another tall-talking element in the scene. Professional marathon runners have to stop after a few hours, yet Dean sprints and works »without pause« for whole shifts. Dean’s slapstick leaping under the car owner before »he’s half out« is thus also to be taken less as the authentic record of a fast paced professional than as a trickster performance.49 Obviously, such a »fantastic« figure may also claim to »circle« a car at »fifty miles an hour in a narrow space« (OR, 6). Readers may thus admire the speed of the Dean’s actions. They may also become aware, however, that they are subject to a genuine tall-talking session that tests their gullibility. Or, as Kerouac observes in another instant: it is »a big hoax« (OR, 138). Throughout the narrative, Kerouac provides obvious reminders that his claim to renounce »fiction« in favour of »truth« is tall talking.50 Consequently, to name just a few examples from his »true-story« narrative, he has Sal pile up »groceries a mile high« (OR, 71); Sal also drinks heavily so that he has to go to »the men’s room every two minutes« (OR, 77). The issue in Kerouac criticism thus far has been to find the missing link between the obvious reference to folk discourses and the denial of their validity in the narrative. To simply relate the deadpan performances to the subversive potential of orality at large or to an essentialist mode of vernacular expression does not really solve the conflict. As has been indicated in the preceding section, the novel does not consistently uphold oral frontier discourses as more authentic modes of expression, despite the romantic primitivism that pervades the novel in various parts.51 49 For interpretations of Dean as a trickster figure see Lindberg, Confidence Man, 259 – 270, and Stephen Llano, »The Clown as Social Critic: Kerouac’s Vision«, in: Clowns, Fools, and Picaros: Popular Forms in Theatre, Fiction, and Film, ed. David Robb, Amsterdam 2007, 195 – 209. See also Ellis, Liar, 83. 50 In the year before he typed the scroll version, Kerouac told Neal Cassady: »I have renounced fiction and fear. There is nothing to do but write the truth.« Charters, Letters, 248. 51 Readings that discuss Kerouac’s use of oral traditions with models supplied by Walter Ong, Mikhail Bakhtin, or Jacques Derrida do not move to the core of the debate as they cling to a medial dichotomy for orientation. Among more recent publications, Hrebeniak applies the essentialist concepts of Ong and McLuhan to argue that Kerouac intended to discover a »sacred, embodied voice of the imagination.« 261. – For a general discussion of the drawbacks of such essentialist readings of orality see Ruth Finnegan,
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It is at this point that a different set of approaches from orality studies may prove useful to address the issue. Conning and tall-talking performances are, these alternative paradigms demonstrate, most intricate aesthetic practices. For example, oral tall-talking traditions are best assessed as highly complex cultural performances that test rather than posit the veracity and authenticity of utterances. A tall-talking performance challenges the gullibility of listeners, invites them to participate in the creation of meaning in similar ways to those discussed in reader-response approaches in modern literary theory. Tall-talking sessions also function to empower listeners, thereby providing tools to grant or deny access to the inner circle of a community. It is the audience that decides what is to be perceived as a truth or lie.52 In addition, the politics associated with such oral modes of truth negotiation needs to be reassessed. For example, deadpan tall-talking performances cannot simply be equated with expressions of grass-roots democracy that represent a more egalitarian western frontier spirit. As scholars have indicated, such talltalking communities are better conceived as hierarchical and exclusionary elitist circles. Such oral communities set up gate-keeping standards to exclude those who would disturb the peer group of chosen white males. This meant historically that women, African Americans, Native Americans and all ethnic minorities were excluded from participation in frontier egalitarianism. Tall-talking performances rather provide a test for a peer group to assess whether a newcomer has the status and code to join them or not. It is the negotiation within the tall-talking community that decides whether an intruder could meet the standards of consensual truth. Tall-talking is thus related not so much to unmediated, spontaneous authenticity, but more to control, gate-keeping and subjective, peer-based forms of truth.53 Applied to the oral traditions used in On the Road, the peer group that decides upon the authenticity of the hoaxes and mock tall tales are the readers. It is here that the widespread »celebratory« readings of Kerouac’s novel by the Beat scene and its admirers have granted to On the Road the status of an »authentic«54 subculture classic. Read in this way, Kerouac’s claim to compose a »truestory« narrative by exaggerating the events of the journey cannot but be interpreted as a tongue-in-cheek assertion of an expert tall talker. Literacy and Orality, London 1988; see also my discussion or oral discourse in »Modernity, Media, and Mediation«, in: Rewriting the Vernacular Mark Twain: The Aesthetics and Politics of Orality in Samuel Clemens’s Fictions, Trier 2003, 37 – 74. 52 For a comprehensive account see Finnegan, Literacy and Orality, 1 – 29. For the specifics of tall talking see Carolyn S. Brown, The Tall Tale in American Folklore and Literature, Knoxville 1987, 1 – 38. 53 Brown, Tall Tale, 1 – 38; Henry Wonham, The Art of the Tall Tale, 3 – 16, 51 – 69. 54 Millstein, »Books«, ii.
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Indeed, the reports of events from the journey that we receive through Sal are best assessed through the politics and aesthetics of a con artist. Kerouac himself lets his readers know in the beginning that Dean and Sal are using mock masks in extensive and highly self-reflexive fashion: »He was conning me and I knew it« and »he knew that I knew« (OR, 4). But it is not just that Sal and Dean are confidence men and tricksters. As the parking-lot episode demonstrates, Kerouac is the ultimate deadpan tall talker. By conceiving of tall-talking and conning as complex cultural negotiations of truth, the fast shifting masks and voices in On the Road need not be interpreted primarily as contradictions and evidence of artistic failure, but can be assessed as part of an intricate literary strategy. The tall-talking aesthetics of On the Road empower readers so that they may create their own consistency and coherence for a fast paced narrative. The presence of »hybrid literary forms«55 and the »mix of contending voices«56 in On the Road may thus be assessed in a different light. The novel’s unbroken appeal is not primarily related to a proto-postmodernist mix of styles as some scholars have suggested, but to the capacity of its aesthetics to merge complementary and contradictory discourses into a suggestive whole. In critical readings it fuses the »many tongues«57 into a coherence that may be assessed as being »revolutionary,«58 in affirmative readings as being »quintessentially American.«59 V. In the limited space of this essay, a few paradigmatic examples will have to suffice to demonstrate the varied effects of Kerouac’s strategy. The passages discussed in the following all highlight that On the Road is best interpreted as a continual challenge and test for readers. The ultimate question is whether one is invited to assume a straight or an ironic perspective of the events narrated. Incidentally, the passages chosen for discussion were seldom treated in detail in standard interpretations of On the Road. They did not fit the then dominant paradigms of interpretation. For example, the puzzling presence of the Banana King episode in On the Road may be explained congenially by the deadpan aesthetics of tall talking. 55 Ronna C. Johnson, Ronna C. Johnson, »›You’re putting me on‹: Jack Kerouac and the Postmodern Emergence«, in: The Beat Generation, ed. Kostas Myrsiades, New York 2002, 37 – 56, here 37. 56 Ellis, Liar, 9. 57 Douglas, »Intimacy«, 23. 58 Hrebeniak, Action Writing, 1. 59 Jenn McKee, Jack Kerouac, Philadelphia 2004, 119.
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When Sal arrives in San Francisco, he is asked to write about the Banana King, but refuses to do so: It was Saturday; we got all spruced up and went down to the bus station on the crossroads. We rode into San Francisco and strolled through the streets. Remi’s huge laugh resounded everywhere we went. »You must write a story about the Banana King,« he warned me. »Don’t pull any tricks on the old maestro and write about something else. The Banana King is your meat. There stands the Banana King.« The Banana King was an old man selling bananas on the corner. I was completely bored. But Remi kept punching me in the ribs and even dragging me along by the collar. »When you write about the Banana King you write about the human-interest things of life.« I told him I didn’t give a damn about the Banana King. »Until you learn to realize the importance of the Banana King you will know absolutely nothing about the human-interest things of the world,« said Remi emphatically. (OR, 72)
If we take On the Road as the record of Sal’s insight that »every moment is precious,« then his reaction toward the Banana King is puzzling. If we see the passage as a test and part of a deadpan performance, however, it appears in a fresh light. The reading of this episode depends strongly on how you interpret Kerouac’s mask. One possible reading could be that Kerouac, the notoriously inconsistent Beat author, does not really know what he is doing. Sal’s disinterest seems to contradict the very agenda of On the Road. However, a diametrically opposite interpretation could be that Kerouac is perfectly aware of what he is up to. He obviously wants his readers to challenge Sal’s attitude. The passage could be an indication that Kerouac wants to show that Sal is as yet blind to the really »precious« moments in reality. Sal is ignorant and will have to learn to recognize everyday gems on his search for »IT.« Be that as it may, the passage in itself does not provide a clue of how to read it. It is up to the peer group of readers to decide whether they take deadpan statements by Kerouac and his narrator as straight or ironic. Readers have the freedom to figure this out by themselves; Kerouac’s fast-paced deadpan shifts provide ample occasions to do so. Another telling episode that engages readers in deciding on how to assess the mode of speaking is the attendance of a Beethoven opera performance in Denver. Sal praises the mainstream event in most clichéd ways: The opera was Fidelio. »What gloom!« cried the baritone, rising out of the dungeon under a groaning stone. I cried for it. That’s how I see life too. I was so interested in the opera that for a while I forgot the circumstances of my crazy life and got lost in the great mournful sounds of Beethoven and the rich Rembrandt tones of his story. (OR, 52)60 60 The very passage also appears in the scroll version. In revising for publication, Kerouac omitted the clichéd addition that Fidelio was »Beethoven’s mighty work.« Cunnell, Scroll, 154.
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The passage uses hackneyed phrases and stale comparisons in celebrating a mainstream Beethoven performance with ridiculous alliterations of a »rich Rembrandt« synaesthesia. If this were straight writing, it clearly contradicted Kerouac’s claim to innovative aesthetics. However, if we set the passage in the context of deadpan aesthetics, it may be taken as a complex parody of cultural attitudes. Indeed, the whole episode, which deals with the relation between mainstream culture and Beat subculture, is driven by fast paced changes in perspective that result in a highly ironic stance. After all, Sal comes to reflect his dire situation in an opera performance of one of the leading European classical composers in the West. Kerouac complicates the assessment of the episode by relating the Beethoven performance explicitly to his peer group: »They [Dean and Carlo] were like the man with the dungeon stone and gloom, rising from the underground, the sordid hipsters of America, a new beat generation that I was slowly joining« (OR, 54). Ultimately, the encounter with mainstream culture ends with the defeat of Sal’s Beat buddies. Young ushers from the opera appear on the scene and ruin their party: The boys from the chorus showed up. They began singing »Sweet Adeline.« They also sang phrases such as »Pass me the beer« and »What are you doing with your face hanging out?« and great long baritone howls of »Fi-de-lio!« »Ah me, what gloom!« I sang. The girls were terrific. They went out in the backyard and necked with us. There were beds in the other rooms, the uncleaned dusty ones, and I had a girl sitting on one and was talking with her when suddenly there was a great inrush of young ushers from the opera, who just grabbed girls and kissed them without proper come-ons. Teenagers, drunk, disheveled, excited – they ruined our party. Inside of five minutes every single girl was gone and a great big fraternity-type party got under way with banging of beerbottles and roars. (OR, 54)
Again, it is up to readers to decide of how to read the passage of the Beat defeat properly. Kerouac’s voice, in its frequent shifts, does not provide an unambiguous orientation. Finally, the effect of tongue-in-cheek and deadpan poses needs to be discussed for those passages which feature Kerouac’s apparent sexism and racism.61 At one 61 The fact that the passage scrutinized – »Man,« Neal told me, »think of lifting her in the air and fucking her« is taken from the scroll version (from which it was cut most likely for censorship reasons) again may serve to demonstrate that the speed typed manuscript in itself is not a more aesthetically radical or counterculturally correct document. The example also shows that homophobic and xenophobic remarks are not restricted to the late alcoholic Kerouac, misunderstood and miserable at this point in his career. Kenneth Rexroth argued early that Kerouac’s treatment of African-american jazz musicians was »steeped in the same ›primitive‹ stereotypes used by more conventional racists.« John Leland, Why Kerouac Matters: The Lessons of On the Road, New York 2007, 140.
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point in the novel’s search for more kicks, Dean freely fantasizes about the chance for another sexual adventure: »I saw the little midget newspaper-selling woman with short legs, on the corner of Curtis and Fifteenth. »Man,« Neal told me, »think of lifting her in the air and fucking her« (cf. OR, 58).62 At first sight, Dean’s male gaze seems to reduce the midget woman in his misogynistic observation to a mere sex object. However, looked at through the lens of deadpan irony, the passage attains a distinct tinge. It is again up to readers to decide whether Kerouac simply voices misogynistic sentiments or whether he proposes, in ironic fashion, the breaking of sexual taboos. Allen Ginsberg, himself often the target of Kerouac’s offensive scorn, provides an analogous assessment of his friend’s homophobic or xenophobic rhetoric. He claims that Kerouac enjoys using »a seemingly vicious but playful mask« to provoke and instruct.63 In their deadpan nature, such outbursts by Kerouac were, for Ginsberg, »always a teaching rather than pure insult.«64 Readers need not follow Ginsberg’s generous tolerance in judging his friend and fellow Beat author. Still, if viewed as deadpan utterances, readers are empowered by the strategy to decide whether they want to highlight the passage as a significant flaw within the overall rebellious thrust of the Beat narrative or whether they benignly neglect it as a stock male phantasy that does not affect the countercultural project as a whole.
VI. The distinct approach to conning and tall talking, to fast shifting masks and voices does not provide an unequivocal and conclusive reading of On the Road. It has to remain open whether On the Road is assessed best as a rebellious, countercultural narrative or as an overrated conventional »period« piece that promotes outdated positions in the guise of innovative aesthetics. What this approach to the novel highlights, however, is that Kerouac’s fast changing deadpan pose produces rhetorical strategies in the text that allow diverging readings to be consistent to a certain degree, even though ultimately they remain mutually exclusive. Moreover, the present reading does not necessitate the reinvention of Kerouac as a modernist, genius author or as a postmodernist, ›dead‹ author to validate the interpretation. The aesthetic strategy developed in On the Road simply enables Kerouac to negotiate his uncertainties and prejudices in a highly creative way. 62 63 64
Cunnell, Scroll, 160. Leland, Kerouac Matters, 56. Leland, Kerouac Matters, 56.
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While the present reading has thus clarified the sources for the openness and diametrically opposed readings of On the Road through its negotiations of discourses on acceleration and authenticity, it has also indicated why it is unlikely that the debates about the status of the novel will cease. It is evident that »celebratory« readings may downplay conflicting passages as expressions of an ironic posture, while critical readings may continue to argue that the positions taken by Kerouac jar with the overall claim of his narrative. Still, read with proper care and a willingness to notice its nuances, On the Road may serve as an important postwar text in which one may relate its accomplishments and contradictions fruitfully to the necessary negotiations and interventions within the dominant historical discourses. The challenge is not to do away with the inconsistencies and ruptures by reducing On the Road in a one-dimensional fashion to modernist or postmodernist agendas, but by indicating the importance of the reading process as a decisive creative act.65 More than in many other modern texts, the authenticity and success of On the Road lies truly in the eye of the beholder.
65 Joshua Kupetz, for instance, also notes that Kerouac, in his narratives, establishes the reader as »the site of meaning.« » ›The Straight Line Will Take You Only to Death.‹ The Scroll Manuscript and Contemporary Literary Theory«, Scroll, ed. Howard Cunnell, 83 – 95, here 91.
Inszenierung einer afroamerikanischen Gedächtnispoetik am Beispiel der Lyrik Rita Doves Von Oliver Scheiding
»I found historical events fascinating for looking underneath – not for what we always see or what’s always said about a historical event, but for the things that can’t be related in a dry, historical sense.« (Interview mit Rita Dove, »Riding that Current as Far as It’ll Take You. Stan Sanvel Rubin und Judith Kitchen, 1985«, in: Conversations with Rita Dove, hg. Earl G. Ingersoll, Jackson 2003, 4)
Die neuere Gedächtnisforschung widmet sich im Zeichen einer transnationalen Amerikanistik komparatistischen Fragestellungen, in deren Mittelpunkt verstärkt Studien stehen, die eine enge nationale Fokussierung und die daraus resultierende Beschränkung auf nationalkulturelle Gedächtnisformationen aufgeben.1 Im Zuge globaler Migrationsbewegungen sowie der damit einhergehenden Hybridität und Pluralität von Kulturen, Identitäten und Geschichten hat die Gedächtnisforschung zunehmend ihren Forschungsgegenstand interkulturell erweitert und transnational ergänzt. Die Entgrenzung der Literatur hin zu einem globalen Fluss von Texten, Ideen und Produktionspraktiken hat allerdings dazu geführt, dass das ›Gedächtnis der Literatur‹ und seine unterschiedlichen Konzeptualisierungen kaum problematisiert werden. In der neueren Gedächtnisforschung spielen insbesondere die Dichtung und ihre unterschiedlichen mnemotischen Verfahren der Inszenierung einer spezifischen Gedächtnispoetik gegenüber der Prosaanalyse häufig eine untergeordnete Rolle. In Ergänzung und Erweiterung der hier skizzierten Forschungsproblematik möchte der vorliegende Aufsatz daher Aspekte der rekonstruktiven Deutungsarbeit in der schwarzen Gegenwartslyrik beleuchten. Zu diesem Zweck soll aus den unterschiedlichen Formen der lyrischen Rede das Personengedicht herausgegriffen werden. Das Personengedicht dient in der afroamerikanischen Lyrik allgemein dazu, die Einheit und Eigenart der historischen Erfahrungen der 1 Vgl. dazu die Beiträge in Udo J. Hebel (Hg.), Transnational American Memories, Berlin 2009; kritisch zur »memory industry« siehe Kerwin Lee Klein, »On the Emergence of Memory in Historical Discourse«, Representations, Special Issue: Grounds for Remembering, 69 (2000), 127 – 150.
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Schwarzen in Amerika am Beispiel öffentlicher Figuren zu bewahren und zu erinnern. Zumeist handelt es sich um Porträts von Künstlerfiguren, Musikern und historischen Persönlichkeiten, wie es die zahlreichen Gedichte zu Frederick Douglass, Nat Turner, Bessie Smith, Langston Hughes, Billy Holiday, John Coltrane, Malcom X oder Don L. Lee (Haki R. Madhubuti), dem Dichter und Wortführer des Black Arts Movement, belegen.2 Am Beispiel des von Rita Dove verfassten Personengedichts Upon Meeting Don L. Lee, In a Dream (1980)3 möchte der Aufsatz zeigen, in welcher Weise Doves Gedichte einen vielstimmigen Erinnerungsraum gestalten. Entgegen einer weitverbreiteten Lesart, welche das Gedicht verkürzt als ein »anxiety of influence poem« interpretiert, lautet eine der zentralen Thesen des Aufsatzes, dass Dove das Medium des lyrischen Textes nicht benutzt, um Identitätsbildung festzuschreiben, sondern als Prozess einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen kulturellen Tradition versteht.4 Beim Abtragen der Erinnerungsschichten in Doves Gedichten, dem »dusting«, wie es die Autorin in ihrem zweiten Gedichtband Museum (1983) nennt, werden alle Beteiligten – erinnernde und erinnerte Figur sowie der Rezipient – zu Mitspielern. Der Prozess des Sich-ins-Gedächtnis-Rufens ist bei Dove kein ›Auf-lesen‹ (›re-collecting‹), indem man die entsprechenden Gedächtnisorte in der ihnen gegebenen Bedeutung entlang passiert und die dort verteilten Erinnerungen wiederfindet. Vielmehr ruft die Kombinatorik des »re-membering« in Doves Gedichten vollständige Ereignissequenzen erst ins Gedächtnis zurück, indem der Rezipient selbständig Bilder und Orte memoriert und zueinander in Beziehung setzt. Die Vergangenheit wird nicht wiedergefunden, sondern rekonstruiert.5 In dem Prologgedicht Dusting, einem meta-mnemonischen Ge2 Beispielhaft dazu Margaret Walker, Prophets for a New Day, Detroit 1970; siehe ebenso The Black Poets: A New Anthology, hg. Dudley Randall, New York 1971; Theodore R. Hudson, »Activism and Criticism During the Black Arts Movement«, in: Connections: Essays on Black Literatures, hg. Emmanuel S. Nelson, Canberra 1988, 89 – 99. 3 Fortan zitiert nach folgender Ausgabe: The Yellow House on the Corner, Pittsburgh 1980, 16. 4 Malin Pereira, Rita Dove’s Cosmopolitanism, Urbana 2003, 57. Zur Darstellung des Gesamtwerks siehe Therese Steffens, Crossing Color: Transcultural Space and Place in Rita Dove’s Poetry, Fiction, and Drama, New York 2001; Pat Righelato, Understandig Rita Dove, Columbia 2006; zum lyrischen Werk siehe Pereira, Rita Dove’s Cosmopolitanism, vgl. das Rita Dove gewidmete Sonderheft der Zeitschrift Callaloo: A Journal of African Diaspora Arts and Letters 3 (2008), 655 – 805; zu grundlegenden Würdigungen der frühen Gedichtbände The Yellow House on the Corner (1980), Museum (1983) und Thomas and Beulah (1986) siehe Arnold Rampersad, »The Poems of Rita Dove«, Callaloo 9 (1986), 52 – 60; Ekaterini Georgoudaki, »Rita Dove: Crossing Boundaries«, Callaloo 14 (1991), 419 – 433; Helen Vendler, »Rita Dove: Identity Markers«, Callaloo 17 (1994), 381 – 398. 5 Damit eng verbunden ist Doves Konzeption eines »poetry book« als einer relationalen Größe, in dem die einzelnen Gedichte eines Bandes in unterschiedlichen Verknüpfun-
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dicht, heißt es programmatisch: »Each dust / stroke a deep breath« (9). Darüber hinaus wird jedoch mit jedem »dust stroke« das Gedächtnis als Zentrum des lyrischen Diskurses dezentriert und auf weit auseinanderliegende Erinnerungsperspektiven umverteilt, wie es etwa in ihrer historischen und kulturellen Spannbreite die Personengedichte in Museum zeigen, die von Katharina von Siena (1347 – 1380), der Schutzheiligen Italiens, bis zu Benjamin Banneker (1731 –1806), dem schwarzen Mathematiker und Zeitgenossen Benjamin Franklins, reichen. Doves Personengedichte repräsentieren daher keinen Ort der kanonischen Abgeschlossenheit und der Aufbewahrung einer traditionell als gelungen geltenden Identitätsbildung. Insofern die dort versammelten Personengedichte das Motiv des Prologgedichts – »each dust / stroke a deep breath« – immer neu variieren, lehnen Doves Texte sowohl eine monumentale Geschichte als auch die üblichen Formen der Gegengeschichtsschreibung ab.6 Ausgangspunkt für Doves Erinnerungsarbeit bleibt zwar der historisch begründete Gegensatz zwischen Schwarzen und Weißen in Amerika, doch resultiert daraus keine alternative Geschichte, in welcher der Schwarz-Weiß-Gegensatz unter veränderten Vorzeichen fortbesteht. Vielmehr brechen Doves polyperspektivische Darstellungsverfahren oppositionelle Denkweisen auf. Damit enthalten ihre Texte zugleich Handlungsanweisungen an den Rezipienten im Verlauf der Deutungsprozedur, die traditionellen Denkschablonen kritisch zu reflektieren. Die folgenden Überlegungen zu der hier skizzierten Problematik sind in drei Teile untergliedert: Zunächst wird Doves Dichtungskonzept skizziert und die Frage aufgeworfen, welche Funktion die Inszenierung von Erinnerung in ihren Werken besitzt. In einem zweiten Schritt geht es darum, einen spezifischen Erinnerungsdiskurs zu referieren, auf welchen Dove in dem Lee-Gedicht rekurriert. Schließlich soll in der Gedichtanalyse der »Rekonstruktionsvorgang des Erinnerns« (M. Halbwachs) herausgearbeitet werden, um zu illustrieren, in gen zueinander in Beziehung gebracht werden können. Die Kohärenz eines Bandes resultiert aus der Interaktion der Gedichttexte untereinander: »[C]oherence is achieved more through quilting than a straightforward storyline or a chain with discrete links. [ . . . ] I love working with the concept of a poetry book as one coherent text«, so Dove im Interview mit Charles Henry Rowell; »Interview with Rita Dove: Part 2«, Callaloo 31 (2008), 715 – 726, hier 724; zum Verhältnis zwischen Literatur und Gedächtnis der Orte siehe Aleida Assmann, »Das Gedächtnis der Orte«, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 68 (1994), 17 – 35. 6 Zu Formen der »counter history« siehe George Lipsitz, Time Passages: Collective Memory and American Popular Culture, Minneapolis 1990; vgl. Pat Righelato, »Rita Dove and the Art of History«, Callaloo 31 (2008), 760 – 775, und Susan R. van Dyne, »Siting the Poet: Rita Dove’s Refiguring of Traditions«, Women Poets of the Americas: Toward a PanAmerican Gathering, Notre Dame 1999, 68 – 87; zu Doves »cross-cultural poetics« siehe Valérie Bada, Mnemopoetics: Memory and Slavery in African American Drama, Brüssel 2008, bes. 113 f.; afroamerikanische Geschichtskonzeptionen in: Ulrich Eschborn, »A Record of Survival: History in the Work of John Edgar Wideman« (Diss. Mainz, 2010).
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welcher Weise das Gedicht Sinnzuschreibungen evoziert, die eine Neuinterpretation des Überlieferten ermöglichen.
I. Zur rekonstruktiven Deutungsarbeit in der Lyrik Rita Doves Rita Dove führt in ihren modernistisch anmutenden Gedichten, wie sie es selbst in einem ihrer Interviews sagt, einen »dialogue with myself and also with the entire culture«.7 Ihre Gedichte entsprechen daher nicht dem gängigen Begriff der »black poetry«, einer Lyrik, die sich primär mit Rassenkonflikten und Problemen eines schwarzen Selbstverständnisses befasst. Dove stellt in ihren Gedichten der »poetics of rage«,8 wie sie es nennt, d. h. einer Lyrik, die ihre Effekte vornehmlich auf der politisch-inhaltlichen Ebene entfaltet, eine Gedächtnispoetik entgegen. Der Gegensatz veranschaulicht zwei unterschiedliche Formen der rekonstruktiven Deutungsarbeit: Im ersten Fall handelt es sich um ein Erinnerungsmodell, das monoperspektivisch verfährt und darauf abzielt, ein afrozentrisch gefasstes Vergangenheitsbild zu verfestigen. Gegenüber politisch instrumentalisierten Formen der Selbstbestimmung qua kulturelle Differenz betonenden Vergangenheitsrekonstruktion propagieren Doves Gedichte einen bedeutungsoffenen Umgang mit der Vergangenheit; sie zeichnen sich durch polyperspektivische Erzählstrategien sowie eine komplexe, politisch nicht eindeutig dekodierbare Bildlichkeit aus. Doves Gedichte besitzen einerseits stark autobiographisch-individuelle Bezüge, wie etwa in dem Gedichtband Thomas and Beulah (1986), in welchem sie die Geschichte ihrer Großeltern vor dem Hintergrund der afroamerikanischen »Great Migration« aus dem ländlichen Süden in die Industriestädte des Nordens nach dem Ersten Weltkrieg schildert. Andererseits kreisen ihre Gedichte aber ebenso um historische Ereignisse und Personen aus der Geschichte der Schwarzen, wie etwa in dem jüngst erschienenen Band Sonata Mulattica (2009), in dessen Mittelpunkt der afro-polnische Violinist George Augustus Polgreen Bridgetower (1780 – 1860) steht, dem Beethoven ursprünglich eine Violinsonate widmete. Dove kennzeichnet die Hinwendung zu historischen Stoffen und Themen folgendermaßen: I began to understand that history isn’t merely facts and isolated events to be memorized, but that it is lived through people. Trying to fit my own history, and the history 7 Helen Vendler, »An Interview with Rita Dove«, in: Reading Black, Reading Feminist: A Critical Anthology, hg. Henry Louis Gates, New York 1990, 481 – 491, hier 491. 8 Rita Dove mit Marilyn Nelson Waniek, »A Black Rainbow: Modern Afro-American Poetry«, in: Poetry after Modernism, hg. Robert McDowell, Brownsville 1991, 217 – 275, hier 243.
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of my race and gender, into the Grand Chronicle – History with a capital H – led me to the realization that the underside of History, as it were, was infinitely more interesting. So in my work I make a conscious effort to treat History and history equally. (Hervorh. im Original)9
Ich möchte den Schlusssatz des Zitats zum Ausgangspunkt einer Überlegung machen, die Paul Ricœur im Rahmen dessen, was er das »Affiziertwerden durch die Vergangenheit« nennt, mit dem Begriff der »Traditionalität« umschreibt. Ich möchte diesen Begriff in Beziehung setzen zur Rekonstruktion afroamerikanischer Gedächtnisräume in der Lyrik Doves.10 Im Gegensatz zu der Tradition, die euro- oder chronozentrisch gefasst ist, denkt Ricœur die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, indem er von dem formalen Prinzip der Traditionalität und der Pluralität der Traditionen ausgeht. Ricœur argumentiert: [Die] Traditionalität bezeichnet einen formalen Zusammenhangsstil, der die Kontinuität der Rezeption der Vergangenheit sichert; das heißt, sie bezeichnet die Reziprozität zwischen der Wirkungsgeschichte und unserem Affiziertwerden durch die Vergangenheit; [ . . . ] die Traditionen bestehen aus sinnüberliefernden Inhalten; sie transponieren das gesamte überkommene Erbe in die Ordnung des Symbolischen und damit dem Wesen nach in eine sprachliche und textuelle Dimension. (Hervorh. im Original)11
Um das Wirken der Geschichte von der Konstruktion der Tradition abheben zu können, führt Ricœur den Begriff der Traditionalität ein. Dieser fasst die Verzahnung und Reziprozität zwischen der Wirkung der Vergangenheit und des ›Durch-die-Vergangenheit-Affiziert-werdens‹ als eine formale Bestimmung, die unabhängig von einer bestimmten kulturellen Tradition konzipiert ist. Das ›Durch-die-Vergangenheit-Affiziertwerden‹ bezeichnet die Form eines 9 Interview mit Steven Bellin (14. Dezember 1993) hhttp://www.mississippireview.com/ 1995/04dovein.htmli, o. S. (31. 10. 2009); zuvor in: Mississippi Review 23 (1995), 10 – 34. Dove betont das Umschreiben der Geschichte aus mikrohistorischer Sicht: »History with a small h consists of a billion stories. History with a capital H is a construct, a grid you have to fit over the significant events in ordinary lives. Great historians, those who can make history ›come alive,‹ realize that all the battles lost or won are only a kind of net, and we are caught in that net. Because there are other interstices in that large web. Whereas History is a chart of decisions and alternatives, history is like larding the roast: you stick in a little garlic and add some fat, and the meat tastes better«, ebd.; vgl. Charles Henry Rowell, »Interview with Rita Dove: Part 1«, Callaloo 31 (2008), 695 – 706, bes. 696 f.; siehe auch Doves Erinnerungsgedichte vergessener afroamerikanischer Soldaten im Ersten Weltkrieg, etwa »Alfonzo Prepares to Go Over the Top (Belleau Wood, 1917)«, in: The Language of Life, hg. Bill D. Moyers, James Haba, David Grubin, New York 1995, 116, ferner die Gedichte zu Rosa Parks in der gleichnamigen Gedichtsammlung On the Bus with Rosa Parks: Poems, New York / London 1999, 75 – 88. 10 Paul Ricœur, Zeit und Erzählung, Bd. 3: Die Erzählte Zeit, übers. Andreas Knop, München 1991, 367; vgl. Ulfried Reichardt, Alterität und Geschichte: Funktionen der Sklavereidarstellung im amerikanischen Roman, Heidelberg 2001, 50 – 60. 11 Ricœur, Zeit und Erzählung, 367.
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Prozesses, der sich auf Mitglieder ganz unterschiedlicher Kulturen anwenden lässt und auf Herrscher wie auch auf Unterdrückte zutrifft. In diesem Sinne ermöglicht der Begriff der Traditionalität, Kontinuität zu denken, ohne diese durch eine dominante Tradition zu vermitteln. Ricœurs Konzeption ermöglicht, Kontinuität formal zu fassen und daher mit der Einsicht in die Vielfalt der Traditionen und Eigenzeiten, als dem »Diskontinuierlichen« zu verbinden. Rita Dove rekonstruiert in ihren Gedichten häufig die Motive der am vergangenen Geschehen beteiligten Personen. Ihre Erinnerungstexte erzählen Ereignisse aus der Geschichte der Schwarzen in Amerika aus vielen verschiedenen Perspektiven. Die Vielzahl der zu Wort kommenden Stimmen von Schwarzen wie auch von Weißen beleuchten die Geschehnisse aus unterschiedlichen und mitunter recht widersprüchlichen Perspektiven, so dass beispielsweise in Doves »slave poetry« die gegenseitigen Abhängigkeiten und Verhältnisse der Sklaverei sowie die verschiedenartigen Motivationen der Beteiligten schlaglichtartig hervortreten.12 Die vielstimmigen Gedichte Rita Doves korrigieren Vorstellungen eines analog zur »color-line« (W. E. B. Dubois) verlaufenden antagonistischen Konflikts, in dem die Gegner ›traditionell‹ immer schon feststehen. Doves Gedichte lenken infolge der zahlreichen Perspektivenwechsel die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf die Wechselseitigkeit inter- und intrakultureller Konflikte. Ihre dichterischen Rekonstruktionen verhindern somit eine Allegorisierung bzw. Heroisierung des vergangenen Ereignisses im Sinne einer afrozentrisch gefassten Tradition. Die Vergangenheit der Sklaverei wirkt sich sowohl in der Gegenwartserfahrung der Schwarzen als auch der der Weißen aus. Doves Vergangenheitsrekonstruktion kennzeichnet somit allgemein, was Robert Berkhofer in seiner Studie Beyond the Great Story (1995) als »the concept of multiple viewpoints« bezeichnet. Im Gegensatz zu monoperspektivischen Geschichtsdarstellungen verweist die Polyperspektivität in ihren Gedichten auf eine »multiplicity of times and therefore of histories«.13 Mit der Einsicht in die Vielfalt 12 Vgl. Doves Gedicht The Transport of Slaves from Maryland to Mississippi (Yellow House, 1980, 37 – 38), in welchem Dove ein Ereignis aus der Geschichte der Sklaverei aufgreift und umschreibt. In der Kopfzeile des Gedichts heißt es dazu: »On August 22, 1839, a wagonload of slaves broke their chains, killed two white men, and would have escaped, had not a slave woman helped the Negro driver mount his horse and ride for help«. Paul Gilroy spricht solchen Erzählungen eine zentrale »mnemonic function« zu, die darin liege, »directing the consciousness of the group back to significant, nodal points in its common history and its social memory. The telling and retelling of these stories plays a special role, organising the consciousness of the ›racial‹ group socially and striking the important balance between inside and outside activity – the different practices, cognitive, habitual, and performative, that are required to invent, maintain, and renew identity«, The Black Atlantic: Modernity and Double Consciousness, Cambridge 1993, 198. 13 Robert Berkhofer, Beyond the Great Story: History as Text and Discourse, Cambridge 1995, 270.
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der Traditionen wirken Doves Texte gegen eine vorschnelle Aufoktroyierung von Plot-Strukturen bzw. Erzählmustern und somit gegen ein intendiertes Verdrängen und ein aktives Vergessen in der Erinnerungsarbeit. In Abgrenzung zu einem afrozentrisch gefassten Traditionsbegriff spricht Rita Dove daher von der Notwendigkeit eines »mixing of the traditions« in der afroamerikanischen Lyrik. Dem Vorwurf der Kritiker, dass eine solche Lyrik »high brow decadence [ . . .and] nothing more than an emulation of ›Whitey‹ « sei, setzt Dove entgegen: »I think it’s a wealth rather than a problem, and it’s so ass-backwards to say that there is a black way of writing and then there is a white – that’s madness«.14 Im Folgenden sollen deshalb kurz poetologische Aspekte der rekonstruktiven Deutungsarbeit in Doves Lyrik beleuchtet werden. Eine der Ausgangsthesen lautet, dass Dove in ihren Texten afroamerikanische Dichtungskonzepte kontradiktorisch gegeneinanderstellt, um so die dominanten Repräsentationen einer »black memory« einer Neuverhandlung in der Lyrik zu unterziehen. In der afroamerikanischen Lyrik sind zwei Dichtungskonzepte von Bedeutung: Die eine Richtung orientiert sich an der »dialect poetry«. Die Verwendung eines dezidiert schwarzen Vokabulars, von Dialekten (»vernacular«) sowie die Rückgriffe auf Religion und Musik – etwa den Blues und die Spirituals – bildeten u. a. die Voraussetzung für die Schaffung einer »Black Aesthetic« in den 1920er Jahren.15 Diese Entwicklung wurde später vom Black Arts Movement der 1960er Jahre fortgesetzt. Der Rückgriff auf frühere Entwicklungslinien in der afroamerikanischen Literatur diente dem Black Arts Movement jedoch dazu, ein »radical reordering of the western cultural aesthetic« einzufordern, wie es Larry Neal 1968 in seinem Aufsatz The Black Arts Movement formulierte. Neal propagierte das militante Ziel der »Black aesthetic« als »destruction of the white thing, the destruction of white ideas, and white ways of looking at the world« und verkündete die konkrete Funktion der Lyrik als »action. No more abstractions. Poems are physical entities: fists, daggers, airplane poems, and poems that shoot guns«.16 14 Interview mit Malin Pereira, Contemporary Literature 40 (1999), 196; vgl. Molefi Kete Asante, An Afrocentric Manifesto: Toward an African Renaissance, Cambridge 2007: »What is at stake is clear. Either the African people will escape the intellectual plantation that has paraded as universal or will be stifled in every attempt to express their own sense of culture« (7). 15 Siehe James Weldon Johnson, »Preface«, zu: The Book of American Negro Poetry, überarb. Aufl., New York [1922] 1983, 9 – 48; vgl. Sherley Anne Williams, »The Blues Roots of Contemporary Afro-American Poetry«, The Massachusetts Review 18 (1977), 542 – 554. 16 Larry Neal, »The Black Arts Movement« (1968), in: The Norton Anthology of African American Literature, hg. Henry Louis Gates u. a., New York 1997, 1960 – 1972, hier 1960 – 1963; vgl. Lorenzo Thomas, Extraordinary Measures: Afrocentric Modernism and
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Eine zweite Entwicklungslinie folgte europäischen Dichtungskonzepten, insbesondere denjenigen der Romantik und des Modernismus.17 Aufgrund der universellen Themen der Texte sowie einer in komplexen Bildern verschlüsselten Botschaft wurde diese Lyrik häufig als ein »selling out« kultureller Eigenständigkeit von den Dichtern des Black Arts Movement kritisiert. Dove schreibt jedoch gerade der modernistischen Dichtungstradition eine aufklärerische Funktion zu und setzt ihr Schaffen dezidiert in Bezug zum Kosmopolitanismus afroamerikanischer Dichter des Modernismus. So konstatiert etwa Melvin B. Tolson: »I, as a black poet, have absorbed the Great Ideas of the Great White World, and interpreted them in the melting-pot idiom of my people. My roots are in Africa, Europe, and America«.18 Maßgebend für Dove ist die in der modernistischen Dichtung konsequent entwickelte Konfrontation des Rezipienten mit divergierenden historischen und kulturellen Erfahrungen. Infolge der Vielstimmigkeit und der Vielzahl intertextueller Bezugnahmen hinterfragt diese Dichtung die Kultivierung dessen, was von Schwarzen wie von Weißen als vermeintlich authentische »black identity« projiziert wird. In einem weiteren Schritt soll daher Doves ›Wieder-Holung‹ eines spezifischen afroamerikanischen Gedächtnisses an einem Prätext illustriert werden, um zu zeigen, welche Verfahren der ›Um-schreibung‹ einer traditionell als gelungen geltenden schwarzen Identitätsbildung Doves Gedichttexte eröffnen.
Twentieth-Century American Poetry, Tuscaloosa 2000, 223: »Black Arts theorists in the 1960s vociferously distanced themselves from the integrationist motives of the Harlem Renaissance«. 17 Stellvertretend hierfür steht Countee Cullens Vorwort zur Anthologie Caroling Dusk: An Anthology of Verse by Negro Poets, New York [1927] 1974. Dort heißt es programmatisch: »As heretical as it may sound, there is the probability that Negro poets, dependent as they are on the English language, may have more to gain from the rich background of English and American poetry than from any nebulous atavistic yearnings toward an African inheritance« (ix); siehe Houston A. Baker, Modernism and the Harlem Renaissance, Chicago 1987, vgl. Lorenzo Thomas, Extraordinary Measures. 18 Rita Dove, »Introduction«, Harlem Gallery and other Poems of Melvin B. Tolson, Charlottesville 1999, xi – xxv, hier xii. Zu Doves Wiederentdeckung des modernistischen Dichters Melvin B. Tolson vgl. Dove und Waniek, »A Black Rainbow«, 237 – 39; Dove knüpft an die kulturelle Interferenzen betonende, modernistische Dichtung Tolsons an: »And if we look closely at Harlem Gallery’s dazzling array of illusions [ . . . ] we find no favoritism for any social or cultural group« (»Introduction«, xxiii); vgl. Diana V. Cruz, »Refuting Exile: Rita Dove Reading Melvin B. Tolson«, Callaloo 31 (2008), 789 – 802; zu Tolsons modernistischer Ästhetik siehe Clemens Spahr, »A Babel City with a Hundred Gates: Concepts of Space in Melvin Tolson’s Harlem Gallery«, in: Territorial Terrors: Contested Spaces in Colonial and Postcolonial Writing, hg. Gerhard Stilz, Würzburg 2007, 239 – 260, und Miriam Kuroszczyk, »Intertextuality and Cultural Interference in African American Modernism: The Poetry of Melvin B. Tolson and Robert Hayden« (Diss. Mainz 2010).
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II. Das »Gedächtnistheater« der Kultur Zu diesem Zweck soll zunächst ein bislang wenig beachtetes Gedicht über Don L. Lee von Gwendolyn Brooks aus den späten 1960er Jahren vorgestellt werden, in dem Brooks den Versuch unternimmt, das in der »black poetry« zirkulierende Bild von Malcolm X als »fire prophet« auf Don L. Lee zu übertragen.19 Brooks gehörte zur Generation der »Post-Harlem Renaissance Poets« und war 1950 die erste schwarze Dichterin, der der Pulitzer Prize verliehen wurde. Ihre Lyrik erfuhr in den späten 1960er Jahren unter dem Einfluß von Larry Neal und Don L. Lee eine starke Politisierung.20 Don L. Lee war ein charismatischer Dichter der Black Arts-Szene im Chicago der 1960er und 1970er Jahre. Houston A. Baker unterstreicht die wechselnden Rollen, die seine Dichtung entfaltete: Lee »could instantly transform himself from a gentle speaker of polysyllabics into an agitprop advocate for the eradication of white people.«21 Lee ist allerdings nicht nur ein bedeutender Dichter der afroamerikanischen Gegenwartsliteratur. Als Herausgeber der Third World Press, die u. a. Gedichtbände wie Black Essence (1969) publizierte, war er auch maßgeblich an der Ausprägung einer spezifischen Gedächtnispolitik im Zeichen des Black Arts Movement beteiligt. Brooks’ Lee-Gedicht wurde 1968 in dem Gedichtband In the Mecca veröffentlicht. In the Mecca handelt von einem schwarzen Ghetto in Chicago und beleuchtet am Beispiel einer Reihe von Einzelgestalten die subtilen Formen der Unterdrückung und Manipulation seiner Bewohner durch die von Weißen geprägten gesellschaftlichen Verhältnisse. Inmitten der widrigen Lebensumstände des Stadtviertels erscheint Don L. Lee als Lichtgestalt. Brooks zeichnet das folgende prophetenhafte Bild des Dichters: 19 Askia Muhammad Touré (Rolland Snellings), »Malcolm X as International Spokesman«, Liberator 6 (1966), 6; dort wird Malcolm X mit dem Engel und Wächter der Hölle Malik verglichen, der in verschiedenen Überlieferungen des Propheten Mohammed erwähnt wird: »Malik, the Fire Prophet, God’s anger cast in glowing copper, burning the wicked of the earth with his flame«. 20 Vgl. D. H. Melhem, »Cultural Challenge, Heroic Response: Gwendolyn Brooks and the New Black Poetry«, in: Perspectives of Black Popular Culture, hg. Harry B. Shaw, Bowling Green 1990, 71 – 84, bes. 79 f.; zu Lees afrozentrischer Poetik siehe »Black Poetics / For the Many to Come«, Nommo: A Literary Legacy of Black Chicago, 1967 – 1987, Chicago 1987: »Black poetry in form / sound / word / usage / rhythm / repetition / definition / direction & beauty is opposed to what which is now (& yesterday) considered poetry, i.e. white poetry [ . . . ]. Whereas, blackpoets deal in concrete rather than the abstract (concrete: art for people’s sake; black language or Afro-american language in contrast to standard English &tc.). Blackpoetry moves to define and legitimize blackpeople’s reality (that which is real to us)« (13). 21 Houston A. Baker, Afro-American Poetics: Revisions of Harlem and the Black Aesthetic, Madison 1988, 46.
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Oliver Scheiding [...] Don Lee wants not a various America. Don Lee wants a new nation under nothing; a physical light that waxes; he does not want to be exorcised; adjoining and revered; he does not like a local garniture nor any impish onus in the vogue; is not candlelit but stands out in the auspices of fire and rock and jungle-flail; wants new art and anthem; will want a new music screaming in the sun. [ . . . ]22
Brooks Lee-Gedicht kultiviert eine spezifische Erinnerungsfigur. Der Sprecher des Gedichts rekurriert in loser Anspielung auf einen aus der Apokalypse stammenden Bilderreigen. In Zeile 6 erscheint Lee in Analogie zur Wiederkehr Christi als »physical light that waxes«. Im Bild der »auspices of fire« (Zeile 11) mutiert Lee zum Verkünder einer Heilsvision. Der Ruf nach einer »new nation« (Zeile 4) ist somit nicht das Resultat eines blinden Fanatismus; vielmehr drückt sich darin eine Verheißung aus, die von den Schwarzen einzulösen ist. Lee ist keine vergängliche Schattengestalt: Er »is not candlelit«; seine monumentale Physiognomie »stands out«, überstrahlt alles (Zeile 10 – 11). Das englische Homonym »sun / son« in der Schlusszeile des Gedichts verweist auf die Christus-Symbolik und wird verstärkt durch den alliterativen Bezug auf »screaming«. Der Schrei konnotiert einen »racial sound«. Der »scream« ist laut Houston Baker Ausdruck des Widerstands gegen die Praxis des Ignorierens und Verschweigens einer schwarzen Kultur.23 Die Schlusszeile impliziert ferner die Notwendigkeit, eine »new art« im Zeichen der von Don L. Lee und Larry Neal propagierten Positionen einer »poetics of rage« bzw. »race« zu realisieren. Ein weiterer Aspekt der rekonstruktiven Deutungsarbeit hängt daher eng mit den in den Gedichten von Dove eingeschriebenen Reflexionen des afroamerikanischen Gedächtnisses zusammen. Renate Lachmann schlussfolgert in ihrer Studie Gedächtnis und Literatur (1990): 22
Gwendolyn Brooks, In the Mecca: Poems, New York 1968, 21 – 22. Baker, Modernism and the Harlem Renaissance, 104; vgl. Betsy Erkkila, The Wicked Sisters: Women Poets, Literary History, and Discord, New York 1992, 217. Die Schlusszeile enthält ferner eine intertextuelle Referenz auf Lees vielbeachteten Gedichtband Don’t Cry, Scream (1969). 23
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Die Ästhetik des Gedächtnisses entfaltet sich in der komplexen Gestaltung von innertextlichen Gedächtnisräumen und deren Semantisierung. So wie der Text in das Gedächtnistheater der Kultur als in einen Außenraum eintritt, entwirft er dieses Theater noch einmal, indem er die anderen Texte in seinen Innenraum hereinholt. [ . . . ] Der Gedächtnisraum ist auf dieselbe Weise in den Text eingeschrieben, wie sich dieser in den Gedächtnisraum einschreibt. Das Gedächtnis des Textes ist seine Intertextualität. 24
Doves Gedächtnistexte gestalten einen Gedächtnisraum, der aus den möglichen, im Text zu realisierenden, intertextuellen Bezügen und Verweisungen entsteht. Durch die intertextuelle Bezugnahme auf Figuren, die traditionell für gelungene schwarze Identitätsbildung stehen, eröffnen Doves ›Um-Schreibungen‹ des Figurenrepertoires Verfahren, die schwarze Identität nicht als Resultat einer affirmativen ›Wieder-Holung‹ versteht, sondern als Resultat einer kritischen Reflexion auf Prätexte.
III. Rita Doves intertextualistisches Gedächtnismodell Das Gedicht Upon Meeting Don L. Lee, In a Dream ist ein selbst-reflexiver Text, in welchem Dove sowohl einen spezifischen Gedächtnisdiskurs rekonstruiert als auch die eigene Gedächtnispoetik offen legt. Das Gedicht lautet folgendermaßen: He comes toward me with lashless eyes, Always moving in the yellow half-shadows. From his mouth I know he has never made love To thin white boys in toilet stalls . . . Among the trees, the black trees, Women in robes stand, watching. They begin To chant, stamping their feet in wooden cadences As they stretch their beaded arms to him; Moments slip by like worms. »Seven years ago . . .« he begins; but I cut him off: »Those years are gone – What is there now?« He starts to cry; his eyeballs Burst into flame. I can see caviar Imbedded like a buckshot between his teeth. His hair falls out in clumps of burned-out wire. The music grows like branches in the wind. 24 Renate Lachmann, Gedächtnis und Literatur: Intertextualität in der russischen Moderne, Frankfurt am Main 1990, 35; vgl. Oliver Scheiding, »Intertextualität«, in: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, hg. Astrid Erll und Ansgar Nünning, Berlin / New York 2005, 53 – 72, bes. 64 f.; Aldon Lynn Nielson, Writing between the Lines: Race and Intertextuality, Athens / London 1994.
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Oliver Scheiding I lie down, chuckling as the grass curls around me. He can only stand, fists clenched, and weep Tears of iodine, while the singers float away, Rustling on brown paper wings.
Das in einen Traum verlagerte Treffen beider Dichter verleitet zu einer Interpretation, die analog zu Harold Blooms Vorstellung eines Antagonismus der »Dichtergenies« erfolgen könnte.25 Allerdings greift eine Lektüre des Gedichts, die Doves Auseinandersetzung mit Lee als ödipale Reaktion eines Epheben interpretiert, zu kurz. Der »Dream« ist mehrfach konnotiert: Der Titel erinnert an die von Langston Hughes in seinem Gedicht Harlem (1951) aufgeworfene Frage: »What happens to a dream deferred?«26 Der Titel signalisiert somit auf der inhaltlichen Ebene die Deformation der in Brooks Gedicht dargestellten visionären Deutungen von »blackness«. Zugleich macht der intertextuelle Verweis jedoch auf ein Spannungsverhältnis zwischen dem Äußerungsinhalt und der die Äußerung gestaltenden Kompositionsebene im Gedicht aufmerksam, die in der Frage des Sprechers in Zeile 12, »What is there now?«, expliziert wird. Damit charakterisiert das Gedicht nicht eine Situationsinterpretation, sondern vielmehr die Deutungsprozedur des Sprechers, in deren Folge es zur Einschreibung einer Reihe von Intertexten im Gedicht kommt, so dass Sinnzuschreibungen bzw. Bedeutungsimplikationen möglich werden. Der Antagonismus der »Dichtergenies« fungiert somit lediglich als eine Gedächtniskulisse für die eigentlich im Text intendierte kritische Reflexion der in unterschiedlichen Dichtungstraditionen realisierten Repräsentationen eines afroamerikanischen Gedächtnisses. Im Lee-Gedicht befindet sich der Sprecher zunächst in einer Beobachterrolle. Seine Wahrnehmungen und Sinneseindrücke korrigieren in der ersten Strophe das von Brooks überlieferte Porträt einer Prophetenfigur. Zu Beginn des Gedichts dominiert daher die Wiedergabe einer Szene im kulturellen Kontext des Black Arts Movement. Bezugnehmend auf Brooks’ Bildsprache ist die Bildlichkeit des Redens in den Anfangszeilen der ersten Strophe (»lashless eyes« in Zeile 1 und »yellow half-shadows« in Zeile 2) wörtlich auf Lee bezogen und ironisiert durch seine Direktheit die von Brooks erinnerte Prophetengestalt. In den metaphorischen Aussagen kündigt sich ein hohler Fanatismus an, der, wie die weiteren Strophen veranschaulichen, ins Leere läuft. Der Sprecher des Gedichts ist allerdings bemüht, ein differenziertes Bild von Lee zu zeichnen. Darauf deuten die Schlusszeilen der ersten Strophe hin. Der Hinweis 25 Vgl. Harold Bloom, The Anxiety of Influence: A Theory of Poetry, London / New York 1973, bes. 94 f. 26 Langston Hughes, »Harlem« (1951), in: The Collected Poems of Langston Hughes, hg. Arnold Rampersad und David Roessel, New York 1995, 426.
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auf Lees Mund (»his mouth« in Zeile 3) impliziert allgemein die Würdigung seines Wirkens. Auch distanziert sich der Sprecher in der Eingangsstrophe von den in der Öffentlichkeit kursierenden Gerüchten um Lees angebliche Homosexualität. In den folgenden Strophen geht es somit um eine Auseinandersetzung mit Positionen der von Lee formulierten »poetics of rage«. Im Mittelpunkt des Gedichts steht eine Kundgebung. Mit der Beschreibung des Veranstaltungsrahmens suggeriert das Gedicht eine Parallele zur »Black Aesthetic« der 1960er Jahre. In klimaktisch sich steigernden Bildsequenzen beschreibt der Sprecher in der zweiten Strophe die auratische Spannung bis hin zum Auftritt Lees. Die Inszenierung der Kundgebung beleuchtet satirisch die sprachlich-rhetorische Verarbeitung einer afrozentrischen Wirklichkeitsauffassung: Der Chor schwarzer Frauen erinnert in Kleidung, Musik und Körpersprache an die von Lee geforderte Wiederbelebung einer genuin afrikanischen Tradition. Gleichzeitig verstärkt jedoch der holzschnittartige Gesang eben dieses Chors (»wooden cadences«) den Eindruck eines einstudierten und monotonen Rituals, das im krassen Gegensatz zur Natürlichkeit bzw. Organik der »black trees« in Zeile 5 steht. Der Gegensatz signalisiert zudem die Vereinnahmung des Frauenchors zu Zwecken einer einseitigen Heldenverklärung – damit ist Brooks gemeint. Auch implizieren die gesichtslosen Chorsängerinnen den Verlust einer eigenständigen Perspektive innerhalb einer restriktiven Kunstauffassung. Die Rede Lees in der dritten Strophe, die mit der Phrase »Seven years ago« anhebt, erinnert im Wortlaut an den Beginn der Gettysburg Address (1863).27 Die Anspielung auf Abraham Lincolns Rede erfüllt mehrere Funktionen: Einerseits steht die in Lincolns Rede heraufbeschworene »new birth of freedom«28 im Widerspruch zu einem auf Don L. Lee zugeschnittenen Führerkult. Der ironische Effekt wird zudem verstärkt durch das hierarchische Verhältnis zwischen Redner und Chor. Andererseits wird die Überholtheit eines afrozentrisch gefassten Gedächtnisses deutlich, insofern Lee die von ihm selbst attackierten »alien concepts of whi-teness [sic] «29 heranzieht, um seinen Rückblick zu rechtfertigen. Die implizite Anspielung auf »Abe Lincoln« verweist zudem auf das Gedicht »The Negro Speaks of Rivers« von Langston Hughes. Der Sprecher in Hughes’ Gedicht entfaltet jedoch einen afroamerikanischen Gedächtnisraum, der sowohl zu Afrika als auch zu Amerika Bezug hat. 27 Abraham Lincoln, »Gettysburg Address. Battlefield, Gettysburg, Pennsylvania, November 19, 1863«, in: Great American Speeches, hg. Gregory R. Suriano, New York 1993, 93 – 94. 28 Lincoln, »Gettysburg«, 94. 29 Don L. Lee, »The Primitive«, in: Black Pride, Detroit [1968] 1972, 24; dort: »Those alien concepts / of whi-teness, / the being of what / is not. / against our nature, / this weapon called / civilization – / they brought us here – / to drive us made. / (like them).«
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Oliver Scheiding I looked upon the Nile and raised the pyramids above it. I heard the singing of the Mississippi when Abe Lincoln went down to New Orleans, [...] My soul has grown deep like the rivers.30
Hughes Gedicht beinhaltet eine doppelte Beobachtungsperspektive, die Dove in Anspielung auf W. E. B. Du Bois als »binocular vision« bezeichnet, und die der Lyrik, laut Dove, Perspektive und Tiefenschärfe verleiht: »[I]t gives you perspective, it gives you depth«.31 Das Zitatfragment in Doves Lee-Gedicht fungiert somit als ein Intertext, der die von Lee intendierte totalisierende Vergangenheitsrekonstruktion in Frage stellt. Zugleich setzt das Fragment eine Wiederkehr des Verdrängten in Bewegung, indem es einen polyphonen Gedächtnisraum aufruft. Mit der abrupten Unterbrechung der Rede und der Frage des Sprechers, »what is there now«, verweist die dritte Strophe auf die Problematik zwischen Vergangenheit und Gegenwart, deren spannungsreiches Verhältnis das Gedicht schrittweise und mittels einer komplexen Bildlichkeit entfaltet.32 Das Gedicht hinterfragt zunächst die ritualisierten Formen des Erinnerns mit einer Reihe von Gegenbildern: Der an Lees Zähnen klebende Kaviar fungiert ähnlich wie das Zitatfragment als ein mehrfach konnotiertes Sinnbild. Die schwarzen »Einschüsse« des Kaviars unterlaufen die von Lee geäußerte Auffassung, dass es einer eurozentrisch gefassten Kultur ausschließlich um die Deformation des schwarzen Selbstbildnisses gehe. In der Wahrnehmung des Sprechers in Zeile 13, »I can see caviar«, wird zugleich ein weiterer intertextueller Bezug deutlich. Der Bildkomplex spielt auf eine Serie von Kolumnen an, die Melvin B. Tolson am Ende der 1930er Jahre unter dem Titel »Caviar and Cabbage« in der Washington Tribune veröffentlicht hatte. Dort heißt es an einer Stelle: »An intelligent mind sees the whole, the contrasts in environment and personalities, the mountain and valleys, the good and bad, the comedy and tragedy«.33 Den 30 Langston Hughes, »The Negro Speaks of Rivers«, in: The Weary Blues, New York 1947, 51. 31 Interview mit Malin Pereira, »Going Up Is a Great Place of Loneliness«, Contemporary Literature 40 (1999), 183 – 213, hier 188; vgl. Conversations with Rita Dove, hg. Earl G. Ingersoll, Jackson 2003, 77, 99 und 151. 32 Zur Problematik der »Vererinnerung« siehe Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt: Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Frankfurt am Main [1933] 1981, 77: »Was also für den Handelnden leere Erwartung war, ist für den sich Erinnernden erfüllte oder nicht erfüllte Erwartung. Was für den Handelnden von der Gegenwart in die Zukunft wies, weist für den sich Erinnernden unter Beibehaltung des Zeitcharakters der Zukunft von der Vergangenheit auf den Gegenwartspunkt«. 33 Melvin B. Tolson, Caviar and Cabbage: Selected Columns by Melvin B. Tolson from the Washington Tribune, 1937 – 1944, hg. Robert M. Farmsworth, Columbia 1982, 188.
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Dichter zeichnet demzufolge aus, wie Tolson in seinem Gedicht »The Poet« konstatiert: [...] His ego is not vain, Stuffs not on caviar of smile and phrase. He comes of nobler strain [ . . . ]
Für Tolson wie für den Sprecher im Lee-Gedicht ist der Dichter somit kein »fire prophet«. Vielmehr verkörpert der Dichter einen [ . . . ] freebooter of lands and seas, [ . . . ] A champion of the People versus Kings – [ . . . ] A hater of the hierarchy of things – [ . . . ]34
Doves Personengedicht entfaltet einen vielstimmigen Erinnerungsraum, in welchem polyperspektivische Darstellungsverfahren vorherrschen und in dem sich ein afroamerikanisches Gedächtnis immer neu aus einem Dialog zwischen dem Eigenen und dem Fremden, dem Vergangenen und dem Gegenwärtigen einstellt. Die beiden letzten Verszeilen im Lee-Gedicht kommentieren Darstellungen des schwarzen Selbstbildes in den Texten von Brooks und Lee. Verwendet Lee in seinen Gedichten häufig das Bild des »straight hair« als Ausdruck eines kolonialisierten »black body«,35 so signalisieren die ausfallenden Haare Lees in Zeile 15 (»clumps of burned-out wire«) die Überholtheit einer ›Afro-Ästhetik‹. Auch die Musik als zentraler Bestandteil der von Lee repräsentierten »black aesthetic« ist entwurzelt, wie es der Text etwa im Bild der leblosen Äste in Zeile 16 (»branches in the wind«) suggeriert. Die Inversion der Erinnerungsbilder tritt eklatant im Porträt des weinenden Lee hervor. Das Schlussbild einer zur Pose geronnenen Radikalität (so etwa in Zeile 18, »He can only stand, fists clenched, and weep«) kommentiert satirisch das im Zentrum von Lees Dichtung stehende Motto: »Don’t Cry, Scream«. Darüber hinaus höhlt die Vielstimmigkeit der schwarzen Sängerinnen in der letzten Gedichtzeile eine ›monochrome‹ Weltsicht aus, wie sie u. a. in Lees Gedichten hervortritt. Auch klingen im Bild der »brown paper wings« in Zeile 20 differenzierende Repräsentationen des schwarzen Selbstbildes an. Das Zerstreuen der Stimmen in Zeile 19 (»float away«) zeigt, dass die am Schluss genannten »singers« – zu denen sich implizit auch Dove rechnet – als »story 34 Melvin B. Tolson, »The Poet«, Harlem Gallery and other Poems of Melvin B. Tolson, hg. Raymond Nelson, Charlottesville 1999, 28 – 29. 35 Vgl. dazu Lees Gedicht »The Primitive«, in: Black Pride, 24: »raped our minds with: / T.V. & straight hair, / Reader’s Digest & bleaching creams, / tarzan & jungle jim, / used cars & used homes / reefers & napalm, / european history & promises«.
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teller« fungieren,36 die sowohl individuelle als auch historisch kollektive Erfahrungen in ihren Erzählungen überliefern. Die »singers« im Lee-Gedicht versinnbildlichen die Erzähltradition des schwarzen Südens, wie sie etwa Langston Hughes in seinem Gedicht »Laughers« (1927) als »Dream singers« und »Story tellers« darstellt.37 In Doves Gedicht geht es daher nicht um die Destruktion einer prominenten Leitfigur des Black Arts Movement. Vielmehr bildet die Auseinandersetzung mit Lee den Hintergrund für die Offenlegung einer anderen Form der Erinnerung, die sich im Hervortreten des lyrischen Ich in der dritten Strophe ankündigt. Dort heißt es in Zeile 11: »I cut him off«. Die individuelle Einsicht, »I know« und »I can see« in der ersten und der vierten Strophe kulminiert schließlich in der Aussage des lyrischen Ichs in Zeile 17: »I lie down, chuckling as the grass curls around me«. Der Wandel von Beobachtung zu Bewegung führt zu einer Veränderung der Redeweise: Das lyrische Sprechen erfolgt im Kontext der Geschichte der Schwarzen in Amerika. Hierzu evoziert das Gedicht einen Gegenbildbereich, der die Vorstellung eines afrozentrisch gefassten Vergangenheitsbildes hinterfragt. Damit erfolgt auch ein Wechsel der Beobachtungsperspektive: Der Fokus des lyrischen Ichs löst sich aus der Gegenwartslage (»now«) und impliziert im Bild der »black trees« in Zeile 5 und der »singers« in Zeile 19 eine vergangenheitsbezogene Orientierung. Als erinnernde Figur rekurriert das lyrische Ich auf ein afroamerikanisches Gedächtnis, das seine Wurzeln sowohl in der afrikanischen als auch in der europäischen Kultur und Geschichte hat. Das Treffen weist in diesem Gedächtniskontext auf die religiösen »camp meetings« der Schwarzen im 18. und 19. Jahrhundert zurück. Diese zeichneten sich im Gegensatz zu dem im Gedicht dargestellten und in Konventionen erstarrten Ritual durch polyrhythmische Gesänge und eine Komplexität der Musik aus, die dem »Call-and-Response«-Schema zwischen Vorsinger und Gemeinde folgte. Die daraus resultierenden Formen der Improvisation, Rhythmik und Melodieführung haben u. a. die Harmonik Europas entscheidend erweitert. Allerdings werden die in der Musik zum Ausdruck kommenden wechselseitigen historischen und kulturellen Erfahrungen von Lees Chor buchstäblich niedergetrampelt. Auch deutet die an den amerikanischen Dichter Walt Whitmann erinnernde Gras-Metaphorik auf ein kulturelles Gedächtnis hin, dessen Vielschichtigkeit nur in einem Netz von Bezügen vorzustellen ist. Der Sprecher im Lee-Gedicht macht deutlich, dass das kulturelle Gedächt36 Doves Bilder der schwarzen Sänger rekurriert auf die afrikanische Tradition des Griot; sie bezeichnet den »African griot« als »the elder assigned the task of memorizing tribal history«, in: Cruz, »Refuting Exile«, 791. 37 Langston Hughes, »Laughers«, Fine Clothes to the Jew, New York 1927, 77: »Dream singers, / Story tellers, / Dancers, / Loud laughers in the hands of Fate – / My people. [ . . . ]«.
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nis der Schwarzen von lebendigen Gruppen getragen wird, wie es in der Gedichtzeile, »the grass curls around me«, zum Ausdruck kommt.38 In der Aussage deutet sich schließlich eine Verwandlung des Sprechers an: Das lyrische Ich tritt aus einer seine bisherige Individuation bestimmenden Denkweise heraus (»women in robes«), um in den »singers« bzw. der von ihnen verkörperten Traditionen eine neue Gestalt anzunehmen. Doves Gedicht semantisiert ein Bild von Don L. Lee, das erst durch die Einbindung in einen spezifischen Sinnkontext explizit wird. Die Art und Weise, wie das Gedicht den Bezug zu diesem Kontext knüpft, zeigt, dass es sich um einen Akt der Imagination, der Schaffung einer neuen sinnhaften Realität durch die kreative Vorstellungskraft des lyrischen Ich handelt. Anstatt die Bedeutung auf die vorgeführte Situationsinterpretation, d. h. den Äußerungsinhalt als ›Abrechnung‹ der Autorin mit Don L. Lee zu verkürzen, ist es der potentiellen Komplexität des lyrischen Textes angemessener, die Deutungsprozedur des Sprechers als solche explizit mit in die Deutung einzubeziehen. Das heißt, dass hier die Äußerung gestaltenden Reflexionen des lyrischen Ichs beobachtbar und deutbar machen, wie das Gedicht dichterische Fiktion zur Rekonstruktion afroamerikanischer Gedächtnisräume einsetzt. So betrachtet erscheint das Gedicht als Medium, in dem das Ich das Problem seiner Stabilität und Identität praktisch durchspielt und dabei zu einer Form von Lösung gelangt, wie es die letzte Gedichtzeile andeutet: »[r]ustling on brown paper wings«.
38 Als Prätext fungiert ebenfalls Tolsons Gedicht »Rendezvous with America«: »America? / An international river with a legion of tributaries! / A magnificient cosmorama with myriad patterns and colors! / [ . . . ] / I put my ear to the common ground of America« (Harlem Gallery, 3 – 12, hier 5, 11).
Hybride Identitäten – Hybride Kulturen Von Meinhard Winkgens
Mit meinen folgenden Überlegungen zum Konzept ›Hybrider Identitäten‹ bzw. ›Hybrider Kulturen‹, wobei beide Vorstellungskomplexe, wie wir sehen werden, zwar nicht Identisches, aber doch Analoges begrifflich zu fassen versuchen, beziehe ich mich auf ein vergleichsweise neues, vielfach und kontrovers diskutiertes Schlüsselwort aktueller internationaler kulturwissenschaftlicher Diskurse, das als Idee der Hybridität bzw. der Hybridisierung inzwischen zu einem semantisch positiv besetzten Leitbegriff avanciert ist. In ihrer Grundbedeutung einer Kreuzung und Vermischung von heterogenen und differenten Materialien Anfang der 90er Jahre im seinerseits weit verzweigten interdisziplinären Forschungsfeld der postcolonial studies dominant anglo-amerikanischer Provenienz kulturwissenschaftlich ausgearbeitet und entscheidend durch die wegweisenden Denkimpulse von Homi Bhabhas 1994 veröffentlichter Studie The Location of Culture befördert, fungiert die Hybriditätsidee mittlerweile nicht nur in der postkolonialen Theorie als grundlagentheoretische Basiskategorie für eine kritisch-revisionistische Aufarbeitung des kolonialen Erbes und für eine interventionistische Rekonfiguration der postkolonialen Gestaltungsoptionen verschiedener Ausprägungen der migrant condition in einer Welt globalisierter Multikulturalität. Vielmehr verspricht sie über den engeren Kontext postkolonialer Theorie und Praxis hinaus, gerade vor dem Hintergrund postmoderner Phänomene weltweiter Massenmigration und globaler Zeichenzirkulation gewichtige neue Perspektiven für die Konzeptualisierung in sich vielstimmiger und heterogener kultureller Systeme wie für die Vorstellung einer dynamischen Pluralität individueller wie kollektiver Identitätskonstruktion zu eröffnen.1 Dabei ist vorab zu betonen, dass die keineswegs zufällige Emergenz des Hybriditätskonzepts im Kontext des Postkolonialismus untrennbar eng sowohl mit den theoretischen Einflüssen des Poststrukturalismus als auch mit der spezifischen Signatur der Postmoderne verflochten ist. So sind die Anleihen post1 Vgl. in diesem Kontext insbes. die wegweisende Studie von Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt: Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006.
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kolonialer Theoretiker der Hybridisierung wie Bhabha und anderer bei den drei Vordenkern des Poststrukturalismus Foucault, Lacan und Derrida geradezu überdeutlich und hinterlassen bei einem skeptisch-unvoreingenommenen Rezipienten gelegentlich sogar den irritierenden Eindruck eines jargonhaften Theoriekauderwelschs.2 Auch ist es kein Zufall, wenn im Rahmen der Debatten um die Postmoderne, speziell die postmoderne Kunst und Architektur, bereits seit Ende der 70er Jahre der Hybriditätsbegriff zur Bezeichnung bewusster Stilmischungen und Doppelkodierungen Verwendung fand. So hat etwa Ihab Hassan 1985 Hybridität als eines von 11 Merkmalen der Postmoderne identifiziert und über diesen Begriff die Aufhebung der hierarchischen Trennung von niederer und hoher Kunst und Kultur anzeigen, die »Verbindlichkeit eines künstlerischen Kanons und kultureller Normen« infrage stellen und vor allem »die Enthierarchisierung und damit Gleichberechtigung kultureller Formationen« zum Ausdruck bringen wollen.3 Ein besonders komplexes, hier im Einzelnen nicht zu rekonstruierendes Netzwerk von Interrelationen zwischen Postmoderne, Postkolonialität und Poststrukturalismus resultiert freilich aus der mit der Vorsilbe ›Post-‹ angezeigten semantischen Strukturanalogie. In allen drei Fällen trägt sie jeweils eine doppelte Bedeutung in sich, die auf vielschichtige Weise die temporale Dimension der Nachzeitigkeit – so wenn Postkolonialität die historische Zeit nach dem Ende des Kolonialismus mit seinen einschneidenden Veränderungen und historischen Umbrüchen bezeichnet – mit dem Weiterwirken und den Wirkungseffekten des scheinbar zu Ende Gekommenen in einem allerdings entscheidend rekonfigurierten diskursiven Feld verknüpft – so wenn Postmoderne nicht einfach die Zeit nach dem Ende der Epoche der Moderne, sondern immer auch das Weiterwirken des Modernitätsparadigmas unter entscheidend veränderten, rekonfigurierten Bedingungen etwa einer ›anderen Moderne‹ denotiert.4 Nach diesen einleitenden Vorüberlegungen möchte ich zur konkretisierenden Illustration der komplexen theoretischen Bezüge des Hybriditätskonzepts exemplarisch auf einen Roman von Hanif Kureishi kurz eingehen, einem Autor anglo-indischer Herkunft, der inzwischen gemeinsam mit Salman Rushdie und Zadie Smith zu den herausragenden Repräsentanten der postkolonialen britischen Gegenwartsliteratur zählt. Genauer gesagt, beziehe ich mich auf Kurei2 Vgl. Elisabeth Bronfen und Benjamin Marius, »Hybride Kulturen«, in: Hybride Kulturen – Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismus-Debatte, hg. E. Bronfen, B. Marius u. Therese Steffen, Tübingen 1997, 1 – 29, hier 7. 3 Vgl. Paul Goetsch, »Funktionen von ›Hybridität‹ in der postkolonialen Theorie«, LWU 30,2 (1997), 135 – 145, hier 137 f. 4 Vgl. hierzu allgemein u. a. Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Berlin 1993.
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shis 1990 veröffentlichten Erstlingsroman The Buddha of Suburbia, der national wie international auf große Resonanz gestoßen ist und vor dem Hintergrund des multikulturellen London der 70er Jahre und seines durch zahllose lebensweltliche Details narrativ minutiös rekonstruierten Lebensgefühls repräsentative Migrantenschicksale indisch-pakistanischer Einwanderer der ersten und zweiten Generation erzählerisch fokussiert. Dabei interessiert mich Kureishis Roman im Rahmen meiner Argumentation weniger in einem engeren literaturkritischen Sinne. Vielmehr möchte ich ihn als eine exemplarische postkoloniale Fiktion für eine theoriebezogene, kulturwissenschaftliche wie kulturanthropologische Analyse öffnen, ihn also in seiner fingierten Als-Ob-Struktur als eine imaginative Exploration zentraler lebensweltnaher Problemstellungen untersuchen, die in postmoderner Zeit und unter postkolonialen Bedingungen für die soziokulturelle Lebenswirklichkeit in der multikulturellen Metropole konstitutiv sind. Im Sinne von second-order observations – so meine Hypothese – gewährt uns der Roman privilegierte Einblicke in zwar jeweils individuell gebrochene, aber zugleich zeittypische Selbsterfahrungsmodelle und Lebensführungsmuster von Migranten der ersten und zweiten Generation. Wie ich an anderer Stelle im Einzelnen dargelegt habe, offeriert uns Kureishis Erzählfiktion auf hochkomplexe, ebenso intertextuell anspielungsreiche wie theoretisch in vielerlei Hinsicht anschlussfähige Art und Weise anhand der autobiografischen Selbstrekonstruktion des Erzählerprotagonisten Karim Amir, aber auch der Lebensläufe anderer Hauptfiguren eine eindrucksvolle narrative Konkretisierung eines weiten Spektrums aktueller identitätspolitischer Theoriedebatten interkultureller, multikultureller und postkolonialer Provenienz.5 Zugleich aber kann dieser Roman selbst als gewichtiger und substanzreicher Beitrag zur kontroversen aktuellen Diskussion um Theorie und Praxis gelebter Multikulturalität, zu den Chancen und Risiken der konfliktbesetzten Dialektik von Identität und Alterität auf individueller wie kollektiver Ebene, vor allem aber zu den Problemkonturen hybrider Identitätskonstruktionen und hybridisierter Kulturen gelesen werden. Gleich zu Beginn des Romans gibt der Erzählerprotagonist dieser in der Form einer fiktiven Autobiografie gestalteten und nach dem Gattungsmuster eines Bildungs- und Entwicklungsromans modellierten Narration die folgende hochsignifikante und dichte Selbstbeschreibung: 5 Vgl. Meinhard Winkgens, »Hybride Identitätskonstruktion zwischen einer ›Politik kultureller Differenz‹ und individueller Authentifizierung in den Fiktionen Hanif Kureishis – Anmerkungen zu The Buddha of Suburbia und The Black Album«, in: Beyond Extremes: Repräsentation und Reflexion von Modernisierungsprozessen im zeitgenössischen britischen Roman, hg. Stefan Glomb und Stefan Horlacher, Tübingen 2004, 173 – 213, bes. 174 – 181.
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My name is Karim Amir, and I am an Englishman born and bred, almost. I am often considered to be a funny kind of Englishman, a new breed as it were, having emerged from two old histories. But I don’t care – Englishman I am (though not proud of it), from the South London suburbs and going somewhere. Perhaps it is the odd mixture of continents and blood, of here and there, of belonging and not, that makes me restless and easily bored. Or perhaps it was being brought up in the suburbs that did it. Anyway, why search the inner room when it’s enough to say that I was looking for trouble, any kind of movement, action and sexual interest I could find, because things were so gloomy, so slow and heavy, in our family, I don’t know why. Quite frankly, it was all getting me down and I was ready for anything. Then one day everything changed. In the morning things were one way and by bedtime another. I was seventeen.6
Als erster Sohn aus einer interethnischen Ehe hervorgegangen – sein indischer Vater muslimischen Glaubens, Haroon, aus der indischen Oberschicht stammend, war gemeinsam mit seinem Freund Anwar nach dem 2. Weltkrieg des Studiums wegen nach Großbritannien gegangen, hatte dieses aber abgebrochen, eine Arbeitsstelle im Civil Service gefunden, sich in eine hübsche working-class lass verliebt, die er dann heiratete, und rund 20 Jahre ein unauffälliges, assimiliertes kleinbürgerliches Leben geführt – ist Karim in den südlichen Vororten der Metropole London geboren und aufgewachsen. Freilich ohne darauf besonders stolz zu sein, begreift sich Karim als eine Art Engländer, (»an Englishman, almost«), nicht dagegen als britischer Staatsbürger, der er ja aufgrund der kurz nach dem 2. Weltkrieg erfolgenden britischen Einwanderungsgesetzgebung ist, zugleich aber auch aufgrund seiner unübersehbaren cremefarbenen biologischen Andersartigkeit als ein Außenseiter. Als solcher positioniert er sich aufgrund seiner biologisch-ethnischen Disposition als ›Mischling‹ und kulturell als Grenzgänger bzw. als in-between zwischen zwei Kulturen, zwischen Orient und Okzident, im interkulturellen Raum des ›Dazwischen‹. Am Ausgangspunkt seiner autobiografischen Selbsterzählung erfährt sich Karim als eigentümlich rastlos und von Erfahrungsformen der Langweile bedroht und er räsoniert, dass es womöglich die ihn bestimmende »odd mixture of continents and blood, of here and there, of belonging and not« sei, die dafür verantwortlich ist. Auch präferiert er einen außengeleiteten Lebensentwurf, in dem er sich vom Spiel der Zufälle und der Kontingenz in seinem Wunsch nach »any kind of movement, action and sexual interest« treiben lassen kann. Die reflektierte Introspektion, die innengeleitete Suche nach seiner individuellen Identität – »why search the inner room« – und damit nach den personalen Voraussetzungen für eine autonome, selbstverantwortete Lebensführung dagegen scheint er zu diesem Zeitpunkt seines Lebens im Alter von 17 Jahren gering zu schätzen und zu vernachlässigen. 6 Hanif Kureishi, The Buddha of Suburbia, London 1990, 3. Im Folgenden beziehen sich die Seitenangaben im Text auf diese Ausgabe.
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Wie am Ende des Textzitats bereits deutlich wird, soll jedoch am Abend des ersten thematisierten Tages seiner Erinnerungserzählung sein bis dahin recht ereignislos verlaufendes Leben in den Vorstädten insofern eine entscheidende Wende erfahren, als er zum ersten Male Zeuge der erfolgreichen Selbstinszenierung seines Vaters als »Buddha aus der Vorstadt«, als Yogalehrer und Verkünder esoterischer ›orientalischer‹ Weisheiten vor einem ›weißen‹ Publikum wird, also mit großer Verwunderung dessen völlige Selbsttransformation vom sich nahezu unsichtbar machenden assimilierten Einwanderer zu einem sein »Indischsein« und seine orientalische Fremdheit offensiv zur Schau stellenden Guru ebenso registrieren muss, wie er Augenzeuge des väterlichen Ehebruchs mit der erfolgshungrigen und lebenssüchtigen Eva Kay wird, deren außerordentlich attraktivem und charmantem, ›weißem‹ Sohn Charlie Karim selbst in einer ihm unbewusst bleibenden Form des ›ethnischen Selbsthasses‹ obsessiv verfällt.7 In der sich daraus entwickelnden handlungs- und ereignisreichen Lebenserzählung könnte man über weite Strecken den Eindruck gewinnen, die interkulturelle Interaktionsdynamik im multikulturellen London der 70er Jahre sowie das im Erzählerprotagonisten angelegte Hybriditätspotential erschöpfe sich in Anbetracht ihrer erzählerischen Aufarbeitung aus Karims individueller Betroffenheitsperspektive weitgehend in der hedonistischen Feier lustvoll erlebter interethnischer sexueller Paarungen, als deren wichtigste Antriebskraft die stimulierenden Wirkungen des erotisierenden Körpers des Exotisch-Fremden zu fungieren scheinen.8 Erst im letzten Romandrittel offenbart sich jedoch auch eine Vielzahl von als moments of vision gestalteten wegweisenden innerlichen Selbsterfahrungsmomenten des Ich-Erzählers. Über diese Epiphanien transformiert sich Karim von einem passiven hedonistischen Drifter zu einem personale Substanz und vertikale Tiefe intrapsychischer Strukturen generierenden selbstbestimmten Individuum mit einer eigenständigen, bejahenswerten Identität. Darauf aufbauend, kann er ganz am Schluss des Romans bei einer gemeinsamen Feier mit seiner Familie und Freunden anlässlich seines Durchbruchs als professioneller Schauspieler im Alter von 23 Jahren rückblickend die Verarbeitung seiner vergangenen Entwicklung mit den Worten »what I’d been through as I struggled to locate myself and learn what the heart is« resümieren, und er rundet dies mit dem Ausblick ab: »Perhaps in the future I would live more deeply.«9 Halten wir also als provisorische These zunächst einmal fest, dass der Held von Kureishis Roman aufgrund der besonderen Bedingungen seiner familiären Sozialisation sowohl biologisch wie kulturell dazu prädestiniert zu sein scheint, 7 8 9
Vgl. ebd., u. a. 5 – 22. Vgl. hierzu Winkgens, 196 ff. Vgl. Kureishi, 283 f.
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das hybride Potential seiner in-betweenness in der Form eines hybriden Identitätsentwurfes in seinem Leben zu realisieren. Dies umso mehr, als er durch die bisexuelle Ausrichtung seines erotischen Begehrens, das bei dominanter Heterosexualität zugleich auch homosexuelle Praktiken mit einschließt, auch in dieser Hinsicht eine Position des ›Dazwischen‹ einnimmt, die sich den konventionellen Erwartungen einer Entweder / Oder-Struktur in der individuellen sexuellen Disposition zu entziehen scheint. Halten wir zugleich aber auch fest, dass aufgrund von sozialpsychologisch motivierten Besonderheiten seiner individuellen Entwicklung die aktive Ausgestaltung seines interkulturellen Hybridisierungspotentials eigentümlich retardiert erscheint und über weite Strecken durch die Beschränkung auf die biologisch-leibliche Dimension lustvoll bejahter interethnischer Sexualbeziehungen überlagert wird. Auf der symbolischen Bedeutungsebene kann man diese hybriden Formen interethnischer Liebesund Sexualkontakte als einen antizipierenden Vorgriff auf seine erst verspätet ausgebildete hybride Identitätsstruktur einer reflektiert vollzogenen Selbstpositionierung in der interkulturellen ›Raum-Zeit‹ gelebter in-betweenness interpretieren, wie man auch seine Bewegung von den Vorstädten ins Zentrum der Metropole London (der Roman gliedert sich in zwei mit ›In the Suburbs‹ und ›In the City‹ überschriebene Hauptteile) als symbolträchtigen individuellen Nachvollzug jener für die Angehörigen der ehemals kolonialisierten Völker repräsentativen Bewegungsrichtung unter postkolonialen Bedingungen lesen kann, welche sie von der Peripherie des Empire in dessen Zentrum führt und sie mit weit reichenden Implikationen vom ›externalisierten Fremden‹ britischer Kolonialherrschaft zum ›internen Anderen‹ in postkolonialer Zeit mutieren lässt. Aus den bisherigen Überlegungen und Beobachtungen lassen sich eine Reihe grundlegender Fragen von allgemeiner Relevanz ableiten, auf deren Beantwortung ich mich im Folgenden konzentrieren werde. So ist etwa zu fragen, was die inzwischen nicht nur in das interdisziplinäre Forschungsfeld der postcolonial studies, sondern in jüngster Zeit darüber hinaus in den internationalen Globalisierungsdiskurs Eingang findende populär gewordene Rede von hybrider Identität und hybridisierten Kulturen semantisch eigentlich genau bedeutet. Auch ist zu fragen, inwiefern sie analytisch prägnant mehr und anderes zu bezeichnen vermag, als die suggestionsreiche Evokation eines über ›Mischungen‹ zu erreichenden ›dritten Weges‹ jenseits der binär strukturierten Oppositionen unseres Denkens, um so etwa einen Ausweg aus dem Entweder / Oder der klassischen ›monologischen‹ Subjektpositionen der Assimilation und Akkommodation bzw. der diasporischen Abgrenzung und Gettoisierung für Einwanderer in etablierten Kultursystemen aufzuzeigen. Bezeichnet Hybridität mehr und anderes, als es etwa der in den Kulturwissenschaften geläufigere Begriff der Dialogizität tut, und wodurch unterscheiden sich durch Hybridisierungsprozesse emergierende ›neue‹ Mischungsgestalten von den zur Synthese gebrach-
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ten Einheiten eines dialektischen Denkens bzw. dialektischer Prozesse? Können Hybridisierungen damit neue Perspektiven für die analytische Reflexion und die interkulturelle Lebenspraxis sowohl in Bezug auf die individuelle wie kollektive Identitätskonstruktion als auch auf das Entstehen neuer kultureller »Ordnungen des Nicht-Beliebigen« eröffnen, wie sie »aus dem inkohärenten Durcheinander und den kontingentenÜberlagerungen verschiedenster Kulturelemente« resultieren?10 Wie verhält es sich in Anbetracht des vertrauten Spannungsverhältnisses von Denkbarem und Lebbarem mit der lebensweltlichen Realisierbarkeit der theoretischen Idee hybrider Vermischungen, unter welchen Bedingungen können die Denk- und wohl auch Wünschbarkeit des Hybriditätskonzepts mit der lebensweltlichen Erfahrungswirklichkeit des Handelns konkreter, reflexiv sich zu sich selbst verhaltender, diskursiv eingebundener und endlich-leiblich situierter Subjekte konvergieren? Und wie steht es vor dem Hintergrund poststrukturalistischer Axiome um die Handlungsmacht des Individuums im Vollzug hybridisierender Gestaltungen, ist der einzelne dabei nur ein Kreuzungspunkt ihn kodierender anonymer Diskursformationen und diskursiv produzierter Sinneffekte, oder welche Rolle spielt dabei sein individuelles Wollen und sein Handlungsvermögen, wie sie aus der konkreten lebensgeschichtlichen Gestalt seiner dynamisch-prozesshaft und selbstreferentiell entwickelten Praxis der Freiheit und Selbstsorge hervorgehen?11 Kann es überhaupt im wohlverstandenen Sinne so etwas wie eine hybride Identität einer individuellen Person geben, ist dies nicht zumindest dann ein Widerspruch in sich, wenn man im traditionellen Verständnis Identität als die Beständigkeit und das Sich-Selbst-Gleichsein einer Person in der Zeit im Sinne einer sich selbstreflexiv organisierenden totalisierenden Einheit und Ganzheit konzipiert? Oder ist Hybridität nur eines jener vielen modischen, mit pseudoradikalem Erneuerungsgestus propagierten Jargon-Wörter einer aufgeregten und innovationssüchtigen Postmoderne, die theoretisch wie praktisch mehr versprechen als sie bei genauerem Hinsehen einzulösen vermögen? Um diese gewichtigen Fragen zumindest einer vorläufigen Beurteilung näher zu bringen, empfiehlt sich zunächst ein kurzer Blick auf die Begriffsgeschichte des relativ jungen Terminus Hybridität, der erst in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts aus der Biologie, wo er die Züchtung und Kreuzung verschiedener Arten bezeichnete, Eingang in die Evolutions- und Kulturtheorie, aber auch in verschiedene Rassenlehren fand.12 In seiner Anwendung auf Menschen und 10
Bronfen u. Marius, 24. Vgl. ebd., 4, zur »Metapher eines verknoteten Subjekts«, und Wilhelm Schmid, Philosophie der Lebenskunst: Eine Grundlegung, Frankfurt am Main 1998, 113 ff. (zur Praxis der Freiheit) u. 244 ff. (zur Selbstsorge). 12 Vgl. Goetsch, 135 f. 11
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Kulturen weckte dieser Begriff im westlichen Denken der Jahrhundertwende eindeutig negative Konnotationen. Denn in biologisch-rassistischer Engführung wurde er dominant mit den kontaminierend-verunreinigenden Wirkungen einer im pseudowissenschaftlichen Diskurs der damaligen Zeit mit Unfruchtbarkeit, Degeneration und gesellschaftlich-kulturellem Chaos gleichgesetzten Gefahr der Bastardisierung assoziiert. Selbst Kipling in seinem berühmten und oft als Plädoyer für einen offenen interkulturellen Austausch missverstandenen Indien-Roman Kim warnte daher vor dem »monstruous hybridism of East and West«.13 Mit dem signifikanten Hinweis auf die monströse Deformation einer scheinbar ›natürlichen Ordnung der Dinge‹ negativierten Kipling und seine Zeitgenossen den hybridisierenden Austausch des Kulturkontakts zwischen Orient und Okzident. Denn sie schlossen diesen Austausch mit schädlichen und infektiösen Bastardisierungsprozessen kurz, die nicht nur die stabilen und fixierten Grenzen sowie die statische Hierarchie der kolonialen Ordnung zu verwischen drohten, sondern auch die strikt hierarchisierende Trennung von Subjekt und Objekt, westlicher Identität und östlicher Alterität, in ihrer scheinbar naturwüchsigen Evidenz gemäß dem Slogan »einmal ein Sahib, immer ein Sahib«, verflüssigen und verunreinigen. Schon hier sieht man die lange und bis heute weiterwirkende begriffsgeschichtliche Verknüpfung des Hybridisierungsgedankens mit Ideologie und Praxis imperialer Macht- und Herrschaftsinteressen, mit kolonialer Enteignungs- und Ausbeutungspolitik, vor allem aber mit dem komplexen, intern vielschichtig vernetzten ideologischen Rechtfertigungssystem des colonial discourse. Dessen Ziel bestand darin, aus europäischer Interessenperspektive die imperialkoloniale Herrschaftspraxis nach innen wie nach außen durch ein scheinplausibles Verfahren zu legitimieren, das skeptische Selbstkritik von innen ebenso abzublocken wie kritisches Aufbegehren von außen umzuleiten vermag. Pointiert und plakativ formuliert, kann man die koloniale Konstellation als eine durch hegemoniale imperiale Herrschaftsansprüche und koloniale Ausbeutungs- und Enteignungsinteressen tiefenstrukturell deformierte Form der interkulturellen Begegnung definieren. Da aber eben dieses factum brutum nicht in den Blick kommen darf, wird es an der Oberfläche durch den kolonialen Diskurs effektiv so umgedeutet, dass die übliche offene Interaktionsdynamik von Wechselwirkungen und Austauschprozessen, wie sie durch Kulturkontakte zwischen Individuen, die durch differente Kultursysteme ›enkulturiert‹ worden sind, sich diesen zugehörig fühlen und sich mit diesen identifizieren, typischerweise entstehen, still gestellt und in ein grundlegend asymmetrisches und hierarchisch fixiertes Herrschaftsverhältnis von Subjekt 13 Vgl. ebd., und Robert Young, Colonial Desire: Hybridity in Theory, Culture and Race, London 1995, 1 – 28 und 159 ff.
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und Objekt, superioren Kolonialisten und inferioren Kolonialisierten transformiert wird.14 Der koloniale Diskurs erfüllt dabei die zentrale Funktion, mit Hilfe eines der fixierten Logik der stereotypisierten kollektiven Differenz von europäischer Identität und der Alterität der kolonialisierten Völker gehorchenden Verfahrens ein starres System hierarchisierter binärer Oppositionen (Kultur – Natur, Zivilisation – Wildnis, Geist – Körper, Ratio – Emotion, Licht – Dunkelheit) zu etablieren, die intern vielfältig miteinander vernetzt sind und sich auf effektive Weise wechselseitig plausibilisierend abstützen können. Im Sinne dessen, was JanMohammed so trefflich als die »Ökonomie der manichäischen Allegorie« bezeichnet hat, setzt dieses dichotomisch strukturierte System des kolonialen Diskurses stets bei der phänomenal scheinbar evidenten Erfahrungsebene ›sichtbarer‹ rassischer Differenz an. Es entwickelt daraus mit Hilfe metonymischer und metaphorischer Analogisierungen ein universalisierendes Begründungsverfahren essentialistischer Identitätsmarkierungen ethnischer Kollektive,15 das die individuelle Besonderheit einer einzelnen Person nur als ephemere Oberflächenvariation einer tiefenstrukturellen Essenz des Allgemeinen kollektiver rassisch-ethnischer Kodierungen wahrnehmbar werden lässt. Aus guten Gründen geht man davon aus, dass dieses einflussreiche Stereotypisierungssystem des kolonialen Diskurses sich so tief und nachhaltig bewusst wie unbewusst in die ›Seelen‹ der Betroffenen auf beiden Seiten der kolonialen Konstellation – wenn auch zu unterschiedlichen Bedingungen – eingeschrieben hat, dass es trotz des historisch-politischen Prozesses der Dekolonialisierung nach dem 2. Weltkrieg durch die Gewinnung nationalstaatlicher Unabhängigkeit zumeist im Rahmen des lockeren Verbundes eines »Commonwealth of Nations« keineswegs an sein Ende gekommen ist, sondern bis heute seine ungebrochene, freilich vielfach modifizierte Wirkungsmächtigkeit entfaltet und daher auch in postkolonialer Zeit die Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe durch die kritische Arbeit an einer »Dekolonialisation des Bewusstseins« eine vordringliche Aufgabe bleibt. Dabei wird zudem vor dem Hintergrund der begriffsgeschichtlichen Entwicklung deutlich, dass die einschneidende Bewertungsinversion, die das Hybriditätskonzept erfährt, wenn es vom angstbesetzten, mit gefährlichen Bastardsierungsprozessen assoziierten Negativbegriff im westlichen Denken der Vergangenheit zu einer positiv konnotierten Leitidee anzustrebender kulturel14 Vgl. zu den fatalen Folgen dieser grundlegenden Deformation zwischenmenschlicher Kommunikations- und Interaktionsformen durch die de-individualisierenden Wirkungen des »officialism« und des kollektiven Zwangs »to toe the line« die eindringliche kolonialismuskritische Darstellung in E. M. Forsters Romanklassiker A Passage to India. 15 Vgl. Abdul JanMohammed, »The Economy of Manichean Allegory. The Function of Racial Difference in Colonialist Literature«, in: H. L. Gates (Hg.), ›Race‹, Writing and Difference, Chicago 1989, 78 – 106.
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ler Vermischungen in der postkolonialen Gegenwart avanciert, zumindest aus der Perspektive der ehemaligen Kolonialherren als eine ironische Provokation wahrgenommen werden kann. Eine ähnlich kritisch-subversive Wirkung strahlt jedoch unvermeidlich aus der Sicht des ehemals kolonialen Mutterlandes und der sich mit seiner nationalen Geschichte, Kultur und Tradition identifizierenden ›weißen‹ Briten von der alltäglichen Erfahrung postkolonialer Lebenswirklichkeit in der multikulturellen Vielfalt insbesondere der Metropole London aus. Denn dies bedeutet, dass als Folge der Massenmigration aus den früheren Kolonialländern der einst kolonial an die Peripherie verbannte externalisierte und inferiorisierte ›Fremde‹ nun im Sinne des Slogans »the empire writes back« nicht nur zum internen Anderen im alltäglichen interkulturellen Miteinander des nationalen Zentrums geworden ist, sondern zugleich als britischer Staatsbürger Gleichheitsrechte einfordert, als ›hybrider‹ Migrant intellektuelle Ansprüche stellt, u. U. wie etwa Kureishi oder Rushdie anspruchsvolle »black british literature« verfasst und somit in vielfältiger Art und Weise seine ›Stimme‹ bei der notwendigen Neuaushandlung eines zeitgemäßen kollektiven Konzepts nationaler Identität von Britishness oder Englishness zu Gehör bringt.16 Jedoch zielt das postkoloniale Hybriditätskonzept nicht in erster Linie auf die machtpolitische Dimension einer Inversion etablierter sozialer, kultureller und ethnischer Hierarchien ab, die noch aus der Kolonialzeit stammen und bis heute wirkungsmächtig geblieben sind. Ebenso wenig propagieren Bhabha und andere Hybridisierungstheoretiker eine kollektive Re-Ethnisierung der vom kolonialen Joch befreiten Völker und Nationen durch die Feier wieder entdeckter mythischer Ursprünge und die Pflege von durch Rückbesinnung freigelegter autochthoner Kulturtraditionen im Sinne etwa der Négritude-Bewegung Leopold Senghors. Denn aufgrund der grundsätzlichen Dialogizitätsund Prozeßorientierung des Hybriditätsdiskurses, die auf kulturellen Kontakt und interkulturellen Austausch setzt, der sich autark dünkenden Monologizität vermeintlich ›reiner‹, autochthoner und totalisierter Kultursysteme und Identitätskonstrukte dagegen mit grundlegender Skepsis begegnet, würden derartige Tendenzen in die falsche Richtung weisen, eine Position, die freilich in den postcolonial studies nicht unumstritten ist.17 Schon eher eine identitätspolitische Angriffsfläche für eine Hybridisierungstheorie bilden aus nahe liegenden Gründen jedoch die für die Integrationspolitik in westlichen Staaten für Einwanderer vorgesehenen klassischen Subjekt16 Vgl. Bronwyn T. Williams, » ›A State of Perpetual Wandering‹. Diaspora and Black British Writers«, Jouvert. A Journal of Postcolonial Studies 3,38 (1999), 1 – 14: »They [Kureishi and other black British writers] are not writing as the post-independence or postcolonial subject displaced in Britain, they are writing as the British subject in a post-colonial world trying to contest and displace the dominant narrative of the nation.« (3) 17 Vgl. u. a. Goetsch, 143 ff.
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positionen der Assimilation bzw. Akkommodation und der diasporischen Abgrenzung. Aus rollentheoretischer Sicht bezeichnen diese in ihrer dichotomischen Entweder / Oder-Struktur alternativ zu wählende Positionsrollen mit bereits vorstrukturierten Drehbüchern und Rollenskripten, was die jeweilig erwartete Verteilung von gesellschaftlichen Rechten und Pflichten anbetrifft, die sich aber in ihrer jeweiligen Begrenzung als monologische Subjektpositionen spiegelbildlich entsprechen. Es ist kein Zufall, dass Kureishi in seinem Roman die beiden indischen Immigranten der ersten Generation, Haroon und Anwar, eben diese Subjektpositionen der Assimilation (Haroon bis zu seiner Metamorphose als Buddha) bzw. der diasporischen Abgrenzung (Anwar) einnehmen lässt, deren jeweiliges Scheitern detailliert inszeniert und über die kritische Bilanzierung ihrer Negativität zugleich ganz im Sinne der Hybridisierungsidee auf notwendige interkulturelle Austausch- und Vermittlungsprozesse aus einer in-between-Position verweist. Komplementär zu der Negation monologischer Subjektpositionen in der falschen Alternative von Assimilation oder diasporischer Abgrenzung affirmiert der Roman signifikanterweise zugleich durch Dialogizität und Hybridität sich auszeichnende in-between-Positionen, die er exemplarisch an Karim, Anwars Tochter Jamila und dem zum Buddha transformierten Haroon narrativ ausgestaltet.18 Mit einigem Recht kann man daher argumentieren, dass in einem gewissen Sinne reale Menschen in analogen Situationen wie denen, mit denen sich die Hauptfiguren von The Buddha of Suburbia auseinandersetzen, die eigentlich primären Adressaten des postkolonialen Hybriditätsdiskurses darstellen, als dessen Hoffnungs- und Bannerträger sie aber zugleich auch fungieren.19 Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man exemplarisch zwei repräsentative Definitionen und Beschreibungen des Hybriditätskonzepts zu Rate zieht, wie sie Elisabeth Bronfen in ihrer Einleitung zu einem diesem Begriff gewidmeten Sammelband und Salman Rushdie in einem Nachwort zu seinem skandalisierten Roman The Satanic Verses formulieren: 18 Vgl. Winkgens, 196 ff., und Bart Moore-Gilbert, »Hanif Kureishi’s The Buddha of Suburbia. Hybriditiy in Contemporary Cultural Theory and Artistic Practice«, Qwerty (1997), 191 – 207. Zu den Grenzen monologischer Subjektpositionen vgl. auch Antje Kley »‘Beyond Control, but not beyond Accommodation’: Anmerkungen zu Homi K. Bhabhas Unterscheidung zwischen cultural diversity und cultural difference«, in: Räume der Hybridität: Postkoloniale Konzepte in Theorie und Praxis, hg. Christoph Hamann u. Cornelia Sieber, Hildesheim 2002, 53 – 66, die zu Recht bemerkt: »Die Vervielfältigung der Konzeptionen von persönlicher und gruppenspezifischer Identität läuft jedoch beständig Gefahr, statische Vorstellungen von Identität auf einer neuen Ebene zu reproduzieren, ohne Verhandlungsmöglichkeiten zwischen proliferierenden Differenzen zu ermöglichen« (54). 19 Vgl. z. B. Bertold Schoene, »Herald of Hybridity. The Emancipation of Difference in Hanif Kureishi’s The Buddha of Suburbia«, International Journal of Cultural Studies 1,1 (1998), 109 – 128.
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Hybrid ist alles, was sich einer Vermischung von Traditionslinien oder von Signifikantenketten verdankt, was unterschiedliche Diskurse und Technologien verknüpft, was durch Techniken der collage, des samplings, des Bastelns zustande gekommen ist.20 Mein Indien beruhte schon immer auf den Ideen von Vielfalt, Pluralität, Hybridität. [...] [Die Satanischen Verse bieten daher] eine Sicht auf die Welt aus Migrantenauge. Die Satanischen Verse feiern Hybridität, Unreinheit, Vermischung, die Transformation, die aus neuen und unerwarteten Kombinationen von Menschen, Kulturen, Ideen, politischen Anliegen, Filmen, Songs entspringt. Sie freuen sich über Bastardisierung und fürchten den Absolutismus des Reinen. Melange, Durcheinander, ein bisschen von diesem, ein bisschen von jenem: so betritt Neuheit die Welt. Dies ist die große Möglichkeit, die die Massenmigration der Welt bietet, und ich habe versucht, sie zu ergreifen. Die Satanischen Verse sind für Wandel-durch-Verschmelzung, Wandel-durch-Verbindung. Es ist ein Liebeslied für die Bastarde in uns selbst.21
Die in Beschreibungen wie diesen zum Ausdruck kommenden zentralen Implikationen eines hybriditätsorientierten Denkens lassen sich thesenartig zugespitzt in vier Punkten zusammenfassen: 1. In Einklang mit der »anti-totalitären Option« der Postmoderne und ihrer »positiven Vision radikaler Pluralität« geht es bei den collage- und patchworkartigen Vermischungen in Kultur und Identitätsbildung nicht um große, sich zu totalisierenden neuen Ganzheiten schließende Synthesen und ›Aufhebungen‹ dialektischer Provenienz. Vielmehr wird das Ziel verfolgt, durch Kreuzungen ›kleine‹, provisorisch bleibende ›Einheiten in der Differenz‹ neu zu bilden, die im Sinne postmodernen Denkens aus der »Erfahrung des Rechts des Verschiedenen und aufgrund ihrer Einsicht in den Mechanismus seiner Verkennung«, etwa der, »dass jeder Ausschließlichkeitsanspruch nur der illegitimen Erhebung eines in Wahrheit Partikularen zum vermeintlich Absoluten entspringt«, aus Überzeugung mit den Worten Wolfgang Welschs »für die Vielheit heterogener Konzeptionen, Sprachspiele und Lebensformen nicht aus Nachlässigkeit und nicht im Sinne eines billigen Relativismus«, sondern aus Gründen geschichtlicher Erfahrung und aus Motiven der Freiheit eintreten. »Ihr philosophischer Impetus ist zugleich ein tief moralischer«.22 2. In diesem Kontext ist die hybride Prädisposition von Menschen, die sich zwischen unterschiedlichen kulturellen Traditionen und Ethnien positionieren, nicht länger als ein ihnen inhärentes Stigma im Sinne der diskriminierenden Stigmatisierung des »not white, not quite« anzusehen. Es stellt vielmehr ein 20
Bronfen u. Marius, 14. Salman Rushdie, Imaginary Homelands, London 1991, zit. u. übers. nach Bronfen u. Marius, 28 f. 22 Welsch, 5. 21
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in besonderem Maße zeitgemäßes und zukunftsorientiertes Potential individueller wie kollektiver Handlungsoptionen dar, dessen Chancen die möglichen Risiken bei weitem überwiegen. Dies gilt insbesondere dann, wenn diese positiv bewertete hybride in-betweenness mit der kritisch vollzogenen Dekonstruktion der europäischen Idee vermeintlich ›reiner‹ Nationen als diskursiv produzierter ›imaginärer Gemeinschaften‹ (B. Anderson) konvergiert und daher Hybridität als konstitutive Signatur einer globalisierten Welt postmoderner Realität begriffen wird, deren angemessener Verarbeitung und Anerkennung in erster Linie traditionsgesättigte ethnische Stereotypisierungen, kollektiv induzierte imaginäre Verkennungsstrukturen und ideologisch funktionalisierte monologische Identifikationsmechanismen im Wege stehen. Mit analoger Zielrichtung argumentiert Reckwitz in Das hybride Subjekt aus plausiblen Gründen gegen die vermeintlich monokulturalistische Homogenität blockähnlicher essentialistischer Kulturmodelle und für ein Verständnis von Subjektkulturen als »hybriden, synkretistischen Arrangements mehrerer Codes« in der Kombination unterschiedlicher Sinnmuster verschiedener Herkunft. Mit großer Überzeugungskraft kann er daher die Sequenz verschiedener Subjektkulturen in der kulturellen Moderne westlicher Gesellschaften seit Beginn des 18. Jahrhunderts als in sich hybrid strukturierte und von spezifischen Friktionen durchsetzte Gefüge analytisch rekonstruieren, und sie als immer wieder neue Versuche deuten, »zu einer Revolutionierung der Subjektivität« zu gelangen, die sich jedoch paradoxerweise tatsächlich »als eine gesteigerte Hybridisierung, eine Ausdehnung und Verkomplizierung des intertextuellen Feldes moderner Kultur« interpretieren lassen.23 3. So wie signifikanter Weise Karim und seine Freunde in Kureishis Roman trotz mancher alltäglicher Diskriminierungserfahrungen und gelegentlich erlebter fremdenfeindlicher Gewaltakte sich nicht dominant als bemitleidenswerte Opfer ihrer soziokulturellen ›Anomalie‹ als hybride »half-castes« begreifen, so plädiert auch der Hybriditätsdiskurs folgerichtig für die notwendige Überwindung einer der vergangenheitsorientierten Logik des Kolonialerbes gehorchenden falschen Identifikation mit der Opferrolle und für eine sich in seiner Differenzstruktur selbstbejahende Annahme als hybrides Subjekt und damit als Träger eines chancenreichen Potentials für kreativ zu vollziehende pluralisierte Realisierungsmöglichkeiten kultureller Äußerungen und individueller Identitätskonstruktionen.24 23 Vgl. Benedict Anderson, Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 2006 und Reckwitz, 81 – 88. 24 Als »half-caste« wird Karim von Regisseur Shadwell bezeichnet, der ihm im Rahmen der fixierenden Annahmen einer »ethnic authenticity« auch die Rolle des Mowgli in einer Theaterproduktion von Kiplings The Jungle Book zuweist. Vgl. im Einzelnen Kureishi, 141 u. 146 ff.
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4. Deutlich erkennbar wird nicht zuletzt durch Rushdies »Liebeslied für die Bastarde in uns selbst« die enge Affinität des Hybriditätsdiskurses zu einer Vorstellung individueller Identität nicht als einheitlich-totalisierend verfasstem essentialistischem Kernselbst, sondern als einer selbstreferentiellen intrapsychischen Beziehungsdynamik pluralisierter, vielstimmig-heterogener Antriebe, Wünsche, Prägungen und Ideen im Sinne dessen, was Paul Ricœur trefflich als »das Selbst als ein Anderer« – so der Titel seiner wichtigen Studie – bezeichnet hat.25 Noch deutlicher lässt sich die eigentliche Zielrichtung der Hybridisierungsidee, die sehr oft utopisch-visionäre Züge anzunehmen scheint, konturieren, wenn man einige der gewichtigen theoretischen Neuakzentuierungen Homi Bhabhas, des nach wie vor einflussreichsten und bedeutendsten Exponenten postkolonialer Theorie, mit einbezieht. Konsequent von der Prämisse ausgehend: »Cultures are never unitary in themselves, nor simply dualistic in the relation of Self to Other« (35 f.), und folgerichtig in Ablehnung sowohl der Vorstellung in sich reiner, autochthoner kultureller Systeme (»purity of culture«, 37) als auch jeglicher Formen einer »celebratory romance of the past« (9), artikuliert Bhabha in The Location of Culture eine umfassend ansetzende, revisionistische Neuinterpretation des historischen wie gegenwärtigen Feldes der kolonialen wie postkolonialen Konstellation unter den Leitbegriffen der ambivalence, der hybridity und einer politics of cultural difference.26 Ihr eigentliches Ziel, so kann man argumentieren, besteht in dem begründeten Nachweis, dass nicht erst in der postkolonialen Ära die Herrschaftsbeziehungen zwischen Kolonialisierern und Kolonialisierten ambivalent und porös geworden sind und so ehemals als monolithische kulturelle Entitäten in fixierten Machthierarchien sich antagonistisch gegenüber stehende kulturelle Systeme erst unter den Bedingungen eines postmodernen Multikulturalismus beginnen, sich wechselseitig zu beeinflussen. Vielmehr war schon die koloniale Konstellation – so eine zentrale These Bhabhas – entgegen der expliziten Intention der Kolonialherren, die offene interkulturelle Interaktionsdynamik von Kulturkontakten durch machtpolitische Kontrollprozeduren zu deformieren und still zu stellen, durch ambivalente Austausch- und Wechselwirkungsprozesse bestimmt. Diese haben auf beiden Seiten Spuren hinterlassen, die freilich aufgrund der diskursiven Wirkungseffekte der kolonialen Machtasymmetrie und des kolonialen Diskurses gewissermaßen ›untergründig‹ und unbewusst abgelaufen und daher zumeist verdrängt, verschoben und verleugnet worden sind. 25
Vgl. Paul Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996. Vgl. hierzu im Einzelnen und auf den folgenden Seiten Homi K. Bhabha, The Location of Culture, London 1994. Die im Text angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf diese Ausgabe. 26
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Auf dieser Basis verbindet Bhabha in seiner Studie zwei eng miteinander verflochtene und sich wechselseitig ergänzende Argumentationsstränge. Zum einen rekonstruiert er die Grundbedingungen der kolonialen Konstellation und setzt innovative Akzente bei der Reinterpretation zentraler Phänomene wie der »sly civility« oder dem »colonial mimicry«, indem er diese konsequent unter dem Vorzeichen einer grundlegenden Ambivalenz deutet, deren unbewusste und nicht intendierte Wirkungen beide Seiten, Kolonialisierer wie Kolonialisierte, erfassen und verändern. Unter Rückgriff auf zentrale poststrukturalistische Denkfiguren, wie das Différance-Konzept Derridas oder die disseminierenden unkontrollierbaren Wirkungen von Diskursformationen und Machteffekten im Sinne Foucaults betont er dabei die Wechselwirkungsprozesse, die auf beiden Seiten tief greifende ›Spuren‹ hinterlassen und eben nicht nur bei den natives als den vermeintlichen ›Opfern‹. Aussagekräftigstes Beispiel für solche ›unbewussten Spuren‹ diskursiv erzeugter Sinneffekte aus westlicher Perspektive sind die Phänomenvarianten einer ›Wiederkehr des Verdrängten‹, die psychoanalytisch immer mit einer affektiv aufgeladenen Wiederbegegnung mit einem fremd gewordenen Eigenen einhergeht, wobei die emotionalen Reaktionen zwischen Angst und xenophobischer Aggression sowie der triebhaften Lust des Begehrens oszillieren können. Denn wenn im kolonialen Diskurs die fremde Alterität der natives mit den im westlichen Identitätskonstrukt verdrängten und abgespaltenen Anteilen von Natur, Wildheit, Körperlichkeit und Sexualität identifiziert wird, also durch die psychischen Mechanismen von Verdrängung, Verschiebung und Projektion das intern Marginalisierte am ›Ort des Anderen‹ externalisiert wird, dann nimmt es nicht Wunder, dass der erotisierte Körper des Exotisch-Fremden imaginär mit sexueller Potenz und erotischer Lusterfüllung assoziiert wird. Folglich werden die stets individuell sich manifestierende Lust am Fremden und das Begehren nach interethnischer Paarung zugleich durch tief greifende diskursiv erzeugte Sinneffekte transindividuell präformiert und kodiert. Daraus erklären sich tiefenstrukturell die hohe Frequenz und die zentrale Funktion interethnischer Liebesbeziehungen in klassischen Texten der Kolonialliteratur von Conrad über Forster bis zu Doris Lessing, in denen die Faszination für den erotisierten Fremden als Tabu und Transgression ausgestaltet wird und daher neben lustvollem Begehren vor allem Angst und Aggression auslösen. Daraus erklärt sich aber auch, weshalb in postkolonialen Romanen wie etwa The Buddha of Suburbia unter dem Einfluss der ›permissiven Gesellschaft‹ und einer sexuellen Befreiung in den kulturellen Rahmenbedingungen der 60er und 70er Jahre weniger die Angst und Aggression auslösenden Wirkungen interethnischer Paarungen im Vordergrund stehen, sondern deren vermeintlich gesteigerte hedonistische Lustpotentiale, die sie sexuell experimentierfreudigen Zeitgenossen gemäß den internalisierten postmodernen Mentalitätsstrukturen
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eines konsumptionistischen, multikulturellen ›Supermarkts‹ zu versprechen scheinen.27 Zum anderen kommentiert Bhabha die wesentlich veränderten Bedingungen interkultureller Begegnungen in der Gestalt postkolonialer Multikulturalität, wendet sich folgerichtig gegen alle Re-Ethnisierungsbestrebungen im Sinne von Vorstellungen einer ethnic authenticity und plädiert anhand der Leitbegriffe hybridity und einer politics of cultural difference entschieden für eine offene, enthierarchisierte Interaktionsdynamik konkreter, in sich selbst bereits hybridisierter Individuen, deren Identifikations- und Zugehörigkeitsbedürfnisse nicht ethnisch-kulturell fixiert sind. Bhabha setzt damit auf die Emergenz neuer »kultureller Ordnungen des Nicht-Beliebigen«, welche die tradierten Dualismen zu transzendieren vermögen. Eine besondere Tragweite entfaltet seine wegweisende Unterscheidung zwischen cultural diversity und cultural difference, mit deren Hilfe eine metakritische Position gegenüber den immanenten Grenzen eines aufgeklärt-toleranten, postmodernen Multikulturalismus ermöglicht wird, als des vermeintlich avanciertesten Modells der Organisation kultureller Differenz. Denn das Modell des Multikulturalismus gehorcht »restrictive notions of cultural identity« (38) und damit einer Logik von cultural diversity, verstanden als »the recognition of pre-given cultural contents and customs«. Kulturelle Verschiedenartigkeit impliziert und repräsentiert zugleich eine »radical rhetoric of the separation of totalized cultures, that live unsullied by the intertextuality of their historical locations, safe in the Utopianism of a mythic memory of a unique collective identity« (34). Auf der Grundlage einer totalisierenden und linear-teleologischen Logik leistet dieser homogenisierende Kulturbegriff der cultural diversity, »der die Vorstellungen eines kulturellen Mosaiks einander nebengeordneter aber klar voneinander abgegrenzter Kulturen generiert«, statischen Vorstellungen von Identität Vorschub und nimmt so gegenüber der kulturellen Erfahrungswirklichkeit von Moderne wie Postmoderne Komplexitätsreduktionen vor, die ethnozentrische Denk- und Argumentationsstrategien fortschreiben wie auch einer zukunftsweisenden Multikulturalismusdebatte abträglich sind. Zu Recht vertritt daher Antje Kley die These, dass das Konzept der cultural diversity nicht deshalb unangemessen sei, »weil es nicht pluralistisch genug wäre, sondern weil es in seinen Pluralisierungstendenzen lediglich monokulturalistische Paradigmen redupliziert, anstatt [ . . . ] der Tatsache gerecht zu werden, dass Kulturen miteinander vernetzt, in unterschiedlichem Ausmaß aber nichtsdestotrotz prinzipiell heterogen, hybrid, hoch differenziert, unabgeschlossen und eben nicht monolithisch sind.«28 27 28
Vgl. hierzu im Einzelnen Winkgens, 202 ff. Vgl. Kley, 56 f.
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Im Gegensatz dazu betont Bhabhas produktive Konzeption von kultureller Differenz den aus der »Inkommensurabilität oder mangelnden Anschließbarkeit« von interkulturellen Begegnungserfahrungen resultierenden aktiv-dynamischen Prozess der »Suche nach und Konstruktion von Anschlussmöglichkeiten«. In diesem Sinne ist die prozesshafte Dynamik hybridisierender kultureller Differenzbildung »a process of signification through which statements of culture or on culture differentiate, discriminate and authorize the production of fields of force, reference, applicability and capacity«. Mit Hilfe des Konzepts der cultural difference möchte Bhabha einen kulturanthropologischen Grundbefund interkultureller Begegnungen reakzentuieren, dass nämlich »the problem of cultural interaction emerges only at the significatory boundaries of cultures, were meanings and values are (mis)read or signs are misappropriated. Culture emerges as a problem, or a problematic, at the point at which there is a loss of meaning, in the contestation and articulation of everyday-life, between classes, genders, races, nations.« (34) Dieser third space des Kulturkontaktes, der interkulturellen Begegnung zwischen Menschen unterschiedlicher kultureller Prägung, ist als Schauplatz dynamischer Interaktionsprozesse, Hybridisierungen und Veränderungen zu konfigurieren, durch den »we may elude the politics of polarity and emerge as the others of our selves« (39). Er eröffnet damit zugleich durch »a discontinuous intertextual temporality of cultural difference« (38) erst jene unkontrollierbare ›Raum-Zeit‹ des Kulturkontaktes als Möglichkeit »to conceptualizing an international culture, based not on the exoticism of multiculturalism or the diversity of cultures, but on the inscription and articulation of culture’s hybridity« (39). Mit seiner einflussreichen Metakritik an den Grenzen des Modells postkolonialer Multikulturalität im Sinne nebeneinander koexistierender, sich möglichst wechselseitig tolerierender, aber sich distinktiv gegeneinander abgrenzender kultureller Entitäten, das in letzter Instanz der postmodernen Disposition zum Konsumfetischismus und zu einer supermarktanalogen exotischen Vielfalt von Kulturen Vorschub leistet, aus der man, vermeintlich gesichert in seiner eigenen kulturellen Identität, sich hedonistisch nach eigener Wahl beliebige Teilelemente ›einverleiben‹ kann, plädiert Bhabha also entschieden für ein hybridisierendes Aufbrechen stereotyp fixierter Vorstellungen ethnischer Kollektive und damit für eine wieder zu gewinnende offene Interaktionsdynamik interkultureller Begegnungen mit ihren folgenreichen Vermischungen und Wechselwirkungen, die alle Beteiligten dynamisch-prozesshaft verändern können. In ähnlicher Weise analysiert Reckwitz die Sequenz verschiedener, sich historisch transformierender Subjektkulturen in der westlichen Moderne als Ergebnis von »durch selektive Sinntransfers, durch kulturelle Applikationen von Elementen aus vorhergehenden Zeitpunkten und Zeiträumen« sowie durch interpretative Aneignung »einer Zitation aus einem Kontext, der nicht mehr der gegenwärtige ist«,
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erzeugte komplexe, hybride Arrangements, die ihrerseits in der Gegenwart »Hybriditäten und Friktionen produzieren«, die sich kulturanalytisch präzise bestimmen und rekonstruieren lassen: Die Hybridität kultureller Elemente in einer Subjektkultur zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort lässt sich damit (neben den lokal-räumlichen Hybridisierungen) als eine historisch-temporale Hybridbildung, ein Element einer sequentiellen Hybridisierung dechiffrieren, als eine dynamische Kombination von Kodes und Praktiken unterschiedlicher zeitlicher Herkunft, in der die Geschichte [ . . . ] durch erneute Aneignung immer wieder partiell präsent bleibt.29
Bhabhas als »politics of cultural difference« bezeichnetes Hybriditätskonzept wie auch Reckwitz’ Modell hybrider Subjektkulturen korrelieren damit auf signifikante Weise mit den Ideen einer »dialogischen Hybridität«, wie sie in einem anderen Kontext und historisch sehr viel früher der russische Literaturkritiker Michail Bachtin im Blick auf die ›inszenierte Redevielfalt‹ des polyphonen Romans formuliert hat. Nicht nur definiert Bachtin Hybridisierung als »a mixture of two social languages within the limits of a single utterance, an encounter, within the arena of an utterance between two linguistic consciousnesses«, er umreißt auch die konstruktive dialogische Austauschdynamik von Sprachen und Kulturen in der produktiven Spannung von statischer Koexistenz und hybridisierender Vermischung prägnant in einer Weise, welche Grundideen Bhabhas vorweg zu nehmen scheint: »A dialogue of languages is a dialogue of social forces perceived not only in their static co-existence, but also as a dialogue of different times, epochs and days, a dialogue that is forever dying, living, being born: co-existence and becoming are here fused into an indissoluble concrete unity that is contradictory, multispeeched and heterogeneous.«30 Wenn wir abschließend im Kontext unserer Eingangsüberlegungen und den dabei aufgeworfenen Fragen die wichtigsten Befunde zum postkolonialen Hybridisierungsdiskurs und zur Theorie der Hybridität noch einmal Revue passieren lassen und dies mit einem kurzen konkretisierenden Blick auf Problemund Phänomenvarianten hybrider Kulturen und Identitäten in der aktuellen Lebenswirklichkeit Großbritanniens und Deutschlands verknüpfen, dann ist vorab grundsätzlich folgendes zu konstatieren: Noch immer scheinen Theorie und gesellschaftliche Praxis in der Gegenwart der westlichen Einwanderer29
Vgl. Reckwitz, 86 ff. Michail Bachtin, The Dialogic Imagination, hg. Michael Holquist, Austin, London 1981, 358 u. 365. Bachtin schreibt auch: »But unintentional unconscious hybridisation is one of the most important modes in the historical life and evolution of all languages. We may even say that language and languages change historically primarily by means of hybridisation, by means of a mixing of various ›languages‹ co-existing within the boundaries of a single dialect, a single national language [ . . . ] but the crucible for this mixing always remains the utterance« (385 f.). 30
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staaten meilenweit auseinander zu klaffen, noch immer scheinen manch denkund auch wünschbare Aspekte des Hybriditätskonzepts in Anbetracht der politisch-sozialen Schwierigkeiten und Widerstände der gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit eher Züge des Visionär-Utopischen zu verraten als realisierbare Handlungspotentiale zu bezeichnen. Des ungeachtet lässt sich aber auch nicht leugnen, dass viele Veränderungen und Entwicklungen im kulturellen Phänomenbereich mit den Leitvorstellungen hybrider Kulturen zu konvergieren scheinen. So lassen sich etwa deutlich beobachtbare Entwicklungen der Ess- und Kochkultur in Deutschland und Großbritannien von den 50er Jahren bis heute mit einem hohen Maß an unmittelbarer Evidenz als exemplarischer Beleg für das integrative Zusammenwirken von multikultureller Koexistenz und produktiver Hybridisierung beschreiben. Skizzenhaft verkürzt, können wir in beiden Ländern Ende der 50er Jahre bei aller regionaler Varianz von einer vergleichsweise homogenen, einheitlichen und gewachsenen typisch britischen bzw. deutschen Kochkultur (in Deutschland bis heute als ›gut bürgerliche Küche‹ bezeichnet) mit sich von anderen nationalen Esskulturen unterscheidenden Eigentümlichkeiten, aber auch charakteristischen Geschmacksbegrenzungen ausgehen. Unter dem Einfluss der Internationalisierung der Lebensmittelproduktion und der Essensmärkte, vor allem aber der z. T. völlig differenten Kochtraditionen größerer Einwanderergruppen (in Deutschland vor allem der Italiener und Türken, in Großbritannien der vielen Ethnien aus den Commonwealth-Nationen) werden diese in den folgenden Jahrzehnten um ethnisch und national spezifische Koch- und Esskulturen ergänzt und pluralisiert, die im Sinne multikultureller Vielfalt und Koexistenz mit den einheimischen Kochtraditionen konkurrieren. Dies erlaubt es Konsumenten, je nach eigenen Geschmackspräferenzen Neues auszuprobieren und zu verschiedenen Anlässen unterschiedliche Wahlentscheidungen zwischen ethnisch pluralen und differenten Kochkulturen zu treffen. Doch wichtiger noch als diese multikulturelle Koexistenz erweisen sich die hybridisierenden Mixturen und Wechselwirkungen im kulturellen Kontakt der Essgewohnheiten untereinander, vor allem aber die zunehmende Durchdringung einheimischer Ess- und Kochtraditionen mit ›neuen‹ Gewürzen, Zutaten, pflanzlichen und tierischen Produkten, die nicht nur als geschmacklich besonders ansprechend empfunden werden, sondern ihrerseits auch neue ›hybride‹ Geschmackskodierungen hervorbringen und somit veränderte Essgewohnheiten nachhaltig zu stabilisieren vermögen. Mit anderen Worten hat sich in England wie Deutschland durch interkulturelle Einflüsse und Hybridisierungen die Esskultur entscheidend – und man darf wohl süffisant hinzufügen – zum Besseren verändert. Dabei sollte allerdings nicht verschwiegen werden, dass eine andere Form der interkulturellen oder besser der transkulturellen Durchdringung von Essgewohnheiten, in diesem
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Fall der oft nicht zu Unrecht als ›Amerikanisierung‹ kulturkritisch stigmatisierte Siegeszug der Fastfood-Ketten, keineswegs uneingeschränkt als positive Internationalisierung der Esskultur zu werten ist. Bei aller gebührenden Einschränkung in Anbetracht der vergleichsweise marginalen Bedeutung, die der Esskultur im Vergleich zu sensibleren und zentraleren Bereichen der kulturellen Selbstidentifikation von Personen und Kollektiven zukommt, lassen sich anhand dieses illustrativen Beispiels doch drei Sachverhalte verallgemeinern: 1. Nicht jede Mixtur schmeckt, nicht alles lässt sich beliebig mit allem ›hybridisieren‹, d. h. kulturelle Vermischungen können gelingen, sie können aber ebenso scheitern, und dies ist bei der Einschätzung von interkulturellen Wechselwirkungen qualitativ zu berücksichtigen. 2. Multikulturelle Pluralität und Koexistenz im Sinne der cultural diversity und hybride Kulturmischungen im Sinne emergierender neuer Gestalten der cultural difference stehen in einem Spannungs-, nicht aber in einem dichotomischen Ausschließlichkeitsverhältnis zueinander, wie es Bachtin begrifflich präzisiert hat. Durch Hybridisierung entstehende neue Kombinationen und Ordnungen sind als provisorische Einheiten von Differenz zu konzipieren, deren differente Eigenheiten nicht zum Verschwinden gebracht werden können und sollen, also nicht dialektisch ›aufzuheben‹ sind. 3. Wie es das Beispiel der Esskultur illustriert, ist es das produktive Zusammenspiel sowohl von durch hybridisierende Einflüsse intern ihrerseits modifizierten ethnisch differenten Kochtraditionen als statischem Faktor multikultureller Pluralität als auch von der durch Hybridisierung erst produzierten neuen Kodierungsgestalt einheimischer Ess- und Geschmacksgewohnheiten als dynamischem Interaktionsprozess, das zusammen neben einem Mehr an freiheitlichen Wahlmöglichkeiten des Einzelnen über die Vervielfältigung und Sensibilisierung des Geschmacksvermögens zu einer gesteigerten Lebensqualität beiträgt. Und wie steht es, abschließend gefragt, um die Hybridisierung in individuellen wie kollektiven Identitätsbildungsprozessen? Wie schon mehrfach angedeutet, ist Hybridisierung inkommensurabel mit einem Identitätsbegriff, der sich an dem Sich-Selbst-Gleichsein einer Person über die Zeit hinweg im Sinne essentialistischer Vorstellungen eines ursprünglich-naturwüchsigen ›Kernselbst‹ orientiert. Mit anderen Worten, erst wenn identitätstheoretisch die Umstellung von der Idem-Identität auf die Ipse-Identität, von der Selbigkeit zur Selbstheit im Sinne Ricœurs vollzogen worden ist, also Identität vor dem Hintergrund des »affektiv-voluntativen Sich-zu-Sich-Verhaltens« individueller Personen identitätsphilosophisch als lebenslanger, von der endlichen Zeitlichkeit existentieller Selbstsorge bestimmter Prozess der im Wissen um diskursive Bedingt-
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heiten und kontingente Widerfahrnisse selbstreflexiv gestalteten Identitätskonstruktion verstanden wird, lässt sich die Hybridisierungsidee sinnvoll einfügen. Erst dann kann diese einen zentralen und notwendigen Beitrag zu einer nicht nur denk- sondern auch lebbaren Vorstellung individuell zu vollziehender Hybridisierungen im Rahmen der Kontinuierungsleistungen und Kohärenzbildungsprozesse eines bejahenswerten Lebens leisten.31 Aus Raum- und Zeitgründen kann ich die Richtung des hiermit Gemeinten nur skizzenhaft andeuten. Orientiert man sich etwa an den theoretisch avancierten und plausibel begründeten identitätsphilosophischen Überlegungen Jürgen Straubs, dessen axiomatische Weichenstellungen, wie die differenztheoretisch fundierte Prämisse eines »konstitutiven Selbstentzugs« oder die Rede von Identitätsbildung als Ziel einer »Aspiration«, hier nur erwähnt werden können,32 dann lässt sich zeigen, wie individuelle Hybridisierungen insbesondere für die Herstellung von Kontinuität und Kohärenz im individuellen Identitätskonstrukt unter den Lebensbedingungen einer postmodernen Welt konstitutiv sind. Kontinuität meint in diesem Zusammenhang »die temporale Einheit eines Selbst, das nicht wegen irgendwelcher eventueller Konstanzen von ›etwas‹ das ›gleiche‹ bleibt, sondern aufgrund der aktiven Kontinuierungsleistungen eines um sich selbst sorgenden Subjekts, das sich trotz der in der Zeit erfolgten und noch bevorstehenden, trotz aller erfahrenen und erwarteten (kontingenten) Veränderungen und Entwicklungen als nämliches versteht, zu verstehen gibt und praktisch präsentiert« (285). Einer Person, die, wie etwa Karim in Kureishis Roman, »irreduzibel heterogene, sich widerstreitende Erfahrungen, Erwartungen, Widerfahrnisse, Handlungen, Motive, Intentionen und Orientierungen ›auszutragen‹, zu ›relationieren‹, zu synthetisieren und in einen, freilich von subjektiv erlebten und praktisch bedeutsamen ›Spannungen‹ durchzogenen Lebenszusammenhang zu integrieren hat«, werden, will sie nicht den Pathologien einer »multiplen Persönlichkeit« verfallen, hybridisierende Relationierungsleistungen abverlangt, wenn sie die Brüche und Diskontinuitäten ihrer biografischen Erfahrungsgeschichte »im Zuge einer komplexen Bearbeitung von Kontingenz in den insgesamt intelligiblen Zusammenhang einer Lebensgeschichte und personalen Identität« sinnhaft integrieren will (285). Wenn desgleichen die Kohärenzerwartung meint, »dass unter Identität auf synchroner Ebene ein stimmiger Zusammenhang zu verstehen ist, eine Struktur, die aus miteinander verträglichen, zueinander passenden Elementen gebildet wird und insgesamt, ganz im gestaltpsychologischen Sinne, mehr oder anderes darstellt, als die bloße Summe 31 Vgl. Ricœur, u. a. 9 ff. und Ernst Tugendhat, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, Frankfurt am Main 1979, 189 ff. 32 Vgl. hierzu im Einzelnen Jürgen Straub, »Identität«, in: Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1., hg. v. Friedrich Jaeger u. Burkhard Liebsch, Stuttgart 2004, 277 – 303.
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ihrer Teile« (287), dann kann gerade eine ›zwischen den Kulturen‹ sich positionierende Figur wie Karim nur schwerlich den engen Konsistenzanforderungen logischer Widerspruchsfreiheit zwischen verschiedenen und heterogenen Orientierungen und Erwartungen seiner Lebenspraxis genügen. Wohl aber kann sie in Anbetracht der historisch und kulturell variablen Kohärenznormen – »Was jeweils in einer Gemeinschaft, Gesellschaft oder Kultur als kohärentes Regel-, Maximen- oder Orientierungssystem gelten soll oder anerkannt wird, ist variabel, aushandlungsbedürftig und wandelbar. Die Kriterien, die darüber entscheiden, was in kohärenter Weise gesagt oder getan werden kann von einer Person (im ›privaten‹ oder ›öffentlichen‹, jeweils nicht zuletzt durch Rollenvorgaben geregelten Leben), sind empirisch kontingent und keiner universalen Logik der Widerspruchsfreiheit von Aussagen unterworfen« (287) – durch aktive selbstverantwortete Hybridisierungen Kohärenzbildungsprozesse in der temporalen Sequenz des eigenen Lebensvollzugs ausgestalten, die sinnhaft Brücken schlagen und lebbare Sinnrelationen zwischen vermeintlich widersprüchlichheterogenen Elementen herstellen. Damit kann eine solche Figur zugleich durch die Konvergenz mit analogen Verhaltensweisen anderer Figuren wie Jamila oder Haroon einen nicht zu unterschätzenden ›kleinen‹ Beitrag zur innovativen Neuaushandlung und Umkodierung sowohl der historisch wandelbaren Regelsysteme kohärenten Verhaltens als auch der Grundlagen kollektiver Identitäten leisten, die sich durch die partiell geteilte Gemeinsamkeit von Identifikationsbedürfnissen und Zugehörigkeitsgefühlen auszeichnen.33 Eben solche hybridisierenden Kontinuierungs- und Kohärenzbildungsleistungen im Dienste eines autonomen und bejahenswerten individuellen Identitätskonstrukts vollzieht Karim in seinem hybriden Lebensentwurf – so meine abschließende These – zum einen allgemein durch das Schreiben und die Sinnstruktur seiner nach den Mustern des Entwicklungsromans modellierten Autobiographie. Zum anderen vor allem durch das zwar verspätete, aber explizit thematisierte Bekenntnis zu seiner Indishness. Dies erlaubt es ihm, sich in der heterogenen Pluralität seiner internen wie externen Disposition anzunehmen und durch aktive Hybridisierung seine weiterhin dominant westliche Lebensorientierung ähnlich wie sein Vater Haroon mit der Einsicht kohärent zu verknüpfen: »So if I wanted the additional personality bonus of an Indian past, I would have to create it.« (213) Diese Einsicht aber zeitigt einschneidende Konsequenzen. So empfindet er anlässlich des nach muslimischen Ritualen erfolgenden Begräbnisses von Anwar tiefe Scham- und Mangelgefühle: »I felt ashamed and incomplete at the same time, as if half of me were missing and as 33 Zur ideologischen Problematik der Rede von ›kollektiver Identität‹ und zum Vorschlag einer »rekonstruierenden Nachschrift« kollektiver Identifikationsbedürfnisse vgl. ebd., 290 ff.
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if I’d been colluding with my enemies, those whites who wanted Indians to be like them.« (212) Und unmittelbar im Anschluss an das Begräbnis bekennt er: »It was only with these two [Jamila and her husband Changez] that I felt part of a family. The three of us were bound together by ties stronger than personality and stronger than the liking or disliking of each other.« (214) Mit diesem Bekenntnis artikuliert Karim eine selbstverantwortete, kontingente individuelle Wahlentscheidung, die nicht notwendig ist und auch anders hätte ausfallen können, in der sich aber zugleich ein aus der individuellen, hybride disponierten Gestalt seiner Lebensgeschichte resultierendes Identifikationsbedürfnis aktiv bezeugt. Im Blick auf die Kontinuierungsleistungen und Kohärenzbildungsprozesse seines individuellen Identitätsentwurfs löst es – ähnlich wie auch Jamila und Haroon – hinfort seinerseits wiederum existentielle Folgewirkungen intrapsychischer wie interpersonaler Hybridisierungsprozesse aus und setzt die persönliche Suche nach sinnhaften Anschlussmöglichkeiten seines individuellen Verhaltens für die Zukunft in Gang.
Lawson Fusao Inada’s Poetic Practice in His Drawing the Line (1997) By Nassim W. Balestrini I. Introduction: The Poet’s Role In his provocatively titled essay »Can Poetry Matter?,« which first appeared in the Atlantic Monthly in 1991, the business executive and poet Dana Gioia laments that the academic world claims exclusive rights to the production and reception of poetry and thus deprives the general public of what used to be a popular art form.1 A decade after the controversy about his essay, Gioia cautiously notes that poetry has been reasserting its standing within American public life at the beginning of the twenty-first century. In other words, the nation can again profit from poetry for all. To Gioia, poetry assumes »public responsibility« because it demonstrates the power of language.2 Why should Gioia’s essay interest us in our efforts to explore the meanings of American literature and of American poetry in particular? First, his attack on academically trained poets who are supposedly more concerned with obtaining tenure than with assuming what Gioia considers their social duties may inspire us to think about why we read certain works, use specific anthologies, and teach various canons. Second, his critique of literary scholars who have supposedly abandoned the evaluation of poetry on stylistic grounds may make us think about how we teach and write about poetry. I cannot possibly address, let alone solve, all of these issues. What I intend to do in this essay is to discuss one volume of contemporary poetry. Based on this example, I would like to argue that a poet working in the academic world is not necessarily remote from the general public. Furthermore, I want to show that poetry which is not written specifically or exclusively for a philologically trained readership does not need to neglect stylistic finesse. I also propose to demonstrate that the study of such a poet’s works and of their sociohistorical 1
Dana Gioia, »Can Poetry Matter?«, Atlantic Monthly (May 1991), 95, 98, 100 et pas-
sim. 2 Dana Gioia, Can Poetry Matter? Essays on Poetry and American Culture (1992), Anniversary Edition, Saint Paul 2002, 17.
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implications will greatly benefit from the analysis of his or her poetic practice if it is to make any sense at all to write poetry instead of prose. As a case in point, I am going to discuss a volume of poems by Lawson Fusao Inada (b. 1948), an author who has successfully built bridges across various chasms. This California-born third-generation Japanese American has been a leading figure in establishing Asian American Studies within the academy.3 At the same time, in both his poetry and his prose writings, he has always stressed universal human traits – a feature which scholars who prefer writers to be affiliated solely with their particular ethnic or cultural context might construe as weakening Inada’s loyalty to Asian Americans in favor of an old-fashioned and seemingly misplaced humanism. For four decades, he has managed to both teach as a university professor and to present his poetry to the public in readings and in performances with music. I consider Inada a prime example of a poet whose works fulfil multiple functions, ranging from relevance to American culture and society in general to the scholarly concern with the formal and structural aspects of poetics. In his 1992 volume entitled Legends from Camp, Inada celebrates the fact that »[m]ore and more, artist and audience are becoming one – for the greater cause of community and mutuality.«4 In the same text, he defines himself »as a community poet« who enjoys what he calls »a privilege [ . . . ] to be asked to contribute, share, collaborate, participate, and to be granted a functional, responsible role in society.«5 How, then, does Inada incorporate this view of himself into his 1997 volume Drawing the Line? He bears out his definition of the poet’s task by depicting the poet’s rootedness in specific locales, in the memories of family and friends, and in cultural tradition and American history in a larger sense. He also ascribes to poetry near-miraculous powers which, however, do not recede into 3 For instance, he is the editor of Toshio Mori’s short story collection Yokohama, California, Seattle 1993, the co-editor of John Okada’s novel No-No Boy, ed. Frank Chin and Lawson Fusao Inada (1976), Seattle 1978, and of the influential anthologies Aiiieeeee! An Anthology of Asian-American Writers, ed. Frank Chin, Jeffrey Paul Chan, and Lawson Fusao Inada, Washington (D.C.), 1983, and The Big Aiiieeeee! An Anthology of Chinese American and Japanese American Writers, ed. Frank Chin, Jeffrey Paul Chan, Lawson Fusao Inada, and Shawn Wong, New York 1991. He also contributed a seminal essay to the volume Three American Literatures: Essays in Chicano, Native American, and AsianAmerican Literature for Teachers of American Literatures, ed. Houston Baker, New York 1982. In his 60-page introduction to Inada’s life and work, Holliday provides an overview of the poet’s efforts on behalf of Asian American literature (see Shawn Holliday, Lawson Fusao Inada [Boise State University Western Writers Series 160], Boise (Idaho), 2003, 28 – 33). 4 Lawson Fusao Inada, Legends from Camp, Minneapolis 1992, 148. 5 Ibid.
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vague mysticism but which rather serve to make his views on history clear. In order to illustrate these points, I will first comment on the thematic composition of the poetry collection and subsequently discuss a poem about being a poet as well as the 18-part title poem, both of which demonstrate Inada’s poetic practice. II. The Thematic Composition of Drawing the Line The volume begins with a programmatic introduction in prose that encapsulates the thematic core of the poems that follow. Using a photograph as his point of departure, Inada presents his view of life and of poetry. As the caption reveals, the picture shows Inada as a happy toddler in the presence of his paternal grandmother outside the family home in Fresno, California, in the early 1940s. The opening section of the four-part introduction counteracts the idealistic picture of the hard-working immigrant woman by contrasting it with unseen future events: »Thus, today, she feels happy, blessed. Within a year, she would be dead and her grandson, Lawson, in a concentration camp.«6 Inada thus foregrounds the stark contrast between the ideal American immigrant experience – as found in his grandparents’ love of the land and their power to transform the land through their agricultural pursuits – and the Japanese internment experience after the attack on Pearl Harbor (7 December 1941): 110,000 Japanese Americans (both resident aliens and U.S. citizens) were rounded up and imprisoned in camps throughout the nation, beginning after the President’s Executive Order in February 1942 and ending in 1946.7 In the second section, Inada reflects on the radius of his childhood world in the multi-ethnic neighborhood of West Fresno, but he metaphorically transforms the toddler’s activity of running about on his little feet into the poet’s later actions: »My feet, in a matter of feet, could take me all over the world – and I went.«8 The child’s world included – literally within the distance of a few feet – people of »African, Asian, Latin American, and American Indian ancestry, as well as Armenians, Basques, Germans, Greeks, Irish, Italians, Jews, Okies [ . . . ].«9 The grown-up poet, then, uses metrical feet to travel the world 6 Lawson Fusao Inada, Drawing the Line, Minneapolis 1997, n. p. In his brief monograph, Holliday devotes less than four pages to Drawing the Line; to him, Inada »traces his development as an individual through poetry that calls attention to its own fluidity, adaptability, and reflexivity to show that language determines us as much as we determine it« (49). 7 See Patricia Wakida, preface, Only What We Could Carry: The Japanese American Internment Experience, ed. and introd. Lawson Fusao Inada, Berkeley 2000, xi – xii. 8 Lawson Fusao Inada, Drawing the Line, Minneapolis 1997, n.p. 9 Ibid.
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on the printed page and in his imagination. This is a good example of Inada’s penchant for puns, for the double meaning of words, which he often uses to switch between physical existence and immaterial phenomena, as we will see again later. The third section illustrates that to Inada place is defined by the cultural affiliation of its inhabitants, and that these inhabitants may incorporate several layers of cultural heritage or adopted culture. In the case of Inada’s family, Japan and the U.S. are interwoven through the family members’ participation in Japanese traditions and in American everyday life. In the fourth section, the reader learns that the grandparents’ house was eventually bulldozed to make room for Highway 99, the highway which extends along the North–South axis of California’s Central Valley and which cuts through the city of Fresno. Inada nevertheless claims that if he stood on the asphalt where his elders’ house used to be, he would remember »the fragrance of food, the waves of music, and, most certainly, the presence of people [ . . . ],« in other words: »all that culture, history, tradition.«10 Poetry figures as his metaphorical destination when he writes that he »toddled off in the direction of poetry« with the approval of his elders.11 This passage recalls the earlier strategy of letting real movement in space on one’s feet stand for the metrical feet on the page; now the toddler’s path leads him towards poetry, a destination in the mental and spiritual dimension of humanity rather than in the material world. It will be crucial to keep in mind Inada’s claim that even on the noisy motorway he would be able to remember the sights and sounds of his childhood. I will come back to the artist’s ability to tap memories by turning inward. The introduction to the volume thus provides the reader with a preview of the themes covered in the poems that follow: family and friends, cultural diversity and a sense of belonging, the discrepancy between the Americanization of immigrants and their imprisonment in camps, the love of the land, of cultural traditions, and of multicultural Fresno, as well as the poet’s standing in the community. A close look at the fourth and penultimate section of Drawing the Line, in which Inada sketches an ironic self-portrait of the poet, will serve as the first step in discussing his poetic practice.
10 11
Ibid. Ibid.
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III. Inada’s Poetic Practice 1. An Ironic Self-Portrait The fourth section of Drawing the Line is entitled »Putting Back the Rain.« The speaker of the eponymous poem describes his paradoxical feat of conjuring the rain into a waterproof roof above his head – a roof made of rain which in turn prevents the wet rain from falling onto the speaker and which also curiously assumes the quality of sunshine, as expressed in the closing stanza: »a roof of rain / that was shining / like a stream / and wouldn’t let / the wet rain through.«12 Like Inada’s grandmother’s supposed ability to prepare nourishing soup from watery rain, as claimed in the introduction to the volume, this rain is a protection against itself which allows the speaker to enjoy the brightness of sunlight descending like a stream of water. The poem thus evokes the impression that the poet / persona is rather remote from real life and that he regales in paradoxes for the fun of it. Positioning such a dreamy, tongue-in-cheek poem at the section opening prepares the reader for the ironies of the following text, which bears the serioussounding title »Pursuing a Career.«13 This poem comprises seven numbered sections of unequal length. Their titles are as follows: I. Writing; II. Word Processing; III. My License; IV. Shouldering Responsibility; V. Fax; VI. Pax; VII. Thanks. Section I of »Pursuing a Career« comments on the writing process and focuses stylistically on word play: I. Writing Writing in cursive, longhand, it occurs to me how those longhanded people cursed aboard penmanship and sailed away.14
The repetition of »curs« in »cursive,« »occurs,« and »cursed« transports the reader from a reference to the process of writing by hand via the poet’s thoughts while writing and on to the unexpected depiction of uncouth sailors. 12 13 14
Inada, Drawing the Line, 89. Ibid., 90 – 92. Ibid., 90.
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The elegance of cursive writing clashes with the immodesty of foul language. On top of that, this clash is achieved through an implicit reference to a »cur,« a pejorative designation for a mixed-breed dog, as if the confrontation between beautiful handwriting and unpleasant words were organically intertwined in one creature. Moreover, the pseudo-sailors of the poem are aboard the wordand ink-based vessel »penman-ship,« and this pun coheres with one of their physical features: their long hands. The speaker thus takes terms from the context of writing (»cursive«; »longhand«; »penmanship«) out of their context and transfers them into new contexts by appealing to the reader’s awareness of similar sounds and double meanings. In the fourth section, »Shouldering Responsibility,« the persona is excited by the news that the, at least to him, enormous sum of two thousand copies of his volume of poems was sold. He thus imagines how everybody in Oregon would recognize him wherever he might go.15 But then the idea of having to talk poetry in places such as the barber shop and the video store strikes him as too great of a responsibility – so much so that he is relieved to find that the MiniMart sales clerk does not ›give it away‹ that or rather whether he knows who his supposedly famous customer is. According to this humorous depiction of the fear of fame and of the knowledge that he will not attain such pop star status, the remaining three sections of the poem are rather laconic. Just as the assonance in the titles (Fax, Pax, Thanks) has a self-deprecatory ring, the contents are suffused with irony: the persona first thanks his Japanese grandparents for immigrating so that their grandson could one day rent (not purchase!) a Japanese car. He finally sees himself as an entertainer in a Karaoke bar, addressing his audience with the words, »Thank you / for joining me / in Karaoke / Poetry.«16 The idea of Karaoke Poetry sarcastically comments on what is probably the poet’s worst nightmare: people reading poetry off a screen, trying to match their speed with the tempo of canned music. Inada pokes fun at himself through the stereotype of reducing centuries-old Japanese culture to recent material and pop culture phenomena such as cars and Karaoke. Simultaneously these references humorously comment on the economically not-so-bright prospects of a full-time poet.
2. Drawing the Line: The Artist Positioning Himself The fifth and final section departs from the often playfully ironic tone of the poems in section four. Both the entire section and its closing poem bear the volume title, Drawing the Line. Here Inada asserts his views on the poet’s art and 15 16
Ibid., 91. Ibid., 92.
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on American, and especially Japanese American, history and culture. In »A Poet of the High Seas,« the poet appears in the guise of a traveler who roams the seven seas and who can traverse all centuries.17 »Healing Gila« addresses analogies between Japanese American and Native American experiences in the United States.18 The site in which these experiences merge is an internment camp situated on an Indian reservation. »Children of Camp« links the internment theme with the topic of art.19 The speaker depicts various creative pursuits as means of liberating one’s voice by transforming the internment experience into art shared with the community. »Scanning the Century« provides a panorama of one of Inada’s favorite art forms by presenting lyrical vignettes of blues and jazz musicians.20 »Picking Up Stones« focuses on a Zen teacher who collects stones in the internment camp, inscribes these stones with Japanese words, and subsequently returns the stones to their original sites.21 While the calligraphic art of this prisoner does not survive in material terms because the ink is dispersed through contact with water, the speaker praises the stones as »mini-milestones« created by a »citi-Zen« with a capital »Z.«22 If Zen can be seen as an integral part of citizen, then the designation ›Japanese American‹ cannot be an oxymoron. Finally, »Drawing the Line« is an 18-part poem about the painter Yosh Kuromiya. It is set in the internment camp at Heart Mountain, Wyoming.23 This camp was in operation from August 1942 through November 1946. Over the years, it held about 14,000 inmates from California, Oregon, and Washington; the largest number of inmates present at one point in time was approximately 10,000. The poem proceeds as follows: one early winter morning, Yosh draws on paper a line tracing the shape of Heart Mountain. Reflections on Yosh’s character and on the possible meaning of his drawing precede a description of the usual camp morning routine: having breakfast, lining up outside the restrooms. Back in his barrack, Yosh wonders whether he – a prisoner not allowed to pursue a profession – could become a painter, if only a portrayer of fellow inmates. When he is forced to fill out a government questionnaire testing his loyalty to the U.S., he refuses to relinquish his constitutional rights. The persona does not explain that during recruitment proceedings in 1944, 315 young men in the internment camp at Heart Mountain refused induction into the U.S. Army. 85 of 17 18 19 20 21 22 23
Ibid., 109. Ibid., 110 – 111. Ibid., 112 – 116. Ibid., 117 – 123. Ibid., 124 – 127. Ibid., 126, 127. Ibid., 128 – 40.
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them explicitly stated that they would only join the army if they and their families were to be granted the constitutional rights of which they had been deprived by internment. The constitutional issue of their demand notwithstanding, these men were convicted for not following draft orders. As the poem indicates, Yosh Kuromiya spends two years in jail. Upon regaining his freedom, he returns to Wyoming to show his wife the spot from where he drew Heart Mountain. In which ways does this poem express Inada’s poetics? First of all, Inada characteristically works with repetition and variation, mostly focused on the meanings of the phrase »to draw the line.« On the most literal level of the individual words, the phrase refers to making a drawing on paper by moving a pen from the left margin to the right margin, creating a characteristic outline (see section I). The second meaning is the idiomatic expression »to draw the line« or »to draw a line,« which – according to Webster’s Third – means »to fix an arbitrary boundary between things that tend to intermingle« and, in many cases, »to fix a boundary excluding what one will not tolerate or engage in.« In other words, when you draw the or a line, you express your judgment of what is appropriate and acceptable. The speaker relates this semantic dimension to the issues of clear thinking (II), awareness of truth (II), and consistency in one’s moral standards and political opinions (VI, VII). Less prominent uses of the word »line« occur when the speaker describes the camp inmates standing in »line« outside the mess hall and the bathrooms (XIII) and when we learn that Yosh is not allowed to pursue a »line of work« (XIV), as camp life does not permit professional development. Beyond this variety regarding the meaning of the word »line« and the expression »to draw the line,« Inada equips the line on Yosh’s canvas with a life of its own. As expressed in three sections of the poem (I, III, XVIII), the line seems to move across the paper by itself, guided by an invisible power. Here, Inada again stresses the miraculous, metaphysical dimension of art. This description prepares the reader for symbolic readings of the shape that Yosh has drawn. Most prominently, the line comes to stand for the development of the artist’s destiny through time. The directedness of the line and its identity with Yosh’s personality become clear in two steps. In the first section, the black line is »like a dark, new river.«24 In the third section, »the line makes its way, / on paper, charting a clear / course like a signature.«25 The design thus 24 Because of the length of this cycle of poems, I numbered the lines although no line numbers are provided in the book. In the following, I will provide page, section, and line numbers. Inada, Drawing the Line, 128, sec. I, l. 8. 25 Ibid., 129, sec. III, ll. 17 – 19.
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represents its designer. The speaker develops this idea further when he describes the line’s shape in terms of the course of life: the relatively even and consistently horizontal line indicates a slow and steady, seemingly normal process.26 The sudden upward movement of a nearly vertical line, in other words, the left-hand outline of the mountain, stands for »a decisive turn of events which lasts / a while before resuming / what might be assumed to be a more / regular course of activity [ . . . ],« eventually leading to »the bottom / line of normalcy again, starting over / at square one, back to the drawing board [ . . . ].«27 The expressions »bottom line,« »square one,« and »drawing board« indicate a new beginning, which will only be explained later in the poem. For the time being, however, the speaker expresses gratitude for the fact that we do not have to deal with either a broken line, or with the entirely straight line on the heart monitor of a deceased person, or with a line that reverses itself and creates a chaotic labyrinth.28 For the sake of comic relief, the speaker mentions a child’s comparison of the shape to a baby’s lower jaw graced with one tooth. But the most obvious meaning for Yosh and his fellow camp inmates is that his drawn line represents Heart Mountain in Wyoming as seen from the enclosed internment site. In sections XIV and XVIII, Inada further develops the variants and the symbolic dimensions of the line and the process of drawing. As mentioned earlier, Yosh feels worthless because he cannot pursue a profession in the internment camp. He wonders whether he could become an artist, maybe by »[d]oing portraits of inmates.«29 Then follows an extended reflection on »lines«: But out there is in here too, related – it’s a matter of perspective, like lines of lineage and history, like the line between me and the fencepost, between me and the flagpole, between stars, stripes, the searchlight, and the guy on duty in the guardtower, maybe like me, from California, looking up at the airplane making a line of sound in the sky, searching for the right place in a time of peace . . . Yes, if I had a big enough piece of paper, I'd draw the line tracing the way we came, smooth as tracks clear back to California, 26 27 28 29
Ibid., 131, sec. VIII, ll. 79 – 83. Ibid., 131 – 132, sec. VIII, ll. 85 – 88 and 132, sec. VIII, ll. 94 – 96. Ibid., 132, sec. VIII, l. 98, ll. 100 – 101, and ll. 102 – 104. Ibid., 137, sec. XIV, l. 214.
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Nassim W. Balestrini and in the other direction, the line clean out to the city of Philadelphia and the Liberty Bell ringing testimony over Independence Hall and the framing of the Constitution. Yes, it's there and I can see it, in the right frame of mind . . . 30
In this section, written in Yosh’s first-person perspective, the artist imagines lines drawn between himself and specific geographical points, between himself and immaterial phenomena. In sum, the examples refer back to the »lines / of lineage and history.«31 Thus, they have to do with his Japanese American family rooted in California and brutally dislocated to Wyoming. The »fencepost« of the Wyoming camp clashes with the omnipresent American »flagpole.«32 The reader cannot but notice this clash between the imprisonment of American citizens and the flag representing the American nation, as the speaker highlights the main components of the flag: the »stars« and »stripes,« which can only be separated by the illegal act of destroying the flag.33 Yosh makes the continental breadth of the U.S. his canvas as he imagines lines representing the journey of his family from California to Wyoming and connecting him to Philadelphia and the history of the American Revolution and Early Republic.34 The Liberty Bell and the Constitution are emblems of Yosh’s convictions, ideals to which he adheres. Accordingly, he »draws the line« when the authorities ask him not to insist on his constitutional rights as a citizen (XV, XVI). And, as mentioned earlier, he spends two years in prison for refusing induction into the army (XVII). The final section of the poem depicts Yosh’s life after his release from prison. The closing stanza of the penultimate section prepares the reader for this phase by saying »[ . . . ] Yosh gives / testimony, / drawing the line, / on paper, again.«35 How does he draw the line this time? The speaker stresses that now Yosh is »free«36 and has a »clear / conscience,« as clear as a mountain spring at Heart Mountain.37 The speaker emphasizes Yosh’s genuinely American sense of liberty by describing him as being »[ . . . ] free to roam / his home range like an antelope.«38 These lines allude to the folk song »Home on the Range«, written 30 31 32 33 34 35 36 37 38
Ibid., ll. 215 – 35, ellipses in the original. Ibid., ll. 216 – 217. Ibid., l. 218 and l. 219. Ibid., l. 219 and l. 220. Ibid., ll. 227 – 234 Ibid., 139, sec. XVII, ll. 263 – 266. Ibid., sec. XVIII, l. 267 and l. 268. Ibid., ll. 268 – 269. Ibid., ll. 275 – 276.
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and published in the 1870s. This song expresses the beauty of the American frontier as well as the freedom and beauty of pioneer and cowboy life.39 Yosh’s antelope-like freedom allows him to circle Heart Mountain and to appreciate it from all sides. The mountain resembles various things from different angles, but it consistently and simultaneously looks like a heart.40 As a symbol of human compassion, the aptly named mountain represents »a monumental testament under the sky.«41 In other words, the Liberty Bell, Yosh the former Japanese American camp prisoner, and Heart Mountain bear witness and give testimony to the continuing struggle for liberty. Inada stresses the historical dimension here by describing Yosh’s search for the spot from which he first drew Heart Mountain in terms of a walk through both space and time, a walk that Yosh takes in order to show his wife where he drew his line.42 The wife thus becomes a witness to Yosh’s attempt to prevent forgetting, even though the fences and barbed wire of the internment camp have been removed. As in the beginning of the poem, »the line drew itself.«43 The impression that an invisible higher power seems to support him by guiding his pen imbues Yosh with a new sense of confidence. With the final section of the poem, Inada lifts the two-dimensional black outline off the sketchpad into the three-dimensional world of Heart Mountain and into the abstract realm of political convictions. Rather than being forced to perceive the mountain from the fixed perspective of internment, Yosh can now freely circle the mountain. Inada provides Yosh’s experience with the sound play of assonances expressive of joy and inspiration, as during the drawing of the original line: »a perfect fit in this right place and time / for Yosh to kneel again, feel again, raise / his radiant eyes in peace to face the radiant / mountain [ . . . ].«44 »Place« resonates with »raise,« »radiant,« and »face«; »kneel« coheres with »feel« and »peace.« The closing line of the poem and of the entire book indicates the new beginning which the persona prophecied earlier when speaking of Yosh having to start at »square one«; in this final verse, Yosh is able to »[ . . . ] begin, again, with confidence, to draw the line!«45 In other words, Yosh 39 According to Crawford, »Home on the Range« evokes »an idealized West [ . . . ] so deftly [ . . . ] that it has since come to be the best-known of all Western songs« (Richard Crawford, America’s Musical Life: A History, New York 2001, 434). Significantly, the song »turns the age’s chief domestic icon« – that is, the ideal concept of a home – »into a notion broad enough to encompass the wide open spaces« (435). 40 Inada, Drawing the Line, 139, sec. XVIII, ll. 279 – 283. 41 Ibid. 140, sec. XVIII, l. 286. 42 Ibid., ll. 290 – 292. 43 Ibid., l. 298. 44 Ibid., ll. 306 – 309. 45 Ibid., l. 310.
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sketches the mountain a second time, and he sticks to his opinions with a newly won assurance. The close connection between the lines of the drawing and ancestral lineage has become as clear as it is in the introduction to the volume of poems. By keeping memories alive, one can communicate with others who have had different experiences. As a result, further injustice might be prevented. This, then, is one of the functions of the, as quoted earlier, »community poet« who assumes a »functional, responsible role in society.« Inada clearly wants the reader to perceive this poem as an integral part of the entire composition of the volume. This is achieved in several ways: »drawing the line« serves as the title of the entire book, of its closing section, and of the final poem; furthermore Yosh Kuromiya’s painting of Heart Mountain is printed on the cover page, and – as I have described – it is represented lyrically in the closing poem. Together, the visual and the verbal representations of the same scene frame the poetry collection. Furthermore, Yosh’s return to Heart Mountain with his wife recalls Inada’s imagined return to his grandparents’ house as mentioned in the introduction. Just as Yosh revives the sense perception of the camp inmate who sees the far-off mountain and ignores the prominently perceivable barbed wire in his drawing, Inada can silence Highway 99 and, in his mind and poetry, recreate the smell of home-cooked food. Art thus transforms the ugly into the beautiful; art obliterates man-made changes. Place, memory, history, and cultural tradition loom large, and poetry figures as a miraculous boon which allows individuals to express their perspective and which joins people of diverse backgrounds.
IV. Closing Thoughts Lawson Fusao Inada has been serving as Oregon’s Poet Laureate since 2006. In 2008, he celebrated his 70th birthday and was featured on PBS in the poetry series of the prestigious »News Hours with Jim Lehrer.«46 But how will posterity, if at all, remember him? Can he help effect a bridging of the gaps between the general public and institutions of higher learning that Gioia evokes in his critique of poets associated with academe? In the attempt to answer this question, let us consider various scenarios of how Inada might be inscribed into the history of American poetry. Inada might be remembered as the first Asian American poet to have a volume of poems published by a large New York publisher (Before the War, 1971). He might continue to be praised as one of the founding fathers of Asian 46 For a transcript and a link to the audio file, see http://www.pbs.org/newshour/bb/ entertainment/july-dec08 / lawson_10 – 03.html.
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American literature as an object of scholarly inquiry. But that does not say anything about his style. He might be remembered as a poet who was interested in writing poems about jazz, the blues, rhythm and blues, and their representatives in the musical industry.47 But that would reduce him to one of his themes. He might be remembered as a follower of Walt Whitman, William Carlos Williams, the confessional poets, and other canonized American authors.48 But this would exclude his concern with Japanese American history, especially with the internment experience.49 He might be remembered as a New Regionalist poet, that is, as a poet who stresses his rootedness in a specific region and the relation of this region to the United States as a whole and to the entire planet. While Inada has been included in anthologies of California poetry,50 four decades of teaching at Southern Oregon University and of presenting poetry to the general public resulted in his appointment as Poet Laureate of Oregon. Regional affiliations are partially helpful because they explain some of Inada’s thematic concerns.51 At the same time, he goes beyond any particular region through his interest in Japanese American heritage, in multiple other ethnic groups he grew up with in Fresno, and in what he considers universal human traits. Literary history might memorialize Inada and his works in all of the abovementioned contexts. My hope is that, instead of restricting him to a narrowly defined pigeonhole, literary and cultural historians will emphasize his poetic practice in all its complexity, individuality, and inclusiveness. The blend of sound play, carefully chosen diction, multi-layered puns, repetition and variation, intricate structures within individual poems and throughout poem sequences, and the challenge to investigate the historical and cultural background of his personas, to my mind, bode well for long-lasting remembrance. 47 On his jazz poems, see Juliana Chang, »Time, Jazz, and the Racial Subject: Lawson Inada’s Jazz Poetics«, in: Racing and (E)Racing Language: Living with the Color of Our Words, ed. Ellen J. Goldner and Safiya Henderson-Holmes, Syracuse 2001, 134 – 54. 48 See Leslie Marmon Silko’s remark quoted on the back cover of Lawson Fusao Inada, Legends from Camp, Minneapolis 1993. 49 On Inada’s poetics of the internment experience, see Gayle K. Sato, »Lawson Inada’s Poetics of Relocation: Weathering, Nesting, Leaving the Bow«, Amerasia Journal 26.3 (2000 – 2001), 139 – 60. 50 For instance, Christopher Buckley (ed.), The Geography of Home: California’s Poetry of Place, Berkeley 1999. 51 Holliday argues that including Inada in regional literature has the positive side effect of enlarging the number of Asian Americans who are considered part of the literature of the Western states (53).
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Gioia’s call for poets who feel socially responsible, for poetry that appeals to the general public, for poets who will present their verse with music, theater, or dance, and for scholars and critics who appreciate poems for their aesthetic features is implicitly answered by Inada’s works and public roles.52 Inada is a professor emeritus and poet laureate, a performer who appears with musicians, in films, and at readings, and a poet who obviously takes both the artistic depth of his work and the connectedness to an audience seriously.53 Gioia argues that poetry matters because, first of all, poetry demonstrates the immense power of language and thus plays an important role in a society which believes in the freedom of speech, and secondly, because the status of poetry is just one marker of the standing of other art forms in society.54 That for Inada artistic expression and American political ideals are inextricably interlaced becomes clear in Drawing the Line. The organic linkages among the arts, in this volume especially between poetry and painting, emphatically underscore the power of his words. I thus venture to hope that Inada’s works will inspire growing numbers of readers, listeners, critics, and scholars alike.
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See Gioia, »Can Poetry Matter?«, 96, 97, 98. For an example of performances involving several art forms, see http://www.columbiaarts.org/more-arts/2009/10-09/lawsonFusaoInada.html. Among the film projects in which Inada participated is Conscience and the Constitution (itvs, 2000), which focuses on the trial of the Japanese men who resisted the draft, as explained in Yosh Kuromiya’s case in Inada’s Drawing the Line. Holliday closes his brief overview of Inada’s life and work by stressing how attached the poet has been to the community that he wants to serve through his art (54 – 55). 54 See Gioia, »Can Poetry Matter?«, 105. 53
Continuité ou rupture? La forme littéraire du récit de conversion à travers les siècles Par Béatrice Jakobs
»Lors, mon Dieu, que Simplicianus, votre serviteur, m’eut rappeler ce que je viens de dire de Victorinus, je me sentis touché d’un ardent désir de l’imiter; aussi étoit-ce le dessein qui l’avoit porté à m’en faire le récit.«1 C’est ainsi qu’Augustin décrit dans ses Confessions l’effet qu’avait fait sur lui le rapport des événements qui avaient poussé Victorinus, rhéteur à Rome, à se convertir. À la vérité, ce récit ne causa pas la conversion immédiate de l’auteur: l’exemple d’une deuxième conversion racontée par Ponticianus fut nécessaire pour qu’Augustin fût prêt à recevoir l’action de grâce divine qui engendra sa propre conversion.2 Une conversion peut être renforcée par la lecture ou l’écoute d’un rapport de conversion vécue par quelqu’un d’autre qui sert ainsi d’exemple; la volonté de se convertir et la force d’accomplir cette volonté sont des dons de Dieu: voilà les leçons que proposent le livre VIII des Confessions augustiniennes. Le développement d’une union féconde entre la littérature et l’idée de conversio qui commence à s’établir du vivant d’Augustin et la réputation dont jouira le père de l’Eglise en tant que converti-modèle chez les catholiques et chez les protestants3 montrent l’importance pilote de ces leçons. La grâce divine étant en dehors de la zone d’influence des hommes, c’est le principe de la conversion 1 Augustin, Les Confessions de Saint Augustin. Traduction française d’Arnauld d’Andilly, très soigneusement revue et adaptée pour la première fois au texte latin avec une introduction par M. Charpentier. (Texte latin dans les notes). Paris s. d., VIII, 5. Nous utilisons la traduction française des Confessions élaborée par Arnauld d’Andilly au début du XVIIe siècle pour montrer comment le texte latin fut rendu en langue vulgaire à l’époque et pour que la proximité entre la façon de s’exprimer d’Augustin d’un côté et des convertis de l’autre soit plus évidente. Comme les Confessions furent également lues en langue originale aux XVIe et XVIIe siècle, nous ajoutons le texte latin des Confessiones dans les notes: Sed ubi mihi homo tuus Simplicianus de Victorino ista narravit, exarsi ad imitandum: ad hoc enim et ille narraverat. Les Confessions / Confessiones seront citées par indication du livre – chiffre romain – et du paragraphe – chiffre arabe. 2 Cf. Augustin, Confessions VIII, 6 – 12. 3 Cf. infra, 369.
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par imitation qui est mis en œuvre – surtout dans le cadre de la lutte confessionnelle lors de laquelle naquit la forme littéraire du récit de conversion.4 Certes, l’appel à conversio c’est-à-dire l’appel à l’homme coupable de reconnaître qu’il a péché et de se retourner vers Dieu, est déjà présent dans la Bible. Mais contrairement aux passages de l’Ecriture évoquant des conversions,5 le texte des Confessions n’omet guère les doutes et les difficultés dont souffrit Augustin lors de sa »procédure« de conversion: J’avois bien une volonté de vous servir [ . . . ] mais cette volonté nouvelle, qui ne faisait que de naître, n’etoit pas capable de vaincre l’autre qui s’étoit fortifiée par une longue habitude dans le mal. Ainsi j’avois deux volontés, l’une ancienne et l’autre nouvelle, l’une charnelle, et l’autre, spirituelle, qui se combattoient et en se combattant déchiroient mon âme.6
Intégrant de même les détours parcourus sur sa voie vers Dieu, et donc très proche de la réalité des hommes, l’œuvre augustinienne put souvent servir mieux que les textes bibliques de modèle pour les âmes errantes. Néanmoins, la conversion paulinienne figure aussi comme texte de référence – pourtant moins courant – pour les récits de conversion.7 Lorsque les lettres et les sciences païennes eurent perdu leur réputation d’être nuisibles à la foi chrétienne et de corrompre la bonne intelligence des textes sacrés, l’alliance déjà évoquée entre la littérature dite profane et l’idée de conversio put se nouer. La culture occidentale étant fortement imprégnée par la religion chrétienne, une bonne relation envers Dieu était le centre d’intérêt de chaque croyant. Pendant toute l’époque médiévale, la notion de conversio conserve la signification qu’elle avait déjà dans la Bible. La littérature est désormais comprise comme 4
Cf. infra, 370s. Cf. par exemple Job 42, 2 – 6 (repentir de Job); Es 55, 6 – 13; Jé 3,19 – 4,4 (appels à la repentance); Lc 5, 27 – 29 (appel de Lévi); 15, 3 – 7; 8 – 10; 12 – 32 (paraboles de la brebis égarée et de la drachme perdue, parabole du fils prodigue); Jn 4, 7 – 42 (conversion de la Samaritaine); Ac 2, 38 – 41 (premières conversions après la Pentecôte); 8, 26 – 40 (conversion du ministre éthiopien); 9, 1 – 22 (conversion de Saul); 10, 23b-48b (baptême de Corneille et de sa famille); 13, 6 – 12 (conversion de Sergius Paulus); 16, 19 – 34 (conversion du geôlier de Philippes). 6 Cf. Augustin, Confessions VIII, 5; Confessiones: voluntas autem nova, quo mihi esse coeperat, [ . . . ], nondum erat idonea ad superandam priorem vetustate roboratam. Ita duae voluntates meae, una vetus, alia nova, illa carnalis, illa spiritualis, confligebant inter se atque dicordando dissipabant animam meam. 7 Cf. infra, 369. De fait, dans les trois textes principaux des Actes concernant la conversion de Saul (9, 1 – 22; 22, 6 – 19; 26, 13 – 20) aucune remarque ne se trouve sur d’éventuels tourments ou hésitations intérieurs. Comme les autres textes bibliques ces passages soulignent l’efficacité de la grâce divine. 5
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moyen pour Dieu de toucher le cœur des hommes,8 soit par la beauté »extérieure« des textes, manifeste dans les vers parfaits ou le langage exquis et par suite vrai miroir de la beauté divine, soit en retraçant un itinéraire spirituel qui pourrait inviter à l’imitation.9 A l’époque de la Renaissance et de la Réforme, alors que les données culturelles et religieuses sont bouleversées de fond en comble, la littérature ne perd pas sa fonction de soutenir sinon de déclencher d’éventuelles conversions chez ses lecteurs. Mais elle l’accomplit désormais – au moins partiellement – de façon différente. Vu ces changements, sera-t-il toujours aisé de parler d’une seule forme littéraire qui aurait subsisté à travers les siècles? Les troubles mentionnés ne causent-ils pas de rupture complète avec la tradition? Considérant le contenu, le langage utilisé et les buts de récits de conversion aux temps des Réformes, nous nous proposons de dégager les lignes de force de cette forme littéraire. Les coups d’œil jetés sur les développements des siècles au-deçà et au-delà de cette époque, nous permettront de juger s’il y a continuité ou rupture dans »l’univers des conversions«. Suite au schisme de l’Eglise occidentale, la notion de conversio obtient une seconde signification, à savoir adhérer à la foi et au culte (chrétien) adverse. Certes, cet aspect n’est pas tout à fait nouveau, car l’Eglise eut au cours de son histoire souvent affaire aux non-chrétiens et aux hérétiques – c’est-à-dire aux gens qui croient adhérer à la bonne foi bien que celle-ci ne soit pas celle de l’Eglise catholique10 et disposait donc d’une certaine expérience dans ce domaine. Mais tandis que l’Eglise s’était trouvée pendant des siècles dans une situation de supériorité et était toujours arrivée soit à (ré)intégrer les hérétiques dans son giron, soit à se débarrasser de ces opposants,11 dès les années vingt du 8
Cf. Michel Zink, Poésie et conversion au Moyen Âge, Paris 2003, 5, 17 et passim. Cf. par exemple Dante Alighieri, La Comédie Divine ou François Pétrarque, Mon Secret. Ces textes peuvent toutefois toucher et par la forme et par le fond. 10 Cf. can. 6 du premier concile de Constantinople (381): Haereticos autem dicimus est [ . . . ] eos, qui se sanam quidem fidem confiteri prae se ferunt, avulsi autem sunt (Cf. J. Wohlmuth, e. a. (ed.), Dekrete der Ökumenischen Konzilien. 3 vols., Paderborn / Munich 21998. (Traduction allemande du Conciliorum Oecumenicarum Decreta, publié G. Alberigo, Bologna 31973), ici vol I – conciles du premier millénaire). 11 Cf. par exemple les conflits avec les ariens (depuis le Ve siècle) ou plus tard avec les cathares (XIIIe siècle). Le schisme opposant l’église de Rome aux églises orientales depuis le XIe siècle fut surtout provoqué par les désaccords institutionnels. A part le primat du pape et du clergé de Rome, contesté par celui de Byzance, les questions doctrinales et théologiques ne jouaient aucun rôle important (Cf. C. Baumgartner SJ (ed.), Dictionnaire de spiritualité ascétique et mystique – doctrine et histoire, 16 vols, Paris 1957; entrées: hérésie; églises orientales). 9
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XVIe siècle elle se voit menacée dans son statut de représentante exclusive de la foi chrétienne dans les pays occidentaux. Vu le succès des idées de Luther, de Zwingli (surtout en Suisse) et de Calvin, l’Eglise doit réagir rapidement et de façon efficace pour ne pas perdre plus de croyants. Comme la vie religieuse, à l’époque, faisait partie intégrante du bienêtre de chacun et par là de la vie en communauté, les perturbations dans le domaine religieux concernent de même les puissances séculières, à savoir les rois et les empereurs, appelés lors de leur sacre à protéger et la religion chrétienne et le bien public dans leurs territoires.12 En conséquence, les mesures prises par les responsables de l’Eglise catholique pour faire rentrer leurs »brebis« dans son giron – les convertir – sont en général soutenues par les autorités laïques, car celles-ci pouvaient servir à rétablir l’unité religieuse et donc l’ordre séculier nécessaire. Pendant la même période les Eglises protestantes s’organisent, instituant des structures administratives et une doctrine.13 C’est ainsi que le luthéranisme et le calvinisme sont capables de faire contrepoids à l’Eglise catholique, ébranlée par les évènements et également en voie de se réformer au concile de Trente, 1545 – 1563.14 C’est dans ces conditions que paraît la forme littéraire du récit de conversion: un texte qui relate une conversion extérieure, à savoir la sortie d’une église chrétienne et l’entrée dans une autre. Aux XVIe et XVIIe siècles, cela correspond dans la majorité des cas à l’abjuration de la foi protestante et la (ré-) intégration à l’Eglise catholique. Les quelques récits de conversion relatant un mouvement en sens inverse furent en général écrits en réaction au flux de textes »catholiques«. De plus, leurs auteurs semblent poursuivre un but tout à fait différent de ceux du parti catholique.15 Bien sûr, les deux côtés ont reçu le même appel évangélique »Allez par tout le monde, & preschez l’Evangile à toute Creature«16, mais saisissent des mesures différentes pour répandre le mes12 Suite au principe gallican en vigueur depuis le XVe siècle, la liaison entre la monarchie et l’Eglise est encore plus étroite en France qu’ailleurs. 13 Cf. par exemple la Confession d’Augsbourg (1530) dans les pays germaniques et la Confession de foi des Eglises Reformées de France, dite de La Rochelle (1559). 14 Cf. sessio III du concile de Trente (04 février 1546): magnitudinem rerum tractandarum considerans, praesertim earum, quae duobus illis capitibus de extirpandis haeresibus et moribus reformandis continentur, quorum causa praecipue est congregata (Wohlmuth 2002, vol. III – conciles des temps modernes). 15 Cf. infra, 367. 16 Mc, 16, 15, de même Matthieu 28, 19. Nous citons les versets bibliques selon La Saincte Bible nouvellement translatée de latin en françois, selon l’édition latine, dernièrement imprimée à Louvain, reveue, corrigée & approuvée par gens sçavants, à ce députez : à chascun chapitre sont adjouxtez les sommaires, contenants la matière du dict chapitre, les
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sage chrétien et pour en assurer la bonne maintenance. Protestants et catholiques pratiquent la prédication, l’instruction religieuse et les visites paroissiales. Mais, s’appuyant sur l’axiome extra ecclesiam nulla salus, c’est-à-dire, hors de l’Eglise, point de salut17, les catholiques fondent par ailleurs de nouveaux ordres, les jésuites et les capucins, voués entre autres à l’extirpation de l’hérésie, et en 1622 la Sancta Congregatio de propaganda fide.18 Les protestants ne disposèrent guère de tels moyens »défensifs«. Naturellement, les positions des Églises par rapport à l’apostolat et à leur situation en tant que représentantes de la croyance majoritaire ou minoritaire influencent non seulement la façon dont d’éventuels récits de conversion sont rédigés mais encore leur accueil chez les fidèles. Bien qu’un récit de conversion rédigé par un croyant (re)devenu catholique se distingue donc à plusieurs niveaux de son équivalent protestant,19 il y a cependant des points communs qui justifient la considération des récits de conversion écrits par les adhérents des différentes confessions comme une seule forme littéraire – un aspect qui deviendra encore plus évident entre le XVIIIe et le XXe siècles lorsque la lutte confessionnelle se sera apaisée. Il faut cependant concordances, & aucunes apostilles aux marges, Louvain 1550. Le texte ne dispose pas de numérotation de versets. Pour faciliter l’orientation, nous avons transposé le système courant. D’après les études de B. T. Chambers (Bibliography of French Bibles, 2 vols (XVe / XVIe et XVIIe siècle), Genève 1983 / 1994) c’étaient les Bibles sorties de la presse de Louvain qui furent les seules à être autorisées par les responsables catholiques et ainsi répandues du côté catholique. (ibid., »Introduction«, I – XV, ici XIIs). Très probablement, c’est le texte de ces bibles louvanistes que les nouveaux catholiques citent ou paraphrasent lorsqu’ils rédigent ou font rédiger leur récit de conversion. Se référant à la bible »catholique«, les nouveaux convertis montrent clairement qu’ils ont quitté le camp protestant, attaché à la bible élaborée par l’école de Genève. Ce sont les catholiques adhérant au culte adverse qui utiliseraient plutôt ces éditions-là. Pour le rôle de la bible au XVIe siècle cf. outre la bibliographie de Chambers G. Bedouelle / B. Roussel, Le temps des Réformes et la Bible (Bible de tous les temps, vol. 5), Paris 1989. 17 L’axiome provenant de l’époque des Pères de l’Eglise (cf. Cyprian, Epistula 73) résume la prétention universelle du christianisme, constatant que seulement celui qui croit en Jésus-Christ et qui appartient conséquemment à la communauté chrétienne jouira du salut éternel. En temps de crise, l’Eglise catholique accentua volontiers cette maxime, soulignant qu’elle seule fût la vraie Eglise de Jésus-Christ, contrairement par exemple aux Eglises réformées. Bernard Sesboüé synthétise très bien les problèmes suscités par l’abus de l’axiome et l’attitude moderne de l’Eglise catholique, présentés dans la Constitution dogmatique Lumen gentium de Vatican II dans son article: »›Hors de l’Eglise, pas de salut‹ – Cet axiome faussement clair (Y. Congar)«, Études 401 (2004), 65 – 75. 18 La Sancta Congregatio de propaganda fide fut fondée par le pape Grégoire XV afin de coordonner la mission intérieure et extérieure de l’Eglise catholique. Jean Paul II la transforma en 1988 en Congregazione pro Gentium Evangelisazione, adaptant les objectifs aux temps modernes. 19 Cf. infra, 367.
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ajouter que la dénomination »récit de conversion« ne provient pas des sources mais fut créée dans le cadre d’études historiques et théologiques. La notion de »conversion« est utilisée par les catholiques pour désigner tout retour dans le giron de l’Eglise catholique,20 les protestants ne parlant de »conversion« que lorsqu’il s’agit d’une conversion intérieure – la ìåôÜíïéá biblique. En conséquence, les écrits rapportant l’adhésion au culte protestant portent souvent des titres tels que Déclaration de . . ., Epistre de . . ., Profession de foi de . . ., courants également du côté catholique. A l’opposé des écrits connus depuis l’Antiquité touchant les conversions intérieures et réalisées dans différents genres littéraires souvent prestigieux (épopée, sonnet, ode, dialogue, essai, etc.), les récits de conversion dans les deux sens relatant une conversion extérieure sont en règle générale rédigés sous des formes simples, narré, déclaration, récit dans lesquelles la structure et le langage empruntés semblent ne pas avoir de grande importance. Ainsi, ils se présentent fréquemment comme écrits de circonstance, créés dans le feu des événements, ce qui leur rend une certaine authenticité et sert de plus à excuser l’une ou l’autre faille linguistique. De tels écrits répondent à la première exigence des deux côtés confessionnels, à savoir l’information de l’adversaire. Grâce aux bienfaits de l’imprimerie, catholiques et protestants ont la possibilité de publier les écrits en question dans d’assez brefs délais.21 En raison des intitulés parlant et stéréotypés comme L’heureuse conversion de . . . ; Ample et fidèle narré de la conversion de . . . , Declaration de . . . sur les raisons qui l’ont meu à se repartir de l’Eglise Romaine, il n’était pas toujours nécessaire de lire le texte complet ou de l’acheter car le message souhaité passait malgré la brièveté de la notice: »Voyez, vous avez (de nouveau) perdu un prédicateur éloquent«; »tenez, nous avons gagné votre Monsieur Untel«! 20 Cf. U. Lotz-Heumann, J.-F. Mißfelder, M. Pohlig, »Konversion und Konfession in der frühen Neuzeit. Systematische Fragestellungen.«, dans: U. Lotz-Heumann, J.-F. Mißfelder, M. Pohlig (ed.), Konversion und Konfession in der frühen Neuzeit, Gütersloh 2007, 11 – 32, ici 18. De fait, la notion »conversion« fut utilisée au XVIIe siècle pour désigner toutes sortes des changements idéaux. Cf. par exemple l’entrée »convertir« du Dictionnaire de Furetière: »convertir se dit figurément en choses morales, pour dire, Remettre les desvoyez dans la bonne voie, leur faire changer de mœurs et de créance« (A. Furetière, Dictionaire universel contenant generalement tous les mots francois tant vieux que modernes et les Termes de toutes les sciences et des Arts. La Haye, Rotterdam 1690) ou celle à propos de »conversion« du Dictionnaire de l’Académie françoise (1694) »Il se dit aussi en matiere de Religion, et de morale, & signifie Changement de croyance de sentiments et de mœurs de mal en bien«. Vu ces ambiguïtés, les différences confessionnelles ne sont guère étonnantes. 21 A vrai dire, les catholiques français disposaient de beaucoup plus de possibilités de faire imprimer les ouvrages que leurs compatriotes protestants, restreints par le petit nombre d’officines. Cf. R. Chartier, H.-J. Martin (ed.), Histoire de l’édition française, 5 vols, Paris 1982 / 1984, ici vol. I, 329s.
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Indépendamment de son contenu, c’est-à-dire des arguments qui pourraient exciter les esprits, le récit de conversion peut devenir un instrument de polémique religieuse – par le seul fait d’exister. Surtout dans les petites communautés où les gens se connaissent assez bien, l’information qu’un ou même plusieurs coreligionnaires ont quitté le camp, provoque souvent des ressentiments et peut ainsi déclencher soit le désespoir religieux – et par suite d’autres changements de confessions – soit des troubles. Outre la quantité, c’est la qualité des gens qui changent de côté qui décourage l’un et fait triompher l’autre parti: la »perte« d’un ministre (i. e. un prédicateur calviniste), d’un prêtre ou d’un moine, des personnes donc qui sont les mieux instruites en matière de religion et donc jusqu’à présent responsables de la diffusion et de la défense de la foi, entraîne certainement plus de conséquences administratives et surtout »psychologiques« que l’abandon d’un »simple« croyant. Cela vaut également pour les nobles et les intellectuels (médecins, hommes de loi, lettrés). Lorsqu’une telle personne connue adhère au culte adverse, ceci est souvent perçu par les anciens coreligionnaires avec indignation et comme déloyauté. Un exemple pour les réactions décrites et l’efficacité des récits de conversion en tant qu’écrits de controverse est l’ouvrage paru à l’occasion de la conversion au catholicisme en 1622 de François de Bonne, Duc de Lesdiguières.22 Celui-ci comptait parmi les nobles réformés les plus connus, ancien combattant des guerres de religion et pendant des années porte-parole des huguenots à la cour royale de France.23 Son récit de conversion provoqua maintes réactions et chez les catholiques – exprimant leur joie – et chez les protestants qui se sentirent trahis par lui, d’autant plus qu’il reçut la charge de connétable le lendemain de sa conversion, ministère inaccessible pour un réformé à l’époque. Le cas du Duc de Lesdiguières souligne la valeur politique qu’ont, au XVIe et surtout au XVIIe siècles, les changements de confession et les ouvrages qui en témoignent. Si on considère les années de parution des ouvrages qui nous sont parvenus, on peut observer que le plus grand nombre de récits de conversion relatant l’adhésion à la foi catholique, a été rédigé et publié en temps de guerre ou de crise, à savoir pendant les années 1610 – 1630. Un phénomène parallèle se fait remarquer de l’autre côté du Rhin: la plupart des récits de conversion paraissent entre 1600 et 1650. C’est donc à juste titre que Jacques Solé désigne les récits de conversion comme »continuation de la guerre civile par d’autres moyens.«24 22 Cf. [Anonym], La Conversion de Monsieur le Duc Desdiguières à la Religion catholique, apostolique & Romaine. Ensemble le Brevet de l’Estat de Connetable de France à luy envoyé par Sa Majesté le Septiesme Iuillet 1622, Paris 1622. 23 Cf. J.-F. Mißfelder, »Zum König konvertieren: Zur politischen Funktion von Konversionsberichten im Frankreich des frühen 17. Jahrhunderts«, dans: Lotz-Heumann, Mißfelder, Pohlig (ed.), Konversion und Konfession in der frühen Neuzeit, 147 – 169, surtout 157s.
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Par analogie, le nombre de récits de conversion diminuent de façon significative pendant les périodes plutôt calmes, entre 1630 et 1670 en France, entre la paix d’Augsbourg en 1555 et la fin du siècle, et de nouveau après les traités de Westphalie, 1648, dans l’Empire. La nette augmentation du nombre d’ouvrages publiés dès le début du règne personnel de Louis XIV s’explique par les mesures restrictives et discriminatoires contre les protestants, prises par le roi et qui mènent à la révocation de l’Edit de Nantes (1598) par celui de Fontainebleau en 1685: troublés par exemple par la suppression successive des pratiques huguenotes, l’interdiction d’exercer certains métiers et les restrictions dont souffrent les établissements de formation calviniste,25 beaucoup de protestants décident finalement de se convertir et sont donc souvent priés de rédiger le récit de leur conversion, publié aussitôt par les autorités catholiques en tant qu’appel à changer de côté, adressé aux anciens coreligionnaires du nouveau converti. Pour bien juger l’impact politique du changement de confession et du récit qui le relate, il ne faut pas seulement voir les hommes en tant que membres de l’une ou l’autre Eglise chrétienne, mais les considérer de même comme fidèles sujets de leur souverain. Vu les rapports étroits entre les affaires religieuses et les affaires politiques en France et en Europe, il est évident qu’un changement de confession pouvait toujours être ressenti comme acte de loyauté ou de déloyauté envers le prince. C’est pourquoi en France au XVIIe siècle, se développe le slogan »se convertir au roi« pour désigner les conversions au catholicisme souvent mises en question pour ce qui est de la sincérité de l’expérience spirituelle vécue.26 Un reflet significatif de la liaison entre l’Eglise catholique et le Roi Très-Chrétien, protecteur de cette vraie Eglise est donné par les panégyriques présents dans maints récits de conversion, écrits à l’occasion de l’adhésion au catholicisme: au moment de l’échec montalbanais27 l’auteur de L’Admirable Conversion de [ . . . ] Monsieur Blanc insère dans le récit une louange de Louis XIII, le fêtant comme futur garant de l’unité religieuse du royaume: Ce qui est dit afin que les errans retournent au bon chemin, qui est la religion Chrestienne & antique de nos peres & ayeuls, & qu’ainsi finalement nous ayons une mesme foy & une loy, sous un mesme Roy tout remply de Clemence [ . . . ] vive, vive le Roy Louys, plein de Clemence & de bonté nonpareille.28 24 J. Solé, Le débat entre protestants et catholiques français de 1598 à 1685, Lille, Paris 1985, 11. 25 Pour les mesures prises cf. par exemple Janine Garrisson, L’Edit de Nantes et sa révocation. Histoire d’une intolérance, Paris 1985, surtout 119s. 26 Cf. Mißfelder, 169. 27 Cf. Garrisson, 67 / 68. Après avoir assiégé la ville de Montauban du 21 août au 13 novembre 1621, Louis XIII dut lever le siège et se retirer car il manquait d’armes et de soldats, tués par la peste ou lors des combats.
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Il est évident que de telles paroles flatteuses prononcées dans une situation de crise servent de captatio benevolentiae. En les utilisant l’auteur cherche à préparer la voie afin que le converti en question soit bien accueilli dans le parti catholique et ait toutes les chances de recevoir une charge honorable. Une intention semblable se révèle de même dans un autre récit de conversion, paru en 1627. Là, l’auteur désigne les »rebellions contre nos Roys, & les factions & conspirations« du parti protestant »contre son estat«29 comme un des motifs de sa conversion et se montre ainsi fidèle sujet de son prince . . . Aux XVIe et XVIIe siècles, le fait de changer de confession n’est pas seulement une décision concernant la vie religieuse. L’intégration sociale y est également en jeu. Celui dont la conversion est relatée et dont le nom apparaît dans l’intitulé, ne peut plus se cacher et risque de perdre tous liens personnels et institutionnels. Pour lui assurer d’être accepté par ses nouveaux coreligionnaires, on doit mettre en œuvre toutes sortes de stratégies rhétoriques afin que le récit de conversion soit néanmoins lu. Car tandis que les nouveaux adhérents à la confession minoritaire sont en règle générale bien accueillis par la communauté, puisque l’acte commis promet plus d’inconvénients que de privilèges et sont ainsi jugés sincères, les coreligionnaires de la confession majoritaire tiennent souvent les nouveaux venus à l’écart, les soupçonnant de n’avoir changé de camp que pour jouir des avantages d’appartenir à la religion soutenue par les autorités.30 Considérant les récits de conversion rédigés à l’époque,31 on trouve, en règle générale, un lot de thèmes fréquents – différents selon les confessions – et trois sortes de procédés utilisés par les auteurs pour surmonter les difficultés men28 Anonyme, L’Admirable Conversion de l’un des pretendus Ministres de Lyon, dict Monsieur Blanc, en la foy Catholique, Apostolique & Romaine. Avec l’acqueil Royal de Pons, & le Cordial. [illisible] de ceux de Montauban, Paris 1621, 9 / 10. 29 Declaration des Motifs qui ont porté Antoine Rudavel ministre de la Salle ès Cevennes à l’Abjuration de la Religion prétendue Réformée. Faite par luy solennellement dans l’Eglise de Montpellier. En mains de Monsieur Rebussi, vicaire general de Monseigneur L’Evesque. Le 10 Avril 1627, Paris 1627, 27. Cf. également: »Dieu, m’ayant tousjours fait la grace de ne respirer que l’honneur, le service & l’obeyssance de nos Roy [ . . . ]« (ibid., 27). 30 Cf. B. Dompnier, Le venin de l’hérésie. Image du protestantisme et combat catholique au XVIIe siècle, Paris 1985, 106ss. 31 Grâce aux inventaires dressés par Andreas Räß au XIXe siècle et par Louis Desgraves au XXe siècle, beaucoup de récits sont de nos jours repérables dans les bibliothèques européennes. En France, outre la bibliothèque municipale de La Rochelle, ce sont surtout la BNF et la Bibliothèque de la Société de l’Histoire du Protestantisme de France à Paris qui disposent de fonds importants (Cf. A. Räß, Die Convertiten seit der Reformation nach ihrem Leben und aus ihren Schriften dargestellt, 13 vols, Fribourg-en-Brisgau 1866 – 1880; L. Desgraves, Répertoire des ouvrages de controverse entre Catholiques et Protestants en France (1598 – 1685), 2 vols, Genève 1985).
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tionnées et pour garantir, tant que possible, l’accueil positif de l’écrit et de celui qui a changé de côté. Naturellement le choix de l’un ou l’autre procédé, à savoir le recours aux autorités, l’emploi de certaines métaphores, formes d’expression etc., ou le fait de fournir dans le récit d’autres informations que celles concernant directement le changement de confession, dépend de nouveau de la confession à laquelle on adhère, mais en outre des qualités d’écrivain de celui qui écrit et du public auquel il s’adresse. Tandis que les récits de conversion écrits par des nouveaux protestants sont dans la majorité rédigés par eux-mêmes, une grande partie des conversions au catholicisme est relatées par un tiers, un proche parent, un responsable de la nouvelle paroisse, un ami. Dans ces cas-là, le récit prend souvent un ton apologétique et s’adresse aux anciens coreligionnaires du converti. Après le décès de Poilevé, converti alors qu’il est déjà grièvement malade, Bertrand, un ami du défunt rédige le récit de sa conversion sous forme de lettre adressée au souverain de la ville pour »dissiper quelques fausses persuasions de quelques Religionnaires, (qui) ne peuvent s’imager que ceste conversion ayt esté vraye, non dissimulée & exempte de contrainte«.32 Accentuant son message par l’emploi excessif de superlatifs33, l’auteur »prouve« un des motifs de conversion de Poilevé: Et c’est de cette Conversion mesme que Messieurs les Religionnaires (s’ils la veulent considerer sans passion) doivent tirer une raison très-forte, qui leur apprendra que l’Eglise Romaine est la seule Eglise de Jesus Christ : car il est nullement probable, que la bonté infinie de Dieu, qui ne desire rien tant que le salut des hommes, eust permis que celuy-là, de qui la longue vie estoit moralement tres-vertueuse, après avoir esté l’espace de 65 ans dans la vraye Eglise, s’en fut departy sur la fin de ses jours, auquel temps principalement Dieu estoit, si semble, obligé par sa bonté à luy continuer ses divines faveurs. Croye qui voudra le contraire, mon esprit appuyé sur la desmesurée bonté & misericorde de Dieu, n’est capable de recevoir aucune persuasion sur ce point.34
Il n’y a que la formule plutôt ironique de la fin qui affaiblisse un peu le ton acerbe du passage – trop polémique en 1630. La question évoquée ici, à savoir laquelle des Eglises chrétiennes est celle qui assure le mieux le salut de l’âme des croyants, est un des thèmes fréquemment 32 M. Bertrand, La conversion de Monsieur Poylevé cy-devant premier arcboutant de la Religion Prétendue Reformée de Limoges, converty à la foy catholique, Apostolique et Romaine. Envoyée à Monseigneur le Vicomte de Rochechouart, Baron de Sainct Germain & autres places, Conseiller du Roy en ses Conseils d’Estats, Chevalier & Capitaine de cent homme d’armes de ces ordonnances, Paris 1630, 5. 33 Cf. par exemple Bertrand, Conversion de Monsieur Poylevé, »l’extreme desir« (4); »estonnement & de tres-honneste entretien« (ibid.); »fort particulierement affectionné« (5); »les graces fort singulieres« »tres-grande misericorde« (ibid.). 34 Bertrand, Conversion de Monsieur Poylevé 14 / 15. Nos mises en valeur.
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discutés par les auteurs des récits de conversion »catholiques«.35 En outre, il y a d’autres aspects régulièrement approuvés dans l’acception catholique – la messe opposée à la Cène36, l’ancienneté d’une Eglise par rapport à la nouveauté des autres37, l’idée de la succession apostolique38, la justification non pas seulement par la foi mais encore par les bonnes œuvres39, le rôle des saints40 – figurant tous comme motifs de conversion. Ces thèmes ne diffèrent aucunement des articles discutés lors des controverses théologiques entre catholiques et protestants, engagées par exemple par de célèbres controversistes tels que François Véron ou Pierre Du Moulin, et dont les arguments remplissent désormais les pages de la littérature de controverse.41 Par contre, dans les récits relatant l’adhésion au protestantisme, les listes de motifs de conversion contenant les aspects contestés dans les controverses sont très rares. 35 Cf. par exemple [Daniel Bourguignon], L’heureuse conversion de sieur Daniel Bourguignon, cy devant Ministre de la Religion pretendue reformée, es villes de Gien & Iargeau & autres lieux, préz d’Orléans. A la foy Catholique Apostolique & Romaine, Paris 1613, 10: »Il n’y a point deux Barques pour parvenir au port salutaire. Qui n’entre en la bergerie est en danger d’estre devoré par les bestes farouches. Qui ne se range en la maison de l’Eternel est en chemin de damnation.« L’axiome de extra ecclesiam nulla salus y est évidemment en jeu. 36 Cf. par exemple Bertrand, Conversion de Monsieur Poylevé, 12. Avant de se convertir, Poylevé discuta sur ses »quelque difficulté sur la Transsubstantiation« avec un père Jesuite. 37 Cf. par exemple [Jean Haren], Les causes iustes et equitables, qui ont menes Jean Haren, iadis ministre, de quitter la Religion pretendue Reformee, pour se ranger dans le giron de l’Eglise catholique, Paris 1586, 1r: »les marques de la vray Eglise qui sont: L’ancienneté, l’union, la generalité & succession que iamais il n’avoit sceu trouver entre lesdits Protestans«. 38 Cf. par exemple L’Admirable Conversion de [ . . . ] Monsieur Blanc, 5 / 6: »Il a amplement escrit pour luy en demander pardon, en le recognoissant à present vray successeur de S. Pierre«. En ce qui concerne la succession apostolique cf. également Declaration des Motifs qui ont porté Antoine Rudavel, 30: »par la suitte successive des Prestres, depuis le siege de S. Pierre«. 39 Cf. Causes iustes et equitables, qui ont menes Jean Haren, 22v: »Des bonnes œuvres & de la iustification«. 40 Cf. [H. S. Du Rosier], Confession de Foy faicte par H. S. du Rosier avec abjuration & detestation de la Profession Hugenotique : faicte tant par devant Prelats de l’Eglise Catholique & Romaine, que Princes du sang Royal de France & autres, ensemble la refutatio˜ de plusieurs poincts, mise ne en avant par Calvin & Beze, contre la Foy et Eglise Apostolique, Paris 1573, 27r: »maintenant persuadé par la grace de nostre saveur Iesus Christ qu’estoient doctrines fausses & à fuir, [ . . . ] que pareillement n’estoit rien la veneration des sainctes reliques ny les prieres des saincts«. 41 Cf. l’intitulé du répertoire de Desgraves, 1985, ainsi que L. Desgraves, »Un aspect des controverses entre catholiques et protestants, les récits de conversion (1598 – 1628)«, dans: Louise Godard de Donville (ed.), La conversion au XVIIe siècle. Actes du XVIIe Colloque de Marseille (janvier 1982), Marseille 1983, 89 – 110, ici 89 / 90. Pour les controverses cf. Dompnier, Le venin de l’hérésie, 169ss.
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Après avoir quitté l’Eglise romaine et s’être enfui à Sedan, de Vrillac écrit à son père pour lui expliquer sa décision: Le Seigneur m’a fait la grace de recognoistre d’un costé les erreurs, superstitions & heresies qui sont en l’Eglise Romaine, nouvelle & corrompuë, & de l’autre la pure verité enseignée és Eglises repurgées de la nouveauté du Papisme, & reformées à la vraye antiquité des Prophetes et des Apostres.42
Les nouveaux protestants expliquent leur conversion non par les dogmes établis depuis peu pour contredire ceux de l’Eglise catholique, mais plutôt par l’enseignement du Christ même. En réponse à l’exhortation évangélique: »Si aucun veult venir apres moy, qu’il renye soy mesmes, & [illisible] tous les iours sa croix & m’ensuyve«43, ils rapprochent leur décision de quitter l’Eglise catholique et leur entrée dans l’Eglise protestante de l’idée de renoncer à la vie: Cette obiection estoit d’autant plus forte contre moy, que ie suis en un aage, qui pour l’ordinaire est affamé de plaisirs & alteré de loüanges, & que le progrés de mes estudes m’avoit mis sur les degrés, qui conduisent aux honneurs, ausquels la faveur de mes amis sembloit m’ouvrir la porte [ . . . ]. Et ce qui m’a le plus consolé a esté la response du Sauveur. En verité ie vous dy, Que quiconque aura delaißé. maisons ou frere, ou sœurs, ou pere, ou mere, à cause de l’Evangile, & à cause de mon nom, en recevra cent fois autant, & heritera la vie Eternelle. Et parant ne plus ne moins que les Apostres abandonnerent leurs rets pour suivre Iesus-Christ, ie me suis despestré de ces vains soucis, & de ces esperances trompeuses, qui enlaçoient mon esprit.44.
Pistorius, ancien calviniste qui a quitté l’Eglise protestante pendant quelque temps annonce, dans son récit de conversion, le retour au sein de celle-ci et explique sa décision prise trois ans plus tôt. Comme Vrillac, il admet »la licence de ma ieunesse, l’amour du siecle & un mauvais chagrin m’avoyent fait sortir de devant l’Eternel pour trouver des logemens au monde«.45 Rentrer dans l’Eglise réformée est ainsi mis en parallèle avec le renoncement à la vie, exigé par le Christ. La conversion extérieure prend ici la forme d’une conversion intérieure, et correspond au retour sur la bonne voie, et à l’enseignement de la Bible. Dans le cadre de la théologie protestante, basée sur le principe de sola scriptura, la raison pour laquelle ces auteurs construisent leurs récits de la façon donnée est évidente. Certainement, du côté catholique, ces appels à suivre le Christ ne sont pas infructueux, quoiqu’ils servent de même à expliquer une conversion – mais ce n’est qu’un motif parmi bien d’autres. 42 De Vrillac, Epistre envoyée par le sieur de Vrillac, Advocat au Parlement de Paris, au sieur de Vrillac son pere. Sur le suiect de sa conversion, Sedan 1623, 4. 43 Lc, 9, 23, de même Mt. 10, 38; Mc, 8, 34. 44 De Vrillac, Epistre envoyée par le sieur de Vrillac, 11 / 12; 15 / 16.
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La citation ou la paraphrase de passages de la Bible ou d’auteurs avérés – avant tout Augustin – est certainement le procédé le plus souvent utilisé par les adhérents à l’un ou l’autre camp. Puisque les récits de conversion sont rédigés soit par un ancien protestant issu d’une tradition basée sur les Ecritures soit par un adhérent au protestantisme qui cherche à persuader ses nouveaux coreligionnaires de son attitude évangélique, non catholique, il est tout à fait compréhensible que les récits abondent de citations bibliques. Il faut ajouter qu’Augustin lui-même, en tant que père de l’Eglise, était reconnu par les protestants. Sa bonne réputation se base surtout sur les travaux de l’évêque d’Hippone sur les lettres pauliniennes qui ont contribué à la conception du principe de sola gratia, cher aux protestants. Calvin garde toujours une opinion assez favorable envers lui et quelques-uns de ses enseignements. L’idée de suivre le modèle augustinien est donc jugée de façon positive par les catholiques et les protestants. A part les versets déjà mentionnés, ce sont les paraboles de la brebis égarée et de l’enfant prodigue46 qui servent à illustrer la situation de l’adhérent et de l’Eglise accueillante. Dans le récit de conversion des ministres Cellette et Rigot par exemple, l’un des deux décrit son abandon de l’Eglise catholique, à laquelle il est retourné depuis peu, comme suit: »se remettre et reduire au giron de l’Eglise Catholique, Apostolique et Romaine, ma Mere [ . . . ] de laquelle j’estois sorty comme un second enfant Prodigue«.47 Un recours à certaines autorités revient toujours à l’inscription dans une tradition. En insérant des versets de la Bible et des allusions plus ou moins concrètes aux récits de conversion modèles – celle de Paul dans les Actes ou celle déjà évoquée d’Augustin – les auteurs cherchent à souligner que les retours effectués aux XVIe et XVIIe ont autant d’importance pour l’Eglise que les conversions phares. Comme les textes relatant les conversions de Paul et d’Augustin sont bien connus parmi les »convertis«, les auteurs s’habituent à employer les métaphores et expressions utilisées dans ces passages, ce qui leur promet d’être compris. Cela se voit par exemple dans l’usage excessif des notions appartenant d’un côté au champ métaphorique de »l’aveuglement« et des »écailles tombées«, 45 [D. Pistorius], Confession et Reparation Publique, faite en l’Eglise d’Orange, le 18 Iuin 1623. Par la propre bouche de Daniel Pistorius, natif de Nismes, lequel a esté esgaré de la vraye Religion reformée durant trois ans, Nismes 1623, 3. 46 Lc 15, cf. supra, note 5. 47 Le Heurt, L’Heureuse Conversion de deux ministres appellez M. Pierre Cellette cy devant ministre de Bergerac en Perigord et M. Gilles Rigot, ministre de Clerac en Agenois. Lesquelz se sont rendus à la Foy Catholique, Apostolique, Romaine, quietans les Erreurs de la Pretenduë Reformée, ayant vescu es abus d’icelle vingt-deux ans. Avec la Confessions de Foy qu’ils ont faicte et abjuration de l’heresie Calvinienne en l’Eglise de Perigord le XVI de May 1611, Paris 1611, 4.
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présent dans le rapport de la conversion de Paul: »Et incontinent cheurent de ses yeux comme escailles; & receut la veue. Puis se levant, fut baptizé«48, de l’autre au domaine de la »lumière« et des »ténèbres«, employées par Augustin: »il se répandit dans mon cœur comme une lumière calme qui dissipa toutes les ténèbres de mes doutes«.49 Les auteurs de récits de conversion des différents camps se sont appropriés ces expressions – parfois en mélangeant les deux traditions – par exemple pour désigner le statut de toute »brebis errante« qui n’est toujours pas arrivée dans la bonne Eglise: »Plaise à la divine bonté leur dessiller les yeux, & les eclairant de la celeste lumiere, leur faire cognoistre qu’hors l’Eglise Romaine, il n’y peut avoir aucune esperance de salut.«50 Il y a certainement d’autres champs métaphoriques également pris dans la tradition biblique ou patristique (p. ex. la voie, les images de la grâce divine, la voix) qui remplissent une fonction semblable, à savoir de fournir une aide à la traduction d’un langage utilisé par les auteurs pour exprimer une expérience spirituelle difficile à saisir en paroles. Nous nous limiterons à en examiner un seul exemple complémentaire: le domaine de la bataille. Ainsi que leur modèle Augustin, les auteurs des récits de conversion admettent que la conversion présente la dernière étape d’un long chemin au cours duquel le croyant doit franchir divers obstacles. Pour exprimer ces difficultés, ils se servent d’un vocabulaire guerrier.51 Le rapporteur anonyme de la conversion d’un gentilhomme nommé Marcha décrit cette phase difficile comme suit: Le voila bien avant engagé en l’erreur & enveloppé és tenebres de l’infidelité obstinée, non toutefois sans avoir souvent des touches de Dieu et de vives attairites de son esprit, principalement pendant ces deux dernieres années. [ . . . ] La dessus il fueillette les livres, balance long-temps les raisons de parti & d’autre; & apres plusieurs combats Dieu operant en son ame, & luy le suivant par sa cooperation, Dieu & la verité qu’il avoit recognuë si clairement dans les Saincts Peres, mesmes des quatre premiers siecles emporterent la victoire.52 48 Ac 9, 18. Les deux autres récits à propos de la conversion de Saul sont de très courts résumés de la part de Saul / Paul lui même dans lesquels le moment décisif n’est guère évoqué (Cf. néanmoins Ac 22, 13). 49 Augustin, Confessions VIII, 12; Confessiones: statum quippe [ . . . ] quasi luce securitatis infusa cordi meo omnes dubitationis tenebrae diffugerunt. 50 Bertrand, Conversion de Monsieur Poylevé, 17. Cf. note 17. 51 Cf. le passage déjà évoqué des Confessions VIII, 5: »qui se combattoient«; Confessiones: confligebant inter se. 52 Anonyme, La conversion de P. Marcha Sieur de Pras, cy devant Ministre en Vivarais és pays de Languedoc. Rouen 1617, 8; 15. Cf. également le récit de A. G. Volusius, ancien ministre calviniste de Hesse et futur évêque auxiliaire de Mayence; (A. G. Volusius), Adolphi Godefridi Volusii Hanoviensis Calvinismi fugiendi et fidei Catholicae eligendae Consilium maturum et rationabile, Mayence 1638, dans: Räß, Die Convertiten seit der Reformation, Vol. V (1621 – 1638), 516 – 545, ici 521.
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L’idée d’exprimer un tel état d’âme par l’image de la bataille remonte à un contemporain d’Augustin, nommé Prudence. Celui-ci décrit le combat qui se déroule dans l’âme – d’où le titre de son œuvre Psychomachie (ìÜ÷ç 7í ôB' øõ÷B') – à l’aide d’une bataille allégorique opposant les vertus et les vices.53 Dans les adversaires acharnés que l’auteur fait entrer en lutte, la Chasteté contre la Luxure, la Vanité contre l’Humilité, la Charité contre la Cupidité etc.54 on peut très bien reconnaître les forces qui travaillent les âmes des croyants, qui les retiennent et les poussent dans diverses directions. Depuis la naissance du concept de psychomachie, celui-ci est utilisé par les auteurs pour exprimer les luttes intérieures – mais, au cours des siècles, en dessinant des scénarios de moins en moins militaires55 – cependant toujours dans le but de »traduire« une situation insaisissable par de simples mots. Naturellement ces situations ne se produisent pas seulement pendant la période précédant une conversion extérieure, mais encore lors des conversions intérieures, révélées par exemple sous forme d’autobiographie spirituelle dans les siècles suivants.56 Avant d’aborder le troisième procédé de style récurrent dans les récits de conversion, nous tenons à indiquer la présence évidente du principe de la conversion par imitation, de même initié par Augustin. Dans la majorité des textes, l’auteur exprime de fait le souhait de raconter ses expériences pour qu’elles puissent amener les autres à la conversion.57 L’idée de fournir dans les récits d’autres informations que celles qui sont en rapport direct avec le changement de confession se retrouve surtout dans les récits relatant la conversion de personnages connus. L’auteur du récit de la conversion de Marcha formule son intention extra religieuse de façon explicite: »Les particularitez sont remarquables, partant ie deduiray un peu au long l’affaire, y adioustant les circonstances, afin qu’on ait plus de satisfaction & contentement«.58 Puis il énumère minutieusement toutes les personnes importantes ayant assisté aux cérémonies, décrivant leur accoutrement, leur place pendant la messe, 53 Prudence, »Psychomachie«, dans: Prudence (III), Psychomachie, Contre Symmaque, Lt / frç, texte établi et traduit M. Lavarenne, Paris 1948, 7 – 82. 54 Cf. Prudence, Psychomachie, vv. 40108; 178 – 309, 454 – 629. 55 B. Jakobs, V. Kapp (ed.), Seelengespräche, Berlin 2008, passim. 56 Cf. ibid., »Einleitung«, 9 – 18. Pour la forme augustinienne de la psychomachie, cf. G. Niggl, »Rede und Gespräch in Augustins Confessiones«, dans: Jakobs, Kapp (ed.), Seelengespräche, 41 – 56. 57 Cf. par exemple Confession et Reparation Publique [ . . . ] par [ . . . ] Pistorius, 8: »ramener les desvoyez, edifier mes prochains par bon exemple« ou Epistre envoyée par le sieur de Vrillac, 30: »Car ie me sens obligé à vous rendre compte de mes actions, & ie m’estimerois heureux, si ce peu de lumiere que Dieu m’a communiqué pouvoit esclaircir vos tenebres«. 58 Anonyme, La conversion de P. Marcha, 6.
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leur dévotion extraordinaire . . . 59 Le rapport des événements culmine dans »la response de sa Maiesté« également présente, qu’il entame apres que i’auray remarqué avec toute ceste grande assemblée, combien ce bon Prince donna de tesmoignage de pieté vrayement Catholique ce jour-là.60
L’emploi de la première personne du singulier – preuve d’authenticité – et le choix des renforçants indique que le présent récit sert autant à relater une expérience spirituelle qu’à livrer un témoignage précieux pour tous ceux qui s’intéressent aux événements sensationnels. Vu que le principe de voir et d’être vu était en vigueur à l’époque tout comme de nos jours, un tel rapport équivaut bien la présence même d’une personne et fournit de quoi parler lors d’une prochaine rencontre au salon, au bal . . . Les récits relatant le changement de confession d’une personne de qualité pouvaient donc également remplir la fonction qu’a de nos jours la presse du cœur. Les caractéristiques décrites sont valables pour les récits de conversion parus aux temps de la Réforme et de la confessionnalisation. Mis à part le ton plus ou moins polémique, ni leur forme ni leur fond ne changent de manière essentielle au cours de cette période pourtant assez agitée. Pour qu’une forme littéraire aussi stable que le récit de conversion relatant un changement de confession disparaisse, il faut que les circonstances dans lesquelles il avait pris naissance aient complètement changé. Dans le cas des récits de conversion, la conditio sine qua non fut la lutte confessionnelle. Même si le conflit ne s’arrête pas net à la révocation de l’Edit de Nantes en 1685, une vague d’ouvrages de controverse en fait preuve, l’unité religieuse est dès lors rétablie – du moins sur le papier – et l’intérêt pour les questions politico-religieuses diminue de façon significative. Le devoir d’information jusqu’alors assumé par les récits est désormais rempli par les journaux – ne fournissant cependant que des avis favorables aux catholiques. Tandis qu’il y a toujours des textes »catholiques«, pourtant de plus en plus rares, jusqu’à la fin du règne de Louis XIV, les récits »protestants« n’existent plus guère, fait compréhensible en situation de menace: ils ne veulent pas attirer l’attention des autorités.61 Bien que la forme littéraire considérée comme rapport d’une conversion extérieure expire pendant les premières décennies du XVIIIe siècle, la liaison entre littérature et conversion continue à exister et semble avoir regagné son 59
Ibid., 5ss. Ibid., 15. Nos mises en valeur. 61 A l’exception des protestants cévenols qui résistent longtemps aux mesures répressives de l’Edit de Fontainebleau (Cf. P. Gisel [dir.], Encyclopédie du protestantisme, Paris, Genève 2006, entrée Cévennes). 60
Continuité ou rupture?
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aspect précédent, c’est-à-dire sa forme de conversion intérieure. Cette tendance se manifeste d’abord dans les courants de renouvellement religieux de la fin du XVIIe et surtout du XVIIIe siècle, dans le quiétisme et le piétisme (avec son »jumeau« anglais, le puritanisme) ou dans des mouvances charismatiques. Un des personnages les plus liés au concept de la conversion fut August Hermann Francke (1663 – 1727), pasteur luthérien et professeur de théologie, puis fondateur d’établissements sociaux et scolaires à Halle / Saale. Sa conversion devient vite un prototype de la dévotion piétiste.62 L’existence d’une conversion-modèle rappelle le principe de la conversion par imitation et donc une des lignes de force de la forme littéraire »disparue«. L’autorité de ce précepte se reflète à merveille dans les projets bio-bibliographiques réalisés depuis le XIXe siècle dont celui de Räß a déjà été évoqué. Lorsque l’auteur souligne dans la préface de son premier tome, combien la vraisemblance entre les événements lus et les expériences vécues par le lecteur peut être fructueuse pour ce dernier63 il indique la façon dont il aimerait que cet ouvrage soit compris: comme appel moral à l’imitation. D’autres travaux semblables sont ceux de Lamping (1935), O’Brien (1949 – 1954), Lelotte (1954), et Maritain (1954), ce dernier même rédigé par une convertie.64 Les dates de parution de ces volumes laissent supposer que le XIXe et le XXe siècles ont été les nouveaux temps forts des conversions.65 Effectivement, c’est surtout le courant initialement culturel du romantisme qui suscite un éveil reli62 Cf. [A. H. Francke], Selbstzeugnisse August Herrmann Franckes. Aus Verkündigung und Lebensberichten, ausgew. u. eingel. E. Beyreuther, Marburg / Lahn 1963, 18 – 25. En tant que théologien protestant, Francke était en train de préparer un prêche à propos de Jn 20. 31 lorsqu’il se rendit compte qu’il ne croyait pas de façon vive et véritable. Ce n’est qu’après plusieurs jours de désespoir que Francke pria Dieu, auquel il ne croyait pas, d’arrêter ses tourments – et fut entendu »so erhörte er mich plötzlich« (ibid., 22). À la fin de son récit, Francke établit lui-même une parallèle avec Augustin (Cf. Confessions, VIII, 10 – 12). Comme celui-ci, depuis sa conversion (intérieure) il renonça volontiers à tous les plaisirs mondains (ibid., 25). Pour le rôle de Francke dans le mouvement piétiste cf. Baumgartner SJ (ed.), Dictionnaire de spiritualité, entrée: piétisme. 63 Cf. Räß, Die Convertiten seit der Reformation, t. I, p. IX: »[ . . . ] je wärmer er (i. e. le lecteur) den fremden Kampf mitzukämpfen sich angeregt fühlt, der mit den eigenen inneren Kämpfen eine tiefinnerste Verwandtschaft zeigt: desto bedeutsamer werden ihm diese Lebensbeschreibungen werden, desto mehr geistigen Nutzen wird er daraus schöpfen«. 64 Les conversions relatées dans ces recueils sont presque toutes des conversions intérieures, partant d’une foi refroidie dès l’adolescence et alors réchauffée. A part celles-là, il y a quelques conversions du judaïsme ou des églises orientales à l’église catholique. Cependant, l’un ou l’autre changement est qualifié de »conversion«. Cf. note 20. Pour une présentation et une analyse critique de ces ouvrages collectifs cf. K. Aland, Über den Glaubenswechsel in der Geschichte des Christentums, Berlin 1961, surtout 99ss. 65 Cf. de même que quelques récits de conversion évoqués ici ont été réimprimés pendant cette période.
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gieux en Europe. Un des personnage-clefs de cette revivification en France est Chateaubriand.66 Son œuvre Génie du Christianisme ou Beautés de la Religion chrétienne (1802), propageant une religion basée sur l’expérience esthétique et la redécouverte du »code chrétien« dans le monde, a beaucoup de succès à l’époque et arrive à (re)sensibiliser la société de l’époque à la religion, à savoir à la faire chercher la bonne voie. L’auteur lui-même en donne un exemple: dans la préface de l’édition princeps il décrit sa conversion à la religion de son enfance: Ces deux voix sorties du tombeau (i. e. celles de sa mère et de sa sœur), cette mort qui servait d’interprète à la mort m’ont frappé. Je suis devenu chrétien. Je n’ai point cédé, j’en conviens à de grandes lumières surnaturelles, ma conviction est sortie du cœur: j’ai pleuré, j’ai cru.67
La parenté avec les récits de conversion du XVIe et XVIIe siècle est évidente, le langage emprunté pour exprimer l’expérience n’a guère changé. Huysmans, autre converti ayant renoué avec la religion en 1892 décrit le »moment de retour« dans En retour comme suit: Il n’y a pas eu de chemin de Damas, pas d’événements qui déterminent une crise; il n’est rien survenu et l’on se réveille un beau matin, et sans que l’on sache ni comment ni pourquoi, c’est fait.68
Comme on l’observe dans les deux rapports, les traces des procédés utilisés auparavant pour l’expression d’une conversion extérieure y sont toujours repérables. A une époque où la religion chrétienne est juste en train de reprendre pied, le fait d’appartenir à l’une ou l’autre confession n’a plus d’importance.69 Les catégories »extérieure« et »intérieure« ne jouent plus aucun rôle. C’est l’idée de se montrer chrétien qui fait éclat. Après la »disparition« de la forme littéraire du récit de conversion, les textes multiformes relatant les conversions intérieures prirent le relais: en adoptant en partie les caractéristiques de la forme »expirée« et – depuis la fin du XIXe siècle – en héritant de son impact psychologique et social. Les réactions acerbes et parfois restrictives aux conversions d’Huysmans et de Claudel en sont la vive expression! 66
Cf. pour le domaine allemand par exemple le couple Friedrich et Dorothea Schlegel. F. R. de Chateaubriand, Génie du Christianisme ou beautés de la religion chrétienne, texte établi, présenté et annoté M. Regard, Paris 1978, 1282. Nos mises en valeur (métaphore de la lumière, efficacité de la grâce divine). 68 J.-K. Huysmans, En route, texte établi Dominique Millet, Paris 1996, 75. Nos mises en valeur (allusion à la conversion paulinienne, efficacité de la grâce divine). 69 Cf. F. Gugelot, La conversion des intellectuels au catholicisme en France 1885 – 1935, Préface d’Etienne Fouilloux, Paris 1998, 157s et passim. 67
Logische Präzision und ästhetische Prägnanz* Von Gottfried Gabriel
Die Gegenüberstellung von logischer Präzision und ästhetischer Prägnanz verweist auf den Gegensatz zwischen logischem Scharfsinn und ästhetischem Witz. Die philosophische Tradition der Aufklärung hat den Unterschied zwischen diesen gegensinnig verfahrenden Erkenntnisvermögen so bestimmt, dass der Scharfsinn Verschiedenheiten im Ähnlichen und der Witz Ähnlichkeiten im Verschiedenen ausfindig macht. Der Scharfsinn ist danach auf Differenzen, der Witz auf Zusammenhänge aus. Ersichtlich sind die Produkte des Witzes nach diesem Verständnis noch nicht auf die Textgattung des Witzes im heutigen Sinne eingeschränkt. Diese Engführung ist eine spätere Entwicklung. Die ursprünglich allgemeinere Bedeutung ist noch in dem Ausdruck ›der Witz einer Sache‹ präsent: Der Witz als geistiges Vermögen erkennt den Witz einer Sache, bringt eine Sache auf den Punkt. Der Witz ist das Vermögen der ›Pointe‹, des überraschenden Zusammenhangs, und sofern dieser zum Lachen reizt, haben wir es dann mit einem Witz in unserem heutigen Sinne zu tun.1 Zu den Pointen im allgemeinen Sinne des Wortes gehören auch treffende Vergleiche und Metaphern. Einen überraschenden Zusammenhang – kreativer oder amüsanter Art – zu entdecken oder herzustellen, gilt als Geniestreich. Tatsächlich ist ›Witz‹ auch die ursprüngliche Übersetzung von lat. ingenium, eine Übersetzung, die erst durch die ›Genie‹-Debatte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verdrängt wird, in deren Verlauf man meinte, das ›wahre‹ Genie gegen den ›bloßen‹ Witz ausspielen zu müssen. Der Witz ist ganz allgemein das analogische Erkenntnisvermögen; denn das Erkennen von Zusammenhängen erfolgt durch die Bildung von Analogien, die in einer Pointe ›verdichtet‹ erscheinen können. Umgekehrt nennen wir eine treffende Pointe, die assoziativ Bedeutungskonnotationen freisetzt, auch prägnant, was seinem lateinischen Ursprung nach ›bedeutungsschwanger‹ heißt. * Für den Druck überarbeiteter Text meiner Abschiedsvorlesung an der FriedrichSchiller-Universität Jena vom 21. April 2009. Die Vortragsform wurde beibehalten. 1 Zum Zusammenhang von ›Witz‹ und ›Pointe‹ vgl. Ralph Müller, Theorie der Pointe, Paderborn 2003, besonders Kap. 2.4.
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Diese Doppelsinnigkeit hat das englische Wort ›pregnant‹ bewahrt, das im wörtlichen Sinne mit ›schwanger‹ und im übertragenen Sinne mit ›bedeutungsvoll‹ zu übersetzen ist. Pointiert gesagt: Der Ausdruck ›prägnant‹ ist selbst prägnant. Im Unterschied zum analogischen Witz verlangt der logische Scharfsinn, die Konnotationen zu beschränken und in präzisen Definitionen ein- bzw. auszugrenzen. Statt ›präzise‹ hätte ich auch ›exakt‹ sagen können; aber dann wäre der Titel meines Vortrages weniger pointiert. Damit sind wir dem Verständnis des Gegensatzes zwischen Präzision und Prägnanz schon etwas näher gekommen. Warum ist dieser Gegensatz aber so wichtig? Ich verwende ihn hier stellvertretend für ein ganzes Arsenal von Oppositionen, die mehr oder weniger zusammenhängen und in ihrer Gesamtheit den prinzipiellen Charakter der Unterscheidung unterstreichen dürften: Prägnanz – Präzision Anschauung – Begriff Besonderes – Allgemeines Beispiel – Gesetz Individualisierung – Generalisierung Konkretion – Abstraktion Klarheit – Deutlichkeit Zeigen – Sagen Vergegenwärtigung – Behauptung Aufweisen – Beweisen Kennen – Erkennen Verstehen – Erklären Kunst – Wissenschaft Ästhetik – Logik Diese Gegensatzpaare, von denen einige noch herangezogen werden, stehen für zwei alternative Modelle von Erkenntnis, die häufig so grundsätzlich gegeneinander ausgespielt werden, dass sie geradezu für unterschiedliche Weltauffassungen stehen. Exemplarisch thematisiert wird dieser Konflikt in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Die bekannte Eingangspassage beginnt mit den Worten »Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Rußland lagernden Maximum zu [ . . . ].« Es folgt eine ausführliche Beschreibung der Wetterlage in der Sprache der Wissenschaft (der Meteorologie), die abschließend in der Sprache des Lebens auf den Punkt gebracht wird: »Mit einem Wort, das das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner August-
Logische Präzision und ästhetische Prägnanz
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tag des Jahres 1913.«2 Ironisch setzt der Erzähler hier die Prägnanz der Alltagsbegrifflichkeit gegen das Bemühen um wissenschaftliche Präzision. Umgekehrt verteidigt er an späterer Stelle am Beispiel der Mathematik das Bemühen um Präzision gegen die verbreitete Verdächtigung, der wissenschaftliche Geist sei der »Widersacher der Seele« (so Ludwig Klages). Der Sprachgestus ist auch hier die indirekte Mitteilung im Modus der Ironie: [A]lle Leute, die von der Seele etwas verstehen müssen, weil sie als Geistliche, Historiker und Künstler gute Einkünfte daraus beziehen, bezeugen es, daß sie von der Mathematik ruiniert worden sei und daß die Mathematik die Quelle eines bösen Verstandes bilde, der den Menschen zwar zum Herrn der Erde, aber zum Sklaven der Maschine mache. Die innere Dürre, die ungeheuerliche Mischung von Schärfe im Einzelnen und Gleichgültigkeit im Ganzen [ . . . ] sollen nach diesen Berichten einzig und allein die Folge der Verluste sein, die ein logisch scharfes Denken [also der logische Scharfsinn, G. G.] der Seele zufügt!3
Musil macht somit darauf aufmerksam, dass es nicht angeht, Präzision gegen Prägnanz, oder umgekehrt, Prägnanz gegen Präzision zu setzen. Vielmehr haben beide ihr Recht – jeweils an der ihnen gemäßen Stelle. Dementsprechend sollte die Opposition in eine Koalition unter Aufteilung der Kompetenzen verwandelt werden. Der erste Schritt zur Koalitionsbildung besteht in dem Zugeständnis, dass Erkenntnisleistungen nicht auf die Wissenschaften beschränkt sind. Mögen diese auch ›ausgezeichnete‹ Orte der Erkenntnis sein, so sind sie doch nicht die einzigen. Im Folgenden möchte ich den Nachweis erbringen, dass Literatur und Kunst für eine Orientierung in dieser unserer Welt ein ebenso wichtiges Medium sind. Erkenntnis ist danach nicht mit wissenschaftlicher Erkenntnis gleichzusetzen. Vielmehr haben wir von einem Pluralismus der Erkenntnisformen auszugehen. Dieser Pluralismus ist nicht mit einem Relativismus zu verwechseln, er steht für einen Komplementarismus. Er besagt, dass die unterschiedlichen Weisen der Erkenntnis zueinander komplementär sind, d. h., dass sie sich gegenseitig ergänzen. Zu widersprechen ist insbesondere der Bindung von Erkenntnis an die Wahrheit von Aussagen und damit an den propositionalen Wahrheitsbegriff. Eine solche Rückführung von Erkenntnis auf Wahrheit findet sich in der logischen Tradition von der Antike bis hin zur modernen analytischen Wissenschaftstheorie. Der Begriff der Erkenntnis wird am Begriff des Wissens festgemacht und Wissen dabei als begründeter wahrer Glaube (›justified true belief‹) verstanden, d. h. als begründeter Glaube, daß bestimmte Aussagen wahr sind. Die Konsequenz dieser Auffassung ist meist, dass als Ort der Erkenntnis der Ort des Wissens, nämlich die präzise Wissenschaft bestimmt wird. Gegen diesen Alleinvertretungsanspruch der Wissenschaft in 2 3
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, hg. Adolf Frisé, Hamburg 1952, 9. Ibid., 40.
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Sachen Erkenntnis wird es nun darauf ankommen, die Komplementarität der Erkenntnisformen nicht nur zu fordern, sondern auch plausibel zu machen. Im vorliegenden Fall gilt es, die Frage zu beantworten, welche Erkenntnisleistungen ästhetische Prägnanz zu erbringen vermag. Beginnen wir mit einer etwas präziseren Bestimmung des Unterschieds zwischen logischer Präzision und ästhetischer Prägnanz. Prägnanz ist wie Präzision eine Form der Genauigkeit. ›Genauigkeit‹ ist der Oberbegriff zu ›Prägnanz‹ und ›Präzision‹. Die Forderung nach Genauigkeit wird häufig so formuliert, dass man sich »klar und deutlich« auszudrücken habe. Was damit gemeint ist, scheint aber selbst nicht immer klar und deutlich zu sein. Geben die beiden Ausdrücke ›klar‹ und ›deutlich‹ unterschiedliche, einander ergänzende Kriterien für Genauigkeit an oder haben wir es mit gleichbedeutenden Ausdrücken zu tun, die letztlich austauschbar sind, so dass die Verbindung ›klar und deutlich‹ lediglich eine rhetorische Verstärkung zum Ausdruck bringt – wie etwa ›still und leise‹? Der Ausdruck ›klar und deutlich‹ wird tatsächlich häufig in diesem Sinne verwendet – als Hendiadyoin, wie die Rhetorik diese Redefigur des ›doppelt Gemoppelten‹ nennt. Damit geht eine wichtige erkenntnistheoretische Unterscheidung verloren, welche die philosophische Begriffsgeschichte bereithält. ›Klar‹ und ›deutlich‹ sind in der Tradition der rationalistischen Aufklärung (Descartes, Leibniz und Wolff) Eigenschaften von Begriffen und dann auch von Erkenntnissen nach Maßgabe der verwendeten Begriffe. Die maßgebliche Präzisierung verdanken wir Leibniz: Klar sind danach solche Begriffe, die es erlauben, die unter sie fallenden Gegenstände wiederzuerkennen. Begriffe, deren Erkenntniswert unterhalb dieser Schwelle bleibt, heißen dunkel. Deutlich sind solche klaren Begriffe, für die eine Definition (im Sinne der Zerlegung des Begriffs in seine Merkmale) vorliegt. Typische Beispiele klarer Begriffe sind Alltagsbegriffe wie ›Mensch‹, ›Tisch‹, ›süß‹ und ›rot‹. Obwohl wir Menschen, Tische, Stühle, süße und rote Objekte in der Regel problemlos als solche wiedererkennen und damit von anderen unterscheiden können, haben wir nicht unbedingt Definitionen für die entsprechenden Begriffe zur Verfügung. Im Falle von ›Tisch‹ und ›Stuhl‹ benötigen wir vielleicht auch gar keine Definitionen. Für den Begriff ›Mensch‹ finden sich, je nach anthropologischer Ausrichtung, gleich mehrere miteinander konkurrierende Definitionen, wie z. B. ›vernunftbegabtes Lebewesen‹ und ›ungefiederter Zweibeiner‹. Für Begriffe sinnlicher Qualitäten wie ›süß‹ und ›rot‹ wird die Möglichkeit einer Definition dagegen grundsätzlich bestritten. Plausibel ist dies insofern, als etwa die heute übliche quantitative Definition der Farbe ›rot‹ durch Angabe ihrer Wellenlänge nicht den qualitativen Aspekt erfasst. Klare Begriffe, für die keine Definitionen vorliegen oder vorgelegt werden können, nennt die Tradition ›verworren‹. Die Deutlichkeit ist also keine bloß rhetorische, sondern eine logische Steigerung
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der Klarheit. Das ›und‹ in ›klar und deutlich‹ steht somit auch nicht für die logische Konjunktion, die zwei voneinander unabhängige Bestimmungen miteinander verbindet, sondern für eine Spezifizierung. Der Ausdruck ›klar und deutlich‹ benennt eine Klarheit, der außerdem Deutlichkeit zukommt, also eine deutliche Klarheit im Unterschied zu einer verworrenen Klarheit als einer Klarheit ohne Deutlichkeit. Logisch betrachtet ist demnach ›klar‹ der Oberbegriff zu ›deutlich‹ und ›verworren‹ als seinen beiden Unterbegriffen.4 Nun hoffe ich, mit dem Bemühen um deutliche Unterscheidungen nicht zusätzliche Verwirrung gestiftet zu haben. In der Tat, von ›verworrener Klarheit‹ zu sprechen, mag auf den ersten Blick etwas verwirrend erscheinen. Zur Klarstellung sei daher betont, dass von der negativen, pejorativen Bedeutung, die wir mit dem Ausdruck ›verworren‹ verbinden, abzusehen ist. Die deutliche Erkenntnis gilt allerdings gegenüber der verworrenen als vollkommener. Da die sinnliche Erkenntnis über die Stufe der Verworrenheit nicht hinauskommt, wird das Verhältnis zwischen Vernunft und Sinnlichkeit im Rationalismus zunächst als Rangordnung angesehen, in der die Vernunfterkenntnis über der Sinneserkenntnis steht. Dies ändert sich erst mit Alexander Gottlieb Baumgarten, der das hierarchische Verhältnis in ein komplementäres überführt und die Ästhetik als Disziplin der sinnlichen Erkenntnis gleichberechtigt neben die Logik als Disziplin der Vernunfterkenntnis stellt. Danach haben beide Erkenntnisweisen ihre je eigene Vollkommenheit. Die erste, die logische Vollkommenheit, bemisst sich nach dem Grad begrifflicher Deutlichkeit oder logischer Präzision. Die zweite, die ästhetische Vollkommenheit, bemisst sich nach dem Grad anschaulicher Dichte oder ästhetischer Prägnanz. Betrachten wir als Beispiel für das Bemühen um logische Präzision die Analyse des Zahlbegriffs. Wir alle sind in der Lage, Zahlen wiederzuerkennen, z. B. zu erkennen, dass die Summe von 7 und 5 dieselbe Zahl ist wie die Summe von 9 und 3, nämlich 12. Sofern wir zählen und rechnen können, verfügen wir über einen klaren Begriff der Zahl (im Sinne der Anzahl), und der genügt uns auch im Alltag. In der Wissenschaft verlangen wir aber deutliche Begriffe. Zur Verdeutlichung des Begriffs der natürlichen Zahl gehört insbesondere zu bestimmen, zu welcher logischen Kategorie die Zahlen gehören. Um diese zu ermitteln, empfiehlt es sich, die Verwendung von Zahlwörtern in Zahlaussagen wie ›Hier sind fünf grüne Äpfel‹ zu analysieren. Während in neueren Grammatiken unter Hinweis auf das Phänomen der Beugung und damit aus morphologischen Gründen die Rede von Zahladjektiven gängig ist, ist dem aus logischer Sicht zu widersprechen. 4 Gottfried Wilhelm Leibniz, »Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis« (1684), in: Philosophische Schriften, hg. Carl I. Gerhardt, 1880, repr. Hildesheim 1965, Bd. 4, 422 – 426, hier 422 f.
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Von ›großen, grünen Äpfeln‹ zu sprechen, besagt, dass die einzelnen Gegenstände, die unter den entsprechenden zusammengesetzten Begriff fallen, groß, grün und Äpfel sind. Wenn wir dagegen von ›fünf grünen Äpfeln‹ (statt von ›großen, grünen Äpfeln‹) sprechen, so meinen wir damit zwar, dass die einzelnen Äpfel die Eigenschaft haben, grün zu sein, nicht aber, dass sie die Eigenschaft haben, fünf zu sein.5 Von den einzelnen Gegenständen, die zu den fünf grünen Äpfeln gehören oder ›zählen‹, kann man nicht sagen, dass sie unter den Begriff ›fünf grüne Äpfel‹ fallen; vielmehr gibt es genau fünf Gegenstände, die unter den Begriff ›grüner Apfel‹ fallen. Es zeigt sich, dass Zahlaussagen mit Existenzaussagen logisch verwandt sind: Sind Existenzaussagen wie ›Es gibt mindestens einen Apfel im Korb‹ unbestimmte Zahlaussagen, so sind Zahlaussagen wie ›Es gibt fünf Äpfel im Korb‹ bestimmte Existenzaussagen. Die Zahlwörter in Zahlangaben wie ›5 Äpfel‹ sind danach aus kategorialen Gründen nicht als Adjektive, sondern als Quantoren, und das heißt, als Prädikate ›zweiter Stufe‹ zu bestimmen. Die Bestimmung dieser kategorialen Differenz ist eine Leistung logischer Präzision. Sie ermöglicht eine exakte Angabe der Bedeutung von Zahlaussagen. Wenn wir etwa sagen wollen, dass die Anzahl der geraden Primzahlen 1 ist, so ist dies quantorenlogisch so auszudrücken, dass es genau eine gerade Primzahl gibt, und dies besagt, dass es mindestens eine gerade Primzahl und höchstens eine gerade Primzahl gibt. Im Formalismus der modernen Logik stellt sich dies folgendermaßen dar (ich übersetze in die Alltagssprache): ›Es gibt mindestens ein x, welches eine gerade Primzahl ist, und für alle y, wenn y eine gerade Primzahl ist, gilt, daß y identisch ist mit x.‹
Nun überlegen Sie sich, was genau Sie beim Bäcker sagen müssen, um genau ein Brötchen zu bekommen. – Die Genauigkeit der Logik ist nicht die Genauigkeit des Lebens. Kommen wir nun zu den Leistungen ästhetischer Prägnanz. Diese Begriffsbildung folgt der Terminologie Baumgartens. Der entscheidende Schritt ist die ästhetische Umdeutung der semantischen Verworrenheit als Bedeutungsfülle. Diese Umdeutung bildet die Grundlage von Baumgartens Konzeption der perceptio praegnans als einer »vielsagenden« (so Baumgartens eigene Übersetzung) oder »sinnreichen« (so die treffende Übersetzung in der Folgezeit), nämlich ›bedeutungsschwangeren‹ Perzeption.6 Das Ziel wissenschaftlicher Explikatio5 Diese Einsicht und deren Konsequenzen verdanken wir dem Jenaer Mathematiker und Philosophen Gottlob Frege. Vgl. Die Grundlagen der Arithmetik. Eine logisch mathematische Untersuchung über den Begriff der Zahl, Breslau 1884, § 22. Dort macht Frege den Unterschied anhand eines ähnlichen Beispiels deutlich: »Spricht man nicht in einem andern Sinne von 1000 Blättern als von grünen Blättern des Baumes? Die grüne Farbe legen wir jedem Blatte bei, nicht so die Zahl 1000.« 6 Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaphysica, 7. Aufl., Halle 1779, repr. Hildesheim 1963, repr. §§ 501 – 623; in: A. G. Baumgarten, Texte zur Grundlegung der Ästhetik
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nen ist es, verworrene in deutliche Begriffe zu überführen, also zu präzisieren. Komplementär dazu hat aber für den ästhetischen Bereich die positive Deutung der Verworrenheit Bestand, die in der prägnanten Verworrenheit einen gebündelten konnotativen Bedeutungsüberschuss am Werk sieht. Eine solche Verworrenheit – in der Literaturtheorie auch als ›Unbestimmtheit‹ charakterisiert7 – ist nicht als logischer Mangel zu beklagen, sondern als ästhetischer Reichtum zu begrüßen. Wie abwegig es wäre, ästhetische Prägnanz in wissenschaftliche Präzision überführen zu wollen, mag folgendes Beispiel veranschaulichen.8 Ich zitiere Mörikes Gedicht Septembermorgen: Im Nebel ruhet noch die Welt, Noch träumen Wald und Wiesen: Bald siehst Du, wenn der Schleier fällt, Den blauen Himmel unverstellt, Herbstkräftig die gedämpfte Welt In warmem Golde fließen.
Wollten wir diese wunderschöne prägnante Vergegenwärtigung einer Herbststimmung in ihrem propositionalen Gehalt präzise fassen, so käme etwa Folgendes heraus: Zunächst noch verbreitet Morgennebel, besonders in den Niederungen. Später aufklarend und sonnig bei warmen Herbsttemperaturen.
Ein Wetterbericht! – Um so etwas zu verhindern, möchte ich im zweiten Teil des Vortrages die Möglichkeit ästhetischer Erkenntnis am Beispiel der Literatur aufzeigen. Die Grundlage meiner Überlegungen bildet der Begriff der Vergegenwärtigung, der seinerseits auf den Begriff der ästhetischen Prägnanz zurückgeführt wird. Im Zentrum werden die Vergegenwärtigungsleistungen fiktionaler Literatur stehen. Statt von ›fiktionaler Literatur‹ wird auch kurz von ›Dichtung‹ die Rede sein, ohne damit unterstellen zu wollen, dass beides unterschiedslos zusammenfällt. Die fiktionale Literatur verdient deshalb ein besonderes Interesse, weil es gerade das Moment der Fiktionalität ist, das den Vor(lat.-dt.), übers. und hg. Hans R. Schweizer, Hamburg 1983, § 517. Vgl. ausführlich Gottfried Gabriel, »Baumgartens Begriff der ›perceptio praegnans‹ und seine systematische Bedeutung«, in: Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte, Bd. 20, Themenschwerpunkt: Alexander Gottlieb Baumgarten, hg. Alexander Aichele und Dagmar Mirbach, Hamburg 2008, 61 – 71. 7 Wolfgang Iser, Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa (Konstanzer Universitätsreden 28), Konstanz 1970. 8 Dieses Beispiel verdanke ich Franz Koppe, Grundbegriffe der Ästhetik, Frankfurt am Main 1983, 129.
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wurf heraufbeschworen hat, die Dichter würden lügen. Sofern es darum geht, den Erkenntniswert der Dichtung zu verteidigen, gilt es diesen Vorwurf auszuräumen. Die Fiktionalität fiktionaler Literatur besteht in aller Kürze gesagt darin, dass (1) Eigennamen und Kennzeichnungen so verwendet werden, als ob sie referenzialisierbar seien, also einen Wirklichkeitsbezug haben, obwohl dieses gar nicht der Fall ist, dass (2) von Sachverhalten die Rede ist, als ob sie bestehen würden, obwohl dieses gar nicht der Fall ist, und dass (3) so getan wird, als ob bestimmte Sprechakte vollzogen würden, obwohl dieses gar nicht der Fall ist. So werden etwa Behauptungssätze geäußert, ohne dass der Sprechakt der Behauptung vollzogen, d. h. ein Wahrheitsanspruch erhoben wird. Während in Alltagssituationen und in den Wissenschaften ein solches Sprechen-als-ob normalerweise nicht zulässig ist und durch entsprechende Regeln ausgeschlossen wird, sind Autoren fiktionaler Texte an diese Regeln nicht gebunden. Damit sind die Dichter insbesondere von dem Vorwurf der Lüge entlastet. Wenn sie nichts behaupten, können sie auch nicht lügen.9 Es versteht sich, dass eine Entlastung von der Verpflichtung auf Wahrheit nicht für alle Literatur zwischen historischem Roman und Märchen in gleicher Weise gilt. So ist in einem Roman des poetischen Realismus zwar die Erfindung von Personen, nicht aber die Erfindung von sprechenden Tieren erlaubt; und in Fabeln sprechen zwar die Tiere, nicht aber die Kürbisse auf dem Felde. Die entscheidende Frage ist nun, wie fiktionale Werke der Literatur trotz ihrer Fiktionalität Erkenntnis vermitteln können. Bindet man den Erkenntnisbegriff an den propositionalen Wahrheitsbegriff, so ist der Erkenntnisanspruch der Dichtung kaum zu rechtfertigen. Dementsprechend haben viele Theoretiker – Logiker wie Literaten – diesen Anspruch aufgegeben und der Dichtung statt einer kognitiven eine emotive Funktion zugewiesen, nämlich auf die Gefühle der Leser zu wirken. Dagegen plädiere ich dafür, den Erkenntnisbegriff zu erweitern und Erkenntnis nicht auf propositionales Wissen und damit auf Aussagenwahrheit zu reduzieren. Die emotive Funktion der Dichtung bleibt dabei im Blick. Um Missverständnisse zu vermeiden, möchte ich betonen, dass meine Überlegungen, logisch gesehen, den Status einer Existenzaussage und nicht einer Allaussage haben. Ich mache also keine Aussage über die Literatur im allgemeinen, sondern darüber, dass es Literatur gibt, welche die im Folgenden explizierte relevante kognitive Funktion erfüllt. Um eine Erweiterung des Erkenntnisbegriffs plausibel zu machen, gilt es zu bedenken: Was Dichtung wesentlich meint, wird nicht in ihr gesagt oder als in 9 Vgl. bereits Philip Sidney, A Defence of Poetry (1595), hg. Jan A. van Dorsten, 2. Aufl., Oxford 1971, 52.
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ihr enthalten mitgeteilt, sondern gezeigt, und zwar in der Weise, dass ein fiktional berichtetes Geschehen aufgrund seiner Fiktionalität den Charakter des Historisch-Einzelnen verliert und auf diese Weise – zu einem Besonderen geworden – einen allgemeineren Sinn aufweist. Semantisch gesehen haben wir es dabei mit einer Richtungsänderung des Bedeutens, mit einem Übergang von der referentiellen zur symbolischen Bedeutung, zu tun.10 Dichterische Erkenntnis wird im Sprachmodus des Zeigens möglich. Wirklich wird sie freilich nicht mit jeder Dichtung, sondern nur mit gelungener. Dieses Gelingen, die ästhetische Qualität, bemisst sich nach ihrer Vergegenwärtigungsleistung, die semantisch aus der Bedeutungsfülle, der Prägnanz ihrer Sprache erwächst. Wenn Literatur uns lehrt, die Welt anders als bisher zu sehen, oder unsere Sicht der Welt bestätigt – auch das kann ein Erkenntnisgewinn sein –, so tut sie dies eher selten im propositionalen Sprachmodus. In fiktionaler Literatur werden gewiss auch propositionale Informationen vermittelt, welche Funktion haben sie aber? Betrachten wir etwa die Eingangspassage von Gottfried Kellers Der grüne Heinrich (in der ersten Fassung): Zu den schönsten vor allen in der Schweiz gehören diejenigen Städte, welche an einem See und an einem Flusse zugleich liegen, so daß sie wie ein weites Tor am Ende des Sees unmittelbar den Fluß aufnehmen, welcher mitten durch sie hin in das Land hinauszieht. So Zürich, Luzern, Genf; auch Konstanz gehört gewissermaßen noch zu ihnen.11
Die hier angeführten Städtenamen beziehen sich auf wirkliche Städte, sind also referenzialisierbar. Die Textpassage könnte geradezu in einem Reiseprospekt stehen. Im vorliegenden Kontext liefert sie den Anlass zu einer Aufforderung an den Leser, ›in der Vorstellung‹ eine Schiffsfahrt anzutreten: »Man kann sich nichts Angenehmeres denken als die Fahrt auf einem dieser Seen, z. B. auf demjenigen von Zürich. Man besteige das Schiff zu Rapperswyl [ . . . ].« Im Verlauf der sodann imaginierten Schiffsfahrt werden Zürich und seine Umgebung in ihren historischen und geographischen Besonderheiten (über ungefähr zwei Seiten) beschreibend vergegenwärtigt. Obwohl in poetisch angereicherter Sprache abgefasst, ist diese Vergegenwärtigung – bezogen auf ihre Zeit – nicht nur referenzialisierbar (die Bezüge sind real), sondern auch verifizierbar (die Aussagen sind wahr). Sie könnte insofern durchaus ihren Platz in einem klassischen Reisebericht haben, dem es nicht nur darum zu tun ist, die 10 Die Kategorie des Besonderen erweist sich als zentral für die Legitimation des Erkenntniswerts der Literatur, sofern man die von G. Lukács vorgenommene Engführung vermeidet. In Verbindung mit dem Begriff der Richtungsänderung des Bedeutens macht sie den gemeinsamen Kern der ästhetischen Konzeptionen von Baumgarten (perceptio praegnans), Kant (ästhetische Idee), Goethe (Symbol), Cassirer (symbolische Prägnanz) und Goodman (Exemplifikation) aus. 11 Gottfried Keller, Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe, hg. Clemens Heselhaus, München o. J., Bd. 1, 9.
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Reiseroute anzugeben, sondern auch die ›Stimmung‹ der Gegebenheiten einzufangen. Die Textpassage findet sich hier aber in einem Roman, und dieser Ort bestimmt unsere Einstellung zu ihr. Bei einem Reisebericht mag uns die Poesie erfreuen, auf Referenzialisierbarkeit und Wahrheit werden wir aber bestehen. In einem Roman des poetischen Realismus konstituieren Referenzialisierbarkeit und Wahrheit (im Sinne der Forderung nach realistischer ›Glaubwürdigkeit‹) den Handlungsrahmen der Figuren, ohne dass aber jede Einzelheit stimmen müsste. Wir erwarten, dass bekannten Fakten entsprochen wird, dass ihnen Genüge getan wird, wir erwarten aber keine Begründungen. Insofern mögen in solchen Fällen propositionale Wahrheiten als Hintergrundwissen eine wichtige Rolle spielen, im strengen Sinne behauptet werden diese aber nicht. Wir erwarten nämlich nicht die Einlösung des Wahrheitsanspruchs. Vielmehr erwarten wir, dass die poetische Darstellung die Faktenwahrheiten gerade überbietet, indem sie diesen eine symbolische Bedeutung für die Situation der Figuren im Roman verleiht. So wird die Verbindung von See und Fluss zum Symbol des Gegensatzes zwischen Ruhe (Sammlung, Systole) und Bewegung (Auszug, Diastole) im Leben der Figur des Grünen Heinrich. In unserem Text wird die Richtungsänderung des Bedeutens selbst thematisiert. Im Anschluss an die Beschreibung der Schiffsfahrt heißt es, das Eingangsmotiv aufgreifend: So haben Luzern oder Genf ähnliche und doch wieder ganz eigene Reize ihrer Lage an See und Fluß. Die Zahl dieser Städte aber um eine eingebildete zu vermehren, um in diese, wie in einen Blumenscherben, das grüne Reis einer Dichtung zu pflanzen, möchte tunlich sein: indem man durch das angeführte, bestehende Beispiel das Gefühl der Wirklichkeit12 gewonnen hat, bleibt hinwieder dem Bedürfnisse der Phantasie größerer Spielraum und alles Mißdeuten wird verhütet.13
Als »Mißdeuten« ist hier die referenzialisierende oder gar referenzversessene Lektüre angesprochen, mit der Autoren und Autorinnen sich häufig konfrontiert sehen. So bemerkt Keller zur zweiten Auflage des Grünen Heinrich, dass er »allerlei hineingeflunkert« habe, um das Buch »deutlicher zum Roman zu machen«. Als Begründung führt er an, dass es noch immer »Esel« gebe, »die es für bare biographische Münze nehmen«.14 Zugestanden wird damit gleichzeitig, dass auch biographische Elemente in den Roman eingeflossen sind: Die literarische Verarbeitung eigener Erfahrungen verlangt vom Autor aber, diese für andere exemplarisch zu vergegenwärtigen, das Einzelne zu einem Besonderen umzugestalten, das damit seinen referentiellen Status verliert. 12 Hervorhebung G.G. Mit ›Gefühl der Wirklichkeit‹ ist hier angesprochen, was ich oben ›realistische Glaubwürdigkeit‹ genannt habe. 13 Keller, Werke, 11. 14 Ibid., 1155 (Brief Kellers an Maria Melos vom 29. 12. 1880).
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Allgemein lässt sich sagen: In realistischen, naturalistischen und historischen Romanen sind Referenzialisierbarkeit und Verifizierbarkeit in gewissen Grenzen unverzichtbar, sie begründen aber nicht den spezifischen Erkenntniswert solcher Texte. Selbst in den Fällen, in denen fiktionale literarische Texte den Anspruch erheben, neue propositionale Erkenntnisse – etwa Einsichten über die Lebenswirklichkeit – vermitteln zu können, besteht die Erkenntnisleistung doch nicht in der abstrakten Aufstellung einer allgemeinen Proposition oder These, sondern in der konkreten nicht-propositionalen Darstellung, nämlich in der narrativen Vergegenwärtigung von deren Inhalt. Als Standardbeispiel einer solchen allgemeinen These gilt in der Literaturtheorie der Eingangssatz von Tolstois Roman Anna Karenina: »Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Art.« Natürlich hat dieser Satz schon auf Grund seiner hervorgehobenen Stellung eine lektüre- und erkenntnisleitende Funktion. Es wäre aber vollkommen abwegig, in ihm den Erkenntniswert von Tolstois Roman ausmachen zu wollen. Auf die Frage nach dessen »Hauptgedanken« antwortet Tolstoi denn auch, dass er, um all das zu sagen, was er habe ausdrücken wollen, den gleichen Roman noch einmal schreiben müsste.15 Mit anderen Worten, die Erkenntnisleistung der narrativen Vergegenwärtigung ist propositional nicht einholbar. Nicht-propositionale Vergegenwärtigungsleistungen der Literatur, deren ästhetisches Gelingen an ihrer Prägnanz im Sinne einer komplexen, d. h. detailgenauen und nuancenreichen Darstellung gemessen wird, können allerdings Anlass zu weiteren propositionalen Erörterungen etwa in moralphilosophischer Absicht geben. Der Erkenntniswert der Literatur besteht hier in einer Kultivierung unserer moralischen Urteilskraft, in einer Sensibilisierung durch adäquate Vergegenwärtigung des Allgemeinen im Besonderen, ohne die ein differenzierter moralischer Diskurs nicht möglich ist. Die Vergegenwärtigung von Situationen ›Anderer‹ (in Gestalt literarischer Figuren) erweitert den Horizont unseres Verstehens; sie erlaubt uns eine imaginative ›Teilnahme‹ an vielfältigen Handlungszusammenhängen, Motiven, Gefühlen, Haltungen, Sichtweisen und Stimmungen, die uns selbst im wirklichen Leben nicht ›zuteil‹ geworden – oder auch erspart geblieben sind.16 15 L. Tolstoi, »Brief an N. N. Strachov vom 23. und 26. 4. 1876«, engl. Übers. in: Tolstoy’s Letters, hg. Reginald F. Christian, London 1978, Bd. I, 296 f. 16 Vgl. Dieter Teichert, der von der »emotionalen Partizipation« als einer besonderen »Erkenntnisform« spricht: »Praktische Vernunft, Emotion und Dilemma. Philosophie in der Tragödie«, in: ders. und C. Schildknecht (Hgg.), Philosophie in Literatur, Frankfurt am Main 1996, 202 – 229, hier 211. Verwiesen sei auch auf die treffende Bestimmung von Christoph Jäger, »Kunst, Kontext und Erkenntnis«. Einleitung zu: ders. und Georg Meggle (Hgg.), Kunst und Erkenntnis, Paderborn 2005, 9 – 39, hier 18 f. Zur Rolle der Imagination bei der Rezeption von fiktionaler Literatur vgl. ausführlich Margit Sutrop, Fiction and Imagination. The Anthropological Function of Literature, Paderborn 2000.
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Das Interesse an solcher Teilnahme wird in neueren kognitionswissenschaftlichen Literaturtheorien auf ein Nachahmungsbedürfnis des Menschen zurückgeführt, wobei dieses evolutionstheoretisch durch das Faktum so genannter »angeborener Spiegelneuronen« zu erklären versucht wird.17 Wenn das Vorhandensein von Spiegelneuronen auch eine aufschlussreiche kausale Erklärung der Tatsache liefern mag, dass der Mensch ein »Wohlgefallen an der Nachahmung« – sozusagen eine »Naturanlage« zur Nachahmung – hat, so ist eine solche Erklärung doch keine argumentative Begründung für die Berechtigung des Nachahmungstriebs sowie die Berechtigung einer aus diesem Trieb entstandenen Literatur. Auch Zwangsneurosen und Wahnvorstellungen haben Ursachen, ohne deshalb berechtigt zu sein; und ist nicht der Ritter von der traurigen Gestalt gerade die literarische Vergegenwärtigung einer Person, die – durch Literatur verführt – einem wahnhaften Nachahmungstrieb verfallen ist, der Fiktionen als Fakten nimmt. Es gibt nicht nur einen Nutzen, sondern auch einen Nachteil der Literatur für das Leben, weswegen die Frage ›Liest du noch oder lebst du schon?‹ durchaus ihren ›Witz‹ hat. Um die Relevanz der Literatur zu begründen, sind deren Leistungen (wie z. B. Erkenntnisleistungen) plausibel zu machen, und dazu muss ich über Spiegelneuronen gar nichts wissen. So wie ich auch nichts über die neuronalen Vorgänge beim Rechnen wissen muss, um zu wissen, dass die arithmetische Aussage ›7+5=12‹ wahr ist. Was soll also ein Satz wie der folgende besagen: »Wir verstehen auch Literatur nur durch spiegelneuronale Simulation in uns.«?18 Auch wenn das empirisch stimmen mag, brauchen wir es doch nicht zu wissen, um eine literarischen Text angemessen zu verstehen. Von der gleichen Art ist der Satz: »Ohne die Vorgänge in unserem Kopf hat der Text keine Bedeutung.«19 Um sich der Bedeutung eines Textes zu vergewissern, sollten wir uns sicher nicht auf die neuronalen Vorgänge ›in unserem Kopf‹ konzentrieren, obwohl solche Vorgänge ohne Zweifel die reale Basis unseres Verstehens ausmachen. Sätze wie die genannten dienen wohl dazu, die folgende Konsequenz plausibel erscheinen zu lassen: »Eine Theorie der Interpretation muß daher die Erkenntnis der Entwicklungspsychologie, Evolutionstheorie und die Kognitionswissenschaft voraussetzen, will sie sich eine wissenschaftliche nennen.«20 Dieser Auffassung liegt ein kategorialer naturalistischer Fehlschluss zu Grunde. Mit demselben Recht könnte man behaupten, dass es einer entwicklungspsychologischen und evolutionstheoretischen Grundlegung der Mathematik be17 Vgl. Gerhard Lauer, »Spiegelneuronen. Über den Grund des Wohlgefallens an der Nachahmung«, in: Karl Eibl, Katja Mellmann, Rüdiger Zymner (Hgg.), Im Rücken der Kulturen (Poetogenesis 5), Paderborn 2007, 137 – 163. 18 Ibid., 157. 19 Ibid. 20 Ibid.
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dürfe, um diese in den Stand einer Wissenschaft zu erheben. Hier haben wir ein Beispiel für eine verhängnisvolle Tendenz in der gegenwärtigen literaturwissenschaftlichen Theoriebildung: Der Poststrukturalismus, dem ich gewiss nicht nachtrauere, wird durch einen Szientismus abgelöst – statt zu einer methodischen Hermeneutik zurückzukehren, die das genaue Verstehen wieder ernst nimmt. Es ist ein wissenschaftstheoretisches Missverständnis, die Forderung nach Prägnanz durch Präzision einlösen zu wollen. Eine angemessene Stütze findet der Gedanke der imaginativen Teilnahme (im Sinne einer gewissermaßen kognitiven ›Einfühlung‹) dagegen in der Rehabilitierung der Gefühle in der gegenwärtigen Erkenntnistheorie und Moralphilosophie.21 Bereits Musil hat darauf bestanden, dass »der Intellekt nicht der Feind des Gefühls ist«.22 Die Berücksichtigung der Gefühle in der Ethik ist mit einem Kognitivismus durchaus verträglich, sofern deren ›Aktivierung‹ nicht – wie der Emotivismus meint – die Grundlage des moralischen Urteils bildet, sondern der vorbereitenden Sensibilisierung für moralische Fragen dient.23 Zu unterscheiden ist zwischen einem appellativen und einem vergegenwärtigenden Einsatz der Gefühlssprache. Demgemäß läuft es auch nicht auf einen ästhetischen Emotivismus hinaus, der Literatur für die moralische Sensibilisierung eine ausgezeichnete Rolle zuzuweisen. Die emotivistische Auffassung der Literatur (und der Kunst allgemein) besagt, dass deren Funktion darin bestehe, Gefühle zu vermitteln, indem diese wachgerufen oder erweckt werden. Die kausale Ausdrucksweise legt die Deutung nahe, dass es darauf ankomme, die vermittelten Gefühle tatsächlich zu haben. Ich will der Literatur die psychotherapeutische Funktion des kathartischen ›Rollenspiels‹ nicht streitig machen, wohl aber der Engführung auf eine solche Funktion widersprechen. Die Vergegenwärtigung des Gefühls der Entfremdung in den Texten Kafkas soll dieses Gefühl nicht hervorrufen, sondern verstehbar machen. Die ästhetische Vermittlung belässt es bei der imaginativen Vergegenwärtigung von Gefühlen. Es geht ihr nicht um reale Präsenz, sondern um fiktionale Präsenta21 Vgl. stellvertretend für die umfängliche Literatur Martha C. Nussbaum, Upheavals of Thoughts. The Intelligence of Emotions, Cambridge 2001. Für das Folgende vgl. insbesondere Martha Nussbaums engagierte Einbeziehung der Literatur in den moralphilosophischen Diskurs: Love’s Knowledge. Essays on Philosophy and Literature, New York 1990. Die zentrale Unterscheidung zwischen den Darstellungsformen des propositionalen Arguments und der nicht-propositionalen Vergegenwärtigung scheint bei Nussbaum freilich zu verschwimmen. 22 Robert Musil, Briefe 1901 – 1942, hg. Adolf Frisé, 2 Bde, Reinbek 1978, Bd. 1, 494. Vgl. Sabine A. Döring, Ästhetische Erfahrung als Erkenntnis des Ethischen. Die Kunsttheorie Robert Musils und die analytische Philosophie, Paderborn 1999, besonders Kapitel 3.3: »Die kognitive Funktion der Emotionen«. 23 So Christoph Demmerling, Gefühle und Moral. Eine philosophische Analyse (Bonner Philosophische Vorträge und Studien 22), Bonn 2004, 31.
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tion. Da wir alle moralisch relevanten Situationen selbst weder durchleben können noch wollen, helfen literarische Vergegenwärtigungen, uns in solche Situationen und ›Gefühlslagen‹ stellvertretend hineinzuversetzen. Ohne literarische Vergegenwärtigungen darauf festlegen zu wollen, kommt gerade der narrativen Darstellung eine ausgezeichnete Rolle zu, weil sie Gefühle vorrangig mit relevanten Entscheidungssituationen exemplarisch in Verbindung bringt und damit zur Schulung der moralischen Urteilskraft beiträgt. Aufgabe der Urteilskraft ist es, zwischen allgemeiner Norm und besonderem Fall angemessen zu vermitteln. Dabei sind mit Kant subsumierende Urteilskraft, die vom Allgemeinen zum Besonderen absteigt, und reflektierende Urteilskraft, die vom Besonderen zum Allgemeinen aufsteigt, zu unterscheiden. Gelungene literarische Vergegenwärtigungen beleben die ›Phantasie‹ der moralisch reflektierenden Urteilskraft und machen sie auf ihrem Weg vom Besonderen zum Allgemeinen für die Komplexität der Lebenswirklichkeit empfänglich, indem sie – mit Musil zu sprechen – unseren »Möglichkeitssinn«, den »Sinn für die mögliche Wirklichkeit« schärfen.24 Umgekehrt wird dadurch das moralische Urteilen selbst vor einer leichtfertigen Subsumtion des Besonderen unter das Allgemeine bewahrt. Der Kognitivismus in der Ethik wird häufig unter Hinweis darauf kritisiert, dass es keine universalisierbaren Normen gebe. Ich denke, das Problem der Begründung moralischer Urteile besteht weniger auf Seiten des Allgemeinen als vielmehr auf Seiten des Besonderen. Über sehr allgemeine moralische Normen dürfte eher eine Einigung zu erzielen sein als darüber, ob eine konkrete Situation von der Art ist, dass sie ein besonderer ›Fall‹ einer bestimmten allgemeinen Norm ist. Zur Schulung der hier erforderlichen Urteilskraft, die, wie Kant hervorgehoben hat, nicht auf Regeln zu bringen ist, liefern Erzählungen – fiktionale und nicht-fiktionale – exemplarische »Forschungsreisen durch das Reich des Guten und Bösen«25. Mit Blick auf ihre Komplexität bleiben die abstrakten, standardisierten Exemplifikationen, wie man sie aus Ethiklehrbüchern zur Genüge kennt, gegenüber literarischen Vergegenwärtigungen zurück. Literatur in diesem Sinne eine kognitive Relevanz für die Ethik zuzusprechen, heißt nicht, sie einseitig in den Dienst der Moralphilosophie zu stellen oder gar für eine ganz bestimmte Moralvorstellung in Anspruch zu nehmen. Neben moralisch relevanten Vergegenwärtigungsleistungen der Literatur, gibt es selbstverständlich auch solche, die moralisch neutral und dennoch kognitiv bedeutsam sind. Die vorausgegangenen Analysen sollten deutlich gemacht haben, warum Dichtung trotz und auch wegen ihrer Fiktionalität einen Erkenntniswert haben 24 25
Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 17. Hervorhebung G. G. Paul Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, 201.
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kann. Dabei ist festzuhalten, dass die Dichtung der Lebenswirklichkeit häufig näher kommt als die Historie, weil es in ästhetisch zutreffenden Darstellungen gerade nicht auf das Bestehen singulärer Tatsachen ankommt. Deren Leistung besteht vielmehr in einer exemplarischen Vergegenwärtigung der conditio humana, der Situation des Menschen in seiner Welt.26 In diesem Sinne mag es die Dichtung zwar mit derselben Wirklichkeit zu tun haben wie die Wissenschaft, aber nicht mit bloßen Tatsachen, sondern mit der Sicht der Wirklichkeit aus menschlicher Perspektive. Denken wir etwa an den Unterschied zwischen einer historischen Darstellung der Rolle des Bildungsbürgertums im Dritten Reich und der literarischen Vergegenwärtigung der bildungsbürgerlichen Perspektive in der Figur des Erzählers Serenus Zeitblom in Thomas Manns Roman Doktor Faustus. Halten wir noch einmal fest: Zu unterscheiden sind als gleichberechtigte Formen der Wirklichkeitserkenntnis: (1) die propositionale wissenschaftlich-apophantische Beschreibung der Faktenwirklichkeit, (2) die nicht-propositionale dichterisch-fiktionale Vergegenwärtigung der Lebenswirklichkeit. Es versteht sich, dass diese Gegenüberstellung keine vollständige Einteilung möglicher Erkenntnisformen bietet. Die Komplementaritätsthese schließt weitere Erkenntnisformen ein. Der Dichtung kommt danach ein Erkenntniswert zu, der nicht mit Aussagenwahrheit zusammenfällt. Gegen die Reduktion von Erkenntnis auf propositionale Erkenntnis ist festzuhalten, dass eine Erkenntnis der Dinge und Situationen nicht nur durch deren propositionale Beschreibung erfolgen kann, sondern auch, indem wir durch wirkliche oder imaginative Vergegenwärtigung mit ihnen bekannt gemacht werden.27 Zu unterscheiden ist zwischen propositionaler Erkenntnis, dass etwas der Fall ist, und nicht-propositionaler Erkenntnis, wie es ist oder wäre, sich in der-und-der Situation oder Stimmung zu befinden. Was ich hier zur Rolle von sprachlichen Vergegenwärtigungen ausgeführt habe, hat historische Vorbilder in der Rhetorik der epideiktischen Rede. Die 26 Die Rede von der conditio humana impliziert nicht die Unterstellung anthropologischer Konstanten im Sinne eines »Allgemein-Menschlichen«. Obwohl die Auswahl meiner Beispiele eine gewisse Vorliebe für den poetischen Realismus dokumentiert, möchte ich den Verdacht zurückweisen, meine Überlegungen seien auf diese Tradition beschränkt. Vgl. Gottfried Gabriel, Zwischen Logik und Literatur. Erkenntnisformen von Dichtung, Philosophie und Wissenschaft, Stuttgart 1991, 13 ff. 27 Im Englischen haben wir für diese Unterscheidung die Ausdrücke ›knowledge by description‹ und ›knowledge by acquaintance‹ zur Verfügung.
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Epideixis meint im wörtlichen Sinne ›etwas zur Schau stellen‹ oder ›zeigen‹, also ein Vergegenwärtigen. Schon in der Einteilung der Redegattungen in der Rhetorik des Aristoteles wird sie als auf die Gegenwart bezogen charakterisiert. In ihrer speziellen Funktion der Lobrede ist die Epideixis nach Aristoteles allerdings die niedrigste der drei Redegattungen.28 Wenn man die Epideixis von der Engführung auf die Lobrede befreit und ihren Sprachgestus als solchen in den Blick nimmt, so lässt sich der Begriff der literarischen Vergegenwärtigung in diese Tradition einordnen29 und die aufweisende (epideiktische) Erkenntnis der beweisenden (apodeiktischen) Erkenntnis komplementär an die Seite stellen. Mit Dingen, Situationen und Sichtweisen imaginativ bekannt gemacht zu werden, hat ganz unabhängig von deren moralischer Bewertung einen kognitiven Wert. Die gelungene literarische Vergegenwärtigung von Einstellungen und Lebensformen stellt, ob diese moralisch zu loben, zu billigen oder zu verabscheuen sind, einen Erkenntniswert dar, indem sie mich die conditio humana, gegebenenfalls auch deren dunkle Seiten, kennen lehrt. Um den Unterschied zur propositionalen Erkenntnis auch terminologisch festzuhalten, könnte man hier statt von einem Erkenntniswert auch von einem Kenntniswert der Literatur sprechen. In jedem Falle handelt es sich aber um einen kognitiven Wert der Literatur – auf der Grundlage ästhetischer Prägnanz.
28 Aristoteles, Rhetorik 1358b; Buch I, 3. Kap., Abschn. 3. Vgl. allgemein Stefan Matuschek, Art. »Epideiktische Beredsamkeit«, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. Gert Ueding, Tübingen 1994, Bd. 2, Sp. 1258 – 1267. 29 Vgl. Frithjof Rodi, Die Erkenntnis des Erkannten. Zur Hermeneutik des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1990, 181 ff.
KLEINER BEITRAG
Completing Elizabeth Bishop’s Poetry By Frank J. Kearful
Elizabeth Bishop’s critical reputation has grown steadily since her death in 1979, surpassing that of Robert Lowell, as she has become the most admired American poet of her generation. In his inquiry into »The Elizabeth Bishop Phenomenon« (1995) Thomas Travisano took stock of the attention her work had received, and suggested grounds for its appeal to critics of different persuasions. His own Elizabeth Bishop: Her Artistic Development (1988) was a seminal book, and Adrienne Rich’s seal of approval given in 1987 helped to make Bishop, who never liked the idea of being published in an all-female anthology, more accessible to feminist scholars. Brett Millier’s biography Elizabeth Bishop: Life and the Memory of It (1993) and a selection of Bishop’s letters titled One Art (1995), edited by Robert Giroux, ushered in a host of biographically oriented critical studies. Famous for her »reticence« ever since Octavio Paz’s accolade »Elizabeth Bishop, or The Power of Reticence« (1977), Bishop was revealed as having much to be reticent about. Since 1995 there has been no let-up in books and articles, several of which contribute significantly to giving Elizabeth Bishop her just deserts as a major twentieth-century poet. A critical survey of ongoing Bishop scholarship may be found in the chapter on »Poetry: Since the 1940s« in American Literary Scholarship: An Annual, which since I took over writing it in 2003 always begins with Bishop and takes a while to get beyond her. A separate story that I want to trace here is the very slow progress toward anything approaching a satisfactory »complete« edition of Bishop’s poetry. What such an edition ought, or might, consist of is a debatable point I will be taking up in my discussion of two recent editions that at least move us a bit closer: Edgar Allan Poe & the Juke-Box: Uncollected Poems, Drafts and Fragments, edited by Alice Quinn (2006), and the Library of America edition of Poems, Prose, and Letters, edited by Robert Giroux and Lloyd Schwartz (2008). Part of the story I will relate is the critical reaction to both editions, which I will briefly sample. *
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Ten years before her death Farrar and Straus published The Complete Poems (1969) of Elizabeth Bishop as if nothing more could be expected of her. Their publication of her Geography III in 1976 made a new edition of the »complete« poems necessary, but waiting until Bishop was safely dead, Farrar, Straus and Giroux published Bishop’s The Complete Poems 1927 – 1979 in 1983. The new »complete poems« staked its claim to completeness by including a miscellany of poems grouped under »Uncollected Work [1969],« »New Poems [1979],« »Uncollected Poems,« »Poems Written in Youth,« and »Translations.« A parallel edition of The Collected Prose (1984) edited by Robert Giroux abstained from »complete« but included several previously unpublished prose texts, thus giving an impression of virtual completeness. Edgar Allan Poe & The Juke-Box: Uncollected Poems, Drafts, and Fragments, edited and annotated by Alice Quinn (Farrar, Straus and Giroux, 2006) put paid to the notion that the 1983 Complete Poems was anything like complete. Admittedly, some of the poems in the edition had already made their way into critical studies written by scholars who like Quinn had pored over manuscripts in Vassar’s collection of Bishop’s papers, or had made finds elsewhere. Lorrie Goldensohn, for example, in Elizabeth Bishop: The Biography of a Poetry (1992) had discussed »It is marvellous to wake up together« as a key poem in Bishop’s œuvre. Published the same year as Quinn’s edition, Jonathan Ellis’s Art and Memory in the Work of Elizabeth Bishop made extensive and telling use of unpublished materials, including some not in Edgar Allan Poe & The Juke-Box. James Fenton included »Breakfast Song« in his 2006 New Faber Book of Love Poems, and Quinn herself had seen to it that some of the poems in her edition were published in advance in The New Yorker, where »Elizabeth Bishop« was given as the author, without the customary parenthetical reference in case of posthumous publication to years of birth and death. Flummoxed readers might wonder, was this a young poet with the same name as the Elizabeth Bishop who was now bursting on the literary scene with multiple publications in The New Yorker? Or had Bishop been in touch with Quinn from beyond, like W. H. Auden with James Merrill at his Ouija board in The Changing Light of Sandover? Overlooking such trifles, most reviewers fervently sang the praises of Quinn’s edition, and of Bishop herself, none quite so highly as David Orr in The New York Times Book Review of April 2, 2006, who in the course of hailing the edition informed his readers that they were »living in a world created by Elizabeth Bishop,« and that in the second half of the twentieth-century »no American artist in any medium was greater than Bishop« (1). Edgar Allan Poe & The Juke-Box nevertheless attracted some criticism, notably from Helen Vendler, whose scathing review in The New Republic appeared a day after Orr’s encomium. Vendler titled her piece »The Art of Losing,« thus giving the
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opening words of Bishop’s villanelle »One Art« a different twist. Her objections begin with the edition’s subtitle, which ought to have been »Repudiated Poems« since Bishop never intended that they would be published, and she would be appalled to discover that they had been after she no longer had any say in the matter. Vendler also charges that Quinn’s subtitle is fraudulent, since »uncollected poems« indicates separate publication without later inclusion in one of the poet’s collections. The prior publication of a few of the poems in The New Yorker qualifies Vendler’s terminological objection, but it holds for the vast majority of the poems, drafts, and fragments in Edgar Allan Poe & The Juke-Box. While arguing that the »repudiated« poems did not meet Bishop’s exacting standards for publication, Vendler concedes that Bishop may have withheld a few of them more on prudential than literary grounds, notably the love poem »It is marvellous to wake up together.« Bishop died without forewarning on October 6, 1979 of a cerebral aneurysm, and without having made provision for the disposal of her »repudiated« poems, which Vendler maintains she would have done had death not thus overtaken her. Speaking up on what she takes to be Bishop’s behalf, Vendler roundly condemns Quinn’s violation of Bishop’s wishes. Susan Rosenbaum produced another scenario of how Bishop might react to Quinn’s edition in her judicious review »Collecting Elizabeth Bishop« in the Spring 2007 number of Twentieth-Century Literature. Rosenbaum ponders the obvious question, why did Bishop despite numerous changes of abode ranging from New York to Key West to Brazil to Seattle to Boston save the unfinished poems, drafts, and fragments that Quinn published, and more she did not? Rosenbaum reminds us that Millier’s biography touched upon Bishop’s hope to sell her unpublished writings, which suggests that she envisioned the public’s having some degree of access to them. In a 1975 letter to a Miss Pierson, who had written seeking advice on poetry, Bishop told her to read the great poets of the past, then of the twentieth of century, and »not just 2 or 3 poems each, in anthologies – read ALL of somebody. Then read his or her life, and letters, and so on. (And by all means read Keats’s letters.) Then see what happens« (quoted in Quinn 249, cited by Rosenbaum 80). Rosenbaum remarks, »[i]n this instance Bishop suggests the importance of letters and biography to a full appreciation of a writer’s work. Even if in her own case she couldn’t contemplate this kind of self-exposure without feelings of shame or horror, in saving her journals, letters and drafts she seemed to understand the necessity, even the desirability, of receiving full historical treatment as a major writer« (80). Bishop was shy, but not that shy. Even assuming that she foresaw, perhaps with mixed feelings, that her unpublished manuscript poems and drafts would one day be published, what would she think of Quinn’s Edgar Allan Poe & The Juke-Box as a title for an
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edition that gave Elizabeth Bishop as the author? Jonathan Ellis does not venture to tell us, but in his perspicacious review »Elizabeth Bishop’s Bone Key Poems« (2008) in the January / February issue of PN Review he confesses that he finds Quinn’s title »rather distracting and misleading« (38). Robert Giroux once intimated that Bishop had wished that her poem »Edgar Allan Poe & The Juke-Box« might be added on at the end of her second collection, A Cold Spring (1955), to make it less slim, but she expressed no wish for a change of title. The fact that she crossed out the manuscript copy of the poem – drawing a heavy line diagonally through it from the upper left corner of the page to the bottom right corner – does not lead one to suspect that she intended it one day as the title poem of a book yet to be written. Quinn chose it nonetheless because of its ostensible importance to Bishop and to »make clear to readers straightaway that this is a book of material Bishop had not stamped for publication. She crossed out the poem in her notebook, and we reproduced it that way« (81). I am not quite sure what to make of Quinn’s rationale, but I suspect that the title also appealed to her as an attention-getter. It may also be that Robert Giroux, who engaged Quinn to produce the edition, had a decisive say in the matter. Ellis observes that Bishop had a working title of her own, Grandmother’s Glass Eye, for her unfinished poems. Quinn’s notes prove that at the time Bishop wrote »Edgar Allan Poe & The Juke-Box,« which exists only in one handwritten draft, she was interested in Poe, but Ellis rightly points out that Poe hardly ranked among such favorite poets of hers as George Herbert (her lifelong favorite), Gerard Manley Hopkins, and Charles Baudelaire. Bishop never mentioned Poe in any interview, and the only two poets whose names are mentioned in her published poems are Baudelaire and Blake. Ellis’s second objection to Quinn’s title is »the weight of expectation it places on a single poem, particularly as it is not among Bishop’s best in the book« (38). His analysis of the poem’s second stanza proves his point, and he speculates that Bishop crossed out the poem because »she could not sort out the poem’s tone« (38). Since there are often several drafts of the same text in Vassar’s Bishop collection, Quinn had to choose not only which poems to print but, again and again, which version. She explains, »[i]n all cases I present the most coherent, intact draft – the fullest and / or most legible available – rather than opt for a less decipherable or less complete version of a more advanced draft. In the notes to the individual poems, I have reproduced many of the revisions and variants I found« (xvi – xvii). The notes take up about one-third of the edition and are ample, not to say sprawling, sometimes running to several pages on a given text. They incorporate all manner of biographical and historical information, extended quotations from letters to and from Bishop, lengthy quotations from scholarly works on Bishop, acknowledgements of assistance, textual informa-
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tion, references to alternative drafts, and miscellaneous material considered of interest. The absence of an index is hard to explain. One of Quinn’s decisions that all readers of Bishop’s poetry will applaud is her provision of facsimiles of the sixteen draft versions of one of Bishop’s major poems, »One Art,« which Bishop included in Geography III. It is hardly »uncollected« let alone »unpublished,« but never mind. Brett Millier made illuminating use of the drafts in an essay and in her Elizabeth Bishop: Life and the Memory of It, but now each of us can trace the poem’s evolution toward its final state. Quinn additionally provides facsimiles of roughly two dozen manuscript pages to accompany her transcriptions of drafts that are sometimes typed but more often handwritten and difficult to decipher. Rosenbaum found herself sometimes disagreeing with Quinn’s transcriptions of these facsimiles, and other readers may, too. Quinn faced a difficult task, and her making degree of legibility a factor in her choice of drafts is understandable. Whatever their reservations about Edgar Allan Poe & The Juke-Box, reviewers regularly give a list of poems in it that should be included in any new edition of Bishop’s »complete« poetry. Love poems are on everyone’s list, with »It is marvellous to wake up together« and »Breakfast Song« cropping up most often. But other sorts of poems are mentioned, such as Rosenbaum’s favorite draft, »One afternoon my aunt and I . . . ,« which becomes a view of an afternoon rendered through a grandmother’s glass eye. Ellis notes that Grandmother’s Glass Eye, which he prefers to Quinn’s »distracting and misleading title«, was Bishop’s own working title for her unfinished poems. He also reckons that at least a quarter of the poems Quinn chose deal critically with social inequality, which makes Edgar Allan Poe & The Juke-Box »a more political book« (40) than might have been predicted. He singles out for close commentary »The Street by the Cemetery,« which subtly addresses institutionalized racism in Key West. To what extent a new Complete Poetry will incorporate previously unpublished work, or unpublished until Quinn’s edition came along, remains to be seen. In the meantime, the Library of America edition of Poems, Prose, Letters, edited by Robert Giroux and Lloyd Schwartz (2008), goes a long way, one might argue a sufficiently long way, to giving us the sort of edition that we need. At 979 pages it is as substantial a volume as one might want, and the inclusion of published and unpublished prose texts, and fifty-three letters, many not in One Art, and in contrast to One Art all unabridged, adds to the volume’s attractions. A detailed chronology, biographical notes on persons mentioned in the volume, notes on the provenance of the texts, explanatory notes, an index of poem titles and first lines, and an index provide all that one could wish by way of apparatus for a reading edition.
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Poems, Prose, Letters prints Bishop’s four collections, North & South, A Cold Spring, Questions of Travel, and Geography III, in their original order and state, plus all other poems from the 1983 Complete Poems and, sometimes in different versions, sixty-one pages of poems also in Edgar Allan Poe & The Juke-Box. Readers long familiar with The Complete Poems will notice three welcome editorial decisions: the provision of both the earlier version of »Arrival at Santos« that was published as the penultimate poem in A Cold Spring and the later version that initiates Questions of Travel; the reinstallation of Bishop’s autobiographical story »In the Village« in the »Elsewhere« section of Questions of Travel; and the transfer of »Objects and Apparitions« from the »Translations« section of The Complete Poems to the home Bishop gave it in Geography III. Bishop’s several revisions in »Arrival at Santos,« which the Library of America editors refer to as »telling« (934), include a particularly puzzling one. Why did Bishop change »Scotch and cigarettes« to »bourbon and cigarettes?« In his review »Scotch or Bourbon?« in The Elizabeth Bishop Society of Nova Scotia Newsletter (Winter, 2008) Jonathan Ellis gives an answer worth pondering. In the Cold Spring version, »the travellers’ colonial expectations are perhaps too deliberately underlined by their desire for English-speaking custom officials to leave them their bottles of ›Scotch.‹ This reminds the reader of England’s tense relationship with Scotland in terms of culture, history and of course language.« Peering at the text, Ellis goes on, »[a]s the words ›English‹ and ›Scotch‹ face against each other across poetic lines, an analogous cultural clash between North and South America is being enacted in the poem as a whole, one that neither America quite wins.« Ellis, Bishop’s most astute English critic, notes that »bourbon and cigarettes« in the later version is more American-sounding but that with the sacrifice of the ›English⁄ ›Scotch‹ duality political resonance is lost, which he correlates with Robert Lowell’s impression that living in Brazil made Bishop more conservative politically (3). Could it be that Bishop simply made the poem more autobiographical, since she was a bourbon drinker? The only regret I have about the Library of America edition is that the standard format of the series on occasion requires curtailing exceptionally long lines and disposing of the leftover as a one-word or two-word or three-word indented following line. This happens on eight occasions in »Cape Breton,« a quite long poem where we encounter as indented printed lines »edge,« »hills,« »abandoned,« »upward,« »pump parts,« »coat on a hanger,« »doorknob,« »meadow.« Things could be worse, as one knows from any number of editions of any number of poets whose verse lines are thus severed toward their end, but it is unfortunate that the Library of America volumes, ideally sized for prose and fully adequate for verse most of the time, cannot be more accommodating. The Complete Poems 1927 – 1979 has much that can be said against it,
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beginning with Giroux’s misleading prefatory »Publisher’s Note« (xvi), but it required only three curtailments and forced indentations for »Cape Breton«. One misprint in the first printing of this new Bishop edition has undoubtedly been corrected by now, the absence of a visual break between the first and second verse paragraphs of »Over 2000 Illustrations and a Complete Concordance« (45), given as »Over 2,000 Illustrations and a Complete Concordance« in The Complete Poems 1927 – 1979 text that most scholars over the last three decades have quoted from. Not having a first edition of A Cold Spring at hand, I cannot declare a winner. I have been as diligent as possible, though, in searching for molehills to make mountains out of in this splendid edition for which everyone interested in Bishop’s poetry will be tremendously grateful. For me, it will serve perfectly well as the »complete« edition that has been for so long a desideratum. Its incorporation of poems Bishop apparently did not seek to publish is not only justified but necessary, given their quality and their place in any overall assessment of Bishop as a poet. Two »new« love lyrics, arguably the best she ever wrote, »It is marvellous to wake up together« and »Breakfast Song,« are the most important additions to the Bishop canon. The inclusion of such a substantial body of prose, vastly more than previously available in The Collected Prose, could justify »Complete Poetry, Prose, and Selected Letters« as a legitimate title for the volume. Among the fifty-three letters one finds the entire »Darwin« letter to Anne Stevenson, in which Bishop gives her most telling account of her poetics, but my favorite letter is one to Robert Boyers, written to him in 1973 in his capacity as editor of Salmagundi, which had published an article on Bishop’s work by Jan B. Gordon. Bishop’s letter is a wonderful example of that minor genre, an author’s reply to a negative critical assessment that is brimming with elementary factual mistakes about the printed texts of the works slammed. Poor Jan B. Gordon, whose article of long ago and name are now given a place in history, thanks to the newest and best »complete« Bishop edition of Bishop’s poetry. Works Cited American Literary Scholarship: An Annual, ed. David B. Nordloh and Gary Scharnhorst, Durham: Duke University Press, 2003. Elizabeth Bishop, The Collected Prose, ed. Robert Giroux, New York: Farrar, Straus and Giroux, 1983. – The Complete Poems, New York: Farrar, Straus, 1969. – The Complete Poems 1927 – 1979, New York: Farrar, Straus and Giroux, 1983. – Edgar Allan Poe & The Juke-Box, ed. Alice Quinn, New York: Farrar, Straus and Giroux, 1983.
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– Geography III, New York: Farrar, Straus, 1976. – One Art: Letters, ed. Robert Giroux, New York: Farrar, Straus and Giroux, 1983. – Poems, Prose, Letters, ed. Robert Giroux and Lloyd Schwartz, New York: Library of America, 2008. Jonathan Ellis, Art and Memory in the Work of Elizabeth Bishop, Aldershot: Ashgate, 2006. – »Elizabeth Bishop’s Bone Key Poems«, PN Review 34:3 (2008), 37 – 40. – »Scotch or Bourbon?«, The Elizabeth Bishop Society of Nova Scotia Newsletter 14 (Winter 2008), 1 – 3. James Fenton (ed.), The New Faber Book of Love Poems, London: Faber and Faber, 2006. Lorrie Goldensohn, Elizabeth Bishop: The Biography of a Poetry, New York: Columbia Univ. Press, 1992. Jan B. Gordon, »Days and Distances: The Cartographic Imagination of Elizabeth Bishop«, Salmagundi 22 / 23 (1973), 294 – 305. Brett C. Millier, »Elusive Mastery: The Drafts of Elizabeth Bishop’s ›One Art‹ «, New England Review (Winter 1990), in: The Geography of Gender, ed. Marilyn May Lombardi, Charlottesville: Univ. of Virginia Press, 1993. – Elizabeth Bishop: Life and the Memory of It, Berkeley: Univ. of California Press, 1994. David Orr, »Elizabeth Bishop’s Rough Gems«, The New York Times Book Review (April 2, 2006), 1 and 10 – 11. Octavio Paz, »Elizabeth Bishop, or the Power of Reticence«, translated from the Spanish and printed in: World Literature (Winter 1977), 13 – 16, reprinted in: Elizabeth Bishop and Her Art, ed. Lloyd Schwartz and Sybil P. Estees, Ann Arbor: Univ. of Michigan Press, 1983, 211 – 13. Alice Quinn, »Interviewed by Meghan O’Rourke«, The Believer (March 2006), 77 – 84. Adrienne Rich, »The Eye of the Outsider: Bishop’s Complete Poems«, Boston Review (April 1983), 15 – 17. Susan Rosenbaum, »Collecting Elizabeth Bishop«, Twentieth-Century Literature 53.1 (2007), 79 – 87. Thomas Travisano, Elizabeth Bishop: Her Artistic Development, Charlottesville: Univ. of Virginia Press, 1988. – »The Elizabeth Bishop Phenomenon«, New Literary History 26 (1995), 903 – 930. Helen Vendler, »The Art of Losing«, The New Republic (April 3, 2006) 33 – 37.
BUCHBESPRECHUNGEN Norbert Kössinger, Otfrids ›Evangelienbuch‹ in der frühen Neuzeit. Studien zu den Anfängen der deutschen Philologie. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 2009. 341 S. Nicht allein dem Evangelienbuch, das der elsässische Mönch Otfrid von Weißenburg zwischen 863 und 871 verfasste, sondern auch dessen Rezeption in der frühen Neuzeit hat die Forschung seit über einem Jahrhundert große Aufmerksamkeit gewidmet; ein Interesse, das Ernst Hellgardt 1989 wie folgt begründete: »Mit der Einführung des Namens Otfrid in die gelehrte Diskussion [ . . . ] beginnt die Geschichte der deutschen Philologie. Denn Otfrids Evangelienbuch ist der erste mittelalterliche deutsche Text, der zum Gegenstand philologisch gelehrter Auseinandersetzung aus bewusster historischer Distanz heraus wird.«1 An diese Position seines Lehrers anknüpfend hat der Paderborner Mediävist Norbert Kössinger in seiner nun erschienenen Dissertation eine exemplarische Auswahl frühneuzeitlicher Rezeptionszeugnisse des althochdeutschen Evangelienbuchs untersucht. Kössingers Interesse gilt weniger der religiös-konfessionellen Inanspruchnahme des Evangelienbuchs, der Verwendung des Werkes als historischer Quelle oder gar literarischen Adaptationen (die er bisweilen ebenfalls anführt), sondern den Methoden, mit denen Philologen verschiedener Jahrhunderte an diesem Text arbeiteten. Diese stellt er akribisch und materialreich dar. Kössinger unternimmt dabei den – wie ich finde: geglückten – Versuch, die »Wiederentdeckung und Geschichte der Erforschung des Evangelienbuchs [ . . . ] als eigenständigen und eigenwertigen Gegenstandsbereich einer Geschichte der deutschen Philologie auszuweisen« (15). Als Kernelemente der philologischen Otfrid-Rezeption untersucht Kössinger zunächst die Wiederauffindung und erste Beschreibung bzw. Erwähnung der vier Handschriften V (Wien), F (Freising / München), P (Heidelberg) sowie des Codex discissus, einer makulierten, heute als Fragment auf mehrere Orte verteilten Handschrift (Kap. 2). Anschließend legt er die Umstände und Prinzipien dar, unter denen Abschriften dieser Codices, frühe textkritische Arbeiten 1 Ernst Hellgardt, »Nulli suo tempore secundus. Zur Otfridrezeption bei Johannes Trithemius und im 16. Jahrhundert«, in: Albrecht Greule und Uwe Ruberg (Hgg.), Sprache – Literatur – Kultur. Studien zu ihrer Geschichte im deutschen Süden und Westen. FS Wolfgang Kleiber, Stuttgart 1989, 355 – 375, hier 355.
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sowie die Katalogisierung der Handschriften vorgenommen wurden (Kap. 3). Untersuchungen v. a. zur ersten Edition des Otfrid-Textes (Kap. 4) sowie zu Kommentarwerken und Vorarbeiten für die Integration des Evangelienbuchs in einen Thesaurus früher volkssprachlicher Texte (Kap. 5) bilden die Schwerpunkte des abschließenden Untersuchungsteils der Arbeit. Weitere Fallstudien, etwa die ebenso knappen wie luziden Überlegungen zu (angeblich) verlorenen bzw. falsch zugeschriebenen Otfrid-Handschriften (Kap. 2), schließen jeweils an diese zentralen Komplexe an. Solche scheinbaren ›Einsprengsel‹ beugen zugleich einer von Kössinger selbst gesehenen Gefahr vor, nämlich dass die in den Kapiteln analysierten Methoden als alleiniges philologisches Instrumentarium der frühen Neuzeit verstanden werden könnten oder sogar ein strikt diachron beschreibbarer Rezeptionsprozess mit sauber trennbaren Arbeitsschritten anzunehmen wäre (vgl. 214). Stattdessen schildert der Verfasser die Rezeption des Evangelienbuchs anhand zwar meist aufeinander Bezug nehmender, aber nicht notwendig ineinander greifender philologischer Projekte. Die Otfrid-Rezeption der frühen Neuzeit war kein linear verlaufender Weg stetigen ›Fortschritts‹, sondern beinhaltete qualitative Rückschritte und wurde von bisweilen eher gegen- als miteinander um Erkenntnis ringenden Forschern bestritten. Drastische Urteile der Untauglichkeit früherer Arbeiten (vgl. 185) oder die Unterstellung unredlicher Motive (112) sind offenbar eine wissenschaftliche Gepflogenheit ebenso der frühen Neuzeit wie des 19. Jahrhunderts (oder der Gegenwart). Kössinger urteilt hingegen bei seinen Betrachtungen der frühneuzeitlichen Philologen und ihrer Leistungen stets ausgewogen und bemüht sich um (im weiteren Sinne) historische Gerechtigkeit. Chronologisch reichen Kössingers Darstellungen ein wenig über die im Titel des Buches genannte »frühe Neuzeit« (also bis etwa zur Französischen Revolution) hinaus, nämlich von der Wiederentdeckung der vier frühmittelalterlichen Otfrid-Handschriften und der erstmaligen Erwähnung des Evangelienbuchs durch Johannes Trithemius im Jahre 1494 bis zu Karl Lachmanns 1833 verfasstem und drei Jahre später erschienenem Lexikonartikel zu Otfrid. Diese zeitliche Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes ist als Anfang der philologischen Beschäftigung mit Otfrid bzw. als Auftakt der systematischen Edition und Interpretation des Evangelienbuchs im späteren 19. Jahrhundert dem Betrachtungsgegenstand angemessen gesetzt. Schwerpunktstudien der Monographie bilden neben der erwähnten Wiederentdeckung und ersten Beschreibung der Otfrid-Manuskripte die Abschrift der Heidelberger Handschrift P durch Achill Pirmin Gasser 1560 (Kap. 3), die erste Otfrid-Edition durch Matthias Flacius (Basel 1571) mitsamt den Umständen ihrer Entstehung (Kap. 4) sowie die editorischen (Vor-)Arbeiten Johann Schilters und Dietrich von Stades im ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhundert. Besonders beachtlich scheint mir, dass Kössinger u. a. eine unbekannte Abschrift der Edition Schil-
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ters entdeckt (100), eine überaus nützliche Liste aller erhaltenen Drucke der Flacius-Ausgabe erstellt (159 ff.) und erstmals den Nachlass Dietrich von Stades sichtet und beschreibt (170 ff.). Akribisch recherchiert und stets fundiert, überaus materialreich und in gut lesbarer Sprache legt Kössinger in insgesamt zehn Kapiteln (inklusive der Einführung, eines ebenso umfangreichen wie gründlich gearbeiteten editorischen Anhangs sowie eines Literaturverzeichnisses mitsamt Register) eine Arbeit vor, wie sie sich jeder Leser nur wünschen kann. Kaum ins Gewicht fallen kleinere Schwächen und einige Druckfehler, wenige inhaltliche Ungereimtheiten (vgl. 135 oben) oder die etwas geringere Qualität der kurzen Kapitel 6 und 7 im Vergleich mit den vorzüglichen vorherigen Abschnitten; das siebente Kapitel scheint mir als sehr knappe und angesichts des schlüssigen Ganzen der Arbeit unnötig vorsichtige Darstellung einer »möglichen Alternative« (211) des Ansatzes dieser Monographie sogar insgesamt verzichtbar zu sein. Dessen ungeachtet ist festzustellen: Wer immer sich in der Zukunft für Otfrids Evangelienbuch, für dessen Rezeption vom 15. bis zum 19. Jahrhundert und die Methodik der mit frühen volkssprachlichen Texten befassten Philologie seit der Mitte des letzten Jahrtausends interessiert, wird mit diesem Buch ein Standardwerk zur Verfügung haben. Die eigentliche ›Pointe‹ dieser Monographie ist indes eine andere: Letztlich schlägt Kössinger in seiner Studie vor, die Geschichte der Mittelaltergermanistik gut 300 Jahre vor ihrer institutionellen Etablierung im frühen 19. Jahrhundert beginnen zu lassen, da ihre Methodik im Kern schon damals, an der Grenze von Mittelalter und Frühneuzeit, ausgeprägt gewesen sei. Hierbei fußt er u. a. auf Ansichten Hellgardts (etwa in seinem Flacius-Aufsatz von 1992, 268 f.) und – ohne Nennung – Thomas Beins (»Mit fremden Pegasusen pflügen«, Berlin 1998, 238 f.); diese Positionen stellt die Monographie nun auf eine breitere Basis. Das Schlusswort des Untersuchungsteils lautet dementsprechend: »Dass diese Voraussetzungen und Bedingungen [sc. der Fachdisziplin] in ihren Anfängen rund 300 Jahre früher anzusetzen sind, als dies für gewöhnlich und unter Berufung auf das nicht bestreitbare Faktum ihrer Institutionalisierung angenommen wird, wäre eine Erkenntnis, die das Blickfeld der germanistischen Wissenschaftsgeschichtsschreibung weiten und möglicherweise auch zur kritischen Selbstreflexion des Faches beitragen könnte.« (216) Dem Verfasser selbst ist der für die Otfrid-Forschung »qualitative Sprung in der Mitte des 19. Jahrhunderts« (9) bewusst, und er formuliert seinen Vorschlag einer weitreichenden Vordatierung der germanistischen Mediävistik entsprechend vorsichtig. Die Frage, inwiefern das (in seinen Grundfertigkeiten vorderhand tatsächlich erstaunlich ›moderne‹) methodische Instrumentarium der frühneuzeitlichen Ot-
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frid-Rezeption tatsächlich dazu berechtigt, die Anfänge der germanistischen Mediävistik um etwa 300 Jahre vorzudatieren, sollte jedenfalls ebenso Gegenstand von Anschlussarbeiten im Detail wie einer Diskussion über die Historie der Disziplin sein. Matthias Kirchhoff, Tübingen Acta Sanctae Luciae, hg. Tino Licht [Editiones Heidelbergenses XXXIV], Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2008. LXI, 142 S. 3 Abb. s / w. Sigebert, Mönch des Klosters Gembloux (OSB, Diözese Lüttich) und lange Jahre (wohl ab 1048 bis 1072) Scholaster des Klosters St. Vinzenz auf der Moselinsel in Metz, geb. um 1030, gest. am 5. Okt. 1112 in seinem Heimatkloster, ist einer der bedeutendsten, gelehrtesten und vielseitigsten Autoren seiner Zeit, bekannt als Hagiograph, Historiograph, »Literarhistoriker« (mit seinem Catalogus de viris illustribus, in dem er auch seine eigenen Werke aufzählt), als Komputist, Exeget, Dichter und Publizist im Rahmen des Investiturstreits. Das hier vorliegende, hübsch gestaltete und mit 3 s / w-Abbildungen ausgestattete Bändchen1 der mittlerweile ehrwürdigen Reihe der ›Editiones Heidelbergenses‹ bietet mit Sigeberts Schriften über die aus Syracus stammende Heilige Lucia einen Ausschnitt aus seinem – auch sonst reichhaltigen – hagiographischen Schaffen. Im Einzelnen findet man im Editionsteil des Büchleins die drei LucienSchriften Sigeberts: Erstens als Haupttext seine Passio Sanctae Luciae [virginis] metrica (2 – 97, kurz Passio metrica). Diese besteht aus einem Passio-Teil mit der Schilderung von Lucias Taten und Tod (Str. 1 – 309) und aus einem Translatio-Teil, der über die verschiedenen Stationen der Verbringung der Gebeine Lucias [und anderer Heiliger] von Syracus [und anderen Orten] bis nach St. Vinzenz in Metz berichtet (Str. 310 – 370). Begleitet wird dieser Haupttext zweitens von Sigeberts Excerptum de passione Sanctae Luciae virginis (98 – 107, kurz Excerptum), einer Prosa, in welcher ein für die Authentizität Lucias als Heiliger bedeutendes chronologisches Problem der Datierung ihres Martyriums diskutiert wird. Hinzu kommt drittens Sigeberts Prosa Sermo et relatio passionis et translationis sanctae martyris Luciae (108 – 127, kurz Translatio). Dieses Stück entspricht inhaltlich dem Translatio-Teil der Passio metrica. Ergänzend zu diesen Texten Sigeberts bringen zwei Appendices weitere Stücke: erstens eine anonyme Epistola monachorum Lintburgensium aus dem 1 Ein Verzeichnis der Abbildungen fehlt. Gute Wiedergaben aus den Handschriften: Umschlagbild und Frontispiz Berlin, Kupferstichkabinett, 78 A 4 [Metz, St. Vinzenz, A. D. 1161?]), ferner S. XLII (dieselbe Hs., fol 19v); S. XIV (Den Haag, Museum MeermannoWestreenianum, 10 B 12, fol 8r [Metz, saec. XI med.]; und S. XXXIX (München, BSB, clm 28565 [Metz, St. Vinzenz, 1154]) – lauter Zimelien ihrer Zeit.
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11. Jahrhundert (124 – 217), d. i. ein Brief der Mönche von Limburg an der Haard (Diözese Speyer) an die Mönche von St. Vinzenz in Metz; zweitens die alte, ebenfalls anonyme Passio S. Luciae (128 – 134), das ist für den Passio-Teil der Vorlage-Text von Sigeberts Passio metrica. Diese beiden nicht von Sigebert stammenden Prosastücke sind für die Entstehung seiner Lucien-Schriften aufschlussreich. Mit diesem Textensemble rechtfertigt sich Lichts Sammeltitel Acta Sanctae Luciae, den so weder die Handschriften nennen noch Sigebert selbst in seinem Catalogus de viris illustribus, wo er auch seine eigenen Schriften, darunter die Passio metrica und die Translatio aufzählt. Freilich laufen unter Lichts Sammeltitel nun auch die nicht von Sigebert verfaßten, anonymen Stücke der Appendices. Die liturgischen Hymnen und Sequenzen auf die Heilige Lucia sind in die Ausgabe nicht übernommen. Für sie ist Sigeberts Autorschaft vielleicht annehmbar, aber nicht zweifelsfrei erweisbar; der Catalogus de viris illustribus Sigeberts nennt sie nicht.2 Allen Texten außer der alten, anonymen Passio S. Luciae sind synoptisch Übersetzungen beigegeben, links Text, rechts Übersetzung. Buchtechnisch ist es mit Rücksicht auf die Einhaltung der Synopsen bedingt, dass den rechtsseitigen Werktiteln vorgeschaltet auf den linken Seiten (2, 98, 108, 124 und 128) die Siglen der zum folgenden Werk verwendeten Handschriften vermerkt sind, allerdings ohne dass die Referenz auf das jeweils folgende (nicht das vorangehende) Werk angegeben wird. Spätestens vom zweiten Text an ist das unbequem, weil der Benutzer nicht gleich sieht, ob es sich um die Siglen zum vorangehenden oder zum folgenden Text handelt. Erklärte Ziele des Büchleins laut Einleitung (IX – LIV) sind »neben der Textverbesserung und Zusammenstellung [der Lucia-Werke Sigeberts und zugehöriger weiterer Texte, s. u.] in einem Band die Erstellung bzw. Erweiterung des Similienapparates und die Übersetzung«, begleitet von Ausführungen zu »Entstehungsbedingungen, Chronologie, literarische[r] Einordnung, Metrik und Handschriften [der einschlägigen Lucia-Texte]« (X). Licht setzt hier als Editor um, was er in einer wenige Jahre zuvor erschienenen Monographie zu Sigebert und in einem Festschriftbeitrag ermittelt hat.3 2 Für wahrscheinlich hält die Autorschaft Sigeberts Joseph M. A. F. Smits van Waesberghe, »Neue Kompositionen des Johannes von Metz (um 975), Hucbalds von St. Amand und Sigeberts von Gembloux?«, in: Speculum musicae artis. Festgabe für Heinrich Husman zum 60. Geburtstag am 16. September 1968, hg. Heinz Becker, Reinhart Gerlach, München 1970, 285 – 303. – In Sigeberts Catalogus de viris illustribus sind diese Texte nicht genannt. 3 So angegeben auf S. XX, Anm. 28 und auf S. XXV, Anm. 40. Tino Licht, »Sigebert von Gembloux und das Kloster Limburg«, in: Scripturus vitam. Festgabe für Walter Ber-
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Lichts Einleitung enthält überaus sorgfältige Beschreibungen aller benutzten Handschriften mit vollständigen Inhaltsangaben, knappen Literaturhinweisen und Schwerpunkten auf der Bestimmung von Provenienz und Datierung. Dabei findet mehrfach die unrühmliche Rolle des ehemaligen Metzer Benediktiners Jean-Baptiste Maugérard (1735 – 1815) Erwähnung, der nach der Auflösung der geistlichen Orden Frankreichs im Jahr 1790 zwischen 1795 und 1801 in Deutschland mit Metzer Kodizes als Handschriftenhändler agierte. In der Tat hat eine Sammelausgabe aller drei Werke Sigeberts zur Heiligen Lucia bisher gefehlt, ja von seinen Prosa-Stücken Excerptum und Translatio gab es bisher nur einen (seltenen) Druck des 17., sowie von seiner Passio metrica (3 – 98) einen Druck des 18. Jahrhunderts4 und die vorläufige Edition Dümmlers5, in der nur eine der beiden damals verfügbaren Handschriften und selbstverständlich nicht die inzwischen bekannt gewordene dritte ausgewertet worden sind.6 In der Einleitung stellt Licht ausführlich die Einbindung der Lucien-Schriften in die literarische Kultur der Metzer Abtei St. Vinzenz dar, wie sie sich besonders in dem von Sigebert benutzten codex domesticus des Klosters spiegelt (Abb. 2),7 einer Sammlung aus der Mitte des 11. Jahrhunderts mit Passionen und anderen Schriften zu den Heiligen von St. Vinzenz. Zu ihrem Bestand gehört insbesondere auch die Vorlage zu Sigeberts Passio metrica, die genannte anonyme Prosa-Passio S. Luciae, und möglicherweise noch eine Lage mit den Sigebert zweifelhaft zugeschriebenen Lucia-Hymnen und -Sequenzen. Mit seiner Vita des für die Reliquienausstattung von St. Vinzenz hoch bedeutenden Erzbischofs Dietrichs I. (965 – 984), die der Handschrift später entfremdet wurde, hat Sigebert zu diesem codex domesticus selbst beigetragen. Als historischen Hintergrund für die Entstehung von Sigeberts LucienSchriften stellt Licht heraus, dass diese entscheidend bedingt sind durch die schin zum 65. Geburtstag, Heidelberg 2002, 949 – 956, und ders., Untersuchungen zum biographischen Werk Sigeberts von Gembloux, Heidelberg 2005. 4 Excerptum de Passione Sanctae Luciae Virginis und Translatio Sanctae Martyris Luciae in: Vitae Sanctorum Siculorum Ex Antiquis Graecis Latinisque Monumentis, & ut plurimum ex M.S.S. Codicibus nondum editis collectae . . . , ed. Ottavio Gaetano, Palermo 1657; auf S. 98 und S. 108 gibt Licht als Erscheinungsjahr 1757 an, die richtige Zahl 1657 auf S. X und S. LV bei ihm. Zur Passio metrica außerdem Acta sincera Sanctae Luciae virginis et martyris Syracusanae, ed. Giovanni di Giovanni, Palermo 1758. 5 Sigebert’s von Gembloux Passio Sanctae Luciae Virginis und Passio Sanctorum Thebeorum, hg. Ernst Dümmler (Abhandlungen der Königl. Preuss. Akademie der Wissenschaften zu Berlin), Berlin 1893. 6 Be: Berlin, Kupferstichkabinett, 78 A 4; Br: Brüssel, Bibliothèque Royale, 9810 – 14; M: München, BSB, clm 28565 (ehemals Gotha Membr. I 61); Dümmler verwendete nur M, nicht die ihm bekannte Br.; Be kannte er nicht. 7 Den Haag, Museum Meermanno-Westreenianum 10 B 12.
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Aktivitäten Dietrichs I., die zu Sigeberts Zeit bereits lange zurück lagen. Als Vetter Ottos d. Gr. und bedeutender Reichspolitiker hatte Dietrich während der Jahre 970 – 972 in Italien auf recht dubiose Weise zahlreiche Heiligenreliquien und -requisiten für Metz erbeutet. Besonders bedacht hatte er seine Klostergründung St. Vinzenz auf der Metzer Moselinsel, wo dann Sigebert rund 150 Jahre später tätig war. St. Vinzenz hatte so auch die Gebeine der Syracuser Märtyrerin Lucia erhalten, und zwar aus Korfinum8, wohin sie zwischenzeitlich durch den Langobardenherzog Faroald von Spoleto (703 / 5 – 711) aus Syracus entführt worden waren. All das und auch die Überbringung vieler weiterer Heiligenreliquien ist in der bei Licht nicht mitedierten anonymen Inventio sanctorum a domno Deoderico pontifice repertorum9 eines der Beauftragten Dietrichs erzählt, einem Translationsbericht, der mit der Verbringung der Gebeine Lucias nach Metz endet. Diese Inventio hatte Sigebert schon für seine Dietrich-Vita bearbeitet; sie bot ihm auch hauptsächlich die stoffliche Grundlage für seine Translatio und den Translatio-Teil der Passio metrica (Str. 310 – 370). Die Translationsgeschichte spinnt sich dann aber weiter fort bis in Sigeberts Zeitalter. Zeugnis dafür ist zunächst die Epistola monachorum Lintburgensium an die Mönche von St. Vinzenz. Die Limburger nehmen hier darauf Bezug, dass Kaiser Heinrich III. (1039 – 1056) im Jahr 1042 dem Metzer Erzbischof Dietrich II. (1006 – 1046) aus St. Vinzenz einen Arm der Heiligen zur Ausstattung für das Kloster Limburg, damals Familienabtei der Salier, überlassen habe. Das berichtet Sigebert dann auch »mit einem kleinen Seitenhieb«, wie Licht sagt, aus Sicht der Mönche von St. Vinzenz, die das Nachsehen hatten: So Sigebert am Ende seiner Translatio, und zwar unter Verwendung der Epistola wie auch am Ende des Translatio-Teils der Passio metrica.10 Eigentliches Anliegen der Limburger Epistola aber ist die Bitte um Übersendung einer metrisch verfassten Lucien-Passio, von deren Existenz in St. Vinzenz die Limburger wussten und die ihnen auch bereits versprochen worden war. Denn in Limburg besaß man bis dahin nur eine prosaische Passio, anscheinend ohne Translationsteil, also entsprechend der bei Licht in der Appendix 2 abgedruckten Prosa-Passio S. Luciae, d. h. der Vorlage für den Passio-Teil von Sigeberts Passio metrica. Dümmler hat seiner Edition der Passio metrica nur die damals Gothaer, heute Münchener Handschrift zugrunde gelegt und die – ihm bekannte – Brüs8
Provinz L’Aquila, in den Abruzzen, östlich von Rom. Migne PL 137 (1853), Sp. 363 – 370; dazu Licht, XI, Anm. 6. 10 quamvis difficulter geschah die Überlassung des Armes nach SigebertsTranslatio (120 / 121), mit dem entsprechenden »Seitenhieb« lässt Sigebert in seiner Passio metrica die Limburger von den Metzern so angeredet sein: vobis hoc [brachium] Henrich iunior attulit, / nobis Deodrich iunior abstulit (Str. 367). 9
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seler Handschrift beiseite gelassen, besonders auch weil in dieser der Translatio-Teil fehlt. Aufgrund dieses unterschiedlichen Überlieferungsbefundes und aufgrund der von Licht akribisch dargelegten Bezüge zwischen 1. der Epistola monachorum Lintburgensium, 2. Sigeberts Translatio und 3. seiner Passio metrica, wird nun annehmbar, dass Sigebert die Translatio nicht zuletzt mit Rücksicht auf die Limburger Interessen verfasst und im besonderen bis zur Überbringung von Lucias Arm nach Limburg fortgeführt hat und dass er ebenso, als die Limburger um die Passio metrica baten, diese um den Translationsteil bis zur Übertragung von Lucias Arm nach Limburg erweitert haben dürfte. Eine erste, für St. Vinzenz in Metz geschriebene Fassung, wie ihn die Brüsseler Handschrift repräsentieren könnte, hätte demnach nur den Passio-, nicht den Translatio-Teil der Passio metrica enthalten. Über die Translationsgeschichte der Heiligen bis zu ihrer Ankunft in Metz und vor der Abgabe ihres Armes nach Limburg war man dort ja hinreichend durch die Inventio und den entsprechenden Abschnitt in Sigeberts Dietrich-Vita unterrichtet. Soviel zur Überlieferungs- und Entstehungsgeschichte der Lucien-Schriften Sigeberts. Lichts Einleitung enthält darüber hinaus eine knappe »Literaturgeschichtliche Einordnung« dieser Werke (XXIII – XXVIII). Hier wird deutlich, dass Sigebert als Scholaster von St. Vinzenz mit der Passio metrica magistrale Schulpoesie verfasst. Als Scholaster von St. Vinzenz formt er einen gelehrten Legendentypus aus, der ganz wesentlich in das auf hoher Stufe stehende Schul- und Bildungswesen des Klosters eingebunden ist. Zunächst natürlich lokalpatriotisch, denn es handelt sich ja mit Lucia als Hausheiliger von St. Vinzenz und ihrer Translation dorthin um einen Gegenstand, über den die Schüler des Klosters – und freilich nicht nur sie – Bescheid wissen sollten. Der Lehrer liefert hier selbst ein Musterbeispiel für das, was in bescheidenerer Form gut eine Generation früher in St. Gallen Notker der Deutsche seinen Schülern als Aufgabe stellte. Die St. Galler Lösungen solcher Aufgaben kennt man aus den Stücken des Liber benedictionum Ekkeharts IV. in Gestalt von dictamina diei debita magistro. Es geht mit solcher Schulpoesie – und hier bei Sigebert auf höchstem Niveau – um sprachliche, metrische und stilistische Schulung und um allerlei, z. T. erstaunliche Gelehrsamkeit. Auf synonymischer Ebene stehen dafür die in den Text eingebauten »lexikalischen Nester«11 oder die sporadischen Autorglossen zu seltenen oder regionalsprachlichen Wörtern (bei Str. 115, 164, 344). Eher spielerisch sind die zu integumentaler Deutung genutzten Physiologus-Digressionen12. Mit naturkundlicher Gelehrsamkeit werden – wie im wenig jüngeren deutschen Merigarto – die geographischen Kuriosa sizilianischer Gewässer ausgebreitet (Str. 33, 37 – 38, nach Solin) oder sizilianisch 11 12
XXIV, Pretiosen nach Isidor, Str. 98 – 110. Str. 85 – 91 unicornus; Str. 174 – 183 pantera, draco, aspis.
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Mythologisches13. Klerikale Gelehrsamkeit schlägt sich nicht nur selbstverständlich in zahlreichen biblischen Similia, sondern weit darüber hinaus auch in manchmal durchaus ungewöhnlichen patrologischen Anspielungen nieder.14 Die klassische und nachklassische Dichtung wie Prosa ist auf gleiche Weise mit erstaunlich zahlreichen Anklängen z. T. rarer Art vertreten.15 All das hat Licht reichhaltig und sehr übersichtlich in Marginalien zum Text angemerkt, wie übrigens auch die Quellen und die Daten zu den historischen Personen, wo Sigebert sie nennt. Die größte Innovation der Passio metrica besteht aber darin, dass Sigebert in Überbietung der gattungstypisch vergleichbaren Stücke des Prudentius als Metrum die – nun gereimte – alkäische Ode erstmals seit Horaz verwendet, und zwar in einer prosodisch einwandfreien Form, wie Licht in einem eigenen Abschnitt (XXVIII – XXXI) und in den fast nur dieser Frage geltenden Anmerkungen zum Text ausführt. In Sinne einer literarhistorischen Einordnung verweist Licht für Sigeberts Translatio-Predigt auf Rathers von Verona Translatio Sancti Meronis, ein in Metz für Sigebert greifbares, ebenfalls predigtartiges Stück, in dem Rather die Entfremdung der Reliquien des veronenser Heiligen Mero und ihre Überführung nach Gernrode den Veronensern auf allerdings zweifelhafte Weise plausibel zu machen sucht. Kaum im Sinne einer »literaturgeschichtlichen Einordnung« sind die Bemerkungen Lichts zu Sigeberts Excerptum sinnvoll. Aber mit den Ausführungen hierzu fällt auf Sigebert von einer weiteren Seite aus Licht. Nicht nur das Excerptum, auch die Epistola Sigeberts lassen nämlich die Frage anklingen, ob die Gebeine bzw. der nach Limburg abgegebene Arm, die man als Reliquien der Heiligen Lucia verehrte, tatsächlich einer Heiligen und eben der Heiligen Lucia angehörten. Anscheinend, jedoch ohne dass dies bei Licht thematisiert wird, kam diese Frage bei der Überbringung des Armes nach Limburg auf. Jedenfalls wurden dort öffentliche Gebete um Klärung angeordnet, ob es sich bei dem Arm um den Lucias handelte und somit um eine heilige Reliquie. Zur Aufgabe der Zweifel führten in Limburg daraufhin erfolgende Wunderzeichen. So erzählt es die Translatio. Der tiefere Grund für die Zweifel lag jedoch wohl in zwei chronologischen Schwierigkeiten, die Sigebert in seinem für St. Vinzenz geschriebenen Excerptum erörtert. Nur eine von beiden sei hier referiert. 13
Str. 78 – 81 nach Vergil, Plinius maior und Isidor. Cyprianus, Ambrosius, Hieronymus, Augustinus, Gregorius Magnus, Hilarius Pict., Caesarius Arelat., Beda. 15 Klassische und nachklassische Dichter: Ovid, Horaz, Vergil, Silius Italicus, Statius; Iuvenal, Anthologia Latina. Prosaiker: Cicero, Sallust, Sueton, Seneca. – Christliche Dichter: Iuvencus, Prudentius, Arator, Paulinus Petricordiae, Ausonius, Paulinus v. Nola, Aldhelm, Milo; auch der zwei Generationen ältere Landsmann und magistrale Kollege Sigeberts, Egbert von Lüttich (* um 972), kommt zu Wort. 14
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Sterbend weissagt Lucia nach den Angaben der Passio, dass zugleich mit ihr Kaiser Maximian sterbe und dass damit die diokletianische Christenverfolgung ein Ende habe. Als Todesjahr Maximians stand das Jahr 311 fest, und damit auch das Todesjahr Lucias. Aber die Christenverfolgung hatte schon zuvor aufgehört, nachdem Diokletian im Jahre 305 als Kaiser resigniert hatte. Aus diesen Unstimmigkeiten waren Zweifel an der Wahrheit der Überlieferungen zum Martyrium Lucias und damit auch ihrer Authentizität als Heiliger erwachsen. Das Excerptum Sigeberts sucht nun diese Unstimmigkeiten mit Argumenten aus historischen Quellen zu klären, näherhin der Kirchengeschichte Eusebs in der Übersetzung Rufins und der Epitome de Caesaribus des (Ps.-)Aurelius Victor. Sigeberts Lösung des Problems läuft darauf hinaus, »daß er den Terminus ›Diokletianische Verfolgung‹ nach dem Verursacherprinzip auch noch für die Jahre nach Diokletian verwendet wissen möchte« (XXVII). Wie auch immer man diese Argumentation beurteilen mag, jedenfalls lernt man auf diese Weise die erstaunliche Gelehrtheit Sigeberts als auf Quellenbasis historisch argumentierenden Geschichtsforschers von einer weiteren Seite kennen. Lichts Ausgabe der Lucien-Schriften Sigeberts und zugehöriger Quellen stellt den Haupttext der Passio metrica, der für den heutigen Leser sicherlich nicht leicht rezipierbar ist, durch die begleitenden, manchmal schwer überschaubaren Argumentationen und gewiss nicht leicht lesbaren Untersuchungen auf vielseitige Weise in seine historischen und philologischen Kontexte. Für denjenigen, der für so etwas Sinn hat, erfreulich! Als – meist nicht sinnstörende – Druckfehler und Versehen seien angemerkt: S. X, Z. 1 mit Epistola; S. XI, Z. 7 v. u.: betrauten; S. XII, Z. 1 mit passionem; S. XVIII, Z. 13 v. u.: unter denen; S. XX, Z. 6 hier der Epistola; ebd. Z. 20 das erste Argument; S. XXII, Z. 19 sanctarum; S. XXVI, Z. 6 das Prudentius; auf S. XXVIII unten / S. XXXIX oben fehlt der Nachweis, dass der zitierte Text in den Handschriften dem Titel der Passio Sanctae Luciae metrica voransteht (im Editionstext S. 4 / 5); S. XXXIII, Z. 13 Verbund; S. XLI, Z. 11 v. u. des Entstehungsjahres; S. LIV, Z. 10 v. u. Kapitel der Edition; S. 98, Z. 2 v. u. und S. 108, Z. 4 v. u.: 1657. Ernst Hellgardt, München Ingrid Kasten, Erika Fischer-Lichte (Hgg.), Transformationen des Religiösen. Performativität und Textualität im geistlichen Spiel [Trends in Medieval Philology 11], Berlin / New York: De Gruyter, 2007. 287 S. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem geistlichen Spiel des deutschen Mittelalters und der Frühen Neuzeit hat im zurückliegenden Jahrzehnt wertvolle und weitreichende Impulse erhalten. Es sind eine Reihe aufwendiger und wichtiger Neueditionen erschienen oder derzeit im Entstehen – sei es die Aus-
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gabe der Weltgerichtsspiele Hansjürgen Linkes1 oder die Edition der hessischen Passionsspielgruppe durch Johannes Janota2. Neben dieser philologischen Grundlagenarbeit gab es aber auch eine Reihe wichtiger interpretatorischer Neuansätze, die sich insbesondere mit dem Stichwort der »Performativität« verbinden.3 Damit ist vor allem das energetische Feld zwischen Darstellern und Zuschauern gemeint, das von den Theoretikern des Performativen und der Theatralität seit einigen Jahren im Zusammenhang des postmodernen Theaters mit Begriffen wie Mit-Teilung, Transformation oder Grenzüberschreitung beschworen wird.4 Auch wenn man sich dieser oftmals ins Manierierte tendierenden Diktion nicht anschließen will und muss, kann die Bedeutung dieses Bereichs gerade auch für das vormoderne Schauspiel aufgrund zahlreicher jüngerer Forschungsergebnisse nicht mehr übersehen werden.5 Diese Tatsache unterstreichen auch die insgesamt 14 in dem von Ingrid Kasten und Erika Fischer-Lichte herausgegebenen Band versammelten Beiträge. Sie stellen sich insbesondere dem Problem, inwieweit die performativen Qualitäten theatraler Formen, die nur noch sekundär durch ihre textlichen und – in weitaus eingeschränkterem Maße – bildkünstlerischen Archivierungsformen überliefert sind, überhaupt erschlossen werden können, und ergänzen den Begriff der Performativität dementsprechend um die Analysekategorie der Textualität. Übergreifende, die einzelnen Untersuchungen verbindende Parameter sind zum einen, geistliche Spiele als cultural performances und als Teil einer 1 Vgl. Hansjürgen Linke (Hg.), Die deutschen Weltgerichtspiele des Mittelalters. Synoptische Gesamtausgabe (Tübingen, Basel 2002). 2 Vgl. Johannes Janota (Hg.), Die hessische Passionsspielgruppe. Edition im Paralleldruck. 3 Bde. (Tübingen 1996 – 2004), sowie die dazugehörigen Kommentare von Klaus Wolf, Kommentar zur ›Frankfurter Dirigierrolle‹ und zum ›Frankfurter Passionsspiel‹, Die hessische Passionsspielgruppe Erg.-Bd. 1 (Tübingen 2002), und Klaus Vogelgsang, Kommentar zum ›Alsfelder Passionsspiel‹, Die hessische Passionsspielgruppe Erg.-Bd. 2 (Tübingen 2008). 3 Als konzisen, älteren Forschungsüberblick vgl. dazu Margreth Egidi, Text, Geste, Performanz. Zur mediävistischen Diskussion um das performative Spiel, in: Margreth Egidi, Oliver Schneider, Matthias Schöning, Irene Schütze, Caroline Torra-Mattenklott (Hg.), Gestik. Figuren des Körpers in Text und Bild, Literatur und Anthropologie 8 (Tübingen 2000), 131 – 140. 4 Vgl. zum Beispiel Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen (Frankfurt am Main 2005), oder die Beiträge in Birgit Haas (Hg.), Performativität, Performanz und Polittheater seit 1990, Film – Medium – Diskurs 12 (Würzburg 2005). 5 Vgl. zum Beispiel die Beiträge in Christel Meyer, Heinz Meyer, Claudia Spanily (Hg.), Das Theater des Mittelalters und der Frühen Neuzeit als Ort und Medium sozialer und symbolischer Kommunikation, Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 4 (Münster 2004), sowie in Hans-Joachim Ziegeler (Hg.), Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Tübingen 2004).
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vielgestaltigen Frömmigkeitspraxis zu verstehen, zum anderen, die Erkenntnismöglichkeiten eines performativitätstheoretischen Ansatzes für die Analyse geistlicher Spiele auszuloten und kritisch zu reflektieren, sowie schließlich, spezifische Formen der Transformierung des Numinosen und der Inszenierung des Heiligen in den Spielen zu betrachten. Diese drei Untersuchungsbereiche bilden das binnengliedernde Moment des Bands und vereinigen jeweils eine Reihe von Beiträgen, die generell überaus anregend geschrieben, allerdings durchaus nicht in jedem Fall die in den theoretischen Vorgaben, wie sie die erste Herausgeberin Ingrid Kasten in der Einleitung formuliert (VII – XXII), angestrebte inhaltliche Qualität erreichen. Den Band eröffnet ein eher allgemein gehaltener Aufsatz der Theaterwissenschaftlerin und zweiten Herausgeberin Erika Fischer-Lichte, der sich dem ambivalenten Verhältnis von Theatralität und Ritualität in den geistlichen Spielen des Mittelalters widmet (3 – 17). Darin unternimmt die Verfasserin den Versuch, das beständige Oszillieren zwischen theatralen und rituellen Aspekten als gattungskonstitutiv für geistliche Spiele zu beschreiben und aus ihrem engen Bezug auf die jeweiligen Orte und Vollzüge christlicher Feste im Ablauf des Kirchenjahrs zu erklären. Fischer-Lichtes Resümee lautet dementsprechend: »Wenn man nicht von einer starren Gegenüberstellung von Ritual und Theater ausgeht, wie sie eine nachaufklärerische Perspektive nahelegt, sondern von den vier Wirkdimensionen, die in Festen ebenso wie in den Aufführungen der geistlichen Spiele realisiert wurden, erscheint die Frage, ob es sich bei den geistlichen Spielen um Theater oder Ritual handelt, geradezu obsolet.« (16) Damit sind letztlich sämtliche hermeneutisch notwendigen Grenzziehungen zwischen geistlichem Theater und religiösem Ritual aufgehoben – dieser radikalen Schlussfolgerung scheint sich jedoch selbst die Verfasserin nicht anschließen zu wollen, wenn sie kaum eine Seite später relativierend einräumt: »Die Aufführungen erfüllten im Rahmen eines religiösen Festes selbstverständlich andere Funktionen als die Gottesdienste, die ebenfalls an ihnen abgehalten wurden.« (17) Allein, wie diese anderen Funktionen ausgesehen haben mögen, darüber gibt der insgesamt doch recht oberflächlich bleibende, in manchen Einzelheiten zudem fehlerhafte6 und trotz seiner postulierten Allgemeinverbindlichkeit wohl kaum auch nur annähernd auf alle Bereiche des vormodernen geistlichen Spiels anwendbare7 Parforceritt 6 Vgl. zum Beispiel die zumindest fragliche Übersetzung von frnhd. figur mit »Darstellung« in v. 1229 der ›Sterzinger Passion‹ (9); das deutliche Missverständnis der Worte Pilati, die in v. 3522 des ›Frankfurter Passionsspiel‹ sein ecce homo begleiten (11); sowie die wiederholte, aus historischer Perspektive anachronistische Verwendung des Terminus »Ghetto« (13 u. 16). 7 Vgl. unter anderen folgende Aussage zur Wirkungsabsicht geistlicher Spiele: »Mit der performativen Vergegenwärtigung der Lebensgeschichte Jesu oder einzelner ihrer Stationen im Spiel wird die Gründungszeit wieder erinnert und der Gegenwart eingeschrieben. [ . . . ] Dabei geht es nicht um eine didaktische oder erbauende memoria. Vielmehr steht die
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durch die Ritual- und Performativitätsforschung keine Auskunft.8 Im klaren Gegensatz dazu steht der spätere Beitrag Christian Kienings (139 – 168), der sich unter den Leitbegriffen Präsenz, Memoria und Performativität ebenfalls zentralen Theoremen der jüngeren kultur- und sozialwissenschaftlichen Theatralitätsforschung zuwendet. Allerdings gelingt Kiening die Zeichnung eines wesentlich trennschärferen Bilds, das vor allem erfolgreich die häufig vorzufindende Skylla umschifft, das Mittelalter pauschalisierend und verkürzend als Zeitalter der Präsenz einzustufen. Durch den berechtigten Hinweis auf das je nach einzelnem Spieltext und je nach einzelner Spielaufführung stets neue Ineinander von Symbolisierung und Desymbolisierung vermag der Verfasser die performativen Dimensionen geistlicher Spiele zu identifizieren, die sich mittels liturgischer, kultischer und ritueller Vollzüge in die Memoria der vormodernen christlichen Erinnerungsgemeinschaft Mitteleuropas eingeschrieben haben. Ein Aufsatz aus der Feder Eckehard Simons (18 – 45) untersucht die Übergänge und Vernetzungen zwischen geistlichen und weltlichen Spielen und entwickelt dabei einen Gedanken weiter, den Hansjürgen Linke bereits vor einigen Jahren in die Forschungsdiskussion eingebracht hat.9 Simon konstatiert eine grundsätzlich denkbare Hybridisierung, die die Entstehung verschiedener Mischformen der lediglich vordergründig als voneinander streng unterscheidbaren Kategorien ermöglichte: »Spielautoren verschiedener Regionen [ . . . ] haben die ›Ordnungskategorien‹ geistlich-weltlich, die Spieltypen und ihre Schreibarten, experimentell und kreativ vermischt. Die glaubensfestere Mentalität des Mittelalters verstand geistlich und weltlich nicht als polare Begriffe und zog zwischen ihnen keine festen Grenzen.« (23) Zum Beweis seiner These interpretiert Simon sechs spätmittelalterliche Fastnachtspiele, die alttestamentliche bzw. hagiographische Stoffe zum Inhalt haben und sich auch in ihrer Aufführungsform als öffentliche Massenspiele deutlich von herkömmlichen Vertretern der Gattung Fastnachtspiel unterscheiden. Insgesamt überzeugt das Wiederholung jenes Geschehens, das sich in illo tempore zugetragen hat und den Ursprung und die Identität der Gemeinschaft verbürgt, im Mittelpunkt des Interesses.« (15) Wie ließe sich eine solche Generalisierung zum Beispiel auf die Gattung der Antichristspiele anwenden? 8 Vgl. im Gegensatz dazu die Studie von Christoph Petersen, Ritual und Theater. Meßallegorese, Osterfeier und Osterspiel im Mittelalter, Münchener Texte und Untersuchungen 125 (Tübingen 2004), die zu Recht die Differenzen zwischen den konkreten Inszenierungsformen des Rituals und denjenigen des Spiels betont. In diesem Sinne insistiert auch Jan-Dirk Müller, Realpräsenz und Repräsentation, in: Hans-Joachim Ziegeler (Hg.), Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters und der Frühen Neuzeit (Tübingen 2004), 113 – 133, hier 133, auf einer klareren begrifflichen Trennung zwischen der Performanz des Kults und der Performanz des Theaters. 9 Vgl. Hansjürgen Linke, Unstimmige Opposition. ›Geistlich‹ und ›weltlich‹ als Ordnungskategorien der mittelalterlichen Dramatik, in: Leuvense Bijdragen 90 (2001), 75 – 126.
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Plädoyer des Verfassers für eine historisch verifizierte Revision der Dichotomie von weltlichem und geistlichem Spiel, wenngleich auch dieser Aufsatz nicht frei bleibt von kleineren Unstimmigkeiten.10 Jutta Eming stellt in ihren Überlegungen (46 – 62) die Begriffe der Simultaneität und der Verdoppelung in den Mittelpunkt, um davon ausgehend ein zentrales Charakteristikum der theatralen Repräsentation heilsgeschichtlicher Wahrheiten im geistlichen Spiel zu benennen: »Simultaneität und Verdoppelung lassen sich als Formen einer genuinen Theatralität auffassen, die einen eigenen Zugang zur Historizität des geistlichen Spiels eröffnen.« (50) Ihre Analyse basiert vor allem auf Szenen aus dem ›St. Galler (mittelrheinischen) Passionsspiel‹ sowie auf den Texten der hessischen Passionsspielgruppe, insbesondere den Passagen, die Jesu Verrat und Gefangennahme im Garten Gethsemane darstellen. Hier, so Eming, zeige sich besonders deutlich die Tendenz zur Erzeugung von redundanter Serialität und Varianz als Mittel religiöser Kommunikation. Dieser These vermag der Rezensent nur sehr bedingt zu folgen: Zum ersten, da er nicht in allen Szenen, denen die Verfasserin eine bewusste Gestaltung doppelter oder simultaner Motivierung attestiert, diese Intention entdecken kann;11 zum zweiten, da er den Grad der Abhängigkeit einzelner Szenen von ihren biblischen Ausgangstexten als wesentlich höher und damit den Grad der Originalität der Spieltexte als wesentlich niedriger einschätzt;12 zum dritten, da sich ihm die Frage aufdrängt, ob die Verfasser der geistlichen Spiele nicht einfach vor dem gleichen Problem standen, wie alle Autoren von Dich-
10 Störend erscheinen zum Beispiel die unnötigen Inhaltszusammenfassungen allgemein bekannter biblischer und legendarischer Texte (25, 28, 31 f. u. 35); des weiteren hat sich eine Reihe von Lesefehlern eingeschlichen – so muss es S. 27 u. 44 deutlich goliaz und nicht goliam heißen – ; und schließlich finden sich auch hier wiederum Anachronismen wie der Hinweis darauf, dass die Susannageschichte des biblischen Buchs Daniel heute zu den Apokryphen gezählt werde (25) – ein Hinweis, der für das europäische Mittelalter mit seiner Orientierung an der lateinischen Vulgata keine Bedeutung besitzt und auch heute genaugenommen nur für diejenigen Bibelausgaben gilt, die sich an Luthers Kanon halten. 11 Vgl. zum Beispiel die Interpretation der Judaskussszene im ›St. Galler (mittelrheinischen) Passionsspiel‹ v. 713 – 718 (47): Wieso liegt hier Redundanz vor, wenn sich Jesus zuerst seinem Jünger gegenüber durch den Kuss und sodann den Judas begleitenden Juden gegenüber durch das Wort zu erkennen gibt? 12 So sieht Eming S. 52 im Wechsel zwischen erster und dritter Person, den das ›Frankfurter Passionsspiel‹ v. 397 – 402) in der Selbstdarstellung Jesu gegenüber seinen Jüngern einfüge, die Überführung von Personen und Ereignissen aus unterschiedlichen Überlieferungen und Kontexten in einen einheitlichen Darstellungsmodus gegeben – kurz, die Konstituierung einer Ebene jenseits von Geschichte und Liturgie durch das geistliche Spiel. Meines Erachtens greift diese Szene jedoch lediglich ein neutestamentliches Berichtsmuster auf, das sich unter anderem in Jesu Aussagen über sich selbst in der Gestalt des filius hominis finden lässt (u. a. Mc 2,10, 9,12.31, 10,45, 14,62; Mt 10,23, 11,18f.; Lc 9,58, 12,40; Io 5,27, 6,27.53, 9,35).
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tungen, die auf der Bibel als Quelle fußen, vor ihnen – dem Problem der Harmonisierung der biblischen Berichte bei gleichzeitigem Ausschluss der Tilgung sich widersprechender Traditionen aufgrund des Sakralitätscharakters des Ausgangsmaterials?13 Unter dem Stichwort der »Präsenzverwaltung« befasst sich Glenn Ehrstine mit der besonderen Rolle, die den expositores ludi im Rahmen geistlicher Spiele zukommt (63 – 79). Insbesondere ihre Teilhabe an der spezifischen, sowohl theologisch-didaktischen wie theatral-rituellen Funktionalisierung des Dargestellten für ein primär aus Laien bestehendes Publikum wird vom Verfasser anhand zahlreicher Beispiele eindrücklich herausgearbeitet. Die Exegese der Heilsgeschichte, wie sie zum Beispiel bereits die Figur des Kirchenvaters Augustinus im ›St. Galler (mittelrheinischen) Passionsspiel‹ leistet, ermöglicht die Verständnislenkung der Zuschauer und hält diese zugleich auf Distanz zum theatralen Vollzug. Zudem gelingt es Ehrstine zu zeigen, wie eine Progession der literarisierten Qualität des geistlichen Spiels mit einer gleichzeitigen Zurückdrängung der quantitativen Anteile von handlungsauslegenden Figuren korreliert. Der Darstellung der Instanzen des Bösen im geistlichen Spiel sind im anzuzeigenden Band gleich zwei Aufsätze gewidmet. Den Anfang machen Werner Röckes Ausführungen zu Maria Magdalena und Judas Ischarioth, denen er anhand des ›Alsfelder Passionsspiels‹ sowie der ›Erlauer Spiele‹ III – V nachspürt (80 – 96). Die besondere Leistung des geistlichen Spiels in der Inszenierung des Bösen bestehe demzufolge darin, dass es die Realität und die Erfahrung des Bösen nicht einfach nur behaupte, sondern im Spielgeschehen auf der Bühne auch praktisch vollziehe. Primärer Zweck dieses öffentlichen Nachvollzugs sei die Sicherung der bestehenden soziokulturellen Normen der außerliterarischen Realität gewesen, die anhand zweier vergleichbarer und doch grundsätzlich unterschiedlicher Verhaltensmuster gegenüber der göttlichen Gnade – Reue bei Maria Magdalena, Verzweiflung bei Judas Ischarioth – in der theatralen Aufführung präsentiert werden konnten. Jody Enders analysiert hingegen am Beispiel der Teufelsfiguren des geistlichen Spiels das Verhältnis zwischen Ethik als Corpus des Wissens und dem Körperwissen der dramatischen Impersonifikation (127 – 138). Die moralischen und praktischen Gefahren, die der Verkörperung des absolut Bösen durch menschliche Akteure inhärent sind, verweisen nach Enders auch die spätmittelalterlichen geistlichen Spiele auf eine grund13 Der »einfachste Weg, um Redundanzen zu tilgen«, den Eming S. 59 darin sieht, »Doppelungen einfach zu streichen«, der aber in den geistlichen Spielen »nicht beschritten wird«, schließt sich eben bei dem Sujet derjenigen Spiele, die Abschnitten aus dem Leben Jesu gewidmet sind, von vornherein aus. Die Beibehaltungen von – tatsächlichen oder nur vermeintlichen – Redundanzen in dieser Form der mittelalterlichen Literatur ist also weder bemerkenswert noch Ausdruck eines avancierten Gestaltungswillens.
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sätzliche Skepsis, die die christliche Vormoderne allen Formen der Theatralität entgegengebracht habe – also selbst jenen Formen, die der Vermittlung zentraler Glaubenswahrheiten ebenjener Kultur gedient haben. M. A. Katritzkys ausführliche Interpretation der Figur des Salbenkrämers (99 – 126) stellt einen der gelungensten Beiträge innerhalb des Bands dar. Komplettiert durch einen Katalog einschlägiger Szenen aus lateinischen und volkssprachlichen geistlichen Spielen des Zeitraums von 1100 bis 1599 untersucht die Verfasserin die dramatische Funktion dieser Figur sowohl innerhalb des engeren textlichen Umfelds der Salbenkrämer-Szenen als auch im weiteren Kontext der Spielhandlung. Dabei gelangt sie zu dem Ergebnis, dass die gängigen Bühnenroutinen und typischen Rollenmuster des Salbenkrämers und seiner Entourage als wichtige mögliche Quellen dramatischer Strategien der frühen Commedia dell’Arte identifiziert werden können, insbesondere im Hinblick auf ihr theatrales Potential für komische Improvisationen und Erweiterungen von Handlungssträngen. Der Frage nach den medialen Eigenschaften und Eigenheiten geistlicher Spiele des Mittelalters geht Cornelia Herberichs in ihrer Studie nach (169 – 185). Ausgehend von der bis heute in ihren Konsequenzen noch immer nicht hinreichend ausgeloteten Feststellung Werner Williams-Krapps, dass die Mehrzahl der mittelalterlichen Texte, die von der Forschung als ›Schauspiel‹ klassifiziert werden, lediglich in Lesehandschriften überliefert seien,14 hinterfragt die Verfasserin die Möglichkeit, ältere philologische mit neueren kulturwissenschaftlichen Fragestellungen zu kombinieren, um dadurch zu einer den vormodernen Texten angemesseneren Interpretation jenseits von anachronistischen Gattungsfragen zu gelangen. Gemäß Herberichs Analyse dokumentiert der Überlieferungsbefund geistlicher Spiele in fragmentierter Weise die Textproduktion als gestaffelten Prozess und verweist somit auf »die Veränderbarkeit der Spieltexte als eine Verkettung von Aneignungen, die als konstitutiv erscheint für deren Status: Eine Vielzahl der Handschriften überliefert nicht nur fertige Textprodukte, sondern zeugt auch von der prozessualen Produktion geistlicher Spieltexte, die Schriftlichkeit fungiert als Gestaltungsmedium in einem traditionssichernden und zugleich -gestaltenden Adaptationsprozess«15 (184). Andreas Kottes knappe Ausführungen zum theatralen und textuellen Ort des Wunders im geistlichen Spiel (189 – 200) verstehen sich nach eigener Aus14 Vgl. Werner Williams-Krapp, Zur Gattung ›Spiel‹ aus überlieferungsgeschichtlicher Sicht, in: Georg Stötzel (Hg.), Germanistik – Forschungsstand und Perspektiven (Berlin 1985), Bd. 2, 136 – 143. 15 Es bleibt dem Rezensenten an dieser Stelle jedoch recht unklar, welchen neuen Erkenntnisgewinn diese neue Art der Beschreibung des Überlieferungsbefunds leistet.
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sage des Verfassers »bei weitem nicht als eine Untersuchung, sondern nur als eine Anregung, Texte grundsätzlich dem Verdacht zu unterwerfen, es sei darin nicht alles notiert, was zum szenischen Vorgang gehörte« (200). Diese Erkenntnis erscheint dem Rezensenten ebenso banal wie die Schlussfolgerung, dass das Numinose zumeist zwischen den Textzeilen verortet werden müsse, also im Raum der theatralen Ausgestaltung des Spielvollzugs. Elke Kochs Analyse der Inszenierungsformen des Heiligen in der hessischen Passionsspielgruppe (201 – 217) besticht hingegen durch genaue und dichte Interpretationen der bereits innerhalb der Spieltexte selbst schwierig zu beantwortenden Frage, wie die besondere Heiligkeit der Figur des inkarnierten und leidenden Gottessohns durch eine Mischung performativer Handlungs- und Sprechakte einem Laienpublikum verdeutlicht werden konnte, die insbesondere im Mittel der Selbstreferentialisierung des Rollenspiels Ausdruck fanden. Die abschließenden drei Beiträge des anzuzeigenden Bands befassen sich nicht mehr oder nur noch am Rande mit lateinischen und volkssprachlichen geistlichen Spielen des Mittelalters: Der Kunsthistoriker Klaus Krüger beschreibt vielmehr bühnenartige Darstellungen von Passionsvisionen in der italienischen bildenden Kunst der Frühen Neuzeit (218 – 248), während sich die Theaterwissenschaftler Clemens Risi und Jens Roselt mit der Erfahrung des Heiligen in der italienischen Oper des frühen 17. Jahrhunderts (249 – 263) bzw. mit den Transformationen des Religiösen im zeitgenössischen deutsch- und englischsprachigen Theater (264 – 279) befassen. Formen der Theatralität, wie sie im geistlichen Spiel des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit in ihren textuellen Resten greifbar werden, bedeuten immer Distanzsetzung zwischen Akteuren und Publikum. Der Kreis um die Akteure des Spiels ist jedoch nicht nur ein Ausdruck von Distanznahme, er bindet die Zuschauer gleichzeitig an die Akteure im Zentrum und macht sie zum Teil des heilsgeschichtlich-theatralen Ereignisses. Theatralität ist somit Bindung auf Distanz. Diese und weitere theatralen Momente, deren Spuren auch in der textuellen Überlieferungsform des vormodernen Schauspiels noch auffindbar sind, gründlicher zu beachten, um die Spiele im Gegensatz zur älteren Forschung stärker als Spielvollzüge und nicht mehr primär als Texte wahrzunehmen, ist eine der zentralen Leistungen dieses zum Weiter- und Gegendenken einladenden Bands. Martin Przybilski, Trier Jan-Dirk Müller, Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen: Niemeyer, 2007. 509 S. Neun Jahre nach den »Spielregeln für den Untergang«, seiner weithin beachteten und neue Standards in der Erforschung des Heldenepos setzenden
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Monographie zum Nibelungenlied, hat Jan-Dirk Müller sein opus magnum zum höfischen Erzählen vorgelegt. In acht thematisch geordneten, eng miteinander verzahnten Kapiteln versucht er nichts weniger als eine neue Lektüre der höfischen und heroischen Epik der literarischen Blütezeit um 1200, gewissermaßen eine Zusammenschau ihrer wichtigsten Themen, Grundmuster und Funktionsweisen. Dabei wird die höfische Epik nicht als Gattung behandelt, sondern als eine Erzählform, welche anthropologische Ordnungskategorien der hochmittelalterlichen Laienkultur narrativ ausstellt und verhandelt, Kategorien, die sie auszeichnen und sie zu einer besonderen literarischen Form machen: dazu gehören die Einbindung der literarischen Figuren in genealogische Zusammenhänge und disparate Lebensordnungen (1. Herkommen; 2. Antagonistische Lebensformen), ihre Versuche der Selbstbestimmung zwischen vorgegebenen und selbst gewählten Mustern (3. Namensspiele; 4. Krisen adliger Selbsterkenntnis), ihre Handlungsmöglichkeiten im Spannungsfeld von Öffentlichkeit und Heimlichkeit (5. Zwischenräume; 6. Außen und Innen) und schließlich das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft im Koordinatensystem von minne und Leidenschaft (7. Dynastische Allianz und Minne; 8. Aporien passionierter Liebe). Neu daran sind weniger die zentralen thematischen Felder und basalen Konflikte der höfischen Literatur, welche die Forschung in den letzten 15 Jahren erarbeitet hat (z. B. Familien- und Geschlechterordnungen, Raum und Räumlichkeit, Liebe),1 sondern die methodisch nicht einfache Verbindung von Literatur- und Kulturtheorie mit einem close reading der Einzeltexte (Müller spricht selbst von »Versuch und Wagnis«), die im Ergebnis den Anspruch erhebt, ein Gesamtpanorama der hochmittelalterlicher Epik in ihrem kulturellen Kontext zu präsentieren. Dabei geht es im Grunde um die wechselseitige Abhängigkeit kultureller und narrativer Muster, also um die Frage, auf welche Weise die höfische Literatur das Imaginäre ihrer historischen Kultur narrativ aufruft, es verändert und Alternativen zu ihm durchspielt (»textwissenschaftlicher Beitrag zu einer Kulturwissenschaft vom Mittelalter«, 2). Dieses Ziel ist hochgesteckt: bisher fehlen noch weitgehend theoretische Vorarbeiten für den Nachweis wechselseitiger Abhängigkeiten narrativer und kultureller Muster, und noch liegt keine Theorie des Verhältnisses von literarischem Text und kulturellem Kontext vor. Methodengeschichtlich versucht das Buch die »totgelaufene Debatte über Sinn und Unsinn eines cultural turn der Literaturwissenschaft« zu überwinden und das abgebrochene Projekt einer Sozialgeschichte der Literatur »mit erweitertem Fragehorizont« fortzusetzen (2). 1 Die Desiderate dafür hatte Ursula Peters bereits 1994 formuliert: »Familienhistorie als neues Paradigma der mittelalterlichen Literaturgeschichte?«, in: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hg. von Joachim Heinzle (Frankfurt am Main 1994), 134 – 164.
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In seinem elektrisierenden Eingangskapitel legt Müller seine Ideen und methodischen Entscheidungen dar: Seine beiden Schlüsselbegriffe sind »Erzählkerne« und »Kompromisse«. Unter Erzählkernen versteht er narrative Konfigurationen kultureller Vorgaben, die in der mittelalterlichen Kultur eine besondere Faszination ausübten.2 Die grundlegende These Müllers ist, dass hinter diesen Erzählkernen »kulturspezifische Interessen und Impulse stehen, die über die Literatur hinausreichen, die aber in literarischen Verarbeitungen besonders produktiv werden« (9). Der Begriff Erzählkern erfüllt gleich mehrere methodische Funktionen: er löst traditionelle literaturtheoretische Termini (Motiv) bzw. formale und strukturale Begriffe (»Erzähl- bzw. Strukturschema«) ab und schafft damit eine flexible Verbindung zwischen kulturellen Mustern bzw. Erzählungen und narrativen Verläufen und Problematisierungen. Ein weiterer Vorteil des Begriffs ist, dass er vollkommen historisierbar ist und somit als Scharnier zwischen dem kulturellen und dem literarischen Imaginären dienen kann. Denn Erzählkerne sind Teil des kulturell und gesellschaftlich Imaginären, wie es Castoriadis beschrieben hat, auf dessen präzise Theorie sich Müller hier beruft.3 Das Interessante an diesem sozialanthropologischen Begriff des Imaginären ist seine Verwendbarkeit sowohl für kulturelle als auch für narrative Muster (anders als der ästhetische, mediale oder mentalitätsgeschichtliche Begriff des Imaginären)4. So kann Müller formulieren: »Literarische Texte sind imaginäre Ordnungen zweiten Grades; d. h. sie sitzen auf imaginären Ordnungen ersten Grades auf, zitieren sie, überführen sie in besondere Konfigurationen, erproben ihren Spielraum, pointieren ihre blinden Flecken oder Widersprüche und wirken auf sie zurück« (12). In dieser Perspektive sind Narrationen (von kulturspezifischen Erzählkernen) weder Abbild noch imaginäres 2 Mit den ›Erzählkernen‹ entwickelt Müller konsequent einige Ansätze aus seinem Nibelungenbuch weiter; dort nennt er sie noch im Anschluss an Walter Haug ›Erzählschemata‹, womit etwa die Brautwerbung und die verräterische Einladung gemeint sind. Diese kristallisierten sich um bestimmte Situationsmuster herum (z. B. der Kampf in der Halle) und sind mit bestimmten Stereotypen verbunden. Vgl. Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenlieds, Tübingen 1998. 3 Castoriadis hatte im Gegensatz zu ästhetischen Modellen des Ästhetischen (Iser) den soziologischen Aspekt des Imaginären ausgearbeitet. Er versteht unter dem »gesellschaftlich Imaginären« die Gesamtheit der Muster und Modelle einer Kultur, in denen Wirklichkeit angeeignet, interpretiert und strukturiert wird. Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Frankfurt am Main 1997. 4 Es ist bezeichnend, dass Müller sich vom literaturästhetischen Begriff des Imaginären, wie ihn etwa Wolfgang Iser, Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie (Frankfurt am Main 1991) verwendet, aber auch vom mentalitätsgeschichtlichen [Jacques LeGoff: »L’imaginaire médiéval«, in: Un autre Moyen Âge (Paris 1999)] oder vom medienästhetischen Begriff des Imaginären [K. Ludwig Pfeiffer, Das Mediale und das Imaginäre, Dimensionen anthropologischer Medientheorie (Frankfurt am Main 1999)] absetzt, damit er das gesellschaftlich Imaginäre als Rahmen des literarischen Imaginären begründen kann.
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Gegenbild einer ›Wirklichkeit‹, sondern sie sind selbst generativer Teil der Sinnstiftung dieser Wirklichkeit. Entscheidend dabei ist, dass uns die Erzählkerne nur über Texte zugänglich sind, generell aber Auskunft über ein kulturelles historisches Imaginäres geben können (39). Müller kommt es auf die Vergleichbarkeit von Alltagserfahrungen einer Epoche und ihren literarischen Narrationen an (»gemeinsame Matrices«). Dafür bringt er auch Forschungsergebnisse der kognitiven Psychologie in Form der Script-Theorie in Anschlag, welche im narrativen Vorgang ein gängiges Strukturmuster alltagsweltlicher Erfahrung sieht. Erzählkerne sind somit wenig differenzierte Komponenten des kulturellen Imaginären, denen bestimmte Spannungen und Störungen, vor allem bezüglich ihrer Geltung in der Alltagswelt zugrunde liegen. Sie werden in literarischen Texten fiktional verarbeitet, problematisiert, und erreichen so einen höheren Grad an Komplexität. Und hier kommt die zweite These Müllers ins Spiel: sie bezieht sich darauf, wie die höfische Epik mit den Spannungen und Widersprüchen von Erzählkernen umgeht: sie zeigt ihre Konflikte, Grenzüberschreitungen und »Exorbitanzen«, führt sie aber fast immer Lösungen und Kompromissen zu, indem Geltungsansprüche narrativ austariert werden. Dies unterscheide die höfische Epik von neuzeitlicher bzw. modernen Romanen: ihre Texte werden niemals zu Wunschräumen transgressiver Phantasmen, sind niemals subversiv, sondern immer »Medium ihrer Integration in den vorgegebenen kulturellen Rahmen« (41). So geht es im ersten Kapitel um Störungen genealogischer Muster wie etwa das ›Aus der Art-Fallen‹ des Helden, die Mahrtenehe, den Inzest. Im Erzählkern des »Ent-Artens« werden Spannungsverhältnisse wie art und Erziehung, art und adliges Ethos, art und christliche humilitas aufgerufen und narrativ bewältigt. So wird die Störung der genealogischen Ordnung durch die mythische Abkunft des Helden (»Legitimität« vs. »Exorbitanz«) etwa in den Alexanderromanen auf unterschiedliche Weise abgewendet (81 – 92): durch narrative Anlagerungen in der Genealogie bzw. Tilgung der Mythologeme (Pfaffe Lamprecht), durch »riskante Harmonisierung« der dynastischen Abfolge mit einer komplizierten Minnegeschichte (Rudolf von Ems) oder durch »Hybridisierung heterogener Erzählmuster« (Ulrich von Etzenbach). Auch im Falle des Inzests (Hartmanns Gregorius, Prosa-Lancelot), wenn die Helden die genealogische Ordnung überbieten müssen, wird diese nicht destruiert, sondern nur aufgehoben bzw. zum Modell der geistlichen Ordnung umgeformt (106). Genealogie beherrscht auch das zweite Kapitel, in welchem Spannungsverhältnisse wie Virginität und Heilige Familie als biblisches Paradox, geistlich-asketische und adlig-höfische Existenz, oder wiederum Störungen wie die Vaterlosigkeit des Helden behandelt werden. Auch hier beobachtet Müller narrative
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Strategien der Kombination, Verschmelzung oder Reihung von widerstrebenden Mustern und Lebensformen (Fortpflanzung und Weltabkehr in Konrads von Würzburg Alexius-Legende bzw. den Oswaldgeschichten; erotische Minne und geistliche caritas in Ulrichs von dem Türlin Arabel sowie die Kinderminne in Konrad Flecks Flore und Blanscheflur; genealogische Zwänge und Askese im Wilhelm von Wenden Ulrichs von Etzenbach; Sakralisierung von Sexualität in Ottes Eraclius). Abschnitte zu den fehlenden Vätern (und die damit verbundenen Brüche in der Genealogie), das Problem der moniage sowie die Figur des Ritterheiligen (Reinbots von Durne Der heilige Georg, Hartmanns Gregorius) bilden den Abschluss des Kapitels. Indem Müller hier minutiös die narrativen Strategien aufdeckt, mit welchen alternative Lebensformen harmonisiert werden, fokussiert er Problemlösungen statt Insuffizienzen im Text, und statt nur Heterogenität und Brüche zu sehen, attestiert er den Autoren erzählerische Kreativität und synthetisches Vermögen. Im dritten und vierten Kapitel geht es um das Spiel mit dem Namen und der Identität der Protagonisten. An einer großen Zahl von Texten der arthurischen und heroischen Epik wird die Bedeutung von Namen, die Namensnennung, der Verlust des Namens und die Suche nach ihm als Teile eines Erzählkerns beschrieben, in welchem die Inszenierung von Namenlosigkeit als Irritation, die in unterschiedlicher Weise wieder aufgehoben werden kann, im Zentrum steht. Im Anschluss daran geht es um Identitätskrisen der Helden, bei welchen Erinnertes und Sichtbares auseinander fallen und zu Anlässen der Reflexion über hergebrachte Identitätsentwürfe werden. In diesem vielleicht besten Kapitel des Buches stellt Müller seine These von der Rahmung des Literarischen durch das kulturelle Imaginäre auf den Prüfstand, indem er zunächst den Wert von sozialhistorischen Forschungsergebnissen zur Identität in der Vormoderne für den höfischen Roman in Zweifel zieht. Zwar können die Helden, die ihre Identität temporär verloren haben, sie nur über die Wieder-Erkennung von Zeichen ständischer Zugehörigkeit zurückgewinnen (Iwein, Willehalm) und entsprechen so einer »Inklusionsidentität«, doch ist dieser Begriff zu einfach, um die zahlreichen Rollen, Verkleidungen und Verstellungen, in denen etwa der Held der Tristan-Romane Gottfrieds, Eilharts und in der Fortsetzung Heinrichs von Freiberg auftritt, oder die Reihe der De-Vestituren im Gregorius bzw. die unlesbar werdende Identität Lancelots zu erklären. Müller zeigt hier anhand wichtiger ›kanonischer‹ Texte, wie die kollektiv vermittelte Identität des Helden narrativ problematisiert und individualisiert wird. Solches Oszillieren zwischen Selbstverlust und gerade daraus resultierender Selbsterkenntnis interessiert Müller auch im folgenden Kapitel zu den ›Zwischenräumen‹. Es sind literarische Räume wie die Kemenate oder der Baumgarten, welche die Opposition öffentlich – heimlich kollabieren lassen und zu Übergangszonen werden, wo sich bestimmte Geltungsbereiche überschneiden
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(z. B. Flore und Blanscheflur, Tristan-Romane, Konrads von Würzburg Engelhard). Obschon sich höfische Literatur an die Regeln der Sichtbarkeit hält, kann sie in solchen Räumen der Dissimulation auch darstellen, was unsichtbar ist. Ganz en passant entwirft Müller hier eine Poetik des Zwischenraums im höfischen Epos, in dem sich Außen und Innen überschneiden: Phantasmen, Dunkles, Wünsche und Gefühle dringen nach außen und werden erstmals diskursiv (Magie der Tugendproben, Affekte und Gemütsbewegungen). Diese Poetik ist performativ: »Gemütsbewegungen werden als körperliche Vorgänge versprachlicht und in körperliche Reaktionen gefasst.« (340) Die beiden letzten Kapitel sind der minne zwischen dynastischen Zwängen und sexueller Leidenschaft gewidmet: auch hier geht der Verfasser von Erzählkernen aus, in denen es zur imaginären Überhöhung der Minne kommt, die narrativ mit den Regeln der herrschenden Praxis (Allianzdispositiv, Ehe und Fortpflanzung) versöhnt werden muss. Dies vollziehen die Autoren durch das Erproben der Grenzen von geltenden Normen und das Ausreizen von Spielräumen zwischen den beiden Spannungspolen minne und Politik; durch Transgressionen wird Ordnung jedoch stabilisiert, und die Regeln des Allianzprinzips werden schließlich gestärkt. Dabei kommt es allerdings – und Müller muss dies gegen seine Kompromiss-These konzedieren – zu einigen nennenswerten Ausnahmen: wenn nämlich Minneverhältnisse individualisiert werden und sich nicht mehr mit der gesellschaftlichen Ordnung in Einklang bringen lassen: in den Tristan-Erzählungen, in Partonopier und Meliur Konrads von Würzburg, in Heinrichs von Veldeke Eneit oder im Prosa-Lancelot: in unterschiedlicher Form wird hier leidenschaftliche minne zum Störfaktor, der nicht mehr kontrolliert und mit der Ordnung versöhnt werden kann. Ob Müllers Fazit, in allen diesen Fällen würde die Passion relativiert, zutreffend ist, mag dahingestellt bleiben. Das Faszinierende an Müllers Studien ist ihre Anschaulichkeit: hier kommt die Literatur selbst zu Wort, ihre teils verschlungenen Geschichten menschlicher Beziehungen, Geschichten von Familien und Geschlechtern, von Vätern und Söhnen, Müttern und Töchtern, Frauen und Männern, die sich im Spannungsfeld zwischen adlig-genealogischer Welt und christlicher Ethik bewegen. Diese Erzählungen nimmt Müller mit Hilfe eines stupenden Textgedächtnisses für den Leser auseinander und setzt sie auf neue Weise wieder zusammen, immer im Hinblick auf das Imaginäre der Kultur, die sie hervorgebracht hat, und unter bewusstem Verzicht auf werk- und wirkungsästhetische Analysen und Werturteile sowie auf historiographische Nutzbarkeit. Dabei werden die Grenzen des einzelnen Textes bzw. der einzelnen Fassung durchlässig, und statt einer Textreihe – wie in Gattungs- und Literaturgeschichten – stehen mit den Erzählkernen die leitenden narrativen Muster, in die die höfischen Figuren eingebunden sind. Von den inneren Spannungen und Störungen dieser Erzähl-
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kerne geht Müller aus, und zeigt, in welch unterschiedlicher, differenzierter und ingeniöser Form sie erzählerisch bewältigt werden. Dass sich Müller dabei von dem Begriff »Kompromisse« hat leiten lassen, scheint mir jedoch selbst ein Kompromiss zu sein. Denn der Begriff kann mit seiner sozialen und politischen Bezogenheit auf Konflikt und widerstreitende Positionen nicht alle diejenigen Situationen umfassen, welche den Verfassern der höfischen Epen zur Lösung aufgegeben sind und welche im Verlauf der Studien aufgezeigt werden: divergierende Vorgaben der Überlieferung (mythische, legendarische, populare), divergierende Vorgaben des kulturellen Feldes (laikale und geistliche Normen und Zwecksetzungen), divergierende literarische Diskurse (theologisch, rechtlich, anthropologisch verfasste), doch in der Hauptsache die verschiedenen Vorgaben durch die transgressiven Phantasmen der Erzählkerne selbst (etwa: »Exorbitanz des Helden«, »Magie«, »passionale Liebe«), die außerhalb der adlig-dynastischen und christlichen Normsysteme stehen und abgefedert und bewältigt werden müssen. Diese Vorgaben erfordern zunächst einmal Verhandlungen (auch wenn dieser Greenblattsche Begriff Müller offenbar zu abgetragen scheint), bevor sie zu Kompromissen werden können. Diese Verhandlungen bestehen aus genau den Entschärfungs- und Lösungsstrategien in Form von Reihungen und Hybridisierungen, Akkumulationen und Syntheseleistungen, die Müller so eindrucksvoll nachweist. Und neben diesen Strategien, die die Grenzüberschreitung zur Stützung der Norm einsetzen (Durkheim), gibt es natürlich auch solche – und Müller verschweigt dies nicht – welche die Störungen zwar bearbeiten, sie aber dennoch keiner Lösung zuführen, wie im Fall der Liebespassion in Gottfrieds Tristan oder im Prosa-Lancelot. Dagegen halte ich das theoretische Konstrukt von den Erzählkernen für durchaus tragfähig. Seine Vorteile überwiegen deutlich vor seinen Nachteilen: letztere lassen sich in einer gewissen Unschärfe (noch ist die Grenze zwischen Erzählkern, Motiv, Einfacher Form und Schema zu definieren), einer Bezogenheit auf Plot und höfisches Personal und damit einer Vernachlässigung außertextueller Referenzen zusammenfassen, während die Vorteile gegenüber älteren Termini vor allem in der Funktion von Erzählkernen liegen, zwischen literarischem und kulturellem Feld vermitteln zu können. Müller gibt uns hier ein Instrument zur Hand, das uns erlaubt, den kulturellen Kontext eines Textes auch aus diesem selbst zu erschließen, ohne notwendigerweise auf gängige kulturelle Diskurse außerhalb dieses Textes zu rekurrieren. Das Buch ist Ansporn und Modell, das geisteswissenschaftliche Paradigma von literarischem Text und kulturellem Kontext weiter zu bearbeiten und neu zu überdenken. Hans Rudolf Velten, Berlin / Erlangen
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Sebastian Coxon, Laughter and Narrative in the Later Middle Ages. German Comic Tales 1350 – 1525. Oxford: Legenda, 2008. 214 S. Eine Untersuchung des Lachens sowie seiner narrativen Bedeutung und Funktionen in mittelhochdeutschen »Schwankmären«, welche der Londoner Mediävist Sebastian Coxon in den Mittelpunkt seiner neuen Monographie stellt, ist gerade aus interdisziplinärer Perspektive von großem Interesse. Einerseits gilt dies für anthropologische und kulturwissenschaftliche Fragestellungen, wie Coxon selbst betont: »there is no more central anthropological theme than laughter« (1). Andererseits sind in jüngster Zeit mittelalterliche Verserzählungen verstärkt Gegenstand komparatistischer Untersuchungen gewesen, so in Klaus Grubmüllers Monographie Die Ordnung, der Witz und das Chaos von 2006, auf die Coxon öfters Bezug nimmt. Coxons Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile: Zunächst wendet er sich Aspekten des Lachens über sowie Formen des Lachens in »Schwankmären« zu; im zweiten Teil stellt er ausgewählte Elemente und Strategien des Erzählens vor, die auf das Lachen des Publikums zielen (»Narrative design«), und schließlich erörtert er, wieder anhand ausgewählter Beispiele, größere soziale Zusammenhänge des Lachens im Märe, v. a. die Beziehung zwischen Körper und Gesellschaft in »Schwankmären«. Zusätzlich zu diesen Hauptaspekten bietet Coxon einzelne, z. T. locker eingefügte, jedoch stets auf die Grundfragestellung bezogene kleinere Untersuchungen und Exkurse. Dabei erhebt Coxon nicht den Anspruch, alle Facetten von Lachen und Verlachen, Komik und Spott in einer über Jahrhunderte wirkenden Textgattung darzustellen – was selbst auf deutlich mehr als den vorliegenden 185 Textseiten kaum möglich wäre. Als Methode wählt Coxon »close textual analysis, underpinned by various modern theoretical assumptions pertaining to laughter« (17). Theoretische Überlegungen treten dabei aber eher zurück. Vor allem Coxons umfassende Kenntnis der von ihm herangezogenen und ausführlich zitierten (wenngleich bisweilen, etwa 47, 114 f., zu frei übersetzten) Texte prägt die besten Teile seines Buches. In diesen Kapiteln und Teilkapiteln, insbesondere im ersten und dritten Teil, gelingen ihm eine ganze Reihe luzider Einzelstudien: Die differenzierte Darstellung der narrativen Funktionen von Lächeln, Lachen, Spotten, kollektivem Verlachen etc. (58 ff.) arbeitet überzeugend »laughter’s extraordinary nature as both an involuntary bodily response and a powerful communicative gesture« (77) heraus. Ebenso aufschlussreich erscheint mir die Analyse der Darstellung sozialer Randfiguren in Mären, etwa gewitzter und sympathischer Schreiber und Diebe gegenüber verlachenswerten Müllern und Henkern. Coxon verdeutlicht »the great scope for aggressive audience laughter« (164) einerseits, die Möglichkeit »to laugh in partnership with protagonists such as the thief or the vagabond« (ebd.) andererseits und diskutiert plausibel die so-
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ziale und narrative Funktion der witzigen, komischen oder lächerlichen Außenseiterfiguren. Coxons Betrachtungen zum komischen Potential einiger Grundrequisiten schwankhafter Verserzählungen (Bett, Badezuber; 96 ff.) sind für die Deutung ganzer Motivkomplexe in Mären (wie etwa desjenigen vom »Liebhaber im Bade«) überaus interessant und weiterführend. Problematisch erscheint mir die Abgrenzung des Textcorpus. Coxon stellt Schwankmären aus der Zeit zwischen 1350 und 1525 in den Blickpunkt der Untersuchung. Ein geschlossenes Corpus nach Coxons Maßgaben existiert jedoch nicht, zumal der Verfasser die von ihm selbst gesetzten Grenzen überschreitet. Vor allem ist es die in der Märenforschung völlig ungeläufige Datierung 1350 – 1525, über die fälschlich eine Geschlossenheit spätmittelalterlicher Erzählformen suggeriert wird. Wie der Terminus 1525 zustande kommt, bleibt ungeklärt; problematisch ist ohnehin der Spätansatz um 1350. Dies v. a. aus zwei Gründen: Zum einen werden die ersten deutschsprachigen Mären über hundert Jahre früher datiert. Coxon lässt die Mären dieser frühen Zeit mit der Begründung außer Betracht, sie seien »governed by didactic interests that effectively held in check their comic functionality« (12). Derart generalisierend wird man jedoch kaum Texten wie etwa dem Sperber gerecht. Zum anderen ist Coxons Grenzziehung ab dem Jahr 1350 unglücklich, da viele Mären nur über die ältesten überliefernden Handschriften ungefähr datiert werden können – und so, v. a. nach Arend Mihms Studie, Mären reihenweise vage »um 1350« angesetzt werden. Dass Coxon dennoch sein Corpus wesentlich über die Datierung eingrenzt, erleichtert ihm oftmals seine Argumentation; so etwa, wenn er es – im Gegensatz zu Grubmüller (2006) – vermeidet, französische Fabliaux mit in die Betrachtung einzubeziehen: Schließlich, so Coxon, habe deren Tradition schon ca. 1340 ein Ende genommen (12). Überhaupt ist es misslich, dass ältere Texte bzw. Fassungen eines Stoffes außer Betracht bleiben, zumal im Buch sonst viele unterschiedliche Versionen des jeweiligen Märes erörtert werden: So bleibt im Falle des von Coxon oft herangezogenen Bildschnitzers von Würzburg aus dem 15. Jahrhundert der deutlich frühere, stoffgleiche Herrgottschnitzer unberücksichtigt – ein Text, der (Rasuren zufolge) wohl im 14., nicht jedoch im 15. Jahrhundert als blasphemisch empfunden wurde, was Grubmüller (2006) ausführlich erörtert hat. Welche Faktoren es bewirkt haben mögen, dass man binnen ca. einhundert Jahren denselben Stoff erst skandalös, später aber amüsant finden konnte, diskutiert Coxon nicht – sondern geht von einer insgesamt statischen Lachkultur des Spätmittelalters aus. Ein weiteres Beispiel: Oft zitiert Coxon diverse Fassungen des Pfaffen mit der Schnur, nicht jedoch den stoffgleichen Betrogenen Gatten des steirischen
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Adligen Herrand von Wildonie aus dem 13. Jahrhundert. Herrand unternimmt enorme Anstrengungen, den Text »höfisch« zu verfeinern und etwa den von Coxon (90) diskutierten nächtlichen Harndrang zu umgehen, der in anderen Stofffassungen eine wichtige Rolle spielt. Man lachte also nicht nur zu verschiedenen Zeiten über manche Inhalte unterschiedlich, sondern amüsierte sich auch schichtenspezifisch – Aspekte, die nicht im Fokus der Arbeit liegen. Coxons Corpuswahl qua Datierung lässt schwankhafte Mären insgesamt uniformer erscheinen, als sie waren. Die Vorgabe einer textnahen Analysearbeit wird nicht immer durchgehalten. Öfters entfernt sich Coxon zu sehr von den Werken und gelangt zu Schlussfolgerungen, die von den Texten nicht mehr gedeckt werden. So wird ohne Bindung an die voranstehenden Untersuchungen und leider erst auf der letzten Textseite der Begriff des Humors erörtert, mit der mageren Definition »the ability to recognize that things are not always as they seem« (183). Vor allem am Ende einiger Kapitel stehen bisweilen stark spekulative Überlegungen. Ein Beispiel sei hier ausführlicher erörtert: Es findet sich 51 ff., wo Coxon eine Illustration der Innsbrucker Märenhandschrift i zum Schneekind A heranzieht. In diesem Märe will eine Frau ihrem Mann weismachen, dass sie in seiner Abwesenheit durch das Zu-Sich-Nehmen von Schnee schwanger geworden sei. Coxon deutet die Abbildung, die er als eine ihren Rock hebende und auf ihre Vagina weisende Frau sieht, nach längerer Erörterung wie folgt: »the picture may serve to contradict the wife’s ludicrous explanation« (51); immerhin behaupte sie, Schnee gegessen zu haben, und weise nun auf den tatsächlichen Ort der Verfehlung. Tatsächlich ist vom Schnee-Essen nirgends die Rede, es heißt in i, V. 25: und warf des snebs in die wunt, wobei wunt eine gängige Metapher für das Geschlechtsteil ist. Die Abbildung veranschaulicht also keinen Zeigegestus, sondern den Vorgang des ›Schnee-Werfens‹ und steht damit nicht im Widerspruch zu den Worten der Frau – was auch die Lektüre des einschlägigen Aufsatzes Weidhases von 1974 hätte erkennen lassen. Die genannten Mängel vermögen jedoch die Tatsache nicht zu trüben, dass man Sebastian Coxons Laughter and Narrative in the Later Middle Ages in vielen Teilen mit Gewinn liest. Gerade dort, wo er tatsächlich eng entlang seiner Referenztexte argumentiert, gelingen Coxon zahlreiche aufschlussreiche Beobachtungen. An diese Ergebnisse Coxons werden bei der Erforschung deutschsprachiger Versnovellen des Spätmittelalters wohl noch viele Untersuchungen (aus hoffentlich diversen Fachdisziplinen) anschließen können. Matthias Kirchhoff, Tübingen
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Rainer Zaiser, Inszenierte Poetik. Metatextualität als Selbstreflexion von Dichtung in der italienischen Literatur der frühen Neuzeit [Ars Rhetorica, Bd. 22], Münster / Berlin: Lit, 2009. 215 S. Der vorliegende Band gewährt einen gelungenen Überblick über metapoetische Texte in verschiedenen Gattungen der frühneuzeitlichen italienischen Literatur. Vorangestellt ist diesem Durchgang durch die italienische Literatur des Cinquecento und Seicento ein Einleitungskapitel, in dem zunächst die Problematik knapp umrissen (Kap. I. 1.) und sodann der Begriff der Metatextualität geklärt wird, wobei der Autor besonders auf den postmodernen Kontext eingeht und als wichtige Gewährsleute Julia Kristeva und Roland Barthes nennt (I. 2.). Er stellt klar die Problematik dieser zu engen Begriffsverwendung in der Postmoderne heraus (I. 3.), um konsequenterweise für eine »historische Betrachtung metatextueller Reflexionsmodi« zu plädieren (21). Völlig zu Recht verweist der Autor in diesem Zusammenhang besonders auf die Namen Klaus W. Hempfer und Winfried Wehle, mit denen er in Bezug auf diese »historische Perspektivierung« (29) übereinstimmt (I. 4.). Das zweite Kapitel führt die Systematik noch fort, indem es zunächst einen umfassenden Überblick über den Forschungsstand liefert, klar und übersichtlich gegliedert nach den Gattungen der Narrativik, des Dramas sowie der Lyrik (II. 1.). Dieselbe Einteilung behält der Autor sinnvollerweise bei, wenn er in den folgenden Unterkapiteln die »Inszenierungsmodi« der jeweiligen Gattungen behandelt (vgl. die Teilüberschriften zu Kap. II. 2., 47, II. 3., 51 sowie II. 4., 53). Einleuchtend wird hier vorgeführt, welche Instanzen in den entsprechenden Genres dazu dienen können, poetologische Gedanken und Reflexionen zu vermitteln. In der Narrativik ist dies in erster Linie die Figur des Erzählers (47) und in der Lyrik diejenige des lyrischen Ichs (53 f.), während in dramatischen Texten mehrere Möglichkeiten bestehen, metapoetische Themen zu inszenieren: »auf der Ebene der Vermittlungsinstanz«, der »Figurenrede« sowie der »mise en abyme des dramatischen Spiels« (51). Eine Synthese schließt dieses Kapitel ab, die die zuvor aufgeführten Befunde zusammenfasst und vertieft, diesmal unter gattungsübergreifendem Vorzeichen (II. 5.). Dieses Schema, jedem Kapitel eine Synthese anzuschließen, behält der Autor im Hauptteil der Studie zunächst bei (vgl. Kap. III. 2. 8. und III. 3. 6.), wodurch sich bisweilen die Gefahr der Wiederholung ergibt. Dennoch ist eine Zusammenfassung des jeweiligen Ertrags sicherlich sinnvoll und für den Leser hilfreich. Anhand zahlreicher Beispiele dokumentiert der Autor im nun folgenden Hauptkapitel des Werks (Kap. III) die Entwicklung der metatextuellen Verfahren zunächst im Pastoraldrama und in der petrarkistischen Liebesdichtung der italienischen Renaissance (Kap. III. 1. und III. 2.).
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Der erste Punkt (III. 1.) setzt ein mit Ariost, finden sich doch bei diesem Dichter erste Ansätze poetologischer Überlegungen in den Prologen zu seinen Komödien. Als Beispiel wird La Cassaria (UA 1508) genannt, die erste commedia erudita oder Gelehrtenkomödie, mit der sich der Verfasser an antike Vorbilder anlehnt und sich betont vom mittelalterlichen Lustspiel, der Farce, absetzt. Metapoetische Äußerungen finden sich vor allem im Prolog, wobei besonders auf die Neuheit und die aemulatio mit antiken Autoren hingewiesen wird (60 f.). Bereits an dieser Stelle wird also deutlich, dass poetologische Überlegungen oftmals dazu genutzt werden, um eine neue Gattung einzuführen und den Leser mit dieser Neuheit vertraut zu machen – eine Erkenntnis, die das ganze Buch wie ein roter Faden durchzieht und die im Laufe der Studie noch an Kontur gewinnt. Immer wieder untermauert wird dabei die These Zaisers, dass »die Funktion des metapoetologischen Diskurses vorwiegend als eine Durchsetzungsstrategie von Dichtungskonzepten zu werten ist, die im literarischen System einer Epoche noch keine Legitimation erfahren haben« (30). Viele Zitate und die dazugehörigen textnahen Interpretationen machen diesen Gedankengang des Autors transparent, so bereits in der nun folgenden Abhandlung über das Pastoraldrama, für welches eine »noch stärkere poetologische Legitimation« erforderlich war (62). Besonders eingängig werden in Kap. III. 2. Petrarca und seine Epigonen Matteo Boiardo, Pietro Bembo, Gaspara Stampa, Torquato Tasso und Isabella Andreini vorgeführt. Nach einer Einleitung über Petrarcas Wirkung im Allgemeinen (III. 2. 1.) wird zunächst das Einleitungssonett des Canzoniere, Voi ch’ascoltate in rime sparse il suono (Canz. I) ausführlich nach poetologischen Merkmalen interpretiert. Diese Analyse dient als Grundlage für die folgenden Unterpunkte, in denen jeweils die Proömien zu den Gedichtsammlungen der oben genannten Petrarkisten behandelt werden. Zwei Gesichtspunkte sind es, an denen sich Rainer Zaiser dabei vor allem ausrichtet: 1. Wie wird die »Anlehnung an Petrarca im Text selbst kenntlich gemacht« (82)? 2. Wie werden »die entsprechenden Verweise dazu genutzt [ . . . ], um die Liebespoetologie Petrarcas fortzuschreiben bzw. abzulösen« (ibd.)? Die Interpretation nach diesen Vorgaben führt der Autor in den Unterpunkten III. 2. 3., 2. 4., 2. 5., 2. 6. und 2. 7. konsequent durch, bevor er das Thema durch die bereits genannte »Vergleichende Synthese« (Kap. III. 2. 8., 110) abrundet und zur Ritterepik übergeht (III. 3.). Auch hier wird anhand von treffend ausgewählten Textbeispielen, die den Autoren Luigi Pulci, Matteo Boiardo, Ludovico Ariosto und Torquato Tasso entnommen sind, deutlich gemacht, dass poetologische Reflexionen dazu dienen, das rinascimentale Ritterepos vor dem Hintergrund der altfranzösischen chanson de geste und des höfischen Romans bzw. in Auseinandersetzung mit denselben als neue Gattung zu etablieren. Gearbeitet wird wie in der petrarkistischen Liebeslyrik ebenfalls mit intertextuellen Verweisen, wie
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der Autor prägnant herausarbeitet; zu finden sind metapoetische Überlegungen hauptsächlich in den Proömialstrophen der einschlägigen Werke. Die letzten beiden Unterpunkte dieses Hauptkapitels behandeln jeweils ein Einzelwerk, das exemplarisch für eine Gattung steht: Es handelt sich zunächst um den Adone von Giovan Battista Marino (Kap. III. 4.), auf den ersten Blick ein Liebesepos (cf. 146), das sich jedoch bei näherem Hinsehen als der Versuch entpuppt, Gattungsunterschiede aufzuheben, wie Zaiser schlüssig nachweist. Der Dichter Marino bedient sich dabei in erster Linie poetologischer Elemente, wie bereits das Proömium zeigt, welches treffend als »Konterkarierung des Renaissanceepos« (148) charakterisiert, jedoch fast ein wenig zu ausführlich interpretiert wird (Kap. III. 4. 2.). Durch den Wechsel von einer Reihe von Autoren (wie in den vorhergehenden Kapiteln) zu der Behandlung eines einzelnen ergibt sich nämlich die Gefahr, die Textanalyse in die Länge zu ziehen, wobei die Überlegungen sich bisweilen vom eigentlichen »Leitmotiv«, der Poetologie entfernen. Im letzten Teilkapitel wird anhand des neapolitanischen Kunstmärchens Lo cunto de li cunti beispielhaft vorgeführt, wie dessen Verfasser Giambattista Basile poetologische Verfahren aufgreift, um das Kunstmärchen als neue Gattung in der italienischen Literatur zu legitimieren (Kap. III. 5.). Dabei weist Zaiser dem neapolitanischen Dichter nicht nur Einflüsse der mündlichen Erzähltradition nach, sondern vor allem auch die Orientierung an Boccaccios Decameron als einer klar durchstrukturierten und planvoll angelegten Novellensammlung (177 – 180), wobei wiederum die »metapoetologische Funktion« (180) im Vordergrund steht, wie der Autor zu Recht hervorhebt. Einprägsam führt er dabei vor Augen, wie im Pentamerone – ein anderer Name für Lo cunto de li cunti, der sich deutlich an Boccaccio anschließt – »die Rahmengeschichte zum poetologischen Spiegel der Binnengeschichte wird« (184). Eine »Schlussbetrachtung« (Kap. IV, 189), die bei dem 215 Seiten umfassenden Band fast ein wenig knapp ausfällt (3 Seiten), schließt die Studie ab. Klar wird hier noch einmal der Begriff der Metatextualität definiert, wobei der Autor sich erneut kritisch und völlig zu Recht von postmodernen Ansätzen abwendet. In der vorliegenden Studie wird somit der Begriff der Metatextualität als »Oberbegriff für alle Erscheinungsformen der literarischen Fiktion« verstanden, die »den Text selbst in einem oder in mehreren Aspekten seiner Machart, seiner Entstehung oder seiner Rezeption zum Gegenstand der Reflexion machen« (189). Besonderes Gewicht legt Rainer Zaiser auf den Gedanken der »inszenierten Poetik«, wie es bereits im Titel heißt. Im Schlusskapitel verweist er noch einmal deutlich auf die »Signalwirkung« metatextueller Elemente, die durch eine »erhöhte Aufmerksamkeit des Lesers« zu »Inszenierungsverfahren« werden,
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um »neue poetologische Konzepte durchzusetzen« (190). Dies konnte anhand der Gattungen des Pastoraldramas, der petrarkistischen Liebeslyrik, des Renaissanceepos sowie des Kunstmärchens überzeugend vorgeführt werden. Eine informative und anregende Lektüre, die nicht zuletzt durch ihre zahlreichen Originalzitate und deren textnahe Interpretation besticht. Gisela Seitschek, Mçnchen Björn Quiring, Shakespeares Fluch. Die Aporien ritueller Exklusion im Königsdrama der englischen Renaissance. München: Wilhelm Fink, 2009. 281 S. Der Sprechakt des Fluchs steht im Zentrum von Björn Quirings Studie. Der Begriff wird hier weit ausgelegt und umfasst auch die Nachbarformen des Fluchs: den Eid, die Prophezeiung sowie den Segen, die Fluchformeln (z. B. in Form von implizierten Selbstverfluchungen) beinhalten. Der Fluch ist in seiner Natur widersprüchlich, da er einerseits das Gesetz begründet, es andererseits jedoch als gegeben voraussetzt; Gesellschaftsordnungen können durch einen Fluch nicht nur bestätigt, sondern gleichzeitig auch in Frage gestellt werden. Als Sprechakt ist der Fluch inhärent performativ und theatralisch. Die Arbeit konzentriert sich auf den politisch konnotierten und relevanten Fluch, der bei Shakespeare immer dann besonders zutage tritt, wenn die Stücke sich mit politisch-gesellschaftlich instabilen Situationen auseinandersetzen, wie z. B. in den Königsdramen Richard III, King John und King Lear. Gleichzeitig zeigt Quiring sehr anschaulich, wie Shakespeares Dramen, und mit ihnen der Fluch selbst, in verschiedene zeitgenössische Diskurse eingebettet sind und diese auch aufgreifen, u. a. den theologisch-juristischen, den merkantilen und den naturrechtlichen Diskurs. Theologische Implikationen stehen vor allem bei der Analyse von Richard III im Vordergrund. Quiring zeigt sehr überzeugend, wie verschiedene kirchliche (vor allem katholische) Formeln durch die Reformation aus ihrem Kontext gelöst und so zu quasi leeren Zeichen geworden sind, die vornehmlich von Richard aufgegriffen, instrumentalisiert und zum Teil sogar parodiert werden, wie unter anderem die Eucharistieformel. Indem das Theater solche Formeln aufgreift, spiegelt es die im 16. und 17. Jahrhundert stattfindende Säkularisierung. Noch deutlicher wird dies Quiring zufolge bei den von Shakespeare appropriierten Exkommunikationsformeln, die in Richard III vollständig aus ihrem ursprünglichen theologischen Zusammenhang gelöst sind. Eine weitere, dritte Subgattung stellt der Eid dar, der das positive Gegenstück zum Fluch ist; in den hier besprochenen Königsdramen geht es dabei vorrangig um den feudalen Treueeid des Vasallen gegenüber dem Monarchen. Gerade in Richard III ist der Treueeid sehr problematisch, da der legitime Souverän nicht eindeutig
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feststellbar ist. In diesem Zusammenhang werden ebenfalls die Vertragsgedanken relevant, die im 17. Jahrhundert an Bedeutung gewinnen und später von Hobbes artikuliert werden. Ein weiterer Sprechakt, der bei Shakespeare und gerade auch in diesem Stück eine signifikante politische Rolle spielt, ist die Prophezeiung: Wie der Fluch kann sie die politische Ordnung affirmieren oder in Frage stellen. Wie Quiring zeigt, finden sich in Shakespeares Historien regelrechte Ketten prophetischer Flüche, die allerdings immer nur retrospektiv erkennbar sind. Shakespeare, so wird deutlich, bedient sich ihrer dabei in ironischer Form, um zu zeigen, dass die Geschichte an sich nicht teleologisch ist. Auch wenn alle Figuren in Richard III vermeintlich auf eine Heilsgeschichte hinarbeiten, kann diese nicht erreicht werden; Shakespeare zeigt Geschichte als »unabschließbare performance« (S. 108), die den eigenen Bedürfnissen entsprechend selektiv interpretiert werden kann. Besonders interessant sind die beiden letzten, dieses Kapitel abschließenden Punkte, die sich mit der Interdependenz von Politik und Theater auseinandersetzen. Richard selbst ist eine Figur, die eindeutig Züge des Teufels aufweist, so dass Verfluchungen wirkungslos verhallen müssen. Gleichzeitig jedoch wird er durch sein kontinuierliches Dissimulieren auch als Schauspieler charakterisiert, hinter den diversen Masken, die der König trägt, geht jedoch sein wahres Gesicht verloren. Tatsächlich ist es so, dass alle Figuren in Richard III sich verstellen. Wie Quiring zeigt, ist jedoch der Monarch selbst – sowohl im als auch außerhalb des Theaters – eine Figur, die per se dramatisch und performativ ist. In King John kommt dem Treueeid eine zentrale Rolle zu, da dieses Stück sich intensiv mit der Legitimation von Herrschaft beschäftigt. Allerdings ist dies sehr problematisch, da hier viele Treueeide geleistet und gebrochen werden; die Legitimation der Königswürde wird durch häufig wechselnde Allianzen hergestellt. Shakespeare greift in diesem Zusammenhang den im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert immer dominanter werdenden ökonomischmerkantilen Diskurs seiner Zeit auf, indem seine Figuren den Treueeid und die damit verbundenen Allianzen zunehmend als Ware (commodity) verstehen. Quiring weist darauf hin, dass die Sprache der Figuren von pekuniären Metaphern durchdrungen ist und dass das Nutzen einer »günstigen Gelegenheit« (S. 170) zur Basis politischen Handelns und schließlich auch der gesellschaftlichen Ordnung selbst wird. Wenn jedoch die Legitimation der Krone und damit das Königtum an sich zur Ware verkommen, kann von einem sakrosankten Monarchen nicht mehr die Rede sein. Auch in dieser Infragestellung des Gottesgnadentum zeigt sich die voranschreitende Säkularisierung des elisabethanischen Englands. Im letzten Kapitel schließlich wendet sich Quiring King Lear zu und bettet die dort vorkommenden Flüche in den Naturrechtsdiskurs ein, der während der Renaissance in England immer mehr an Gewicht gewann. Ähnlich wie der
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Fluch ist das Naturrecht paradoxer Natur: Es ergänzt und korrigiert das positive Recht, ist aber gleichzeitig auch dessen Quelle. Zu Shakespeares Lebzeiten wird der Monarch als personifizierte Gerechtigkeit verstanden und kann die Lücke zwischen Naturrecht und positivem Recht füllen. Bei der Analyse des King Lear steht erneut der Treueeid im Zentrum, der einerseits vom positiven Recht vorgeschrieben wird, gleichzeitig aber auch die bestehende Treuepflicht affirmiert. Die natürliche Ordnung muss also durch Sprechakte immer wieder bestätigt werden. Gerade diese natürliche Ordnung jedoch ist das zentrale Problem des Stücks, da über deren Prinzipien keine Einigkeit besteht; der Naturbegriff in dem Drama umfasst nicht nur eine Ordnung, sondern auch das Chaos. Nach Lears Abdankung entsteht ein Machtvakuum und es herrscht, so zeigt Quiring, eine unnatürliche Ordnung: Lears Flüche verweisen in diesem Zusammenhang auf die Instabilität der politischen Situation und auf die »Implosion aller sozialen Relationen« (S. 206). Shakespeare zeigt, wie das Naturrecht mit dem positiven Recht kollidieren kann und löst so den Fluch aus einem rein theologischen Kontext. Die Abwesenheit eines Monarchen, so legt Quiring überzeugend dar, ist das zentrales Element in King Lear, das sich ebenfalls auf die Sprechakte der Verbannung und des Segens – zweier Verwandter des Fluchs – auswirkt. Die Verbannung schließt von der Gemeinschaft und aus einem souveränen Land aus, ohne Monarch jedoch gibt es keine Instanz mehr, die die territorialen Grenzen aufrecht erhält und tatsächlich ausgrenzen könnte. Im Umkehrschluss gilt Ähnliches für den Segen: Ohne Souverän gibt es keine Gemeinschaft mehr, in die mittels Segnung aufgenommen werden könnte. Wie schon bei King John beschäftigt Quiring sich mit der Metaphorik des Stücks und zeigt auf, wie der ökonomische Diskurs in das Stück und die Sprache der Figuren einbricht; auch hierin wird die zunehmende Säkularisierung des frühneuzeitlichen Englands sichtbar. Die großen Stärken dieser Untersuchung liegen vor allem in der sorgfältigen Textarbeit und der detaillierten und anschaulichen Kontextualisierung. Sehr facettenreich und durchweg überzeugend vermag Quiring zu zeigen, wie Shakespeare in seinen Königsdramen nicht nur verschiedene Diskurse seiner Epoche aufgreift, sondern sich auch mit diversen ihrer Paradoxa und Aporien auseinandersetzt. Elisabeth Winkler, Kiel Jean Ehret, Art de Dieu Art des hommes. L’esthétique théologique face au pluriel de beau et au singulier de l’art. Lille: Atelier Nat. de Reprod. des thèses, 2007. 368 S. »Das Schöne«, so Balthasar, »fordert auf jeden Fall eine gesamtmenschliche Reaktion, sosehr es auch zunächst auf dem Weg eines einzelnen oder mehrerer Sinnesvermögen apperzipiert worden ist« (244, Anm. 333). Mit seiner literaturästhetischen Studie folgt der Vf. den Fußspuren des großen Theologen und
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Ästhetikers Hans Urs von Balthasars, der sich ebenfalls seinen ersten Doktortitel nicht in Theologie, wie man vermuten würde, sondern mit einer literaturwissenschaftlichen Dissertation an der Schnittstelle von Literatur und Theologie erworben hatte. Dieses 1928 von dem renommierten Züricher Literaturwissenschaftler Robert Faesi als »interessante[s] und wenig untersuchte[s]« gewürdigte Unterfangen »eines im Denken und Empfinden regen und reifen kultivierten Geistes« (R. Faesi) hat sich 80 Jahre später der Vf. zu eigen gemacht und aus französischer Perspektive verschiedene Lesestrategien im Raum der Catholica an der Schnittstelle von Kunst und Religion anhand von MarcMathieu Münchs literaturästhetischer Konzeption des »effet de vie« (vgl. dazu LJ 50 (2009) 307 – 322) und Balthasars ästhetischer Theodramatik im Licht des Zweiten Vatikanischen Konzils analysiert. Mit der Entscheidung für die Literatur »en dehors du double paradigme de la théologie et de l’héresie« (25) war der Vf. dennoch mit dem alten philosophisch-theologischem Vorwurf gegenüber der Literatur konfrontiert, dass mit der Poesie der Raub der Wahrheit einhergehe. Ist Literatur, um mit Leupin zu sprechen, tatsächlich die Ausnahmeerscheinung, die nicht an das Gesetz der Ikone gebunden ist, der sie notwendigerweise angehört? »Comment, lire en Église’?« (58) lautet daher die Frage, der der Vf. nach einer ungewöhnlich autobiographischen Herangehensweise (Kap. 1) an das selbstgestellte Thema zur Kunst Gottes und Kunst der Menschen angesichts der Vielheit des Schönen und der Einzigartigkeit der Kunst anhand von drei verschiedenen Etappen in den letzten hundert Jahren im katholischen Umgang mit der Literatur nachgeht, wobei die Beschäftigung mit Balthasar ein eigenes großes Zwischenkapitel vor der Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil einnimmt. 1) Die Zeit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil (Kap. 2): Exemplarisch illustriert der Vf. das Dilemma zwischen Glaube und Literatur am Beispiel zweier priesterlicher Gestalten, des Weltpriesters Philippe Bertault und seiner Leidenschaft für Balzac, aus der die Schrift Balzac et la religion hervorging, und des Dominikaners Pie Duployé mit seiner Vorliebe für Péguy. Während sich Bertaults einer sich erst im Ansatz abzeichnenden Methode der vergleichenden Literaturwissenschaft in apologetischer Weise letztlich auf die eine Frage konzentriert, ob sich bei Balzac Rechtgläubigkeit in der katholischen Lehre nachweisen lasse, »sans cependant s’interroger sur la possibilité d’une rencontre avec une œuvre d’art telle que cette rencontre puisse avoir la force d’une confrontation avec la réalité, voire avec Dieu« (84), klingt doch auch schon bei ihm die Unterscheidung einer fiktiven und reellen Welt an, die für die nachkonziliare Zeit bei Marc-Mathieu Münch noch eine wichtige Rolle spielen wird. Mit einer durchaus anderen Zielrichtung verfährt Duployé in seiner Untersuchung La religion de Péguy, der die vorkonziliare Theologie als unbefriedigend erfahren hat und in den katholischen Schriftstellern Frankreichs in jenem unvergleichlichen Aufbruch vor dem Konzil prophetische Vorboten sieht. Anders als Bertault respektiert Duployé das literarische Werk
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Péguys in seiner ästhetischen Autonomie, was der Vf. am Stellenwert des Gebets der fiktiven Figuren mit ihrer fiktiven Pfarreizugehörigkeit nachzeichnet. Aber genau hier wird die literarische Problematik im theologisch-spirituellen Kontext sichtbar: »Est-ce donc faux d’admettre que la création littéraire remplace l’expérience spirituelle en paroisse et les sacrements?« (95). Dass sich Péguy nach einer Lebenskrise schließlich bekehrt und Katholik wird und dies selbst zum literarischen Ereignis wird, da diese Konversion das Ergebnis seines Lesens darstellt, gibt der vorkonziliaren Literaturskepsis eine überraschende Wendung: »Il lit l’évangile et puise dans le texte la force dont il a besoin pour vivre, pour survivre« (96). (2) Das Zweite Vatikanische Konzil (Kap. 3): Mit dem Konzil tritt in der theologischen Beurteilung der Literatur gewissermaßen eine große Zäsur und Umorientierung ein, die der Vf. vor allem durch die beiden Konzilsdokumente Dei Verbum und Gaudium et Spes ausgelöst sieht, in denen sich eine neue Positionierung gegenüber der Welt und insbesondere der Kultur abzeichnet. Für den Vf. scheint in der Neubestimmung der Lektüre der biblischen Texte, deren literarischer Charakter nun anerkannt wird, nun auch die Möglichkeit auf, die sich nicht mehr nur auf einen einzigen Textsinn beschränkt, sondern von einer Erfahrung der Lektüre ausgeht, um eine ursprüngliche Erfahrung zu erfassen und weiterzugeben; der literaturästhetische Zugang eröffnet neue Zugänge »sans oublier que la forme et le fond renvoient l’un à l’autre. Le rapport [de la théologie] à la littérature change alors« (114). Mit dem ausschließlichen Referenzpunkt auf die vorkonziliare Theologie bleibt in dieser Studie allerdings unerwähnt, dass in der Alten Kirche, etwa schon bei Origines, solche mehrdimensionalen Rezeptionskonzepte des biblischen Textes in der Lehre vom drei- oder auch vierfachen Schriftsinn voll ausgebildet waren. Der Reduktion des biblischen Textes auf eine einzige Sinnebene, gegen die es schon vor dem Konzil im renouveau catholique eine starke Gegenströmung, allen voran mit Henri de Lubac, gab, blieb im übrigen die eindimensional auf den Literalsinn fixierte historisch-kritische-Exegese auch noch nach dem Konzil verhaftet. Für den Vf. bleibt jedenfalls festzuhalten, dass mit der anthropologischen Wende des Konzils nun jene Öffnung gegeben war, die es erlaubte, in der Literatur ein Medium zu finden, um den Menschen besser verstehen zu können: »j’aimerais dire qu’elle peut ouvrir l’esprit de celui qui cherche à s’exposer à l’effet de vie, à s’ouvrir à un autre monde et à faire une expérience virtuelle d’une complexité telle qu’aucune science ne pourrait la décrire« (157). Um nun das nähere Verhältnis von Literatur und Theologie zu bestimmen, lenkt der Vf. den Blick auf die ästhetische Theologie Balthasars (Kap. 4), der in seiner Herrlichkeit Ästhetik als Ausgangspunkt für den Glauben fasst. Nach einem Durchgang durch seine Trilogie und der Herausarbeitung verschiedener ästhetischer Kategorien wie Welt- und Gotteserfahrung, Schönheit, Herrlichkeit, Gestalt, Ausdruck, Sein, Erfahrung der Schönheit und Freiheit der Kunst bis hin zu Gottesliebe kommt der Vf. zu dem Schluss, dass bei Balthasar im Unter-
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schied zu Münch der Mensch in seinem Leben, das die Erfahrung durch die Literatur einschließt, die Tiefe des Seins, letztlich Gott, den er aus der Offenbarung bereits kennt, entdeckt, während bei Münch der Lebenseffekt, den die Lektüre eines Textes hervorruft, auf eine rein intrapsychische Wirkung aufgrund einer spezifischen materiellen Konstellation reduziert bleibt. (3) Die Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (Kap. 5) schließlich ist von theologischem Pluralismus und profaner Ästhetik bestimmt, was wiederum eine Neubestimmung des Verhältnisses von Literatur und Theologie fordert. Definitionsversuche der Literatur bleiben unbefriedigend, was der Vf. zunächst am Beispiel von Lucien Guissard nachweist, der zwar dem Phänomen »face au pluriel du beau et au singulier de l’art« (274) in der Literatur Rechnung trägt, aber seine Funktionsweise gerade in Hinblick auf den auch bei ihm zentral hervortretenden Aspekt der Theologie offen lässt. Duquoc hingegen deckt im Verhältnis von Literatur und Theologie die Schwierigkeit auf, dass der Theologe mit einer Situation konfrontiert sei, in der die subjektive Vielheit in die kirchliche Realität eintritt, oder anders gesagt, in der die Theologie die Subjektivität integriert und die Pluralität der Diskurse akzeptiert. Für den Vf. tut sich damit die Gefahr auf, dass die Bibel zu einem Situationsreservoir auf Kosten der Kraft und vor allem Freiheit des Wortes Gottes würde, das den Leser zu verwandeln vermag. Am gelungensten unter den nachkonziliaren Entwürfen erscheint daher der Ansatz von Jean-Pierre Jossua, für den der Umgang mit der Literatur Teil eines »sortir [de l’Église] pour partager sa propre foi avec les autres dans un souci d’enrichissement mutuel« (291) darstellt und darin in seiner doppelten Offenheit auf die Vielheit den erfahrungsbetonten Ansatz des Lebenseffekts eines Marc-Mathieu Münchs teilt. Diese facettenreichen interdisziplinären Studie zielt in ihrer Conclusion darauf, dass die Kunst in ihrer Wirkung etwas von dem Eindruck vermittelt, den die Wirklichkeit oder sogar Gott selbst im Künstler hinterlassen hat, und somit Kunst zur Quelle einer möglichen Gotteserfahrung werden kann. Damit wird deutlich, dass Literatur auch von den Theologen zunächst in ihrer Vieldimensionalität und dem ihr eigenen »Lebenseffekt« als Kunst erfahren werden muss. Im Licht der Auferstehung, die alles menschlich Geschaffene übertrifft, bleibt menschliche Kunst jedoch mit den Worten des Vf. sehr viel demütiger (vgl. 340): sie zielt im Erleben auf den »effet de vie« und berührt darin alle Fähigkeiten des Geistes, kann aber nicht Gott selbst ersetzen. Daher bleibt Kunsterfahrung immer nur fragmentarisch im Sinne einer Vorahnung Gottes, der selbst allen menschlich denkbaren »effet de plénitude« übersteigt. Michaela Christine Hastetter, Freiburg
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Fabrice Preyat, Le Petit Concile de Bossuet et la christianisation des mœurs et des pratiques littéraires sous Louis XIV [Ars Rhetorica 17], Berlin: LIT, 2007. 573 S. Mit dieser brillant geschriebenen und vorzüglich dokumentierten Studie leistet Fabrice Preyat einen wesentlichen Beitrag zur Analyse des literarischen, politischen und intellektuellen Feldes unter Ludwig XIV. und öffnet eine Fülle neuer Perspektiven für die zukünftige Forschung. Die Studie setzt die Reihe kritischer Analysen der politischen und kulturellen Repräsentationsstrategien des siebzehnten Jahrhunderts fort, wie sie von Jean-Marie Apostolidès, Nicole Ferrier-Caverrière, Louis Marin, Jean-Pierre Néraudau, Peter Burke, Alain Viala und anderen inauguriert wurde. Der Autor bereichert die zu Klassikern gewordenen Studien aber um eine entscheidende Dimension, indem er den religiösen Hintergrund und Kontext aufarbeitet und unter Berücksichtigung der Rolle des Religiösen ganz konkret den vielfältigen Spuren in allen Bereichen des politischen und kulturellen Lebens nachgeht, die zum Prestigeaufbau des Sonnenkönigs und zur Herausbildung einer neuen Konzeption des Schriftstellers und seiner Rolle geführt haben. Erstmals wird hier die große Bedeutung des sogenannten »Petit Concile« herausgestellt, einer nahezu im Geheimen wirkenden Organisation, die im letzten Drittel des siebzehnten Jahrhunderts unter der Initiative und Schirmherrschaft von Bossuet den Laisierungs- und Modernisierungsbestrebungen begegnete, indem sie die führenden Intellektuellen an sich zu binden verstand und wirkungsvolle Strategien entwickelte, um innerhalb der neuen Strukturen eine umfassende Christianisierung der Gesellschaft zu erreichen und innerhalb der katholischen Kirche eine Kontinuität zur christlichen Tradition zu wahren. Dass diese Kontinuität im Sinne des Gallikanismus verstanden wurde, der dabei als Sonderweg verteidigt und gleichzeitig als Mittel zur Erreichung des Ziels instrumentalisiert wurde, ist nur ein Indiz dafür, dass die Agenten der (Re-) Christianisierung bis zu einem gewissen Grad selbst zum Opfer ihres Anspruchs wurden. Ein anderes Indiz ist die Tatsache, dass sie, obwohl ihr theologisches Reflexionsniveau sehr hoch war, ihren Einflussbereich auch zum Nachteil von Individuen oder Gruppen einsetzten, die eine andere theologische oder spirituelle Richtung in Theorie und Praxis vertraten, und dass sie sich neuen Methoden und Erkenntnissen gegenüber radikal verschlossen und diese drakonisch verfolgten (z. B. Richard Simons Histoire critique du Vieux Testament). In Abgrenzung zur »Compagnie du Saint-Sacrement«, deren Methoden ja bekanntlich von Molière mit Tartuffe aufs Korn genommen wurden, und deren Auflösung nach dem Tod Anne d’Autriches (1666) eine der Entstehungsvoraussetzungen des »Petit Concile« war, strebten dessen Mitglieder zur Durchsetzung ihres Projekts nicht die Konversion einzelner Individuen an, sondern
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man setzte an den vorhandenen Strukturen an und versuchte, innerhalb dieser eine grundlegende und weitreichende Neuorientierung der gesamten höfischen Gesellschaft und ihrer Führungskräfte zu erreichen, was bis zu deren Manipulation und Beherrschung ging, wie sich dies besonders im Fall von Madame de Maintenon und Louis XIV zeigt. Eine entscheidende Bedingung für den Erfolg des Unternehmens waren die doppelten oder mehrfachen Zugehörigkeiten der Mitglieder des »Petit Concile«, die parallel auch in Organisationen wie der von Colbert ins Leben gerufenen »Petite Académie« tätig waren und ihren Wirkungskreis durch ein im Rückgriff auf die Antike reflektiertes Ethos der Diskretion und Freundschaftsbindung in viele Richtungen zu erweitern vermochten. Feldtheoretisch im Sinne Bourdieus betrachtet verbergen sich hinter den Idealen von Freundschaftskultur und Allianzen jedoch auch strategische Kämpfe um Macht und Einfluss. Die Rolle der Religion erscheint unter dieser Voraussetzung ebenso ambivalent wie das Ethos der Freundschaft und Allianzen, insofern als auf der einen Seite ein hehres Ziel konzeptualisiert und angestrebt bzw. als anstrebenswert vorgegeben wurde, auf der anderen Seite jedoch nach dem Motto, der Zweck heiligt die Mittel, eine gezielte Rekrutierungspolitik und eine strategische Verteilung von Machtpositionen, Posten und Pöstchen praktiziert wurde, die auch ihre Opfer forderte. Fabrice Preyat zeigt, wie das »Petit Concile« in weitgehender Konformität mit dem staatlichen Machtapparat und in struktureller Entsprechung und ideologischer Übereinstimmung mit diesem es verstand, entscheidenden Einfluss auf die strategische Verteilung von Schlüsselpositionen zu nehmen und dabei bildungspolitische Maßnahmen durchzusetzen, die in sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens Einzug hielten, in die Akademien, die Salons, die Literatur und Kunst. Es wird deutlich, in welchem Maße wichtige Schlüsselfiguren der literarischen Kultur wie Mademoiselle de Scudéry oder Racine vereinnahmt und dienstbar gemacht wurden, und wie sich die klerikale Infiltrierungsmethode apologetischer Ziele in den literarischen Gattungen und Texten der Zeit niederschlägt. Ein Phänomen wie Racines Wendung zum biblischen Theater erscheint fortan nicht mehr als Auswirkung einer persönlichen Bekehrung, wie dies in der traditionellen Literaturkritik gedeutet und dargestellt wurde, sondern als eine Folge der vom »Petit Concile« angestrebten umfassenden und gezielten »conversion de la littérature profane«, die bis in kleinste Details hinein nachgewiesen werden kann. So zeigt Preyat anhand von Athalie, dass sich das Stück in den durch das »Petit Concile« in die Wege geleiteten Wandel der offiziellen Repräsentation des Königs einschreibt und konform mit gallikanischem Gedankengut im Sinne Bossuets ist. Auch die Rolle anderer zentraler Schlüsselfiguren aus verschiedenen Bereichen wie etwa Colbert, Pierre-Daniel Huet, Paul Pellisson, Claude Fleury, Charles Perrault
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und Madame de Maintenon wird im Zusammenhang mit dem Wirkungskreis und den Wirkungsabsichten des »Petit Concile« herausgearbeitet. Preyats gründliche Analysen machen auf verschiedenen Ebenen deutlich, dass das vom «Petit Concile« lancierte Projekt der Konversion – auch auf der materiellen Ebene mit der caisse des conversions – zu einem fundamentalen Strukturwandel geführt hat, der sich in allen Bereichen des geistigen, sozialen und politischen Lebens niedergeschlagen hat. Auch der Rekurs auf christliche Gründungsfiguren und Identifizierungsgestalten wie Karl der Große – der im Zuge der repräsentationsstrategischen Sakralisierung von Louis XIV und im Interesse einer nationalistischen Identitätskonstruktion ebenfalls mythisch überhöht wurde – ist signifikant. Angesichts der Fülle von bisher nicht oder nur wenig beachteten Dokumenten und ihrer analytischen Neukontextualisierung und Neupräzisierung durch Fabrice Preyat eröffnen sich neue Perspektiven. So relativiert sich die von der Literaturkritik konstruierte Idee des Mäzenatentums, das sich als viel stärker als bisher angenommen durch religiös motivierte Kräfte bedingt herausstellt. Preyats Analysen veranlassen dazu, die in neueren Forschungsorientierungen oft vernachlässigten wenn nicht gar negierten Zusammenhänge und Interferenzen zwischen geistlicher und weltlicher Literatur im siebzehnten Jahrhundert auf eine neue analytische Grundlage zu stellen. Unter Berücksichtigung der gewonnenen Erkenntnisse über die mannigfaltigen Aktivitäten des »Petit Concile« erscheinen die theologischen, moralischen und literarischen Kontroversen der Zeit insgesamt in einem neuen Licht und fordern den Literaturwissenschaftler heraus, sich diesen Gebieten erneut zuzuwenden, z. B. der Ependiskussion und dem Streit um das heidnische oder christliche Wunderbare, der Quietismusdebatte und der »querelle du pur amour«, den Debatten über die Funktion des divertissement und über die Funktion der figuralen Auslegung religiöser und profaner Texte. Viele Texte aus dem letzten Drittel des siebzehnten Jahrhunderts lassen sich auf dem Hintergrund der äußerst präzisen und umsichtigen Analysen Preyats völlig neu kontextualisieren. Nicht nur die expliziten oder impliziten affirmativen, defensiven oder oppositionellen Reaktionen und Strategien von Autoren wie La Bruyère, La Rochefoucauld, Boileau, Molière oder La Fontaine im Hinblick auf die apologetische Dimension ihrer Werke können nun besser situiert und beurteilt werden, auch die Lektüre der Texte als solche verändert sich auf dieser Grundlage und stellt die Literaturkritik vor neue Aufgaben. Damit gebührt Fabrice Preyat das Verdienst nicht nur, ein weitgehend unerforschtes Gebiet erschlossen zu haben, sondern auch durch dessen Erschließung ein neues Licht auf die Kämpfe und Kontroversen im intellektuellen, politischen und literarischen Feld des siebzehnten Jahrhunderts geworfen und eine Neubestimmung des Verhältnisses von Literatur und Religion gewonnen zu haben, die
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sicherlich eine große Resonanz in der Forschungsgemeinschaft der Dixseptiémistes und darüber hinaus finden wird. Dorothea Scholl, Kiel Jean Balsamo (Hg.), Les traductions de l’italien en français au XVIe siècle [Bibliothèque des traductions de l’italien en français du XVIe au XXe siècle; 4 ; Biblioteca della ricerca. Bibliographica 2], Paris: Hermann, 2009. 478 S. Vorliegender Band bildet den vierten Band einer Reihe, von der unter der Herausgeberschaft von Giovanni Dotoli bereits drei Bände erschienen sind, die unter identischem Titel das 17. Jahrhundert (2001), das 18. Jhdt. (2003) und das 19. Jhdt. behandeln (2004). Das erfasste Gebiet betrifft Frankreich und die frankophonen Regionen. Die vorliegende Bibliographie von Balsamo über das 16. Jhdt. erfasst 1566 Übersetzungen aus dem Italienischen ins Französische, erhebt aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit (Avant-Propos, 11). Berücksichtigt wurden neben den direkten Übersetzungen auch Titel, die ausgehend von einer ursprünglich italienischen Version über eine lateinische Übersetzung gefertigt wurden, während Texte, die im Original in Latein geschrieben wurden, und direkt ins Französische übersetzt wurden, nicht berücksichtigt sind. Diese Entscheidung ist sicherlich bei Kenntnis der Vermittlungswege der frühen Literatur in volgare nötig, da z. B. bekannt ist, dass etwa die europaweite Rezeption von Boccaccios Griseldis-Novelle eben wesentlich über die Vermittlung der von Petrarca erstellten lateinischen Übersetzung erfolgte. Der Begriff Übersetzung wurde -angesichts zahlreicher belles infidèles und Texteingriffen bis hin zu Bearbeitungen- zu Recht sehr weit gefasst. Nicht erfasst wurden in Manuskriptform vorliegende Übersetzungen ins Französische, die im 16. Jhdt. eine große Verbreitung hatten. Die vertretenen Genres sind dabei zu einem Drittel Fiktion in Prosa oder Vers, der Rest verteilt sich auf Reiseliteratur oder historiographische Werke, Jesuitenbriefe (die ihrerseits bereits ins Italienische übersetzt worden waren). Brief- oder Novellensammlungen, Theaterstücke, poetische Traktate, Stadtchroniken oder kunsttheoretische Werke wurden zahlenmäßig weniger oft übersetzt. Natürlich ist hier immer auch zu berücksichtigen, dass sie im Original bei einem begrenzten Publikum in Frankreich durchaus gelesen wurden. Bei den in den Titelaufnahmen zitierten Belegexemplaren wurden zuerst die der Französischen Nationalbibliothek, dann der Bibliotheken der Pariser Region, anderer französischer Bibliotheken und des Auslands, schließlich auch rein bibliographische Nachweise ohne Belege angegeben, 137 solcher nicht auffindbarer Titel finden sich in der Bibliographie. Das konzise Vorwort führt in die Geschichte der Übersetzungen aus dem Italienischen in der Zeit gut ein. Bis zu den 1530er Jahren gab es nur sehr spora-
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disch Übersetzungen, es wurden auch kaum literarische Texte übersetzt. Erst gegen Ende der Herrschaft von François I von 1543 – 1548 wurden dagegen zahlreiche Texte übersetzt, 1537 der Cortegiano von Castiglione, der Orlando furioso auf Anregung von Ippolito d’Este 1543, der Decameron 1545, Sannazaros Arcadia 1544. Anreger ist oft der Hof selbst. Die Übersetzung des Decameron 1545 ist beispielsweise direkt von Marguerite de Navarre in Auftrag gegeben. Unter Henri III sind es vor allem Drucker, die bei den Übersetzungen eigeninitiativ werden, zu nennen sind Benoist Rigaud, Abel L’Angelier und besonders der Übersetzer Gabriel Chappuys. Dies ist zum Teil auch aus historischen Umständen erklärbar: Italienisch war Hofsprache unter François I und Henri II, während die Sprache nach der Aufgabe von politischen Ambitionen in Italien nur wenige Spezialisten unter Henri III beherrschten. Der sprachliche Einfluss des Italienischen fiel dabei nicht immer auf positive Bewertung etwa in Henri Estiennes Deux dialogues du nouveau language françois italianizé von 1578. Reeditionen von überarbeiteten Übersetzungen aus dem Italienischen belegen auch die Entwicklung des Französischen, was sich etwa daran zeigt, dass eine Übersetzung von 1540 im Jahr 1580 nicht mehr sprachlich aktuell erschien und überarbeitet werden musste. Die Einleitung bemüht sich, soweit dies belegt ist, auch um Angaben zum Leben der wichtigsten Übersetzer, anfangs Hofleute, später professionelle Übersetzer, die zumeist Auftragsübersetzungen auf Anregung der Drucker und Buchhändler erstellten. Der in Lyon niedergelassene Gabriel Chappuys übersetzte ab 1573 zum Lebensunterhalt italienische Texte, ab 1583 wirkt er in Paris, später wurde er historiographe du roi und offizieller Übersetzer für Spanisch am Hof. Die große Bedeutung von Lyon als Druckort von Übersetzungen neben Paris erklärt sich durch die große Zahl florentinischer Händler, die dort lebten und natürlich auch durch einige Buchhändler, wie den nicht selbst druckenden Guillaume Rouillé, der vor allem die Klassiker der italienischen Literatur übersetzen ließ, auch viele Texte in Italienisch selbst verkaufte. Unter Henri III verlagerten sich zahlenmäßig die Übersetzungen nach Paris, was weniger am italienfreundlichen Hof lag, sondern auch das gewachsene Publikum unter Juristen und Bürgerlichen bediente. Zu nennen ist hier besonders L’Angelier, Drucker von Montaigne und den Hoflyrikern um Henri III. Die Einleitung vermag es, in der gegebenen Kürze auch exemplarisch die Bedeutung der Übersetzungen aufzuzeigen. Großen Einfluss hatte etwa Marots Teilübersetzung von Petrarcas Rime circa 1539, sie setzte das Sonett in Frankreich durch. Der zuerst in Lyon auf Französisch erschienene Orlando furioso wird bald von Pariser Druckern übernommen und bearbeitet, die Prosaübersetzung beeinflusst besonders den heroisch-galanten Roman in Frankreich. Tasso
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wurde zeitnah rezipiert, Montaigne zitiert schon 1582 aus dem Original der Gerusalemme liberata und regt wohl direkt die Übersetzung von Werken Tassos bei Freunden aus Bordeaux an, die Tassos Aminta an Pierre de Brach gaben, der sie 1584 in einer freien Bearbeitung auf Französisch publizierte. Machiavelli wird schon gegen Ende der Herrschaft von François I rezipiert, die Discorsi 1544 übersetzt, 1553 erschienen gleich zwei Übersetzungen des Principe, nachdem zuvor schon Manuskriptübersetzungen zirkulierten. Nach 1585 ebbte die Welle der Übersetzungen etwas ab. Dantes Comedia wird erst 1596 – 1597 vorliegen. Die Bibliographie selbst ist alphabetisch nach Autoren der übersetzten Werke, bzw. bei Anonyma nach den Titeln, bei einigen Textgruppen wurde auch eine sicher gerechtfertigte thematische Zuordnung gewählt (etwa Jésuites für die Jesuitenbriefe oder Turcica für die einschlägigen Texte). Im Anhang der Ausgabe finden sich nach der Bibliographie ein Index der Übersetzer, der Drucker, Verleger bzw. Buchhändlerorte und ein Gesamtindex, der Autoren, Titel und Anonyma sowie zitierte Namen enthält. Einige Titelblätter wichtiger Werke in Übersetzung schließen den Band ab. Die sorgsam erstellte Bibliographie wird sicher ein wichtiges Hilfsmittel für die weitere Forschung zu dem wichtigen Thema des Kulturkontakts durch Übersetzungen werden. Leider wurde nicht angegeben, wie die ausländischen Belegexemplare ermittelt wurden, es ist anzunehmen, dass hier vor allem Bibliotheksportale wie der Karlsruher Virtuelle Katalog verwendet wurden. Hier hätte eine Angabe der Suchstrategien in welchen Portalen und auch des Zeitpunkts der Suche eine Hilfestellung geleistet, da auch durch weitere Projekte durchaus noch Belege für die Titel dazu kommen könnten, sicher in geringerer Menge. Die Titelmenge ist zwar überschaubar, aber eine kleine sachliche Erschließung der Sachliteratur durch erweiterte Genrebegriffe hätte Nutzen gebracht (z. B. Beschreibungen von Entrées, Kochbücher, Erziehungsliteratur für Frauen, religiöse Texte). Ob Möglichkeiten der Suche in Onlinekatalogen genutzt wurden, wird nicht extra angegeben. Wünschenswert wäre es, dass nach dem Ende des Projekts in Buchform die Bände auch in digitaler Form publiziert werden, was nicht nur eine leichtere Durchsuchbarkeit ermöglichen könnte, sondern eventuell auch mittelfristig die Publikation eines Online-Supplements nach sich ziehen könnte. Franz Obermeier, Kiel
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Daniel Casper von Lohenstein, Sämtliche Werke. Abteilung II, Dramen. Band 2: Agrippina. Epicharis. Unter Verwendung von Vorarbeiten Gerhard Spellerbergs y herausgegeben von Lothar Mundt (Daniel Casper von Lohenstein: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Herausgegeben von Lothar Mundt, Wolfgang Neuber und Thomas Rahn). Walter de Gruyter, Berlin, New York 2005. XVI, 612 S.: Ill. Die von Lothar Mundt besorgte Edition von Lohensteins Agrippina und Epicharis bildet den ersten veröffentlichten Band eines größeren Unternehmens, nämlich einer historisch-kritischen Ausgabe sämtlicher Werke des schlesischen Dichters. Es handelt sich um die Wiederaufnahme und Erweiterung der von Gerhard Spellerberg geplanten, schon weit vorangeschrittenen Studienausgabe Lohensteins. Dieses Projekt resultierte aus den Kritiken, die Spellerberg in zwei Aufsätzen 1989 und 1992 an die von Klaus Günther Just in der Bibliothek des Literarischen Vereins realisierte Ausgabe von Lohensteins Dramen gerichtet hatte. Im Vergleich mit Justs Ausgabe weist die neue, mit großer Akribie durchgeführte Edition ein paar Vorteile auf, die dem heutigen Leser den Zugang zu diesen Werken erleichtern wird, vor allem durch die Gestaltung der Dialoge, in welchen die Sprechernamen stillschweigend ausgeschrieben und in einer eigenen Zeile gesetzt wurden, sowie durch die Übersetzung der in der Originalsprache in Lohensteins »Anmerckungen« angeführten Zitate. Dazu bietet die Ausgabe noch die Kupferstiche, die die ersten Ausgaben von Agrippina und Epicharis verzierten, sowie die Szenare ihrer jeweiligen Erstaufführung. Darüber hinaus soll ein umfangreicher Kommentar das Verständnis der Werke erleichtern. Was die Textgestaltung betrifft, rühmt sich der Herausgeber, den Vorsatz von Just (»die Erstdrucke zugrunde zu legen und damit die Trauerspiele in ihrer ursprünglichen äußeren Gestalt zu bringen«) getreuer als Just selbst befolgt zu haben, indem er sich lediglich nach den Drucken von 1665 und 1685 gerichtet habe, die allerdings fälschlicherweise als »einzige zu Lebzeiten des Autors erschienen« bezeichnet werden (1, 590), da Lohenstein 1685 bereits seit zwei Jahren tot war (Mundt macht sich Justs Vermutung zu eigen, die »wenige[n] geringfügige[n] Varianten sowie einige minimale Ergänzungen der »Anmerckungen« [der Ausgabe von 1685 gegenüber der von 1665] [ . . . ] gehen wahrscheinlich auf handschriftliche Notizen Lohensteins zurück« [K. G. Just, in: Lohenstein, Römische Trauerspiele (Stuttgart 1955)]. Was bei der Textgestaltung schwer nachvollziehbar ist, sind die Eingriffe bzw. Nichteingriffe in die überlieferten Texte. Um den Rahmen einer Rezension nicht zu sprengen, werden wir uns auf die Interpunktion beschränken. In den »Grundsätzen der Textredaktion« wird erklärt (1, 592 – 93): »Stillschwei-
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gend wurden fehlende Punkte hinter abgekürzten Elementen oder Ordnungszahlen bibliographischer Angabe im Anmerkungstitel ergänzt. In den seltenen Fällen, in denen der Setzer dort nach Abkürzungen statt eines Punktes versehentlich ein Komma oder einen Doppelpunkt gesetzt hatte, wurde ebenfalls stillschweigend korrigiert.« Diese Maßnahmen werden von der Logik und dem gesunden Menschenverstand verlangt. Umso erstaunlicher ist, dass sie nicht in der Gestaltung der Dramentexte durchgeführt wurden. Hier seien drei Beispiele aus Epicharis angeführt, die andere Zeichen als Punkte bzw. gar kein Zeichen am Ende eines Satzes setzen: II, V. 414 ± 15: Wer auf der Unschuld Graus Sein Wachsthum anckern will / der wird auf Trçbsand bauen / [sic] II, V. 427 ± 31: [ . . . ] wo der gleich recht geseûen Dem Bluttdurst Rach' und Mord doch stets das Hertze freûen Der wider Unschuld eh als Boûheit Urthel fållt Ja Schatten des Verdacht's fçr groûe Riesen hålt Die sich sein Hauû und Reich verschworen zu bestçrmen; [sic] III, V. 42: Volusius hat sie in dieses Garn gefçhr't [sic]
Am Ende dieser drei Sätze gehört jeweils eindeutig ein Punkt, den Just in seiner Ausgabe jedes Mal gesetzt hatte. Man braucht nur einen Blick in die erhaltenen Manuskripte von Lohenstein zu werfen [deren Faksimiledruck von uns 1988 veröffentlicht wurde (Silesia Tragica, I, 412 ff.], um sofort zur Überzeugung zu gelangen, dass Lohenstein die Interpunktionsregeln genau kannte und befolgte und darüber hinaus die an den Drucker bestimmte Handschrift besonders pflegte; dass es sich hier also um eindeutige Satzfehler handelt (ein Schluss, zu dem Lothar Mundt bei seinen stillschweigenden Korrekturen der »Anmerckungen«, die auch von Lohensteins Hand waren, gekommen ist). Warum wurden im Dramentext und im Text der Anmerkungen zwei verschiedene Grundsätze in der Textredaktion befolgt? Eins kann mit absoluter Sicherheit behauptet werden: Der vorliegende Text ist nicht der von Lohenstein verfasste Text. Es ist der vom Setzer entstellte Text. Wenn unter den Typen ein Punkt nicht zur Hand war, wurde dieser durch ein beliebiges Zeichen ersetzt, wie etwa eine Virgel oder ein Semikolon, oder noch, am Ende des Satzes, durch gar nichts. Wenn man weiß, welche Sorglosigkeit im Satz solcher Texte herrschte, deren Ausgaben als Produkte zweiten Rangs betrachtet wurden, die möglichst schnell hergestellt werden sollten (manchmal wurde sogar, um die Anfertigung noch zu beschleunigen, der Text von einem Gehilfen nur vorgelesen, während der Setzer ihn setzte), wundert man sich nicht über solche Unachtsamkeiten; auch in den Dramentexten sollten sie be-
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richtigt werden, in der fundierten Überzeugung, dass sie dem Setzer, keineswegs dem Autor zuzuschreiben sind. Unter dem Deckmantel einer wissenschaftlichen Genauigkeit solche Fehler andächtig beizubehalten, bringt nichts als Verwirrung. In dieser Hinsicht bedeutet die vorliegende Ausgabe gegenüber der von Just keinen Fortschritt, sondern einen Rückschritt. Dieselbe Leichtfertigkeit in der Interpunktion bei den Druckern des 17. Jahrhunderts herrschte leider nicht nur am Ende der Sätze, sondern durchgehend im Satz der Texte. Hier sei ein anderes Beispiel aus derselben Textstelle (Epicharis, II, V. 421 – 427) angeführt: Wird kçnfftig uns die Welt wol Glauben meûen bey? Daû sie Epicharis [recte: / Epicharis / ] ein Weib gewesen sey; [recte: / ] Die klüger als ein Mann / behertzter ist als Helden! Rom und die Nachwelt wird / Epicharis / dich melden; [recte: :] Daß deiner Tugend Muth der Blutt-Tyrannen Macht / Daß deine Klugheit hat Verläumbder außgelacht [recte: / ] Verräther überstimm’t / . . .
Die Beibehaltung solcher Interpunktionsfehler dient nur zur Entstellung des Textes, keineswegs zur Wiedergabe seiner ursprünglichen Gestalt. Freilich gibt es Zweifelsfälle, über die man bei fehlender Handschrift nicht entscheiden kann; sie sollten in den Fußnoten vermerkt werden. Dies soll keineswegs in den bei weitem überwiegenden eindeutigen Fällen ein Hindernis zur Berichtigung sein. Sonst entsteht zwar eine historische Ausgabe (in historischer Treue zu den Druckfehlern), keineswegs aber eine kritische, die sich bemühen soll, möglichst nah an den echten, vom Verfasser konzipierten Originaltext heranzukommen. Was den kritischen Apparat dieser Ausgabe betrifft, kann sich der Leser einer gewissen Perplexität nicht erwehren. Eingeleitet wird er durch eine kleine dreizehnseitige Studie »Zur Nero-Dramatik in der Frühen Neuzeit«. Sie besteht in der Inhaltsangabe verschiedener Nero-Stücke. Die Frage der Relevanz einer solchen Studie läßt sich nicht vermeiden, da Lohenstein des Englischen nicht mächtig war und deshalb zwei erwähnte englische Stücke (619 – 623) nicht kennen konnte. Dass die zwei angeführten französischen Tragödien, La mort de Sénèque des Tristan l’Hermite und Arie et Pétus, ou les amours de Néron von Gabriel Gilbert, Lohenstein bekannt waren und ihn beeinflusst haben, ist seit der Studie von Bernhard Asmuth Lohenstein und Tacitus. Eine quellenkritische Interpretation der Nero-Tragödien und des »Arminius«-Romans (1971) belegt und erwiesen. Obwohl diese Studie Anspruch auf Vollständigkeit hegt, lässt sie das gesungene Drama aus unerklärlichen Gründen außer acht, vor allem die damals äußerst berühmte, von Monteverdi vertonte Incoronazione di Poppea des Busenello (1643); eine Gattung, die in Schlesien in
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hohem Ansehen stand: Opitz und Gryphius hatten Texte für Singspiele verfasst. Dass Lohenstein Italienisch konnte, steht außer Zweifel: Er hatte sogar Auszüge aus Il Pastor Fido des Guarini übersetzt. Abgesehen davon stellt sich die Frage des Zweckes einer solchen vorangehenden Studie. Wenn es um die Erhellung von Lohensteins Nero-Dramen geht, sollte die Studie der wirklichen Tradition gelten, in die sich die römischen Trauerspiele Lohensteins einbetteten. Es sollte zunächst betont werden, dass es sich um für die Breslauer Schulbühne konzipierte Dramen handelt, und dass Tacitus und Seneca die zwei Hauptautoren des dortigen humanistischen Studiums waren; also dass es primär darum ging, zwei dem Tacitus entlehnte Stoffe auf die Bühne zu bringen und dabei auch Seneca selbst erscheinen zu lassen. Was die Gestaltung dieser Dramen betrifft, reichen die spärlichen Angaben des Herausgebers (633 und 706) nicht, der nicht zu wissen scheint, dass seit Asmuth die Forschung weitere Quellen eruiert hat. Es sollten für Agrippina die zahlreichen Reminiszenzen an Gryphius’ Leo Armenius und vielleicht auch an Hoffmannswaldau erwähnt werden, und darüber hinaus auch diejenigen an den Sapor Admonitus von Louis Cellot sowie den Theodosius Avancinis, und vielleicht auch an den Geeraerdt van Velsen von Hooft. Epicharis steht ihrerseits eindeutig in der Tradition von Opitz’ Judith und Gryphius’ Catharina von Georgien, abgesehen von den zahlreichen ausländischen Quellen, von denen La Mort de Sénèque von Tristan l’Hermite nur die berühmteste ist. Dabei würde diese Einbettung von Lohensteins Werken in ihre echte Tradition die Gründe noch lange nicht erklären, weshalb der junge Dramatiker gerade diese Nero-Stoffe wählte. Es sollte, wenn auch nur kurz, daran erinnert werden, daß diese Trauerspiele eine politische Symbolik besaßen und den jungen Autor zu einer politischen Karriere im damaligen Schlesien verhelfen sollten. Nero war der Inbegriff der willkürlichen kaiserlichen Macht, und die Habsburger, die sich als römische Kaiser als seine Nachfolger behaupteten, versuchten mit allen Mitteln, die protestantischen Kräfte in Schlesien ihrer altverbrieften Rechte zu berauben und eine Zwangsrekatholisierung der Provinz durchzuführen: Dagegen hatten Dramen von Opitz und Gryphius bereits protestiert. Es ist hier nicht der Ort, die Details dieser Symbolik zu erwähnen, die seit mehr als zwei Jahrzehnten bekannt sind. In einer Einführung in Lohensteins Nero-Tragödien wäre ein Hinweis darauf unerlässlich; sonst bleibt der Grund zur Wahl der Thematik unverständlich. Allerdings nicht nur die Wahl der Thematik, sondern auch die der Adressaten der Trauerspiele. Es handelt sich um hochpolitische Gesten. Agrippina wird der Herzogin Louise, der Gemahlin des Herzogs Christian von Liegnitz, Brieg und Wohlau gewidmet. Dieser war der letzte Vertreter der Dynastie der Piastenherzöge, also des ältesten und ehrwürdigsten, darüber hinaus protes-
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tantischen Geschlechts Schlesiens, die in aller Augen die wahre Tradition der Unabhängigkeit der Provinz verkörperte und ihre Unabhängigkeit gegen alle Eindringlinge – vor allem gegen die verhassten katholischen Habsburger – verteidigte. Dem Herzog hatte der Dichter bereits seinen Ibrahim (Bassa) gewidmet. Diesmal dediziert er Agrippina der Herzogin, die als Kunstmäzenin und eigentliche führende politische Kraft des Herzogtums galt, seitdem ihr der Melancholie immer mehr anheim fallender Gatte sich von den Geschäften zurückzog. Nicht von ungefähr nennt Lohenstein die Herzogin Louise »Mutter des Landes«. Dabei folgte er übrigens dem Beispiel Gryphius’, der derselben Persönlichkeit bereits die Edition seiner Trauerspiele gewidmet hatte. Dieser Sachverhalt wird in der vom Herausgeber der Herzogin Louise gewidmeten Notiz (633) überhaupt nicht erklärt; ihr Text erwähnt ausschließlich die Ereignisse, die im Leben der Herzogin auf den Tod ihres Gemahls (1672) folgten, also lange nach der Veröffentlichung der Agrippina. Epicharis wird Otto von Nostitz gewidmet. Vom Herausgeber wird gesagt, dass Lohenstein diese Persönlichkeit »verehrte« (707). Diese Aussage beruht auf einer falschen Einschätzung der Bedeutung der Widmungsschrift. Diese Widmung ist eigentlich eine Warnung an Kaiser Leopold, die ihm über einen seiner Vertreter in Schlesien übermittelt werden sollte. Otto von Nostitz war nämlich damals der Landeshauptmann der Herzogtümer Schweidnitz und Jauer, d. h. er regierte sie im Namen des Kaisers. Diese Besitztümer grenzten eben an das Herzogtum Brieg, das sich noch im Besitz des Piastenherzogs befand. Im Gegensatz zu der sonst in Schlesien – vor allem in Breslau – von den Habsburgern eifrig betriebenen Rekatholisierungspolitik bemühte sich Nostitz, diese Herzogtümer möglichst irenisch zu verwalten, indem er die im Westfälischen Frieden den Protestanten zuerkannten Rechte respektierte. Diese von der Forschung seit zwei Jahrzehnten eruierten Angaben bleiben in vorliegender Edition dem Leser vorenthalten. Nur sie aber erklären, warum der Dichter gerade Otto von Nostitz das Trauerspiel Epicharis widmet, das eigentlich eine Verherrlichung des Tyrannenmords ist – vermeintlich verstanden als eine Warnung vor dem Tyrannenmord. Diese Warnung richtet sich aber mehr an die Herrscher, die sich nicht tyrannisch benehmen sollen, als an die Untertanen, die bisher sich mehr als geduldig gezeigt haben. Man braucht nur die ersten Sätze der Widmung zu lesen [in der Übersetzung des Herausgebers]: »Ein großes Glück bedeutet es, unter einer milden Herrschaft zu leben. Größer noch ist das unsere, weil wir den sehr gütigen Fürsten Österreichs zugefallen sind.« Die Ironie dieser ersten Sätze erscheint in dem darauffolgenden Satz: »Dies aber ist ein hervorstechendes Merkmal deutscher Treue: dass bis heute so viele Myriaden von Untertanen keinen Clément [den Mörder Heinrichs III. von Frankreich] oder Ravaillac [den Mörder Heinrichs IV.] hervorgebracht haben.« Also: nur wegen ihrer angeborenen Treue haben die Untertanen die Habsbur-
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ger nicht zu ermorden versucht, nicht deshalb, weil sie keinen Grund dazu hätten. »Indessen«, fügt Lohenstein hinzu, »schwelgt kein Zeitalter in so großem Glück, daß es nicht ersprießlich wäre, den Geist durch Beispiele von Beständigkeit zu stählern«: also habe er Epicharis angeblich nur dazu geschrieben, um die schlesischen Untertanen von einer eigentlich berechtigten Rebellion abzuhalten. Und dann kommt der Kernsatz der Widmung, eine Anspielung auf eine berühmte Aussage des Horaz – und auch, was dem Herausgeber entging, des Lukrez (De rerum natura, I, 1 – 13): »Und als Untertanen einer sanften Herrschaft nehmen wir mit umso größerem Behagen wahr, wie sich im Ausland Tyrannei ausbreitet«: »Et sub molli Imperio dulcius cernimus peregrinam gliscere Tyrannidem«. Ein Satz, der auch dank der möglichen Mehrdeutigkeit der lateinischen Sprache eine ganz andere Bedeutung haben könnte, nämlich: »Selbst unter dem Deckmantel einer sanften Herrschaft sehen wir, wie sich eine fremde Tyrannei einschleicht.« Eine Doppeldeutung, auf die wir bereits 1988 aufmerksam machten (s. Silesia Tragica, I, 60), und die dem Herausgeber der vorliegenden Ausgabe völlig entgangen ist. Lohenstein schätzte von Nostitz als milden Vertreter eines harten Herrschers; von »Verehrung« kann unmöglich die Rede sein: Man vergleiche die Schlussformel, »Vale, illustrissime Domine, & me meaque protegere dignare« mit derjenigen der Widmung der Agrippina an die Herzogin Louise, als deren »unterthänig gehorsame[r] Knecht« sich der Dichter bezeichnet. Dies sind die mindesten Erklärungen, die eine historisch-kritische Ausgabe dem Leser vermitteln sollte, damit diesem der Sinn der publizierten Werke einigermaßen klar wird. Pflicht einer solchen Ausgabe ist es außerdem, Auskünfte über die Entstehungsgeschichte der Dramen zu erteilen. Der Leser sollte erfahren, dass Agrippina und Epicharis aller Wahrscheinlichkeit nach während des Interregnums vom 1. April 1657 bis zum 31. Juli 1658 verfasst wurden, d. h. zu einer Zeit, da den Habsburgern ihre Ansprüche auf die Reichskrone streitig gemacht wurden, so dass ganz Schlesien von einer grossen Hoffnung auf die Befreiung von der habsburgischen Herrschaft ergriffen wurde. Der Leser sollte außerdem erfahren, daß die Wahl und die Krönung Leopolds I. die Veröffentlichung dieser rebellischen Stücke unmöglich machte, und dass der Breslauer Senat ein Huldigungsstück an die Habsburger verlangte, worauf Lohenstein in aller Eile (wie er es selber sagte) Cleopatra schreiben musste; endlich dass erst die dramatischen Ereignisse, die auf den Tod Georgs III. von Brieg 1664 folgten, nämlich die Ernennung von Sebastian Rostock, Breslaus katholischem Bischof, durch Leopold I. als Oberlandeshauptmann von Schlesien, die Spannung zwischen dem evangelischen Senat von Breslau und dem habsburgischen Herrscher dermaßen wieder erweckte, dass der Senat Lohenstein dazu veranlasste, seine zwei antihabsburgischen Nero-Stücke zu veröffentlichen, allerdings mit Änderungen, die sich die Lohenstein-Forschung zu identifizieren
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bemüht hat (s. Silesia Tragica, I, S. 41 – 46, 52 – 60). Diese Ergebnisse der Forschung, die die Wahl der Themen, die Daten zur Veröffentlichung und die Gestalt der Trauerspiele erklären, dürfen kritisiert bzw. bestritten, keinesfalls aber verschwiegen werden, vor allem in einer wissenschaftlichen Edition. Dabei weist die Edition einen ansehnlichen Kommentarband von etwa 260 Seiten auf. Der Herausgeber, der einerseits dem Leser so viele Grundkenntnisse und -erkenntnisse über die beiden Trauerspiele schuldig bleibt, bietet ihm andererseits eine überwältigende Fülle an Anmerkungen. Ob diese angebracht sind, bleibe dahingestellt. Zwar ist bekannt, dass die klassischen Studien in den letzten Zeiten stark nachgelassen haben; ist es aber nötig, Wörter wie »Furien« oder »Harpyen« (643) zu erklären? Man darf annehmen, dass ein Leser, der die Lektüre Lohensteins unternimmt, bereits über ein Mindestmaß an Kenntnissen verfügt. Solche Angaben würden sich vielleicht in einer an die Anfänger unter den Studenten gerichteten Studienausgabe rechtfertigen, was die vorliegende Edition, nach ihrem Preis zu beurteilen, nicht gerade zu sein scheint. Diese Kommentare können sich dermaßen ausdehnen, dass sie irrelevant bzw. irreführend werden. So z. B. die Notiz über die Person der Agrippina, die sich über drei ganze Seiten erstreckt (635 – 637), und damit, eine echte kleine Abhandlung, die Ausmaße selbst eines stattlichen Lexikonartikels weit übersteigt. Diese Notiz enthält alle Erkenntnisse über Agrippina, die der Herausgeber sammeln konnte, auch die letzten Ergebnisse der heutigen Forschung, die bestimmte Aussagen des Tacitus in Frage stellen. Dieser polyhistorische Eifer ist eigentlich hier fehl am Platz, da es sich doch darum handelt zu bestimmen, was Lohenstein zu seiner Zeit über Agrippina wissen konnte. Ein ähnlicher Anachronismus bezeichnet die Liste der von Lohenstein zitierten Autoren und Werke (809 – 870), bei denen die bibliographischen Angaben systematisch den modernen Editionen dieser Autoren und Werke entnommen sind, statt die Ausgaben zu verzeichnen, die Lohenstein kennen bzw. benutzen konnte. Damit wird der Forschung kein Dienst erwiesen. Derselbe Anachronismus findet sich in den Betrachtungen des Herausgebers über die verschiedenen Lesarten der alten Autoren zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert (599 – 601): zwar mögen sich die Lesarten im Wandel der Zeiten geändert haben; dabei ist Lohenstein den damals üblichen Lesarten gefolgt (was von uns überprüft wurde), und solche Betrachtungen über den philologischen Fortschritt in der Entzifferung alter Texte sind zum Verständnis Lohensteins absolut überflüssig. Dafür aber vermisst der Leser beim Kommentar von Lohensteins »Anmerckungen« die einzige wirklich notwendige Information: dass es sich dabei um gelehrte Betrachtungen handelt, die sich keineswegs zum Ziel setzen, die Quellen des Dichters zu enthüllen (die wirklichen Quellen bleiben meistens verborgen), sondern ein enzyklopädisches Wissen zu vermitteln (daher die zahlreichen Zitate zweiter Hand), das primär an die Schüler von Bres-
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laus Gymnasien gerichtet ist, so dass die Trauerspiele als volle pädagogische Mittel in dem cursus studiorum fungieren und als solche vom oft vor solchen Aufführungen zurückhaltenden Breslauer Senat anerkannt werden. Nur diese Angaben erklären dem sonst verwunderten heutigen Leser den Sinn solcher »Anmerckungen«. Wie alle Produktionen des Walter de Gruyter Verlag ist die Anfertigung der beiden Teilbände, sei es im Leineneinband, sei es im Papier der gehefteten Bögen, von hervorragender Qualität, die sich allerdings zu sehr bezahlen lässt. Bei einem solchen Aufwand ist es umso bedauerlicher, dass die Gelegenheit, eine vollständige, dem heutigen Stand der Forschung angemessene Ausgabe Lohensteins zu besorgen, nicht wahrgenommen wurde. Pierre Béhar, Saarbrücken Rita Unfer Lukoschik (Hg.), Italienerinnen und Italiener am Hofe Friedrich II. (1740 – 1786). Berlin: Duncker & Humblot 2008, 397 S. mit zahlreichen Abb. Nach einer beachtenswerten quellengeschichtlichen Studie über Friedrich Schiller in Italien (1785 – 1861), die 2004 beim selben Verlag erschien, schärft Rita Unfer Lukoschik mit der Herausgabe dieses Bandes, der auf die gleichnamige Ausstellung im Berliner Kulturinstitut (2005) zurückgeht, ihr Profil als Forscherin mit germanistischen und italianistischen Kompetenzen, welche sie auf dem Gebiet der Rezeptionsgeschichte und Komparatistik fruchtbar anwendet. Der Band besteht aus 4 Teilen: Der erste umfasst die Einleitung der Herausgeberin, die Geleitworte zur Ausstellung (9 – 38) und die Ausführungen von Jürgen Kloosterhuis über Adolph Menzels Bild König Friedrich II. in Sanssouci (»Die revidierte Tafelrunde«). Der zweite Teil bringt die Tagungsbeiträge von Volker Kapp (»Preußen und Italien im europäischen Kontext des 18. Jahrhunderts«, 41 – 65); von Klaus Heitmann (»Ein Bewunderer und ein Hasser Friedrichs des Großen: Francesco Algarotti und Vittorio Alfieri«, 67 – 78); und von Laurenz Lütteken (»Italien in Frankreich. Die friderizianische Hofkapelle im Spannungsfeld der Kulturen«, 79 – 98). Der dritte Teil wird von Rita Unfer Lukoschik allein bestritten. Er ist der Dokumentation gewidmet und behandelt in 13 Sektionen Themen und Gestalten italienischer Provenienz am friderizianischen Hof (101 – 347). Der letzte Teil listet die Italienerinnen und Italiener auf, die zwischen 1740 und 1786 in Berlin und Potsdam lebten; eine Bibliographie und ein Personenverzeichnis schließen sich an (349 – 397). Der BildApparat ist reichhaltig und begleitet den Diskurs in Farben oder Schwarzweiß punktuell. Resümees in italienischer Sprache werden den Band über die Grenzen des deutschen Sprachraums bekannt machen.
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Zum Verdienst der Herausgeberin und Autorin gehört die Kompetenz, mit welcher der Band (und wohl auch die Ausstellung, woraus dieser entsprang) gestaltet sind, was sich in der methodisch originellen Erweiterung des Horizonts manifestiert. Hier wird weder okkasionell argumentiert noch aus mehr oder minder zufällig gesuchten Beispielen verallgemeinert, indem man sich auf einzelne italienische Gestalten in Berlin konzentriert, sondern der systematische Versuch unternommen, ein italienisches Kollektiv, ja eine Kolonie von Italienern weiblichen und männlichen Geschlechts in Berlin auf Grund von Archivfunden möglich exakt zu erfassen. Es zeigt sich, dass die bekannten einflussreichen Größen italienischer Herkunft im damaligen Berlin (etwa Algarotti, Lucchesini, Denina u. d. m.) keineswegs eine Ausnahme darstellen, sondern die Spitze einer zahlreichen Gruppe von Landsleuten bilden, mit denen sie im Einklang leben, welche sie in jeder Form fördern und durch die Suche nach künstlerischen sowie handwerklichen Talenten ständig erweitern. Zugleich dokumentiert das Anwachsen der italienischen Gruppe in Berlin unter Friedrich II. die Anziehungskraft, die das aufsteigende Königreich Preußen auf die Italiener ausübte, obwohl Preußen nicht katholisch und auf der südlichen Halbinsel dessen Kultur und Sprache kaum bekannt war. Dennoch konnten sich an jenem Hof, an dem der König mit Vorliebe Französisch sprach, mehrere Italiener behaupteten, weil sie jenseits der direkten – italienisch / deutschen – Sprachbarriere über das Französische kommunizierten. Diese dritte – fremde – Dimension wirkte in besonderem Maße fördernd, indem sie zum kritischen Nachdenken über die eigene Identität zwang, also die italienische, die sich, abgesehen von der Oper, so schwer in Europa behaupten konnte. Untersucht werden von Frau Unfer Lukoschik Friedrichs Vorstellung von Italiens Kunst und Lebensart, dessen Vorliebe für seine Architektur (vor allem Andrea Palladio), die Rolle von Francesco Algarotti als Berater des Königs in Berlin, diejenige von Girolamo Lucchesini, dann das Verhältnis der Italiener zu der Berliner Akademie der Wissenschaften. Berücksichtigt wird ebenfalls die Rolle, welche italienische Handwerker, Kaufleute, Gelehrte und Reisende spielten, welche Funktionen sie im Militär innehatten sowie ihre Bedeutung für das Königliche Opernhaus. Nicht nur Sänger und Sängerinnen, sondern auch Bühnendekorateure, Maschinisten und Pyrotechniker werden erfasst. Behandelt wird außerdem die Oper Sylla von Friedrich II. sowie die so genannte Affäre Barbarina, welche die damals sehr berühmte Tänzerin Barbara Campanini, genannt Barbarina betraf. Diese hatte schon als junge Dame in Berlin Erfolg, sie genoss die Gunst des Königs, empfing in ihrem Haus bei italienischen Speisen erlesene Gäste und den König selbst. Als sie jedoch den Sohn des Justizministers Samuel von Cocceji heiratete, wurde sie vom König nach Glogau verbannt. Mit einer opportunen Auswahl von archivalischen Belegen zeichnet die Autorin sachlich präzis nach, wie breit und differenziert die Präsenz und die
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Wirkung der Italiener in Preußen waren. Die besondere Rolle, welche Friedrich II. dabei spielte, wird evident. Dieser zögerte nicht, italienische Fachleute nach Berlin zu holen, wenn sie Kompetenzen besaßen, die dem Aufbau und der Qualifizierung des Landes förderlich waren. So erklärt sich die Präsenz von Handwerkern und Ingenieuren einerseits die von Architekten, Künstlern und Musikern andererseits. Friedrich II. schätzte darüber hinaus die italienische Kochkunst und die Patisserie. Seine Vorliebe für italienisches Obst, für verschiedene Nudelsorten, z. B. für »Raffioli« also Ravioli und Lasagne, sowie für Parmesan und Polenta wird archivarisch belegt. Deren besondere Zubereitung mit einer Unmenge Knoblauch, welche auf S. 107 wiedergegeben wird, erklärt allerdings auch, warum der König »sich öfters Koliken- und Indigestionen« zuzog. Dieser faszinierende Rekonstruktion einer auserlesenen italienischen Kolonie im Berlin von Friedrich II., die sich entsprechend den Interessen des preußischen Königs gebildet hatte, offenbart deren kompakte und homogene Geschichte, ihre bewusste kulturelle Identität trotz der politischen Zersplitterung des Heimatlandes, trotz des evidenten ökonomischen Verfalls Italiens, weil das dort im Laufe von Jahrhunderten angesammelte Wissen und die sich herausgebildeten Kompetenzen nicht verloren gegangen waren. Dies bestens selektiert und dokumentiert zu haben, ist ein indubitabler Verdienst der Autorin und Herausgeberin. Es muss jedoch auch auf die wichtigen Beiträge im zweiten Teil des Bandes hier hingewiesen werden, weil sie den Wert der Dokumentationsteil untermauern. Ich werde mich auf den Beitrag von Volker Kapp beschränken, weil er methodisch besonders relevant ist. Kapp argumentiert jenseits der gewöhnlichen binaren Forschungsperspektiven, die in diesem Fall italienisch-deutsch wäre, indem er verstärkt die französische Dimension heranzieht, welche sowohl für die Deutschen als auch für die Italiener um die Mitte des 18. Jahrhunderts nicht nur die Hegemonialkultur in Europa ist, sondern auch die Sprache der Gelehrtenkommunikation liefert, wie die Korrespondenz von Algarotti mit Friedrich II. eingehend belegt. Kapp kann aufzeigen, dass sich die Gelehrten beider Nationen durchaus bewusst sind, dass sie die Vorherrschaft der französischen Kultur de facto verstärken, wenn sie deren Sprache als Medium unter sich benutzen. Aus diesem Widerspruch, sich von Frankreich emanzipieren zu wollen, ohne die französische Aufklärung und deren Sprache abzulehnen, entsteht auf beiden Seiten der Versuch, einen anderen Bezugspunkt neben dem französischen zu etablieren, den Italienischen für den Hof Friedrichs II. (sowie für den Hof Dresden, könnte man hinzufügen) und den Preußischen für diejenigen Italiener, die keine Haltung pro Maria-Theresia, weil katholisch, und eine Haltung gegen Friedrich II., weil kriegsfreudig und protestantisch, einnehmen wollen. Kapp relativiert in dieser Hinsicht sowohl die reichhaltige Panegyrik der Italiener pro Friedrich II. als auch die entsprechend gegensätzlich konnotierte
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Schmähliteratur, weil beide rhetorischen, d. h. politischen Charakter aufweisen. Kapp erweitert seinen kompakten Diskurs auf die Mehrsprachlichkeit (Französisch, Deutsch, Italienisch), um mit komparatistischen Feingefühl über den europäischen Diskurs des 18. Jahrhunderts ertragreich zu reflektieren und der Forschung neue Wege zu zeigen. Ein durchaus aktuelles Unterfangen, nicht nur weil es in der heutigen Europäischen Gemeinschaft politisch – rhetorisch würde Volker Kapp genauso treffend sagen – modern, ja sogar modisch wohl klingt, sondern lediglich deswegen, weil in jenem Jahrhundert eine Gelehrtengruppe und eine hoch qualifizierte Handwerkerschicht sowie Künstler und Naturwissenschaftler schon in europäischen Dimensionen dachten und sprachen, mit einer bewundernswerten Flexibilität, sowohl wenn sie sich einer Fremdsprache nur instrumentell bedienten, um sich verstehen zu lassen, als auch wenn sie mit jenem Fremden teils bewusst teils unbewusst einen großartigen Kulturtransfer realisierten, der die Kulturtraditionen der damaligen Europäer einander näher brachte. Italo Michele Battafarano, Trient Rita Unfer Lukoschik (Hg.), Der Salon als kommunikations- und transfergenerierender Kulturraum. Il salotto come spazio culturale generatore di processi communicativi di interscambio [Interkulturelle Begegnungen 3], München: Meidenbauer, 2008. 333 S. Salonkultur wird von der Romanistik im Kontext der französischen Kultur des 17. Jahrhunderts bei den Preziösen, von der Germanistik vorwiegend im Berlin des 19. Jahrhunderts untersucht. Das 18. Jahrhundert beschäftigte besonders die Italiener, während der Salon als europäisches Phänomen noch weitgehend unerforschtes Gebiet geblieben ist. Der Band vereint die Beiträge von zwei deutsch-italienischen Kolloquien in Kassel und Frankfurt, die jeweils eine seiner beiden Hälften ausmachen und nicht miteinander vermischt wurden. Der erste Teil stellt die kommunikationsgenerierenden Prozesse (69 – 160), der zweite den transfergenerierenden Kulturraum (161 – 308) in den Vordergrund. Die beiden im Titel genannten Themen der Kommunikation über und des Transfers von Kultur schlagen in diesem Sammelband eine Brücke zwischen einem Lieblingsthema der Gender-Forschung und der Literatursoziologie bzw. den neueren Kulturstudien. Die italienische Fassung des Titels weist auf einen weiteren Vorzug dieses Bandes hin, den Schwerpunkt Italien. Die deutsche Italianistik hat in diesem Bereich, außer in den Arbeiten der Herausgeberin, kaum bemerkenswerte Leistungen vorzuweisen, und Friedrich Wolfszettels lesenswerter Beitrag (Ludovico di Breme und der Mythos von Coppet, 263 – 276) bestätigt dies. Deshalb muss das vorliegende Werk die deutschen Italianisten und die Germanisten brennend interessieren, da es auf hierzulande bisher wenig erforschte Zusammenhänge hinweist.
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Was die Herausgeberin bescheiden als »Einführung« (17 – 65) betitelt, ist nichts weniger als ein umfassender Forschungsbericht mit vielen Hinweisen für mögliche künftige Studien. Unfer Lukoschik kennt die deutsche Forschung zum literarischen Salon seit der Aufklärung und in Berlin ebenso wie die italienische zum dortigen Modell der Konversation, dessen Vorbildcharakter in Frankreich wie Deutschland oft zugunsten des französischen Modells vernachlässigt wird, obwohl es von der Marquise de Rambouillet nach Paris übertragen wurde, deren ›Blaues Zimmer‹ »in der Forschung als der ›erste‹ Salon Europas gilt« (20). Sie geht der Bedeutung des Begriffs Salon nach (22 – 28), skizziert dessen Wirkung auf die Architektur (28 – 37) und den Wandel des Verständnisses von Konversation (37 – 48), um dann die Rolle des Salons als »Kulturraum« (49) und als Plattform für den »Kulturtransfer« (53) durch Frauen zu umreißen. Sie liefert damit den wissenschaftlichen Rahmen, in den die Referenten die wichtigsten heutigen Forschungsrichtungen einbringen. Unfer Lukoschiks Beitrag über die Gräfin d’Albany und Madame d’Epinay stützt sich auf bisher kaum beachtete Dokumente (»Der Salon als hybrider Ort feminozentristischen Kulturtransfers: die Gräfin d’Albany (1752 – 1824) und Madame d’Epinay (1726 – 1783) im Spannungsfeld französischer, italienischer und deutscher Kultur«, 219 – 242), um die Wechselbeziehungen dreier Kulturen im Bereich der Salonkultur zu erhellen. Olaf Müllers zwei Beiträge ergänzen die Überlegungen der Herausgeberin durch Untersuchungen zu Madame de Staël, die bereits durch ihre Biographie diese europäische Dimension der Salonkultur verkörpert (»Sensibilität und Salonpraxis. Genderpolitische Aspekte von Germaine de Staëls Italienreise«, 141 – 158). Müller geht vom »funktionale[n] Zusammenspiel des Salons von Mme de Staëls Mutter mit den politischen und finanziellen Interessen ihres Vaters« (143) aus und zeigt, dass die Tochter »diese doppelte Strategie übernahm« (149) und sie zu einem neuen Salonbegriff ausweitete. Ihre durch die Verbannung von Paris bedingten Reisen nach Deutschland und Italien sollten »durch eklatante gesellschaftliche Erfolge im Ausland« (151) einen Ausgleich für den Verlust an Reputation in Frankreich bringen, und ihr Ruhm bei der Nachwelt beweist, dass sie richtig kalkuliert hat. Müllers zweiter Beitrag ist dem Blick von Frankreich nach Italien gewidmet (»même toilette, même ton, même usage«? Französische Blicke auf die italienische Salonkultur zwischen Nostalgie und Utopie (»Madame de Staël, Chateaubriand, Stendhal«), 243 – 262). Nach Müller, ist Madame de Staëls Italienreise 1804 »eine direkte Folge des Bruchs mit den Soziabilitätsformen des Ancien Régime« (247). Chateaubriand, der wie sie die italienische als schlechten Abklatsch der französischen Salonkultur betrachtet, zieht eine Parallele zwischen dem Gesellschaftsleben in London und in Rom und konstatiert eine »internationale Gleichförmigkeit« (254), die höchstens Langeweile erzeugt. Stendhal hingegen kommt zur Überzeugung, dass Italien »keinen Transfer französischer
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Salonkultur« (260) braucht. Seine Intuition ist zutreffend, auch wenn seine Kenntnisse der Verhältnisse unzureichend sind. Die Beiträge zur italienischen Salonkultur können deren hohen Rang nachweisen. Elena Brambilla (»Accademie e ›conversazioni‹ come tramiti di innovazione culturale nella società italiana fra ’600 e primo ’700«, 87 – 118) erinnert an die Bedeutung Christinas von Schweden innerhalb der männlich dominierten römischen Akademien und an die Arcadia, die aus der spezifisch italienischen Institution der Akademie hervorgegangen ist, sich aber von dieser durch ihre Öffnung für Frauen unterscheidet. Isabella Andreini, eines der Glanzlichter der Compagnia dei Gelosi, wurde in die Accademia degli Intenti von Pavia aufgenommen, was Brambilla leider bei ihrem Lob auf die Accademia dei Ricovrati in Padua vor lauter Begeisterung über deren Beitrag zur weiblichen Bildung zu erwähnen vergisst. Marina Caffiero beleuchtet die überragende Leistung der weiblichen Salons im Rom des 18. Jahrhunderts (»Dalla corte al salotto. Funzioni culturali e politiche della società femminile a Roma nel Settecento«, 119 – 140), Elena Musiani die im Bologna des 19. Jahrhunderts (»Incontri interculturali nei salotti bolognesi dell’Ottocento«, 297 – 308). Ganz andere Aspekte kommen bei der Beschäftigung mit der gegen die Französische Revolution gerichteten Pamphletliteratur zutage, von der landläufig nur Montis Basvilliana bekannt sind, während Marina Formica hier auf die Flut von Schriften aufmerksam macht, die damals in Rom und anderswo in Italien veröffentlicht und bisher kaum erforscht wurden (»Apocalittici e integrati tra Roma e la rivoluzione«, 185 – 217). Während des Risorgimento spielt der Salon unter den italienischen Exilanten in Frankreich ebenfalls eine hervorragende Rolle (»Mariasilvia Tatti, Il salotto diffuso: la società degli esuli italiani in Francia nel Risorgimento«, 277 – 295). Alle diese Beiträge stützen sich auf neueste Forschungen über die italienische Salonkultur. Der europäischen Ausrichtung entsprechend werden in zwei Beiträgen Ausblicke in Kulturräume vorgenommen, ohne die das Beziehungsgeflecht zwischen Frankreich und dem übrigen Europa unverständlich bliebe. Die Polyvalenz des Phänomens verdeutlicht Renate Kroll, die ihre wegweisenden Forschungen zur Salonkultur des französischen 17. Jahrhunderts in die Diskussion einbringt (»Haupt- und Nebenwege des Kulturtransfers: der Salon im Grand Siècle der 50er Jahre«, 165 – 184). Kroll fragt nach dem, was von »einem Programm, dessen Konzipierung im marginalen Raum entstand« (170), nämlich dem Salon der Preziösen und dem »style simple et naturel« (169) von Madeleine de Scudéry bleibt, und antwortet, dass »das Programm der Preziösen [ . . . ] in seiner Alterität Korrektur sowohl an den [ . . . ] sogenannten Meisterdiskursen bzw. der androzentrischen Preziosität, wie überhaupt an Patriarchat und andropozentrischem Symbolsystem« (170) bringt. Michael Dallapiazza weist auf das Mittelalter hin (»Salon im deutschen Mittelalter? Überlegungen
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zu Mechthild von Rottenburg und zur subversiven Parodie des Gesprächs in Heinrich Wittenwilers Ring«, 73 – 85), in dem »Konversationskultur im Zeichen der Weiblichkeit« besteht, »ohne dass man jedoch eine allzu konkrete Vorstellung von deren Realität zu rekonstruieren vermöchte« (74). Mechthild von Rottenburg ist eine überragende Erscheinung, die mit bedeutenden Frühhumanisten in Verbindung stand und nach dem Tod ihres Mannes »gezielt ihre kulturellen und vor allem literarischen Interessen« (77) verfolgte. Ihre Dominanz hat »die Assoziation von bedrohlicher Freizügigkeit und weiblicher Aggressivität hervorgerufen« (79). Wittenwilers Ring lässt die Frauen gelebte Alltagspraxis gegen das gelehrte Buchwissen ausspielen. Der Band über den Salon als kommunikations- und transfergenerierender Kulturraum ist eine wahre Fundgrube für Informationen über die europäische Salonkultur. Volker Kapp, Kiel
Dennis Hannemann, Klassische Antike und amerikanische Identitätskonstruktion: Untersuchungen zu Festreden der Revolutionszeit und der frühen Republik [Beiträge zur englischen und amerikanischen Literatur 27], Paderborn: Schöningh, 2008. 264 S. »The Grecian commonwealths furnish the earliest examples in history of confederated states with free governments; and there also the art of oratory was first practiced, the science of rhetoric first invented; and both were raised to a pitch of unrivalled excellence and glory«, verkündet der spätere Präsident der Vereinigten Staaten, John Quincy Adams, hier noch im Amt des Boylston Professors für Rhetorik am Harvard College, das er von 1806 bis 1809 inne hatte. Für Adams und viele seiner Zeitgenossen liegt der Zusammenhang zwischen persuasiver Rede und republikanischer Politik klar auf der Hand, und zwar ebenso klar wie die direkte Rückbindung dieses Zusammenhangs an die antike Welt: »Call up the shades of Demosthenes and Cicero to vouch your words,« schreibt er, »point to their immortal works, and say, these are not only the sublimest strains of oratory, that ever issued from the uninspired lips of mortal men; they are at the same time the expiring accents of liberty, in the nations, which have shed the brightest luster on the name of man.«1 Dennis Hannemann, gleichermaßen Altphilologe wie Amerikanist, hat eine konzise und genau umrissene Dissertation zu solchen Antikeverweisen in der Redekunst der Revolutionszeit und frühen amerikanischen Republik geschrie1 John Quincy Adams, Lectures on Rhetorics and Oratory, 2 Bd. (Cambridge 1810), 1: 69 – 70, 72.
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ben. Die Studie ist streng konzentriert auf ein Genre: die Festrede. Auf solider Textgrundlage einiger Hundert solcher Reden, zwischen 1770 und 1815 gehalten anlässlich des früh ritualisierten, öffentlichen Gedenkens zum 4. Juli 1776, zum Boston Massacre, zur Landung auf Plymouth Rock und zum Tode George Washingtons, untersucht er die in diesen Reden gehäuften Klassikreferenzen als Ausdruck des Bestrebens nach nationaler Vergemeinschaftung. Methodisch schließt die Arbeit so grundsätzlich an Benedict Andersons Konzipierung von Nation als einer printmedial vermittelten, ›imaginierten‹ Nationalgemeinschaft an und folgt dann der notwendigen Erweiterung dieser These durch David Waldstreicher, Len Travers u. a., welche die Stiftung nationalgemeinschaftlicher Kohärenz eben auch jenseits der Printmedien im Bereich der öffentlichen Festkultur beschrieben haben. Insofern sieht Hannemann die Festreden zu Recht als ein Kernelement solcher Vergemeinschaftungspraxis; gerade insofern wäre vielleicht aber auch von Vorzug gewesen, über die Analyse der gedruckten Reden in ihrem polithistorischen Kontext hinaus auf die hier weitgehend ausgeklammerte Redeperformanz und -praxis einzugehen.2 Denn anders als in Andersons Konzept einer nur gedachten Gemeinschaft sehen sich Redner und Publikum ja tatsächlich auf dem Fest, bilden also bereits eine Runde, die nicht erst lokaltranszendent erfunden wird, sondern die sich qua Rede nur mental ihrer selbst vergewissern muss: Festreden richten sich zunächst schlicht an die, die schon da sind, auch wenn sie mitunter ein gemischtes Publikum ansprechen und auf einen Nenner bringen, oder wenn sie diejenigen einbeziehen, die nicht mit feiern können, wollen, oder dürfen. Die Drucklegung der Reden in kleinen, zumeist lokalen Auflagen erweitert den Kreis nur unwesentlich. Wortführend in dieser Praxis der ritualisierten Selbstvergewisserung sind, so Hannemann, die gebildeten Schichten – der Vf. spricht bedenkenswerterweise von Intellektuellen – welche Verweise auf griechische und römische Autoren und Geschichte dazu benutzen, um das junge amerikanische Staatsgebilde zu legitimieren. Die Klassikverweise taugen dazu, weil sie, wie Hannemann an den Beispielen des New Yorker King’s College, des South Carolina College und des Yale College erörtert, im höheren Curriculum amerikanischer Bildungseinrichtungen fest verankert sind. Damit stellen die Curricula ein kanonisch (und schichtspezifisch) geteiltes Wissen – nach britischem Vorbild – bereit, auf dessen Grundlage die mit der Revolution erzeugten Differenzierungen und politischen Verwerfungen verhandel- und homogenisierbar werden. Vor solch höherem Bildungshorizont nutzt die Antike den Rednern dann zu zweierlei: Zum einen als Exempel, welches hilft, jüngste amerikanische Geschichte zu veranschaulichen. Zum anderen dient sie als Typus, welcher die 2 Hierzu weiterführend u. a. Jay Fliegelman, Declaring Independence: Jefferson, Natural Language and the Culture of Performance (Stanford 1993) und Sandra M. Gustafson, Eloquence is Power: Oratory and Performance in Early America (Chapel Hill 2000).
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amerikanische Geschichte präfiguriert und letztere damit als notwendige Entwicklung historischen Verlaufs autorisiert. Beide rhetorische Funktionen werden historischen Modellen zugeordnet, das Exempel sei grundlegend für die historia-magistra-vitae-Auffassung, der Typus unterlege die Deutung von Geschichte im Sinne eines säkularen Fortschrittsdenkens. Wie Hannemann detailliert an einer Vielzahl von Beispielinterpretationen ausführt, werden antike Exempel dort statuiert, wo Redner wie James Lovell oder John Hancock in Erinnerung an das Boston Massacre die Gefahren des Despotismus schildern, und zwar mit Blick auf die Tyrannis Athens und die römischen Bürgerkriege (Kap. 3.1). Die griechische und römische Antike exemplifiziert für Redner wie John Warren oder Oliver Noble ferner die Zyklen republikanischen Auf- und Niedergangs (Kap. 3.3). Griechische Amphyktionie hält als Beispiel her für die ab Ende der 1780er gefürchtete Zersplitterung der amerikanischen Republik in diskordante Faktionen (Kap. 3.4). Die Besorgnis um republikanische Bürgertugenden wird gemalt in römisch-republikanischen Bildern, was im Übrigen auch heißt, dass Hannemann vor allem in diesem Unterkapitel zeigen kann, dass Bürgertugend zuzeiten eben nicht – wie John Quincy Adams dies andeuten will – entlang eines griechisch aristotelischen Polis-Modells, sondern doch maßgeblich entlang ciceronischer Tugendideale konzipiert wird (Kap. 3.2). Aber auch in typologischer Hinsicht wird die Antike relevant, vor allem hinsichtlich der zeitgenössischen, von George Berkeley propagierten translatioAuffassung (translatio imperii, translatio libertatis, translatio studii), als deren gegenwärtige Verkörperung man sich in der jungen Republik gern zu sehen pflegt. In der Konzipierung des nationalen Ursprungs etwa sucht man wie Charles Turner Ähnlichkeitsrelationen zwischen den amerikanischen Pilgervätern und den Gründern Roms. Solche Konvergenzen zwischen religiöser und säkularer Typologie setzen sich fort, wenn man im Rekurs auf Aeneas bereits früh ein Goldenes Zeitalter für die USA zu zeichnen beginnt, ja wenn, wie David Ramsay dies 1778 vorführt, die heilsgeschichtliche Typologie schließlich zugunsten eines gänzlich säkularisierten Zivilisationsprozesses ausgeblendet wird (Kap. 4.1). Kolonialer Widerstand und Unabhängigkeitskrieg werden vielfach besehen als vor allem in den Perserkriegen präfiguriert (Kap. 4.2). Gibt Amerika sich eine föderale Verfassung, wird auch dies vor dem Hintergrund zumeist römischer Welt gesehen, insbesondere in Bezug auf Vergils Georgica (Kap. 4.3). Und schließlich wird auch George Washington zur nationalen Ikone, indem man ihn nicht nur entlang biblischer Verweise als Moses stilisiert, sondern zunehmend vor dem Hintergrund antiker Helden zeichnet: zunächst sind es die Helden Epaminondas und Timoleon, zugleich figuriert er als »AntiCaesar« (235), oder aber, in der wohl populärsten Typologie, der amerikanische Feldherr wird zum Cincinnatus of the West, wie der in der Studie zwar nicht zitierte, aber mit dem Duktus der Festredner hier übereinstimmende Lord
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Byron geschrieben hatte (Kap. 4.4). Die Massierung solcher Verweise zeige insgesamt, so Hannemanns dissensfähig zugespitztes Fazit, »dass sich die neu gegründete amerikanische Nation im Sinne einer vorgestellten Gemeinschaft überhaupt erst durch die kritische Auseinandersetzung mit der klassischen Antike und die Vereinnahmung derselben als Deutungsreferenz konstituieren konnte« (248). Dissensfähig steht hier, weil, wie im Ablauf der Studie ja stets deutlich wird, Hannemann letztlich selbst eindrucksvoll zeigt, wie unterschiedliche weltbildliche Panoramen in den Festakten der frühen Republik konvergieren, die neben der Antike z. B. auch biblische Geschichten umfassen, so dass die Schlussthese sicher keinen Alleinvertretungsanspruch antiker Deutungsreferenzen für nationale Identität behaupten will.3 Abschließend sei somit nicht an Befunden und deren Interpretation gemäkelt, sondern auf mögliche Anknüpfungspunkte hingewiesen. Denn Hannemanns Studie besticht neben der facettenreichen Darstellung der Antikerezeption zudem durch eine altphilologisch fundierte Diskussion des antiken Hintergrundes, die erst erlaubt, die Anspielungsdichte der zeitgenössischen Redner zu erhellen. So blendet er wohl nur aus Gründen der Konzision aus, inwiefern gerade jene rhetorischen Antikerekurse, welche die scheinbar britischen Traditionslinien des nationalen Selbstgefühls umgehen, dann womöglich doch einer letztlich britisch-whiggistischen Redetradition verpflichtet sind. Die Antikerekurse der auch für die USA richtungsweisenden britischen Rhetoriker James Burgh, Thomas Sheridan oder John Rice mit denen amerikanischer Redner abzugleichen, wäre sicher ein lohnendes Unterfangen.4 Welches Vermittlungspotential also käme der britischen Rhetoriktradition auch jenseits des vom Vf. diskutierten edukativen Diskurses für die amerikanische Antikerezeption zu? Und wie genau gelingt es dann, den zum universalen historischen Deutungshorizont erhobenen Antikerekurs in nationalkonstruktiver Absicht von seinen britischen Vermittlungstraditionen ›reinzuwaschen‹ ? Ist es, wie sich in Han3 Zu dieser seit Ende der 1980er geführten Debatte über Konvergenzen, Konflationierungen, Interaktionen oder Dominanzen diverser weltbildlicher Formationen in der Rhetorik der frühen Republik sei hingewiesen auf Christopher Loobys Arbeit Voicing America: Language, Literary Form, and the Origins of the United States (Chicago 1996), vor allem Kap. 4. 4 Dazu Fliegelman, Declaring Independence 28 – 35. Auch Sheridan, außer dass er klassische Quellen exemplarisch und typologisch heranzieht, sieht zum Beispiel zivilgesellschaftliche Entwicklung in direkter Verknüpfung mit Redekunst [Cf. Thomas Sheridan, A Course of Lectures on Elocution: Together with Two Dissertations on the English Language (London 1762), 187]. James Burghs The Art of Speaking (1761, Baltimore 1804) gibt in den Anwendungslektionen seiner großartig auf Expressivität ausgerichteten Rhetorik eine Vielzahl griechisch-römischer Beispiele, die ihrerseits – und jenseits des altphilologischen Bildungskanons – zur Grundlage für auch amerikanische Festreden geworden sein dürften.
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nemanns Studie unausgesprochen andeutet, erst die Folie des Universalen (heute: des Globalisierten), welche solch national segmentäre Identitätspostulate ermöglicht und einfordert? Und in ähnlichem Sinn (wenn es sich nicht um die Austreibung des Puritanismus aus den Amerikawissenschaften handeln soll): Wie wären die in der vorliegenden Arbeit zurückgewiesenen, im 18. Jahrhundert gleichwohl fortlebenden puritanischen bzw. kalvinistischen Rezeptionsmodi von Antike gegenüber dem Wechselspiel von historia magistra vitae und säkularer Fortschrittsgeschichte konkret in Stellung zu bringen? Hierin bleibt die Studie bis auf wenige Einzelbefunde zögerlich und en gros der historisch prominenten Säkularisierungsthese verpflichtet. Die einschlägige Forschung nicht nur zu diesen Fragen wird auf Hannemanns schlüssiges, jüngst mit dem »Akademiepreis« der Heidelberger Akademie der Wissenschaften bedachtes Buch zurückgreifen müssen. Jörg Thomas Richter, Berlin
Mathias Mayer, Natur und Reflexion. Studien zu Goethes Lyrik [Das Abendland – Neue Folge 35], Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann GmbH, 2009. 374 S. Eingehende und detaillierte Einzelinterpretationen von Goethes Lyrik (den Zeitraum von 1770 bis 1820 umfassend) liefert neuerdings Mathias Mayers feinsinnige Studie Natur und Reflexion. Studien zu Goethes Lyrik. Sie erweist sich als Fundgrube für textnahe und anschauliche Interpretationen nahezu aller berühmten Gedichte Goethes (das Spektrum lyrischer Formen vom Lied über die Ballade bis hin zur Elegie, Sonett, den Trilogien abdeckend), die unterteilt in einzelne, auch für sich lesbare Kapitel pointiert dargeboten werden. Als übergreifende Fragestellung verfolgt Mayer dabei die bei Goethes Lyrik zu beobachtende Synthese von Natur und Reflexion. Aus der Zusammenschau der Termini Natur und Reflexion ergibt sich nämlich der bemerkenswerte Umstand, dass den Goetheschen Gedichten zwar oftmals einerseits zu Recht ein besonderer Charakter der Natürlichkeit und auch der Authentizität attestiert wird, diese allerdings andererseits bei näherer Ansicht in ihrer Reflektiertheit zu durchdringen sind (vgl. 7). Mit anderen Worten speist sich die Natürlichkeit Goethescher Lyrik gerade aus der integrativen Leistung einer »sentimentalischen Reflexion« (7) mit den Kategorien Schillers beschrieben und zwar mit dem Resultat, dass sich seine Lyrik durchgehend von einer »natürlichen Reflexion« (vgl. 9) strukturieren lässt. Ausgehend von der produktiven Spannung von Natur und Reflexion ist laut Mayer demzufolge zu ermessen, wie sich die Reflexion bei Goethe immer schon als Bestandteil der Natur erweist (vgl. 10) und sich damit gerade nicht als schlichter Antipode zur Natur / Natürlichkeit klassifizieren lässt. Denn so wenig Naturerscheinungen objektiv und unmittel-
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bar zu greifen sind, so wenig lässt sich nach der seit Kant berühmten ›Kopernikanischen Wende‹ eine unmittelbare poetische Mitteilung von Naturgegenständen denken: Naturerkenntnis ist von je her auf subjektive Vermittlung angewiesen: Reflexionsmomente im indirekten Medium der Poesie sind Spuren dieser reflexiven Brechungen. Eingedenk dieses Umstandes zeichnet Mayer nach, wie sich bei Goethe die Naturgegenstände als prominentes sujet seiner Lyrik jeweils indirekt mitteilen, d. h. unter Rekurs auf die Reflexion im Individuum (vgl. 13) darbieten. Von einem »lebendigen Austausch« (14) zeugt demnach die Bandbreite der Gedichte zwischen Natürlichkeit und Darstellung, Wahrnehmung und Kreativität sowie Natur und Reflexion. Es liegt nach Mayer geradezu in der Natur des Goetheschen Gedichtes, dass es als »quasi-natürliches Phänomen selbst immer schon ›Lehre‹, d. h. aber auch Reflexion, Abglanz, Symbol, Theorie ist« (20). Aus der konstatierten »natürliche[n] Reflexion« (20) des Goetheschen Gedichts, denn dieses ist ja, wie gesagt, bereits Phänomen, Erscheinung natürlicher Unmittelbarkeit, eröffnet sich letztlich ein »poetologische[r] Horizont« (20), wodurch Mayer die scheinbar ›naivsten‹ und lieblichsten Gedichte Goethes als raffinierte und wertvolle Reflexionsmomente poetischen Schaffens in ein neues Licht zu stellen vermag. Goethes Gedichte markieren derart in einer ungewöhnlichen Vielzahl prominente Stationen immanenter Poetiken. Mitunter ist es dann gerade doch das Merkmal der Kunst, »eine andere Natur« (145) zu sein, d. h., die proklamierte »Nähe zur Natur« (146) fordert zugleich eine »Naturferne« (146) als Voraussetzung des Dichtens im Verständnis Goethes. Im Zuge dieser Überlegungen kommt Mayer auch auf die produktionsästhetische Eigenart Goethescher Lyrik zu sprechen, die darin besteht, dass Goethe selbst für viele seiner Gedichte (z. B. Wandrers Nachtlied / Ein Gleiches, Um Mitternacht) eine »schlafwandlerische Produktivität« (20) reklamiert, die die Entstehung seiner ›Stegreifdichtungen‹ als genuin »unmittelbar, ohne künstlerische Reflexion« (20) markiert. Diese, dem dichterischen Talent eigene, unbewusste, natürliche Produktivität, die Goethe an prominenter Stelle im 16. Buch von Dichtung und Wahrheit illustriert, erkennt Mayer einerseits als Inszenierung und andererseits wiederum als Bedingung der Reflexion, so dass dem ›Mythos‹ vom Dichter als reinem »Sprachrohr« (23) die Reflektiertheit und Gemachtheit der Gedichte mit ihren poetologischen Implikationen an die Seite zu stellen ist. Letztlich ist also wieder eine »sentimentalische Naivität« (25) für die Signatur der Lyrikzeugnisse Goethes zu veranschlagen. Die vielfach von der Forschung eingehend diskutierten Kategorien des Erlebnisses, der Subjektivität, des Kunstcharakters werden von Mayer zwar nicht bestritten, aber doch aus einer neuen Perspektive verhandelt, wenn etwa der Zusammenhang von realem Erlebnis und poetischer Gestaltung mit den Kategorien ›Natur‹ und ›Reflexion‹ neuartig durchmessen wird.
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Mayer schlägt in seiner Goethe-Studie einen großen Bogen von der Sesenheimer Lyrik (Maifest u. a.) – wo sich die Nähe zur Natur im Verhältnis zu ihrer künstlerischen Vermittlung, also Züge einer reflexiven Naturlyrik besonders augenfällig aufzeigen lässt –, vom Heidenröslein – als einem »Gedicht über den Ursprung des Gedächtnisses, über Lyrik als eine Bewahrung von Schmerz« (47) – über Ilmenau – als Gedicht einer »poetische[n] Lebensbewältigung« (69) mittels reflexiver Selbstverdopplung des eigenen Lebenswegs –, über die Zueignung – als Mahnmal der Vieldeutigkeit (»Schleier der Dichtung«) mit Vorbehalt gegenüber der ›nackten Wahrheit‹ (vgl. 78) –, über die Römischen Elegien – wo Mythos und Parodie Hand in Hand gehen und ein »Initiationstext von Schweigen und verschwiegener Mitteilung« (96) vorliegt –, über Anmerkungen zur Ökonomie und Verschwendung in der klassischen Lyrik (Episteln und Amyntas) bis hin zu eingehenden und spannenden Ausführungen zur »vampirischen Poetik« (121 f.) und der aussaugenden Funktion der Musen in Die Braut von Korinth, ferner Interpretationen zur Euphrosyne-Elegie, dem West-östlichen Divan, Das Lebenslied, St. Nepomucks Vorabend und den Hauptwerken des alten Goethe. Ein besonders eindrückliches Beispiel für die Kreuzung von Natur und Kunst führt Mayer anhand der Euphrosyne-Elegie (1797 / 98) vor: Es handelt sich dabei einerseits um ein Gelegenheitsgedicht, das den Tod der neunzehnjährigen Christiane Becker poetisch verdichtet, andererseits um ein bekanntes Dokument der Goetheschen Naturlyrik, das die Erinnerung der Euphrosyne ins Zentrum stellt und welches zugleich in einen Natureingang, wo der Dichter-Wanderer spricht, und in einen Naturausgang, die beide eine unverstellte Natur vorstellen, eingebettet ist. Der Kunstcharakter des Gedichts (strenge Form der Distichen, Literaturzitate aus Shakespeares König Johann, Kunstfiguren aus Shakespeare und der antiken Literatur, die Thematisierung des Theaters als Kunst der Verstellung analog zu Wilhelm Meisters Lehrjahre, die immanente Darstellung des Auftrags zum Totengedicht, die Bitte um künstlerische Gestaltung am Ende des Gedichts u. a.) folgt dem poetologischen Programm der Einleitung in die Propyläen, wo »Kunstwahrheit« und »Naturwirklichkeit« streng auseinanderdividiert werden (vgl. 142): Euphrosyne spricht (als androgynes Wesen wie Mignon oder Homunkulus) von ihrem künftigen Tod (als Schatten im Hades) und gleichzeitig von ihrem Leben nunmehr als dichterische Gestalt, was zeigt, wie »Goethe den Bezug des Todes zur Literatur zur Bedingung ihrer Möglichkeit macht« (149), d. h. wie die Kunst dem natürlichen Leben und Sterben gemäß dem Kreislauf der Natur ein »ewige[s] Leben« (149) (im »Schattenreich der Literatur« [151]) entgegenzusetzen vermag: Bedingung des Kunstwerdens wäre demnach, zugespitzt formuliert, das Sterben des Natürlichen (vgl. 150), das gleichzeitig die Bedingung für die Reflexion des Wirklichen darstellt. Die Maxime »Kunst als Lebensersatz« (139) zeigt die Distanz zum Programm einer bloßen Nachahmung der Natur im Geiste eines nai-
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ven Naturalismus sowie der traditionellen Casualpoesie an und veranschaulicht gleichsam Goethes Diktum »Liebende haben Thränen und Dichter Rhythmen zur Ehre der Todten« (138). Ähnlich wie das Bedingungsverhältnis von Leben und Tod in der Euphrosyne-Elegie gestaltet sich der Liebesschmerz über den Verlust der Geliebten in der Marienbader Elegie als Voraussetzung des Dichtens (vgl. 290), denn das Glück der Nähe lässt sich gerade erst in der Trennung von der Geliebten, in der Überwindung des vormaligen Paradies-Zustandes dichterisch schildern (vgl. 298). Daran anschließend eröffnet sich zudem der Horizont eines Dichtungsverständnisses als Kur, also einer therapeutischen Funktion von Kunst, wenn der »Umschlag von Trennungsschmerz in die Heilung« (309) im Medium der Poesie vollzogen wird. Gerade anhand des so genannten Lebensliedes Um Mitternacht zeigt Mayer ferner auf, wie sich Goethes Entelechieverständnis in die Nähe von Leibniz’ Monadenlehre rücken lässt (vgl. 220). Das in drei Stadien vorgeführte Leben und seine Verwandlung in das Lied wird fundiert durch die Vorstellung einer »entelechischen Existenz über den Tod hinaus« (224). Bürge für die »Dauerhaftigkeit der monadischen Existenz« (226) wäre die »metapoetische Hervorbringung des Textes selbst« (226), der gerade in seiner »Offenheit der sprachlichen Struktur« (228) die »Synergie von monadischer Substanz und ihrer lebendigen Metamorphose« (228) spiegelt. Auch Goethes West-östlichem Divan schenkt Mayer gebührend seine Aufmerksamkeit: Die dort angelegten provokativen »Risiken« (189 f.) manifestieren sich erstens auf einer kulturwissenschaftlichen Ebene, indem die interkulturellen diplomatischen Bemühungen gegenüber dem Orient eine Distanzierung vom Vorbild der Antike mit sich bringen, zweitens auf einer religiösen Ebene, wenn es um den »radikalen ›Einsatz‹ der Persönlichkeit« (196) geht, und drittens auf einer poetologischen Ebene, wo das Verstummen (im Sinne einer Priorität des Kusses vor dem Wort) als letzte Konsequenz einer Ökonomie des Risikos in den Blick gerät. Insbesondere Hatems Liebesrede gegenüber Suleika offenbart, wie die Liebe als »Risiko der Identität« (205) konzipiert ist. In Goethes Übersetzung des spätlateinischen Pfingsthymnus Veni creator spiritus transferiert Goethe ferner seine Anschauung von der Vermittlung der Kulturen zwischen Orient und Okzident auf eine »poetische Dynamisierung religiöser Traditionen« (274), wenn die »Synthesekraft des Heiligen Geistes« (280) »sich in orientalisierendem Sprachgewand beweist« (280). Als besondere Manifestation des Schmerzes profiliert Mayer abschließend die Träne bei Goethe: Etwa im Gedicht Hochbild, einer Verdichtung der unglücklichen Liebe zwischen der Sonne (Helios) und der schönen Göttin mit den Regen-Tränen (Iris), nimmt Goethe Bezug auf ein mythologisch fundier-
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tes Naturgeschehen, die Unvereinbarkeit von Sonne und Regenbogen, und wandelt dieses humanisierend durch die menschliche Empfindung der weinenden Göttin ab: Nur im Gedicht, der »dichterische[n] Perle« (348), zeichnet sich imaginär eine bleibende Vereinigung der beiden in der Natur unvereinbaren ›Kräfte‹ ab. Die Träne changiert bei Goethe überdies zwischen »Zeichen der Unmittelbarkeit der Natur« (357), »Natursprache« (362) einerseits und »künstlerischer Verwandlung« (362) andererseits. Selten erreicht eine monographische Studie zu Goethes Lyrik eine vergleichbare Anschaulichkeit. Insofern ist die Versammlung der teilweise neuen, teilweise bereits publizierten und nun überarbeiteten Einzelstudien besonders verdienstvoll und für ein breites Publikum lesenswert. Mathias Mayers philologische Sorgfalt sowie seine breiten und fundierten Kenntnisse des Großdichters Goethe überzeugen durchweg. Gabriela Wacker, Tübingen
Nikolas Immer, Der inszenierte Held. Schillers dramenpoetische Anthropologie [Jenaer germanistische Forschungen, N. F. Bd. 26], Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2008. 501 S. In seiner 1784 verfassten Rede über die ›Schaubühne‹ exponiert Schiller das anthropologische Aufklärungspotential des Theaters, indem er ihm das besondere Vermögen zuspricht, den »Menschen mit dem Menschen bekannt« zu machen. Bereits für den jungen Schiller avanciert das Theater zu einem Ort anthropologischer Erkenntnis, da es seine Protagonisten in lebensgeschichtliche Extremsituationen hineinführt und anhand ihrer je unterschiedlichen Verhaltensweisen sowohl die verborgene Seelenmechanik des menschlichen Subjekts offenlegt als auch die Möglichkeiten seines autonomen Handelns auslotet. In diesem Zusammenhang kommt dem dramatischen Helden eine Schlüsselfunktion zu, hat doch seine konkrete Haltung im Kontext eines sich zuspitzenden Konflikts repräsentative Bedeutung für die Verhaltensmuster und Handlungsoptionen des menschlichen Subjekts schlechthin. Wenn Schillers Dramen die Trieb- und Vernunftnatur des Helden auf äußerst effektvolle Weise kollidieren lassen, so wollen sie den Zuschauer animieren, im ästhetischen Nachvollzug seine eigene Zwitternatur zu erkennen. Die erhabene Haltung, die der Held gewinnt, indem er sich moralisch über sein Leiden erhebt, kann in gradueller Abstufung auch der Zuschauer erlangen. Schillers dramenpoetische Anthropologie steht im Mittelpunkt einer gedanklich und sprachlich gleichermaßen brillanten Studie, die Nikolas Immer im Sommer 2007 als Dissertation vorgelegt hat. Wie bereits der Titel der Studie vor Augen führt, bemüht sich Immer um eine Verklammerung zweier Erkenntnisinteressen: Zum einen spürt er der Phänomenologie des Helden in Schillers
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dramatischem Werk nach, zum anderen reflektiert er die spezifische Funktion des Helden, die dieser für Schillers dramenpoetische Anthropologie und eine damit verkoppelte Wirkungsästhetik gewinnt. Im Gegensatz zu anderen Schiller-Studien der jüngeren Vergangenheit (etwa von Riedel und Guthke) fragt Immer nicht nach jenen anthropologischen Diskursen, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts kontinuierlich zunehmen und Schillers literarische Produktion nachhaltig beeinflussen. Stattdessen bemüht er sich um die Profilierung einer genuin literarischen Anthropologie, indem er von Schillers Bühnenhelden ausgeht und deren typologisch verallgemeinerbare Verhaltensmuster in verschiedenen Konfliktsituationen beleuchtet. Die dramatischen Protagonisten, so Immer, erfahren »emotionale Krisenmomente, psychische Extremsituationen, erleben die Zerrüttung ihrer Seele und die Vernichtung ihrer physischen Existenz. Darin deutet sich an, daß das, was literarisch zur Darstellung gelangt, ein ›eigenweltliches‹ Menschenbild etabliert, das der Ausgriffe auf die historische Anthropologie nicht notwendig bedarf« (19). Die Fokussierung auf eine innerhalb des dramatischen Werks entfaltete Anthropologie verleiht Immers Studie eine textanalytische Präzision, die eine stärker diskursgeschichtlich perspektivierte Studie vermutlich nicht hätte erreichen können. Andererseits hätte ein vergleichender Blick auf zeitgenössische Anthropologie-Debatten außerhalb des literarischen Feldes einen Horizont abstecken können, vor dessen Hintergrund Zeittypisches und Originäres in Schillers Entwurf deutlicher zutage getreten wäre. Immers Studie untergliedert sich in vier Teile, deren erster zunächst eine heuristisch wertvolle Typologie des (literarischen) Helden entwickelt, daran anknüpfend das spezifische Erkenntnisinteresse der Arbeit formuliert und abschließend das weitläufige Forschungsfeld absteckt. In souveräner Überschau skizziert Immer die (literaturwissenschaftliche) Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Heldenkonzeptionen und spannt dabei den Bogen von Thomas Carlyle über Ernst Robert Curtius bis in die Gegenwart (3 – 46). Im zweiten Teil schließt sich ein literarhistorischer Aufriss an, der die vielgestaltigen Heroenkonzeptionen vom 17. Jahrhundert bis zur Spätaufklärung verfolgt und dabei insbesondere jene Transformationsprozesse rekonstruiert, die der Held auf seinem Weg vom barocken Herrscher über den aufgeklärten Bürger bis hin zum modernen Genie durchläuft. Gerahmt wird diese ›tour d’horizon‹ durch eine begriffsgeschichtlich akzentuierte Konturierung des Helden und einen Exkurs zu Schillers eigener poetologischer Bestimmung des Heroischen (47 – 190). Mit den Ausführungen im zweiten Teil seiner Arbeit gewinnt Immer einen literatur- und mentalitätsgeschichtlichen Referenzrahmen, der für die Interpretationen sämtlicher Schiller-Dramen im dritten Teil (mit Ausnahme der ›Braut von Messina‹ und des unvollendeten ›Demetrius‹) von nicht zu überschätzendem Wert ist. Indem Immer seine Dramenanalysen konsequent mit Schillers
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wirkungsästhetischen Reflexionen aus den frühen 1790er Jahren korrespondieren lässt, kann er die im szenischen Spiel entfaltete Anthropologie überzeugend auf ihre Rezeption durch das Publikum hin befragen. Immer macht deutlich, dass Schiller seine Helden niemals als Heroen ohne Fehl und Tadel, sondern als höchst komplexe und widersprüchliche Charaktere modelliert. Schillers Helden sind Exzentriker und Schwärmer, Melancholiker und Nihilisten, Tyrannen und politische Fanatiker, die sich in effektvoll inszenierten Bühnenkonflikten vom pathetisch bewegten zum erhabenen Subjekt entwickeln und so dem Zuschauer die Möglichkeit vor Augen führen, gegen die Macht der sinnlichen Natur eine autonome Haltung einzunehmen (191 – 432). Wie Immer im Rekurs auf Schillers tragödientheoretisches Konzept des Pathetischerhabenen überzeugend vor Augen führt, manifestiert sich die erhabene Haltung, die Protagonisten wie Karl von Moor oder Wallenstein im Verlauf der wechselvollen Bühnenhandlung erlangen, auf unterschiedliche Weise: im Erhabenen der Fassung, im Erhabenen der Handlung aus Pflichterfüllung oder im Erhabenen der Handlung aus ungewollter Pflichtverletzung. Nicht selten werden verschiedene Ausdrucksformen des Erhabenen miteinander kombiniert oder auch in Abhängigkeit vom konkreten Dramenstoff variiert. Aufschlussreich ist die Beobachtung, dass Schiller die erhabene Haltung seiner Helden meist auf dem Feld des Politischen und in den Interaktionsräumen staatlicher Macht herausmodelliert. Die in den Dramen entfaltete Figurenpsychologie und ihre konsequente Verknüpfung mit wirkungsästhetischen Reflexionen steht auch im Mittelpunkt des abschließenden vierten Teils (433 – 447). Hier setzt sich Immer insbesondere mit der kontrovers diskutierten Frage auseinander, inwiefern das Verhältnis zwischen Bühnenheld und Zuschauer von Identifikation und Distanz geprägt wird. Dabei zeigt sich, dass die in Schillers ästhetischen Schriften entwickelte Mechanik des Pathetischerhabenen nicht nur das Bühnengeschehen, sondern auch das Verhältnis zwischen Held und Zuschauer bestimmt: Zunächst wird der Rezipient von der illusionären Kraft des dramatischen Geschehens gefangen genommen und emotional in die Bühnenhandlung verwickelt; er fühlt sich sympathetisch in das Leiden des Helden ein. In jenen Augenblicken aber, in denen sich der Held, zumeist im Monolog, über sein Leiden erhebt, vermag sich der Zuschauer vom Bühnengeschehen zu distanzieren und seine Affektverstrickung zu überwinden. Er erlangt eine geistige Freiheit, die der erhabenen Haltung des Helden entspricht. Nikolas Immer hat eine gedanklich weitgespannte und klar argumentierende Studie vorgelegt, deren konzise Ausführungen die komplexe Korrespondenz zwischen dramenpoetischer Anthropologie und wirkungsästhetisch profilierter Psychologie erhellen. Sämtliche Dramenanalysen erwachsen aus einem literarhistorischen Wissensfundus, der sich nicht auf den deutschsprachigen Bereich beschränkt, sondern immer wieder auch gesamteuropäische Perspektiven ein-
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bezieht. Immers Arbeit ist klar disponiert, in ihrer Gedankenführung stets transparent und überaus elegant geschrieben. Auf nahezu heroische Weise trotzt sie der Publikationsflut, die das Schiller-Jubiläum im Jahr 2005 auslöste. Zweifelsohne wird sie die Schiller-Forschung nachhaltig bereichern können. Thorsten Valk, Weimar
Francis Claudon, André Encrevé, Laurence Richer (Hgg.), L’Historiographie Romantique. Actes du colloque organisé à Créteil les 7 et 8 décembre 2006 par les équipes de recherche de l’Université de Paris 12-Val-de-Marne. Paris: Bière, 2007. 285 S. Nach der Lektüre dieses Tagungsbandes stellt man sich als Leser wahrscheinlich die gleiche Frage, die André Encrevé, einer der Herausgeber, in seiner conclusion der gesammelten Beiträge rekapitulierend aufwirft: »S’agit-il d’une historiographie romantique ou historiographie des romantiques?« (285), wobei die erste Variante den für das Kolloquium an sich und in der Folge auch für den vorliegenden Band gewählten Titel darstellt. Diese auf den ersten Blick vielleicht überflüssig oder spitzfindig erscheinende Frage birgt jedoch bei genauerer Betrachtung eine gewisse Problematik, was die Zielsetzung und das Selbstverständnis des Projektes betrifft: Während einige Artikel vom Attribut ›romantisch‹ ausgehen und Charakteristika der entsprechenden geistesgeschichtlichen Epoche in den Werken französischer historiens sowie Romanciers und Philosophen mit historiographischem Interesse nachspüren bzw. deren metahistoriographische Bemerkungen in Bezug zur romantischen Ästhetik setzen (z. B. Labouret und Catel), nehmen andere Beiträge ›romantisch‹ als zeitlichen Orientierungspunkt auf und widmen sich Texten bzw. Autoren, die manchmal nur marginal das im Titel suggerierte Verständnis von ›romantisch‹ streifen (z. B. Rapoport und Schreiber). Letzteres ruft in einem seiner wesentlichen Züge beispielsweise H. Multon in Erinnerung: »Plus qu’une conception du Politique, le romantisme consiste d’abord dans l’affirmation de la vocation universelle de la poésie et du droit absolu de l’individualité créatrice. Son projet est avant tout esthétique [ . . . ]« (142). Auch wenn ein Teil der Beiträge sich mit Theorien und Ideen beschäftigt, die ganz klar Schnittstellen mit der romantischen Programmatik und Ideologie aufweisen (wie z. B. religionsphilosophische Fragestellungen) und zweifelsohne den Geist der Epoche widerspiegeln, bedeutet dies nicht immer, dass auch die Schreibstile der behandelten Autoren als homogen ›romantisch‹ im Sinne eines ästhetischen Ideals zu bezeichnen wären. Abgesehen von dieser terminologischen Verunsicherung besticht die Dokumentation des interdisziplinären Zusammentreffens von Historikern und Literaturwissenschaftlern aus verschiedenen europäischen Ländern inhaltlich durch ein extrem weit gefächertes Spektrum an Thematiken und ›Autoren-
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typen‹, welche in ihrer jeweiligen Persönlichkeit und somit auch écriture historiographique gemäß dem romantischen Ideal vom Universalgenie verschiedene Facetten vereinen und nicht nur als Geschichtsschreiber oder Literaten, sondern auch als Polemiker, Theoretiker, Moralisten, Theologen, politische Agitatoren, Soziologen, Psychologen, Poeten und ›Propheten‹ in Erscheinung treten. Trotz dieser perspektivischen Vielseitigkeit lassen sich thematisch einige große Linien erkennen, anhand derer Encrevé die gemeinsamen Motive und Interessensgebiete der Historiographen wie folgt gruppiert (cf. 282 – 285): Melancholie und Bewusstsein der Vergänglichkeit, letztlich auch von Geschichte (und Geschichtsschreibung) selbst; Funktionalisierung der Geschichte, um über Vergleiche und Analogieschlüsse Kritik an den politischen Verhältnissen der Gegenwart zu üben bzw. Gegenmodelle zu entwerfen; Kritik am aufklärerischen Vernunftsideal und Rückkehr zur Religiosität seitens der christlichen Konfessionen; Aufwertung der Phantasie; Sympathie für das Volk im Spannungsfeld zwischen Universalismus und Nationalismus; Auseinandersetzung mit in der Vergangenheit liegenden Gewalttaten (Religionskriege, Terrorherrschaft). Dennoch sind die Artikel des vorliegenden Bandes nicht nach diesen Kriterien angeordnet, was auch schwer möglich wäre, da die zuvor genannten Gebiete bei der Mehrzahl der vorgestellten Autoren nahtlos ineinander übergehen oder ineinanderspielen. Stattdessen bündelt ein als »Sur le Grand Siècle« betitelter erster Teil (15 – 81) Sichtweisen auf das französische 17. Jahrhundert, die von der grenzenlosen und verschleiernden Bewunderung eines Chateaubriand (vgl. den Beitrag Catels) bis zu den erbarmungslosen Diagnosen von Dekadenz reichen, in denen die Analysen Bonalds oder Michelets münden (vgl. die Artikel von Gengembre und Scholl). Mag es zuerst verwunderlich scheinen, dass sich die ersten drei Beiträge dieser Partie hauptsächlich mit dem 16. Jahrhundert befassen, genauer mit dem im 19. Jahrhundert vorherrschenden Bild von François I, erweist sich dieser zeitliche Rückgriff jedoch als unabdingbar, da die oben genannten Historiographen den Keim des politischen Desasters und allgemeinen Sittenverfalls im ›klassischen Jahrhundert‹ bereits in Entwicklungen zurückliegender Jahrzehnte gesät sehen. Die zweite große Einheit, »Le début du XIXe siècle« (83 – 148), vereint einerseits einige Texte zu extravaganten Einzelprojekten und Visionen, wie Guizots Calvin-Biographie (vgl. den Artikel von Millet), Laponnerayes sozialistisch-agitatorischem Geschichtskurs zur Legitimation von Gewalt in robespierristischer Tradition (vgl. den Artikel von Fureix) oder de Maistres reaktionärer Utopie (vgl. den Artikel von Multon); andererseits stehen in den Beiträgen zu Gibbon und Daunou rezeptionsspezifische Aspekte im Vordergrund. Der dritte, den »historiens« reservierte Teil (149 – 194) gibt Aufschlüsse über die historiographische ›Poetik‹ Thiers’ und über die schwierige Rolle, die bei Quinet die Religion im Verhältnis zur Philosophie und besonders zur Politik einnimmt. Der abschließende vierte Teil, der zahlenmäßig die meisten Beiträge versammelt, untersucht Autoren und Autorinnen des
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19. Jahrhunderts, die sich oftmals selbst zur ›Kunst‹ der Historiographie geäußert haben und deren Beobachtungen zur Geschichte auf ganz unterschiedliche Art und Weise immer auch indirekte ›Autoportraits‹ darstellen. Es liegt auf der Hand, dass die in den einzelnen Partien vorwiegend historischer bzw. literaturwissenschaftlicher Ausrichtung besonders theoretisch und abstrakt ausfallenden Beiträge für die Rezipienten der jeweils anderen Gruppe und natürlich für diejenigen, die mit keiner der beiden Disziplinen enger vertraut sind, relativ schwer verständlich sein könnten. So steht sehr komplexen Ausführungen wie z. B. solchen über das Konzept des organicisme bei Bonald (61 – 72) oder aber der sehr technisch und fachspezifisch gehaltenen Einführung zum Genre der Biographie (vgl. den Artikel Madelénats, 239 – 249) eine Vielzahl allgemeinverständlicher Passagen und gut gewählter Primärzitate gegenüber, die das Kernphänomen der historiographie romantique anschaulich auf den Punkt bringen, wie z. B. ein von B. Jakobs angeführtes Hugo-Zitat: »Ce sera de l’histoire, et on croira lire du roman« (213). Die an Äußerungen dieser Art anschließende, immer wieder fast topologisch formulierte Leitfrage nach dem Balanceakt zwischen Wahrheits- und Objektivitätsanspruch einerseits und literarischer Ausgestaltung und Fiktionalisierung andererseits basiert auf dem für die Geschichtsschreibung der Epoche charakteristischen Spannungsverhältnis zwischen wissenschaftlichem Selbstverständnis und Befriedigung des romantischen Subjektivitätskultes: »La place importante de la littérature dans un récit à prétention historique modifie la substance même de l’écriture de l’Histoire qui devient une construction équivoque qui mêle la recherche documentaire et la véracité objective des faits à une pratique de la fiction, proprement poétique et romanesque, qui tente de faire sortir une vérité d’une autre sorte.« (Catel, 75). Die nicht nur durch die Unterschiedlichkeit der das 19. Jahrhundert vertretenden Schriftsteller, sondern speziell auch durch die verschiedenen ›geistigen Horizonte‹ der Tagungsteilnehmer entstehende Multiperspektivität ist ein nicht zu unterschätzender Vorteil des Bandes. Hierdurch werden mehrfach nämlich gerade die Schwächen der ›romantischen‹ Dichter und Denker aufgedeckt, wie z. B. V. Kapp anhand der schwankenden Haltung Quinets zu Bossuet (cf. 190), oder Gengembre anhand der widersprüchlichen Positionen Bonalds zum Ancien Régime (cf. 65) nachweisen, und damit in letzter Konsequenz die Ambivalenz dieser so schwer zu definierenden Geistesströmung des romantisme selbst. Darüber hinaus macht wiederum die Gegenüberstellung von Blickwinkeln zweier Disziplinen auf ein und dasselbe Phänomen deutlich, wie schwer die historiographie romantique überhaupt zu fassen und zu kommentieren ist. Nehmen wir als Beispiel die beiden den Band eröffnenden Texte zu Michelet, die sich in diesem Kontext perfekt ergänzen. Hebt I. Poutrin, »[e]n historienne de l’Espagne du XVIe siècle« (17), auf tadellose Beweise gestützt die stellenweise fehlerhafte, klischeebehaftete und begrenzte »vision
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négative« (ibid.) hervor, die Michelet vom Spanien des 16. Jahrhunderts vermittelt, antwortet D. Scholl »d’une perspective de littéraire« (29), indem sie das Subjektiv-Visionäre der Schreibweise Michelets in ein anderes Licht rückt: »Vue d’une perspective littéraire, la dimension visionnaire dans l’œuvre de ce grand et puissant écrivain de génie qu’était Michelet peut être comprise comme une allégorie renvoyant à autre chose, à une vérité d’un ordre plus général, détaché de l’histoire.« (44) Insgesamt geht das Verdienst dieses Buches definitiv über die selbstkritisch und bescheiden im Vorwort formulierte Erwartungshaltung Chalines hinaus: »Sortir un peu du cadre national, et notamment ici franchir le Rhin, aide à mesurer les limites de cette historiographie romantique à la française dont le succès durable, mais lié à des qualités autres qu’historiques, retardera d’autant la prise de conscience de notre retard en cette discipline [ . . . ]« (13). Denn es werden keineswegs allein die Mängel, sondern – man denke an das Einfließen individueller und sozialer Komponenten in die Geschichtsschreibung oder an die Ästhetik des Fragmentarischen – vor allem das moderne Potential der romantischen Geschichtsschreibung à la française offensichtlich. Zuletzt sei erwähnt, dass das Lektürevergnügen an wenigen Stellen durch eine Häufung von typographischen Ungereimtheiten (84 – 99) und kleine Uneinheitlichkeiten beim Einrücken längerer Zitate getrübt wird (z. B. 112 – 13). Annika Krüger, Köln Christoph Bode, Selbst-Begründungen. Diskursive Konstruktion von Identität in der britischen Romantik I: Subjektive Identität. Trier: WVT, 2008. 291 S. Bereits zu Beginn der 1980er hatte Hiltrud Gnüg die Entstehung (und Krise) der lyrischen Subjektivität in der deutschen Literatur seit dem jungen Goethe nachgezeichnet und war zu der These gelangt, dass »die Herausbildung lyrischer Subjektivität mit dem ästhetischen Autonomieprinzip des bürgerlichen Individuums einhergeht«.1 Stellte in der Anglistik eine solche Entwicklungsgeschichte des lyrischen Ichs seit dem späten 18. Jahrhundert bislang ein Desiderat dar, so hat es sich Christoph Bode nun zur Aufgabe gemacht, in einer auf zwei Bände angelegten Studie die Konstruktionen von subjektiver und nationaler Identität in Dichtung und Reisetexten der britischen Romantik sichtbar zu machen. Eingedenk der Problematik, dass lyrische Selbst-Begründungen bereits in den Sonetten Shakespeares, in den sowohl weltlichen als auch geistlichen Ge1 Hiltrud Gnüg, Entstehung und Krise lyrischer Subjektivität vom klassischen lyrischen Ich zur modernen Erfahrungswirklichkeit (Stuttgart 1983), 3.
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dichten John Donnes und George Herberts in Ansätzen vorhanden sind, konzentriert sich der nun vorliegende erste Band – neben Charlotte Smith – auf die kanonischen Vertreter der romantischen Lyrik: Wordsworth, Coleridge, P. B. Shelley, Keats und Byron. In der Einleitung, die in der Anlehnung ihrer Diktion an Luhmann und Foucault oder in der fragwürdigen Ricœur’schen Unterscheidung von idem- und ipse-Identität die Lektüre unnötig erschwert, geht Bode von der Prämisse aus, dass romantischen Texten eine »Inszenierung von gesteigerter und ins Auge stechender Autoreferentialität« (11) zugrunde liegt, dass aber nach dem Verlust der transzendenten Verankerung der Literatur die vielfältigen Konstruktionen von Identität stets von einer vexatorischen Instabilität, weil »kontingent und paradoxie-beladen« (10), sind. Wie Bode zurecht bemerkt, sind die flüchtigen Inszenierungen von Subjektivität in den romantischen Gedichten am Ende nur Spuren, die dem Interpreten mehr als deutlich seine Unzulänglichkeit aufzeigen, das Subjekt jenseits seiner vermittelten Form und seiner self-fashionings zu erfassen. Hat der Leser das unzugängliche Dickicht des theoretischen Einleitungsteils hinter sich gelassen, so wird er dann aber belohnt durch ein tiefgreifend subtiles close reading ausgewählter Texte, das das enge Verhältnis der Romantiker zur Aufklärung erhellt, aber auch die religiöse Surrogatfunktion von neuzeitlicher Literatur hervorhebt. Bereits M. H. Abrams hatte in seiner richtungsweisenden Studie Natural Supernaturalism (1971) in bezug auf Wordsworths Monumentalgedicht The Prelude von »a secular theodicy – a theodicy without an operative theos« gesprochen.2 Von diesem Befund ausgehend zeigt Bode das revolutionär Moderne dieses Textes auf, wenn er darlegt, dass Miltons Paradise Lost als Prä-Text nun eine neue Dimension des Erhabenen gegenübergestellt wird: jene »Abgründe, die sich auftun, wenn man in sich selbst hineinschaut« (22). Obgleich Wordsworth in der Wahl seiner ekklesiastischen Metaphorik The Prelude die Bedeutung einer »ante-chapel« im Kontext einer noch zu errichtenden Kathedrale aus Worten (The Recluse) zuschreibt, so steht für Bode fest, dass es in diesem Gedicht »keinen absoluten Bezugsrahmen« (27) mehr gibt und dass die im Text gestellte Sinnfrage (»Was it for this?«) in dem moralischen Versagen gründet, seine Privilegiertheit (»I was a chosen son«; III, 82) nicht durch eindrucksvolle Taten unter Beweis gestellt zu haben. Hatte sich in der Folge von Byrons Widmungsgedicht zum Don Juan der Eindruck verfestigt, dass Wordsworth zu einer Phalanx von reaktionären Dichtern gehört, die in ihren Werken selbstgefällig dozieren (»[to give] a sample from the vasty version / Of his new system to perplex the sages«), so präsentiert Bode den Lake Poet nicht nur als experimentierfreudigen »Gattungs2 M. H. Abrams, Natural Supernaturalism. Tradition and Revolution in Romantic Literature (New York / London 1971), 95.
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mischer« (38), sondern vor allem als epistemologischen Erneuerer, der den Mythos von der romantisch beseelten Natur einer Dekonstruktion unterzieht. Im Gegensatz zu Coleridge, der in der Natur die Signatur Gottes zu sehen glaubt, stellt Bode Wordsworth als einen Dichter dar, der in der radikalen »Redefinition des Subjekt-Objekt-Verhältnisses« (48) die Natur als imaginiertes Resultat des Subjekts begreift. Diesen Befund untermauert Bode eindrucksvoll dadurch, indem er beschreibt, wie Wordsworth eine »systematische Vertauschung des Blickpunktes und der Position des Subjektes im Raum« (46) vornimmt. So lässt sich an mehreren Beispielen zeigen, dass Wordsworths Subjekt auffallend oft oben postiert ist und – anders als das von der Sublimität affizierte Individuum – auf die Dinge herabschaut und sie der Macht seiner Imagination unterwirft. Gerade die Mount Snowdon-Passage, in der das lyrische Ich, gleich C. D. Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer, auf den vom Mond beschienenen »huge sea of mist« herabblickt, wird somit zur krönenden »Apotheose des menschlichen Bewusstseins« (58). Doch in der von Bode vorgenommenen Juxtaposition von Wordsworth als dem Chronisten der »Vergöttlichung der Subjektivität« (63) und Coleridge als dem Entzifferer einer a priori vorhandenen metaphysischen Symbolsprache liegt auch die Gefahr eines Schematismus, der den Blick auf die Krisenhaftigkeit und Problematik der vielfältigen romantischen Selbst-Begründungen verstellt. Blickt man auf das von Bode nicht behandelte Gedicht ›Dejection. An Ode‹, so erkennt man, dass Coleridges leap of faith, seine Suche nach göttlicher Präsenz (114) nicht frei von Zweifeln war. Wenn er seiner Adressatin mitteilt, dass die Natur ihre Animation nur dem Subjekt verdankt – »in our life alone does nature live / Ours is her wedding-garment, ours her shroud!« (Z.48 f.) – und dass die tote, kalte Welt nur durch die selbstgenerierte Stimme des menschlichen Geistes (»of its own birth;« Z.57) belebt werden kann, so ist hier nicht nur eine Übereinstimmung mit dem Weltentwurf Wordsworths, sondern auch mit dem Byrons zu konstatieren. Im IV. Canto von Childe Harold’s Pilgrimage stellt der Sprecher des Epos die Frage nach den Quellen der Inspiration, nach dem Formenreservoir, aus dem der Künstler schöpft: »Where are the forms the sculptor’s soul hath seized?« (Z. 1092). Die Antwort lautet: »In him alone« (Z. 1093). In dem kurzen, Lord Byron gewidmeten Kapitel verweist Bode zurecht nicht nur auf die Heterogenität der Sprecherfiguren im Werk Byrons, sondern auch auf die Tatsache, dass die »diskursive Verfertigung des Subjektes« den Rahmen des Textkorpus überschreitet (117) und letztlich in einem Subjekt auflösenden Ventriloquismus mündet. Schon Matthew Arnold hatte erkannt, dass Byrons Gedichte letztlich ein »pageant of his bleeding heart« (›Stanzas from the Grande Chartreuse,‹ Z.136), ein histrionisches Ereignis darstellen, in dem die Unterscheidung zwischen Inszenierung und Wirklichkeit epistemo-
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logisch unmöglich wird. Die ständig neuen und spektakulären Selbstdramatisierungen, mit denen Byron sich jeder Festlegung entzieht, nennt Bode einen »Häutungs- oder Ersetzungsprozess« (134). Es ist zugestandenermaßen irritierend festzustellen, wie sehr Byron die Identität des Subjektes zu leugnen scheint und im Vorgriff sowohl auf Oscar Wilde als aber auch auf Luigi Pirandellos Maskentheater »die Wahrheit der Maskerade als einziger Wahrheit« (143) feiert. Bei aller Divergenz, so kann man aber nicht umhin festzustellen, dass nicht nur zwischen Cain und Manfred, sondern auch zwischen dem Sprecher des IV. Cantos des Childe Harold und dem des Don Juan insofern ein Konsens besteht, als in den dramatischen und epischen Werken, ungeachtet aller poetologischen Unterschiede, die Sinnlosigkeit und Absurdität der conditio humana in prägnanten Bildern vorgestellt wird. Hatte Bode bereits in der Diskussion der blind beggar-Episode in Wordsworths Prelude die »Dissoziation von Schreibendem und Beschriebenem« (69), die Inkongruenz von Subjekt und Text unterstrichen, so ist das Chamäleon ›Byron‹ sowohl in seiner SubjektAssemblage als auch in seinem düsteren Nihilismus möglicherweise konsistenter als Wordsworth, der in seiner 1805 verfassten ›Ode to Duty‹ von der egozentrischen Apotheose seines Geistes Abstand nimmt und nun – in echter oder gespielter Demut? – um den »spirit of self-sacrifice« bittet. Wie komplex, aber auch faszinierend es ist, die Spuren der Subjekt-Konstitution bzw. –Konstruktion zu verfolgen, zeigen dann auch die Kapitel über Keats und P. B. Shelley. Während Keats als der romantische Dichter vorgestellt wird, der durch die Anwendung der negative capability das subjektlose Schreiben anstrebt und in der ›Ode to a Nightingale‹ sogar eine auf Gottfried Benns »Stirnzerfluss« vorgreifende »Bewusstseinsauflösung oder -abtötung« (214) erwägt, wird Shelley als ein weiterer, Werte umwertender Ikonoklast der Romantik beschrieben. Statt als eine seelenerweiternde Erfahrung göttlicher Allmacht im Sinne Ann Radcliffes erlebt das romantische Subjekt in Shelleys ›Mont Blanc‹ die Sublimität der Natur als eine dem Ich gegenüber indifferente Gewalt, die nur mit Kants Kategorie des Mathematisch-Erhabenen begriffen werden kann. Ohne auf die Pluralität der Stimmen im Werke Shelleys näher einzugehen, die nicht nur in dem Epicedium auf Keats, Adonais, den Dichter (auch) als einen Idealisten ausweist, fokussiert Bode die Stellen in Shelleys Naturbeschreibung, die die unüberbrückbare Dichotomie zwischen Mensch und Natur betonen und, wie in der Dichtung Leopardis, den Menschen weniger als Beherrscher denn als Spielball der grausamen Natur enttarnen. Shelleys Tendenz zur »Selbsterniedrigung« und »Selbstvernichtung« (181) demonstriert Bode schließlich auch an der ›Ode to the West Wind.‹ Das in seinem erflehten ikarischen Höhenflug gescheiterte Subjekt (»I fall upon the thorns of life! I bleed!«) bittet am Ende des Gedichtes nicht nur um die »Löschung [seiner] Selbstheit« (182), sondern auch um seine Transformation in ein Objekt, in ein
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Instrument (»a lyre«), in welches aber – als deutliches Zeichen seiner Singularität – nur der privilegierte und ingeniöse Dichter verwandelt werden kann. Doch auch dieses am Ende der Romantik auftretende Paradoxon von Selbstnegierung und Selbstüberhöhung kann kaum verhehlen, dass auch Shelleys Icherfindung als politischer Dichter, als »trumpet of a prophecy« letztlich ein diffuser Idealismus zugrunde liegen muss. Bodes Studie wirft nicht nur neue, zuweilen auch kontroverse Schlaglichter auf die Vertreter der britischen Romantik, sie gibt auch willkommenen Anlass, Positionen zu überdenken, in alt bekannten Texten neues Bedeutungspotential zu finden und die Romantik als eine radikale Vorstufe zur Moderne zu sehen. Da das vorliegende Buch sich immer wieder mit Positionen aus der schier unüberschaubaren Forschungsliteratur zur britischen Romantik auseinandersetzt (und hier kennt Bode sich wie kaum ein anderer vorzüglich aus), ist es um so bedauerlicher, dass so manche hier angestoßene Kontroverse nicht fortgesetzt werden kann, da der Text in deutscher Sprache verfasst ist und somit einem internationalen Publikum unerklärlicherweise vorenthalten bleibt. Nicht nur für den Folgeband, sondern auch für weitere Studien in diesem Kontext sollte man die Publikationsstrategie dringend überdenken. Norbert Lennartz, Würzburg Sandra Heinen, Literarische Inszenierung von Autorschaft: Geschlechtsspezifische Autorschaftsmodelle in der englischen Romantik [ELCH 17], Trier: WVT, 2006. 311 S. Im Zentrum der vorliegenden Dissertation steht die »Rehabilitierung des Autors als einer für die Literaturwissenschaft relevanten Größe« (6). Den programmatischen Ausgangspunkt dieser theoretisch aufwändig unterfütterten Arbeit bildet Roland Barthes’ diskurstheoretischer Schlüsseltext »Der Tod des Autors« (1968). Diesen unterzieht Heinen zu Beginn ihrer Einleitung I (1 – 23) im Unterkapitel »Problemstellung: Die Rückkehr des Autors in die Literaturwissenschaft und seine Relevanz für eine kulturwissenschaftlich orientierte Narratologie« (1 – 10) einer erneuten kritischen Lektüre. Geleitet durch die Einsicht, dass »Inszenierungen von Autorschaft [ . . . ] nicht einfach Spiegel bestehender Diskursordnungen [sind]« (7), wählt Heinen, gestützt auf Roland Posners Kulturmodell, einen kultursemiotisch profilierten Ansatz. Mit der Maßgabe, die »Verkettung von Ästhetik, Ökonomie, Jusrisdiktion und Geschlechterdiskurs im Konzept literarischer Autorschaft genauer zu kartographieren« (8), werden neben William Wordsworth, wie es salopp heißt, »stellvertretend für die ›big six‹ [ . . . ] Blake, Wordsworth und Coleridge, sowie Keats, Shelley und Byron« (21), die literarischen Werdegänge von Anna Laetitia Barbauld, Felicia Hemans und Mary Robinson untersucht. Zielführend ist dabei
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»die Frage nach den Bedingungen von Autorschaft und ihrer Inszenierung um 1800« (20). In Kapitel II »Entwicklung eines Modells zur Beschreibung der Inszenierung von Autorschaft« (24 – 63) wird, ausgehend von dem aus der Dramentheorie stammenden Inszenierungsbegriff, ein aufwändiger kommunikationstheoretisch angelegter Bezugsrahmen entworfen. In der Weiterentwicklung aktueller Forschungen zur Performanz konzeptualisiert Heinen Inszenierungen von Autorschaft als »intentionale Selbstdarstellungen von Künstlern in ihrer Rolle als Urheber von Literatur, die sich an ein Publikum richten und eine spezifische Wirkung anstreben, die mit Blick auf den Einzelfall zu bestimmen ist« (31). Darüber hinaus wird das von Wayne C. Booth eingeführte, mitunter sehr umstrittene Konzept des ›impliziten Autors‹ mit Hilfe rezeptionsästhetischer Erkenntnisse modifiziert und fruchtbar gemacht. Ferner begreift Heinen die leserseitige Konstruktion eines Autorbildes mit Foucault als eine »Rezeptionskonvention« (43), die gleichermaßen auf der Wahrnehmung, (Zu)Ordnung und Bewertung textueller, paratextueller und kontextueller Parameter beruht (cf. 46 – 47). Die Synthese der genannten Analysekriterien erfolgt dann im Rückgriff auf Hans-Georg Gadamers Modell des hermeneutischen Zirkels (cf. 52 – 45). Problematisch für den vorliegenden Ansatz ist weniger das von Heinen intensiv diskutierte Gadamer’sche Verständnis von ›(Vor)Verstehen‹, sondern vielmehr der im philosophischen Fundament der Hermeneutik durch Martin Heidegger begründete (ontologische) Wahrheits-, Homogenitäts- bzw. Universalitätsanspruch. Gerade weil die Arbeit wiederholt auf die »Dynamik und Historizität des Konstruktionsprozesses« (57) von Autorschaft hinweist, ruft eine derartige methodologische Positionierung unwillkürlich die widersinnige Vorstellung von einem ›wahrhaften‹, sprich kohärenten ›AutorbildKonstrukt‹ hervor. Hinsichtlich der (Er)Lesbarkeit von Autor-Identitäten hätte sich z. B. der Klassiker von Ernst Kris und Otto Kurz, Die Legende vom Künstler: Ein geschichtlicher Versuch (1979), für eine historisch-revisionistische Behandlung des Konzepts von Autorschaft angeboten. Ferner ist hinsichtlich der im Titel angekündigten geschlechtsspezifischen Perspektive anzumerken, dass diese – paradoxer Weise – einseitig mit Weiblichkeit assoziiert wird, da Heinen durchaus bewusst ist, dass »insbesondere die Gender Studies [ . . . ] Geschlechterrollen nicht als eine reine Frauenfrage, sondern als ein Phänomen mit gesamtgesellschaftlicher Relevanz betrachten« (137). Zum Auftakt des massiven Analyseteils, Kapitel III »Inszenierungen von Autorschaft um 1800« (64 – 275), setzt sich die Studie mit der »1. Inszenierung von Autorschaft bei William Wordsworth« (64 – 136) auseinander. Den Ausgangspunkt bildet die thesenhaft formulierte Einsicht, dass »Wordworths [ . . . ] ›Natürlichkeit‹ nicht mehr als Wesenszug seiner Person oder Dichtung verstanden werden [kann], sondern vielmehr als das Ergebnis einer vielschichti-
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gen Selbstinszenierung« (64). In drei Schritten, »1.1 Wordsworths Inszenierung der eigenen Dichterrolle« (65 – 77), »1.2 Die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Dichter und Dichtung bei Wordsworth« (78 – 91) und »1.3 Wordsworths Darstellung seiner Person« (91 – 105) rekapituliert sie zunächst anhand der erneuten Lektüre zu erwartender Texte, darunter The Prelude, unterschiedliche Versionen des »Preface«, die Fenwick Notes, sowie die (Lang)Gedichte »Composed upon Westminster Bridge«, »Tintern Abbey«, »Ode: Initimations of Immortality« und »Michael«, im Wesentlichen bereits Bekanntes. In zwei weiteren Abschnitten, »1.4 Das Funktionspotential von Wordsworth« (105 – 130) und »1.5 Zur Repräsentativität von Wordsworth« (130 – 136), unternimmt Heinen zunächst den Versuch, Wordsworths autoritative Selbstinszenierung in einen historisch-institutionellen Kontext zu stellen, wobei sie deren Erscheinungsformen nach einem »ästhetische[n]« (123), »rhetorische[n]« (126) und »ökonomische[n] Funktionspotential« (127) unterscheidet. Anschließend wird dessen Ausnahmestellung innerhalb der Romantik in Abgrenzung zur poet(log)ischen Selbstverortung von John Keats diskutiert. Gerade in diesem Zusammenhang wäre aus gender-spezifischer Sicht die Frage nach unterschiedlichen Männlichkeitsentwürfen vielversprechend gewesen. Im folgenden Unterkapitel III,2 »Der literarische Diskurs im Spannungsfeld der Diskursformation um 1800: Das Zusammenspiel von Autorschaft und gender« (137 – 153) dient Wordsworths patriarchale Modellkarriere als eine Art (Negativ)Folie für die Untersuchung weiblicher Autorschaft. Im Rahmen der Unterkapitel »2.1 Die (Neu-)Ordnung der Geschlechter um 1800: Die Entwicklung des Zwei-Geschlechter-Modells« (139 – 148) und »2.2 Die Abhängigkeit weiblicher Autorschaft von der soziokulturellen Ordnung der Geschlechter: Restriktionen durch das Zwei-Geschlechter-Modell« (148 – 153) bemüht sich Heinen um eine sozio-kulturelle Einordnung; anstelle dieser – durchaus legitimen – nachgeordneten Zusammenschau bestehender Forschungsergebnisse wäre das Herausfiltern geschlechtsspezifischer Kriterien und deren Einbindung in das zu Beginn entworfene relationale Analysemodell der Tiefenschärfe der Untersuchungen durchaus nicht abträglich gewesen. Die in den Unterkapiteln »2.3 Anna Laetitia Barbauld zwischen Konformität und Grenzüberschreitung« (154 – 187), »2.4 Felicia Hemans als Idealbild weiblicher Autorschaft« (188 – 226) und »2.5 Transgression: Inszenierung von Autorschaft bei Mary Robinson« (227 – 275) vorgelegten Untersuchungen erweisen sich aufgrund einer geschickten Verbindung einschlägiger Selbstzeugnisse mit durchweg einfühlsamen und gelungenen Analysen weiblicher Sprecher- bzw. Reflektionsinstanzen basierend auf einer umfassenden Auswahl von Gedichten als sehr ertragreich. Das im Schlusskapitel IV. »Geschlechtsspezifische Differenzierung und Diachrone Entwicklung der Inszenierung von Autorschaft; Zusammenfassung und Ausblick« (276 – 283) formulierte Fazit, dass »sich die männlichen
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Romantiker umfassender [inszenieren] als ihre Kolleginnen« (277) ist durchaus nachvollziehbar und haltbar. Ohne die theoretisch-methodische Leistung der Arbeit schmälern zu wollen, bleiben jedoch begründete Zweifel am Potential des vorgelegten Analysemodells – insbesondere was die angeregte Übertragung auf andere Gattungen (cf. 283) anbelangt. Ines Detmers, Chemnitz René Sternke, Böttiger und der archäologische Diskurs. Berlin: Akademie Verlag, 2008. 598 S. Den Gegenstand der Untersuchung bildet nicht die Archäologie, sondern der europäische archäologische Diskurs um 1830. Das ergibt sich aus der Methode, die als an Foucault orientierte Diskursanalyse angelegt ist, beginnend mit der Ermittlung des Objektes und des Subjektes des Diskurses. Die Materialgrundlage ist der Briefwechsel zwischen dem französischen Archäologen Desiré Raoul-Rochette und Karl August Böttiger, ergänzt durch zeitgenössische Quellen- und Sekundärliteratur. Bei der Untersuchung des Diskurses geht es auch um das Verhältnis von Archäologie und Philologie, nämlich bei der philologischen Erschließung textlicher Quellen als Ergänzung zur monumentalen Überlieferung und ihrer Bedeutung für die Archäologie. Die Abgrenzung zwischen Archäologie und Philologie und die daraus entstandenen Streitigkeiten werden ausführlich und detailliert dargestellt. Dabei zeigen sich die Unterschiede in der Differenzierung in Deutschland und Frankreich; während in Deutschland in beiden Disziplinen übereinstimmend die Archäologie als Bestandteil der Philologie angesehen werde, entwickele sich in Frankreich die Archäologie in größerer Unabhängigkeit von der Philologie. Die von französischen und deutschen zeitgenössischen Gelehrten in Werken, Fachzeitschriften und Briefen geführte Debatte und deren unterschiedliche Interpretation in der Forschung wird mit allen Facetten vorgestellt, von persönlicher Konkurrenz bis zu politischer Motivierung, so dass »eine progressive liberale Philologie« und »eine reaktionäre restaurative Archäologie« als Gegensätze gesehen werden (387). Für Böttigers Einschätzung der Auseinandersetzung scheint der Rezensentin eine briefliche Äußerung wichtig, in der er »die Tatsache bedaure, dass ein solcher Kampf überhaupt stattfindet« (390). Zu dieser Haltung stimmt Sternkes als Vermutung vorgetragene Ansicht Böttigers, dass »sich diejenigen Philologen, die sich mit den Monumenten beschäftigen, und diejenigen, die sich mit den Texten beschäftigen, d. h. die Philologen im engeren Sinne, innerhalb eines und desselben Diskurses, nämlich der Philologie, spezifische Funktionen zu erfüllen« hätten (395). In dem Kapitel über Ludwig Tiecks »Vogelscheuche« sowie Böttigers Anregung für eine Umwandlung des Goethehauses am Frauenplan nach Goethes Tod in ein Goethe-Museum sind insbesondere Germanisten angesprochen. Tiecks Novelle, die bisher als Personalsatire auf Böttiger ange-
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sehen wurde, wird von Sternke als Parodie auf den archäologischen Diskurs und auf hermeneutische Diskurse überhaupt interpretiert. Die beiden im Anhang abgedruckten Artikelserien Böttigers: »Goethes Tod« und »Nach Goethes Tod« und deren Interpretation in einem Kapitel mit der Überschrift »Das Goethehaus als Realisierung von Karl August Böttigers Archäologie der Gegenwart« beleuchten das Problem Goethe-Rezeption und / oder Goethe-Apotheose. Böttigers Idee und Vorschlag für ein Goethe-Museum ist bei einer Beurteilung des gespannten Verhältnisses zwischen Goethe und Böttiger zu beachten. Die bekannte Abneigung Goethes gegen Böttiger hat dazu geführt, dass Böttiger in der Literaturgeschichte als Gegner Goethes gilt. Das ist aufgrund von Sternkes Darlegungen zu revidieren. In einem kurzen und komprimierten Rück- und Ausblick weist Sternke auf eine Parallele der in seiner Untersuchung betrachteten Epoche zu unserer Zeit hin, von der Situation der Geisteswissenschaften, der Rolle und Funktion der Editionen bis hin zum Wissenschaftssystem unserer Zeit. Von der Beobachtung ausgehend, wie aus einer Wissenschaft von den Worten eine Wissenschaft von den Dingen entstehe, schlägt Sternke einen Bogen zur gegenwärtigen Realität und deren Problemen mit der jüngsten Vergangenheit, in dem andeutend ein Anspruch aufleuchtet, der auf einen über die Archäologie und die Philologie hinausreichenden Erkenntnisgewinn zielt. Hervorheben möchte die Rezensentin das detaillierte Inhaltsverzeichnis mit seinen aussagekräftigen Kapitelüberschriften. Diese, zusammen mit dem Brief-, Literatur- und Namenverzeichnis, erschließen die interdisziplinäre Abhandlung Forschern mit unterschiedlichen Interessen und ermöglichen ihnen, durch gezielte, ausgewählte Lektüre neue Erkenntnisse. Jedoch nicht nur solche unter speziellen Forschungsinteressen ausgewählte Lektüre ist dem Buch zu wünschen, sondern eine zwar nicht immer mühelose, jedoch durchaus lohnende Lektüre des gesamten anspruchsvollen, umfangund inhaltsreichen Werkes, bei der Germanisten, Romanisten, Kultur-, Kunstund Literaturwissenschaftler neue Erkenntnisse sowie Anregungen für neue Aspekte und Schwerpunkte der Forschung gewinnen können. Brigitte Leuschner, Berlin Angela Barwig, Thomas Stauder (Hgg.), Intellettuali italiani del secondo Novecento. München: Oldenbourg, 2007. 550 S. Wer oder was ein Intellektueller ist, ist kaum leichter zu beantworten als die Frage, wer oder was ein Künstler ist. In ihrem ausführlichen Vorwort konstatieren die Herausgeber, dass es einen allgemeinen europäischen Konsens gebe, in Emile Zola den ersten modernen Intellektuellen zu sehen und seinen offenen Brief »J’accuse«, mit dem er in der Dreyfus-Affäre Stellung bezog, als beispielhaft für das öffentliche Engagement des Intellektuellen zu werten. Relativiert wird dieser Konsens allerdings beispielsweise durch Norberto Bobbio, der da-
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rauf verweist, dass es Intellektuelle schon immer gegeben habe, da zu allen Zeiten neben den ökonomischen und politischen auch ideologische Kräfte gewirkt hätten. Welch unterschiedliche Vorstellungen von einem Intellektuellen bestanden – und noch bestehen – und wie verschieden die Anforderungen an ihn ausfallen, wird an der überblickshaften Zusammenstellung von Äußerungen Platons, Kants, Alexis de Tocquevilles, Romain Rollands, Julien Bendas, Karl Mannheims, Antonio Gramscis, Elio Vittorinis, Umberto Ecos und anderer zu diesem Thema deutlich. Wie groß die Nähe der Intellektuellen zur Politik sein soll oder darf, wie weit intellektuelles Engagement ins politische Tagesgeschehen eingreifen und Intellektuelle professionelle Politiker werden oder sich eine vorurteilslose Unabhängigkeit bewahren sollen, ist und bleibt umstritten. Die Offenheit des Terminus »Intellektueller« erlaubt es den Herausgebern, Beispiele aus verschiedensten Bereichen aufzunehmen, was sie zudem im Hinblick auf eine kulturwissenschaftliche Perspektive begründen, die die Gesamtheit der kulturellen Aktivitäten zu einer bestimmten Zeit in den Blick nehme. Ein »Dizionario Enciclopedico degli Intellettuali Italiani« – nach dem Vorbild des französischen Dictionnaire des intellectuels français – zu erstellen, war nicht das Ziel der Herausgeber, sondern eine, wenn auch nicht vollständige, so doch repräsentative Zusammenstellung italienischer Intellektueller der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorzulegen. Dafür, dass dabei der eine oder andere Name fehlen mag, der dem einen oder anderen Leser unentbehrlich zu sein scheint, entschuldigen sich die Herausgeber gar. Die Anordnung der 25 Beiträge erfolgt nach den Berufen, in denen sich die Intellektuellen ihr »symbolisches Kapital« (Bourdieu) erworben haben. In der umfänglichsten Kategorie »Scrittori come intellettuali« findet man Leonardo Sciascia, Pier Paolo Pasolini, Edoardo Sanguineti, Nanni Balestrini, Dario Fo, Claudio Magris, Antonio Tabucchi, Pier Vittorio Tondelli, Gianni Celati, Clara Sereni, Marcello Fois, Carlo Lucarelli, Guido Conti und Leonardo Cozzoli, während die weiteren Kategorien wesentlich weniger, oft nur einen Vertreter umfassen: so firmieren unter »Una traduttrice come intellettuale« Fernanda Pivano, unter »Filosofi come intellettuali« Giorgio Agamben und Massimo Cacciari, unter »Un semiologo come intellettuale« Umberto Eco, unter »Un ex leader della sinistra extraparlamentare come intellettuale« Adriano Sofri, unter »Un pittore come intellettuale« Renato Guttuso, unter »Compositori come intellettuali« Luciano Berio und die Cantacronache, unter »Registi come intellettuali« Francesco Rosi, Giuseppe Ferrara, Renzo Martinelli, Marco Bellocchio und Marco Tullio Giordana, und zuletzt unter »Una scienziata come intellettuale« Rita Levi Montalcini. Dass für Eco eigens die Klassifizierung als Semiologe gewählt wurde, erscheint etwas eigenartig, insbesondere mit Blick auf Magris und Tabucchi, die beide in die Rubrik »Schriftsteller« eingereiht wurden mit der Begründung der Herausgeber, dass sie einem großen Publikum vor allem als solche bekannt sei-
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en, was ja nicht minder für Eco zutrifft. Auf den letzten 19 Seiten des Vorworts werden die einzelnen Beiträge nacheinander vorgestellt, was angesichts der »Abstracts«, die sich in alphabetischer Reihenfolge der Verfasserinnen und Verfasser am Ende des Buches befinden, eine gewisse überflüssige Doppelung ergibt. Hier stellt sich auch die Frage nach dem Adressatenkreis des Bandes. An wen richtet sich ein Buch mit italienischem Titel, das Beiträge in italienischer, deutscher und englischer Sprache (und als Kuriosum einen deutschen Text mit italienischem Titel) sowie ausschließlich italienische »Abstracts« enthält? – wohl hauptsächlich an ein deutsches, italianistisch gebildetes Publikum, da ein italienisches die deutschen Beiträge kaum zu rezipieren vermag; dann allerdings hätten die Herausgeber ihr Vorwort und alle deutschsprachigen Autorinnen und Autoren ihre Beiträge in ihrer Muttersprache verfassen können. Liest man die einzelnen Artikel, wird schnell deutlich, dass zum einen der Begriff des Intellektuellen sehr unterschiedlich ausgelegt und der Aspekt des öffentlichen Engagements nicht als definitorisch angesehen wird, zum anderen die Präsentation der Intellektuellen auf ganz verschiedene Art geschieht, einmal mehr das Biographische, ein andermal eher das Œuvre oder auch das Wirken in der Öffentlichkeit im Mittelpunkt steht. Einige Beiträge zeichnen sich durch eine profunde Kenntnis der Werke und eine souveräne Gesamtschau aus, andere sind biographisch und anekdotisch orientiert, einige enthalten vorbildliche Einzeltextinterpretationen, andere geben einen Überblick über Leben und Werk der gewählten Persönlichkeiten. Auf diese Weise entsteht ein reichhaltiges, wenn auch etwas heterogenes Panorama des italienischen Geisteslebens in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Bestehen bleibt aber die Frage, was einen Intellektuellen unserer Zeit eigentlich ausmacht: Ist es die Präsenz in den Medien, die Stellungnahme zu sozialen und politischen Problemen der Zeit im öffentlichen Kontext, oder ist ein Intellektueller auch ein Schweigsamer, Zurückgezogener, dessen Werk gekennzeichnet ist durch die Auseinandersetzung mit diesen? Welcher Bekanntheitsgrad, welches symbolische Prestige muss erreicht sein, um als Intellektueller wahrgenommen zu werden; und von wem muss er wahrgenommen werden, von der Öffentlichkeit oder von Einzelnen, Kennern, Spezialisten? Betrachtet man das Inhaltsverzeichnis des Bandes im Hinblick auf die quantitative Verteilung auf die genannten Kategorien, scheinen Schriftsteller, vor allem Romanschriftsteller, geradezu zum Intellektuellen prädestiniert zu sein. Kämen die Autorinnen und Autoren der Beiträge jedoch nicht mehrheitlich aus der Literaturwissenschaft, fiele die Gewichtung vielleicht ganz anders aus. So wünschte man sich am Ende doch, die Herausgeber hätten den Begriff des Intellektuellen im Hinblick sowohl auf Italien als auch auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts so weit geklärt und eingeschränkt, dass die Kriterien der Aufnahme in diesen kulturgeschichtlich interessanten Band leichter erkennbar wären. Susanne Winter, Salzburg
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Conrad in Germany, ed. and introd. Walter Göbel, Hans Ulrich Seeber, Martin Windisch (Hgg.) [Conrad: Eastern and Western Perspectives, XVI], Boulder: East European Monographs, Lublin: Maria Curie-Skłodowska, New York: Columbia University Press, 2007. 240 S. The present volume answers to a »resurgence of interest in the reception of Conrad’s works in German-speaking countries« (6). Unlike two other recent monographs looking at the literary reception of Conrad in German,1 Conrad in Germany – originating in a workshop held at the University of Stuttgart in 2002 – offers an abstract of (mostly) current academic German Conrad research. Twelve chapters, excluding the »Introduction« (1 – 7) by the editors, fill three sections: The four chapters of Part I, »Receptions and Translations«, include Laurenz Volkmann’s survey article on Conrad-research in German since the 1920s (11 – 34), followed by Bärbel Czennia’s assessment of changing strategies in several German translations of »Heart of Darkness« (35 – 68), Herbert G. Klein’s detailed account of a German film adaptation of Conrad’s Victory (69 – 82), and Martin Windisch’s intertextual study of Urs Widmer’s postmodern rewriting of »Heart of Darkness«, Im Kongo, complete this first section (83 – 103). Five essays in Part II scrutinize Conrad’s works, specifically »Heart of Darkness«, in the light of »Modernism and its Discontents«, i. e. in their significance as paradigmatic examples of specifically modernist writings. Walter Göbel’s »The Birth of Modernism in the ›Heart of Darkness‹« (107 – 122) discusses the specifically modernist features of the text, setting it apart from realist or impressionist writing techniques. Wolfgang Klooss, in »›Through the Eyes of Colonialism‹ : Joseph Conrad’s ›Heart of Darkness‹ and Its Metaphors« (123 – 152, the revision of an earlier paper), takes up the theme of colonialism, anticolonialism and Conrad’s attitudes towards the imperialistic expansion of the British Empire, his assumptions matching, in various details, with those presented by Bernhard Reitz in his account of »Conrad’s Vision of London« (203 – 222). In »Surface as Suggestive Energy: Fascination and Voice in Conrad’s ›Heart of Darkness‹« (153 – 173), Hans Ulrich Seeber comments on the relation of Marlow and Kurtz, and discusses the relation in terms of the arguable auratic charisma of a character like Kurtz, whereas Paul Goetsch places Conrad’s figures into the widely discussed historical context of degeneration (»Conrad, Nordau, und Degeneration«, 175 – 201). The three essays of part III, »The Nautic Quest«, locate Conrad’s works in a larger topical and cultural frame, referring to Conrad’s past as a sailor and its 1 Frank Förster, Die literarische Rezeption Joseph Conrads in Deutschland (Leipzig 2005), and Anthony Fothergill, Secret Sharers: Joseph Conrad’s Cultural Reception in Germany (Bern u. a. 2006).
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literary transformation, as well as his position in the history of ideas. The section begins with a look at the fictional representation of the social and psychological disposition of various fictional ship-crews in Conrad’s tales. Peter Nicolaisen’s »The ›Brotherhood of the Sea‹ and the Authority of Command: On the Sense of Order in Conrad’s Sea Stories« (225 – 242) traces their »ambivalent and [ . . . ] conflicting« attitudes, ranging from an effectual quasi-socialist classstruggle attitude dividing officers and crew towards a harmonious (and rather exceptional) »Brotherhood of the Sea«. In a similar vein, Jürgen Kramer’s »Conrad’s Crews Revisited« (243 – 265) assesses Conrad’s authentic and biographical experience on board several ships, and discusses how this experience reflects not only in the novels, but also in the late essays. The volume closes with another original article by Goetsch, »Conrad’s Shipwrecks« (267 – 285), situating Conrad’s works within the literary tradition of the Robinsonade (pointing out Conrad’s criticism of any romanticizing attitude towards it) and within the topos »shipwreck with spectator« defined by the German philosopher, Hans Blumenberg.2 In what follows I shall now single out contributions of the first section, which relates most closely to the current research interest about »Germany and Conrad«, featuring Conrad’s works as they were received as object of study in the academy (Volkmann), as object of translation and point of intertextual reference on the book-market (Czennia and Windisch), and as object of medial transposition in the cinema (Klein and Windisch). Conrad’s scholarly as well as literary reception, and his (somewhat failing) impact on German popular culture are concisely represented in this section. The chapters in the remaining two parts of the volume display other relevant shades of »Conrad in Germany«. The section opens with Laurenz Volkmann’s »Conrad in Germany: A Historical Survey«; a tripartite bibliography keeps the three historical phases of »Weimar Republic«, »1933 – 1945«, and »1945 to present« apart, covering the years until 2002. Volkmann finds a German academic reception which began slowly and belatedly, though still in Conrad’s own life-time, around 1923 (in a history of English literature by Bernhard Fehr and that of the English novel by Walter Schirmer, respectively). Many early analyses consider the »influence of German idealist philosophy and especially of existentialism« (14), with a surprising peak of the latter even before World War II. The author also suggests that German »Conrad-scholarship between 1933 and 1945 remains rather apolitical« (16). The lines of German Conrad-research after World War II have been informed by the changing research paradigms over the years, and Volkmann delineates a shift from formalist via psychological studies and specifically 2 Four of the twelve chapters are revisions or reprints of earlier publications (Klooss, Seeber, Nicolaisen, Kramer).
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»German and (Continental) European« approaches (»Motivgeschichte«, »Imagologie«, 20, 23, resp.) to recent postcolonial studies and international criticism in the wake of Chinua Achebe’s invective against Conrad (24 f.). One of Volkmann’s far-reaching statements is the lack of feminist approaches to Conrad’s works by German critics; and one may add that even the share of female critics focusing on Conrad is comparatively small, if by no means insignificant, as shows a second survey in this collection, and one of its most insightful articles: Bärbel Czennia’s »Conrad’s German Voices: Translating Narrative Innovation in ›Heart of Darkness‹ «. Two words of caution may be added with reference to the research survey, one referring to a historical detail, the other to its scope: Volkmann does not mention that, on the one hand, there were several attempts (beginning even during World War I with suggestions by the Hiberno-American Frank Harris, and again in 1937 by Wilhelm Stapel) to ascribe to Conrad a Jewish ancestry in an anti-semitic vein, even though his works were not officially banned by the national socialist regime. In one case, an opportunist editor even misused a story of Conrad’s to illustrate the fascist ideology of eugenics.3 In sum, these aspects may shed some doubt on Volkmann’s unreserved assertion that Conrad had remained »a literary persona grata« (16) during the Third Reich. It is, however, more regrettable that Volkmann, twelve years after the German unification, does not, except for a few remarks, venture a glance at any rifts in the academic Conrad-reception of the former GDR and the Bonn Republic. Czennia’s extraordinarily perceptive analysis compares »eight German translations published between 1926 and 1992« (35), drawing attention to five significant strategies of translating the representation of perception: Conrad’s narrative focuses on a particular »sensory quality« in an object (37 ff.); on its »most outstanding visual quality« (39 ff.); on »fragmentary perception« in terms of objects as well as plots (41 – 45); finally on »selective and fragmentary perception« (45 – 51). Each of these sections contains a stylistic analysis of passages in Conrad’s text in relation to their respective translation(s), and assesses the aesthetic effect as well as the semiotic function. Ample footnotes retranslate the German renderings into English, thus elucidating to readers unfamiliar with the German language the translational shifts in style and meaning. The author concludes that German translators of »Heart of Darkness« have disagreed over the importance of the »oral character of Marlow’s performance«: Many earlier ones enforce Marlow’s »narrative authority« by stylistically aligning his embedded tale and the »written account offered by the fictional narrator of the 3 Cf. Elmar Schenkel, Joseph Conrad: Fahrt ins Geheimnis. Eine Biographie (Frankfurt am Main 2007), 341 f. Cf. Förster, Die literarische Rezeption, 28 f. and 41. On »›Conrad the Jew‹ «, cf. also Fothergill, Secret Sharers, 133 – 165.
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embedding frame-story«. In contrast to this, a few of the more recent translations (Reinhold Batberger and Urs Widmer, both 1992) have downgraded Marlow’s linguistic register to »a particular concept of ›orality‹ (which is not identical with that of Conrad)« (all quotes 52). In »Paradise Regained? Filming Conrad’s Victory as a Means of Coming to Terms with Germany’s Past«, Herbert G. Klein discusses a German film-adaptation of Conrad’s last novel, Victory, titled Des Teufels Paradies (1986), and explains the lukewarm reception of this film among the German public by pointing out its »uneas[y]« position »between literary adaptation, adventure story, and political allegory« (79) of the Nazi regime. Klein concludes that the movie aimed at a »reflection of the development of political consciousness in German moderately left-wing circles in the 1980s, which had left earlier certainties behind« (79) but somewhat missed its target. Generally speaking, Conrad in Germany provides much more than a duality of »humanist« and »skeptical«, »deconstructive« research in Germany, to which the editors refer in their introduction (6). Safely rooted in literary studies, the volume provides various contributions with an interdisciplinary focus: Although »Heart of Darkness« is the central focus of attention in this volume, individual chapters offer contextual readings of a number of texts from Conrad’s œuvre, covering cultural as well as intermedial perspectives. With Conrad in Germany one may – adding to Volkmann’s observation that there appears to be a lack of feminist approaches in German criticism (cf. 21) – delineate three desiderata for future research, leading to a more complete picture of ›Conrad and Germany‹. Firstly, it may be time for a systematic comparison of his treatment in West Germany and his coverage in the GDR between 1949 and 1989: After all, Conrad not only abhorred any socialist ideas, but also declared democracy and pacifism wrong.4 Secondly, with the recently completed nine-volume edition of Conrad’s letters, it would be desirable to turn from purely literary analyses to a more detailed survey of the non-fictional works, starting with the situation of the young novelist struggling for a secure income to the author’s uneasy move to literary critic and public figure. Finally, on the basis of Conrad’s œuvre, the attempt to reconstruct his image of Germany and Germans might prove worth the while. 4 In Fothergill, Secret Sharers, the case studies on Christa Wolf and Werner Herzog as two key figures in Conrad’s Post-War reception in a divided Germany cannot be considered exhaustive. Förster’s survey on the public availability of Conrad’s works (beginning only in 1957) does not so much analyze as compile and provide most of the relevant sources (cf. Die literarische Rezeption, 35 – 37). The CD-ROM to this publication lists a mere 33 articles in public GDR-newspapers, magazines and journals (1949 – 1989), as opposed to the 688 reviews in their West German equivalents (1945 – 2003).
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To conclude, Göbel’s, Seeber’s and Windisch’s compilation invites to continue and encourage approaches to Conrad along the traditions of philological as well as cultural-historical and sociological research paradigms. Jürgen Meyer, Halle Paul Newland, The Cultural Construction of London’s East End. Urban Iconography, Modernity and the Spatialisation of Englishness [Spatial Practices, 5], Amsterdam: Rodopi, 2008. 321 S. In der Reihe »Spatial Practices« erscheinen interdisziplinär angelegte Studien, die der Literatur und der Kultur- sowie der Geographiegeschichte gewidmet sind. Wie die Herausgeber Robert Burden und Stephan Kohl erläutern, geht es vor allem um »spaces and places which have been appropriated for cultural meanings: symbolic landscapes and urban places which have specific cultural meanings that construct, maintain, and circulate myths of a unified traditional or regional culture and their histories, or whose visible ironies deconstruct those myths« (3). Bisher sind u. a. Bände zum Norden Großbritanniens, zu »Englishness and Landscape« und zur Wüste veröffentlicht worden. Mit Paul Newlands Buch rückt ein großstädtischer Raum in den Mittelpunkt. Der Verfasser, der an der Universität Aberystwyth Filmwissenschaft lehrt, kennt sich nicht nur in Filmen aus, sondern auch in ernsthafter und populärer Literatur sowie der Geographie und Geschichte des East End. Deshalb kann er lokale und historische Anspielungen identifizieren und ihre Bedeutung würdigen. Durchgehend achtet er auf das spannungsreiche und manchmal auch komplexe Verhältnis zwischen der tatsächlichen Entwicklung des Stadtteils und seinen traditionellen Rollen im öffentlichen Bewusstsein. Immer wieder beobachtet er, dass Filmemacher, Schriftsteller und Journalisten trotz einschneidender Veränderungen im East End gern Vorstellungen aufgreifen, die seit dem 19. Jahrhundert fester Bestandteil der populären Kultur sind. Da der Londoner Osten schon in der viktorianischen Zeit oft mit Armut, Arbeitern und schlechten Geschäften assoziiert wurde, ist es zum Beispiel nur folgerichtig, dass in der englischen Version von Monopoly die Whitechapel und die Old Kent Road zu den Gegenden zählen, auf die ›Investoren‹ lieber verzichten sollten: »These ›low‹ eastern topographies have, after all, long been imagined as parts of the body of the city in which waste has been produced, sent, and / or contained« (19). In seiner Einleitung charakterisiert Newland verschiedene historische, geographische und soziologische Untersuchungen und erläutert seinen Ansatz unter Hinweis auf mehrere theoretische Arbeiten zur Beziehung zwischen realer und imaginierter Stadt. Von Bachtin übernimmt er den Begriffs des Chronotopos, von Foucault den der Heterotopie und argumentiert, dass das East End oft
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als »crisis heterotopia« oder als »heterotopia of deviation« imaginiert wurde (32). Seiner Meinung nach hat das Bürgertum sich von den Bewohnern des Londoner Ostens wie von einer anderen Klasse oder Rasse distanziert und auf den Stadtteil Ängste verschiedener Art projiziert. Der Osten kann deshalb als Ort von Gewalttätern und politischen Unruhestiftern erscheinen und grundsätzlich als Schauplatz des ›Anderen‹ fungieren. Peter Ackroyd, ein von London und auch dem East End faszinierter Gegenwartsautor, erklärt: »All the anxieties about the city in general then became attached to the East End in particular, as if in some peculiar sense it had become a microcosm of London’s own dark life»(zit. 27). Bei späteren Gelegenheiten zieht Newland mit Gewinn Edward Saids Orientalism und Henri Lefebvres The Production of Space heran. Im Hauptteil strebt er zwar keine Kulturgeschichte des East End an, gibt aber einen materialreichen Überblick über die geschichtlichen Konstruktionen der Gegend und belegt diese in unterschiedlich langen, manchmal zu knappen Interpretationen. Im ersten Kapitel zeigt er, wie im 18. Jahrhundert und der Romantik negative Aspekte der Urbanisierung, der Industrialisierung und des internationalen Handels mit dem Osten Londons assoziiert wurden. Obgleich bis weit ins 19. Jahrhundert hinein auch betuchte Bürger im East End lebten, galt dieses zunehmend als Ort der Armut und Kriminalität, so etwa in De Quinceys »On Murder Considered as One of the Fine Arts« (1827) oder in Werken von Dickens und Collins. In Pierce Egans Roman Life in London (1821), der den Begriff East End wiederholt verwendet, suchen Angehörige des West End im Osten »a bit of life« (zit. 47), d. h. anderswo verpönte Vergnügungen. Die Tendenz, aus bürgerlicher Perspektive den Westen auf-, den Osten abzuwerten, erreichte, wie das zweite Kapitel ausführt, gegen Ende des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Als Belege dienen unter anderem Walter Besants All Sorts and Conditions of Men (1882), Israel Zangwills Children of the Ghetto (1892) und andere Slum- bzw. Ghetto-Romane, ferner Utopien von Richard Jefferies und William Morris, Abhandlungen und Artikel wie The Bitter Cry of Outcast London (1883) und der Bestseller In Darkest England and the Way Out (1890), in dem William Booth, der Gründer der Heilsarmee, das East End als Dschungel und Ort des Primitiven deutet. Zu den historischen Ereignissen, die zur Mythisierung des Ostens beitrugen, zählen neben den Lebensbedingungen in den Slums politische Demonstrationen, die ihren Ausgang vom East End nahmen, der Bloody Sunday (1887) und die Jack-the-Ripper-Morde in Whitechapel (1891). Historisch besonders aufschlussreich ist die mehrbändige soziologische Studie Life and Labour of the People in London (1892 – 1903), denn ihrem Verfasser Charles Booth war bewusst, dass die Vorurteile gegenüber dem Londoner Osten im Hinblick auf Armut und Kriminalität nicht unbedingt gerechtfertigt waren. Wie andere Schriftsteller war auch Joseph Conrad
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mit dem negativen Bild des East End vertraut. Newland knüpft hier an die Darstellung Writing the Urban Jungle von Joseph McLaughlin an, übergeht aber stillschweigend McLaughlins Pointe, dass Conrad in The Secret Agent die mit dem East End verbundene Metaphorik in satirischer Absicht auf die City und das West End überträgt. Das dritte Kapitel konzentriert sich auf die schon in viktorianischer Zeit erkennbare Orientalisierung des East End und behandelt ausführlicher verschiedene Filme und die Erzählungen von Thomas Burke, dessen immer wieder nachgedrucktes Frühwerk Limehouse Nights (1916) die Gegend um Limehouse als vormodernen Schauplatz deutet und, wie auch Sax Rohmer in seinen FuManchu-Geschichten, die ›gelbe Gefahr‹ beschwört. Das vierte Kapitel, das sich mit den dreißiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts befasst, ist recht stichwortartig ausgefallen, wohl deshalb, weil die als Beispiele in Frage kommenden Werke alte Klischees bewahren und nicht sonderlich anspruchsvoll sind. Die letzten vier Kapitel des Buches wenden sich dem Zeitraum von 1970 bis zur Gegenwart zu und belegen überzeugend die Wiederentdeckung des East End in Literatur und Film. Die Verwirklichung verschiedener städteplanerischer Projekte, die Sanierung und Rekonstruktion der Docklands, die Umgestaltung des East End im Hinblick auf die Olympischen Spiele von 2012, die Expansion Londons in Richtung Essex, die ›gentrification‹ mancher Gegenden, die Zuwanderung verschiedener Immigrantengruppen – diese und andere Entwicklungen, die auf einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit hinausliefen, weckten das Interesse von Filmemachern und Schriftstellern. Newland behandelt Filme wie The Long Good Friday (1979), The Elephant Man (1980) und From Hell (2001) und literarische Werke von J. G. Ballard, Justin Cartwright und Penelope Lively. Während er Peter Ackroyd nur am Rande erwähnt, stellt er Monica Alis Brick Lane (2003) ausführlicher vor. Soweit diese Werke nicht Stoffe des 19. Jahrhunderts aufgreifen, sondern Bilder der Gegenwart entwerfen, beziehen sie sich überraschend oft auf die scheinbar überholte viktorianische Metaphorik. Nostalgie ist häufig im Spiel, auch der Wunsch, beliebte Stoffe und Motive zu recyclen. Hauptvertreter eines kritischen Umgangs mit dem »contemporary neoVictorian East End discourse« (153) ist für Newland der in Hackney wohnende Filmemacher und Autor Iain Sinclair. In seinen postmodernen Werken spielt Sinclair mit viktorianischen Vorstellungen und Darstellungskonventionen, betont den Einfluss der Globalisierung auf die Stadtentwicklung und versteht das East End als vielschichtiges Palimpsest. Darüber, dass seine Deutung politisch von den Thatcher-Jahren geprägt ist und sich von jener Ackroyds unterscheidet, informiert ausführlicher Alex Murrays Recalling London (2007).
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Alles in allem ist Paul Newlands Buch ein überzeugendes Beispiel für den gewählten interdisziplinären Ansatz. Paul Goetsch, Freiburg Gísli Magnússon, Dichtung als Erfahrungsmetaphysik. Esoterische und okkultistische Modernität bei R. M. Rilke [Epistemata Literaturwissenschaft 673], Würzburg: Königshausen & Neumann, 2009. 453 S. Dass es bei Rilke bisweilen spukt und ›geistert‹, dürfte zumindest allen aufmerksamen Malte-Lesern bereits aufgefallen sein. Wer kennt nicht die berühmtberüchtigte ›Hand-Episode‹ in Rilkes Malte-Roman, wo dem Protagonisten Malte, genauer seiner Hand, im Dunkeln unter einem Tisch beim Suchen seines heruntergefallenen Malstifts überraschend eine Geisterhand erscheint? So verstörend dies auf den kleinen Malte wirkt, so irritiert wurden die in Rilkes Œuvre eingestreuten Geistererscheinungen teilweise von den Interpreten aufgenommen und oftmals als einzelne spiritistische Relikte und Randerscheinungen abgetan. Anders Gísli Magnússon. Seine Rilke-Studie belegt materialreich und detailliert, wie umfassend Rilke am »okkultistisch-esoterischen Code« (13) seiner Zeit partizipierte. Auch wenn dies manchen etablierten Rilke-Forscher gruseln mag, scheint es an der Zeit, nicht dem Spuk voreilig ein Ende zu machen, sondern vielmehr die von Rilke herbeizitierten Geister näher zu durchleuchten. Ausgehend von einer Kritik an den bisherigen Ansätzen der Rilke-Forscher, die entweder eine religiös-theologische oder eine atheistisch-ästhetizistische Perspektive einnähmen (vgl. 47), fokussiert Magnússon einen »dritten Weg« (13), den der »alternativen Religiosität« (47) Rilkes: Sein Augenmerk richtet er auf die – seiner Ansicht nach zu Unrecht – marginalisierten Strömungen Okkultismus, Spiritismus und Esoterik, denen gegenüber Rilke offenkundig ein reges Interesse bewies. Da diesen spirituellen Strömungen zudem signifikante Säkularisierungstendenzen eingeschrieben seien, dürfe man sie gerade nicht als vormodern abqualifizieren, sondern solle sie vielmehr als hochmodern wahrnehmen (vgl. 16, 179 ff.). Ferner speise sich das von Rilke gut studierte okkultistische Vokabular gerade aus der Physik entlehnten Begriffen (Schwingung, Welle, Strahlen) mit Rekurs auf zeitgenössische physikalische Entdeckungen (Röntgenstrahlen, elektromagnetische Wellen, drahtlose Telegraphie) (vgl. 289 f.) – ein Beleg für den okkultistischen Anspruch, Religion und Wissenschaft auf der Höhe der Zeit zu vereinen (vgl. 14, 292). Dementsprechend entwirft Magnússon das Bild des ganz ›anderen Rilke‹, des esoterisch-okkulten Rilke der ›vierten Dimension‹ (vgl. 58) und zugleich das einer »andere[n] Moderne« (12). Der vielzitierten ›Entzauberung der Welt‹ (Max Weber) stellt er somit einen gleichrangigen ›Wiederbezauberungsdiskurs‹ als Signum der »spirituelle[n] Moderne« (12) an die Seite, welchem bisher nicht
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genügend Beachtung gezollt wurde (vgl. 35, 65, 234). Indes verschweigt er nicht, dass Rilkes Interesse am Spiritismus und Okkultismus auch eine kritische Haltung gegenüber deren institutionalisierten Varianten, etwa gegenüber den Ansichten der Anthroposophen, dem »institutionalisierten Okkultismus« (43) Albert Steffens und Rudolf Steiners u. a. einschließt (vgl. 17, 116 f.). Seine Skepsis komme ferner gegenüber dem wissenschaftlichen Okkultismus eines Schrenck-Notzing (vgl. 130 f.) oder den unästhetischen Gebilden eines Gustav Meyrink (vgl. 164 f.) zum Vorschein und impliziere schließlich sogar eine kritische Auseinandersetzung mit Maeterlincks La Mort (vgl. 126 f.). Dies hindere den Künstler Rilke aber nicht daran, am ›künstlerischen Spiritismus‹, einer »spirituellen Auffassung von Kunst« (18) festzuhalten. Es geht Magnússon nun weder darum, ideologisch und apologetisch das spiritistisch-okkulte Muster und Weltanschauungsgebilde zu rehabilitieren, noch darum, es reduktionistisch-positivistisch entlarvend zu hinterfragen (vgl. 24 f.). Seine »empirische Methode« (25) ist gewillt, einen wissenschaftlichen Zugang zur Esoterik und zum Okkultismus freizulegen, um die nachgezeichnete Innenperspektive des »esoterischen Codes« ohne Werturteil wiedergeben zu können, d. h., Magnússon verschreibt sich bewusst einem »methodologischen Agnostizismus« (25) – und tritt so in die Fußstapfen der Vorreiter der EsoterikForschung, Antoine Faivre und Wouter J. Hanegraff und der auf dezidiert literaturwissenschaftlichem Gebiet angesiedelten Gnostizismus-Esoterik-Studien von Michael Pauen, Bettina Gruber und Priska Pytlik (vgl. 23 f.). Magnússons Studie untergliedert sich in fünf Teile (vgl. 16 – 21): Im ersten Teil werden seine Termini »künstlerische Gnosis« und »Erfahrungsmetaphysik« eingeführt. Rilkes Spiritismus- und Okkultismusrezeption wird im zweiten Teil dargelegt. Nach kritischer Auseinandersetzung mit Hugo Friedrichs und Manfred Engels Terminus »leere Transzendenz« folgt eine Profilierung der »künstlerischen Gnosis« als Basis für Rilkes Dichtungsverständnis im dritten Teil. Der umfangreichste, vierte Teil widmet sich den Säkularisierungselementen der Esoterik und Zügen ihrer spezifischen Modernität (Kritik am Absolutheitsanspruch des Christentums im Sinne der Vorstellung einer philosophia perennis, nonduale Kultur- und Materialismuskritik u. a.) sowie Aspekten der spirituellen Lebensphilosophie (anhand eines Vergleichs mit Martin Buber u. a.) und nicht zuletzt dem Nachweis von Rilkes okkultistischer Modernität anhand erster Fallstudien (Requiem an eine Freundin, Requiem für Wolf Graf von Kalckreuth, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge und die Erste Duineser Elegie). Im fünften Teil verlässt Magnússon das ideengeschichtliche Terrain, um einen dezidiert textanalytischen Abschluss zu den Sonetten an Orpheus zu liefern. Qua »Erfahrungsmetaphysik« (Dorthe Jørgensen), sprich qua undogmatischer und induktiver Metaphysik (vgl. 33) und qua täglicher Erlebbarkeit des
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Spirituellen sei die »künstlerische Gnosis« als eine »intuitive und spirituelle Erkenntnisform« (158) zu begreifen, die weder rein rational noch rein im Glauben verankert sei und die der Kunst eine »soteriologische Rolle« zuschreibe (vgl. 29, 234). Federführend für Rilkes spiritistisches Denken sei seine Vorstellung von einer möglichen Interaktion zwischen Totensphäre und Sphäre der Lebendigen (vgl. 58), charakteristisch für seine okkultistische Sichtweise sein ›Glaube‹ an eine sinnlich-übersinnliche Einheit (vgl. 223), an eine »Duo-Einheit« (284): Demzufolge korrespondiere Rilkes Vorstellung einer »vollzähligen Wirklichkeit« (bei Rilke auch »das Ganze« genannt) mit der Annahme einer Einheit des Diesseits und Jenseits, des Sichtbaren und des Unsichtbaren, des »Hiesigen« und des »Mehr-als-Hiesigen« (vgl. 177, 284). Schon in seiner Prager Kindheit und Jugend, so weist Magnússon nach, beschäftigt sich Rilke eingehend mit dem Okkultismus, wenn er beispielsweise Camille Flammarions Urania und du Prels Schriften liest (72), wodurch er früh in die Gedankenwelt einer sinnlich-übersinnliche Einheit der Wirklichkeit und der Möglichkeit einer Toten-Wahrnehmung eingeführt werde. Als erstes Beispiel für seine Rezeption des Okkultismus deutet Magnússon Rilkes Erlebnis als »›astrale‹ Erfahrung« (81): Die rätselhafte Wendung »die andere Seite der Natur«, die Beschreibung des ›Er‹ als Revenant seien auf eine außerkörperliche Erfahrung zurückzuführen und nur mit »okkultistisch-spiritistischem Code« zu dechiffrieren (80 f.). Eine zweite Etappe der Spiritismusrezeption Rilkes (1910 – 1924) wird von den auf Schloss Duino 1912 abgehaltenen und von Rilke initiierten vier spiritistischen Séancen eingeleitet und vom darauf folgenden Briefwechsel mit der Fürstin von Thurn und Taxis dominiert: Der Sohn der berühmten Rilke-Mäzenin, Pascha, fungiere in diesen Séancen als so genanntes ›Medium‹, indem er Rilkes unausgesprochene Fragen unter Zuhilfenahme einer Planchette beantwortet. Über das ›Medium‹ Pascha vermittelt, beginnt Rilke einen Dialog mit einer ›Unbekannten‹, die diesem auch seine Toledo-Reise diktiert und welche ihm kreatives Aufleben verspricht. Wie spiritistische Erklärungsmodelle mit psychologischen Entlarvungserklärungen künstlerischer Genese einhergehen können, demonstriert Magnússon exemplarisch anhand des Nachlasses des Grafen C.W. (101 f.), wo Rilke sich seiner Autorverantwortung geradezu durch Selbststilisierung zum ›Medium‹ aus spiritistischem Geist entledige. Als Summe von Rilkes Spiritismus- und Okkultismusrezeption kann der berühmte ›Spiritismus-Brief‹ von Rilke an Nora Purtscher-Wydenbruck gelten, wo Rilke allerdings bewusst ein »Gegengewicht im Bewusstsein« zum Übersinnlichen fordert, was Magnússon mit Blick auf Rilkes »nonduale Figur« (102) erläutert. Er versteht Rilkes Zeugnisse seiner »Gipfelerfahrungen« ferner als Dokumente eines höheren Bewusstseinszustandes, genauer des transrational höheren Bewusstseins und gerade nicht als diejenigen eines prärational niederen Unbewussten, um dem von der Forschung ignorierten »Prä / Trans-Irrtum«
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(240) zu entgehen. Der Sinn von Rilkes »künstlerischer Medialität« sei schließlich das Hineinreichen des Künstlers ins Totenreich, wie es insbesondere durch die Figur des Orpheus in den Sonetten an Orpheus vorgeführt würde (288). Ähnlich erfahre Rilke sich selbst als »Empfangsgerät« für übersinnliche Schwingungen (294), ausgestattet mit den sensitiven »Antennen seines Herzens« (vgl. 178, 310); Rilkes Urgeräusch werde so zur »Metapher des mediumistischen künstlerischen Schaffens« (314). In den Sonetten an Orpheus zeige sich deutlich, dass eine »visionäre Mimesis« (37, 364), der Versuch einer Versprachlichung der sinnlich-übersinnlichen Wirklichkeit auf die Präsenz des »esoterisch-okkultistischen Codes« rekurriere, wie dies schon Kandinsky mit seinem Programm der »inneren Notwendigkeit« und des Klangs postuliere (37). Das soteriologische Prinzip Orpheus sei überdies in der Rettung des Heiligen im Kunstwerk verankert (vgl. 370); die Vorstellung der Verwandlung des Sichtbaren ins Unsichtbare sei der alchemistischen Verwandlung (Transmutation) entlehnt (371); die Präsenz des »Hiesigen« im »Mehr-als-Hiesigen« als Figur der »Kugel des Seins« entschärfe einzelne, teilweise aufscheinende dualistische Tendenzen (vgl. 386) und stamme aus dem Repertoire des sinnlichübersinnlichen Monismus der okkultistischen Tradition. Dass Rilke indes noch mehr über die künstlerische Verwandlung staune denn über die medialen Ereignisse spiritistischer Provenienz, veranlasst Magnússon, zu Recht Rilkes Höherbewertung der »künstlerischen Medialität« vor der »spiritistischen Medialität« zu betonen (20, 327 f.). Dass Magnússons Rilke-Studie grundsätzlich ›hellsichtig‹ und ›geistreich‹ ist, sei unbestritten. Doch mutet sein terminologischer Rückgriff auf den ›Überbegriff‹ Gnosis etwas willkürlich an. Schließlich setzt sich Rilke schlicht mit spiritistisch-okkultem Gedankengut auseinander und spricht selbst an keiner Stelle von Gnosis / Gnostizismus. Der Terminus Gnosis mutiert am Rande zu einer Art ›Blackbox‹, die an die Spinozismus-Querellen des 18. Jahrhunderts erinnert und welche schon Pauen (Dithyrambiker des Untergangs. Gnostizismus in Ästhetik und Philosophie der Moderne, Berlin 1994) sinnvoller beleuchtet, wenn er zu Recht Ernst Bloch als Gnosis-Anhänger bezeichnet und bei Stefan George und anderen gnostisch gestimmten Literaten zu gegenteiligen Ergebnissen kommt, also den Terminus Gnosis zurückhaltend nur für deutliche Gnosis-Rezipienten verwendet. Da Rilke, wie Magnússon selbst schreibt, wesentliche Grundtheoreme des Gnostizismus nicht teilt (Dualismus, Leibverachtung u. a., vgl. 31), drängt sich die Frage nach der Eignung dieser Kategorisierung unweigerlich auf. Ähnlich aufgesetzt wirkt seine Begrifflichkeit »Yantra« / »Ikone« für ›Dinge‹ wie die Rose (390 f.). Daran anschließend ist bemerkenswert, dass Rilke eigentlich zentrale Topoi des esoterisch-okkultistischen Diskurses lediglich verstreut in Briefen und
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nicht in seinen literarischen Zeugnissen explizit aufruft (›Astralleib‹, ›transzendentales Subjekt‹ etc.). Das mag seiner esoterischen Ausrichtung geschuldet sein, die sich mit verschlüsselten Anspielungen in seinen literarischen Zeugnissen begnügt. Magnússon konstatiert folgerichtig eine »poetische Transformation okkultistischer Vorstellungen« (386) in den Orpheus-Sonetten. Doch könnte die Adressatenfunktion seiner Briefe stärker berücksichtigt werden: Der »spiritistisch-okkulte Code« dominiert nach Magnússon etwa den Briefwechsel mit der Fürstin von Thurn und Taxis, bei anderen Briefpartnern kommt er gar nicht vor. Das lässt fragen, ob Rilke nicht etwa einen ›privaten Code‹ mit anderen spiritistisch ›Eingeweihten‹ kultiviert, um eine persönliche Nähe zu jener Mäzenin zu vertiefen, wohingegen er bei rational gestimmten Briefpartnern seine ›esoterische Denksicht‹ gänzlich auszublenden vermag und z. B. nur auf antike Mythologeme zurückgreift. Seine Distanzierung von Wolfgang Riedels (›Homo natura‹. Literarische Anthropologie um 1900, Berlin / New York 1996) und Marianne Wünschs (Die fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890 – 1930). Definitionen, Denkgeschichtlicher Kontext, Strukturen, München 1991) vertretener These, dass der Okkultismus lediglich im Umfeld minderbegabter Poeten gedeihe (vgl. 136), scheint insofern nicht ganz abwegig, als Rilke zwar auf der gesamten Klaviatur des »esoterischen Codes« spielt, dabei jedoch stets auch andere Quellen hinzuzieht. Insofern thematisiert Magnússon zu wenig die Amalgamierung von antiken Topoi mit okkulten Elementen in den Sonetten an Orpheus. Ist Orpheus nun die Inkarnation der esoterischen Ausrichtung und mit den neuen Geistern / Schwellengängern problemlos kompatibel oder wäre der antiken Mythologie ein höheres Gewicht gegenüber der neuen Esoterik einzuräumen? Stellt die Orpheus-Figur als Künstler-Denkmal gar eine den Spiritismus transzendierende Figur vor? Zu dieser zugespitzten Grundfrage findet sich keine Reflexion. Seine Kritik an der zu stark poetologisch orientierten Perspektive auf die Geisterhand im Sinne einer écriture automatique, die die genuine spiritistische Erfahrungsebene verwische, lässt bewusst außer Acht, dass oftmals gerade die »Texturen« (Moritz Baßler) die spiritistische wie die »künstlerische Medialität« übersteigen (346). So reduziert Magnússon allerdings selbst seinen eigenen Anspruch wieder, nicht nur spiritistisch-okkulte Quellen und Metaphern klassifizieren zu wollen. Anders gesagt verweigert er sich, die ›Gegengewichte‹ zum Spiritismus, die Formen und Texturen, anzuerkennen bzw. sich mit ihnen überhaupt auseinanderzusetzen, wie er dies eingangs ankündigt, wenn er betont, wie die écriture automatique zu künstlerischen Experimenten hinüberleite (vgl. 46, 51, 323). Hierfür müsste er nicht nur zwischen »spiritistischer Medialität« und »künstlerischer Medialität« unterscheiden, sondern auch die ästhetische Überformung der »künstlerischen Medialität« durch eine ›künstlerische Aktivität‹ zugeben. Es ist demnach missverständlich, Rilkes Leistungsgedanken,
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der nach Rilke höher als mediale Ereignisse zu bewerten sei, als »künstlerische Medialität« (worunter die Forschung Rilkes ›selige Diktate‹ zählt) zu klassifizieren (vgl. 327). Im Übrigen ist sein ›mediumistisches Künstlerverständnis‹ wiederum ostentativ mit genuinen Inspirationstopoi vermischt. Eine ›ästhetisch gelungene Verwandlung‹ (vgl. 328) markiert eine Überwindung der Medialität, auch wenn diese die Vorbedingung für den ästhetischen Vollzug darstellt. Magnússons Interpretationen zentraler ›spiritistischer Zeugnisse‹ Rilkes wirken von daher bisweilen narrativ und erhellen allenfalls, wenn auch interessante Bruchstücke von Rilkes Metaphorik. So verdienstvoll und einleuchtend die Aufwertung des »esoterischen Codes« ist, so zugespitzt erfahren leider teilweise Vorarbeiten zu diesem Thema und alternative Forschungsarbeiten zu Rilke eine Marginalisierung. Beispielsweise reduziert Magnússon Pytliks Dissertation Okkultismus und Moderne. Ein kulturhistorisches Phänomen und seine Bedeutung für die Literatur um 1900 (Paderborn / München u. a. 2005) auf ihre Malte-Studie, ohne ihre Verdienste zu Thomas Manns Okkultismusrezeption in seinem Exkurs zu Thomas Mann zu erwähnen. Ihre bereits komplett erschlossene Rilke-Rezeption du Prels kritisiert er als einseitig (vgl. 67) und schenkt ihr daraufhin keine gebührende Erwähnung in den jeweiligen Fußnoten, da er auch ihre Materialsammlung Spiritismus und Moderne – Berlin und München um 1900: Dokumente und Kommentare (Tübingen / Basel 2006) zum Thema weder als Fundgrube für Materialien in seiner Studie angibt noch überhaupt in seine Bibliographie aufnimmt. Ein ähnliches Schicksal erleiden Forschungsaufsätze, die bereits die Dichotomie zwischen atheistischen und rein theologischen Zugängen in der Rilke-Forschung differenziert haben, etwa Manfred Kochs (Rilkes Engel oder Der heilige Kampf um die Sprache, in: Braungart, Wolfgang; Fuchs, Gotthard; Koch, Manfred (Hgg.), Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden II: um 1900, Paderborn / München u. a. 1998, 123 – 140) oder Wolfgang Braungarts (Ästhetische Religiosität oder religiöse Ästhetik, in: Braungart, Wolfgang; Fuchs, Gotthard; Koch, Manfred (Hgg.), Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden II: um 1900, Paderborn, München u. a. 1998, 15 – 29) Beiträge zu Rilkes ›ästhetischer Theologie‹, die ebenfalls in der Bibliographie nicht auftauchen. Lou Andreas-Salomés spirituelle Nietzsche-Rezeption wäre zudem eine geeignete Vorlage für ein Aufbrechen der Distanz von rein atheistischer Nietzsche-Rezeption und deren Verankerung in einem spirituellen Licht. Rilkes flüchtige Begegnung mit Franz Werfel und seiner Lyrik könnte unter der Rubrik spiritistisches Interesse zudem trefflich ausgelotet werden. Rilkes ›Ironieresistenz‹ ist ein gängiger Topos der Rilke-Forschung, dessen sich auch Magnússon bedient, um die Gewichtigkeit der spiritistisch-okkultis-
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tischen Anleihen zu unterstreichen. Liest man genau, heißt es jedoch beispielsweise in der eingangs erwähnten ›Hand-Episode‹ im Malte, dieser sei – vor dem Aufscheinen der Geisterhand – auf ›allerhand‹ gefasst gewesen. Zeigen sich nicht doch so im ästhetischen Vollzug des esoterisch Erlebten erste Distanzierungsmarken? Unbestritten ist jedoch – und hier ist Magnússons Verdienst nicht genug zu würdigen –, dass ein Siegeszug wissenschaftlicher und aufgeklärter Parameter aus scheinbar überlegener Sicht das Bild der Spiritismusrezeption um 1900 unzulässig trübt und man bei einer angemessenen Rezeption Rilkes nicht umhin kann, auch seinen ›Geisterstimmen‹ Gehör zu schenken. Gabriela Wacker, Tübingen Àngels Santa (Hg.), De Nizan à Sartre. Philosophie et narration [El Fil d’Ariadna, Literatura], Lleida: Ediciones de la Universitat de Lleida / Pagès Editors, 2008. 444 S. Anlässlich des 100. Geburtstages Paul Nizans und Jean-Paul Sartres veranstaltete das französische Institut der Universität Lleida im Dezember 2005 ein internationales Kolloquium unter dem Titel De Nizan à Sartre. De Sartre à Nizan. Chemins philosophiques et narratifs. Ziel war es, nicht nur diesen Jahrestag zu feiern bzw. den Stellenwert und die Aktualität beider Autoren in der heutigen Zeit zu diskutieren, sondern ebenfalls die menschlichen, politischen, intellektuellen sowie literarischen Verbindungen (aber auch Bruchstellen) aufzuzeigen, unter deren Zeichen ihre in Pariser Schulzeiten begründete und nach Nizans frühem Tod 1940 durch Sartre öffentlich rehabilitierte Freundschaft stand. Der vorliegende Band, der außer den Kongressakten noch weitere Beiträge von Nizan- und Sartre-Experten enthält, soll insbesondere auch die Person und das Werk Nizans in den Vordergrund rücken, der nach seinem Tod lange Zeit zu Unrecht von seinen ehemaligen kommunistischen Parteigenossen diffamiert wurde und darüber hinaus als Schriftsteller nie ganz aus Sartres Schatten treten konnte (cf. 11 – 12). Die Herausgeberin À. Santa leitet das Buch mit einem sehr nützlichen chronologischen Überblick ein, der dem Leser die entscheidenden Lebensabschnitte und biographischen Daten beider Autoren in Erinnerung ruft. Die in französischer, spanischer und katalanischer Sprache verfassten sowie thematisch extrem nuancenreich ausgerichteten Beiträge gliedern sich wie folgt in fünf Abschnitte, deren Anordnung erkennen lässt, dass Nizan und Sartre in ausgewogenem Maße Aufmerksamkeit zuteil wird. Der erste, mit »De Nizan à Sartre« betitelte Teil (25 – 45) besteht aus den persönlichen Anekdoten, die O. Todd (verheiratet mit Nizans Tochter) über Nizan, seinen »beau-père posthume mort« (32), und Sartre, seinen »père de substitution« (34), ›zum Besten gibt‹. In den Beiträgen
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des zweiten Teils (»Avec des yeux de femme: l’écriture de soi, l’écriture de l’autre«, 49 – 85) kommen durch ihre Texte jene beiden Schriftstellerinnen zu Wort, die sowohl in ihrem literarischen Schaffen, als auch in ihrem politischen und philosophischen Denken das weibliche Pendant zu Nizan bzw. Sartre bildeten und außerdem deren jeweilige Geliebte waren: Simone Téry und Simone de Beauvoir. »Du côté de Nizan« (89 – 226), der dritte Abschnitt, zeigt Nizan als marxistisch orientierten écrivain engagé, politischen Journalisten und antifaschistischen Kriegsberichterstatter, wütenden und erbarmungslosen Kritiker, der sich der Arbeiterklasse zutiefst verbunden fühlt, bürgerliche Institutionen und Wertvorstellungen (wie die Ehe, das Schulsystem, den homo academicus) entmythisiert und kapitalistische Ausnutzung anprangert. Die u. a. essayistisch (z. B. A. Á. de la Rosa), genderspezifisch (M. C. Figuerola), soziokritisch (Y. Ansel) und literaturwissenschaftlich-poetologisch (z. B. C. Benoît, E. Real) ansetzenden Kommentare seiner Werke veranschaulichen allesamt, wie unmissverständlich sich der humanistisch-ethische Impetus des Autors in seinen Texten niederschlägt, ganz im Einklang mit Nizans Idealvorstellung einer » ›littérature responsable‹ [ . . . ] à laquelle il assignait pour tâche ›la mise en accusation du monde et la volonté de le changer‹ « (167). Zur Sprache kommt auch die über die vielerorts durchscheinende autobiographische Dimension seiner Romane erkennbare innere Zerrissenheit Nizans, der als »transfuge de la deuxième génération« (131) unter dem Klassenverrat seines Vaters litt: In der Fiktion durch den Titelhelden Antoine Bloyé verkörpert, unterlag dieser der Versuchung des Aufstiegs von der Arbeiterklasse ins Kleinbürgertum, was in Nizans Worten beweist, dass »[t]ous les déclassements ne se font point par en bas.« (171). Ausgesprochen elegant leitet der letzte Artikel dieses Teils zum vierten Abschnitt (»Entre les deux«, 229 – 256) über, denn in ihrer Untersuchung des mythologischen Potentials von Nizans Romanhelden charakterisiert Real diese als hommes sartriens, die bereit sind, ihr Leben im Kampf um die menschliche Würde zu lassen: »Les communistes protagonistes du roman de Nizan sont engagés dans le sens sartrien du terme« (221). Schon die Tatsache, dass der dem persönlichen und literarischen Zusammenspiel beider Autoren gewidmete Teil mit zwei Beiträgen verhältnismäßig kurz ausfällt, lässt erkennen, dass die tatsächlich nachweisbaren Schnittpunkte großteils von konfliktreichen Phasen überlagert wurden bzw. mit viel gutem Willen rekonstruiert werden müssen. So erfährt der Leser von J. Bravo (dessen Artikel quasi das Kernstück des Bandes bildet) die verschiedenen Gründe für die endgültige Trennung ihrer Lebenswege: von Nizans psychologischer Instabilität und wahrscheinlichem Selbstmordversuch sowie seinem Parteibeitritt, bis hin zu Sartres schlagartigem Karriereschub nach Erscheinen von La Nausée. Es ist bezeichnend, dass selbst Sartre lediglich im Nachhinein das öffentliche Bild Nizans und sein persönliches Verhältnis zu letzterem zu korrigieren versuchte. Dies geschah einerseits ganz offen und selbstkritisch in seinem berühmt gewor-
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denen Vorwort zu Nizans 1960 posthum veröffentlichtem Essay Aden-Arabie, einer wahrhaftigen »oración fúnebre« (240), die allerdings für Sartre auch die Funktion erfüllte, seine Schuldgefühle gegenüber dem alten Freund zu tilgen (cf. 240). Andererseits wählte Sartre mit Drôle d’amitié den subtilen, literarisch verschlüsselten Weg zu einer »reconciliación póstuma« (239) – nicht jedoch, ohne rückblickend die politischen Ansichten des Freundes im Hinblick auf dessen Einstellung zur kommunistischen Parteipolitik (ein Hauptgrund für den Freundschaftsbruch in den 1930er Jahren) nach seinem Gutdünken geradezubiegen: »Realizaba así Sartre, por medio de la magia de la ficción, la corrección del destino de Nizan. Una segunda muerte, pero esta vez, exorcizada y [ . . . ] salvada por la amistad de Sartre« (240). A. Not dagegen findet auf der Suche nach einem Dialog der Werke in der rhetorischen Strategie der sokratischen Hebammenkunst einen interessanten Punkt, an dem sich Sartres L’Enfance d’un chef und Nizans La Conspiration treffen. Wie Not anhand der von beiden Autoren bewusst eingesetzten »dramaturgie maïeutique« (245) nachweist, unterlaufen diese den Erwartungshorizont des traditionellen Bildungsromans (cf. 255), indem sie den Leser dazu bringen, hinter »les jeux ironiques de pervertissement du discours« (245) und intertextuellen Anspielungen die zu vermittelnde Wahrheit zu erkennen. Bei den ausschließlich Sartre gewidmeten Artikeln (cf. den fünften Teil, »Du côté de Sartre«, 259 – 444) fällt im Vergleich zum Nizan-Teil erstens auf, dass einige wesentlich weniger wohlwollend erscheinen (z. B. C. V. Pujol, und gewollt überspitzt A. Verjat) und nicht, wie im Falle Nizans, ein homogenes, überwiegend positives und aufwertendes Bild des Menschen und Schriftstellers entstehen lassen. Markant ist zweitens, dass ein Großteil der Verfasser ganz unterschiedlich geartete Einzelthematiken und Kuriositäten aufgreift, wie z. B. C. Schopp, J. M. F. Cardo oder C. V. Pujol über die Quellen zu Sartres Kean-Adaptation, Sartres Verhältnis zu den nouveaux romanciers oder die Frage nach seiner Einstellung zum Judentum. Diese Aspekte spiegeln dabei nicht im gleichen Maße repräsentativ Leben und Werk Sartres wider, wie es das im zweiten Teil des Buches behandelte Wirken und Schreiben Nizans in seiner Gesamtheit in Bezug auf letzteren tut. Dies wird vermutlich mit der Übermenge an zu Sartre erschienener Literatur bzw. mit dessen nicht durch einen unnatürlichen und frühzeitigen Tod abrupt beendeter Persönlichkeitsentwicklung und seiner entsprechend größeren Widersprüchlichkeit zusammenhängen. Während für Nizan (politische) Philosophie und Narration im Sinne einer humanistisch engagierten Literatur kompromisslos Hand in Hand gingen (cf. Nizan: »Dans la littérature, en général, il existe deux grandes catégories d’écrits: des écrits d’évasion et des écrits de la réalité.«, 126), gestaltet sich dieses Verhältnis für Sartre differenzierter. D. M. G. Doreste / O. N. González lenken die Aufmerksamkeit auf das posthum veröffentlichte La Reine Albemarle ou le
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dernier touriste, einen aufgrund seiner Bildlichkeit fast surrealistisch anmutenden Reisebericht aus der Perspektive eines an Roquentin erinnernden ›existentialistischen‹ Touristen in Venedig, laut Beauvoir »La Nausée de su edad madura« (280). Cardo betont die entscheidende Vorläufer-Rolle, die eben La Nausée für den mit Barthes und dem Nouveau Roman verbundenen Paradigmenwechsel in der französischen Literatur (von littérature zu écriture) zugunsten einer die littérature engagée ablösenden Ästhetisierung spielte (cf. 363ss). Die mit diversen Genre-Konventionen brechende Pseudo-Autobiographie Les Mots ist Gegenstand der Beiträge J.-F. Guérauds, M. D. Picazos und T. Gonzalos, die u. a. demonstrieren, dass der Text in erster Linie Literatur selbst thematisiert, als regelrechtes Paradigma der Rezeptionsästhetik gelesen werden kann, aber auch das der Literatur eigene Paradox aufrechterhält, um das Sartre weiß, ohne sich ihm entziehen zu können (cf. 317: »crítica consciente de la impostura que representan las palabras« vs. »la veneración y el culto que muestra hacia ellas«). So wirft das Lebenswerk Sartres expliziter die Frage nach Vereinbarkeit von Philosophie und (narrativer / gelebter) Wirklichkeit auf – obwohl diese Problematik implizit auch bei Nizan nicht zu leugnen ist. Beide teilen gewissermaßen die Unfähigkeit, in der Theorie radikal formulierte Forderungen und Behauptungen an den Gegebenheiten der Realität zu prüfen bzw. zu relativieren. Die Ausführungen von D. Scholl zeigen, dass der Absolutheitsanspruch Sartres (den Verjat provokativ und sicherlich nicht ganz zu Unrecht einen moralisierenden »Monsieur la Vérité« (433) tauft) in Hinsicht auf seine Theorie des néant und dessen moralische Konsequenzen dazu führt, dass Sartre die Lyrik großer Dichter, u. a. der Parnassiens, kategorisch ablehnt und als »antithèse de l’engagement« (274) disqualifiziert. Ebenso distanziert Nizan sich von den Surrealisten (trotz deren kommunistischer Sympathien), da ihre Lyrik vor der Realität fliehe und keinen effektiven Beitrag zur Revolution leisten könne (cf. Ansel, 123). Diese Neigung zur Polarisierung äußert sich in Nizans Romanen, wie es die strukturalistische Analyse Reals nachzeichnet, in der Konstruktion eines manichäistischen Weltbildes, in dem sich antagonistisch und unvereinbar Gut und Böse, Arbeiter und Kapitalisten gegenüberstehen (cf. 214). Dennoch bleibt nach Lektüre des Buches ein versöhnlicher und hauptsächlich positiver Eindruck zweier ›Weltverbesserer‹, und der Leser findet definitiv »de nombreuses pistes pour s’enfoncer dans les chemins de la connaissance des deux écrivains« (12). Sartre tritt, in der gegebenen Perspektive, v. a. aufgrund seines Einsatzes hervor, der das heutige Bild von, sowie die Erinnerung an Nizan geprägt und gerettet hat. Gewürdigt werden darüber hinaus sein nicht zu unterschätzender Beitrag zur Hinterfragung deutsch-französischer Stereotypen schon während der Occupation (cf. Foucart) und seine ebenso politischen (cf. R. Usall i Santa über den Einfluss der französischen Intellektuellen auf die Algerienpolitik) wie literarischen (cf. G. Saiz über »Ecos del existencialismo en Mar-
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ruecos«) Verdienste in der arabischen Welt. Dagegen werden nicht nur Nizans bereits in Sartres Hommage gepriesene Qualitäten auch in diesem Band bestätigt. Nizan schneidet nämlich etwas besser ab, was seine Bedeutung für die moderne Gesellschaft aus heutiger Sicht betrifft – dank seiner unermüdlichen Gesellschaftskritik, die ihn sogar als feministischen Vordenker (cf. Figuerola), Vorläufer Bourdieus oder der postmodernen Dekonstruktion denkbar werden lässt (cf. 122). Bemerkenswert ist letztlich auch die Erkenntnis, dass gerade in den frühen Jahren ihrer Freundschaft Nizan den intellektuell überlegenen Part und das lebensnotwendige alter ego Sartres darstellte. Diese geistige und emotionale ›Entente› (230) schien sich, wie der oft erfrischend lockere Ton der Beiträge hinzuzufügen erlaubt, selbst äußerlich insofern zu manifestieren, als sich das »Nitre et Sarzan« (so der Spitzname der »pareja simbiótica«, 230) gemeinsame Schielen durch eine spiegelbildliche Pupillenfehlstellung ergänzte (cf. 230 – 231). Annika Krüger, Köln
Gerd Hurm, Ann Marie Fallon (Hgg.), Rebels without a Cause? Renegotiating the American 1950s [American Studies: Culture, Society and the Arts Vol. 2]. Bern: Peter Lang, 2007, 292 S. This study comprises essay versions of papers given at an international conference at the University of Trier in 2005. The title of the collection aptly outlines the dual approach to its topic. On the one hand, these 14 articles clearly focus on and closely analyze one central figure of the 1950s – the rebel. On the other hand, the study also provides a bird’s eye view of the topic and the decade that indeed allows the reader to start renegotiating the American 1950s. The centrality of the rebel to the cultural production and understanding of the American 1950s is nothing new. Neither is the assertion that the rebel coexists with the conformist in an overall conservative environment. However, this study challenges simplistic notions in two important ways: 1) It clarifies that regardless of the aims of the 1950s rebels, they had lasting and directional impact on the following two decades and at least one major societal movement, the civil rights movement, did originate in this supposed rebellion without a cause. In fact, the civil rights movement and the racial segregation it rebelled against negate both of the traditional readings of rebels without a cause the editors of this book correctly identify as targets for renegotiation: the conservative notion that the 1950s rebels could not have a cause since there was nothing wrong with 1950s America (there certainly was for African Americans) and the Marxist reading that espouses that 1950s rebellion lacked a proper plan and hence was futile (unlike American Marxists the 1950s rebels were actually able to change things); 2) For the contemporary negotiation of the 1950s the rebel has clearly moved into the center, which it shares uneasily with the conformist.
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In other words, the rebel does not only rebel against societal norms, he also conforms to contemporary expectations of 1950s youth. Such a sweeping reappraisal in part is possible due to the great diversity of this study, which is apparent in the variety of cultural productions that are investigated. The classical literary forms prose and poetry are analyzed alongside films, radio, television as well as paintings and happenings (the latter in an insightful article by Wilfried Raussert on »Allan Kaprow, Happenings and the American Avant-Garde«). In terms of genre, the analyzed works range from Christian fiction to science fiction (discussed in two articles, Wolfgang Hallet’s » ›But think, for a moment, about the system.‹ – Discourses of the 1950s in Philip K. Dick’s ›Minority Report‹« and Hilary Dannenberg’s »Interpreting the Aliens: Representations of American Society in Science-Fiction Movies of the 1950s«). Added to this diversity in the artistic field are discussions of non-fiction writing and of social developments in essays by Rebecca Potter (»Jeremiah’s Decade: Environmental Discourse in the 1950s from Aldo Leopold and Rachel Carlson«) and Maureen Reed (»Fabiola Cabeza de Baca and Hispanic Civil Rights in the 1950s«). The frame for this diversity is the renegotiation of the one figure central to all of these texts: the rebel. As the editors of Rebels without a Cause? rightfully claim, »The cultural consciousness of 1950s America permeates contemporary society« (9). One major reason for this continued legacy of the 1950s is that its central figure, the rebel, has proven very polysemic, offering countless manifestations for contemporary society to renegotiate the meaning of the 1950s. It is fitting that this polysemy of the rebel figure is mirrored in the diversity of this study. Appropriately, this diverse collection begins with an article that provides an overview of 1950s American literature and literary criticism along with its common defining factor – the preoccupation with rebelliousness. In her article »Rebellious Readers: The Making of American Literature in the 1950s« Ann Marie Fallon argues that both today’s American literary criticism and American literature originate in the 1950s debate about the meanings of American literature and its Americaness. This is despite the fact that both the New Critics and many of the most famous literary rebels of the period have turned from rebels to conformists or to canonical, conventional literary heroes. Fallon succinctly points out that while today’s scholars of literature often »labor against [the New Critics’] sins« (19), they do so within an academic context and discourse largely made possible by these critics. Similarly, seminal rebel characters of the 1950s like Holden Caulfield and Jim Stark of Rebel without a Cause, played by rebellious teen idol James Dean, may have turned into clichéd rebels, but their essential positioning within society and their questioning of authority and conventionalism continue to influence contemporary images of art’s role in society. Moreover, »writers and artists of the period care-
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fully cultivated the persona of the rebel or the outsider« (20). All three together, the writers / artists, their characters and their critics have worked on the »idealization of the literary as the most important mode of political change throughout the century« (29). While Holden Caulfield and the characters played by James Dean are among the most famous and most analyzed 1950s rebels, they nevertheless remain polysemic enough for new interpretations and negotiations, as two of the articles in this collection illustrate. Stefan Brandt adds yet another perspective on Caulfield in his article »The Literary Text as a ›Living Event‹ : Visceral Language and the Aesthetics of Rebellion in J. D. Salinger’s Catcher in the Rye.« Brandt discusses this quintessential 1950s rebel without a cause in the context of contemporary »discourses of vernacular protest, carnal subjectivity, and sexuality« (33). With this approach he is able to convincingly »show that Catcher was perceived by contemporaneous readers as a ›living event‹ [and that] the novel enabled readers to identify not so much with Holden Caulfield as a person but with the complex situation he is entrapped in« (33). In » ›At Last My Hero‹ : Alternative Masculinities in 1950s Hollywood Melodrama« Bernd Elzer analyzes the male characters in George Stevens’s Giant, played by Dean, Gregory Peck and Dennis Hopper respectively. He demonstrates how even Hollywood blockbusters presented masculinity in a rather complex way, and that therefore »the ›Man in the Grey Flannel Suit,‹ that ubiquitous and uniform figure« (159) was not the only male role model available to men in the 1950s. In his article »Rebellion as Affirmation: Allen Ginsberg’s American Poetics in Gates of Wrath« Gerd Hurm picks up another thread mentioned by Fallon, the 1950s artist as rebel. As public persona Ginsberg was a typical artist rebel and »due to his pervasive public presence, Ginsberg subsequently obtained the authority to define the decade’s counter-cultural legacy for subsequent generations« (57). However, as Hurm reveals by taking a closer look at Ginsberg’s early poems, which are rarely closely analyzed but nevertheless often summarily dismissed as inhibited by formalism, affirmation is lurking in Ginsberg’s rebellious poetry. As Hurm puts it: In aesthetic terms, [Ginsberg] projected himself as a radical fighter against the New Critics and the academic establishment, even though he clearly worked within their mould and profited from their insights. In political terms, he used the jeremiad pose to rail against Western oppression and humanist rationality at the same time that he upheld mainstream values in his celebration of American »spiritual democracy« and »indestructible individuality.« (73 – 74)
Paul Goetsch and Lutz Schowalter write about figures that at first sight seem miscast as rebels. Goetsch possibly picks the least likely candidate as a 1950s rebel – Reinhold Niebuhr, a cold warrior. However, as Goetsch makes clear in
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his article »Reinhold Niebuhr’s The Irony of American History: A Cold Warrior’s Critique of Cold War Rhetoric« Niebuhr was »a cold warrior with a difference« (95). This difference resides in the fact that Niebuhr »was painfully aware of the simplifications being made in contemporary rhetoric and the selfrighteousness of the American position« (95). In an era often named for its most unapologetic anti-communist such a more tacit, truly liberal attitude can make you a rebel. Moreover, Niebuhr’s liberalism is more than an antidote to McCarthyism. It is a useful analytical tool for post 9 / 11 American foreign policy and the rhetoric surrounding it. As Goetsch states, »A Niebuhrian critic would point at the hypocrisy and the contradictions involved in the definitions and re-definitions of the enemy, American war aims, and motives for going to war« (104). In »Rebels with a cause? Shades of Christian Fundamentalism in the 1950s«, Schowalter casts Christian fundamentalists as his rebels, a choice that may seem surprising in light of the materialization of fundamentalism as part of America’s political mainstream since the 1970s. However, Schowalter clarifies that fundamentalism in the 1950s had been pushed to the fringes. His analysis of Flannery O’Connor’s The Violent Bear it Away and James H. Hunter’s Thine is the Kingdom demonstrates that Christian fundamentalists rebelled against the 1950s mainstream Christians who did not regularly read the bible even though they all owned a copy, and who did not find adequate Christian answers to the dual challenge to fundamentalist America: an increasingly »scientific outlook on the world and the communist threat« (111). Some of the articles in this collection expand the timeframe of their investigations beyond the 1950s and in this way put the decade into context with the broader 20th century. In her article »Meet the Parents: Embracing an Ideal of Modern American Childhood« Kriste Lindenmeyer focuses on the 1930s to effectively outline that »the 1930s established the legal and cultural infrastructure for the ideal of American childhood that proliferated in the post-war years« (152). Alfred Hornung follows »Philip Roth’s Return to the 1950s in I Married a Communist« to reveal the ways in which Roth’s 1998 novel uncovers the personal failures and flaws that drive the American political disasters of the 1950s and the following decades. At the same time Roth accentuates how »human endeavors [are] subject to hardship and failure in the course of historical events,« (92) in other words how history can ruin humans. Patrick Walsh compares the 1950s most popular painter with today’s most successful American painter in his essay »Grandma Moses, Thomas Kinkade and the Evolution of Nostalgia.« Walsh’s insightful essay highlights various ironies. First, while Grandma Moses never explicitly takes a rebel stance and while her admirers are not exactly the typical youthful non-conformists associated with the 1950s, her art nevertheless gives »people room to question the present [i. e. 1950s] order« (265). The nostalgic images of a pre-industrialized America challenge the idea of progress that
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seems omnipresent – in the second car for every family, the emergence of suburbia, and the scientific progress of nuclear warfare. Secondly, Moses’s success illustrates that the 1950s which in retrospect seem such an idyllic era were not necessarily experienced as such by Americans at the time. Finally, it is ironic that Kinkade explicitly plays with his image as a rebel, but at the same time his imagined nostalgia offers only kitsch. Kinkade’s »glowing cottages and lighthouses on the rocky coast may soothe, but they do not offer hope« (265). For a reader looking for a study of rebels and rebellion in the 1950s that first clearly defines what a 1950s rebel is and then analyzes the rebel figure in its various facets along these defined lines Rebels without a Cause? will be a disappointment. This collection refuses to offer definitions of the 1950s rebel that could be set in stone, and it tackles the rebel figure from a great variety of angles and perspectives. For this reader, this approach is part of the beauty and achievement of the collection, as it mirrors the polysemy of the 1950s rebel that belies conventional images that reduce the figure to American youth rebelling against the conformist strictures of a paternalistic society. Hubertus Zander, Freiburg
Ann Spangenberg, Kommunikative Identität im Roman der Angelsächsischen Postmoderne: John Fowles, Peter Ackroyd, A. S. Byatt [Kieler Beiträge zur Anglistik und Amerikanistik 24], Würzburg: Königshausen und Neumann, 2009. 325 S. Identitätskonzepte haben in der Moderne und insbesondere der Postmoderne eine umfassende Wandlung erfahren, die sich durch zunehmende Vielschichtigkeit und Komplexität auszeichnet. Identität wird dabei vor allem in poststrukturalistischen Ansätzen nicht mehr als stabile ontologische Einheit verstanden, sondern als diskursives Konstrukt. Die vorliegende Studie setzt es sich zum Ziel, in drei paradigmatischen postmodernen Romanen – John Fowles’ The French Lieutenant’s Woman, Peter Ackroyds Chatterton und A. S. Byatts Possession – kommunikative Identitätskonstitution nachzuweisen und zu analysieren. Die Einleitung umreißt konzise die zentralen Fragen der Arbeit. Betrachtet soll werden, »welche Konsequenzen [die Romane] aus der Annahme ziehen, es gebe kein autonomes Subjekt« (12). Die grundlegende These ist, dass die Romane sich vor diesem Hintergrund damit beschäftigen, wie »Handlungsmacht, Kreativität, Freiheit und Verantwortung ohne den Rekurs auf ein kernhaftes [ . . . ] Selbst konzeptualisiert werden können« (12). Die Textauswahl wird sowohl formal als auch inhaltlich begründet: Merkmale realistischen wie auch postmodernen Erzählens verbinden die Romane.
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Sie sind in hohem Maße selbstreflexiv und interessiert an der Produktion von Literatur und Geschichte selbst. Alle drei enthalten »Elemente der historiographischen Metafiktion« (13), wobei Spangenberg die einschlägige Definition von Linda Hutcheon als zu unspezifisch problematisiert. Die Romane diskutieren nicht nur Identität als Konstrukt, sondern auch sich selbst, ihre eigenen Konventionen und Diskurse. Damit rückt die Rolle von Sprache für die Vermittlung von Wirklichkeit in den Mittelpunkt. Da der Schwerpunkt der Arbeit auf Identität als performatives und prozesshaftes Konzept liegt, schließt sich Spangenberg Judith Butlers diskursbezogener Auffassung von Identität und Subjekt an. Im theoretischen Kapitel der Arbeit widmet sich Spangenberg gezielt ihren zentralen Konzepten Identität, Kommunikation und Originalität und bearbeitet diese nacheinander. Dieses pragmatische Vorgehen ist bei derart umfänglichen Begriffen wohl das einzig Richtige. So wird der Theorieteil, der bei vorliegendem Thema leicht hätte ausufern können, zu einem übersichtlich strukturierten und gut zu lesenden Kapitel. Es beginnt mit einem historischen Überblick zu Identität, der mit dem Mittelalter anfängt (was vielleicht ein wenig weit ausgeholt ist). Spangenberg zeigt, wie besonders im 18. und 19. Jahrhundert Identität zu einem säkularisierten Konzept wird, das von der Autonomie des Subjekts ausgeht, eine Annahme, die im 20. Jahrhundert mit der »Kritik an einem außerhalb der Sprache bzw. vorsprachlich existierenden ›Ich-Kern‹« (28) in Frage gestellt und letztendlich aufgegeben wird. Um diese Entwicklung zu illustrieren, wird vor allem Foucaults Diskursanalyse genutzt. Zur weiteren Präzisierung wird der Begriff des universal self angeführt und der darin enthaltene »Anspruch der Ganzheitlichkeit und Universalität« (31) knapp dekonstruiert. So schließt das universal self Kategorien wie Gender und Klasse im Regelfall aus, auch bleibt durch die Betonung der Ratio Körperlichkeit weitgehend unbeachtet. Zudem wird Erinnerung – und damit der Akt des Erzählens, nämlich von Biographie, der zur Konstruktion von Identität unerlässlich ist – in traditionellen Identitätsauffassungen nicht problematisiert. Dieses Unterkapitel führt die Schwierigkeiten und Schwachstellen der Idee eines kernhaften Ich klar und plausibel zusammen. Im Folgenden führt Spangenberg in verschiedene Kommunikationsmodelle ein, wobei sie im Wesentlichen handlungstheoretische und systemtheoretische Modelle unterscheidet. Handlungstheoretische Sichtweisen werden für die Zwecke der vorliegenden Studie zu Recht als problematisch dargestellt, weil sie Kommunikation weniger als (unendlichen) Prozess denn als eine Reihe von Sende- und Empfangsakten begreifen, wobei die gesendete Botschaft normalerweise als eindeutig entschlüsselbar gilt. Das Medium selbst sowie beispielsweise die Rolle des Körpers stehen weniger im Fokus. Interessanterweise verbindet sich diese Kommunikationsauffassung mit der Annahme eines autonomen Subjektes, dem Sender. Als Gegenentwurf sieht
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Spangenberg das systemtheoretische Modell, das die Prozesshaftigkeit von Kommunikation betont, aber dafür das Element der Aktanten vernachlässigt. Ähnlich wie Identitätskonzepte bewegen sich die beiden Kommunikationsmodelle also zwischen der Betonung der Rolle des Individuums (des Senders) und der überindividuellen, rein diskursiven Auffassung. Das ausführlichste Interpretationskapitel der Studie behandelt John Fowles’ The French Lieutenant’s Woman (1996). Nach einem Forschungsbericht geht Spangenberg auf die Auflösung des Konzepts der autonomen Identität in dem Roman ein. Anhand der Protagonisten Charles Smithson und Sarah Woodruff wird gezeigt, dass Identität »bis in [die] privateste Selbstwahrnehmung« (80) diskursiv entsteht. Dies gilt auch für betont konventionell dargestellte Charaktere wie Ernestina Freeman, deren Fremd- wie Selbstwahrnehmung von zeitgenössischen Frauenidealen und Erzählungen weiblicher Biographien bestimmt wird. Eine gründliche Analyse der Kommunikationssituation im Roman zeigt, dass es in der Welt von Lyme Regis starke soziale Kontrolle und Hierarchien gibt; Kommunikation handelt soziale Macht in Bildern von Kampf, ja sogar Krieg aus (vgl. 85 ff.), und das Spiel ist hier weder frei noch positiv konnotiert. Besonders am Beispiel von Weiblichkeitskonzepten wird die »[d]iskursive und narrative Prägung« (94) der Charaktere noch einmal verdeutlicht. Der Roman hat viele Züge realistischen Erzählens, weist jedoch immer wieder auf den Konstruktcharakter von Realismus hin. Ein Höhepunkt der Selbstreflexivität findet sich im dreizehnten Kapitel, in dem der Erzähler als ›Autor‹ erscheint und in einer pseudo-authentischen Haltung die eigenen Erzählkonventionen hinterfragt. Diesen kritischen Moment nimmt Spangenberg als Ausgangspunkt für eine Analyse von Identität im Spannungsfeld des Autorbegriffs und der Romanform (vgl. 109 ff.). Sie kommt zu dem Schluss, dass die Idee eines in sich geschlossenen, von einem Originalgenie geschaffenen Werkes erwartungsgemäß keinen Bestand haben kann; stattdessen kennzeichnet Intertextualität den Roman. Die Diskurse, die die Figuren bestimmen, sind jedoch auch von Widersprüchen gekennzeichnet. Genau diese Widersprüche eröffnen Handlungsspielräume in der Kommunikation. Als Beispiel dient etwa der Krankheitsdiskurs, der Sarah einerseits bedroht, ihr andererseits aber auch Freiräume eröffnet (vgl. 123). Ackroyds Text stellt autonome, fixe Identität kritisch in Frage, lässt aber die Möglichkeit offen, diskursive Individualität »durch Neukombination und Abwandlung des Bestehenden« (158) zu beeinflussen. Das zweite Interpretationskapitel erörtert Peter Ackroyds Chatterton (1987) unter der Prämisse, dass die Auflösung von autonomer Identität in engem Zusammenhang mit der Aufgabe der Idee von Originalität zu sehen ist. Zu den großen Themen »Originalität und Geschichte« (164) tritt die Frage nach
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(künstlerischer) Identität. Die Künstlerprotagonisten leiden im Roman unter Krisen im Sinne Bloom’scher anxiety of influence (vgl. 176), da sie ihre eigenen Vorgaben von Originalität nicht erfüllen können. Entsprechend ist die Problematik von Original und Fälschung ein Hauptthema des Romans, und Intertextualität eine seiner wichtigsten Eigenschaften. Im Unterkapitel »Alternative Konzepte zum universal self« (205) stellt Spangenberg fest, dass auch in Ackroyds Text das Spiel mit Versatzstücken und Verweisen nicht rein positiv konnotiert ist. Vor allem Rollenspiel prägt die Identitäten etlicher Charaktere. Zum Teil ist es bewusste Strategie, um das tägliche Leben interessanter zu gestalten, aber auch Eskapismus, wie etwa im Falle von Charles Wychwood oder Harriet Scrope. Dann dient Spiel der Verdrängung der eigenen Identitätsproblematik. Philip Slack wird als gelungenes Beispiel der Verwirklichung kommunikativer Identität gelesen. Er überwindet seine Schreibblockade, erkennt Intertextualität positiv »als Raum unendlicher Möglichkeiten« (214 – 215) und akzeptiert, dass das Schreiben von Geschichte Imaginieren und Konstruieren bedeutet, aber dennoch eine sinnvolle Aktivität bleibt. Gleichzeitig deutet sich eine Liebesbeziehung zu Charles’ Witwe an, so dass sich alles zum Guten wendet. Vielleicht wäre daher zu fragen, wie sehr zur gelungenen kommunikativen Identität die Rückbindung an Gattungskonventionen (ähnlich wie in Possession) gehört. Wie die Zusammenfassung dann aufzeigt, hinterfragt der Roman beides: traditionelle Identitätskonzepte wie auch das freie Spiel von Versatzstücken. Identität ist zwar eindeutig als Konstrukt gekennzeichnet, braucht jedoch »die intersubjektive Beglaubigung durch Andere« (219). Das Kapitel zu A. S. Byatts Possession (1990) stellt »Selbstgefährdung und -bereicherung durch Kommunikation« (221) in den Mittelpunkt. Die Figuren auf der Erzählebene des 20. Jahrhunderts thematisieren – als Literaturwissenschaftler – postmoderne Identitätskonzepte, können sich von den traditionellen jedoch nicht ganz lösen. So betrachtet Maud Bailey ihr einmal konstruiertes Selbstbild als festgefügt und statisch. Die Frage, inwieweit ein Individuum als Produkt von Diskursen noch Freiheit und Handlungsspielräume hat, wird von den Figuren explizit diskutiert. Spangenberg zeigt allerdings schlüssig, dass das Konzept eines festen Identitätskerns bereits von den Figuren des 19. Jahrhunderts problematisiert wird. Dies gilt besonders für den Dichter Randolph Henry Ash, der Identität als eine Art Fluidum begreift (vgl. 231). Am Beispiel der Frauenfiguren beider Zeitebenen stellt Spangenberg den radikalen Wandel genderspezifischer Identitätskonstruktion treffend dar. Am Verhältnis der Protagonisten zur Kunst kann sie zeigen, dass die Frage nach Originalität, nach einem ›Ursprung‹ eng mit der Frage nach dem Kern des eigenen Selbst zusammenhängt. In Possession wird die Frage nach Handlungsmacht des Individuums
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im Angesicht seiner »diskursiven Bedingtheit« (266) besonders drängend. Die Figuren lösen sie auf verschiedene Weise; dabei wird das Konzept von (wenn auch vorläufiger) Wahrheit und Selbstermächtigung nie völlig aufgegeben. Spangenberg zeigt, wie zum Beispiel Christabel LaMotte durch ihre poetische Sprache versucht, die Freiräume einer schreibenden Frau zu erweitern (vgl. 271 ff.). Handlungsmacht besteht, so das Ergebnis, auch im Netz der Diskurse noch weiter. Alle drei Beispieltexte dekonstruieren zusammen mit dem autonomen Subjekt auch die Faktoren, die es konstituierten: Erinnerung, Sprache, Geschichte, Narration. Originalität wird durch das Spiel mit Intertextualität ersetzt. Spangenberg kommt zu dem Schluss, dass es dennoch kein komplett freies Spiel mit Identitäten und Texten geben kann, da die Romane ihre Figuren immer wieder an Grenzen in ihren Lebenswelten stoßen lassen (vgl. 304). Identität wird zudem an durchaus konkrete Kommunikation und Interaktion geknüpft, so dass die Texte letztlich zwar traditionelle Identitätskonzepte hinterfragen, aber auch durch die Notwendigkeit der Konkretisierung von Kommunikationsmomenten das freie Spiel der Diskurse beschränken. Die Arbeit rückt eine interessante Grundproblematik in den Fokus. Spangenberg schafft es dabei, die Fülle der Begrifflichkeiten und terminologischen Felder klar zu strukturieren und für die Analyse fruchtbar zu machen. Die Lektüre dürfte sich daher für Leser und Leserinnen mit Expertise, die einen zusätzlichen Blickwinkel auf bereits vertraute Texte wünschen, genauso lohnen wie für jene, die sich mit der angelsächsischen Postmoderne neu beschäftigen. Ulrike Zimmermann, Freiburg
Tra storia e immaginazione: gli scrittori ebrei di lingua italiana si raccontano, a cura di Hanna Serkowska. Warsaw: Rabid, 2008. 316 S. In occasione delle celebrazioni dedicate al Giorno della Memoria si è tenuto nei giorni 29 e 30 gennaio 2007 a Varsavia il seguente convegno: Lingua e Memoria. Scrittori ebrei di lingua italiana. Degli interventi raccolti, in cui vengono ripercorse storia, cultura e identità ebraica, è stato dato successivamente alle stampe un volume. Titolo scelto: Tra storia e immaginazione: gli scrittori ebrei di lingua italiana si raccontano. Il desiderio di testimonianza e di salvaguardia della memoria, il rapporto con la propria identità, la responsabilità sentita anche di quella storia che si è o no vissuta e a cui ci si sente appartenere ritornano qui accompagnati dalle diverse prospettive estetiche ed etiche di una scrittura che, se non viene scelta come mestiere, è imposta dal bisogno di raccontare. Suddiviso in cinque sezioni, che ripercorrono la letteratura italo-ebraica dai primi del Novecento fino ai giorni nostri, il volume ha il pregio di presentare
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l’affascinante e complesso tema della riflessione identitaria ebraica attraverso una ricostruzione contrastiva che mette a confronto, oltre che singoli testi, vecchia e nuova generazione. La raccolta si apre con un’analisi del rapporto tra verità storica, autobiografia e finzione letteraria nell’ambito della trattazione dell’argomento dei campi di sterminio e della persecuzione, rapporto, la cui centralità è posta in rilievo dall’accenno fattone già nel titolo e di cui si individuano nell’introduzione le coordinate temporali. I lager, come scrive già Levi ne I sommersi e i salvati, condividendo in parte l’idea di Elie Wiesel che il termine »letteratura dell’olocausto« sia »un controsenso«, poiché chi non ha vissuto tale avvenimento non potrà mai conoscerlo [Un juif d’aujourd’hui (Paris 1977) 190], sono in realtà un evento senza testimoni. Per comunicare la realtà, per cogliere sentimenti e stati d’animo, che lo storico non è in grado di documentare, bisogna quindi ricorrere alla finzione. Il riferimento va quindi agli anni della svolta posttestimoniale, ossia alla metà degli anni Ottanta, periodo d’inizio di una scrittura fizionale, come attesta Saul Friedländer (13). Essendo la realtà diventata incubo e avendo superato di gran lunga la finzione, lo scrittore più che inventare deve ›significar per verba‹. L’affermazione fatta da Adorno: »Scrivere una poesia dopo Auschwitz è un atto di barbarie e ciò avvelena la stessa consapevolezza del perché è divenuto impossibile scrivere oggi poesie« [Prismi. Saggi sulla critica della cultura (Torino: Einaudi, 1972) 22] ritorna nel contributo di Marco Brunazzi che parla della labilità di confini tra sogno – di questo viene stilato un parallelo con il concetto di memoria – e realtà davanti a un evento come la Shoah e delle problematiche trovate dagli scrittori nel narrare la storia dopo lo sterminio. La domanda posta cambia dunque da: ›Si può fare letteratura di Auschwitz?‹ a ›Come fare letteratura di Auschwitz?‹ La linea seguita è quella di un approccio dinamico, in cui assume rilevanza l’orizzonte biografico di riferimento, ampliato e arricchito da una ricerca interculturale che ruota anche attorno al concetto d’identità di minoranza. Preziose pagine vengono così dedicate da Monica Jansen, insieme a quello ebreo, al genocidio armeno, pianificato e organizzato, in modo analogo alla Shoah, razionalmente per poter infliggere la morte in modo preciso e sistematico, per poter portare a compimento non la strage occasionale e isolata, bensì l’annientamento di un intero popolo, così come da Raniero Speelman alla storia degli ebrei italiani rifugiatisi in Svizzera, tra i quali Guido Lopez, Franco Levi, i coniugi Erika Rosenthal e Giorgio Fuà. La prospettiva si amplia oltre che con questo tipo di corrispondenze con il ricordo di figure come quella di Stefan Zweig, Cesare Cases e Zygmunt Bauman, nomi rappresentanti e rappresentativi di »apertura al dialogo tra le culture« (36), qui ricordati grazie a Giorgio Kurschinki, e di Dietrich Bonhoeffer, teologo tedesco, protagonista della resistenza al nazismo, di cui Eraldo Affinati
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ripercorre nel volume Un teologo contro Hitler la vicenda biografica, per riscoprire e riattivarne per la sua generazione il percorso umano. Notevole di significato è anche l’ebraismo triestino, rappresentato nel volume da autori come Svevo e Saba, studiati da Fulvio Senardi, esempi entrambi del processo di integrazione e di emancipazione, anche se attraverso percorsi e tempi diversi. Religione messa da parte, in quanto l’uno agnostico mentre l’altro »niccianamente anti-religioso« (20), rimangono tuttavia accenni – anche se sporadici – di una loro appartenenza più o meno evidente a questa realtà in alcune delle pagine dei loro scritti. Il processo di rimozione di parte della propria identità, il mancato (o parziale) affronto di temi ebraici e di riferimento relativi alla propria origine, presenti tra coloro che si muovono tra integrazione ed emancipazione, non tocca invece i ›classici‹ della letteratura ebraica italiana, così come coloro che a questi si legano nella scelta dei propri temi e a cui viene qui dedicata la seconda sezione. La ricerca delle proprie radici culturali, il sentirsi appartenere alla cultura e all’identità ebraica raccontando la Shoah, sono caratteristiche che si riscontrano in Primo Levi, così come in Natalia Ginzburg e in Giorgio Bassani. Le prospettive sono tuttavia diverse, secondo quanto si racconta: la vita nel campo e il ritorno per Levi che, nel corso della revisione per la pubblicazione della seconda edizione di Se questo è un uomo del 1958, apporta dei cambiamenti rispetto al testo del 1947, facendo trasparire nel processo di riscrittura una visione più ottimista rispetto a quella iniziale del testo della prima edizione, quella fuori dal campo per Bassani. Come denominatore comune rimane tuttavia la questione dell’identità, tematizzata nelle diverse possibilità dei suoi modi di essere: un’identità che non si deve e non si vuole perdere, come nel caso di Primo Levi; un’identità che viene forzata o imposta, o addirittura scelta, come sottolinea Joanna Ugniewska nella sua analisi di due opere di Bassani; un’identità che viene intesa come identificazione con il passato collettivo del popolo ebraico, con le vittime dei campi di concentramento, come la intende la scrittrice ungherese Edith Bruck, lei stessa sopravvissuta agli orrori di Auschwitz, Dachau e Bergen-Belsen; un’identità che, negata dall’universo concentrazionario, si cerca di salvare, ma anche un’identità scissa e composita, che si trascrive nel confine, come è riscontrabile in Marina Jarre di radici in parte ebree-lettoni, in parte piemontesi-valdesi; ma anche un’identità da conciliarsi con la militanza e l’immedesimazione con gli ultimi, secondo l’esempio di Clara Sereni, la cui scrittura si caratterizza per la capacità di connettere dimensione domestica e mondo esterno, memoria privata e memoria storica, o associata al carattere collettivo della responsabilità, come compare nelle pagine di Erri De Luca, a cui viene dedicato qui un saggio da Nicolas Bonnet. In parte diverso dalle posizioni qui descritte è il significato del termine per la terza generazione, rappresentata ad esempio da Alessandro Piperno, che nel suo romanzo d’esordio Con le peggiori intenzioni, qui letto da Fabio Pierangeli, si interroga
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sul significato attuale dell’ebraicità ponendo il protagonista come eterno diverso, in quanto ebreo per i gentili e gentile per gli ebrei. Ripercorso insieme a questo viaggio attraverso più generazioni è inoltre quello del ricordo dell’infanzia nella Shoah e della memoria femminile ebraica. Della loro traduzione sulla pagina scritta vengono presentate, per quanto riguarda il primo caso, forme e tecniche di narrazione, mentre per il secondo, è il significato della stessa nel processo di ridefinizione dell’identità ebraica ad essere al centro dell’analisi. Firmati rispettivamente da Marina Beer e da Federica Clementi, i due contributi rendono testimonianza del percorso dei bambini e delle donne negli anni di persecuzione nazifascista, dal ghetto alla separazione dagli affetti, ai treni, alle camere a gas. I nomi presi in considerazione sono, per Marina Beer, che indaga le memorie di alcuni scrittori italiani che si presentano nella veste di testimoni bambini, quello di Giacoma Limentani, Aldo Zargani, a cui si aggiungono due autori di origine polacca, Georges Perec e Michael Glowin´ski. La scrittura femminile, testimoniata nel volume dalla voce di Lia Levi, Natalia Ginzburg, Edith Bruck e Clara Sereni, viene raccontata tuttavia anche attraverso il ruolo della donna all’interno della famiglia e della tradizione, tradizione che è innanzi tutto memoria. In Clara Sereni, a cui sono qui dedicati i saggi di Gabriella de Angelis e Titus Heydenreich, i ricordi, gli episodi della vita vengono richiamati dal sapore dei cibi: anche la letteratura, cibo nel senso di nutrizione, è in questo caso memoria. Accanto a questi, però, anche la responsabilità dello scrittore, o meglio della scrittrice, come ricorda Heydenreich, che ripercorre in modo preciso e dettagliato la biografia di Clara Sereni, mettendo in rilievo della stessa l’impegno politico e civile sui temi della solidarietà e del disagio sociale. Chiude il volume il contributo di Magdalena Rudkowska dedicato al caso della Polonia, in specifico agli scrittori ebrei di lingua polacca e yiddish che, pur essendo stati costretti dagli eventi ad interrompere la loro attività letteraria, proseguirono, come Icchak Kacenelson, il loro lavoro di scrittura, o lasciatala, la ripresero una volta finita la guerra, contribuendo allo sviluppo della cultura ebrea in terra polacca. Da giudicarsi eccellente è la scelta operata nell’articolazione dei singoli contributi all’interno delle rispettive sezioni, che permette al lettore di avvicinarsi e / o approfondire la varietà di approcci esistenti nel panorama letterario italoebraico, estendendo nel contempo l’interesse anche ad altri contesti. Le pagine forniscono inoltre importanti spunti per una riflessione su ulteriori possibili analogie da tracciarsi, come ad esempio quelle che Carlo Levi, in Cristo si è fermato a Eboli, dedica al viaggio. Questo viene definito da Franco Manai un viaggio di esilio che trova riscontro nel concetto di »esilio«, inteso come »luogo di saggezza salvatrice« del popolo ebraico (18, 137). Dello stesso spessore si pre-
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sentano anche le pagine dedicate alla lettura, o meglio, rilettura poetica di una o più opere di alcuni intellettuali ebrei, cosa che avviene nei saggi di Alfredo Luzi e di Anna Chiarloni, che rivolgono rispettivamente la loro attenzione a Vittorio Sereni, lettore di Anna Frank, e Günter Kunert, lettore di Primo Levi, sottolineando degli stessi in modo esemplare le consonanze di voce. Da consigliarsi sia agli esperti della disciplina che ai non, il volume, corredato da un DVD a cura di Fabio Pierangeli con tre brevi interviste a Eraldo Affinati, Alessandro Piperno e Erri De Luca, complementari ai tre saggi a loro dedicati, è reperibile su richiesta presso l’Istituto di Cultura Italiana di Varsavia (e-mail: [email protected]). Monica Biasiolo, Erlangen-Nürnberg Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. Gert Ueding, Band 8, Rhet – St, Tübingen: Niemeyer, 2007. V + 1466 Sp.; Band 9, St – Z, Tübingen: Niemeyer, 2009. V+1638 Sp. Wer das Impressum der Bände 8 und 9 des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik ansieht, bemerkt kaum, was der Herausgeber selbst in seiner Vorbemerkung vom Band 8 anspricht, dass nämlich durch den Besitzerwechsel des Max Niemeyer Verlags Probleme entstanden sind, die zu einer verspäteten Auslieferung des Wörterbuchs geführt haben, aber nun angesichts der raschen und gekonnten Veröffentlichung des Bandes 9 offensichtlich behoben sind. Da Band 8 sehr spät, Band 9 sehr früh geliefert wurde, lag die Berücksichtigung beider Bände in dieser Besprechung nahe. Man könnte sich kaum eine bessere Adresse als Walter de Gruyter vorstellen, wo dieses Großprojekt der deutschen Wissenschaft bestens aufgehoben ist. Eine zweite Schwierigkeit spricht Ueding in der Vorbemerkung des Bandes 9 an, wenn er von seiner »bloß verwaltungstechnisch begründeten Emeritierung« (IX,V) spricht und der Universität Tübingen dafür dankt, dass sie »die Räume und Sachmittel in gewohntem Umfang bereitstellte« (IX, V), somit die Würdigung wissenschaftlicher Kompetenz über der juristischen Einstufung einer Berechtigung zur deren Nutznießung rangieren lässt. Mit dem Band 9 und der Buchstabenfolge Zz. bzw. dem Lemma »Zynismus« (Th. Zinsmaier) könnte das Wörterbuch als abgeschlossen gelten, wären nicht schon lange Ergänzungen, hier z. B. die Lemmata »Schriftlichkeit«, »Stilbruch«, »Verwaltungssprache« und »Urbanitas«, und ein Registerband angekündigt, deren Bearbeitung offenbar bereits weit fortgeschritten sowie in der Finanzierung gesichert scheint. Ich verzichte hier erneut auf die Berücksichtigung der Teile, die bereits im Sonderband Rhetorik. Begriff – Geschichte – Internationalität (2005) veröffentlicht und von Heinrich F. Plett in dieser Zeitschrift [48 (2007), 406 – 408] rezensiert wurden, und beschränke mich auf einige exemplarische Beispiele von
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Lemmata, weil eine umfassende Auseinandersetzung mit den Artikeln der beiden Bände zuviel Raum verlangen würde. Die Konzeption des Wörterbuchs kennzeichnet schon immer, dass der spezifischen rhetorischen Terminologie eine Vielzahl von Lemmata gegenübersteht, die mehr oder weniger mit dieser Disziplin zu tun haben. Illustrieren lässt sich die eben angedeutete Differenzierung z. B. mit den Lemmata »Schlagfertigkeit« (A. Hettiger), »Schluß« (A. Hügli), »Schwulst« (W. Zymmer), »Senecanismus« (J. Kraye), »Statuslehre« (M. Hoppmann) in Band 8 und in Band 9 mit »Synekdoche« (P. Koch), »Tacitismus« (M. van der Poel), »Temperamentenlehre« (T. van Hoorn), »Zeugma« (G. Krapinger). Zum anderen Typ von Lemmata gehören Epochenbegriffe wie »Spätantike« (A. Milazzo) oder Methoden wie »Wirkungsforschung« (A. Böhn), die N. Maccoby unter der Rubrik »New Scientific Rhetoric« (IX, 1394) lanciert hat, bei der aber die Rolle der Rhetorik »begrenzt« (IX, 1395) ist. Dem Lemma »Roman« werden 58 Spalten eingeräumt, dazu kommt noch das Lemma »Trivialliteratur«, für das im Französischen nur »paralittérature« und nicht auch »littérature populaire« angegeben wird (andere Übersetzungen wie z. B. italienisch »paraletteratura« oder »letteratura di consumo« fehlen völlig). G. Ueding reklamiert die »Trivialliteratur« programmatisch für die Rhetorikforschung, während sie doch seit den späten sechziger Jahren vorwiegend mit literatursoziologischen bzw. semiotischen Kriterien, die er nicht beiseite schiebt, in die Literaturwissenschaft hineingeholt wurde. Es steht außer Zweifel, dass die Rhetorik »mehr oder weniger bewusst die Produktionsregeln der literarischen Massenproduktion zur Verfügung« (IX, 791) stellt, so dass man »eine Rhetorik dieser verachteten Literatur [verfassen könnte], die oft bis ins Detail mit der überlieferten Schulrhetorik übereinstimmen würde« (IX, 791). Ueding skizziert eine solche Rhetorik im Bereich der Affektenlehre und charakterisiert den Stil der »Trivialliteratur« mit Berufung auf seine Studie zu Karl May. Das alles leuchtet vollkommen ein, doch fragt man sich spätestens bei der Berufung auf Ps.-Longin, dessen Rhetorik im Frankreich des späten 17. Jahrhunderts zu einer für ganz Europa Maßstäbe setzenden Blüte der Höhenkammliteratur geführt hat, ob nicht zusätzliche Kriterien notwendig sind, um in diesem Fall die spezifische Rolle von Rhetorik zu charakterisieren. Es bleibt also noch viel zu tun. Dies dürfte auch die Überzeugung Uedings sein, der im Vorwort zum Band 9 eine Entwicklung des Wörterbuchs anspricht, die dem Rezensenten schon länger deutlich geworden ist: die zunehmende Rekrutierung von deutschen Beiträgern bei gleichzeitiger Abnahme der internationalen Beteiligung. Der Herausgeber rechtfertigt nun »die Konzentration mancher Artikel auf die deutsche rhetorische und philosophische Tradition, sowie auf die germanistische Tradition, sobald die Darstellungen das 17. / 18. Jahrhundert erreicht haben« (IX, V) mit einem Verweis auf »die besonders gute geisteswissenschaftliche Forschungslage für die deutsche Überlieferung« (IX, V), ein Argument, das ich insofern nicht teilen kann, als in Frankreich diesbezüglich
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ebensoviel geleistet wurde, ohne dass die dortigen Forschungsergebnisse im Historischen Wörterbuch der Rhetorik angemessen berücksichtigt würden. Zumindest im Artikel »Sexualität« (J. Wesche), deren Rhetorik »bisher wenig erforscht« (VIII, 887) und dort auch nur ganz vage mit traditioneller Rhetorik in Verbindung gebracht ist, wird die geisteswissenschaftliche zugunsten der postmodernen Tradition verlassen, was sicherlich die Akzeptanz des Historischen Wörterbuchs im derzeitigen deutschen Wissenschaftsbetrieb erhöht. Man gewinnt manchmal den Eindruck eines Paradigmenwechsels, wenn beispielsweise im Artikel »Schriftauslegung« (J. Wolff), statt den in der Germanistik bekannten Studien von Ohly L. Dannbergs Die Anatomie des Text-Körpers und Natur-Körpers (2003) zitiert und H. de Lubacs Standardwerk Exégèse médiévale (1959 – 1964) zugunsten von dessen Aufsatzsammlung Typologie Allegorie geistiger Sinn (1999) übergangen wird, die den Vorteil hat, ins Deutsche übersetzt zu sein. Diese Tatsache kommentiert Uedings Hinweis auf den »Zwang zur Spezialisierung« (IX, V), der dazu führe, dass »selbst außerdeutsche europäische Verflechtungen in Gefahr geraten, aus dem Blick zu kommen« (IX, V). Der Artikel »Zitat« (S. Benninghoff-Lühl) verzeichnet zwar Derrida, Barthes und Kristeva (in deutscher Übersetzung) und meint wohl durch den Bezug auf Montaigne und A. Compagnons La seconde main ou le travail de la citation (1979) über die zentrale Erscheinung der französischen Rhetorik und Literatur hinweghuschen zu können, die M. Fumaroli als »rhétorique des citations« (L’Age de l’éloquence (1980), 445 u. ö.) benennt. Das Referieren von M. Metschies Zitat und Zitierkunst in Montaignes Essais (1966) hilft hier nicht weiter, weil jene deutsche Studie längst durch die französische Forschung überholt ist. Da aber die Auseinandersetzung um diese Rhetorik des Zitats ein zentrales Moment der Herauskristallisierung dessen ist, was auch im Historischen Wörterbuch immer noch als doctrine classique bezeichnet wird, gerät damit die spezifisch rhetorische Dimension des Literaturverständnisses aus dem Blick, das Frankreichs Vormachtstellung in der europäischen Literatur des späten 17. und 18. Jahrhunderts begründet hat. Die Spezialisierung beschwört das Risiko von Fehldeutungen nach sich, das im Artikel »Sprezzatura« (S. Greiner) zu beklagen ist, wo keine französische Übersetzung des Begriffs angeführt wird, obwohl er durch N. Farets L’honnête homme ou l’art de plaire à la cour (163) als »négligence« im Französischen geläufig wurde. Die Redaktion hat sich sicher bemüht, für dieses Lemma den deutschen Spezialisten M. Hinz zu gewinnen, so wie sie für »Schlichter Stil« H. Lindner und für »Travestie« T. Stauder eingeworben hat. In der Tat resümiert die Verfasserin Rhetorische Strategien des Hofmannes (1992) von Hinz und ergänzt die Aussagen des deutschen Kollegen durch The Absence of Grace (2000) von H. Berger. Ihre brauchbaren Ausführungen werden dort fragwürdig, wo sie die Wirkung von sprezzatura nach Frankreich bzw. über Frank-
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reich nach Deutschland eigentlich thematisieren müsste. Raumgründe können für dieses Fehlen von Informationen nicht verantwortlich gemacht werden, denn der nichts sagende letzte Abschnitt hätte ohne weiteres durch ein paar Hinweise auf Frankreich ersetzt werden können. Die Konstitution des Katalogs der Lemmata wurde von Mitgliedern der Tübinger Equipe begriffsgeschichtlich abgesichert, als nach dem Erscheinen des Bandes 1 harsche Kritik an der Konzeption des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik geübt wurde. Diese Orientierung birgt ihre Risiken in sich, sobald sich die Verfasser von Artikeln genau an die Vorgaben der Redaktion halten. Der vorzügliche Artikel »Rodomontade« (M. Tietz) illustriert diese Problematik. Dort wird die ganze Aufmerksamkeit auf die spanische Literatur gerichtet und zum Schluss noch auf Corneilles Illusion comique verwiesen. Dabei hätte die Tradition der Commedia dell’arte und besonders die »Gestalt des Capitano Spavento« (VIII, 262) den Schlüssel zur spezifisch rhetorischen Dimension dieses Lemmas liefern können. Man dürfte dann allerdings nicht das (deutsche) Klischee vom »volkstümliche[n] Theater« (VIII, 262) wachrufen, sondern müsste sich an die Textgrundlagen halten. In der Anthologie von F. Marotti / G. Romei La Commedia dell’arte e la società barocca. La professione del teatro (1991) wird F. Andreini, der die Gestalt des Capitano Spavento berühmt gemacht hat und dessen Le Bravure del Capitano Spavento (1607) durch eine moderne Ausgabe (1987) leicht zugänglich sind, gegen die Anthologie spanischer Rodomontades (1627) des venezianischen Lexikographen und Grammatikers Lorenzo Francosini abgegrenzt (305). Die beiden Autoren sprechen mit Berufung auf C. Molinari den Bravure eine absolute Rhetorik zu, »in cui tutto il dicibile diventa possible« (211). Man wird sich über diesen Rhetorik-Begriff streiten können, doch dürfte kein Zweifel bestehen, dass Andreini eine italienische Variante der »Rodomontade« praktiziert, die gerade durch ihren dokumentierten Vorbildcharakter den rhetorischen Aspekt dieser »Rodomontade« verdeutlicht, der im improvisierenden Rückgriff auf und im Variieren von vorgegebenen Materialien zutage tritt, die mittels der Technik von inventio, dispositio und elocutio situationsbedingt reproduziert werden. Im Artikel »Stegreifrede« (H. Geißner) wird dieser Aspekt des improvisierenden Sprechens leider völlig ignoriert. Seit dem Erscheinen des ersten Bandes wurde immer wieder die Frage aufgeworfen, inwieweit einzelne Artikel bloße Dubletten sind. Diese Problematik ergibt sich hier beim Artikel »Sentenz« (J. Engels), der sich weitgehend mit dem Lemma »Maxime« decken könnte. Der Verfasser bezieht sich auf den Artikel »maxime« von B. Dupriez’ Gradus (1984), hat aber wohl übersehen, dass dort als erster La Bruyère zitiert wird, der hier im Abschnitt von »III. Von Renaissance, Humanismus und Reformation bis zum 18. Jh.« (VIII, 861 – 865) nicht einmal vorkommt. Hingegen wird der Leser durch folgende Bemerkung in die Irre geführt: »Maximen (bzw. S.) finden sich ferner häufig in den klas-
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sischen Werken der französischen Dramatiker Corneille und Racine« (VIIII, 864). Offenbar bezieht der Verfasser diese Information aus W. L. Schwartz / C. B. Olsens The Sententiae in the Dramas of Corneille (1939) und scheint nicht zu wissen, dass im Standardwerk von J. Scherer La dramaturgie classique en France (1959), dessen mangelnde Berücksichtigung der Rhetorik von der Forschung inzwischen kritisiert wird, ausführlich belegt wird, wie die Sentenzen in den Theaterstücken von den französischen Dramaturgien des 17. Jahrhunderts kritisiert wurden, weswegen sie der späte Corneille und Racine entweder zu kaschieren oder ganz zu vermeiden suchten. Soweit ich unterrichtet bin, ist diese Feststellung von der umfangreichen neueren einschlägigen Rhetorikforschung nie in Frage gestellt worden. Es gehört zu den Verdiensten dieses Historischen Wörterbuchs, in den verschiedenen Artikeln zu linguistischen Themen die heute keineswegs mehr als Selbstverständlichkeit anerkannte Verflechtung von Linguistik und Rhetorik in Erinnerung zu rufen. Der Artikel »Stil« (B. Sowinski) thematisiert die Gleichzeitigkeit der literarischen Diskussion über den Stil mit dem Schwinden der öffentlichen Anerkennung von Rhetorik im 18. Jahrhundert und nennt deutsche Werke, in denen diese Wechselwirkung deutlich wird, vernachlässigt aber die italienische Tradition, wo die Rhetorik bis ins 19. Jahrhundert vorrangig war, wo aber seither die Meinung herrscht, rhetorische und linguistische Stilistik würden sich gegenseitig ausschließen. Der Artikel »Übersetzung« (J. Albrecht) betont die »enge Beziehung« (IX, 872) zwischen Übersetzung und Rhetorik, in deren »Zuständigkeit« (IX, 877) sie besonders wieder mit dem Aufkommen des Humanismus gerät. Da der Verfasser letztlich doch innerhalb heutiger linguistischer Paradigmen argumentiert, ist für ihn Versiones seu interpretationes (1532) von Vives »[t]heoretisch origineller« (IX, 878) als De interpretatione recta (1420) von Bruni, während innerhalb eines rhetorischen Paradigmas eher das Umgekehrte zutreffen dürfte. Die Bände 8 und 9 des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik enthalten wieder Artikel, denen man uneingeschränkt zustimmt, wie z. B. »Zeremoniell« (G. Braungart / M. Seiffarth). Andere fordern zum Widerspruch heraus, was manchmal mit offenkundigen Schwächen, häufiger jedoch zum Glück mit Qualitäten zusammenhängt, die zum Weiterdenken herausfordern oder eine Gegenrede provozieren. Volker Kapp, Kiel Brian Vickers, Sabine Köllmann, Mächtige Worte – Antike Rhetorik und europäische Literatur [Ars Rhetorica 20], Berlin: Lit, 2008. 213 S. Als Cicero, stadtbekannter römischer Redner, im De oratore formulierte »Der Dichter steht dem Redner nahe, [ . . . ] in vielen Formen schmückender
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Gestaltung ist er gar sein Gefährte und ihm fast gleich« (De oratore I, 70) und auf diese Weise die enge Verbindung von Literatur und Rhetorik beschwor, wird das seine Zeitgenossen kaum überrascht haben: Rhetorische Regeln anhand von literarischen Werken zu erläutern, war bei den römischen Rhetoren, die hauptsächlich für die Ausbildung der Bürger auf dem Gebiet der Beredsamkeit verantwortlich waren, seit Jahren gängige Praxis. Auch Aristoteles, dessen Werke in der römischen Tradition ihren Widerhall fanden, hatte seine rhetorischen Leitlinien weitgehend anhand der homerischen Epen entwickelt. Und Quintilian, Rhetoriklehrer im Rom des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, wird in seiner Institutio oratoriae die Orientierung an literarischen Werken sogar ausdrücklich empfehlen (Inst. orat. X, 1, 27s). War die Zusammenschau der beiden Sphären in der Antike – und wie wir sehen werden erneut im Renaissancezeitalter – allgemein anerkannt und selbstverständlich, scheinen Legitimität und Fruchtbarkeit einer solchen Vorgehensweise in unserer Zeit oftmals vergessen. Damit die Regeln der klassischen Beredsamkeit ihren Status als wertvolles Instrumentarium zur Analyse literarischer Texte wieder zurückgewinnen, bedarf es also einiger ›Überzeugungsarbeit‹. Die Initiative der Autoren des vorliegenden Bandes ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Die Teil-Übersetzung der vor gut zwanzig Jahren erschienenen Studie von Brian Vickers In Defence of Rhetoric (Oxford: Clarendon Press 1988) macht diese »Einführung in Geschichte, Theorie und Praxis der Rhetorik« (7) einer nun noch breiteren Öffentlichkeit zugänglich. Der gewählte Titel ruft zudem die angesprochene »Allianz von Poetik und Rhetorik« (78) deutlich in Erinnerung. Mehr noch: Das von Sabine Köllmann hinzugefügte Kapitel »Die lebendigen Figuren: Beispiele ihrer Anwendung bei Ariosto, Shakespeare, Goethe, Hugo und Vargas Llosa« (5. Kapitel, 149 – 177) zeigt, dass die »Allianz« weiterhin Bestand hat, die Auseinandersetzung mit rhetorischen Strategien demnach für Vertreter zahlreicher neuphilologischer Disziplinen von Interesse ist – oder sein sollte! Ganz der Intention des Bandes entsprechend, bieten die ersten drei Kapitel zunächst eine Einführung in die Ursprünge der Beredsamkeit (1. Kapitel »Rhetorik und Leben«, 11 – 23) und stellen anschließend erst »die wichtigsten Texte« (2. Kapitel, 25 – 68), dann die »wichtigsten rhetorischen Verfahren » (3. Kapitel, 69 – 101) vor. Einem dieser Verfahren, der elocutio als dritte Bearbeitungsstufe bei der Gestaltung einer Rede (cf. 81s), wird im anschließenden vierten Kapitel »Die expressive Funktion der rhetorischen Figuren« (103 – 147) besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Die Tatsache, dass neben dem einführenden Kapitel des englischen Originals (»An outline of Classical Rhetoric«) ausgerechnet der Abschnitt über die sprachliche Ausgestaltung von Texten – nicht aber derjenige zur Renaissance der Rhetorik im 16. und 17. Jahrhundert (»Renaissance Reintegration«) zur Übersetzung ausgewählt wurde, unterstreicht das Anliegen der
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Autoren, mit gängigen Vorurteilen aufzuräumen und die Beredsamkeit vornehmlich aus dem Blickwinkel des literarisch, respektive literaturwissenschaftlich Interessierten zu beleuchten. Diese Ausrichtung ist zwar in der englischen Fassung bereits angelegt, erhält aber im vorliegenden Band durch die Ergänzungen von Köllmann zusätzliches Gewicht. Dem vierten und fünften Kapitel sowie der Liste ausgewählter Figuren (179 – 204) soll dementsprechend im Folgenden besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Wie Vickers selbst zu Beginn des Kapitels angibt (103 / 104) ist gerade die elocutio mit ihren Empfehlungen zum Gebrauch von Figuren und Tropen nicht nur von Laien, sondern auch von Kennern der Materie immer wieder als »trivial und langweilig« bezeichnet worden, ja hatte man die »endlos erscheinenden« Listen sogar für den »Verfall der Rhetorik« verantwortlich gemacht. Diesem Urteil widerspricht der Autor vehement, indem er den rhetorischen Figuren die Funktion des »letzten und entscheidenden Glieds im Überzeugungsprozess« zuschreibt (104). Mit dem Hinweis auf die Figuren als ›sprachliche Ornamente‹ (124) lenkt er zudem den Blick auf die Anverwandlung der antiken rhetorischen Theorien in der Renaissance und darüber hinaus (cf. Kapitel 5): die Bezeichnung ›Ornament‹ sollte jedoch nicht etwa, wie in der Vergangenheit oft geschehen, als zwar schmückendes, aber nutzloses Beiwerk verurteilt, sondern – ganz dem römischen Verständnis von ornatus entsprechend – als besondere Auszeichnung des Textes gewertet werden (125). Auf der Grundlage der in den Einleitungskapiteln vorgestellten »wichtigen Texte« (neben den bereits erwähnten von Cicero (43 – 52) und Quintilian (52 – 59) sind dies vor allem die Rhetorik von Aristoteles (31 – 39) die anonyme Rhetorica ad Herennium (39 – 42) sowie in Hinblick auf die Figurenlehre die Schrift Vom Erhabenen von Pseudo-Longin (67)), erläutert Vickers anhand einer Fülle von Beispielen den mimetischen Ursprung zahlreicher Figuren, so von aposiopese oder hyperbaton als Abbild starker Verwirrung oder Furcht, hebt aber auch, den modern gesprochen, polysemischen oder – plastischer noch, polypathetischen – Charakter der Figuren wiederholt hervor: »So liegt in der Verdopplung von Worten manchmal Nachdruck, manchmal Anmut« (123, cf. De oratore III, 206; ähnlich 116, 126, 128). Einen weiteren Schwerpunkt legt Vickers in seiner Darstellung auf die Korrelation der Affekte. Schon Horaz, Autor der sog. Ars poetica, hatte unter Bezugnahme auf die Erfahrungen der Rhetoriker formuliert: »Willst du, dass ich weine, so traure erst einmal selbst; dann wird dein Unglück mich treffen (Ars poetica, vv. 99 – 106, hier 65 / 66), anders gesagt: Wer Leidenschaft erwecken will, muss mit Leidenschaft reden – die wiederum in den rhetorischen Figuren ihren lebendigen Ausdruck findet! Auch wenn die Renaissanceautoren dieses Konzept der rhetorischen Figur als »Kristallisation lebendiger Gefühlszustände« (109) später oft für sich be-
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anspruchten, sei angemerkt, dass hier lediglich ein Rückgriff auf die antike Vorstellung des Überzeugens durch Gemütsbewegung vorliegt (cf. 69s). Den Autoren und Werken des 16. und 17. Jahrhunderts ist dann auch der dritte Abschnitt des vierten Kapitels gewidmet. In Hinblick auf den angesprochenen latenten Vorwurf der Nutzlosigkeit und Künstlichkeit der rhetorischen Figuren, dem Vickers mit der deutlichen Absage an jede definitive Zuordnung von Figur, Wirkung und Funktion ein dynamisches Konzept entgegengestellt hatte, sind drei Texte von besonderem Interesse. Georg Puttenham, Verfasser der 1589 erschienenen Schrift The Arte of English Poesie und erneut César Chesnau du Marsais (Des Tropes, 1730) verweisen auf die selbstverständliche Verwendung von Figuren durch jeden von uns, ja, Du Marsais qualifiziert deren NichtVerwendung sogar als unnatürlich (143; 112). Wenn Pierre Fontanier im Kommentar zur Neuauflage des Werks von Du Marsais 1818 mit Bezug auf Boileau ergänzt: »dass man an einem Markttag in den Hallen mehr Metaphern finden kann als in der gesamten Aeneis« (112) wird deutlich, dass das zu den Figuren Gesagte, mit gewissen Einschränkungen auch für die Tropen, zu denen ja auch die Metapher gehört, gilt: Sie sind selbstverständlicher Teil menschlicher Sprache und fungieren – wie die Figuren – als Spiegel der Gemütsbewegungen ihres Senders. – Jedoch: Inwieweit die Redefiguren bewusst oder unbewusst eingesetzt werden, ist dank ihrer natürlichen Präsenz in der Alltagssprache sowie aufgrund der allgemeinen Akzeptanz des ars est celare artem Prinzips in Antike und Renaissancezeitalter, demzufolge die Kunst darin besteht, sie natürlich und eben nicht als Kunst erscheinen zu lassen (cf. zum Beispiel Vom Erhabenen, 22, 1; hier 107, ähnlich 110, 145) nicht immer feststellbar, eine Schwierigkeit, die besonders bei der Arbeit mit Werken, die zu ›rhetorikfeindlichen‹ Zeiten, also im 19. – 21. Jahrhundert entstanden sind, zu bedenken ist. Das fünfte Kapitel hält eine Anzahl von Kurzanalysen von ausgesuchten Werken verschiedener Gattungen von bekannten Autoren aus fünf Jahrhunderten bereit, anhand derer – in direkter Anknüpfung an die vorangegangenen Ausführungen von Vickers – gezeigt werden soll, »dass die Diskussion spezifischer Figuren und ihrer Wirkungen weder übertrieben noch sinnlos ist« (149). Lässt sich diese These rasch bestätigen – anderenfalls wäre das Kapitel und letztlich auch der vorliegende Band relativ überflüssig – bedarf es zur Bekräftigung der zweiten genauerer Analysen: »Wie wichtig bestimmte wiederkehrende Figuren und Tropen für die Wirkung eines Autors bzw. eines bestimmten Werkes sind« (151) verdeutlicht Köllmann unter anderem an den dramatischen Werken von Shakespeare und Goethe, den Romanen und Essays von Hugo und Vargas Llosa sowie am Orlando Furioso von Ariosto. In den drei epischen Texten dienen die rhetorischen Figuren mehrheitlich zur Gestaltung des Erzählerkommentars, sei es, dass sie das episodenhafte Epos durch wiederkehrende rhetorische Figuren und Tropen (Metaphern) zusammenhalten (156), sei es,
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dass der auktoriale Erzähler wie in Les misérables oder Notre Dame de Paris seinen Lesern in leidenschaftlicher Prosa, durch Antithesen und Wiederholungsfiguren ›einhämmert‹, was er denkt und was sie denken sollen (169). Auch Vargas Llosa gebraucht Wiederholungsfiguren, interessanterweise mit ganz unterschiedlichen Effekten unter Verwendung stets gleicher Mittel wie beispielsweise in Historia de Mayta einerseits und La guerra del fin del mundo andererseits (175) – ein Hinweis auf die polypathetische Qualität der Figuren. Bei Shakespeare und Goethe dienen die rhetorischen Figuren vor allem zum Ausdruck der Leidenschaften des (Bühnen)-Personals, wie Köllmann z. B. anhand der Rede des verwirrten Polonius in Hamlet (Hamlet, II, 1, vv. 49s, hier 157) zeigt, zumeist in »quasi mustergültiger Weise« nach antikem Vorbild (ibid.). Dabei zeichnet sich der Figurengebrauch beider Dichter durch ein hohes Maß an »Natürlichkeit im kunstvollen Sprachgebrauch« aus (168) – die bereits angesprochene Schwierigkeit, hier zwischen tatsächlicher und bewusster Natürlichkeit zu unterscheiden, ist offensichtlich. Nichtsdestotrotz zeigen die Analysen Köllmanns, vor allem in Verbindung mit der Übersicht auf Seite 179 ff., die erweiterte Fassung des »Appendix – Definitions of Rhetorical Figures and Tropes« aus In Defence of Rhetoric, in welchem Maße die anfangs konstatierte Verbindung von Rhetorik und Poetik auch in unserer Zeit noch Bestand hat und die Kenntnis der antiken Regeln der Beredsamkeit bei der literarischen Analyse von Werken aller Jahrhunderte von großem Nutzen sein kann (cf. 177). Es wäre zu wünschen, dass der Band von Vickers und Köllmann bei Lernenden und Lehrenden als »Einführung in Geschichte, Theorie und Praxis der Rhetorik« positive Aufnahme findet, dessen offensichtliche Schwächen – wie das Fehlen eines Personen-, Sach- und Stellenregisters und die zwar erweiterte, aber durch fehlende Kennzeichnung der hinzugefügten Werke wenig übersichtliche Bibliographie – durch die auch für den Anfänger gut verständliche Diktion und die klare Gliederung bei weitem kompensiert werden. Béatrice Jakobs, Kiel Béatrice Jakobs, Volker Kapp (Hgg.), Seelengespräche [Schriften zur Literaturwissenschaft 31], Berlin: Duncker und Humblot, 2008. 289 S., index nominum. Der vorliegende Sammelband stellt weit mehr dar als die um ein paar Texte angereicherte Dokumentation einer gemeinsamen Tagung der verschiedenen philologischen Sektionen der Görres-Gesellschaft; seine zwölf Studien erweitern vielmehr auf originelle Weise gleich zweifach den bestehenden rezeptionsgeschichtlichen Forschungsbereich der Psychomachie des Aurelius Prudentius Clemens (348 – 415): erstens gehen die Beiträge inhaltlich über das siebzehnte
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Jahrhundert hinaus und zweitens beziehen sie sich nicht nur auf Texte, die in direkter Abhängigkeit von Prudentius stehen; dabei verlieren sie sich jedoch nicht in eklektischer Beliebigkeit. Um nämlich einen kulturgebundenen, dem modernen Leser eher schwer zugänglichen, geistesgeschichtlich bedingten Kontext des fünften Jahrhunderts weder zu ignorieren, noch ihm verhaftet zu bleiben, orientieren sich die Arbeiten meistens komparatistisch an dem grundlegend menschlichen Thema, dem Prudentius seine exemplarische, geschichtlich bedeutsame, dichterische Gestalt gegeben hat, und das die Herausgeber Béatrice Jakobs und Volker Kapp als »Seelengespräch« bezeichnen. Der Begriff der Seele wird dabei nicht theologisch eng gefasst; der Band beschäftigt sich vielmehr mit literarischen, weltanschaulich unterschiedlich motivierten Ausformungen der inneren Dialogizität des Menschen. Er behandelt die Thematik »des Kampfes widerstrebender seelischer Kräfte« (9), die im Laufe der Zeit sehr unterschiedliche Namen annehmen, sei es nun avaritia und operatio, Gott und Mensch, Liebe und Eifersucht oder Intellekt und Gefühl, und den Menschen mit den Spannungen der Unentschlossenheit in seiner Beziehung zu Gott, Welt und Mitmensch konfrontieren. Untersucht werden besonders auch die unterschiedlichen stilistischen Mittel, derer sich die Schriftsteller bedienen, um der innerseelischen Verfasstheit Ausdruck zu geben, und die zeigen, wie sie zugleich Ausdruck der Entwicklung eines zeitgenössischen Menschenbildes und Kunstverständnisses sind. Die einzelnen Aufsätze verfolgen dabei das Thema über drei verschiedene Epochen, nämlich das christliche Altertum, das siebzehnte Jahrhundert und schließlich das zwanzigste in Bezug zu seinen Vorgängern seit der Aufklärung. Der erste Beitrag von Christian Gnilka widmet sich der »Bedeutung der Psychomachie im Gesamtwerk des Prudentius« (19 – 39); die werk- und rezeptionsgeschichtlichen Aspekte verbinden sich hier mit soziokulturellen Elementen und inhaltlichen Analysen. Vor allem artikuliert Gnilka unsere zeitgenössischen Rezeptionsschwierigkeiten und bietet die Grundlagen zu einem Verständnis, das dem Werk an sich gerecht wird. Im zweiten Aufsatz untersucht Günter Niggl »Rede und Gespräch in Augustins Confessiones« (41 – 56). Er stellt damit eine andere, zeitgleich geprägte Form des »Seelengesprächs« dar und zeigt, zu welcher Glaubensgewissheit die Hermeneutik im Rahmen der Gottsuche geführter innerer Selbstgespräche führen kann. Bereits der Titel von Bernhard Teubers komplexer Studie »Selbstgespräch – Zwiegespräch – Seelengespräch. Zur Ökonomie spiritueller Kommunikation« (57 – 79) zeigt die ganze Spannbreite der menschlichen, geistig-geistlichen dialogischen Verfasstheit auf, deren christliche Ausprägung er an biblischen Referenzen festmacht, zugleich diskursanalytisch situiert und von der Spätantike bis zur Moderne verfolgt.
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Die folgenden vier Aufsätze gehen zum 17. Jahrhundert über; die ersten drei beschäftigen sich mit der Darstellung der innerseelischen Gespräche und Auseinandersetzungen auf der Bühne. Béatrice Jakobs vergleicht »Die Motivik der Unentschlossenheit in der Psychomachie und deren Verselbständigung im frühen Musikdrama« (81 – 117); ihr Augenmerk gilt dabei auch dem wechselnden Verhältnis der musikalischen und literarischen Mittel. Emmanuelle Hénins Beitrag »›La tragédie est la lice des passions‹; rhétorique et dramaturgie dans les monologues de Médée et d’Hérode (Corneille, Médée, V, 2; Tristan, Mariane, I)« (119 – 150) hebt u. a. die Bedeutung der Prosopöie in der dramatischen Darstellung der tragischen inneren Kämpfe hervor. Auch Benedetta Papasogli bezieht sich in ihrer Untersuchung zur »Erfahrung des Tragischen im Warnungstraum« (151 – 164) auf Tristan L’Hermites Mariane, beschäftigt sich aber auch mit Théophile de Viau, Jean Rotrou, Claude Boyer und schließlich Jean Racine. Dabei verweist die ambivalente Bestimmung der Herkunft des Traums auf »das Schwanken der Tragödie des 17. Jahrhunderts zwischen theologischer und anthropologischer Perspektive«. Dies ist nur ein Beispiel literaturgeschichtlich relevanter, zeitgenössischer theologischer Fragen, die jeweils sachlich präzise in die einzelnen Darstellungen aufgenommen wurden. In dem letzten Artikel, der sich mit Werken des 17. Jahrhunderts beschäftigt, »Poetische Strukturelemente der Psychomachia in der allegorischen Dichtung Anne Bradstreets und Edward Taylors« (165 – 182), zeigt Dennis Hannemann wie die formalen Analogien zwischen dem Werk von Prudentius und der puritanischen Dichtung Neuenglands nicht über die wesentlichen inhaltlichen Unterschiede hinwegtäuschen dürfen. Fünf Beiträge beschäftigen sich dann mit Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts und ihren Vorgängern seit der Aufklärung. Kurt Müller zeigt in »Psychodrama and ›Talking Cure‹ : Gespräch und Selbstgespräch in Ernest Hemingways For Whom the Bell Tolls« (183 – 199) wie der schizoid veranlagte Protagonist Robert Jordan in den Gesprächen einen abstrakten, rein instrumentellen, auch durch soziale Institutionen vermittelten Sprachgebrauch zu Gunsten einer Imagination des Konkreten überwindet und so auf dem Weg einer inneren Einheit fortschreitet. Eva-Maria Orth überschreibt ihren Beitrag »›Conscience, turned tyrant, held Passion by the throat‹: Zur Tradition der Psychomachie im englischen Roman« (201 – 211); in Bezug auf Sir Philip Sidney, Daniel Defoe, Anthony A. Cooper und Charlotte Brontë zeigt sie, wie die allegorischen Personifikationen nur mehr wegen ihrer eindrucksvollen Bildhaftigkeit zur Darstellung, Analyse und schließlich Disziplinierung rein mentaler Vorgänge, die eine eigenständige Welt eines einzelnen Bewusstseins bilden, herangezogen werden. Dostoevskij durfte im Panorama spirituellen Seelengesprächs nicht fehlen. Ulrich Schmid untersucht in seinem Aufsatz »Psychomachie, Figuration und Erzählstruktur. Darstellungsformen des komplexen
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Bewusstseins bei Dostoevskij« (213 – 228) die Rolle der Dialoge zwischen den Romanfiguren, die gewissermaßen das Verfahren der Allegorisierung in der Psychomachie ersetzen. Cornelia Ruhe bespricht anschließend die Weiterentwicklung von Dostoevskijs Verfahren in Miguel de Unamunos Erzählung San Manuel Bueno, martir. Dazu greift sie in ihrem Artikel »Der Teufel und seine Advokatin. Dialogizität und Seelenkampf« (229 – 244) nicht nur auf Konzepte von Bachtin, sondern auch auf poetologische Überlegungen von Roland Barthes und Alain Robbe-Grillet zurück. Ausgehend vom Surrealismus, analysiert Volker Kapps abschließender Beitrag »Die Rhetorik des Fragmentarischen als Auseinandersetzung mit Grenzerfahrungen. Formen der Seelengespräche bei Annie Le Brun, Yves Bonnefoy, Marie Noël und Paul Claudel« (245 – 278) ein wesentliches, formales Moment, das die inhaltliche Darstellung der ungestillten Sehnsucht nach transzendenter Fülle im zwanzigsten Jahrhundert allgemein charakterisiert. Zu dessen Situierung und Deutung kann er auf die theologischspirituelle Tradition einer negativen Theologie zurückgreifen und das Konzept der Seelengespräche weiter vertiefen; paradigmatisch demonstriert er auch die wissenschaftliche Inkonsistenz gängiger ästhetischer Urteile über literarische Werke christlicher Inspiration. Die durchgängige, innere Einheit eines Sammelbandes, der sich durch seine Methoden- und Quellenvielfalt auszeichnet, beruht aber nicht auf dem »Jargon der Uneigentlichkeit« einer critical theory. Dort, wo theoretische Modelle herangezogen werden, stehen sie vielmehr im Dienst einer effizienteren Beschreibung des Gegenstandes der Untersuchung. Zudem wird die Theorieresistenz des Themas nicht ignoriert oder überspielt, sondern es werden auch die Grenzen bestehender Kategorien der Semantik, Rhetorik und Linguistik ermittelt (vgl. B. Teuber). Der »rote Faden« des Buches besteht wesentlich in der auf religiöse und ideologische Neutralität bedachten Formulierung des Themas auf einer anthropologischen, jenseits kulturgeschichtlicher Brüche bestehenden Metaebene, die es besonders zu würdigen gilt. In der Einleitung wird die geistesgeschichtliche Entwicklung zum säkularisierten Menschenbild der Moderne prägnant, unpolemisch und mit kurzen, aber grundlegenden Literaturhinweisen skizziert. Weder hier noch in den Artikeln geht es aber um die Suche nach einer »verlorenen Unschuld« und die mit ihr einhergehenden emblematischen Hochschätzung einer vergangenen Epoche; auch verspürt der Leser nichts von Schuldzuweisungen angesichts einer zeitgenössischen Gottvergessenheit oder -ferne. Die für Prudentius grundlegende christlich-theologische Funktion der Literatur bleibt ebenso wenig für die Textdeutungen dieses Sammelbandes maßgebend, wie eine autorenunabhängige Identifikation des Seelengesprächs mit christlichen Interpretationsinhalten (vgl. 24). Weder die christliche, noch die säkularisierte Ausdrucksform des Seelengesprächs wird zum Maßstab erhoben; die gewählte heuristische Grundent-
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scheidung verhindert eben die Identifikation des Themas mit einer epochal bestimmten Ausdrucksform. Somit zeigt sich im Nacheinander der einzelnen Beiträge die hermeneutische Ambivalenz sowohl des Themas als auch der Stilfiguren an sich. Die Polyphonie der Aufsätze lässt etwas von dem erahnen, wie sich der Mensch innerhalb bestehender Weltanschauungen literarisch darstellt, ausdrückt und sich (und Gott) (zu verstehen) sucht. Damit illustriert dieser Sammelband auch die funktionale Unbestimmtheit der Literatur an sich, oder vielmehr die Möglichkeit, der Literatur – und der Kunst im Allgemeinen als menschliches, spezifisches Ausdruckspotential, das ein bestimmtes Erlebnis fiktionaler, aber lebendiger Tatsächlichkeit ermöglicht – in sowohl ideologisch als auch soziologisch unterschiedlichen Kontexten gar gegensätzliche Funktionen zuzuweisen. Letztlich hängt diese Ambivalenz mit jener der menschlichen Einbildung zusammen, deren Tätigkeit sowohl auf (sinnliche) Eindrücke objektiver, subjektunabhängiger Gegebenheiten als auch auf rein mentale Vorgänge zurückgeführt werden kann; nur im Rekurs auf zusätzliche Faktoren und Argumente kann man diese Eindrücke unterscheiden. Ob ein Autor also ein inneres Gespräch als Begegnung von Gott – oder Teufel – und Selbst ansieht, ob er glaubt, in ihm würde sich ein überindividueller Kampf von Tugenden und Lastern widerspiegeln, oder ob er den inneren Zwist als nicht transzendentes, immanent psychisches Geschehen interpretiert, diese Entscheidung über Identität und Alterität, Innerlichkeit und Äußerlichkeit, Sein und Schein fällt erst im Einvernehmen mit außerliterarischen Faktoren, Erfahrungen und Überzeugungen. Was Prudentius der katholische Glaube, das ist z. Bsp. den Autoren den englischen Romans die sittliche Vernunft. Dem heutigen Leser ermöglicht es das Buch dank seines deskriptiven Zugangs, einen eigenen, sowohl von (zu oft nicht artikulierten) existenziellen als auch wissenschaftstheoretischen Grundentscheidungen getragenen Lese-, Denk- und Erkenntnisweg zu beschreiten, letztlich so ein eigenes Geistes- oder Seelengespräch mit den Figuren oder auch den Gedanken, die der Band ihm vorstellt, zu beginnen und die Einengung mancher gängiger Interpretationsmuster zu überwinden. Interessieren ihn nur die Beiträge, die sein spezifisches Fachgebiet betreffen, so bietet der vorliegende Sammelband neue Zugänge, die möglicherweise verbreitete, oftmals weltanschaulich motivierte, ästhetische Vorurteile quellenbezogen in Frage stellen. Dem, der das ganze Buch liest, erschließt es eine solche Anzahl und Auswahl von Facetten des Themas, dass er dessen inhaltliche und formale anthropologische Grundkonstellationen erfassen kann. Die Ergebnisse eines solchen komparatistischen, sowohl an der Spezifizität der Literatur, oder allgemeiner des Ästhetischen, als auch an dessen Bezug zur menschlichen Grundverfasstheit interessierten deskriptiven litera-
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turwissenschaftlichen Arbeitens, drängen danach, im interdisziplinären Diskurs mit Psychologie, Philosophie, Hirnforschung und der zu neuem Leben erwachenden Theologie der Spiritualität rezipiert zu werden. Somit verweist diese wegweisende, themenzentrierte Zusammenarbeit der philologischen Sektionen der Görres-Gesellschaft auf einen sowohl methodologisch als auch inhaltlich über die Literaturwissenschaft hinausgehenden möglichen Erkenntnisfortschritt. Jean Ehret, Luxemburg Heimo Reinitzer, Gesetz und Evangelium. Über ein reformatorisches Bildthema, seine Tradition, Funktion und Wirkungsgeschichte. Hamburg: Christians Verlag, 2006. 2 Bde. 535 S., 415 S., zahlreiche Abb. Der Titel des vorliegenden Werkes könnte den Anschein wecken, es handle sich um eine theologische Studie, die den Philologen höchstens indirekt etwas angeht. Der Verfasser ist jedoch als ein angesehener Literaturwissenschaftler keineswegs in ein ihm fremdes Gebiet eingedrungen, wie z. B. an einem Flugblatt aus Darmstadt (200 f.), dem umfangreichen Text zu 24 Federzeichnungen mit auf den Schmalkaldischen Krieg bezogenen Szenen aus dem Alten und dem Neuen Testament aus dem Sächsischen Hauptarchiv in Dresden (206 – 213), an Epitaphen aus dem polnischen Javor (275 f.) oder an Bildlegenden aus Lindau (305 – 309) deutlich wird. Reinitzer hat mit seiner hohen Kompetenz, etwa auf dem Gebiet der Bibeldrucke, eine wissenschaftliche Lücke entdeckt, die sozusagen im Niemandsland der Grenzgebiete zwischen verschiedenen Disziplinen angesiedelt ist, nämlich der Theologie, der Kunstgeschichte und der Literaturwissenschaft, und die gerade deshalb bisher nicht gefüllt worden ist. Dabei handelt es sich um ein zentrales und höchst bedeutsames Thema: die Stellung der Bildlichkeit in der Vorstellungswelt und den kulturellen bzw. religiösen Praktiken der Reformierten, deren geographische Verteilung durch den 860 Nummer umfassenden, übersichtlichen Katalog (136 – 492) veranschaulicht wird, der alphabetisch nach Orten gegliedert ist. Wer sich innerhalb der Romania bewegt und überhaupt noch für Fragen der Religiosität offen ist, hält sich mit einem gewissen Recht an den Antagonismus von katholischer Freude am Bild, die landläufig mit der auf den Protestanten Wölfflin zurückgehenden Kategorie des Barocken gleichgesetzt wird, und der Bildlosigkeit der Reformierten, die am eindrücklichsten in den wenigen noch erhaltenen Kirchen der durch das Edikt von Nantes zu Staatsfeinden erklärten Reformierten in Frankreich veranschaulicht wird und in Genf, der Hochburg des Kalvinismus, oder in Zentren der emigrierten Hugenotten wie z. B. Erlangen als historisches Faktum dokumentiert wird. Die Universitätsbibliothek Erlangen liefert zwar einen wichtigen Druck (218 f.), die Kirchen in der Stadt jedoch kein Material, sieht man von der Kanzel im Vorort Erlangen-Bruck
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(229) ab. Die Kirchen von Genf, Basel und Zürich fehlen ganz, in Basel finden sich nur in den Museen und Bibliotheken Belege. Deshalb bleibt es zwar unbestreitbar, dass der Barock überall dort zur Blüte kam, wo die Gegenreformation triumphierte, doch werden die Differenzierungen innerhalb der Reformierten, die beispielsweise im 17. Jahrhundert die Berufung eines Kalvinisten an die Universität Kiel ebenso unmöglich machten wie die eines Katholiken, leicht übersehen. An diesem Punkt setzt Reinitzer an und stellt sich dezidiert auf den Boden der Lutheraner, wenn er seiner wertvollen Dokumentation eine Skizze von Luthers Rechtfertigungslehre voranstellt, um zu verdeutlichen, »was unter lutherischer Rechtfertigungslehre und seiner Formulierung von Gesetz und Evangelium zu begreifen ist (12). Ich überlasse den Theologen die Beurteilung dieser mit vielen Zitaten aus Luthers Werke gespickten Studie, die nicht in meine Kompetenz als Literaturwissenschaftler fällt, halte sie jedoch als Klärung der in diesem Band im Vordergrund stehenden lutherischen Grundlage des Bildthemas für hilfreich. Das zweite Kapitel »Die Entstehung des Bildthemas von Gesetz und Gnade: die Lehrbilder« (17 – 40) verdeutlicht die Basis für das ganze Werk. Das dritte Kapitel »Die Neuformulierung des Themas: die Predigtbilder« (41 – 57) stellt die Rolle von Lukas Cranach d. Ä. für die Entstehung des Predigtbildes heraus, während das vierte »Die Bildtradition neben und nach Lukas Cranach d. Ä.« (58 – 69) besonders Titel- und Flugblätter vorstellt. Das fünfte Kapitel beschreibt fünf Formen: das »Lehrbild« (70 – 76), das »Andachtsbild« (77 – 80), das »Epitaphbild« (80 – 91) und das »Bekenntnisbild« (92 – 94). Danach werden anhand von acht Beispielen der Unterschied »Evangelisch – Katholisch« (95 – 109), sodann »Bildfunktionen, Bildzitate, Bildformeln« (110 – 118) thematisiert und abschließend noch zwei »andere Bildentwürfe« in der Schlosskapelle von Neuburg an der Donau und in einem Studierzimmer in der Burg Strechau behandelt. Der zweite Band dokumentiert alle analysierten Beispiele in 285 Abbildungen. Nimmt man noch die differenzierten Register dazu, so zeigt sich der hohe dokumentarische Rang dieser beiden Bände. Dieses Werk breitet eine beeindruckende Gelehrsamkeit aus, die es zu einer wahren Fundgrube für Informationen über Bildmotive in Malerei und Literatur sowie über die Erforschung biblischer bzw. religiöser Themen in beiden Bereichen macht. Es fragt sich aber, ob Reinitzer gut beraten war, als er von einer nach heute vorherrschender Meinung offenbar fälschlich Goffroy Tory zugeschriebenen Druckgraphik »Gesetz und Evangelium« aus den Jahren 1523 / 4 dezidiert erklärt, dass sie »eindeutig protestantischer Herkunft ist und lutherischer Theologie folgt« (36), obwohl diese Bildidee »mit Bestimmtheit nicht Luther zum Urheber« (17) hat. Die neueste Forschung zur französischen religiösen Lyrik kommt immer wieder auf die Eigengesetzlichkeit künstlerischer Ausdrucksformen zurück, die eine klare Scheidung nach Konfessionen selbst
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dann schwierig macht, wenn die Autoren ihr Werk in den Dienst konfessioneller Auseinandersetzungen stellen. Max Webers viel zitierte Thesen zur protestantischen Ethik sind schon vor Jahren durch Studien von Alois Hahn hinterfragt worden, der eklatante Parallelen zu dezidiert katholischen Vorstellungen nachgewiesen hat. Ich bin von Reinitzers These deshalb nicht überzeugt, weil das skandalöse Ende von Tory als Ketzer auf dem Scheiterhaufen für seine Argumentation dadurch gegenstandslos wird, dass er sich der herrschenden Meinung innerhalb der Kunsthistoriker anschließt, dass das Blatt nicht von Torcy stammt. Auch der Gang des Druckers ins Exil hat nichts mit der Konfessionszugehörigkeit der Bildidee zu tun, die vielleicht zunächst gar nicht so eindeutig konfessionell determiniert war, wie sie es durch ihre Wirkung wurde. Reinitzer sieht diesen Stich als Beginn der gesamten evangelischen Bildtradition von Gesetz / Gnade und Evangelium« (374) an. Dies sucht er u. a. mit Bezug auf eine Kopie, den sog. Erlanger Holzschnitt (37 f., Beschreibung 228 f., Bd. II, Abb. 32, S. 52), zu beweisen und seine ganze Dokumentation belegt überzeugend die konfessionelle Verortung der Bildidee. Reinitzers Bildbeschreibungen im Katalog sind sehr präzis, nur beim eben erwähnten Blatt unterläuft ihm ein Missgeschick. Im Einleitungsteil wird er als »Holzschnitt« (18 u. ö.), im Katalog als »Einblattdruck (Kupferstich)« (371) und Abbildungsteil als »Kupferstich« (Bd, II, Abb. 31, S. 51) bezeichnet. Es handelt sich um ein »Fragment«, bei dem »ein darunter stehender Text, auf den die ins Bild inserierten Ziffern [ . . . ] verweisen« (371), nicht erhalten ist. Die zu den Bildern gehörenden Texte nehmen in der gesamten vorliegenden Studie einen wichtigen Rang ein, weil sie oft zur Vereindeutigung der Bildaussage unerlässlich sind. Damit erweist sich die vom Kunsthistoriker Frank Büttner schon vor Jahren nachgewiesene rhetorische Argumentationsweise dieser Malerei der Bildkunst in der Reformationszeit und erneut auch die literaturwissenschaftliche Dimension der vorliegenden Untersuchung. Der konfessionelle Charakter dieser Bildidee ist unbestreitbar. Deshalb sind, so Reinitzer, zahlreiche Predigtbilder »durch den katholischen Bildersturm vernichtet oder auf ein unanstößiges Mindestmaß reduziert worden« (63). Das Gemälde »Mose mit den Gesetzestafeln« von Lukas Cranach d. Ä. wurde als » ›evangelisches‹ Bild [ . . . ] offenbar zersägt und nur in einem auch für Katholiken unanstößigen Teil erhalten« (298), ebenso sein Gemälde »Gesetz und Evangelium«, bei dem die »Bildinschriften übermalt [und die] untere Holzleiste mit Inschriften abgesägt« (379) wurde. Das Register der Themen (520 – 528) und der Bibelzitate (529 – 533) leistet dem Leser wertvolle Dienste und wird sicher dazu beitragen, dass Reinitzers zwei Bände künftig von vielen als Nachschlagewerk benutzt wird. Es ist eine Pionierleistung, die hohe Anerkennung verdient und zu weiterem Forschen anregt. Volker Kapp, Kiel
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Paul Goetsch, Machtphantasien in englischsprachigen Faust-Dichtungen: Funktionsgeschichtliche Studien. Paderborn / München / Wien / Zürich: Ferdinand Schöningh, 2008. 303 S. Diese außerordentlich breit angelegte und doch aufgrund des intensiven Bezugs auf konkrete Texte stets konzentriert argumentierende Untersuchung setzt sich mit der Faust-Geschichte als einem »Schlüsselmythos der Neuzeit«1 auseinander. Am Beispiel englischsprachiger Dichtungen von der frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert stellt sie sich als ein eindrucksvolles Ensemble von Fallstudien für das dar, was Hans Blumenberg als »Arbeit am Mythos« (1891) bezeichnet hat. Die Besprechung der Studie sei mit einer terminologischen und einer gattungskritischen Bemerkung eröffnet. Im Unterschied zu anderen Arbeiten über Leitfiguren des europäischen Individualismus, zu denen neben Faust Don Quijote, Don Juan, Hamlet und Robinson Crusoe gehören, verwendet Goetsch das Femininum »Mythe« anstelle des Maskulinums »Mythos« (dem der Rezensent den Vorzug geben würde). Der Grund für diese Begriffswahl scheint darin zu liegen, dass Vf. die zweite Bedeutung von Mythos als eine populär gewordene Gestalt, der Verehrung entgegengebracht wird, ausblenden möchte. In seiner Begriffswahl bekundet sich das strenge, von Pathos freie Wissenschaftsethos, für das der Autor bekannt ist. Die zweite Vorbemerkung betrifft die Definition des Gegenstands seiner Untersuchung. Er spricht von Faust-Dichtungen. Während es aber Gattungen wie die Robinsonade und – seltener – die Quijotiade gibt, ist der Begriff der Faustiade als literaturwissenschaftlicher Terminus so gut wie nicht existent. Offensichtlich ist die Definition und Konturierung der Gattung in diesem Fall besonders schwierig. Als Schlüsselelement für die Faust-Dichtungen versteht Vf. einen literarischen Text, dessen Protagonist Machtphantasien hat, die ihn die »den Menschen gezogenen Grenzen« verleugnen lassen (14). Diese Phantasien, die größtenteils im Volksbuch der frühen Neuzeit schon vertreten sind, können kumulativ in mehreren Lebensbereichen auftreten, oder auch in wenigeren oder isoliert in nur einem. Je nach Zahl und Intensität dieser Phantasien steht das jeweilige Werk in einer festeren oder einer lockeren Beziehung zur Faust-Tradition. Vf. stellt fest, dass sich angesichts der »Variationsbreite« der Faust-Texte »Leser und Leserinnen dieses Buches gelegentlich fragen [werden], ob manche der herangezogenen Texte sich nicht zu weit von der Faust-Gestalt entfernen« (17). Er hätte hier Wittgensteins Konzept der Familienähnlichkeiten heranziehen und von einem Merkmalsbündel sprechen können, bei dem mehr oder weniger Merkmale vertreten sein können. Im Grunde geht er aber tatsächlich im Sinne von Wittgenstein vor, ohne sich direkt auf ihn zu beziehen. Er erstellt einen Katalog der unterschiedlichen Ausrichtungen der Machtphantasien, die sich in den einzel1
Hans Joachim Kreutzer, Faust. Mythos und Musik. München 2003, 9.
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nen Kapitelüberschriften des Buchs abzeichnen: »Der Traum von der Herrschaft über die Zeit«, »Der Traum von der Beherrschung der Natur«, »Politisch-gesellschaftliche Machtphantasien«, »Imperiale Machtphantasien«, »Poetologische Phantasien«, »Sexuelle Phantasien«. Ziel ist die Untersuchung der historischen Entwicklung faustischer Machtphantasien und von »Bauelementen« der Faust-Mythe (18) in Übereinstimmung mit neueren funktionsgeschichtlichen Studien.2 Den motivkritisch orientierten Darstellungen im Hauptteil der Untersuchung geht ein Kapitel voraus, das einen Überblick über die »Rezeption der Faust-Mythe im englischen Sprachraum« (21) gibt und eine Reihe von Texten behandelt, auf welche die späteren analytischen Teile nicht näher eingehen. Dass dabei auch Werke der deutschen Faust-Tradition, namentlich Goethes Faust und Manns Doktor Faustus einbezogen werden, ergibt sich aus der intertextuellen Verflochtenheit der Faust-Traditionen. Die englische und amerikanische Faust-Rezeption erfolgte mehr über Goethes Faust als über Marlowes Doctor Faustus. Das Kapitel, das die Faust-Tradition vom deutschen Volksbuch und seiner englischen Übersetzung bis zu englischen und amerikanischen Werken vom Ende des 20 Jahrhunderts verfolgt, ist eine ungemein kenntnisreiche Darstellung. Es wartet mit einleuchtenden Urteilen auf wie etwa der Skepsis gegenüber den vielfach behaupteten »Analogien zwischen Hamlet und Doctor Faustus (23) und mit trefflichen Interpretationen wie die von Nathaniel Hawthornes Erzählung Ethan Brand, die von Robert Brownings lyrischem Drama Paracelsus und Edward Bulwer Lyttons Roman A Strange Tale. Dass aber Herman Melvilles Protagonist Ahab in Moby Dick in der Faust-Tradition stehen soll, wird trotz dahingehender Behauptungen älterer Forscher nicht sehr deutlich. Wichtig ist der Hinweis darauf, dass im viktorianischen Zeitalter mitunter der Gretchen-Tragödie mehr Aufmerksamkeit gewidmet wurde als dem Schicksal Fausts, dass aber in Dickens’ Bleak House Lady Dedlock eine Gretchen-Figur und ihr Verhältnis zu dem Anwalt Tulkinghorn an die Beziehung von Faust und Mephisto erinnert, bleibt spekulativ. Vf. hat hier im Bemühen um eine vollständige Erfassung des Materials auch für seine Fragestellung sehr am Rande stehende Beispiele angeführt. Das muss man nicht unbedingt kritisieren. Für den Leser bleibt die Herausforderung einer eigenen Urteilsbildung. Problematisch ist auch die Behandlung von Shakespeares Tragödie Macbeth im ersten analytischen Kapitel, das sich mit einem wichtigen Aspekt der FaustGeschichte, dem »Traum von der Herrschaft über die Zeit«, befasst. Das Thema wird durch einen Hinweis darauf, dass der Teufel in Manns Doktor Faustus als »Zeitverkäufer« auftritt, pointiert eingeführt (73) und anhand des Volks2 Marion Gymnich, Ansgar Nünning, Hgg., Funktionen von Literatur: Theoretische Grundlagen und Modellinterpretationen. Trier 2005.
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buchs, Marlowes Doctor Faustus und Oscar Wildes The Picture of Dorian Gray gut expliziert. Aber wenn auch zur Zeitthematik in Macbeth Richtiges gesagt wird und es gewisse Parallelen im Versuchungsgeschehen zwischen Doctor Faustus und Macbeth gibt, bleibt Shakespeares Tragödie doch außerhalb der untersuchten Tradition. Vf. sagt selbst einleitend, dass Macbeth »keine Nachdichtung des Faust-Stoffes im engeren Sinne« ist (82). Wahrscheinlich hat er sich durch einige vorliegende Beiträge zum Verhältnis dieser beiden Dramen zu diesem Teil seiner Arbeit anregen lassen. Die folgenden Kapitel, die sich mit Teilaspekten des Faust-Mythos – Naturbeherrschung, politisch-gesellschaftliche, imperiale, poetologische und sexuelle Machtphantasien – befassen, stellen große Kenntnisse und Recherche- und Interpretationsleistungen unter Beweis. Die Besprechung kann angesichts der Fülle des beigebrachten Materials nicht ins Einzelne gehen. Es sollen also nur einige Aspekte herausgegriffen werden. – In dem Kapitel über den Traum von der Beherrschung der Natur wird der Faust-Mythos in außer den zu erwartenden Fällen (u. a. Marlowe, Shelley, Goethe, Wells) in Werken nachgewiesen, die sich mit der Kernkraft und ihren Folgen beschäftigen (Huxley, Malamud, Durrell) sowie Mailers Roman über die Mondlandung (Of a Fire on the Moon, 1970) und Banvilles Mefisto (1993), dessen Schreibung der Titelfigur »die Verwandtschaft und Zusammengehörigkeit von Faust und Mephisto« hervorhebt. (135) – Die Ausführungen zu »politisch-gesellschaftlichen Machtphantasien« behandeln außer älteren Werken mit Dorothy Sayers’ neokatholischem Stück The Devil to Pay (1939), dessen Bühnentechnik auf das Mittelalter und die Frührenaissance zurückgreift, I. A. Richards’ Satire Tomorrow Morning, Faustus. An Infernal Comedy (1962) und mit Romanen von Michael Swanwick (Jack Faust, 1997), William Gass (The Tunnel, 1995) und Norman Mailer (The Castle in the Forest, 2007) weniger bekannte Werke. Viel Aufmerksamkeit wird Malcolm Lowrys Under the Volcano (1947) zuteil, dessen Beziehung zur Faust-Tradition aber nicht überzeugend nachgewiesen werden kann. – In Teilen problematisch ist das hochinteressante Kapitel über »Imperiale Machtphantasien«, das einen Bogen von Marlowe und Shakespeare (The Tempest) bis zu dem Kenianer Ngugi wa Thiong (Devil on the Cross, 1980) schlägt, aber auch Texte, etwa Patrick Whites Voss (1957), behandelt, deren Bezug zur Faust-Tradition schwierig zu beweisen ist. Von sehr hohem Interesse und in diesem Kontext zuvor noch kaum untersucht ist das Phänomen, dass die Größenphantasien der Faust-Figuren auch eine poetische und poetologische Dimension haben können. Die Behandlung dieses Themas in dem Kapitel »Poetologische Phantasien« beginnt erwartungsgemäß mit dem Hinweis auf Sir Philip Sidney, der den Dichter als den Schöpfer einer zweiten Natur bezeichnet und stellt dann aufschlussreiche Betrachtungen über Texte in der Faust-Tradition an, in denen die Machtphantasien der Pro-
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tagonisten sich auch auf einen quasi zauberischen Umgang mit der Sprache beziehen (Marlowe, Goethe, Mary Shelley, Byron, Hawthorne etc.). Als Beispiele für Werke, die Elemente des Entwicklungs- und Künstlerromans verbinden und sich in Teilen an die Faust-Traditionen anlehnen, werden William Gaddis’ The Recognitions (1955) und Jack Kerouac’s Doctor Sax. Faust Part Three (1959) erläutert. – Ein weiteres belegreiches Kapitel erläutert die von Anfang an mit der Faust-Tradition verbundenen sexuellen Phantasien. Einen Extrempunkt bildet dabei Robert Nye’s Roman Faust (1982), der eine Tendenz zum Pornographischen aufweist, aber, wie gezeigt wird, durchaus eine ernste Botschaft hat. Dass die sexuellen Phantasien sich der Faust-Tradition verdanken, wird hier dadurch relativiert, dass Fausts Gehilfe Christoph Wagner in Nyes Roman nicht weniger sinnenlustig – und pervers – ist als sein Herr. Übrigens haben auch Romane wie Merlin (1978) und Falstaff (1976) von Nye – einem Autor, der Werke der Weltliteratur aus sexueller Perspektive neu schreibt – stark sexualisierte Protagonisten. – Das Buch schließt mit Darlegungen zur »Faust-Tradition aus weiblicher Sicht«. Dabei werden zum einen Werke erläutert, die Faust aus feministischer Sicht darstellen, und zum andern solche, die weibliche Faust-Figuren präsentieren. Aus der Vielzahl herangezogener Belege sei Emma Tennants Roman Faustine (1992) genannt, der eine »satirische Auseinandersetzung mit Weiblichkeitsklischees« führt. (277) Am Ende seiner Untersuchung konstatiert Goetsch die Zunahme eines parodistischen Umgangs mit der Faust-Tradition im 20. Jahrhundert, besteht aber darauf, dass es bis in die Gegenwart hinein Autoren gibt, die sich von dem Stoff faszinieren und zur Auseinandersetzung herausfordern lassen. Goetschs funktionsgeschichtliche These, dass die Gestaltung von Machtphantasien in der Faust-Tradition den Prozess der Modernisierung seit der frühen Neuzeit in vielfältiger Weise bestätigend und kritisierend begleitet hat, ist durch diese Monographie bewiesen worden. Die langjährigen Kollegen Goetschs am Englischen Seminar der Universität Freiburg, denen er sein imponierendes Werk gewidmet hat, können ihm dankbar sein. Wolfgang G. Müller, Jena
Bernhard H. F. Taureck, Don Quijote als gelebte Metapher. München: Wilhelm Fink 2008. 170 S. Unter den zahlreichen Monographien zu Cervantes’ Don Quijote, die in den letzten Jahren erschienen sind, nimmt das zu besprechende Buch eine einzigartige Stellung ein. Sein Autor ist ausgewiesener Philosoph. Er diskutiert den spanischen Roman in einer Fülle philosophischer Kontexte, stellt aber auch Bezüge zu literarischen Werken her, die in der Cervantes-Literatur meistens unberücksichtigt bleiben. Seine Argumentation bewegt sich auf exzentrischen
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Bahnen, ohne freilich je den Text aus den Augen zu lassen. Sein Ziel ist es, das philosophische »Gewicht« (16) des Romans zu exponieren. Vereinfachend erscheint es allerdings, wenn er »Philosophieren« definiert als »lebensrelevante Themen aufzuspüren und danach zu suchen, was sie verbindet und was sie trennt«. Kühn ist es, wenn er unterschiedliche Diskurse gleichsetzend sagt: »Dies geschieht bei Platon, dies geschieht bei Montaigne und dies geschieht im Don Quijote (16). Als Schlüssel für die philosophische Interpretation des Romans erscheint ihm das Konzept der »gelebten Metapher«, das er in einer Kurzfassung seines Verständnisses des Romans so formuliert: »Neuerfindung philosophierender Ernsthaftigkeit aus dem wahrhaften Geist einer Selbstumerfindung, verstanden als die von ihm [Quijote] gelebte Metapher eines fahrenden Ritters« (15). Taurecks Konzept der gelebten Metapher ist nicht unproblematisch.1 Er sagt, der Junker glaube, als Folge seiner Lese-Erfahrungen »nunmehr selbst zu einem lebenden Text aus Fleisch und Blut geworden zu sein«,2 lässt aber außer Acht, dass sich Don Quijote nie als Text oder fleischgewordenen Text versteht. Auch wenn man Vf.s kritisch-ikonologisches Metaphernverständnis (70) gelten lässt, so ist der Umgang mit dem Begriff der gelebten Metapher doch widersprüchlich. So heißt es, Don Quijote sei »derjenige, der Metaphern zugunsten von Realitäten glaubt hinter sich gelassen zu haben und seinen eigenen Metaphernstatus nicht durchschaut« (70). Dieser Aussage, die durchaus plausibel sein mag für denjenigen, der Taurecks Metaphernbegriff akzeptiert, widerspricht der Schluss des Kapitels: »Doch er [Quijote] möchte sich ausschließlich als gelebte Metapher verstehen« (75). Nur assoziativ argumentiert er, wenn der angebliche Vorgang der Fleischwerdung des Texts in der Figur Quijotes als Parodie auf die »Fleischwerdung des Logos« vom Anfang des Johannes-Evangeliums verstanden wird (28). Diese Deutung ergibt sich nicht aus dem Don Quijote, sondern aus Vf.s eigenwilliger Interpretation des Romans. Es wird auch nicht deutlich, welche Funktion die Parodie auf die biblische Fleischwerdung des Logos in Cervantes’ Roman haben soll. Nun ist gerechterweise zu sagen, dass Vf. ein im Text greifbares Problem zu lösen versucht. Er will mit seiner Theorie eine »Lücke« schließen zwischen der Lektürephase des Hidalgos und »seiner Überzeugung, selbst eine Person aus dem Kontext der Fiktion geworden zu sein«. Er will also die Metamorphose des lesenden hidalgo in den caballero andante erklären (28 – 29). Ihn irritiert, dass Cervantes hier keine befriedigende Erklärung gebe und davon spreche, 1 Das Konzept ist theoretisch kaum fundiert. Vf. bezieht sich z. B. nicht auf George Lakoff, Leben in Metaphern: Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern (Heidelberg 1998). Übersetzung von George Lakoff, Metaphors We Live By (Chicago 1980). 2 An anderer Stelle ist die Rede davon, der Landjunker sei »aus Texten Ereignis geworden« (50).
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dass sein Held »zunächst zweimal die Urteilskraft oder den Verstand verliert (perder el juício) und sie beim dritten Mal völlig verliert« (29). Es klingt sogar Kritik an dem spanischen Autor an: »Hier mag eine gewisse Ungenauigkeit und Unentschiedenheit von Cervantes vorliegen« (29). Es ist aber offensichtlich, dass Cervantes mit der geistigen Verwirrung seines Helden die absolute Versenkung in Illusionen literarischer Herkunft meint, welche die Grenze zwischen Idealität und Realität aufhebt und ihn in letzter Konsequenz zur Selbststilisierung oder, wie Taureck sagt, zur »Selbstumerfindung« zum fahrenden Ritter veranlasst. Taureck hat schon Recht, wenn er einen ontologischen Sprung darin sieht, dass sich der vom Lesen von Ritterromanen verwirrte Quijote als fahrender Ritter selbst erfindet. Dafür dass dieses Geschehen in Analogie zur Fleischwerdung des Logos erfolgt, gibt es im Text aber keine Anhaltspunkte. Dass wir mit dem Konzept der »gelebten Metapher« – anders als mit Theodor Wolpers’ Begriff der »gelebten Literatur«3 oder anders als etwa mit einem möglichen Begriff wie »gelebte Fiktion« – kaum etwas anfangen können, soll nicht heißen, dass das zu besprechende Buch nicht eine sehr anregende Lektüre wäre, die neue Perspektiven eröffnet. Das Buch erörtert eine große Zahl von hochinteressanten Themen, die so wie hier noch nie in der vorliegenden Cervantes-Literatur behandelt wurden. Ein Beispiel ist die für den Don Quijote zentrale Frage nach dem Wesen des Wahns (locura). Es ist in hohem Maße lehrreich, die vielfältigen Bestimmungen des Wahns, auch des durch Lektüre induzierten Wahns (etwa bei Erasmus und La Fontaine), und die berühmten Deutungen von Quijotes Wahn bei Hegel und Foucault und anderen in dem Buch klarsichtig dargestellt zu finden. Diese Deutungen weist Vf. alle in ihrer Relevanz für den Ritter vom traurigen Angesicht zurück, weil »Cervantes einen Wahn programmiert« habe, den es in der Literatur weder zuvor noch danach gibt« (71). In hohem Maße abstrakt und von Vf.s Vorstellung der bereits genannten »Inkarnationsparodie« (70) abgeleitet ist allerdings ist seine eigene Definition. Er fasst Don Quijotes Wahn in folgende »Formel«: »Don Quijote ist derjenige, der Texte als Wirklichkeiten nimmt und daher Wirklichkeit als Texte deutet. Er ist zugleich derjenige, der Metaphern zugunsten von Realitäten glaubt hinter sich gelassen zu haben und seinen eigenen Metaphernstatus nicht durchschaut« (70). Aus der Tatsache, dass der Wahn Quijotes sich nur auf das fahrende Rittertum bezieht, wird der Schluss gezogen: »Der Wahn Don Quijotes unterliegt einem Grundzug der Moderne, er bestätigt das Expertentum. Don Quijote ist also Wahn-Experte für das fahrende Rittertum« (71). In ihm seien frühneuzeitliches »Expertentum und Wahn« (71) verbunden. Der Wahn wird zusätzlich mit einer ethischen Ar3 Theodor Wolpers, Hg., Gelebte Literatur in der Literatur. Studien zur Erscheinungsform und Geschichte eines literarischen Motivs. Göttingen: Vandenhoeck, 1986.
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gumentation verbunden, die auf der richtig beobachteten Tatsache der »Schuldunfähigkeit« Don Quijotes beruht. Vf. postuliert: »Die praktisch-ethische Zielsetzung Don Quijotes bleibt, auch wenn der Wahn entfiele« (72 – 73). Wenn diese Aussage aufgrund ihrer Verbindung von Indikativ und Konjunktiv schon grammatisch nicht stimmig ist, so ist sie auch sachlich falsch. Als moralische Person konstituiert sich Don Quijote in seinem Handeln durch seinen Wahn: Er versucht, das Ethos des fahrenden Rittertums, wie er es in der Lektüre der Ritterbücher aufgesogen hat, in der tatsächlichen Wirklichkeit umzusetzen. Dass er, wenn er nicht ans Rittertum denkt, klar sieht und Weisheiten auch moralischer Art ausspricht, liegt auf einer anderen Ebene. Ob es tatsächlich so ist, wie Vf. behauptet, dass in Don Quijote »Wahn und Nichtwahn grenzfrei [Hervorhebung W.G.M.] benachbart sind« (75), ist zu bezweifeln. Ein weiteres Beispiel dafür, dass Vf. wichtige Themen des Romans neuartig zu behandeln weiß, sind die ausgezeichnet kontextualisierten Darlegungen zum mythischen Goldenen Zeitalter, über das Quijote bekanntlich eine sehr verständige Rede hält, die der Erzähler – nicht der »Autor«, wie Vf. sagt (115) – ein »überflüssiges Urteil« (»inútil razonamiento«4) nennt. In dem entsprechenden Kapitel (»Wiederbringung des Golden Zeitalters im Zeitalter des Geldes«) findet sich ein Urteil über den Don Quijote, das absolut neu und erhellend ist, obwohl es selbstverständlich anmutet: »Die Gesamthandlung wird bestimmt von der Abwesenheit menschlicher Bösartigkeit und der Abwesenheit von Phänomenen der Macht als Machtgier, Machtsicherung, Machtneid und Unterwerfung.« (116) Das Fehlen des Bösen, der Machtgier und der Unterdrückung im Don Quijote rücke, so Vf., den Roman in die Nähe des Goldenen Zeitalters. In diesem Zusammenhang weist Vf. auch mit Bezug auf den Text mit Recht darauf hin, dass »Don Quijote keine Machtbeziehung mit Sancho verbindet« (117). Zu weit geht er allerdings, wenn er die Hypothese aufstellt, dass »das Goldene Zeitalter hier in »einer Zweierbeziehung wieder aufersteht« (117). Überhaupt lässt sich die die These, der Roman entwerfe »eine Gesellschaftsutopie« (116) nicht aufrecht erhalten. Der Roman ist, wenn das explizit Böse auch ausgeschlossen bleibt, weniger utopische als eine realistische Gesellschaftsdarstellung, in die ein Bauer, der einen Jungen prügelt, genauso gehört wie rechtmäßig verurteilte Galeerensklaven, Räuber, die sich gegenseitig umbringen und eine Frau, die ihren Geliebten im irrtümlichen Glauben erschießt, er habe ihr die Treue gebrochen.5 Vielleicht lässt sich die Abwesenheit des ge4 Miguel de Cervantes, Don Quijote de la Mancha. Edición del Instituto Cervantes. Dirigida por Francisco Rico. Galaxia Gutenberg: Barcelona, 2004, I, 135. 5 Ein Fehler unterläuft Vf., wenn er behauptet, dass von dem spanischen Maler Francisco Goya »kein einziges Bild und keine einzige Skizze oder Zeichnung, die sich mit Don Quijote oder Sancho beschäftigen« (123), bekannt ist. Es gibt aber einen 1860 entstandenen Stich des lesenden Quijote von Félix Bracquemond, der auf eine Zeichnung von
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nuin Bösen im Don Quijote und die Tatsache, dass der Protagonist für seine im besten Glauben begangenen Gewalttaten nicht bestraft wird, auch aus der komischen Dimension des Romans erklären.6 In Shakespeares Komödien bleibt das Böse von wenigen Ausnahmen abgesehen, etwa Don John in Much Ado About Nothing, auch ausgeschlossen. Sie üben dessen ungeachtet Gesellschaftskritik und sind weit davon entfernt, ein utopisches Gesellschaftsbild zu präsentieren. Ein Kabinettsstück kontextualisierender Interpretationskunst ist das Kapitel »Wie Wissenschaft und Technik Instrumente für wahnhafte Ziele wurden«, das Quijotes unglückliches Abenteuer in dem Nachen auf dem Ebro (II, 29) behandelt. Es geht der Frage nach: »Inwiefern findet sich in unserem Roman eine Kritik moderner Wissenschaft und Technik«. Die insgesamt tiefgründige Argumentation des Kapitels kann hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Der Parallelisierung der frühneuzeitlichen, durch die moderne Technik der Nautik ermöglichten Entdeckungsreisen und der Abenteuersuche des fahrenden Ritters im begrenzten Raum des mittleren und südlichen Spanien ist allerdings problematisch: »Das wahnhafte Ziel des Don – die Hilfe für Bedrängte in überdimensionierten Entfernungen – geht einher mit einer wissenschaftlichtechnischen Exaktheit der Raum-, Bewegungs- und Richtungsbestimmung« (128). Wenn Kolumbus auch ein wahnhaftes Ziel verfolgt haben mag – »Gold herbeizuschaffen für das restlos anachronistische Projekt neuer Kreuzzüge« (127) – so erfolgte seine Entdeckung Amerikas doch auf der Grundlage der technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften der modernen Nautik. Ein vergleichbares, wissenschaftlich begründetes Vorgehen findet sich bei den Ausfahrten Don Quijotes nicht, der als ein unzeitgemäßer oder anachronistischer Held gelten muss, der auf seinen Reisen ein abgelebtes, im Grunde nur literarisch inspiriertes Ritterschaftsideal wieder zu beleben versucht.7 Allerdings ist es signifikant, dass Quijote, wie Taurock betont, auf der Kahnfahrt in I, 38 »zu einem unkundigen Sancho von einem ›Astrolabium‹ spricht, um die Francisco Goya aus der zweiten oder dritten Dekade des 19. Jahrhunderts zurückgeht. Siehe Rachel Schmidt, Critical Images. The Canonization of Don Quixote through Illustrated Editions of the Eighteenth Century. (Montreal & Kingston, London, Ithaca 1999) 178. Vor Fehlern ist niemand gefeit. Wenn ein Fehler aber wie hier zum wesentlichen Bestandteil einer Argumentation wird, ist er nicht ganz so einfach zu übersehen. 6 Taureck sieht »die zahllosen komischen Momente des Romans« durchaus. Er bezeichnet den Schluss sogar als »happy ending« (57), was der Rezensent nicht tun würde. 7 Wolfgang G. Müller, »Don Quijote-Figuren als unzeitgemäße Helden in der englischen Literatur«, Der unzeitgemäße Held in der Literatur. Hg. Gerhard R. Kaiser (Heidelberg 1998), 97 – 113, ders., »Imitation und Innovation in der Don Quijote-Rezeption im englischen Roman des 18. Jahrhunderts: Drei Fallstudien«, in: Der widerspenstige Klassiker. »Don Quijote« im 18. Jahrhundert. Hg. Klaus-Dieter Ertler und Andrea Maria Humpl (Frankfurt am Main 2007), 55 – 78.
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›Polhöhe‹ zu bestimmen« (127). Hier liegt eine punktuelle Anspielung auf die Nautik vor, die sich aber nicht auf die Fahrten des Ritters vom traurigen Angesicht bezieht. Weitere Themen, denen sich das Buch in ungemein kenntnisreichen und originellen, aber immer wieder auch kontroversen Darlegungen widmet, sind der Anfang des Romans8, die Bestimmung des Don Quijote als Hypersatire, die Dulcinea-Problematik im Kontext Platons und der zeitgenössischen Liebesauffassungen, das Verhältnis des Don Quijote zum Mittelalter (»Die Löschung des Mittelalters«) und seine Beziehung zu Calderón (»Entwertung Don Quijotes durch Calderón«). Für das letzte Kapitel hat sich Vf. die Diskussion der Windmühlenepisode aufgehoben (»Don Quijote, Descartes und Kant«), die in ein »Streitgespräch« Don Quijotes »mit Descartes und Kant« übergeht. Den Schluss bildet ein Gespräch zwischen Quijote und Sancho, das sie hätten halten können, wenn sie das vorliegende Buch gelesen hätten. Insgesamt handelt es sich in dieser Untersuchung um eine faszinierende Darstellung, die den Leser durch den Reichtum an Kenntnissen und Ideen und die Originalität der hergestellten Bezüge zur Philosophie und zur Literatur beeindruckt, aber immer wieder auch zum Widerspruch herausfordert. Zu vermerken ist abschließend, dass das Buch sehr schön gestaltet ist mit einem kolorierten spanischen Holzschnitt aus dem 19. Jahrhundert mit Don Quijote auf der vorderen und Sancho Pansa auf der hinteren Umschlagseite und vielen in den Text eingelegten Illustrationen. Vf. bedient sich der Technik des ›Arguments‹, indem er den äußerst intrikaten Darstellungen in den Einzelkapiteln jeweils einfach zu lesende Zusammenfassungen des Inhalts vorausgehen lässt. Wolfgang G. Müller, Jena L’Éloge lyrique, sous la direction d’Alain Génetiot [collection du CEMLA], Nancy : Presses Universitaires de Nancy, 2008. 504 S. Dans l’introduction de ce recueil consacré aux formes de l’éloge lyrique depuis la Renaissance jusqu’à l’extrême contemporain, A. Génetiot met en exergue la relation »consubstantielle« de la poésie lyrique avec la fonction encomiastique. L’éloge lyrique, avec Pindare pour point cardinal jusqu’au XXè siècle, est ainsi antérieur à l’éloquence encomiastique et aux définitions rhétoriques et topiques le rattachant à l’éloquence épidictique et démonstrative. Fonction plus que genre, l’éloge brouille les frontières entre prose et poésie, lyrique, épique et dramatique. Ce paradigme complexe de l’éloge lyrique, qui 8 Hier wird mit dem unklaren und unschönen Begriff »Epischer Input« operiert – verstanden als die Konstiuanten [sic] des erzählenden Anfangs« (37). Die Anwendung der auf das Drama bezogenen Aristotelischen Handlungstheorie auf den Don Quijote scheint mir schwierig.
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chante les héros, les vertus et le monde, se perpétuera, et le recueil se propose d’en restituer les retours et déclinaisons, témoignant aussi des changements de statut de la poésie et de son rapport au monde. Louange du particulier à vocation universelle, célébration du détail devenant poésie cosmique, art de circonstance qui ne cesse de vouloir lui échapper en l’immortalisant, l’éloge lyrique est voué aux tiraillements. Il pose aussi la question de la sincérité de l’encomiaste et permet de penser, plus généralement, le statut du sujet lyrique et d’y voir une persona et une posture énonciative, plus qu’un sujet biographique. Le poète, conférant la valeur par la puissance de la parole poétique, il est porteur d’une haute exigence de véracité, qui doit résister à l’épreuve des circonstances. Cela peut lui faire préférer les voies de la raillerie, du blâme ou de l’éloge paradoxal aux menaces d’un panégyrique boursouflé, et donc vain. Par ailleurs, l’éloge lyrique importe moins comme louange circonstancielle et individuelle que comme volonté de célébration d’un modèle exemplaire et éternel par la communauté sous jacente à la parole poétique. L’encomiaste et son œuvre participent ainsi d’un moment de surplomb et témoignent du »pouvoir transcendant de la parole«. Comme ce »développement d’une exclamation« qu’est par nature la poésie lyrique (Valéry), l’éloge lyrique est lui aussi expression enthousiaste de l’adhésion du poète à un monde coïncidant parfaitement avec le vrai et le beau. Dans ce monde »apothéosé« (Baudelaire), l’encomiaste offre une célébration pérenne à un éphémère monde humain et s’élève aussi, par sa louange, au-dessus du dédicataire célébré. Il dépasse sa propre mortalité en élevant un »monumentum aere perennius« (Horace) et manifeste, en poète, son élévation jusqu’à »la contemplation des vérités éternelles et transcendantes«. C’est cette vocation qui assure peut-être la persistance de l’éloge lyrique jusqu’à la période contemporaine, au-delà des ébranlements de »l’ère du soupçon« et de la disparition totale, ou presque, de toute éloquence officielle. Ce sont ces invariants et cette évolution que scandent les 34 contributions ordonnées chronologiquement. Les déclinaisons humanistes d’une pratique poétique éminemment intertextuelle et mémorielle sont essentielles. Nathalie Dauvois déploie, d’après des commentaires des Odes d’Horace, la tension entre une théorie poétique et une rhétorique qui assimileraient le lyrisme à l’éloge, et la conscience d’une divergence dans la pratique lyrique, bien plus complexe, de l’auteur latin, résultant sur une conception de l’éloge lyrique humaniste fondée, comme le recueil du poète, sur la variété, la mesure et le decorum. Chez Marot, dont Cécile Huchard relit les pièces spécifiquement dédiées aux dames, l’éloge lyrique est l’occasion d’une exploration de toutes les formes du lyrisme, mais aussi d’une interrogation et d’un éloge mêlés de la parole poétique, qui se loue en louant.
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S’impose alors aussi la figure du poète encomiaste en Courtisan idéal dont la mission est de louer et d’immortaliser le Prince et les Grands, s’ils en sont dignes, et le devoir et le droit de les admonester par des vers destinés eux-mêmes à l’immortalité. À partir de ce rappel de Marie-Dominique Legrand, trois études miroitent ensemble. Cette dernière revient, à propos de du Bellay, sur l’éloge lyrique de l’amitié, point cardinal de la culture renaissante: le poète célèbre un lien affectif en même temps qu’une communauté intellectuelle, littéraire, politique. François Rouget étudie comment, dans le Panegyrique de la Renommée, Ronsard revient au lyrisme de ses débuts et donne simultanément à lire au Roi une »institution du prince« grâce à un dédoublement de voix lui permettant d’osciller habilement entre portrait flatteur et remonstrance. À propos du même auteur, Jean Balsamo montre bien, à travers toutes les pièces consacrées au cardinal de Lorraine, l’ambiguïté du poète qui sollicite, sans devoir jamais apparaître comme mensonger et flatteur, et le déplacement du statut de la réponse qu’il en attend, récompense et non plus faveur. La dernière édition par lui de ses Œuvres (1584) révèle le terme de cette évolution d’un poète qui s’impose comme le »seul objet véritable de l’éloge lyrique«. À la même époque, l’éloge lyrique de la nature, revenant au modèle de l’hymne naturel antique, est en plein essor. Isabelle Pantin signale la complexité du lien entre la célébration et la description dans la »poésie des choses« qui tend à s’éloigner du modèle authentiquement lyrique et à se confondre, en particulier chez Peletier du Mans et Du Bartas, avec une poésie descriptive et didactique, témoignant cependant d’une poésie du possible et de l’idéal, autant, sinon plus, que d’une poésie du réel. Olivier Millet, quant à lui, observe la présence singulère de l’éloge lyrique dans le théâtre de Garnier. Si elle s’inscrit de manière assez systématique dans les types d’éloges décrits par Scaliger dans sa Poétique, elle révèle que Garnier n’accomplit pas le programme de synthèse de la culture païenne et chrétienne du poéticien, mais qu’il lui préfère une confrontation personnelle de ces modèles avec sa propre culture chrétienne et moderne. La poésie religieuse est un autre versant de l’éloge lyrique. Les poètes réformés, en particulier, remotivent l’articulation antique entre la louange et le chant inspiré, fondateur de l’acte lyrique. Véronique Ferrer étudie l’inflexion, chez certains d’entre eux, de la louange psalmique vers la prière, du lyrisme vers la pénitence, reposant sur le ressassement verbal du péché par le croyant réformé. Au XVIIè siècle, entre reconquête religieuse, reconquête de la civilisation des mœurs et progression de l’absolutisme, l’éloge lyrique n’emprunte pas moins de formes qu’au siècle précédent. La rupture n’est pas absolue, tout au plus certaines tendances se raidissent-elles. Anne Mantero montre l’ambiguïté persistante entre des traditions poétiques profanes et sacrées concurrentes dans
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l’éloge lyrique catholique, et le compromis sur lequel il repose, à la fois conforté par l’idéologie monarchique, qui justifie la célébration du Roi comme souverain et soutien de la foi, et en butte aux courants mystiques et ascétiques, réticents à l’exaltation d’un et par un sujet individuel en surplomb. Le versant amoureux, dans l’œuvre de Malherbe, analysée par Séverine SalviBonne, opère un glissement. Les traits singuliers de la femme louée deviennent abstraits et l’éloge lyrique, devenant éloge d’apparat, annonce sa pratique sociale galante. Mais surtout, au long du siècle, l’éloge lyrique tend à se concentrer en »poésie officielle et encomiastique« (Jean-Pierre Chauveau), et on passe de l’éloge malherbien d’Henri IV, héritier de l’éloge ronsardien, louant un souverain héroïque et guerrier, à celui d’un roi ordonnateur de spectacle, de fête et de plaisir. La nature intertextuelle de l’éloge lyrique est présente dans l’étude de Stéphane Macé sur l’éloge officiel au lendemain de la prise de La Rochelle: dans des poèmes écrits dans l’urgence, l’inventivité de la mise en scène des voix n’en oublie pas pour autant en effet les modèles de Malherbe et de Racan. Yves Giraud et Jean-Pierre Collinet étudient tout l’arsenal rhétorique déployé par deux poètes encomiastiques (Godeau et La Fontaine) à l’âge classique où l’éloge lyrique est, comme le rappelle pour sa part J.-P. Chauveau, un des terrains de l’affrontement entre Anciens et Modernes et de la translatio imperii et studii à la France de Louis XIV. Le recours à l’éloge lyrique au XVIIIe siècle témoigne d’une inflexion sensible. Il accompagne une crise du genre lyrique et la recherche de formes et d’un style rénovés. Quatre études explorent quelques étapes de ces reconfigurations préparant le romantisme. Sylvain Menant étudie le parcours de Jean-Baptiste Rousseau, »amer prophète« débutant par des épigrammes dans la tradition de Marot et Saint-Gelais, puis »Pindare« de son époque, auteur d’éloges lyriques glorifiant ses protecteurs et d’odes sacrées, teintés d’un lyrisme tourmenté face à un monde vécu comme imparfait. Sous l’influence anglaise, des modèles, exploités durant la Renaissance puis négligés, connaissent un regain. Si jusqu’ici l’influence de Burke en Allemagne était bien étudiée, Sakurako Inoue montre comment elle s’exerce sur Saint-Lambert, qui redonne une nouvelle vigueur à la poésie de la nature et contribue à libérer la poésie française du modèle classique. L’éloge lyrique de la Création retrouve de nouveaux accents : dans les pas de Blackmore et de Shaftesbury, l’expérience lyrique enthousiaste de la nature est l’un des lieux de l’élaboration d’une nouvelle conception du lyrisme, à la fois chant poétique et expression subjective du moi, tension entre la réactualisation de formes transmises et une écoute du »cri animal qui doit nous dicter la ligne qui nous convient« (Diderot), et dans laquelle Jean-Louis Haquette lit les prémices de l’élan lyrique romantique. Auparavant déjà, l’œuvre de Chénier,
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analysée par Édouard Guitton, témoigne de ce moment de remuement poétique, depuis la reprise des modèles traditionnels jusqu’aux derniers vers de prison où, à l’approche du néant, »le lyrisme de circonstance prend l’éloge à contrepied«. Deux études révèlent la persistance des usages de l’éloge lyrique par-delà des bouleversements de l’Histoire : celle de Michel Delon sur l’éloge de Buffon par Lebrun-Pindare, dans un processus de ritualisation de la célébration des grands hommes dont l’apogée sera l’instauration du Panthéon, et celle de Jean-Noël Pascal sur l’éloge lyrique de l’Empereur, de son sacre à sa chute, dans l’Almanach des Muses, publié de 1765 à 1833. Plus marginalement, mais non sans intérêt, Wieslaw Mateusz Malinowski observe le motif de la »belle Polonaise« au XIXè siècle, dont il trouve une source chez Guez de Balzac et des échos chez Giraudoux. Mais l’essentiel de l’intérêt du XIXè siècle pour l’histoire de l’éloge lyrique réside dans les tournants opérés. Lamartine sera le premier, remarquablement analysé. L’éloge lyrique, miné par l’élégie – Aurélie Loiseleur parle d’ »éléologe« –, repose sur un paradoxe : il s’agit de sauver l’Autre de la mort par la poésie, et par conséquent de le sauver d’un pur effet de discours. Il s’inscrit alors dans la lignée des exercices spirituels, insufflant une foi qui fait aimer la mort et rendant possible la poésie après l’aphasie suivant le deuil. Dans ses Odes, Hugo, pour désenfler l’éloge lyrique, comme le montre Claude Millet, le dramatise par le biais d’idées qui sont des principes dynamiques d’intelligibilité du monde et l’éloge est entraîné dans un exercice conjoint de célébration et de déploration à l’unisson de la crise historique contemporaine. La place de l’éloge lyrique dans l’œuvre de Baudelaire donne lieu à deux riches analyses d’André Guyaux et de John Jackson. Le premier s’attache aux deux exemples consacrés à Sainte-Beuve et à Banville, témoignant de la complexité du rapport du poète à ses pairs, entre mouvement filial vers »l’autre comme vers soi« et adresse à un »frère dissemblable«. Le second, se consacrant à l’éloge des femmes, rend compte au plus près de la dégradation conjointe de l’objet de l’éloge et du sujet lyrique lui-même, au seuil de la modernité. Une autre étape essentielle est explorée par Jean-Nicolas Illouz dans sa lecture des éloges funèbres composés par Mallarmé. L’éloge lyrique s’y déploie en effet dans un mouvement de répudiation de la croyance en un Dieu transcendant, et, tout en rejetant toute possibilité de consolation, le poète confère au tombeau poétique la valeur d’un retour aux »anciennes et magnifiques intentions« de la religion, la poésie sacralisant le monde d’ici-bas. »Le Tombeau de Charles Baudelaire«, »toast funèbre« par lequel le poète, transfiguré, émane de la poésie par sa seule nomination, témoigne de cette vocation, toujours menacée d’échec face au néant.
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Cette crise de l’éloge lyrique est interrogée par Lise Sabourin, depuis le poète prophète qui, au XIXe siècle, peut encore pratiquer l’éloge de sa condition et de ses pairs jusqu’à l’effacement apparent de l’éloge lyrique dans la seconde moitié du XXe siècle et avant tout en Occident, comme le montre cette étude ouverte aux poètes créoles et à François Cheng. La tradition de la louange du poète par lui-même et de la poésie demeure, même si elle est plus ténue : la modernité n’a peut-être pas »éteint tout flambeau de célébration, toute conception magique de la poésie«. C’est ce que révèlent les études consacrées au XXe siècle. Dominique MilletGérard retrouve ainsi les traces de l’éloge biblique dans le commentaire enthousiaste qu’en donne Claudel, et Mireille Sacotte explore richement la fonction célébrante accordée à la poésie par Saint John Perse, héritier de Pindare et de la célébration biblique, et dont le premier grand recueil porte le titre significatif d’Eloges ; progressivement dans son œuvre coexistent cependant un je lyrique traditionnel et un je lyrique moderne, transpercé de voix anonymes. Chez Ponge, montre Bernard Breugnot, tout se joue sur une pratique de l’éloge associant singulièrement le désir et la distance, la réponse à »la jouissance verbale de la louange« que le poète dit éprouver et dont il explore tous les modèles d’expression possibles jusqu’à l’éloge paradoxal, et la récusation du »sentimental, subjectif« »cancer romantique-lyrique«. Chez Bonnefoy, dont Patrick Labarthe offre une lecture éclairante, l’éloge lyrique suscite le même double mouvement d’adhésion et de réserve. Autant qu’affirmation, il est une question et le miroir d’une »réticence devant le piège narcissique« tendu par le lyrisme et si l’exaltation de l’éloge lyrique persiste – c’est un devoir de la parole –, c’est sous le crible constant de la critique, parfois ironique. L’éloge est désormais éloge d’une inquiétude du sens. Jean-Michel Maulpoix se demande quelle place reste pour l’éloge »à l’âge du nihilisme«, où la force de la poésie repose précisément sur l’érosion de sa certitude à pouvoir célébrer. Désormais »leçon de ténèbres«, célébration sans espoir, c’est par l’adieu que l’éloge perdure. Le regard vers les anciens, la filiation poétique, l’attribution d’une supériorité ou d’une immortalité qui ont fondé durant des siècles l’éloge lyrique se dissipent, et seules en demeurent quelques traces mélancoliques. Avec alacrité et humour, Michel Deguy conclut sur cet effacement progressif : si »l’éther social de l’éloge s’est dissipé«, en abolissant certains de ses usages traditionnels, l’éloge lyrique est peut-être encore possible du côté d’un sublime inattendu, d’une réinvention d’une transcendance non religieuse, louange d’une »virginité au rebut«. Mireille Brangé, Paris
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Travaux de Littérature 20 (2008): La Spiritualité des écrivains. Volume réalisé sous la direction scientifique d’Olivier Millet, 542 S. – Travaux de Littérature 21 (2009): La littérature française au croisement des cultures. Colloque des 5 – 8 mars 2008 à l’Université Paris-Sorbonne. Actes réunis par Madeleine Bertaud, 529 S. Zwei neue, wie immer thematisch gebundene Nummern der von ADIREL veröffentlichten Zeitschrift sind anzuzeigen. Der von O. Millet herausgegebene Band »La Spiritualité des écrivains« wendet sich einem zentralen, viel zu wenig beachteten Thema zu, das in der Einleitung nicht von ungefähr mit einem Hinweis auf Sartres Entgegensetzung von bürgerlichem Kunstverständnis und marxistisch-existentialistischem Begriff von »l’essence même de la spiritualité« (7) beginnt. Wer sich also vorstellt, hier würden die frommen Wortführer christlichen Glaubens gepriesen, muss sich eines Besseren belehren lassen, denn die Spiritualität der Literaturschaffenden besitzt ein ebenso weit reichendes Spektrum wie die Semantik des Begriffs der Spiritualität, die von den verschiedenen Facetten religiöser Dichtung über die ebenso vielfältigen Möglichkeiten des Spielens mit fremden, häufig abgelehnten Glaubensüberzeugungen bis zu dem weiten Feld subjektiv geprägter Weltanschauungen reicht. J.-J. Jossua (Pour une histoire religieuse de l’expérience littéraire, 1985) wird zwar von zwei Beiträgern erwähnt, aber nicht in die allgemeinen Überlegungen des Bandes einbezogen oder gar in einem eigenen Artikel gewürdigt. Ein Beitrag ist dem Mittelalter gewidmet (G. Gros, »Prière et poésie selon Gautier de Coinci«, 17 – 34). Die neueste Zeit ist ebenfalls berücksichtigt (P. Campion, » ›Dieu perdu dans l’herbe‹. L’expérience du sacré chez Philippe Jaccottet«, 489 – 501). Nicht von ungefähr kommt in der Gegenwart mit F. Cheng einer der Autoren in den Blick, der in seiner Heimat aus politischen Gründen nicht veröffentlichen kann und deshalb das Französische als Literatursprache wählt (M. Bertaud, »L’ardent face-à-face / des présences entrecroisées, François Cheng«, 501 – 518). M. Bertaud, deren lesenswerte Analyse des Schaffens dieses 2002 in die Académie française aufgenommenen Exilautors (M. Bertaud, François Cheng. Un cheminement vers la vie ouverte, 2009) mit einem Kapitel »La spiritualité, basse continue de l’œuvre« beginnt, zeigt hier, wie Cheng, aus dem chinesischen Taoismus kommend und von Lacan beeinflusst, über Mariendarstellungen des Quattrocento »l’amour, humain et surhumain à la fois de Jésus« (514) entdeckt und für sich eine »voie christique« (514) beansprucht. Innerhalb dieses weit gespannten Rahmens finden die verschiedensten Facetten von literarischer Spiritualität Platz. Im 16. und 17. Jahrhundert, dem ungefähr 160 Seiten eingeräumt sind, rücken einige wichtige Autoren wie Marguerite de Navarre (R. Gorris Camos, »Voler avec le Christ: Marguerite de Navarre ou la rhétorique de l’esprit«,
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47 – 64) oder Racine (Chr. McCall Probes, »Dieu créateur et protecteur: lyrisme et spiritualité dans l’œuvre poétique de Racine«, 159 – 172), besonders aber die großen Themen der religiösen Dichtung in den Blick wie das Verhältnis von Dichtung und Spiritualität (Chr. Bourgeois, »Figures du sens: jalons pour une réflexion sur les rapports entre poésie et spiritualité«, 81 – 96), Meditation und Kontemplation (B. Paspasogli, »Entre méditation et contemplation: la voix dans l’écriture spirituelle au XVIIe siècle«, 147 – 158) oder die Problematik des geistlichen Vergnügens (Chr. Belin, »Enquête sur le plaisir spirituel au XVIIe siècle«, 131 – 146). Im 18. und 19. Jahrhundert gestalten sich die Verhältnisse anders. Im 19. Jahrhundert bricht der offene Kampf gegen religiöse Spiritualität aus, wofür hier Quinet (L. Richet, »La religion selon Quinet, ordre et désordre«, 281 – 294) und Renan stehen (L. Rétat, »La ›spiritualité‹ renanienne: religion, gnose, poésie«, 295 – 306). In der Aufklärung legen die Beiträger hingegen Formen von Spiritualität offen, die landläufig einen Pauschalurteil über den Unglaube der Philosophen zum Opfer fallen. Man lese das Plädoyer von L. Versini für die Gläubigkeit von Montesquieu (»Montesquieu, une spiritualité posttridentine«, 191 – 204), die trotz seines Deismus »demeure profondément attachée aux dogmes orthodoxes et aux décrets du Concile« (204), und der »n’ignore nullement le sens propre, technique du mot spiritualité« (198). Cazotte hat nach C. Cazenobe (»Jacques Cazotte: un franciscain des lumières«, 223 – 238) »offert sa vie comme une ultime prière« (236) als Opfer der Revolution, deren Verfolgungen er sich hätte entziehen können. Voltaire oder Diderot bleiben unberücktsichtigt, weil sich keine Beiträger ihrer angenommen hat, während Chateaubriand gleich zweifach behandelt ist (O. Catel, »De la refondation du culte des images à une révolution des formes de la spiritualité chez Chateaubriand«, 251 – 264; G. Winter, »Des Mémoires à la Vie de Rancé, une foi en mouvement: Chateaubriand ›pèlerin‹ de l’espace et voyageur du temps«, 265 – 280). Symbolismus (W. M. Malinowski, »La spiritualité des symbolistes: paradigme romanesque«, 307.322) und Décadence (G. Prigent, »Spiritualité décadente«, 323 – 336) sind würdig vertreten, können aber nicht ganz über das Fehlen von Baudelaire oder Rimbaud hinwegtrösten. Im 20. Jahrhundert kommt mit dem sog. Renouveau catholique der französische Sonderweg innerhalb der europäischen Literatur zur Geltung, der in Italien oder Spanien keine Entsprechung hat. Im Beitrag über Barrès (C. Bompaire-Evesque, »Les récits de voyage de Barrès ou «l’art de découvrir le divin dans le monde»«, 337 – 352) bleibt die Wende zum Glauben im Hintergrund, deretwegen er von deutschen Spezialisten dem Renouveau catholique zugeschlagen wird. Erfreulicherweise kommen jeodch hier zwei bei uns kam mehr beachtete Autoren zur Geltung, F. Jammes (C. Barthe, »Francis Jammes: Lourdes, où le ciel se rend familier«, 383 – 390) und La Tour de Pin (M.-J. Le Han,
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»›Il faut qu’il croisse et que je diminue‹: Patrice de La Tour du Pin ou l’écriture de l’effacement«, 459 – 472). Hinzuweisen ist ebenfalls auf den hierzulande völlig ignorierten Dadelsen (G. Guyot-Rouge, »Le protestantisme dans l’œuvre de Jean-Paul de Dadelsen«, 473 – 488), der zwischen Atheismus und protestantisch geprägter christlicher Spiritualität hin und her schwankt. Das Kolloquium über La littérature française au croisement des cultures greift den von der UNESCO für 2008 vorgesehenen Dialog zwischen den Kulturen auf und widmet sich den vielfältigen Formen des Austauschs (»échanges«, 10), die im Laufe der Geschichte zur Bereicherung dieser Literatur beigetragen haben. Dieses außerordentlich weite Feld kann selbstverständlich nicht umfassend behandelt werden, doch bietet der weite Fächer der in 42 Beiträgen behandelten Themen viel Interessantes. Die Herausgeberin begnügt sich nicht mit einem Vorstellen der wichtigsten Beiträge, sondern steckt in ihrer Einleitung (9 – 16) umsichtig die Koordinaten ab, innerhalb derer verschiedene Zugänge zum Rahmenthema gefunden und sich als unzureichende herausstellende, frühere Ansätze korrigiert werden können. Sinnvollerweise beginnt der Band mit fünf Studien über die Antike, die zwischen Mittelalter und 19. Jahrhundert in immer wieder anderer Weise die französische Literatur befruchtet hat. E. J. Mickel fragt nach deren Bedeutung für die erste herausragende Dichterin (»Marie de France, quel fond culturel?«, 17 – 28) und benützt dafür den Begriff des »fond«, der eigentlich für alle übrigen Artikel ebenfalls maßgeblich bleibt. Von der Übernahme der Konzepte von Dichtung und Philosophie zur Konstruktion eines Heidentums im 19. Jahrhundert (M. Lavaud, »Le paganisme dans le roman archéologique au XIXe siècle«, 51 – 60) gibt es einen Umweg über die Entdeckung der nordischen Kultur, der am deutlichsten in De l’Allemagne von Madame de Staël zu erkennen und mit Chateaubriands Fresko einer christlichen Alternative zur Antike in Verbindung zu bringen ist. Die zweite Abteilung geht unter der Überschrift »Influences et innutrition« dem unerschöpflichen Reichtum an möglichen Beziehungen zwischen verschiedenen Kulturen nach. Während die Entdeckungsreisen der frühen Neuzeit (Ph. Ménard, »L’apport de Marco Polo à la culture française«, 93 – 126) Frankreich erstmals mit China, Indien und Indonesien in Kontakt brachten und so das Außerordentliche als Bestandteil des Wirklichen entdecken lassen, ermöglicht die Dominanz des Französischen im 18. Jahrhundert (E. Lesne-Jaffro, »L’Histoire de ma vie de Casanova, une mémoire littéraire européenne?«, 203 – 214) einen Kulturtransfer, wie er bisher höchstens im Gedächtnis der Lesenden gängig war. Das Zeitschriftenwesen bringt E. Francalanza (»JeanBaptiste-Antoine Suard, littérateur européen«, 237 – 246) mit »une idée de l’Europe en France, capable d’avoir des incident notables sur l’esthétique française«
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(239) in Verbindung und L. Richet (»Edgar Quinet, des littérautres étrangères à la littérature national(ist)e«, 301 – 310) erkennt in Quinets Antrittsvorlesung von 1842 am Collège de France »des accents politiques qui le [= ce texte] rapprochent de ceux qu’il écrira en 1870 dans un contexte de défense nationale« (304). Unter der Überschrift »Le temps des passeurs« vereint der dritte Teil komparatistische Studien zu französischen Autoren wie Malraux (M. Khémiri, »André Malraux et l’art japonais«, 385 – 398) oder Jabès (H. Shillony, »Edmond Jabès, poète français, penseur juif: du Caire à Paris«, 423 – 430) oder Le Clézio (C. Solé Castells, »L’éthique et l’esthétique des peuples amérindiens dans les romans de Le Clézio: une symbiose culturelle«, 495 – 502). Imagologische Untersuchungen (J. Chevrier, »Réception et évolution de l’image de l’Afrique noire du lendemain de la Seconde guerre jusqu’à l’époque contemporaine«, 431 – 440 und R. F. Amonoo, »Deux images de l’Algérie : Albert Camus et Assia Djebar«, 453 – 464) beziehen die Frankophonie ein und bringen erneut Grundsatzfragen ins Blickfeld (N. Al-Makhlouf, »Le voyage en Syrie chez Françoise Cloarec : voyage dans le moi ou retour aux sources de la culture«?, 465 – 472). Die beiden Bände dieser Zeitschrift gleichen sich besonders in zwei Aspekten, im Reichtum an Perspektiven und in der hohen Qualität ihrer Artikel, in denen viel zu entdecken und aus denen viel zu lernen ist. Volker Kapp, Kiel Wibke Reger, The Black Body of Literature: Colorism in American Fiction [Beiträge zur englischen und amerikanischen Literatur 28]. Paderborn: Schöningh, 2009. 280 S. Das Phänomen des ›Colorism‹, dem diese Studie gewidmet ist, hat im Deutschen keine Entsprechung. Es geht auf die Sklaverei und die auf sie folgende Rassentrennung und -diskriminierung in den USA (und der ›Neuen Welt‹) zurück und ist bis heute virulent. Wenngleich das Phänomen also eine lange Geschichte hat, ist der Begriff nach Auskunft der Verf. erst 1984 geprägt worden: Die afroamerikanische Autorin Alice Walker verwendet ihn in Analogie zum Begriff ›Rassismus‹ und definiert ihn wie folgt: »prejudicial or preferential treatment of same-race people based solely on their color« (11). Diese Definition ist nicht ganz unproblematisch, da sie von der in den Vereinigten Staaten spätestens seit der Abschaffung der Sklaverei geltenden Regel (›one-drop rule‹) ausgeht, nach der als schwarz gilt, wer auch nur einen afrikanischen Vorfahren in der Ahnenreihe hat. Während der Sklaverei galt, dass Kinder, die aus der Beziehung weißer Sklavenhalter mit ihren afrikanischen Sklavinnen hervorgingen, ebenfalls den Sklaven-Status innehatten. Allerdings wurde den hellhäutigen Nachkommen der Pflanzeraristokratie häufig eine bevorzugte Behand-
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lung zuteil, indem sie im Haushalt eingesetzt wurden und ihnen in manchen Fällen auch eine Bildung zuteil wurde bzw. sie – häufig nach dem Tod ihrer Väter – in die Freiheit entlassen wurden. Wenn Walker von ›same-race people‹ spricht, so wendet sie sich gegen die innerhalb der afroamerikanischen Gemeinschaft herrschende Diskriminierung der dunkelhäutigeren Mitglieder, die das Resultat der Verinnerlichung der weißen Rassenideologie ist. Da mit dem ›colorism‹ der weiße Anspruch auf kulturelle Überlegenheit anerkannt wird, stellte das Thema in der afroamerikanischen Gemeinschaft lange Zeit ein Tabu dar und wird erst seit den 1980er Jahren in der Literatur, im Film und in wissenschaftlichen Studien thematisiert und kritisch reflektiert. Vor dem Hintergrund dieser Debatte wird deutlich, dass das Thema seit langem in der Literatur – zunächst weißer, seit der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts auch afroamerikanischer Autoren – seinen Ausdruck findet. Ziel der Verf. ist es, die Ideologie des ›colorism‹ aus den literarischen Werken zu erschließen. Was sie in ihren sehr ausführlichen und differenzierten, dabei jedoch stets nachvollziehbaren Analysen nachzeichnet, ist das komplexe Wechselverhältnis zwischen der Kritik am Rassendiskurs der weißen Mehrheitsgesellschaft und dem internen Rassismus der afroamerikanischen Minderheit. Während sich über die letzten zwei Jahrhunderte eine Tendenz zur kritischen Distanzierung und Überwindung des internen Rassismus feststellen lässt, verläuft diese ›Entwicklung‹ keineswegs geradlinig. So ergibt beispielsweise die Analyse des im Jahre 1836 erschienenen und vom weißen, aus dem Umfeld der Abolitionistenbewegung stammenden Autor Richard Hildreth verfassten Romans The Slave, or Memoirs of Archy Moore den Befund, dass Hildreth – hierin seiner Zeit weit voraus – den Rassismus der weißen Mehrheitsgesellschaft geißelt, indem er das Überlegenheitsgefühl der hellerhäutigen über die dunkelhäutigen Sklaven vorführt und seiner weißen Leserschaft damit einen Spiegel vorhält. Den Einzelinterpretationen vorangeschaltet ist ein Überblick über die historischen Grundlagen und die Entwicklung des ›colorism‹ in den Vereinigten Staaten. Verf. hebt hier auf die Unterschiede zwischen den Kolonien ab. Während im ›Upper South‹ (Virginia und Maryland) den sogenannten ›mulattos‹ in der Regel kein besonderer Status zugestanden wurde, so bildeten sie vor allem in den Städten des ›Deep South‹ – New Orleans, Charleston, Savannah – eine dritte soziale Gruppe, die gesellschaftlich über den afrikanisch-stämmigen freien Schwarzen angesiedelt war. Als Gründe dafür, dass sich dieser Zustand im ›Deep South‹ ändert, wird das Aufkommen des wissenschaftlichen Rassendiskurses genannt. Da allerdings gerade dieser Diskurs die Zwischenstellung der ›Mulattos‹ bestätigt, bleibt unklar, welche Gründe zu einem Wandel führen. Auch darf New Orleans aufgrund seiner spanisch-französischen Vergangenheit wohl nicht mit anderen Städten im Süden gleichgesetzt werden. Vermutlich
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dürfte der Bürgerkrieg und die Abschaffung der Sklaverei auf Seiten der weißen Bevölkerung zu einem stärkeren Bedürfnis nach Abgrenzung geführt haben: »In the wake of the Civil War the black and the mulatto worlds became one« (25). Relativiert wird diese Aussage im Weiteren, wenn Verf. konstatiert, dass innerhalb der heterogenen Gruppe der Schwarzen eine interne Hierarchie bestehen bleibt, die sich beispielsweise durch die Auslese der schwarzen Bildungsinstitutionen weiter verfestigt. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wird der interne Rassismus vom Verfechter eines afroamerikanischen Nationalismus, Marcus Garvey, in Frage gestellt, ohne allerdings nachhaltige Wirkung zu erzielen. Nach Ansicht der Verf. nimmt erst die Black Power Bewegung die politische Forderung nach einer Überwindung des internalisierten Rassismus wieder auf. Auch das Motto ›Black is Beautiful‹ hat nach Ansicht der Verf. den ›colorism‹ nicht überwinden können, wie die weite Verbreitung von Hautaufhellern und chemischen Mitteln zur Glättung der Haare zeigt. Dass es sich bei dem historischen Überblick nur um einen, wie Verf. selbstkritisch anfügt, kursorischen Abriss handeln kann, versteht sich von selbst und kann angesichts der Komplexität der Thematik auch nicht kritisiert werden. Was man sich gewünscht hätte, wären allenfalls klarere Zäsuren gewesen, die bei der Einordnung der dann im Folgenden diskutierten Werke als Orientierung hätten dienen können. Da die analysierten Werke die Nachbürgerkriegsära, die Harlem Renaissance und die Nachbürgerkriegsära repräsentieren, hätte der historische Überblick etwas stärker auf die historischen Wendepunkte und Umbrüche abheben können. Die Stärken der Studie liegen in den klaren und sehr differenzierten Einzelanalysen. Verf. zeigt zunächst anhand der Werke von Richard Hildreth und Harriet Beecher Stowe, dass das Motiv der ›tragischen Mulattin‹ im Umfeld der Abolitionisten entstand. Anhand dieser Figur ließ sich die Unmenschlichkeit der Sklaverei besonders eindrucksvoll demonstrieren, da sie zur Identifikation einlud und der Fall von einer gesellschaftlich anerkannten Position in die Sklaverei das Mitgefühl der Leser erregte. Ob Stowe sich des ›colorism‹ tatsächlich nur aus strategischen Gründen bedient, wie Verf. nahe legt, oder ob die Autorin nicht auch der für die Zeit typischen Ansicht anhängt, dass mit der weißen Abstammung ein höherer Entwicklungsstand und eine höhere Intelligenz einhergehen, ist in der Forschung umstritten. Frederick Douglass und Martin Delany jedenfalls schufen als Antwort auf Stowe bewusst dunkelhäutige Protagonisten, um die universelle Gültigkeit der in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung verbrieften Rechte einzuklagen. Dass jedoch auch afroamerikanische Autoren vom wissenschaftlichen Rassendiskurs nicht unbeeinflusst blieben, zeigt die Diskussion von Charles Chesnutt: »But while Chesnutt knew colorism to be wrong, he himself was not free of the prejudices he criticized« (102). Die Autoren der Harlem Renaissance setzen sich intensiver als von der Kritik
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bisher beachtet mit dem Phänomen des ›colorism‹ auseinander. Vor allem die Figur der ›tragischen Mulattin‹ wird nun von afroamerikanischen Autorinnen wie Nella Larsen und Zora Neale Hurston einer Revision unterzogen, während männliche Autoren wie Jean Toomer und Claude McKay die Vielfalt und Heterogenität innerhalb der schwarzen Minderheit feiern. Mit der Bürgerrechtsbewegung und der Black Power und Black Arts Bewegung in den sechziger und siebziger Jahren erfährt die traditionelle Hierarchie eine radikale Umwertung. ›Black is beautiful‹ lautet nun die Parole, Autoren wie LeRoi Jones und Malcolm X distanzieren sich von ihrer weißen Herkunft. Autorinnen wie Alice Walker, Toni Morrison und Paule Marshall ergründen in ihren Werken die gender-spezifischen Ausprägungen des ›colorism‹. Verf. ist mit dieser Studie eine sehr umfassende Aufarbeitung des Phänomens ›colorism‹ gelungen. Die Arbeit besticht durch ihren klaren Stil und die Kohärenz der Argumentation. Dass sie dabei vorrangig inhaltlich vorgeht und literarische Verfahrensweisen eher beiläufig erwähnt (das von Henry Louis Gates Jr. verwendete Konzept des ›signifying‹ spielt kaum eine Rolle), beeinträchtigt die Qualität der Studie nur unwesentlich. Die von der Verf. immer wieder betonte kritische Auseinandersetzung der literarischen Texte mit dem Phänomen hätte sich durch den Vergleich mit nichtfiktionalen Texten, in denen der wissenschaftliche Rassismus zum Ausdruck kommt, noch stärker kontextualisieren lassen. Anhand von Robert E. Parks »Mentality of Racial Hybrids« – 1931 in The American Journal of Sociology erschienen – zeigt sich beispielsweise, dass die kulturellen Leistungen der genannten Autoren und Autorinnen – unabhängig vom spezifischen Inhalt ihrer Werke – immer schon als Ausdruck ihrer teilweise weißen Abstammung betrachtet wurden. Dass bereits während der Harlem Renaissance – bei Toomer, Hughes und Hurston –, dann aber vor allem seit den 1970er Jahren die Tendenz zu beobachten ist, Verfahrensweisen und Techniken zur Anwendung zu bringen, die der afrikanischen Tradition Ausdruck verleihen, ist daher nicht unerheblich. Weitere interessante Fragen schließen sich an, so beispielsweise die nach der Wirkung der literarischen Texte. Angesichts der Tabuisierung des Themas durch die afroamerikanische Minderheit liegt die Vermutung nahe, dass eine zu offensichtliche Behandlung des Themas wie z. B. in Hurstons Their Eyes Were Watching God dazu führte, dass die Autorin lange Zeit unbeachtet blieb und erst durch Alice Walker wieder entdeckt wurde. Wibke Reger ist eine exzellente Studie gelungen, die durch die umfassende Bearbeitung des Themas und ihre Klarheit besticht und zum kritischen Dialog einlädt. Jutta Zimmermann, Kiel
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Marion Gymnich: Metasprachliche Reflexionen und sprachliche Gestaltungsmittel im englischsprachigen postkolonialen und interkulturellen Roman [ELCH 24], Trier: WVT, 2007. 315 S. Der Zufall will es, dass Bill Ashcroft ausgerechnet im Jahr 1989 mit seiner Definition des ›Postkolonialen‹ auf dem Gebiet der anglo-amerikanischen Literatur- und Kulturwissenschaften eine terminologische Zeitenwende auslöst. Die Begrifflichkeit hat seither nicht nur den bis dahin gebräuchlichen Terminus ›Commonwealth Literatur‹ abgelöst, sondern war zudem wegbereitend für die Erschließung der so genannten Neuen Englischsprachigen Literaturen (NEL) als innovatives Untersuchungsgebiet. Die vorliegende Habilitationsschrift von Marion Gymnich unterzieht die »vermeintlich neutralere« (2) Bezeichnung NEL einer kritischen Revision und ersetzt sie durch den Begriffskomplex » ›postkoloniale‹ und ›interkulturelle‹ Literaturen« (ebd.). Die Studie bereichert das Feld der kulturwissenschaftlich ausgerichteten Literaturwissenschaft um einen weiteren, sehr lesenswerten Beitrag, zumal dieser an der Schnittstelle zwischen der Literaturwissenschaft und der Linguistik angesiedelt ist. Ausgehend von einem komplementären, funktionsgeschichtlich profilierten Ansatz, ist die Arbeit gleichermaßen an der Gestaltung sowie Vermittlung »metasprachliche[r] und sprachkritische[r] Reflexionen« (1) durch respektive in literarische / n Texte interessiert. Als Untersuchungsgegenstand wird eine bemerkenswert umfassende Auswahl zeitgenössischer englischsprachiger Romane seit den 1970er Jahren herangezogen. Als Kerntexte unterzieht Gymnich neben Merle Hodges Crick Crack, Monkey (1970), James Welshs Fools Crow (1986), David Maloufs Remembering Babylon (1993), Jamaica Kincaids The Autobiography of My Mother (1996) und Zakes Mdas The Heart of Redness (2000) auch die Werke chinesisch-amerikanischer Autoren und Autorinnen, darunter Maxine Hong Kingstons semi-fiktionale Texte The Woman Warrior (1975) und China Men (1980), Amy Tans The Joy Luck Club (1989), The Kitchen God’s Wife (1991) und The Bonesetter’s Daughter (2001), Frank Chins Donald Duk (1991), Gish Jens Typical American (1991) und Mona in the Promised Land (1996) sowie nicht zuletzt Fae Myenne Ngs Bone (1993), einer eingehenderen Analyse. Übergeordnet zielführend ist dabei folgende Einsicht: In Bezug auf postkoloniale und interkulturelle Literatur generell wie auch hinsichtlich des Funktionspotentials von Sprache als Thema und Gestaltungsmittel der Literatur ist es [ . . . ] naheliegend, einen Widerstand gegen die hegemoniale Kultur und Sprache anzunehmen. [ . . . ] Wie [ . . . ] deutlich werden wird, greift aber eine einseitige Sichtweise postkolonialer und interkultureller Literatur und des in dieser Literatur erfolgenden Umgangs mit Sprache als reinem Widerstand [ . . . ] zu kurz. (8)
Davon ausgehend formuliert Gymnich im Rahmen des Einleitungskapitels I (1 – 16) eine dreifache Zielsetzung. Erstens soll der Nachweis erbracht werden,
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dass »die Auseinandersetzung mit Sprache für postkoloniale und interkulturelle Literatur tatsächlich generell kennzeichnend ist« (4); zweitens geht es darum, zu zeigen, dass »sich für bestimmte Gruppen von literarischen Texten charakteristische Konstellationen und Themen bei der Auseinandersetzung mit Sprache ausmachen lassen« (5). Während die ersten beiden Ziele, wenngleich implizit, Aspekte der Gattungskonstitution berühren, bricht Gymnich mithilfe des dritten Ziels explizit eine Lanze für fachübergreifende Kooperationen, indem sie »das grundsätzliche Leistungsvermögen von Arbeiten im Grenzbereich von Literaturwissenschaft und Linguistik« (6) hervorhebt. Dieser Anspruch bleibt keineswegs bloßes Programm. Davon zeugt einerseits der Aufbau der Arbeit, der durch die konsequente Verknüpfung beider Teildisziplinen sowohl auf theoretisch-methodischer als auch konzeptueller Ebene bestimmt ist, wie vor allem die souveräne Leichtigkeit, mit der Gymnich die avisierte produktive Fusion realisiert. Andererseits spiegelt sich diese formal in der fortlaufenden Nummerierung in der Gesamtgliederung, wodurch von vornherein der Eindruck einer Zweiteilung vermieden wird. Gleichzeitig sind jedoch die Argumentationsschritte deutlich voneinander getrennt. In Kapitel II (»Reflexionen über und Einstellungen zu Sprache im postkolonialen Diskurs«; 17 – 39) erfolgt als erstes eine sprachpolitische Kontextualisierung der Problemstellung. Dazu führt Gymnich zunächst die wichtigsten Positionen jener bildungshistorisch fundierten, sprachkritischen Debatte zusammen, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht und vor dem Hintergrund der britischen Kolonialherrschaft um Fragen der (Un)Angemessenheit respektive (Il)Legitimität der Verwendung des Englischen als Literatursprache kreist. Das Resultat wird im Sinne einer erweiterten Arbeitshypothese wie folgt zusammengefasst: »Sprachkritik [ . . . ] ist in der postkolonialen und interkulturellen Literatur nicht nur auf einer Metaebene – in Reflexionen über Sprache – zu suchen, sondern wird auch über sprachliche Gestaltungsmittel inszeniert« (38). Anschließend wird in Kapitel III (»Ansätze für eine Analyse postkolonialer und interkultureller Literatur im Grenzbereich von Literaturwissenschaft und Linguistik«; 40 – 62) ein komplexer theoretisch-methodischer Bezugsrahmen entworfen. Darin führt Gymnich Kriterien sprachwissenschaftlicher Zweige, die mentale bzw. soziale Dimensionen von Sprache untersuchen, sprich Pragmatik, Sozioliguistik und Spracherwerbsforschung, mit Konzepten und Modellen der so genannten postklassischen Narratologie, die sich speziell mit kognitiven Phänomenen respektive Problemen der Mentalstilistik auseinandersetzen, zu einer produktiven Synthese. Dies geschieht mit dem Ziel, bestehende Vorarbeiten zur postkolonialen Erzähltheorie im Hinblick auf jenes Segment, das die durch die Aspekte Klasse, Rasse bzw. Ethnizität profilierte sprachliche Vermittlung und / oder Gestaltung von Identität und Alterität umfasst, methodisch und konzeptuell sowohl zu modifizieren als auch zu präzisieren. Im Anschluss
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lotet Gymnich in Kapitel IV (»Formen, Wirkungen und Funktionen sprachlicher Gestaltungsmittel in englischsprachigen postkolonialen und interkulturellen Erzähltexten«; 63 – 143) zunächst exemplarisch anhand dreier sprachkreativer Parameter, ›fremdsprachliche Einschübe‹ (63 – 96), ›regionale und soziale Varietäten‹ (96 – 128) sowie ›morphologisch komplexe Wörter‹ (128 – 143), gleichsam morphologische, syntaktische und semantische Inszenierungsspektren hinsichtlich der »Wirkungsweisen von bottom-up und top-down Prozessen« (61) aus. In diesem Zuge modifiziert sie Stockwells Begriff des Neosems und führt die Termini »Resemantisierung« (137) und »Resegmentarisierung« (139) ein, die Spracherneuerung weniger mit morphologischem bzw. phonologischem Bedeutungsverlust als vielmehr mit einer palimpsestartigen Bedeutungsanreicherung assoziieren. Das folgende Hauptanalysekapitel gliedert sich in drei Teile. Bei der Behandlung des Untersuchungsgegenstandes setzt Gymnich nicht allein thematische Schwerpunkte, sondern orientiert sich sinnvoller Weise zusätzlich sowohl an sozio-historischen und geo-sozialen Kriterien der Sprachentwicklung als auch Aspekten der Gattungsdifferenzierung, die maßgeblich die Entwicklung der von ihr so genannten postkolonialen und interkulturellen Literaturen beeinflusst haben. Das Kapitel V (»Die Inszenierung und Thematisierung von Sprachpolitik und Sprachkonkurrenzen und die sprachliche Konstruktion von Alterität im postkolonialen und interkulturellen historischen Roman«; 144 – 201) untersucht die Parameter sowie das Leistungsvermögen einer innovativen Subgattung. Im Fokus stehen kontrastive sprachliche Identitäts- und / oder Alteritätsentwürfe im Spannungsfeld kollektiver Geschichtswahrnehmung und individueller Erinnerung unter besonderer Berücksichtigung der hierarchisch unterschiedlich angelegten narrativen Ebenen von Erzählerrede und Figurenrede. In Kapitel VI (»Die sprachliche Dimension der Einwanderungserfahrung und des Generationenkonflikts in Migrationsromanen chinesisch-amerikanischer Autorinnen seit den 1970er Jahren (Frank Chin, Maxine Hong Kingston, Gish Jen, Fae Myenne Ng, Amy Tan)«; 202 – 250) liegt das Hauptaugenmerk auf der sprachästhetischen Umsetzung alters- und generationenbedingter Sprachbarrieren von Migrantenfamilien, die von Formen der Sprachdiskriminierung über Resistenzen im Zweitspracherwerb bis zur Sprachlosigkeit reichen. Als besonders gelungen im Zusammenhang mit Gymnichs Untersuchungen scheiternder respektive verweigerter Assimilation ist die explizite Auseinandersetzung mit dem Chinesischen als (widerständigem) sprachlichen Zeichensystem in einer dominant englischsprachigen kulturellen Umgebung hervorzuheben. Das abschließende Analysekapitel VII (»Die Zusammenhänge zwischen Sprache, individuellen Entwicklungsprozessen und der Situierung des Individuums in sozialen Strukturen in Bildungsromanen aus der Karibik«; 251 – 276) rückt die vielfältigen Konkurrenzen zwischen Meso-, Akro- bzw.
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Basilekten und der Standardsprache als Gestaltungsmittel gender-spezifischer Figurenkonzeptionen ins Blickfeld. Die Untersuchungen zeigen, dass neben »dem ›klassischen‹ Muster von Bildung und sozialem Aufstieg« (276) das Gattungsmuster des Bildungsromans im Sinne resignativer bzw. stagnierender Lebensentwürfe innovativ abgewandelt wird. Das Kapitel VIII (»Schlussbetrachtung und Ausblick«) rundet die Studie ab. Im Zuge einer konzisen Ergebniszusammenfassung weist Gymnich auf den möglichen Gewinn der Auswertung von Spektren metasprachlicher Kommentare und sprachlicher Gestaltungsmittel bei der Analyse der »Thematisierung und Inszenierung von Sprache« im Drama und in der Lyrik hin. Wenngleich der etwas sperrige Titel dies nicht unbedingt erwarten lässt, vermag die vorliegende Arbeit sehr klar, flüssig und überzeugend das wechselseitig durch narrative Strategien und Mittel der Sprachgestaltung generierte Funktionspotential postkolonialer und interkultureller Romane darzulegen. Über die gattungsübergreifende Anwendung dieser Vorgehensweise hinaus ist ferner zu überlegen, ob die gewonnenen Erkenntnisse auf Gegenstandbereiche der Postmoderne beschränkt bleiben sollten. Ines Detmers, Chemnitz
Hilary P. Dannenberg, Coincidence and Counterfactuality: Plotting Time and Space in Narrative Fiction [Frontiers of Narrative Series], Lincoln: University of Nebraska Press, 2008. 304 S. Seit den 1990er Jahren erlebt die zeitweilig totgesagte Erzähltheorie im Zuge des narrative turn in den Kulturwissenschaften eine Renaissance. Mit der Abkehr von einer antireferentiellen strukturalistischen Ausrichtung vollzog sich in den letzten Jahren eine beeindruckende Auffächerung der nun häufig als ›postklassisch‹ bezeichneten Erzählforschung in verschiedenste narratologies, unter denen die dominant themenbezogen und kontextualisiert vorgehenden Ansätze sich als besonders produktiv erwiesen haben. Zu letzteren zählt unter anderem die philosophisch und semantisch orientierte possible-worlds-Theorie, die auch für die vorliegende Habilitationsschrift von Hilary Dannenberg mit ihrem Fokus auf Plot einen zentralen Ausgangspunkt bildet. Die ertragreiche und gut lesbare Studie verfolgt mehrere Ziele und Fragestellungen, die narratologische, literarhistorische und gattungstheoretische Dimensionen verknüpfen. Wie schon der Titel signalisiert, geht es Dannenberg im wesentlichen um die beiden Plotkonfigurationen der Koinzidenz und der Kontrafaktizität, die sie von ihren Anfängen bis heute in ihrem wechselnden Zusammenspiel und ihrer jeweils spezifischen historischen Ausgestaltung anhand von Erzähltexten untersucht. Die dabei zugrunde gelegte konzeptionelle Opposition ist die zwischen dem Prinzip einer Konvergenz möglicher Welten,
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wie sie sich bevorzugt im coincidence plot mit seiner Zusammenführung von Figuren über zeitliche und räumliche Grenzen hinweg manifestiert, und der Plotdivergenz, die insbesondere mit kontrafaktischen Geschichts- und Weltversionen operiert. Gerade die kontrafaktische Weltenkonstruktion erhält hier eine Aufmerksamkeit, die ihr in der Literaturtheorie bisher weitgehend versagt geblieben ist. Das Koinzidenzprinzip hingegen scheint als literarische Konvention mit einer besonderen narrativen Konjunktur im Roman des 18. und 19. Jahrhunderts allgemein bekannt, wurde jedoch bislang nicht systematisch und epochenübergreifend untersucht. Das Textkorpus reicht von der Renaissance bis zur Postmoderne und umfasst unterschiedlichste Genres – von der elisabethanischen Pastoralromanze über den Abenteuerroman des 18. Jahrhunderts, die Gothic novel der Romantik und den viktorianischen Roman bis hin zu Science Fiction und postmoderner historiographischer Metafiktion. Zwar werden dominant britische Prosatexte berücksichtigt, doch gerade unter den Textbeispielen aus dem 20. Jahrhundert finden sich auch eine Reihe US-amerikanischer Autoren. Der überschaubare Gesamtumfang von 230 Textseiten und der gleichzeitige Anspruch, eine über vier Jahrhunderte reichende anglophone Literaturgeschichte neu zu erfassen, hat zur Konsequenz, dass die Studie Einzeltexte lediglich schlaglichtartig beleuchten kann. Es geht Dannenberg also eher um allgemeine Tendenzen innerhalb der Genese und Entwicklung der Gattung Roman, wobei der spezifische Einsatz der Plotmuster von Koinzidenz und Kontrafaktizität in bestimmten Subgattungen des Romans als Indikator eines sich wandelnden mentalitätsgeschichtlichen Weltkonzepts gelesen wird. So wird der Koinzidenzplot, wie Dannenberg zeigt, in seinen Anfängen als extern gesteuertes Geschehen imaginiert, in dem das Prinzip göttlicher, schicksalhafter Vorhersehung manifest wird. Mit der Verbreitung eines säkularisierten Weltbildes büßt das Plotmuster diese übergeordnete kausal-manipulative Instanz ein, um schließlich im Roman des Modernismus vereinzelt (Virginia Woolfs Mrs Dalloway wird als Beispiel angeführt) zum Spiegel eines neuen Bewusstseins über das wachsende Chaos der Welt und die Zufälligkeiten von Lebenswegen zu werden. Kontrafaktizität hingegen erscheint im Roman des 18. Jahrhunderts (vor allem bei Daniel Defoe und Samuel Richardson) in erster Linie autobiographisch, das heißt auf ein Figurenbewusstsein bezogen und in Form einer retrospektiven Evaluation der individuellen Figurengeschichte. Der zunehmend rhetorische Einsatz von Kontrafaktizität dient dann im 19. Jahrhundert vor allem weiblichen Autoren wie Charlotte Brontë oder George Eliot zur Destabilisierung hegemonialer romantischer bzw. märchenhafter Erzählverläufe, die auf Konvergenz in Form eines happy ending beruhen. Darin äußert sich eine geschlechtsspezifisch-ideologische Kritik an der Beschränktheit der Optionen für weibliche Protagonisten, wie Rachel Blau Du Plessis in
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ihrer Studie Writing beyond the Ending (1985) erstmals umfassend aufgezeigt hat. Zugleich setzt mit den neu aufkommenden Gattungen der Science Fiction und des revisionistischen historischen Romans gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine kontrafaktisch bedingte, ontologische Pluralisierung von narrativen Weltensystemen ein, die sich im 20. Jahrhundert und hier insbesondere im postmodernen Roman mit Subgattungen wie der historiographischen Metafiktion radikalisiert. Der selbstreflexive Umgang mit beiden hier untersuchten Plotprinzipien, dem der Koinzidenz wie dem der Kontrafaktizität, verweist in der Postmoderne, wie anhand diverser Beispiele eindrücklich gezeigt wird, auf die grundlegende Konstruiertheit aller Bedeutung. Dabei unterscheidet sich der postmoderne Erzähltext zudem von seinen Vorläufern in seinem bewussten Außerkraftsetzen des Prinzips eines originären Ursprungs, auf den alles Geschehen zurückzuführen wäre. Doch nicht nur die historische Einordnung spielt im Rahmen der vorliegenden Studie eine zentrale Rolle, sondern auch die literarische Wertung: So begreift Dannenberg die beiden in den Blick genommenen Plotstrategien als »excellent narrative phenomena with which to perform a transhistorical study of how the novel develops qualitative narrativity« (5). Dabei wird keineswegs das eine gegen das andere Plotmuster ausgespielt, sondern eher im Sinne von Marie-Laure Ryans allgemeinem Prinzip der größtmöglichen Diversifizierung von möglichen Welten innerhalb eines Erzähluniversums geurteilt, um sogenannte key authors für verschiedene literaturgeschichtliche Perioden auszumachen. Hierzu muss jedoch angemerkt werden, dass diese Vorgehensweise keine wirklichen Überraschungskandidaten hervorbringt, sondern im Wesentlichen anerkannte, kanonisierte Autoren und Autorinnen in ihrem Status bestätigt. Ein entscheidender Gradmesser für die Innovationskraft von Texten scheint in der Logik dieser Plotuntersuchung das Ausmaß an kognitiver Herausforderung, genauer gesagt die Notwendigkeit zur Synthetisierung von Korrespondenzrelationen zwischen fiktiven Welten zu sein, dem sich die Leser von Erzähltexten ausgesetzt sehen. Das im ersten Teil der Arbeit entwickelte, kognitiv ausgerichtete Modell zur Erfassung der Leserpositionierung gegenüber erzählten Welten geht entscheidend auf Marie-Laure Ryans Überlegungen zurück. Es reicht auf einer Skala von völliger Immersion, wie sie insbesondere im realistischen Roman durch die Plotprinzipien der Kausalität, der Verwandtschaftsverhältnisse und der Ähnlichkeitsrelationen oder aber der Spannungsführung ermöglicht wird, bis zum Gegenteil von Immersion – nämlich einer expulsion der Leser und Leserinnen aus dem Erzähluniversum. Dabei werden Zeit und Raum als entscheidende Faktoren einbezogen: So führt Dannenberg die Eigenschaft von Erzähltexten, einen Wechsel zwischen virtuellen und aktualisierten Weltversionen der Vergangenheit oder Zukunft zu ermöglichen, auf das Prinzip der zeitlichen Or-
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chestrierung möglicher Welten zurück. Zugleich zeigt sie, wie der leserseitige Immersionsprozess sich an der Unterscheidung von Konvergenzen gegenüber Divergenzen orientiert und dies nur in metaphorischer Verräumlichung möglich wird (indem Zeit als Wegstrecke erfahren und Lebensläufe als Reisen aufgefasst werden). Insgesamt beschreibt Coincidence and Counterfactuality eine im Wesentlichen lineare, divergenzbasierte Erfolgsgeschichte des Romans, der zufolge die schrittweise Erweiterung und Vervielfachung der narrativen Ebenen, auf denen die beiden zentralen Plotprinzipien situiert sind (Figurenrede, Figurenbewusstsein, Einzelereignis vs. serielle Präsentation, aktualisierte vs. mögliche Welten, erzählerische Vermittlung) ihren Kulminationspunkt im selbstreflexiven narrativen Experiment der Postmoderne findet. Aus gattungsgeschichtlicher Perspektive ist ein unbestreitbarer Gewinn der eingenommenen Perspektive auf Koinzidenz und Kontrafaktizität, dass sie zwischen Romanze und Roman einerseits sowie zwischen Science Fiction und historiographischer Metafiktion andererseits ungeahnt enge Kontinuitätslinien aufscheinen lässt. So eröffnet sich einerseits ein neuer, relativierender Blick auf die Innovationskraft des sogenannten realistischen Romans, der ja gerade mit der Fortführung der Erzählkonvention der Koinzidenz, wie sie bereits in der elisabethanischen Pastoralromanze etabliert war, operiert. Andererseits wird deutlich, dass die Gattung der Science Fiction mit ihren Entwürfen pluralistischer Erzähluniversen und nebengeordneter Parallelwelten zumindest partiell das spätere radikale Experiment des postmodernen Romans vorwegnimmt. Dannenbergs Habilitationsschrift basiert in Teilen auf bereits vorab veröffentlichten Aufsätzen, die zwischen 1995 und 2000 erschienen sind. Dies ist jedoch bei der Lektüre kaum spürbar, da die einzelnen Teile der Arbeit eng miteinander verzahnt wirken. Wünschenswert wäre es allerdings gerade vor dem Hintergrund der literarhistorischen Zielsetzung und der aufgezeigten Intensivierung von Plotdivergenz gewesen, dem narrativen Medium Film mehr als nur einen einseitigen Exkurs (222 f.) zu widmen und auch das Genre des Hypertextes zumindest kursorisch einzubeziehen – auch wenn oder vielleicht gerade weil mit Dannenberg (1998) bereits ein einschlägiger Aufsatz vorliegt. Ausgesprochen leserfreundlich ist die Arbeit nicht nur aufgrund ihres klaren Stils – was angesichts der terminologischen Überfrachtung der possible worldsTheorie sowie der Narratologie eine besondere Leistung darstellt –, sondern auch aufgrund des angefügten Stichwortverzeichnisses und eines zusätzlichen Glossars zu den wichtigsten narratologischen und philosophisch-semantischen Konzepten. Weiterhin tragen die Zwischenergebnisse am Ende jedes größeren Kapitels zur Lesbarkeit und Übersichtlichkeit bei. Zusammenfassend kann man Dannenbergs Studie als äußerst gelungenen Beitrag zur kognitiv-seman-
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tischen Plotforschung bezeichnen, der durch seine teils systematisch-theoretische, teils diachrone Vorgehensweise die Produktivität und Anwendbarkeit der possible-worlds-Theorie für die Erzählforschung wie auch für Literatur- und Gattungsgeschichte eindrucksvoll unter Beweis stellt. Andrea Gutenberg, Köln
Christoph Strosetzki (Hg.), Übersetzung. Ursprung und Zukunft der Philologie? Tübingen: Gunter Narr Verlag, 2008. 367 S. Der vorliegende Band ist Ertrag einer im Juni 2007 an der Universität Münster gehaltenen Tagung, die sich dem wechselnden Verhältnis von Übersetzung und Philologie vom frühen Mittelalter bis in unsere Tage widmete. Wie der Herausgeber des Sammelbandes und Veranstalter der Tagung, Christoph Strosetzki, in seinem Vorwort erläutert, ging es bei dem Symposion insbesondere darum, herauszuarbeiten, auf welche Weise sich Tätigkeit und Selbstverständnis von Übersetzern und Philologen im Lauf der Jahrhunderte verändern und welchen Platz Übersetzung und Philologie in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Kontext (nicht zuletzt auch in der Fächerhierarchie der Universitäten) einnehmen. So weit gespannt die Problematik, so unterschiedlich sind auch die Perspektiven und Prämissen, unter denen die Tagungsteilnehmer – Vertreter der Übersetzungswissenschaft, der mittellateinischen, romanischen und germanistischen Sprach- bzw. Literaturwissenschaft – sich dem Gegenstand nähern. Diese unterschiedlichen Perspektiven sind nicht zuletzt auch darin begründet, dass die im Titel genannte ›Philologie‹ je nach Fachrichtung, aber auch je nach Herkunftsland (neben deutschen diskutierten auch belgische, französische und spanische Wissenschaftler) auf mindestens drei Weisen verstanden werden kann: als Wissenschaft von Literatur und Sprache (wie sich dies an deutschen Universitäten eingebürgert hat), als Methode der Textkritik (dies assoziiert man in der Regel in Frankreich und Italien mit ›philologie‹ / ›filologia‹) oder, nach der wirkmächtigen Definition August Boeckhs, als enzyklopädische Wissenschaft, deren eigentliche Aufgabe ›das Erkennen des schon Erkannten‹ ist. Die Bandbreite der verhandelten Themen reicht von den mittelalterlichen Glossen, die als Vorstufen der philologischen Beschäftigung mit Texten gelten können (Wolfgang Pöckl, »Glossen als Keimzellen der Philologie«, 31 – 43), bis hin zu den aktuellen Lehrplänen spanischer Universitäten, welche die Trennung der Übersetzungswissenschaften von der Philologie zu zementieren scheinen (Miguel Ángel Vega, »Expansión actual de los estudios de la traducción e implosión de las filologías en las universidades espan˜olas: la Traducción, ¿punto omega de la Filología?«, 355 – 367; auf diesen Beitrag wird im Folgenden noch näher eingegangen). Die recht heterogenen Beiträge sind in den Tagungsakten
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zu sieben Gruppen à je drei Aufätzen zusammengefügt, wobei entweder eine Leitthematik (»Übersetzungsleistung im Zusammenhang mit Glossen, Rhetorik und Sprachwissenschaft«; »Praktiken des Umgangs mit fremdsprachlichen Textvorlagen über die Jahrhunderte«; »Bewertung von Übersetzungen aus dem kulturellen bzw. kulturpolitischen Zeitkontext«; »Universitäre Verankerung von Übersetzung und Neuphilologie«) oder aber ein zeitlicher Index (»Frühe Neuzeit«; »16. Jahrhundert«; »18. und 19. Jahrhundert«) als kleinster gemeinsamer Nenner fungieren. Nicht in allen Fällen ist die Zusammenstellung der Artikel und die Wahl der Kapitelüberschriften überzeugend,1 doch verhilft diese Art der Anordnung der Texte dem Leser zu einem ersten Überblick. Da auf dem hier zur Verfügung stehenden Raum nicht jeder der 21 Beiträge behandelt werden kann, soll im Folgenden exemplarisch auf jene verwiesen werden, die aus Sicht der Rezensentin von besonderem Interesse sind oder in Hinblick auf das Thema des Bandes als exemplarisch gelten können. Auf welche Weise die von den Humanisten betriebene historisch-philologische Textkritik die Praxis des Übersetzens veränderte und insbesondere im Florenz des Quattrocento zu einer Blüte der Übersetzungstätigkeit führte, zeigt der Beitrag von Jennifer Helm (»Philologie, Übersetzungen und das Dekret Inter sollicitudines zur Vorzensur (1515)«, 195 – 212). Den Ausgangspunkt der Studie bildet die Bulle Inter sollicitudines von Papst Leo X. aus dem Jahr 1515, mit der die Kirche die Verbreitung von Gedankengut, das im Gegensatz zur mittelalterlich-scholastischen Lehre stand, zu verhindern suchte. Wie die Vf. darlegt, richtete sich das Dekret nicht zuletzt gegen die zahlreichen, im Umfeld der Humanisten entstandenen lateinischen Neuübersetzungen von kanonischen Texten wie dem Alten und Neuen Testament, den Schriften der griechischen Kirchenväter oder dem Corpus Aristotelicum, welche die bislang vorliegenden lateinischen Versionen revidierten und so deren Autorität in Frage stellten. Mit einem spanischen Sonderfall beschäftigt sich Christiane Pérez González (»Lateinisch oder Spanisch? Übersetzung und Sprachenfrage im spanischen Jesuitentheater am Beginn des Siglo de Oro«, 101 – 123): Während im übrigen Europa das Jesuitentheater dem Wesen nach ein lateinisches ist, sind in Spanien lediglich 35 der knapp 250 überlieferten Jesuitendramen auf Latein verfasst, die übrigen mischen bereits im 16. Jahrhundert lateinische und spanische Passagen, und im 17. Jahrhundert dominiert endlich das Spanische. Die Forschung be1 So scheint etwa »Teil 1: Übersetzungsleistung im Zusammenhang mit Glossen, Rhetorik und Sprachwissenschaft« jene Beiträge zu vereinen, die sich nur schwer zuordnen ließen. Derlei ›Notlösungen‹ sind in Sammelpublikationen durchaus keine Seltenheit, in diesem Fall kommt erschwerend hinzu, dass der nicht sehr glücklich gewählte Begriff ›Übersetzungsleistung‹ für keinen der drei Aufsätze, die unter diesem Titel aufgeführt werden, wirklich treffend ist.
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gründete diesen Umstand bislang mit den missionarischen Absichten des Ordens. Die Vf. jedoch weist anhand der Analyse der beiden volkssprachlichen Bearbeitungen des lateinischen Dramas Metanea nach, dass in den späteren Versionen nicht etwa – wie zu vermuten wäre – diejenigen Szenen ins Spanische übersetzt sind, die der moralischen Unterweisung dienen (diese erfolgt weiterhin auf Latein), sondern solche, durch die der Jesuitenorden adlige Förderer zu werben hoffte. Dass in der letzten Bearbeitung des Stücks aus dem Jahr 1585 / 86 – aus einer Zeit also, da sich in Spanien bereits eine weltliche Theaterkultur entwickelte – komischen Dialogen und Zwischenspielen in spanischer Sprache viel Raum gelassen wird, bewertet die Vf. »als ein Zugeständnis an die ›diversión‹, an das ästhetische Empfinden und sprachliche Selbstbewusstsein des Publikums« (118). Doch konnte auch dieses Zugeständnis an den Zeitgeist nicht verhindern, dass das Lateinische letztlich vollständig aus dem Jesuitendrama verdrängt wurde. Dass es insbesondere im 18. und 19. Jahrhundert gängige Praxis war, Übersetzungen dem Geschmack des Publikums anzupassen, zeigen die Beiträge von Norbert Greiner (»Die Anfänge des deutschen ›Regietheaters‹ – der adaptierende Umgang mit Much Ado about Nothing von Wieland bis Goethe«, 233 – 251) und Earl Jeffrey Richards (»Übersetzen zwischen Erkennen und Wiedererkennen in der romanischen Philologie: Joseph Bédiers Nachfolger übersetzen Christine de Pizan«, 253 – 268). Wie Greiner feststellt, geht oder ging es im Theater »immer dort, wo es zu Höhepunkten der Rezeption oder besonders interessanten und folgenreichen Formen übersetzerischer Aneignung von fremdkulturellen Impulsen kommt, [ . . . ] selten oder nie um ›Originaltreue‹ [ . . . ], sondern stets um einen lebhaften Dialog zwischen den Kulturen« (233). Dies lässt sich auch an den unterschiedlichen Bearbeitungen nachweisen, die Shakespeares Much Ado about Nothing zwischen 1779 und 1792 in Deutschland erfahren hat: Johann Jakob Engel straffte und vereinfachte die Handlung und strich alle Frivolitäten, welche den Unmut des Publikums hätten erregen können, Friedrich Ludwig Schröder verbürgerlichte das Stück im Geiste der in der Zeit so beliebten sentimentalen Komödie und Heinrich Becks schließlich, dessen Bearbeitung der größte Erfolg beschieden war – sie wurde noch bis weit ins 19. Jahrhundert hinein auf deutschen Bühnen aufgeführt – gelang der Balanceakt zwischen Zugeständnissen an den schlichten Unterhaltungsgeschmack seiner Zeitgenossen, der Propagierung aufgeklärter Ideen und höchster dramaturgischer Raffinesse. – Einen ähnlich gelagerten Fall stellt die Übersetzung des Chanson de Roland durch den Romanisten Joseph Bédier dar. Wie Richards am Beispiel von dessen Behandlung der den Chanson durchziehenden Latinismen nachweist – diese werden, im Gegensatz zu den französischen Archaismen, fast ausnahmslos getilgt – blendet Bédier die Verbindung des Werks zur mittelalterlichen Kultur völlig aus. Auf diese Weise kann es in seiner Feder zu einem
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bürgerlichen, französischen Nationalepos werden: der Übersetzer projiziert sein eigenes Empfinden auf den zu übersetzenden Text. Dass auch moderne Übersetzer immer wieder Gefahr laufen, ein Werk aus seinem ursprünglichen Kontext zu reißen und es so zu verfälschen, zeigt Richards am Beispiel dreier Übersetzungen (seiner eigenen, der Margarethe Zimmermanns und der Patricia Caraffis) von Christine de Pizans Livre de la Cité des Dames auf. Von vorwissenschaftlichen Formen der theoretischen Reflexion über das Übersetzen handeln die Beiträge von Julio César Santoyo (»De nuevo sobre el Tostado: La creación de un metalenguaje traductor en la Espan˜a del siglo XV«, 65 – 74) und Volker Kapp (»Zum Verhältnis von Übersetzen und Rhetorik«, 15 – 29). Während Santoyo am Beispiel eines autoreflexiven Kommentars von Alonso Fernández del Madrigal, genannt el Tostado, nachweist, dass bereits im Spanien des 15. Jahrhunderts eine Metasprache existierte, die alle Bereiche der theoretischen Beschäftigung mit dem Übersetzen zu fassen vermochte, arbeitet Kapps Artikel heraus, »dass die Übersetzungstheorie bis ins 18. Jahrhundert hinein explizit oder implizit unter Bezugnahme auf Rhetorik oder durch Verwendung rhetorischer Kategorien ausgebaut wurde« (19). In den Standardwerken zur Übersetzungswissenschaft wurde dieser Aspekt bislang nur unzureichend gewürdigt, was umso mehr erstaunen mag, als es, wie der Vf. materialreich belegt, angefangen bei Leonardo Bruni bis hin zu Antoine Le Maistre, an Stellungnahmen von Übersetzern und Gelehrten nicht fehlt, die den Konnex zwischen Übersetzung und Rhetorik zu Tage treten lassen. Zum Abschluss sei noch auf zwei Artikel verwiesen, die sich mit der Verankerung von Übersetzung und Philologie in der universitären Lehre beschäftigen. Javier García Albero (»Traducción y Filología: Karl Mager y el Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen«, 345 – 353) blickt zurück auf die Anfänge der Neuphilologie im 19. Jahrhundert und würdigt die Rolle des Schulpädagogen Karl Mager und der ersten neuphilologisch ausgerichteten Zeitschrift Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen bei der Konstituierung der Neuphilologien als wissenschaftlicher Disziplin. Zwei Aspekte hebt der Vf. besonders hervor: die Auseinandersetzung der neuen mit den klassischen Philologien,2 denen gegenüber in dieser Anfangsphase ein Rechtfertigungszwang bestand, und die Integration der Übersetzung in das neu entstandene Fach. Wie der Vf. aufzeigt, hatte die Übersetzung im Rahmen der neuphilologischen Studien einerseits eine pädagogische Funktion, war sie doch wichtigstes Instrument zum Erlernen der Fremdspra2 Diesen Aspekt behandelt auch Dietrich Briesemeisters Beitrag (»Zur Entstehung der Neuphilologien in der Auseinandersetzung mit der klassischen Philologie«, 329 – 344), der jedoch weiter ausholt und den Bogen vom Humanismus bis ins Ende des 19. Jahrhunderts spannt.
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che, andererseits wurde sie als Teil der Exegese betrachtet. – Dass Philologie und Übersetzung heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, getrennte Wege gehen, beklagt der etwas kulturpessimistisch gefärbte Beitrag von Miguel Ángel Vega (»Expansión actual de los estudios de la traducción e implosión de las filologías en las universidades espan˜olas: la Traducción, ¿punto omega de la Filología?«, 355 – 367). Bei seinen Ausführungen bezieht sich der Vf. auf die Situation der Übersetzungswissenschaften an den spanischen Universitäten, die sich zwar, wie er selbst bemerkt, nicht ohne weiteres auf die Situation in anderen europäischen Ländern übertragen lässt, gleichwohl aber einige Parallelen zu diesen aufweist. Als größtes Manko betrachtet er, dass die Übersetzungswissenschaften, die in Spanien in den 1970er Jahren eingeführt wurden, von Anfang an sehr pragmatisch, auf ökonomischen Erfolg hin ausgerichtet waren. Dies hat zur Folge, dass sich die Lehre heute weitgehend auf die Vermittlung instrumentellen Wissens (Umgang mit informatischen Hilfsmitteln, Beherrschen automatisierter Übersetzungstechniken, Kenntnisse technischen, juristischen und ökonomischen Fachvokabulars) beschränkt, kulturelles Wissen (Geschichte, Sprachgeschichte, Kunst und Literatur), wie es die Philologie ihrer ureigensten Bestimmung nach lehrt, jedoch außer Acht lässt. Um diesem Missstand – unter dem nicht zuletzt die Qualität der Übersetzungen leidet – abzuhelfen, plädiert der Vf. für eine »reintegración de la nueva especialidad [sc. los estudios de la traducción] en el seno de la Filología, de la que no debería haber salido« (366). In ganz ähnlicher Weise äußert sich Antonio Bueno García in seinem Artikel »Non solum fateor, sed libera voce profiteor me . . . Justificar la traducción, labor siempre necesaria« (125 – 137, hier 136 f.), was als Beleg dafür dienen mag, dass sich Übersetzungswissenschaft und Philologie in Spanien derzeit tatsächlich an einem sehr kritischen Punkt befinden. Der Titel der Tagung war als Frage formuliert: »Übersetzung. Ursprung und Zukunft der Philologie?« Wie verschiedene Beiträge aufzeigen, sind die Geschichte des Übersetzens und die Geschichte der Philologie in der Tat aufs Engste miteinander verquickt. Ob auch die Zukunft der philologischen Fächer in einer »Wiedervereinigung« der derzeit getrennten Literatur- und Sprachwissenschaft unter dem Dach einer breit ausgerichteten Übersetzungsforschung liegt, wie es einer der Teilnehmer, Jörn Albrecht, am Ende seines Beitrags in Aussicht stellt (»Wiedergeburt der Philologie aus dem Geiste der Übersetzung? Die Übersetzungsforschung als Bindeglied zwischen Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft«, 46 – 64, hier 63 f.), wird die Zeit erweisen – die Rezensentin ist in dieser Hinsicht eher skeptisch. Das Desiderat weitergehender Studien zur gemeinsamen Geschichte von Übersetzung und Philologie und die Notwendigkeit eines Austauschs zwischen beiden Disziplinen wird durch den vorliegenden Sammelband gleichwohl aufs Eindrucksvollste unterstrichen. Isabel Müller, München
NAMEN- UND WERKREGISTER Von Ulrich Barton und Thorsten Glotzmann (Die Zahlen verweisen auf die Seiten, kursive Zahlen auf die Hauptstellen. Das Register wählt aus.) Ackroyd, Peter 499, 501 – 502 Adams, Jack 230 Agamben, Giorgio 256 Andreas Capellanus 56 – De amore 56 Aristoteles 108 – 109, 111, 116 – 117, 119 – 120, 390, 513 – Rhetorik 108 – 109, 390, 513 Arnim, Achim von 174, 182, 184 – 185 Atherton, Gertrude 230 Augsburger Passionsspiel 81 Augustinus 357 – 358, 369 – 371, 516 – Confessiones 357 – 358, 370, 516 Bachtin, Michail 336, 338, 482, 518 Balthasar, Hans Urs von 430 – 433 Barbauld, Anna Laetitia 471, 473 Barthes, Roland 471, 494, 509, 518 Basile, Giambattista 427 Baudelaire, Charles 394, 532, 535 Baumgarten, Alexander Gottlieb 379 – 380 Beckett, Samuel 252 Benn, Gottfried 470 Benserade, Isaac de 127 – 128 – Les nopces de Pelée et de Thetis 127 – 128 Berkeley, George 205 – 206, 455 Bierce, Ambrose 199 – 210 – Chickamauga 201 – 208, 210 – The Devil’s Dictionary 202 – One of the Missing 201, 207 – 210 Bishop, Elizabeth 391 – 398 Blackwood, Algernon 232 Blake, William 394, 471 Blumenberg, Hans 96, 104
Boccaccio, Giovanni 45 – 74, 427, 437, 438 – Decameron 45 – 74, 427, 437 – 438 – Filocolo 47 – 48, 55, 60 – 65, 68 – 69 Boccioni, Umberto 247 – 248 Bodmer, Johann Jakob 145 Böttiger, Karl August 474 – 475 Brecht, Bertolt 76 Brentano, Clemens 174, 182, 184 – 185 Bressand, Friedrich Christian 140 – 141 – Narcissus 140 – 141 Brooks, Gwendolyn 309 – 310, 312 – 313, 315 Burckhardt, Jacob 212 Byatt, A. S. 245, 499, 502 Byron, George Gordon 468 – 471, 526 Calvin, Johannes 360, 369 Campbell, John 230 Carbone, Louis – Divinus orator 107 – 110, 113 – 114, 116 – 123 Cervantes, Miguel de 526 – 531 Chateaubriand, François-René, Vicomte de 374, 451, 538 – 539 Christie, Agatha 255 – 279 – Curtain: Poirot’s Last Case 272 – 278 – Death on the Nile 268 – 272 – The Murder of Roger Ackroyd 263 – 265, 275 – Murder on the Orient Express 265 – 268 – The Mysterious Affairs at Styles 259 – 262 – Ten Little Niggers 277 Cicero, Marcus Tullius 111 – 112, 116, 120, 511 – 513
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Namen- und Werkregister
Coleridge, Samuel Taylor 468 – 469, 471 Conrad, Joseph 238 – 245, 478 – 484 – Heart of Darkness 238 – 245, 478, 480 – 481 Dante Alighieri 213, 439 Derrida, Jacques 255, 257 – 258, 278, 320, 333, 509 Donaueschinger Passionsspiel 82 Dove, Rita 301 – 317 Doyle, Arthur Conan 232 Dürrenmatt, Friedrich 278 Dylan, Bob 289 – 290 Eichendorff, Joseph von 173 – 198 – Ahnung und Gegenwart 176, 180 – Aus dem Leben eines Taugenichts 192 – Aus den Papieren eines Einsiedlers 186 – Halle und Heidelberg 182 – Heimweh 196 – Das Marmorbild 186, 192, 197 – Das Wiedersehen 186 – 192, 196 – 198 Eichendorff, Wilhelm von 173 – 198 Enzensberger, Hans Magnus 217 Erasmus von Rotterdam 122 – 123 Estella, Diego de 112 Ficino, Marsilio 150 – De amore 150 Foucault, Michel 25, 27, 33, 125, 256, 320, 333, 468, 472, 482, 500, 528 Fowles, John 499, 501 Frankfurter Dirigierrolle 75, 79 – 80 Frankfurter Osterspielfragment 75 Frankfurter Passionsspiel 75 Gadamer, Hans-Georg 472 Gauguin, Paul 185 Gilbert, William Schwenck 228 Ginsberg, Allen 285, 289 – 290, 299, 497 Gioia, Dana 343, 354, 356 Goethe, Johann Wolfgang 75, 183, 186, 211, 244, 457 – 461, 467, 474 – 475, 514, 524, 526 – Euphrosyne 459 – 460 – Faust 75, 524 – Glückliches Ereignis 183 – West-östlicher Divan 460
Gogh, Vincent van 185, 249 Gottfried von Straßburg 419, 421 Grenade, Louis de 111 – 112, 118, 120 – 123 Harris, William Shuler 230 Hartmann von Aue 419 Heidenreich, David Elias 129 – Eintracht stärckt Heyrath 129, 131, 138 – Heyrath macht Friede 129, 131 – 133 – Liebe kröhnt Eintracht 129 – 131, 133, 141 – Die Verliebte Jägerin, Diana 136 – 138, 141 Heine, Heinrich 182 Heinrich von dem Türlin 28 – Die Krone 28, 36 – 38, 40 – 42 Hemans, Felicia 471, 473 Herbert, George 394, 468 Herrand von Wildonie 424 Hess, Johann Heinrich 134 – Die geraubete Proserpina 134 – 136, 141 Hessisches Weihnachtsspiel 81 Hobbes, Thomas 256 Hodgson, William Hope 232 Holmes, Oliver Wendell, Jr. 200 – 201 Homer 32, 181 – Ilias 181 Hopkins, Gerard Manley 394 Horaz 513, 532 Hughes, Langston 312 – 314, 316, 543 Hugo, Victor 514 – 515, 535 Huysmans, Joris-Karl 374 Hyperius, Andreas 113, 123 Inada, Lawson Fusao 343 – 356 James, Henry 232, 234 – 237, 250 – The Turn of the Screw 232, 234 – 237, 250 James, William 200, 234 Johannes Chrysostomus 112, 116, 123 Joyce, James 253 Kafka, Franz 387 Kandinsky, Wassily 247 Kant, Immanuel 125, 388, 458, 470, 476 Kaufbeurer Passionsspiel 81 Keats, John 468, 470 – 471
Namen- und Werkregister
Keil, Johann Friedrich – Die Zwischen Cypressen Grünende Myrthen 139 – 140 Keller, Gottfried 383 – 384 – Der grüne Heinrich 383 – 384 Kerouac, Jack 281 – 300, 526 – On the Road 281 – 300 Kipling, Rudyard 232, 326 Klages, Ludwig 377 Klee, Paul 248 Konrad von Würzburg 419 – 420 Kupka, Frantisek 247 – 248 Kureishi, Hanif 320 – 324, 328 – 329, 339 – The Buddha of Suburbia 320 – 324, 329, 333, 339 – 341 Kyd, Thomas 94 – The Spanish Tragedy 94 Lacan, Jacques 320 Lee, Don L. 302, 309 – 310, 312 – 313, 315, 317 Leibniz, Gottfried Wilhelm 378 – 379 Leopardi, Giacomo 212 – 218, 223, 470 Locke, John 256 Lohenstein, Daniel Casper von 440 – 447 London, Jack 230 Luhmann, Niklas 126, 468 Luther, Martin 360, 521 Mann, Thomas 243 – 245, 389, 490 – Doktor Faustus 389, 524 – Der Tod in Venedig 243 – Der Zauberberg 243 – 245, 252 Manning, Laurence 230 Marcuse, Ludwig 182 Marino, Giovan Battista 427 Marlowe, Christopher 87, 524 – 526 Mechthild von Rottenburg 453 Melanchthon, Philipp 110, 123 Merrill, Albert Adams 230 Michelangelo Buonarroti 212, 218 Milton, John 468 Mittelrheinisches / St. Galler Passionsspiel 88, 412 – 413 Molière 126 – 127, 434, 436 – Les amants magnifiques 126 – 127 Montaigne, Michel de 126, 439, 527 Mörike, Eduard 381
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Munch, Edvard 248 Musil, Robert 376 – 377, 387 – 388 – Der Mann ohne Eigenschaften 376 – 377 Neal, Larry 307, 309 – 310 Niebuhr, Reinhold 497 – 498 Nietzsche, Friedrich 244, 490 Nizan, Paul 491 – 495 Orendel 38 – 39, 42 Otfrid von Weißenburg 399 – 402 Ovid 134 – Metamorphosen 134 Panigarola, Francesco 114 Petrarca, Francesco 155, 213, 426, 437 – 438 Pico della Mirandola 97 Platon 117, 148, 476, 527, 531 – Symposion 148 Plutarch 122 Poe, Edgar Allan 260, 394 Prosa-Lancelot 418, 420 – 421 Prudentius 371, 515 – 518 Quinault, Philippe 134 – Proserpine 134 Quintilian 108, 116 – 120, 512 – 513 Racine, Jean 435, 538 Redentiner Osterspiel 82 Reinhold, Karl Leonhard 125 Ricœur, Paul 305 – 306, 332, 338, 468 Rilke, Rainer Maria 211 – 224, 485 – 491 – Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge 485 – 486, 490 – 491 – Duineser Elegien 221, 486 – Gong 219 – 220 – La nascita del sorriso 220, 222 – Sonette an Orpheus 486, 488 – 489 Robinson, Mary 471, 473 Rohmer, Sax 232 – 234 – Case of the Blue Rajah 232 – 233 – Case of the Haunting of Grange 233 Roland, Chanson de 9 – 23, 553 – 554 Rousseau, Jean-Jacques 256 Rueff, Jakob – Zürcher Passionsspiel 87 Rukeyser, Muriel 245 – 246
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Namen- und Werkregister
Rushdie, Salman 320, 329, 332 Russel, Lawrence K. 226 Sappho 155 Sartre, Jean-Paul 491 – 495 Schiller, Friedrich 174, 184, 186, 457, 461 – 464 – An die Freude 184 – Die Bürgschaft 174 Schmatz, Ferdinand 252 Das Schneekind 424 Schopenhauer, Arthur 244 Scudéry, Madeleine de 435, 452 Shaftesbury, Anthony Ashley-Cooper, Earl of 146, 149, 534 – Soliloquy 146 Shakespeare, William 18, 77, 91 – 105, 428, 459, 467, 514 – 515, 524 – 525, 530, 535, 553 – Hamlet 91 – 105, 515, 524 – King John 428 – 430, 459 – King Lear 428 – 430 – Macbeth 93, 524 – 525 – Much Ado About Nothing 530, 553 – Othello 274 – 275 – Richard III 428 – 429 – Romeo and Juliet 18 Shelley, Mary 228, 526 Shelley, Percy Bisshe 468, 470 – 471 Sigebert von Gembloux 402 – 408 Spillane, Mickey 278 Staël, Madame de 451, 539 Stevenson, Robert Louis 228 Der Stricker 48 – Der Kluge Knecht 48, 69 – 74 Strindberg, August 227, 248 – 250 – Gespenstersonate 249 Tausendundeiner Nacht, Erzählungen aus 33 – 34 Thomas von Aquin 112 Tieck, Ludwig 474
Tolson, Melvin B. 308, 314 – 315 Tolstoi, Lew 385 Trujillo, Tomás de 115 Twain, Mark 291 Valadés, Diego 109 – 110 Valier, Augustin 109, 119 – 122 Vargas Llosa, Mario 514 – 515 Villavicencio, Lorenzo de 113 Wace 11 Walker, Alice 540 – 541, 543 Wells, H. G. 227 – 230, 235 – 236, 238 – 239, 241 – The First Men in the Moon 230 – The Invisible Man 227 – 230, 235, 238, 241 Whitman, Walt 316, 355 Wieland, Christoph Martin 143 – 171 – Araspes und Panthea 143 – 171 – Geschichte des Agathon 144, 168 – 170 – Die Natur der Dinge 143 – 148, 150, 152 – 154, 156, 158, 161, 163 – 164, 166, 168 – 171 – Der Sieg der Natur / Don Sylvio 143, 168 Williams, William Carlos 355 Wittenwiler, Heinrich 453 Wolfram von Eschenbach 35, 39 – 40, 42 – Parzival 35, 39 – 40, 42 Woolf, Virginia 249 – 253, 548 – Henry James’s Ghost Stories 250 – Mr. Bennett and Mrs. Brown 252 – Mrs. Dalloway 251, 548 – On Being Ill 251 – To the Lighthouse 249 – 251 Wordsworth, William 468 – 473 Xenophon 146 Zorrilla, Alfonso 110 – 111, 118 Zwingli, Ulrich 360
Vorschau auf die folgenden Jahrgänge Aufsätze: M. Baisch, Zur Theorie der Philologie. — F. Kragl, wort und wîse. Formen des sangbaren Verses in der deutschen Literatur des Mittelalters. — A. Gotchold, The motif of self-knowledge in Mechthild’s of Magdeburg ›Das fließende Licht der Gottheit‹. — M. Unzeitig, Mauer und Pforte. Wege ins Paradies. — J. Rieu, Les résonances ignatiennes de la ›pure indifférence‹ chez Montaigne. — I. Müller, Wissenschaftsvulgarisierung und Unterweisungsstrategien in Cyrano de Bergeracs L’Autre Monde ou Les États et Empires de la Lune. — Chr. Bartscherer, Das Apokalypse-Motiv in der modernen (deutschen und englischen) Dichtung. — W. G. Schmidt, Intermedialität als Basisphänomen zeitgenössischer deutscher Literatur. — E. Winkler, Variationen des Wahnsinns: Englische und deutsche Übersetzungen.
Rezensionen: A. Schulz, Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der mittelhochdeutschen Epik (A. Gerok-Reiter). — K. Malcher, Die Faszination von Gewalt (R. Berron). — Calvin, Institution de la religion chrétienne, hg. O. Millet (B. Jakobs). — F. Goyet, Les Audaces de la prudence (V. Kapp). — W. G. Schmidt, Zwischen Antimoderne und Postmoderne. Das deutsche Drama und Theater der Nachkriegszeit im internationalen Kontext (M. Braun).