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German Pages 440 [442] Year 2008
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES
JAHRBUCH
Neue Folge, begründet von H e r m a n n Kunisch
IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N PROF. DR. V O L K E R KAPP, PROF. DR. K U R T M Ü L L E R , PROF. DR. K L A U S R I D D E R , PROF. DR. R U P R E C H T W I M M E R
NEUNUNDVIERZIGSTER
BAND
2008
Das Literaturwissenschaftliche
Jahrbuch w i r d im Auftrage der Görres-Gesellschaft heraus-
gegeben von Prof. Dr. Volker Kapp, Klausdorf er Str. 77, 24161 Altenholz, Prof. Dr. Kurt Müller, Institut für Anglistik/Amerikanistik, Friedrich-Schiller-Universität Jena, ErnstAbbe-Platz 8, 07743 Jena (federführend), Prof. Dr. Klaus Ridder, Deutsches Seminar, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Wilhelmstr. 50, 72074 Tübingen und Prof. Dr. Ruprecht Wimmer, Schimmelleite 42, 85072 Eichstätt. Redaktionsanschrift:
Lehrstuhl für Amerikanistik, Institut für Anglistik/Amerikanistik,
Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Abbe-Platz 8, 07743 Jena. Redaktion:
Dr. Jutta
Zimmermann. Das Literaturwissenschaftliche
Jahrbuch erscheint als Jahresband jeweils im Umfang von
etwa 20 Bogen. Manuskripte sind nicht an die Herausgeber, sondern an die Redaktion zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es w i r d dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig einseitig in Maschinenschrift einzureichen. Ein Merkblatt für die typographische Gestaltung kann bei der Redaktion angefordert werden. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausführung des Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Gewähr für die Rezension oder Rücksendung unverlangt eingesandter Besprechungsexemplare kann nicht übernommen werden. Verlag: Duncker & H u m b l o t G m b H , Carl-Heinrich-Becker-Weg 9, 12165 Berlin.
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES
JAHRBUCH
NEUNUNDVIERZIGSTER BAND
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUE FOLGE, BEGRÜNDET V O N H E R M A N N KUNISCH
I M A U F T R A G E DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N V O L K E R KAPP, K U R T M Ü L L E R , KLAUS RIDDER, RUPRECHT WIMMER
NEUNUNDVIERZIGSTER BAND
2008
DUNCKER
&
HUMBLOT
B E R L I N
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0075-997X ISBN 978-3-428-12855-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97060
INHALT AUFSÄTZE Sandra Linden (Tübingen), Clinschor und Gansguoter: Zwei Romanfiguren i m Spannungsfeld von Gelehrsamkeit und Magie
9
Elke Koch (Berlin), Bewegte Gemüter. Zur Erforschung von Emotionen in der deutschen Literatur des Mittelalters
33
Earl Jeffrey Richards (Münster), Das Gebet Anima Christi und die Vorgeschichte seines kanonischen Status: Eine Fallstudie zum kulturellen Gedächtnis
55
Rainer Zaiser (Kiel), »Omnia vincit Amor«: Boccaccios Decameron i m Zeichen hybrider Sinnlichkeit
85
Marie-Luce Demonet (Tours), L'anagrammatisme ä la Renaissance en France: chiffre ou secret de Polichinelle?
111
Ina Schabert (München), Lesen, wie ein Brief gelesen wird: Z u den politischen und poetologischen Implikationen von Jane Austens Pride and Prejudice , Bk. I I , Chapt. 1 2 - 1 3
129
Daniel Tobias Seger (Tübingen), Die Kunst als Übergang und Abgrund: Heinrich von Kleists >Künstlerbriefe< und seine Empfindungen vor Raffaels Verklärung ..
145
Wolf gang G. Müller (Jena), Die Ballade i m europäischen Kontext: Drei Fallstudien .
181
Volker Kapp (Kiel), Das Drama mit Gott bei Claudel
199
Jörg Thomas Richter (Jena), Plotting Inheritance: Literary Configurations of Cultural Succession
219
Borge Kristiansen (München), Agnostizismus, Ironie und Humanität bei Thomas Mann: Eine vergleichende Studie zu den Beziehungen zwischen Thomas Manns Ironie-Konzeption und Soren Kierkegaards Ironie-Kritik
237
Rita Unfer Lukoschik (Berlin), La Resistenza come tempo ontologico in Fenoglio lettore di Coleridge
269
Claus Uhlig (Marburg), European Literature a n d / o r World Literature: Auerbach Compared to Curtius
291
Horst-Jürgen Gerigk (Heidelberg), Ontologie des Musikfilms. M i t systematischen Anmerkungen zur Musik i m H o l l y w o o d - F i l m
313
6
Inhalt BUCHBESPRECHUNGEN
Annette Gerok-Reiter y Individualität. Studien zu einem umstrittenen mittelhochdeutscher Epik (von Sandra Linden)
Phänomen 339
Martin Baisch , Jutta Eming, Hendrikje Haufe und Andrea Sieber (Hgg.), Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters (von Annette GerokReiter)
345
Béatrice Jakobs y Rhetorik des Lachens und Diätetik in Boccaccios Decameron (von Christine Zwinger)
353
Florian Kläger. ; Forgone Nations. Constructions of National Identity in Elizabethan Historiography and Literature: Stanihurst , Spenser, Shakespeare (von Elisabeth Winkler)
357
De Dante à Chiabrera. Poètes italiens de la Renaissance dans la Bibliothèque de la Fondation Barbier- Mueller. Catalogue établi par Jean Balsamo avec la collaboration de Franco Tomasi. Préface de Carlo Ossola (von Volker Kapp)
359
Guillaume Du Vair Parlementaire et écrivain (1556-1621). Actes réunis par Bruno Petey-Girard et Alexandre Tarrête (von Volker Kapp) 361 Rainer Zaiser (Hg.) y L'âge de la représentation: L'art du spectacle au XVII e siècle. Actes du colloque du Centre International de Rencontres sur le XVII e siècle. Kiel, 16-18 mars 2006 (von Béatrice Jakobs) 364 Correspondance de Fénelon , tome XVIII. Suppléments et corrections par Jacques Le Brun y Bruno Neveu ( f) et Irénée Noye (von Volker Kapp) 367 Nicolas Caussin : rhétorique et spiritualité à l'époque de Louis XIII. Actes du colloque de Troyes (16-17 septembre 2004) réunis [et introduits]par Sophie Conte. Postface par Emmanuel Bury (von Françoise Pélisson-Karro) 369 Antoine Lilti, Le monde des salons. Sociabilité et mondanité à Paris au XVIII Emily D. Bilski
y
e
siècle.
Emily Braun y Jewish Women and Their Salons. The Power of Con-
versation (von Rita Unfer Lukoschik)
373
Christina Ujma y Fanny Lewaids urbanes Arkadien. Studien zu Stadt y Kunst und Politik in ihren italienischen Reiseberichten aus Vormärz y Nachmärz und Gründerzeit (von Rita Unfer Lukoschik)
382
Barry Tharaud (Hg.) y Ralph Waldo Emerson: Bicentenary Appraisals (von Clemens Spahr)
385
Jan Stievermann, Der Sündenfall der Nachahmung: Zum Problem der Mittelbarkeit im Werk Ralph Waldo Emersons (von Jörg Thomas Richter)
390
Volker Kapp y Dorothea Scholl (Hgg.), Bibeldichtung (von Franz Futterknecht)
393
Simone Staritz,
Geschlecht, Religion und Nation - Genoveva-Literaturen
1866 (von Claudia Steinkämper)
1775396
Inhalt Daniel Göske. Poets and Great Audiences: Amerikanische Dichtung in Anthologien, 1745 -1950 (von Jörg Thomas Richter)
399
Klaus Martens, ed. Over Canadian Trails: F. P. Grove in New Letters and Documents (von Martin Kuester)
403
Manfred Loch brunner,; Hans Urs von Balthasar und seine Literatenfreunde: Korrespondenzen (von Volker Kapp)
Neun 406
Henry Philips, Le Théâtre catholique en France au XX e siècle. Avec la collaboration d'Aude Pichon et de Louis-Georges Tin (von Volker Kapp) 409 Susanne Rothaug y Autorinnen des amerikanischen Südens: Geschichte und Geschichtenerzählen (von Jutta Zimmermann)
Bernd Engler.; Isabell Klaiber (Hgg.) y Kulturelle figurationen
413
Leitfiguren
- Figurationen und Re-
(von Roman Luckscheiter)
417
Jutta Zimmermann, Britta Salheiser (Hgg.) y Ethik und Moral als Problem der Literatur und Literaturwissenschaft (von Margit Peterfy) 420 Frank Leinen, Guido Rings (Hgg.) y Bilderwelten - Textwelten - Comicwelten: Romanistische Begegnungen mit der Neunten Kunst (von Annika Krüger) 423 Elmar Schenkel, Stefan Welz (Hgg.) y Magical Objects: Things and Beyond (von Jürgen Meyer)
Le Statut littéraire
427
de l'écrivain.
Volume réalisé sous la direction scientifique
Sabourin (von Volker Kapp)
Namen- und Werkregister (von Matthias Klestil und Jutta Zimmermann)
de Lise
432
437
Clinschor und Gansguoter: Zwei Romanfiguren i m Spannungsfeld von Gelehrsamkeit und Magie Von Sandra Linden
I m höfischen Roman ist das Erzählen in der Regel auf einen Protagonisten fokussiert, dessen Lebensweg in einem spezifischen Ausschnitt über mehrere Handlungsstationen ritterlicher Bewährung narrativ nachvollzogen wird. I m Schlagschatten des ritterlichen Helden bleiben Figuren mit magischen Fähigkeiten in diesem literarischen Arrangement auf eine Nebenrolle beschränkt, avancieren an den Rändern der Handlung aber zu schillernden, erzählerisch reizvollen Gestalten. Die Faszination am Besonderen führt in der Gattungsentwicklung dazu, dass diese Figuren i m Vergleich zum Protagonisten zunehmend bedeutsamer werden und stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. So gestaltet bereits Wolfram von Eschenbach i m Parzival 1 (1200-1210) mit Clinschor eine markante Gegenfigur zum Gralkönig Anfortas. Heinrich von dem Türlin rezipiert die Wolf ramsche Vorgabe in der Krone 2 (um 1230) und unterzieht sie einer Umbewertung, indem der Zauberer Gansguoter in seinem Wirken nicht auf die Aventiure von Schastel Marveile beschränkt ist, sondern die Handlung prägend durchschreitet und passend zu seinem sprechenden Namen eine wichtige Helferfigur für den Artushof darstellt. Die Frage, wie die besondere Befähigung der Zauberer begründet ist, beantworten beide Texte identisch: Clinschor und Gansguoter haben die Magie erlernt, in beiden Romanen werden eine klerikale Ausbildung und ausgeprägte Gelehrsamkeit zur Basis für die übernatürlichen Fähigkeiten. Während sich diese intellektuelle Fundierung auch für magisch begabte Frauenfiguren wie 1 Zitate nach: Wolfram von Eschenbach, Parzival, nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn, Bibliothek des Mittelalters 8 / 1 und 8 / 2 (Frankfurt am M a i n 1994). 2 Zitate nach: Heinrich von dem Türlin, Die Krone (Verse 1-12281), nach der Handschrift 2779 der Österreichischen Nationalbibliothek hg. Fritz Peter Knapp u. Manuela Niesner, A T B 112 (Tübingen 2000); Ders., Die Krone (Verse 12282-30042), nach der Hs. Cod. Pal. germ. 374 der Universitätsbibliothek Heidelberg hg. Alfred Ebenbauer u. Florian Kragl, A T B 118 (Tübingen 2005).
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Sandra Linden
etwa die Fee Morgane 3 i n Hartmanns Erec beobachten lässt, zeigt sich ein geschlechtsspezifischer Unterschied i n den Anwendungsfeldern des Erlernten: Clinschor und Gansguoter betätigen sich i m Gegensatz zu den zauberkundigen Frauen nicht als kundige Heiler, die eine durch Wunder gesteigerte Medizin anwenden, sondern finden ihre Funktion als Erbauer prachtvoller Wunderburgen in einem technisch-architektonischen Bereich und als Landesherrscher und Gegner oder Partner des Artushofs i n einem politisch-herrschaftlichen. 4 Während die weiblichen Figuren wie etwa Didos Zauberin 5 i m Eneasroman oft mit dem Themenfeld der Minne verknüpft sind, scheinen die männlichen Pendants als Gegner oder Helfer des Helden eher auf die ritterliche Aventiure bezogen, und doch steht auch für sie die radikale Erfahrung der Minne i n einem noch genauer zu analysierenden Verhältnis zu ihren magischen Fähigkeiten. Der Beitrag widmet sich nach einleitenden Überlegungen zum Verhältnis von Magie und Wissenschaft zunächst der Clinschor-Figur i n Wolframs von Eschenbach Parzival, wobei auch der narrative Ausbau gegenüber der Vorlage Chrétiens de Troyes zu beachten ist, den Wolfram vor allem durch den Bericht der Artusmutter Arnive verwirklicht. Für die Krone Heinrichs von dem Türlin, der w o h l die Gawanbücher Chrétiens und Wolframs als Quelle verwendet hat, bilden Gaweins erste Begegnung mit Gansguoter auf der Drehburg und dessen zunehmende Positivierung den Fokus der Interpretation. Abschließend soll nach dem produktiven Potential gefragt werden, das die Darstellung magischer Figuren i m narrativen Entwurf entfaltet.
Vorbemerkung: Zum Verhältnis von Magie und Wissenschaft Die Position des Kirchenvaters Augustinus 6 bietet den Ausgangspunkt für eine strikte Ablehnung der Magie in der philosophisch-theologischen Diskus3
Vgl. beispielsweise Hartmann von Aue, Erec. Mit einem Abdruck der neuen Wolfen-
bütteler und Zwettler Erec-Fragmente, hg. Albert Leitzmann, fortgeführt von L u d w i g Wolff, 7. Aufl. besorgt von K u r t Gärtner, A T B 39 (Tübingen 2006), V. 5153 ff., 5227 ff., oder Ders., Iwein, hg. Georg F. Benecke, Karl Lachmann, neu bearbeitet von L u d w i g Wolff, 7. Aufl. (Berlin 1968), V. 3419 ff. 4 Eine Ausnahme stellt Candacis aus dem Straßburger Alexander und Heilerin zugleich ist.
5
Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Die Berliner Bilderhandschrift
und Kommentar; 1992), V. 2264 ff. 6
dar, die Herrscherin
mit Übersetzung
hg. Hans Fromm, Bibliothek des Mittelalters 4 (Frankfurt am M a i n
Vgl. Augustinus, De doctrina christiana, CCSL 32, Turnhout 1962,11,23: Omnes igi-
tur artes huiusmodi uel nugatoriae uel noxiae superstitionis ex quadam pestifera societate hominum et daemonum quasi pacta infidelis et dolosae amicitiae constituta penitus sunt repudianda et fugienda christiano (Übersetzung: »Alle Künste eines solchen entweder unnützen oder sträflichen Aberglaubens, aus dem eine A r t verderbliche Gemeinschaft von
Clinschor und Gansguoter
11
s i o n des M i t t e l a l t e r s . H a u p t a r g u m e n t f ü r das V e r b o t ist d e r V o r w u r f , dass die magi 7
i n V e r b i n d u n g m i t d ä m o n i s c h e n M ä c h t e n s t ü n d e n u n d daher gegen G o t t
h a n d e l t e n ; als u n t e r s c h w e l l i g e r G r u n d m a g e i n K o n k u r r e n z v e r h ä l t n i s z w i s c h e n R e l i g i o n u n d M a g i e h i n z u t r e t e n . 8 I n d e m die wissenschaftliche A u s b i l d u n g des K l e r i k e r s auch Z u g a n g z u a r k a n e m W i s s e n lieferte, das n i c h t allen G e s e l l -
Menschen und Dämonen entspringt, und die dadurch gegründeten Bündnisse einer falschen und betrügerischen Freundschaft sind von den Christen außerordentlich zu verschmähen und zu vermeiden.«). Augustinus steht damit in gut alttestamentarischer Tradition (z. B. Lev 19,31: ne declinetis ad magos nec ab ariolis aliquid sciscitemini utpolluamini per eos ego Dominus Deus vester y Übersetzung: »Ihr sollt euch nicht den Magiern zuwenden und nicht von den Wahrsagern irgendetwas erfragen, damit ihr euch nicht befleckt; ich bin der Herr, euer Gott.«). Vgl. auch Thomas Linsenmann, Die Magie bei Thomas von Aquin y Veröffentlichungen des Grabmann-Institutes 44 (Berlin 2000), der S. 3 1 - 9 6 ein umfangreiches Kapitel zum Magieverständnis bei Augustinus bietet. Isidor von Sevilla schreibt in den Etymologien dem Magier, der mit übernatürlichen M i t t e l n arbeitet, eine schädliche Wirkung zu, vgl. Isidori Hispalensis Episcopi Etymologiarum sive originum libri XX y hg. W. M . Lindsay (Oxford 1911), VIII,9,9: Magi sunt y qui vulgo malefici ob facinorum magnitudinem nuncupantur. Hi et elementa concutiunt y turbant mentes hominum, ac sine ulle veneni haustu violentia tantum carminis interimunt (Übersetzung: »Es gibt Magier, die gewöhnlich Übeltäter (maleficus) genannt werden wegen der Vielzahl ihrer Verbrechen. Sie erschüttern die Elemente, verstören die Gemüter der Menschen, und sie töten ohne das Trinken von Gift allein durch die Gewalt von Zaubersprüchen.«). Vgl. auch H u g o von St. Viktor, Didascalicon de studio legendi. Studienbuch, hg. und übersetzt von Thilo Offergeid, Fontes christiani 27 (Freiburg / Basel u. a. 1997), Appendix B, bzw. Buch V I , Kap. 15 (De magica et partibus eius) y wobei hier eine Wissenschaftssystematik erstellt wird, die den artes magicae durchaus einen Platz zuweist, auch wenn sie explizit aus dem Bereich der philosophia ausgeschlossen werden: Magica in philosophiam non recipitur y sed est extrinsecus falsa professione, omnis iniquitatis et malitiae magistra y de vero mentiens y et veraciter laedens animos y seducit a religione divina, culturam daemonum suadet, morum corruptionem ingerit y et ad omne scelus ac nefas mentes sequacium impellit (Übersetzung nach Offergeid: »Die Magie w i r d nicht als Teil der Philosophie anerkannt, sondern steht außerhalb dieser. Betrügerisch in ihren Äußerungen, ist sie die Lehrerin jedweder Schlechtigkeit und Bosheit, über das Wahre verbreitet sie Lügenreden und fügt dem Geist w i r k l i c h Schaden zu, sie bringt ihn von der wahren Religion ab, überredet ihn zur Dämonenverehrung, drängt zur Korruption der Sitten, und ihre Gefolgsleute treibt sie zu jeder A r t von Verbrechen und Untat.«). Vgl. zur Ablehnung magischer Praktiken durch die Kirchenväter auch Karl-Heinz Göttert, Magie. Zur Geschichte des Streits um die magischen Künste unter Philosophen, Theologen, Medizinern, Juristen und Naturwissenschaftlern von der Antike bis zur Aufklärung (München 2001), Kapitel 6: Christliche Abwehr,; 81 ff. Einen detaillierten Überblick über die gesamte lateinische Tradition bietet Lynn Thorndike, A History of Magic and Experimental Science, 8 Bde. (New Y o r k / L o n d o n 1923- 58), vor allem die beiden ersten Bände: Düring the first thirteen centuries of our era. 7 Z u m Begriff magi vgl. Richard Kieckhefer, Magic in the Middle Ages (Cambridge / N e w York u. a. 1989), 10. 8
Z u bemerken ist dabei, dass die Magie nicht deshalb abgelehnt wird, weil man sie rational hinterfragt, sondern weil man sich nicht auf dämonische Kräfte, an deren Existenz man anscheinend glaubt, einlassen will.
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Sandra Linden
schaftsschichten zugänglich war, wurde sie häufig mit der Magie i n Verbindung gebracht, was man an entsprechenden Verboten, sich mit magischen Büchern zu beschäftigen, 9 ablesen kann. Als mit dem Aufschwung der Wissenschaften i m 12. / 1 3 . Jahrhundert die Gelehrsamkeit zum Ausweis einer neuen Elite i m Funktionsapparat adliger Herrschaft wurde, mehrten sich auch missgünstige Stimmen, die das Können der Studierten als Zauberwerk brandmarkten. 1 0 Es kam zu Gerüchten über unliebsame Personen, mitunter sogar zu negativer Legendenbildung, wie sie sich etwa für den Kleriker Gerbert von Aurillac ( 9 4 0 - 1003) beobachten lässt, der als junger Papst Silvester II. auf eine so steile Karriere zurückblickte, dass die Zeitgenossen sich nur mit dem Studium magischer Künste erklären konnten. 1 1 I m Zuge einer stärkeren Betonung der Naturwissenschaften, wie sie i m K o n takt mit der arabischen Wissenschaft und durch die Aristoteles-Rezeption entsteht, zeigt sich eine immer deutlichere Aufspaltung der Magie in eine magia naturalis und eine magia daemoniaca , die sich dadurch unterscheiden, welcher Kräfte sie sich bedienen. Erstere nutzt verborgene Naturkräfte, die das wissenschaftliche Studium erschließen kann, letztere erzielt ihren Effekt aus dem bösen Wirken dämonischer Mächte. Hier zeichnet sich die Trennung von weißer und schwarzer Magie, von positiver, sanktionierter Magie auf der Basis eines fleißigen Bücherstudiums und negativer, verbotener Magie i m Rahmen eines Teufelspakts ab. 1 2 I n der mittelalterlichen Wissenschaftssystematik schlägt sich diese Aufspaltung in der Diskussion nieder, ob man die Magie als ars i n die Wissenschaft integrieren solle, so etwa i n der Disciplina
clericalis
des Petrus A l f o n s i 1 3
9 Dass die kirchlichen Verbote geheimwissenschaftlicher Traktate nur bedingt erfolgreich waren, schildert Christa Tuczay, Magie und Magier im Mittelalter (München 2003), 186 ff. 10
Z u diesem beliebten Anklagemuster vgl. Timothy McFarland, »Clinschor. Wolfram's
Adaptation of the Conte du Graal: The Schastel Marveile Episode«, in: Chrétien de Troyes and the German Middle Ages. Papers from an International Symposium , hg. Martin H. Jones und Roy Wisbey, Arthurian Studies (Cambridge 1993), 277-294, hier 289 ff. 11
Vgl. Stephan Maksymiuk, The Court Magician in Medieval German Romance,
Mikrokosmos 44 (Frankfurt am M a i n / B e r l i n u. a. 1996), 52 ff., der auch auf eine mittelhochdeutsche Version der Silvesterlegende verweist, in der Gerbert als des teuvels habest (zit. nach Maksymiuk, 52) bezeichnet wird. 12
Zur Verbindung von Wissenschaft und Magie aus soziologischer Perspektive vgl.
Bronislaw Malinowski, Magie y Wissenschaft und Religion. Und andere Schriften, übersetzt von Eva Krafft-Bassermann (Frankfurt am M a i n 1973, Original 1948), 3 - 74, der vor allem eine methodische Ähnlichkeit betont, indem die Magie wie die Wissenschaft auf das Erreichen praktischer Ziele gerichtet ist und ebenfalls eine Theorie entwickelt, die in Form von Lehrbüchern in eine Ausbildung eingeht, mit der man sich magische Fähigkeiten aneignen kann. 13
Vgl. Die Disciplina clericalis des Petrus Alfonsi (das älteste Novellenbuch des Mittel-
alters), hg. Alfons H i l k a und Werner Söderhjelm, Sammlung mittellateinischer Texte 1
Clinschor und Gansguoter
13
oder ausführlicher bei Dominicus Gundissalinus 1 4 oder Wilhelm von Auvergne, der i n De universo neben der dämonischen Magie und der Illusionskunst eine natürliche Magie ansetzt, die den Naturgesetzen f o l g t 1 5 - Frank Fürbeth hat diese Integrationsbewegung, die parallel zu sieben freien und sieben mechanischen Künsten eine Siebenerreihe der magischen artes ausbildet, detailliert nachvollzogen. 1 6 Es bleibt jedoch zu prüfen, ob die Trennung zwischen dämonischer und natürlicher Magie, die die Wissenschaftssystematik aus methodischen Gründen sehr exakt vornimmt, sich auch auf die Magiedarstellung i n der Literatur auswirkt, oder ob außerhalb eines wissenschaftlich-systematischen Zugriffs nicht eher mit fließenden Ubergängen zu rechnen ist. Fragt man sich, i n welchen Lebenslagen Menschen Magie anwenden, so dient sie oft als eine Form der Weltbewältigung i n Situationen, die die Person als schwierig oder ausweglos ansieht und i n denen sie auf übernatürliche Kräfte zurückgreifen w i l l , u m den Handlungsverlauf in ihrem Sinne zu entscheiden. 17 I n dieser Zweckausrichtung und Anwendungsbezogenheit weist die Magie eine starke Rationalität auf, auch wenn ihre Wirkungsweise freilich der Irrationalität verpflichtet ist. Sie gilt einerseits als übernatürliche Kraft, andererseits w i r d sie
(Heidelberg 1911), 10 f.: He sunt artes: dialéctica , arithmetica, geometría, , phisica, música , astronomía. De séptima uero diuerse plurimorum sunt sentencie quenam sit. Philosophi qui prophecias non sectantur; aiunt nigromanciam esse septimam. Aliqui ex Ulis videlicet qui propheciis et philosophie credunt uolunt esse septimam scienciam que res naturales uel elementa mundana precellit (Ubersetzung: »Dies sind die Künste: Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Physik, Musik, Astronomie. Was die siebte betrifft, so gibt es verschiedene Meinungen. Die Philosophen, die nicht an Vorhersagen glauben, sagen, dass Nigromantie die siebte ist. Andere unter ihnen, nämlich die, die an Vorhersagen und Philosophie glauben, meinen, dass es eine Wissenschaft sein sollte, die alle natürlichen Dinge und irdischen Elemente umfasst.«). 14
Dominicus Gundissalinus, De divisione philosophiae. Uber die Einteilung der Philo-
sophie, hg. Alexander Fidora u. Dorothée Werner, Herders Bibliothek der Philosophie des
Mittelalters 11 (Freiburg u. a. 2007), 76: scientia naturalis universalis est, quia octo scientiae suh ea continentur: scilicet scientia de medicina , scientia de iudiciis, scientia de nigromantia secundum physicam ... (Ubersetzung: »Die Naturwissenschaft ist allgemein, weil unter ihr acht Wissenschaften enthalten sind: die Wissenschaft der Medizin, die Wissenschaft der Urteile, die Wissenschaft der Nigromantie gemäß der Physik ...«). 15 Vgl. die pointierte Darstellung bei Thorndike, History of Magic, Bd. 2, 338-371, vor allem 345 f. 16
Frank Fürbeth, »Die Stellung der artes magicae in den hochmittelalterlichen >Divisiones philosophiaeParzivalBel InconnuEmotion< zu verstehen? Lässt sich diese Kategorie auf die Literatur des Mittelalters überhaupt beziehen? Von den germanistischen Mediävisten ließe sich eine engagierte Diskussion über die methodischen Prämissen der Fragestellung erwarten. Die Geschichtswissenschaftlerin würde vielleicht mit dem Hinweis darauf zu beschwichtigen suchen, dass ein solch basales anthropologisches Konzept wie das der Emotion sich durch den Blick auf gewandelte Praktiken leicht historisieren ließe. Möglicherweise könnte sie jedoch sehr bald selbst in einen Disput mit dem Soziologen geraten - über den Erklärungswert, den man der Theorie vom Zivilisationsprozess bei der Beschreibung dieser Praktiken zumessen kann. Währenddessen würde sich die Vertreterin der Neueren Literaturwissenschaft vermutlich zurücklehnen und am Rande ein Gespräch mit dem Kognitionspsychologen anknüpfen. Das Szenario illustriert den Anspruch der literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung, sich i m Zusammenhang eines interdisziplinären Feldes zu verorten, und die derzeit intensiv unternommenen Anstrengungen, sich in diesem Rahmen fachübergreifend und fachintern über Grundfragen zu verständigen. Aspekte von Emotionalität gehören zu den genuinen Gegenständen und tradi-
34
Elke Koch
tionellen Themen einer Reihe von geistes-, sozial- und naturwissenschaftlichen Fächern, darunter auch der Literaturwissenschaft. Bei aller Heterogenität der Zugänge und Wissenschaftstraditionen zeigt sich in jüngster Zeit die Tendenz, diese Perspektiven in einem gemeinsamen Forschungsfeld zu integrieren, so dass inzwischen von Emotionsforschung als einem interdisziplinären Projekt gesprochen werden kann. 1 Auch der Komplex »Emotion und Literaturs der eingeführte Gegenstände und Methoden einschließt, w i r d derzeit auf neue Weise fokussiert. Dieses Interesse ist der älteren und neueren germanistischen Literaturwissenschaft gemeinsam. Allerdings w i r d die Möglichkeit, sich über dieses gemeinsame Anliegen auszutauschen, bislang nur in eingeschränktem Maß wahrgenommen. 2 Dies mag darauf zurückzuführen sein, dass in der Entwicklung der Fragestellungen und der Methoden teils verschiedene Traditionen und Konzepte aufgegriffen und entsprechend unterschiedliche Akzente gesetzt werden. I m Folgenden werden Ansätze der germanistischen Mediävistik diskutiert, u m zur fachinternen Selbstverständigung beizutragen, u m diese aber auch zugunsten eines Dialogs über Möglichkeiten und Grenzen übergreifender literaturwissenschaftlicher Perspektiven transparent zu machen. Dafür w i r d das Feld unter folgenden Fragen sondiert: Welche Gegenstände werden mit welchen Fragen untersucht, welche Konzepte werden angesetzt und welche Ergebnisse wurden bislang erzielt? Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Frage nach der Relation von >Emotionsgeschichte< und »Emotionen in der LiteraturBordesholmer Marienklage< und verwandten Szenen«, in: Hans-Joachim Ziegeler (Hg.),
Bewegte Gemüter
35
der altgermanistischen Diskussion über »literarische Emotionen< vorwiegend u m die Zuschreibung von Emotionen an Figuren durch unterschiedliche narrative Strategien. Die Methodendebatte i n der Mediävistik ist daher durch Fragen geprägt, die dieser Gegenstand i n besonderem Maße aufwirft. 4 So w i r d i n der Diskussion u m den Begriff der »Codierung« insbesondere der Zeichenstatus problematisiert, den Gesten und andere figurenbezogene Formen der literarischen Darstellung von Emotionen i n Erzähltexten besitzen. 5 Die Konzentration auf narrative Texte nicht nur als Untersuchungsgegenstände, sondern auch als >Modellfälle< für die Frage nach Emotionen i n >der< Literatur, die i n der Mediävistik zu konstatieren ist, stellt einen Unterschied zur Neugermanistik dar. So sind beispielsweise die Grundfrage, wie über Emotionen >in< literarischen Texten sinnvoll gesprochen werden kann, und der Begriff der »Kodierung« von Simone W i n k o i n einer Arbeit über lyrische Texte reflektiert worden. 6 Ein Schwerpunkt der neugermanistischen Emotionsforschung, die Frage nach der Erzeugung von Rezipientenemotionen durch Literatur, 7 w i r d i n der Mediävistik bislang erst vereinzelt thematisiert. 8 Die Leitfragen der mediävistischen Monographien, die i n jüngster Zeit zum Thema erschienen sind, lassen sich, zum Zweck der Übersichtlichkeit verkürzt dargestellt, in drei Bereiche aufteilen: Fragen, die eher emotionsgeschichtlich akzentuiert sind (>Welche Modelle von Emotionen liegen i m 13. Jahrhundert Ritual und Inszenierung. Geistliches und weltliches Drama des Mittelalters
und der Frü-
hen Neuzeit (Tübingen 2004), 177-193; Jutta Eming, »Gewalt i m Geistlichen Spiel«, The German Quaterly, 78 (2005) 1, 1 - 2 2 ; Ingrid Kasten, »Ritual und Emotionalität. Z u m Geistlichen Spiel des Mittelalters«, in: Matthias Meyer und Hans-Joachim Schiewer
(Hgg.), Literarische
Leben. Rollenentwürfe
in der Literatur
des Hoch- und Spätmittel-
alters, FS Mertens (Tübingen 2002), 335-360. 4 Aus diesem Grund prägt der Fokus auf narrative Texte auch die Diskussion i m vorliegenden Beitrag; zum Desiderat einer Erweiterung des Gattungsspektrums s. u. 5
Vgl. Rüdiger Schnell, »Historische Emotionsforschung. Eine mediävistische Standortbestimmung«, Frühmittelalterliche Studien, 38 (2004), 173-276, hier: 187-190. 6
Vgl. Simone Winko, Kodierte
Gefühle. Zu einer Poetik der Emotionen in lyrischen
und poetologischen Texten um 1900, Allgemeine Literaturwissenschaft - Wuppertaler Schriften 7 (Berlin 2003). 7
Vgl. Thomas Anz, Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen (München 1998); Katja Mellman, Emotionalisierung - von der Nebenstundenpoesie zum Buch als Freund. Eine emotionspsychologische Analyse der Literatur der Aufklärungsepoche, Poetogenesis 4 (Paderborn 2006). 8
Vgl. Rüdiger Schnell, »Ekel und Emotionsforschung. Mediävistische Überlegungen
zur >Aisthetik< des Häßlichen«, Deutsche Vierteljahrsschrift
für Literaturwissenschaft
und
Geistesgeschichte, 79 (2005), 359-432; außerdem die Hinweise bei Jutta Eming, Emotion
und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12. bis 16. Jahrhunderts, Quellen und Forschungen zur Literatur- und K u l turgeschichte 39 (Berlin / N e w York 2006), 71 - 75.
36
Elke Koch
vor?< 9; »Wie schlägt sich der Zivilisationsprozess in der literarischen Darstellung von Emotionen nieder?< 10 ), Fragen, die literaturhistorisch ausgerichtet sind (>Wie verändert sich die Darstellung von Emotionen vom 12. bis zum 13. Jahrhundert 1 1 / diachron innerhalb einer Gattung?< 12 ; »Welche Funktion hat die Darstellung einer bestimmten Emotion oder von Emotionen generell i m Erzählzusammenhang einzelner Texte ?Mit welchem Begriffsinstrumentarium lassen sich Darstellungen von Emotionen adäquat beschreiben ?Wie lässt sich ein Emotionskomplex für die Untersuchung von Erzählwerken des Mittelalters konzeptualisieren?< 15 ). I n einer Reihe von Aufsätzen werden diese Fragebereiche anhand von einzelnen Emotionskomplexen oder Affekten (beispielsweise »Kampfzorn« 1 6 , »Emotionen vor dem Tode« 1 7 , N e i d 1 8 , A n g s t 1 9 , E k e l 2 0 , Trauer 2 1 ) sowie in Bezug auf Emotionsdarstellungen in einzelnen Texten thematisiert. 22 9
Vgl. Anja Kühne, Vom Affekt
im Mittelalter
zum Gefühl. Konvergenzen von Theorie und Literatur
am Beispiel von Konrads von Würzburg
»Partonopier und Meliur«
y
Göp-
pinger Arbeiten zur Germanistik 713 (Göppingen 2004). 10
Vgl. Irmgard Gephart, Das Unbehagen des Helden. Schuld und Scham in Hartmanns
von Aue >ErecNibelungenlied< (Köln / Weimar / Wien 2005). 11
Vgl. Miriam Riekenberg, Literale Gefühle. Studien zur Emotionalität in erzählender
Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts, Europäische Hochschulschriften, Reihe X V I I I , 115 (Frankfurt am M a i n u. a. 2006). Riekenberg verfährt mit dem Textmaterial deskriptiv, zieht dann aber aus einer begrenzten Zahl von Texten weitreichende Folgerungen zum Wandel der Darstellungsmittel und darüber hinaus zur historischen Genese von »Subjektivität^ 12
Vgl. Eming, Emotion und Expression.
13
Vgl. zu einzelnen Emotionen Elke Koch, Trauer und Identität. Inszenierungen von Emotionen in der Literatur des Mittelalters, Trends i n Medieval Philology 8 (Berlin / N e w York 2006); zwar ohne dezidiert emotionsanalytische Perspektive, aber mit affiner Fra-
gestellung, Katharina Mertens Fleury, Leiden lesen. Bedeutungen von compassio um 1200 und die Poetik des Mit-Leidens im >Parzival< Wolframs von Eschenbach, Scrinium Friburgense 21 (Berlin / N e w York 2006). 14
Vgl. Eming, Emotion und Expression.
15
Vgl. Koch, Trauer und Identität; Mertens-Fleury, Leiden lesen. Obwohl Gephart, Das Unbehagen des Helden / Der Zorn der Nibelungen, ihre Studien einzelnen Emotionskomplexen zuordnet, fehlt hier eine entsprechende methodische Reflexion. 16 Vgl. Klaus Ridder, »»KampfzornTristan< Gottfrieds von Strassburg«, Beiträge zur Geschichte der
deutschen Sprache und Literatur,
126 (2004), 377-397.
23
Vgl. Kühne, Vom Affekt zum Gefühl, 8; Ingrid Kasten, »Einleitung«, in: Jaeger/ Kasten (Hgg.), Codierungen von Emotionen im Mittelalter, X I I I - X X V I I I , hier: X I I I , A n m . 1.; Schnell, »Historische Emotionsforschung«, 202-207. 24 Vgl. die Positionen von Eming, Emotion und Expression, und Kühne, Vom Affekt zum Gefühl. 25
So wählt Ridder, »Kampfzorn«, Affekt und Affektivität als Oberbegriffe.
38
Elke Koch
Emotion, Gefühl und Affekt gleichermaßen einsetzen, u m programmatisch den Platz der Literaturwissenschaften und der Mediävistik i m interdisziplinären Unterfangen der Emotionsforschung auszuweisen. M i t einer synonymen Verwendung aller drei Bezeichnungen w i r d jedoch die Möglichkeit aufgegeben, sie für eine differenzierte Beschreibung von entweder emotionalen oder literarischen Phänomenen zu operationalisieren. I m vorliegenden Beitrag w i r d der Begriff der Emotion als Oberbegriff verwendet, u m eine solche O p t i o n offen zu halten. 2 6 Es steht zu erwarten, dass die Nomenklaturen weiter ausdifferenziert werden, denn alles weist darauf hin, dass i m Zuge der kulturwissenschaftlichen Ausrichtung der Mediävistik künftig das Forschungsfeld »Literatur und Emot i o n weiter erschlossen wird. Dafür spricht die wachsende Zahl von M o n o graphien und Einzelstudien zu diesem Thema, seine Attraktivität für multidisziplinär zusammengesetzte Konferenzen und Sammelbände 27 und nicht zuletzt die intensive methodologische Debatte u m den Status von literarischen
26 M i t Blick auf narrative Emotionsdarstellungen werde ich den Affektbegriff an späterer Stelle verwenden, u m damit eine heftige, am Körper sichtbar werdende emotionale Reaktion zu beschreiben. Diese Darstellungsweise lässt sich abgrenzen von Formen, die eine Introspektion in der Figurenrede entwerfen, oder die ein Andauern der Emotion durch ritualisierte Handlungen oder durch Körperinszenierungen markieren. 27 Der International Medieval Congress an der University of Leeds war 2006 dem Thema »Emotion and Gesture« gewidmet. Sammelbände mit mediävistischer Schwerpunktsetzung oder Beteiligung, die intensiv rezipiert werden, sind Barbara H . Rosenwein (Hg.),
Anger's Past. The Social Uses of an Emotion in the Middle Ages, European History, Medieval and Renaissance Studies ( I t h a c a / N e w York / London 1998); Claudia Benthien, A n ne Fleig, Ingrid Kasten (Hgg.), Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, Literatur K u l t u r - Geschlecht 16 ( K ö l n / Weimar / Wien 2000); Jaeger / Kasten (Hgg.), Codierungen von Emotionen im Mittelalter; Ingrid Kasten, Gesa Stedman und Margarethe Zimmer-
mann (Hgg.), Kulturen der Gefühle in Mittelalter relles, Jahrbuch für Frauenforschung,
Emotionen, Zeitschrift
und Früher Neuzeit, Themenheft: Que-
7 (2002); Wolfgang Haubrichs (Hg.), Themenheft:
für Literaturwissenschaft
und Linguistik 138 (2005). Bislang weni-
ger wahrgenommen wurden die Bände: Paul Michel (Hg.), Unmittelbarkeit. Gestaltungen und Lesbarkeit von Emotionen, Schriften zur Symbolforschung 15 (o. O . [Zürich] 2005); Gerhard Jaritz (Hg.), Emotions and Material Culture, International Round TableDiscussion, Krems an der Donau, October 7 and 8, 2002, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Forschungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Diskussionen und Materialien 7 (Wien
2003); Lisa Perfetti (Hg.), The Representation ofWomen's Emotions in Medieval and Early Modern Culture (Gaines-ville, Florida 2005). Der Band von Burkhardt Krause und U l r i c h
Scheck (Hgg.), Emotions and Cultural Change / Gefühle und kultureller
Wandel, Stauffen-
burg Colloquium 56 (Tübingen 2006) geht auf eine erheblich frühere Tagung zurück; die jüngere Debatte zu Emotionalität in der mediävistischen Forschung findet darin keinen
Niederschlag. Neu erschienen ist das Themenheft Angst und Schrecken im Mittelalter, Annette Gerok-Reiter, Sabine Obermaier, [Das Mittelalter, heft zum Zorn w i r d vorbereitet].
hg.
12 (2007); ein weiteres Themen-
Bewegte Gemüter
39
Emotionen, die i n einer Reihe von Aufsätzen und Rezensionen in Fachzeitschriften derzeit geführt w i r d . 2 8
Methodologische Fragen: Literatur und Wirklichkeit Für Emotionen i n der Literatur des Mittelalters gilt, was der Historiker Frank Rexroth unlängst für das geschichtswissenschaftliche Forschungsfeld der Rituale und der Ritualität konstatiert hat, zu dem die mediävistische Emotionsforschung konzeptionelle und >personelle< Verwandtschaftsbeziehungen 29 unterhält: N i c h t nur Emotionen werden Gegenstand von Debatten, sondern auch und gerade ihre Erforschung. 3 0 Sie wirft grundlegende methodologische Fragen und Probleme einer »literarischen Anthropologie< auf, wie sie i m Zuge der kulturwissenschaftlichen Orientierung der letzten Jahre etabliert worden ist, 3 1 und i n diesem Feld w i r d die Diskussion besonders intensiv geführt. Diese Methodenreflexion scheint die Etablierung und Differenzierung emotionsanalytischer Forschungsansätze erheblich zu beschleunigen. So hat die »Standortbestim28 Vgl. Schnell, »Historische Emotionsforschung«; A r m i n Schulz, »Die Verlockungen der Referenz. Bemerkungen zur aktuellen Emotionsdebatte«, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur,; 128 (2006), 472-495; Katharina Philipowski, »Wer hat Herzeloy des Drachentraum geträumt? Trûren, zorn, haz, schäm und nît zwischen Emoti-
onspsychologie und Narratologie, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur,; 128 (2006), 251 - 2 7 4 ; Jutta Eming, »Emotionen als Gegenstand mediävistischer Literaturwissenschaft«, Journal of Literary Theory y 2 (2007), i m Erscheinen. Ich danke der Verfasserin dafür, dass sie mir das Manuskript vorab zur Verfügung gestellt hat. 29 Wesentliche Anstöße, den ritualisierten Charakter von Emotionen in Erzähltexten des Mittelalters zu untersuchen und zu deuten, erhielt die germanistische Mediävistik von den Arbeiten des Historikers Gerd Althoff über die Rolle von Emotionen in politischen
Ritualen; vgl. Gerd Althoff, Spielregeln
der Politik im Mittelalter.
Kommunikation
in
Frieden und Fehde (Darmstadt 1997); vgl. zur Rezeption exemplarisch Jan-Dirk Müller,
Spielregeln für den Untergang. Die Welt des >Nibelungenliedes< (Tübingen 1998); Lydia Miklautsch, »Waz touc helden sölh geschrei? Tränen als Gesten der Trauer in Wolframs >WillehalmSpitzenahn< erscheint inzwischen Lucien Febvre, dessen 1941 verfassten Aufruf zu einer Geschichtsschreibung der Gefühle kaum eine mediävistische Untersuchung zu Emotionen unerwähnt lässt. 34 Ging es dem Historiker Febvre aber dezidiert u m eine Erforschung der »vie affective« vergangener Gesellschaften, so hat sich die Frage nach dem Verhältnis von >literarischen< und >historischen< Emotionen i n der aktuellen Debatte als strittiger Punkt herausgestellt. Der i n diesem Zusammenhang erhobene Einwand lautet, dass dort, w o Emotionen i n der Literatur untersucht werden, letztlich nicht von Phänomenen der Texte, sondern der Lebenswelt die Rede sei. 3 5 Emotionsanalytische Ansätze würden immer wieder den »Verlockungen der Referenz« erliegen. 36 Die Forderung nach trennscharfen Formulierungen, die stets den Konstruktions- und Zeichencharakter von Emotionsdarstellungen i m Bewusstsein halten, w i r d mit einem grundsätzlichen methodologischen Einwand verbunden, den A r m i n Schulz polemisch formuliert: Für die Germanistische Mediävistik kann die Aufgabe nur lauten, sich am Projekt einer Geschichte der menschlichen Vorstellungen von Gefühlen zu beteiligen, nicht aber an einer Geschichte der Gefühle selbst. Eine solche wäre wissenschaftlicher H u m b u g . 3 7 32
Schnell, »Historische Emotionsforschung«.
33
A u f diese Ansätze berufen sich auch jüngere Arbeiten noch explizit. I n die Tradition der Historischen Psychologie bzw. Psychohistorie stellt sich Gephart, Das Unbehagen des
Helden; dies., Der Zorn der Nibelungen. 34 I n deutscher Ubersetzung: Lucien Febvre, »Sensibilität und Geschichte. Zugänge zum Gefühlsleben früherer Epochen«, in: Claudia Honegger (Hg.), Schrift und Materie der
Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, Edition Suhrkamp 814 (Frankfurt am M a i n 1977), 313-334; vgl. die Berufungen auf Febvre bei Kasten / Stedman / Zimmermann, »Einleitung«, in: dies., Kulturen der Gefühle in Mittelalter und Früher Neuzeit, 9 - 2 5 ; Wolfgang Haubrichs, »Einleitung«, in: ders., Emotionen, 5 - 9 . 35 Vgl. Schnell, »Historische Emotionsforschung«; mit Bezug darauf A r m i n Schulz, »Die Verlockungen der Referenz«; Katharina Philipowski, »Herzeloydes Drachentraum«. 36
Vgl. Schulz, »Die Verlockungen der Referenz«.
37
Schulz, »Die Verlockungen der Referenz«, 475.
Bewegte Gemüter
41
M i t dem Begriff der »Vorstellungen« w i r d ein Wall zwischen >zwei Welten< von Wirklichkeit und Literatur errichtet, der sich ebenso auch als Brücke konzeptualisieren lässt. 38 Schulz' Vorbehalt hat indessen nicht nur epistemische Implikationen, sondern auch Implikationen für den mediävistischen Dialog von Literatur- und Geschichtswissenschaft, denn er scheint darauf zuzulaufen, den heuristischen Zugang zur Geschichte auf Ideengeschichte zu begrenzen. 39 Darüber hinaus spricht Schulz damit der Literaturwissenschaft das Potential ab, einen eigenen, methodisch konstruktiven Beitrag zu Theorieangeboten zu leisten, die in der Mediävistik seit geraumer Zeit rezipiert werden und die zwar für die Beschreibung sozialer Phänomene angelegt worden sind, dazu jedoch auf Emotionsinszenierungen in literarischen Texten rekurrieren. Besonders zu nennen sind die nicht unumstrittenen, aber wirkmächtigen Arbeiten von Norbert Elias zum »Prozess der Zivilisation« 4 0 und von Niklas Luhmann zu »Liebe als Passion«. 41 Die mediävistische Literaturwissenschaft kann diesen Theorieangeboten den Konstruktionscharakter von (Erzähl-)Texten entgegenhalten, oder aber ihn einbeziehen, wenn sie diese Theorieangebote aufnimmt. Womit der größere Erkenntnisgewinn zu erzielen ist, müssen die Textanalysen erweisen. Wie Jutta Eming verdeutlicht hat, bietet der Umstand, dass Emotionen ein Phänomen der Alltagswirklichkeit sind, für sich genommen keine ausreichende Grundlage für ein Argument gegen literaturwissenschaftliche
Emo-
tionsforschung. 42 Allerdings lassen die bislang publizierten emotionsanalytischen Untersuchungen das Bestreben erkennen, den Verdacht auszuräumen, dass i n ihnen die Grenzen literaturwissenschaftlicher Heuristik überschritten würden. Nahezu i n allen diesen Arbeiten findet sich der explizite Vorbehalt, dass die Textanalysen nicht darauf zielen, emotionale Praktiken oder Erlebnisse historischer Subjekte zu rekonstruieren. Dieser Vorbehalt allein kann die methodischen Herausforderungen des Forschungsfeldes jedoch nicht bewältigen. Es gilt zum einen die Frage nach der Konzeptualisierung von >Emotion< 38
M i t »Vorstellungen« sind sowohl die Bereiche »Wissen« als auch »das Imaginäre« angesprochen, vgl. Schulz, »Die Verlockungen der Referenz«, 475. Emotionstheoretisch und -historisch wären die je unterschiedlichen methodologischen Konsequenzen dieser Dimensionen zu reflektieren und weitere (Kognition, Habitus) zu ergänzen. 39 Für die geschichtswissenschaftliche Methodenreflexion sei hier nur eine Sammelpublikation exemplarisch angeführt, die für emotionswissenschaftliche Perspektiven relevante Fragen aufwirft: Paul Münch (Hg.), »Erfahrung« als Kategorie der Erühneuzeitgeschichte , Historische Zeitschrift, Beihefte (Neue Folge) 31 (München 2001).
40
Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation.
Soziogenetische und psychogene-
tische Untersuchungen , 2 Bde. suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 158/159 (Frankfurt am M a i n 1976). 41
Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität , suhrkamp taschen-
buch Wissenschaft 1124 (Frankfurt am M a i n 1994). 42
Jutta Eming, »Emotionen als Gegenstand mediävistischer Literaturwissenschaft«.
42
Elke Koch
für literaturwissenschaftliche Erkenntnisinteressen zu klären, zum anderen macht es der Umgang mit Texten vergangener Epochen erforderlich, den eigenen Ansatz i m Verhältnis zu einer >Emotionsgeschichte< zu situieren. Grundsätzlich macht die Frage nach einer >GeschichteLesbarkeitgelesen< wird, mit definiert. I n diesen kulturwissenschaftlich anschlussfähigen Emotionskonzepten ist eine konstruktivistische Denkfigur angelegt, die sich allerdings dekonstruktivistisch umkehren und zuspitzen lässt. N i c h t eine historisch variable kulturelle Formung von Emotionen steht dann zur Debatte, sondern die historische Gewordenheit des Konzeptes Emotion selbst. Demnach ist >Emotion< eine kulturell variable Kategorie anthropologischer Selbstbeschreibung, die durch Wissenstraditionen und Sprachregelungen geprägt ist und den Gegenstand, den sie bezeichnet und beschreibt, mit hervorbringt und formt. Eine solche poststrukturalistische K r i t i k wurde i n der Gendertheorie an die Kategorie Geschlecht herangetragen. Genauso wenig wie >Geschlecht< kann >Emotion< demnach einen ontologischen Status beanspruchen, sondern stellt einen Begriff dar, mit dem Subjekte moderner westlicher Gesellschaften ihrem Selbst- und Weltbezug in alltagsweltlichen wie i n wissenschaftlichen Diskursen Sinn verleihen. Eine solche K r i t i k wirft die Frage auf, ob >Emotion< für die Analyse mittelalterlicher Literatur ein erkenntnisfördernder Begriff sein kann. Eine mögliche K o n sequenz aus dieser Sichtweise besteht darin, ausschließlich auf Selbstbeschreibungskategorien zurückzugreifen, die sich i n Texten des Mittelalters nachwei43 Vgl. Kühne, Vom Affekt zum Gefühl, 21; Klaus Ridder, »Emotion und Reflexion in erzählender Literatur des Mittelalters«, in: Jaeger/Kasten, Codierungen von Emotionen im Mittelalter, 203-221, hier 206; Schnell, »Historische Emotionsforschung«, 196; Eming,
Emotion und Expression,
66-71; Koch, Trauer
und Identität, 28-32; Gerok-Reiter /
Obermaier, »Angst und Schrecken als kulturelle Matrix. Einleitung«, in: dies., Angst und
Schrecken im Mittelalter,
3 - 6 , hier 4.
43
Bewegte Gemüter
sen lassen. Eine andere Konsequenz liegt darin, moderne Emotionsbegriffe heuristisch zu verwenden, u m die Alterität der Gegenstände nicht immer schon vorauszusetzen (und damit nicht mehr näher eingrenzen zu können), sondern in einem Prozess des Abgleichs von Konzepten an Texten wie an Kontexten herauszuarbeiten. >Emotion< bildet in einer solchen, von Michel Foucaults Diskursbegriff beeinflussten Perspektive den Ausgangspunkt für eine Archäologie der damit verbundenen historischen Wissensformen und Praktiken, die keiner linearen Entwicklung auf der Spur ist, aber dennoch die Geschichtlichkeit der eigenen Verständigungskategorien in den Blick nimmt. N i c h t die Universalität neuronaler Vorgänge oder die anthropologisch konstante Koppelung bestimmter Auslöser mit emotionalen Reaktionen begründet dann die Geltungskraft des Emotionsbegriffs i m Zusammenhang historischer und literaturwissenschaftlicher Forschung, sondern die Selbstverständigung über die Wissensbedürfnisse, die in der heutigen Gesellschaft an historische und literarische Gegenstände gestellt werden. Aus der Prämisse einer kulturellen und historischen Variabilität von Emotionen werden für literaturwissenschaftliche Zugänge in der Mediävistik weitere konzeptionelle Überlegungen abgeleitet, die unterschiedliche Aspekte des Verhältnisses von >Geschichte< und >Literatur< betreffen. Einen dieser Aspekte bildet der Begründungszusammenhang, der für die Alterität von Emotionen in der Literatur des Mittelalters angesetzt wird, insofern die Unterschiede gegenüber modernen Konventionen der Gefühlsdarstellung auf Prozesse historischen Wandels zurückgeführt werden. Dieser Wandel kann Vorstellungen über Emotionalität betreffen, kulturelle Semantiken von Emotionen, die in der Sprache oder in fiktiven Szenarien zur Geltung kommen, jedoch auch Konventionen oder Strukturen lebensweltlicher Emotionalität. Für letztere Sicht ist Norbert Elias' Theorie des historischen Wandels der Affektstruktur besonders einflussreich. So liegt einigen Arbeiten zu Emotionsthemen die Auffassung zugrunde, dass eine Veränderung des Umgangs mit Affekten i m Zuge des Zivilisationsprozesses stattgefunden hat, der aus Erzähltexten insofern rekonstruierbar sei, als er auch Veränderungen in der Darstellungsweise von Emotionen mit sich gebracht habe. 44 Unter dem Vorbehalt, dass der Konstruktionscharakter von Texten solche Rekonstruktionsversuche nicht nur erschwert, sondern vereitelt, liegen in diesem Zugang die größten methodischen Probleme.
44
Die prominenteste und radikalste Position hat in dieser Hinsicht Peter Czerwinski,
Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen von Reflexivität
im Mittelalter.
Exempel einer
Geschichte der Wahrnehmung (Frankfurt am M a i n / N e w York 1989), entwickelt; vgl. außerdem die Studien von Dinzelbacher, »Gefühl und Gesellschaft«; Urban Küsters, »Klagefiguren. Vom höfischen Umgang mit der Trauer«, in: Gert Kaiser (Hg.), An den
Grenzen höfischer Kultur. Anfechtungen der Lebensordnung in der deutschen Erzähldichtung des hohen Mittelalters (München 1991), 9-75.
Elke Koch
44
A u f einen anderen Aspekt des Verhältnisses von Emotionen in der Literatur und Emotionsgeschichte w i r d gezielt, indem nach dem Beitrag gefragt wird, den literarische Darstellungen selbst zur historischen Varianz von Emotionalität leisten können. Ein möglicher Beitrag w i r d darin veranschlagt, dass Erzähltexte Emotionen diskursivieren, dies jedoch unter anderen Bedingungen als i n Affektenlehren, den >Emotionstheorien< des Mittelalters. Bei erzählten Emotionen sind nicht nur die Einbettung i n Handlungsabläufe, Figurenkonzeptionen und Konfliktkonstellationen zu beachten, sondern auch Differenzen zwischen religiösen und weltlichen Sichtweisen von Emotionen. Bezüglich der Relevanz von Erzähltexten für den geschichtlichen Wandel von Emotionalität w i r d jedoch noch ein weiterer potentieller Beitrag geltend gemacht, der nicht auf die konzeptuelle Ebene begrenzt bleibt. Indem die Texte Modelle für emotionales Verhalten bereitstellen, werden sie auch als Medien der Bildung von Emotionen aufgefasst. War bislang von unterschiedlichen Ebenen die Rede, auf welchen eine Relation von Emotionsgeschichte und Emotionen in der Literatur angesetzt wird, so geht es i m Folgenden u m Begriffe und Modelle, auf die i n der mediävistischen Literaturwissenschaft zurückgegriffen wird, u m eine Vermittlung zwischen Emotionsgeschichte und narrativ konstruierten Emotionen zu konzeptualisieren. Z u nennen sind besonders der Begriff des Imaginären, der Diskursbegriff sowie das Konzept des paradigm
scenario. Keines dieser Konzepte
ist genuin literaturwissenschaftlichen Ursprungs, wenn auch der Begriff des Imaginären für die Literaturwissenschaft von Wolfgang Iser eingeführt und expliziert worden ist. 4 5 Diese Tradition wurde, wie auch mögliche Bezüge zu Cornelius Castoriadis, 46 jedoch in der emotionsanalytischen Forschung zur Literatur des Mittelalters noch nicht systematisch reflektiert. Die Verwendung des Begriffs i n emotionsanalytischen Untersuchungen entspricht weitgehend seinem Gebrauch bei Jacques Le G o f f , 4 7 insofern über den Begriff des Imaginären eine Brücke geschlagen w i r d zwischen historischen Mentalitäten, die kollektive Denkweisen, Deutungs- und Verhaltensmuster der Wirklichkeit umfassen, 48 und erzählten Welten, die i m Rückgriff auf ein Weltwissen konstruiert und rezipiert werden, das von diesen Mentalitäten geprägt ist. Da mit dem 45
Wolfgang Iser, Das Fiktive
und das Imaginäre. Perspektiven
literarischer
Anthro-
pologie, suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 1101 (Frankfun am M a i n 1991). 46
Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution.
Entwurf
einer politi-
schen Philosophie, suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 867 (Frankfurt am Main 1984). 47 48
Jacques Le Goff, Phantasie und Realität des Mittelalters
(Stuttgart 1990).
A u f das Konzept der Mentalität rekurriert Schulz, »Verlockungen der Referenz«, 490, wenngleich er die Schlussfolgerungen seiner Skizze zu Perspektiven einer literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung »unter Ausblendung weiterer mentalitätsgeschichtlicher Überlegungen« zieht.
Bewegte Gemüter
45
>Imaginären< nicht nur der Bereich der geteilten Muster und Standards erfasst wird, sondern auch die Phantasie und das Spiel mit Sprache, Bildern und sozialen Regeln, w i r d dem besonderen Status von Erzähltexten Rechnung getragen, die Weltwissen nicht nur speichern oder abbilden, sondern auch eine reflexive Distanzierung von sozialer Wirklichkeit und einen experimentellen Umgang mit ihr erlauben. Klaus Ridder zufolge lassen sich die Darstellungen so einerseits als »sozial und medial konditioniert« begreifen, andererseits »können sie aber gleichwohl i m Bereich des Kulturell-Symbolischen Wirkungen entfalten.« 4 9 Der Begriff des Imaginären lässt offen, ob die Verhaltens- und Denkmodelle, die Erzähltexte präsentieren, ihrerseits >nur< auf Repräsentationen und Modellbildungen einwirken, oder ob auch Konsequenzen auf die Verhaltensund DenVweisen der Rezipienten angenommen werden. Während das >Imaginäre< auf Kreativität und auch auf Unbewusstes bezogen werden kann, erfasst der Diskursbegriff Vorstellungen i m Sinne bestehender und geäußerter Konzepte. Gegenüber der analytischen Kategorie einer »Archäologie des Wissensschwacher< Diskursbegriff verwendet. Das Ineinandergreifen von verschiedenen Ebenen, von Wissensformationen und Routinen des Erlebens und Verhaltens, das Foucault i n seinen Studien zur Entwicklung moderner Institutionen und ihren Disziplinierungseffekten analysiert, 50 w i r d zwar mit dem Diskursbegriff impliziert, die Verzahnung von Emotionskonzepten und emotionaler
Disziplinierung
über historisch spezifisch zu beschreibende Formen von Institutionalisierung jedoch nicht weiter untersucht. 5 1 Als >Diskurs< werden Erzähltexte des Mittelalters betrachtet, insofern sie Vorstellungen von Emotionen sprachlich zugänglich machen: Was man [ . . . ] i m 13. Jahrhundert tatsächlich unter Emotionen verstehen konnte, zeigt sich in den Emotionalitätsentwürfen zweier Diskurse - dem weltlichen der höfischen Epik und Lyrik und dem geistlichen. Erst i m Vergleich beider Diskurse lässt sich rekonstruieren, was mittelalterliche Vorstellungen vom Affekt von dem neuzeitlichen Konzept von >Gefühl< trennt. 5 2
49
Ridder, »Kampfzorn«, 224.
50
Herausgegriffen sei hier nur: Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses , suhrkamp taschenbuch 2271 (Frankfurt am Main 1976). 51 Zumindest illustrieren lässt sich ein solches Ineinandergreifen am Beispiel von tristitia y die i m religiösen Kontext als Sünde, in bestimmten Diskursen, etwa bei den Anachoreten, aber auch als Heilsmittel aufgefasst w i r d und in entsprechend unterschiedliche Praktiken eingebunden erscheint; vgl. Barbara Müller, Der Weg des Weinens. Die Tradition des >Pen-
thos< in den Apophthegmata Patrum (Göttingen 2000); Piroska Nagy, Le don des larmes au Moyen Age. Un instrument spirituel en quete d'institution, Ve-XIIIe siecle (Paris 2000). 52
Kühne, Vom Affekt zum Gefühl , 22.
46
Elke Koch Wie Affektenlehren können auch Erzähltexte auf kulturelles Wissen über
Emotionalität befragt werden. 5 3 A u c h ein solcher >schwacher< Diskursbegriff führt in literaturwissenschaftlicher Perspektive aber erst dann zu Erkenntnisgewinn, wenn er weiterentwickelt wird, u m die Eigenheit erzählter Emotionen, ihren fiktiven Status, ihre poetische Stilisierung, narrative Funktionalisierung und ihre Einbindung i n Prozesse übergreifender Bedeutungsstiftung mit zu erfassen. I n Erzähltexten w i r d über Emotionen nicht oder nicht vorrangig abstrahierend gesprochen, vielmehr werden darin Figuren unter anderem dadurch konstituiert, dass ihnen durch unterschiedliche narrative Strategien Emotionen zugeschrieben werden. Diese Emotionen erscheinen daher i n Handlungszusammenhänge und soziale Konstellationen eingebunden. Diese Besonderheit gilt es systematisch einzubeziehen. W i r d mit dem Diskursbegriff vor allem die Ebene der Konzeptualisierung von Emotionen angesprochen, so eröffnet der kognitionswissenschaftliche, jedoch wenig ausgearbeitete Begriff des paradigm scenario 54 eine andere Perspektive. Diese richtet sich auf die Möglichkeit, dass Erzähltexte modellhafte Verläufe, Konventionen und N o r m e n emotionalen Verhaltens auf dem Wege der kognitiven Schemabildung und Habitualisierung vermitteln. D e m SzenarioKonzept liegt die Auffassung zugrunde, dass anhand von typischen und wiederkehrenden Situationen soziale Konventionen erworben werden, welche die Verknüpfung von Anlässen, emotionalen Reaktionen und ihren Ausdrucksformen normieren. Solche Situationen werden nicht nur lebensweltlich erfahren, sondern auch durch die Rezeption von Erzählungen kennengelernt: Mit
DE SOUSAS
Begriff des paradigm scenarios lassen sich Handlungs-Konstellationen in
literarischen Texten als prototypisch oder paradigmatisch für emotionale Codes des Mittelalters auffassen. Literatur ist insofern eine soziale Praktik zum Erwerb emotionaler Kompetenzen. 5 5
I n der Mediävistik ist das Konzept des paradigm
scenario für die Gattung
des Minne- und Aventiureromans operationalisiert worden, i n denen Figurenemotionen i n ausgeprägter Weise geschildert werden. 5 6 Die Bildung von Emo53 I n der Untersuchung von Kühne, Vom Affekt zum Gefühl, werden Auffassungen von Emotionen in Affektenlehren und in einem Liebes- und Abenteuerroman des 13. Jahrhunderts inventarisiert und nebeneinandergestellt, u m in ihren Überschneidungen und in ihrer Gesamtheit ein Bild von einem spezifisch mittelalterlichen Verständnis von Affekten zu erstellen. Kühne arbeitet allerdings weder die Eigenlogik der erzählten Emotionen gegenüber den christlich-anthropologischen Affektmodellen des Mittelalters heraus, noch macht sie deutlich, welche Bedeutungen die Affektdarstellungen i m narrativen Funktionszusammenhang stiften, wodurch der interpretatorische Gewinn des Ansatzes unklar bleibt. 54
Vgl. Ronald de Sousa, The Rationality
55
Eming, Emotion und Expression, 69-70.
of Emotion (Cambridge, Mass. 1997).
Bewegte Gemüter
47
tionen am literarischen Modell w i r d dabei nicht als eine Übernahme i n dem Sinne angesetzt, dass die dort vorgeführten hyperbolischen Expressionen v o n den Rezipienten nachgeahmt worden seien, vielmehr w i r d die »Kultivierung« v o n Emotionen i n den vorgeführten familialen Konstellationen für plausibel erachtet. 5 7 Während m i t den Begriffen des Imaginären, des Diskurses und des kognitiven Szenarios eine übergreifende Ebene der Vermittlung v o n Erfahrung und ästhetischer Produktion angesetzt wird, erscheinen i n anderen Ansätzen beide Sphären als getrennte Bereiche, die durch Widerspiegelung und Reflexion gleichsam komplementär aufeinander bezogen sind. So geht Annette GerokReiter am Beispiel der Angst davon aus, dass sich für die Literatur [ . . . ] die Möglichkeit der verschärften Konturierung, systematischen Analyse, aber auch Modifikation der Ängste und ihrer Funktionalisierungen in Politik und Gesellschaft [eröffnet]. Das heißt, die Literatur bietet durch ihre literarische Distanznahme die Chance, nicht nur die Angst, der man ausgesetzt ist, zu spiegeln, sondern zugleich auch Wertungen der Angst zu verschieben, Angstnuancen hinzuzufügen, die noch unbekannt waren, ja möglicherweise neue Gesichter, neue Bewältigungsstrategien der Angst zu entwerfen. 58
Die besondere Leistung v o n textuell konstruierten Emotionen w i r d hier darin gesehen, v o n den Vorgaben der Realität zu entlasten. Inwiefern m i t dem Funktionsmoment der Reflexion auch eine Modifikation oder ein kreatives Erzeugen eigener Erlebnismomente, auch i m Sinne einer ästhetischen Erfahrung erfasst werden kann, wäre methodisch weiter zu entwickeln. 5 9 A n den Versuchen, zwischen >Emotionsgeschichte< und »literarischen Emotionem zu vermitteln, ist i n der Mediävistik radikale K r i t i k geübt worden. 56
A u f kognitionswissenschaftliche Konzepte rekurrieren auch neugermanistische U n tersuchungen zu Emotionen; vgl. Martin Huber: »>Noch einmal mit Gefühl.Trauer< erfasst wird, lässt sich durch entsprechende Untersuchungen belegen. 61 Diese Referenz auf Emotionalität ist Grundlage dafür, dass zeitgenössische Rezipienten die Stilisierung und Einbettung von trüren in narrativen Funktionszusammenhängen erkennen können - und auch Grundlage dafür, dass heutige Leser eine Vorstellung darüber entwickeln können, welche Bedeutungen gestiftet werden, wenn einer Figur trüren zugeschrieben wird, selbst wenn die Formen und Funktionen dieser erzählten Emotion befremdlich wirken. So behauptet Philipowski am Beispiel der Rabenschlacht" 62, Dietrichs trüren u m die Söhne Etzels sei »nicht >seine< Emotion, sondern objektivierter Ausweis idealisierter Herrschaftstugenden« 63 , d. h. Ausweis von triuwe. Dietrichs intensive Klage u m die Söhne des Verbündeten könne nicht als > , EmotionHandlung< verstanden werden, die der Rehabilitation Dietrichs in einer prekären Situation diene (Dietrich muss befürchten, als wortbrüchig zu gelten, da er Etzel und Helche versprochen hat, die Söhne zurückzubringen, als diese gegen den Wunsch der Eltern an seinem Feldzug teilnehmen wollten). Die These, dass hier wie vielfach in Erzähltexten des Mittelalters durch Trauer triuwe ausgedrückt wird, lässt sich aufgrund von Analysen anderer Werke erhärten. Dies spricht für eine Semantik von Trauer, die literarisch eingeführt und immer wieder produktiv gemacht wird. O b es aber plausibel ist, sie ausschließlich von literarischen Konventionen ausgehend zu begreifen, lässt sich durch ein Gedankenexperiment in Frage stellen. Warum w i r d triuwe hier nicht beispielsweise durch eine Freudenbekundung i n der Antizipation des Wiedersehens mit Etzel dargestellt, oder durch eine ganz andere, ebenfalls literarisch konventionalisierte, aber nicht >emotionsförmige< triuwe-Handlung? Dietrichs Handeln ist emotionales Handeln, und zwar eines, das in seiner Stilisierung literarische Traditionen aufgreift, sich aber nicht erst aufgrund von »literarischen Erwartungen« 6 4 , sondern aufgrund von Weltwissen als Signal dafür lesen 61
Vgl. Koch, Trauer und Identität, 38-47.
62
Rabenschlacht. Textgeschichtliche Ausgabe, hg. Elisabeth Lienert und D o r i t Wolter, Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik 2 (Tübingen 2005). 63
Philipowski, »Herzeloydes Drachentraum«, 269.
64
Philipowski, »Herzeloydes Drachentraum«, 269.
50
Elke Koch
lässt, dass Dietrich sich in einer verzweifelten Lage befindet. Eine Bedeutungsebene der gattungsstereotyp exzessiven Trauer liegt darin, dass Dietrich den Verlust teilt, den Etzel durch den Tod seiner Söhne erleidet. Dietrichs Trauer zeigt die Beschädigung seiner eigenen Integrität, 6 5 aber auch das Involviertsein in das Leid des Verbündeten. Der Umstand, dass es eine Emotion ist, in der die Bindung an Etzel und seine Verwandten ausgestellt und bekräftigt wird, ist dabei nicht gleichgültig. Dies lässt sich mit Blick auf die Mittel der Darstellung weiter konkretisieren. Das Teilen des Leides w i r d nicht allein über Figurenrede dargestellt, sondern am Körper der Figur inszeniert: Dietrich beißt sich i n die eigenen Hände 6 6 . Diese Stilisierung attribuiert triuwe nicht nur durch ein >Lippenbekenntnis< an die Figur, sondern lässt Dietrich die Teilhabe am Verlust, den Etzel am eigenen »Fleisch und Blut« erlitten hat, selbst verkörpern. Das literarische Muster der selbstverletzenden Trauergeste, der indexikalische Ausdruck eines personalen Involviertseins i m Leid und die symbolische Bezugnahme auf den >Verwandtschaftskörper< treten zusammen. Eine funktionsanalytische und für literarische Muster sensible Interpretation von Emotionsdarstellungen in Erzähltexten des Mittelalters verlangt weder den Verzicht auf eine emotionshistorische Situierung der damit zu gewinnenden Ergebnisse, noch einen a priori verordneten Ausschluss von Modellen und Begriffen anthropologischer Selbstbeschreibung, wie sie außerhalb narrativer Texte, in Affektenlehren des Mittelalters oder in heutigen Emotionstheorien entwickelt worden sind. 6 7 Inwiefern diese durch ein narratologisches Beschreibungsinstrumentarium zu ergänzen sind, ist eine wichtige Frage, die Philipowskis Aufsatz auch aufwirft. Wenn die literarhistorische Emotionsforschung in der Mediävistik sich aber darauf beschränkt, eine narrative K o n s t r u k t i o n weise zu beschreiben, die »im Arrangement, in der Akzentuierung und in der Verknüpfung ihrer Erzählgegenstände vor allem eine spezifisch höfische Stilisierung und Idealisierung ihrer Figuren nachvollzieht« 6 8 , w i r d das Erkenntnispotential dieses Zugangs bereits in der Definition seines Gegenstands eng begrenzt. Theoretisch-methodische Überlegungen, die den Stellenwert reflektieren, den eine Analyse von literarischen Emotionen für das übergreifende Feld der Emotionsforschung besitzen kann, und die umgekehrt nach der Anschluss65
»Owe, wer sol mir nu getrowen?« Rabenschlacht, 888,5.
66
»Er begunde peizzen in arm und in hende.« Rabenschlacht y 893,6.
67
A u c h bleibt unklar, wie trotz einer solchen Selbstbeschränkung, die emotionswissenschaftliche Erkenntnisse kategorisch ausschließt, die These methodisch gestützt werden kann, »dass literarische Texte Wirklichkeit nicht nur verarbeiten, sondern auch erschaffen«; Philipowski, »Herzeloydes Drachentraum«, 261. Denn >Wirklichkeit< erschaffen narrative Texte ihren Ausführungen zufolge nicht, sondern Fiktionen. 68
Philipowski, »Herzeloydes Drachentraum«, 261.
Bewegte Gemüter
51
fähigkeit von Emotionstheorien anderer Disziplinen für die eigenen Erkenntnisinteressen fragen, zeichnen die neueren Ansätze gegenüber früheren (motivund begriffsgeschichtlichen oder gattungstypologischen) Untersuchungen zu ähnlichen Themen aus. Leitend für die Analysen sind aber Fragestellungen, die zu einer Geschichte der Emotionen eher indirekt oder sekundär beitragen und vorrangig auf neue Einsichten in gattungsspezifische Muster, die Bedeutungsebenen von Texten und ihre poetologischen Verfahren zielen. Insofern trägt die Untersuchung von Emotionen in Erzähltexten des Mittelalters dazu bei, >klassische< Fragen der Disziplin zu klären. Hierin trifft sie sich mit der neugermanistischen Forschung, die mit der Untersuchung von Emotionen in der Lyrik u m 1900 oder der Rezeption von Goethes Werther neue Ansätze für einschlägige Forschungsfragen entwickelt.
Gattungstypologische und motivgeschichtliche Gesichtspunkte Die Ergebnisse der mediävistischen Studien erhärten gattungstypologische und motivgeschichtliche Befunde. So wurde zuletzt noch einmal hervorgehoben, dass die mittelalterliche Epik »um 1200 keine Charaktere oder Individuen [bietet], deren Seelenleben zur Entfaltung käme. Sie bietet vielmehr Handlungskonstellationen, innerhalb derer die Figuren bestimmte Typen vertreten, Rollen übernehmen oder Funktionen erfüllen.« 69 Miriam Riekenberg bestätigt in einer vergleichenden Studie über »Emotionalität in erzählender Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts« den Eindruck, dass die Emotionsdarstellung zunehmend facettenreicher w i r d und Emotionen durch den verstärkten Einsatz von Figurenrede stärker als »subjektiv« und handlungsmotivierend erscheinen. Allerdings ist bei der Einordnung dieses Ergebnisses zu fragen, inwiefern Subjektivität und Facettenreichtum geeignete Parameter für Emotionsanalysen bilden. U m epochale Veränderungen des Status von Emotionen in literaturhistorischer Perspektive zu skizzieren, liefern diese Kriterien einen Maßstab, insofern der Fluchtpunkt in der Moderne liegt. U m Funktionen von Emotionsinszenierungen in Erzähltexten des Hochmittelalters zu analysieren, sind diese Parameter jedoch inzwischen als wenig produktiv erkannt worden. Der gattungstypologische Befund, dass die Autoren höfischer Romane i m Unterschied zu den Mustern heldenepischen Erzählens von Emotionen »das Innere als Bühne« 7 0 konstruieren, auf der sie Wert- und Motivationskonflikte vorführen, w i r d durch Untersuchungen einzelner Emotionskomplexe bestätigt und weiter ausgeführt. A m Beispiel des »Kampfzorns« oder der Trauer zeigt
69
Gerok-Reiter, »Die Angst des Helden«, 129.
70
Müller, Spielregeln für den Untergang, 217.
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Elke Koch
sich, dass in höfischen Romanen die Mittel der Emotionsdarstellung stärker diversifiziert sind als i n der Heldenepik, dass mehr Möglichkeiten zur narrativen Konstruktion eines Innenraums genutzt werden und entsprechend Emotionen stärker reflexiv gezeichnet werden. 7 1 Denn dort gewinnt der Figurenmonolog ebenso wie der Erzählerkommentar mit Reflexionen über Emotionen sowie Appellen an Rezipientenemotionen größeres Gewicht. I n heldenepischen Texten erscheint die Darstellung von Emotionen hingegen weitaus stärker durch Affekthaftigkeit gekennzeichnet, d. h. durch eine enge Koppelung von Auslöser und heftiger, am Körper sichtbarer oder in Handlung manifester Reaktion. Auch bei diesem Befund kann die emotionsanalytische Konsequenz nicht darin bestehen, die Frage nach Formen und Funktionen der Emotionsinszenierung einer Untersuchung höfischen Erzählens vorzubehalten. Denn mit Blick auf heldenepische und historiographische Texte sind beispielsweise von der Untersuchung des Zorns, der nicht nur i n Szenarien des Kampfes eine Rolle spielt, sondern auch für die Darstellung von Herrscherfiguren konstitutiv ist, weiterreichende Erkenntnisse zu erwarten, die unter gattungstypologischen, diskursgeschichtlichen, narratologischen und emotionsgeschichtlichen Gesichtspunkten von Interesse sind. Der Zorn der Heroen bildet eines der zentralen Motive, an denen Jan-Dirk Müller den anthropologischen Entwurf des Nibelungenlieds analysiert hat. 7 2 Er schlägt vor, Reaktionen, die heutigen Lesern als Affekte erscheinen können, primär als Funktionen der Handlungskonstellationen zu betrachten, in denen sie auftreten, und nicht als Elemente, die den Figuren eine >innere< Dimension verleihen. I n dieser Perspektive lassen sich die Besonderheit und Alterität solcher Formen des Erzählens von Emotionen genauer beschreiben. Hierbei bilden gerade die Aspekte, die modernen Konzepten und literarischen Inszenierungsweisen von Emotionen fremd sind, den Ausgangspunkt, wie das Fehlen von Introspektion. Weitere Komponenten, wie die Überschneidung von Emotionskomplexen und auch die unspezifische Zuordnung von physiologischen Ausdrucksformen, auf die Riekenberg aufmerksam gemacht hat, ließen sich einbeziehen, u m anhand weiterer Texte diese >archaisch< wirkenden Emotionsdarstellungen zu beschreiben. A n ihnen wäre zu untersuchen, in welcher Weise sie kollektivistische Identitätsmodelle transportieren und inwiefern sie auf Konstellationen zugeschnitten sind, die typisch für heldenepische Stoffe sind, da sie Krisen in der Integrationsfähigkeit von Verwandtschaft, oder Konflikte, die mit einem Wechsel in einen anderen Personenverband einhergehen, problematisieren. 73 71
Vgl. Ridder, »Kampfzorn«; Küsters, »Klagefiguren«.
72
Müller, Spielregeln für den Untergang, 204-208.
Bewegte Gemüter
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Indem Handlungskonstellationen als Bezugsgröße für Emotionsdarstellungen akzentuiert werden, rücken die kommunikativen Funktionen in den Blick, die erzählten Emotionen zunächst auf der Figurenebene zugeschrieben werden, die aber auch für die narrative Bedeutungskonstitution, und damit für die Rezipienten von Belang sind. M i t dieser Perspektive eröffnen sich Möglichkeiten, nach wechselseitigen Bezügen von Emotionsgeschichte und -literaturgeschichte zu fragen, die bislang erst in Ansätzen ausgelotet worden sind. I n der Geschichtswissenschaft ist darauf aufmerksam gemacht worden, dass in der politischen Kommunikation, die in der Feudalgesellschaft i n hohem Maß rituell organisiert ist, Emotionen eine wichtige Rolle spielen. 74 Ihre Funktion w i r d darin gesehen, Absichten öffentlich als authentisch zu bekunden und den Zustand von politischen Beziehungen anzuzeigen, die personal verfasst sind. I n historiographischen Quellen w i r d der kalkulierte, teils durch Absprachen dramaturgisch vorstrukturierte Charakter dieser Emotions->Aufführungen< transparent gemacht. Ahnliches ist auch in Szenarien literarischer Texte zu beobachten, etwa wenn i m Heinrich von Kempten Kaiser O t t o i m Kreis seines Gefolges beschließt, den Titelhelden, über den ein Reichsbann verhängt ist, mit einem Zornausbruch zu empfangen, obwohl er bereits angekündigt hat, ihn zu begnadigen. 75 Solche narrativen Szenarien geben Anlass, danach zu fragen, welche generelle Funktion und welche kulturelle Semantik einzelnen Emotionen für die Kommunikation in der feudaladligen Gesellschaft unter unterschiedlichen Bedingungen (des Hofes, politischer Konflikte, in der Fremde etc.) zugeschrieben wird. Die Faktoren, dass Emotionen die personale Involvierung eines Akteurs indizieren können, dass sie am Körper sichtbar werden und dadurch Situationseinschätzungen, Intentionen und Positionen in sozialen Relationen objektivieren und beglaubigen können, 7 6 machen es wahrscheinlich, dass in einer Gesellschaft, in der sozialer Zusammenhalt, Hierarchiebildung, Herrschaftserhalt und Geltungsansprüche durch personale Interaktion ohne die Sicherung funktionaler Systeme geleistet werden, Emotionen eine historisch spezifische Kommunikationsleistung erbringen. Diese systemtheoretisch be73 Hinweise dazu bei Jan-Dirk Müller, »Motivationsstrukturen und personale Identität i m Nibelungenlied. Zur Gattungsdiskussion um >Epos< oder >RomanSpielregeln< der Figureninteraktion organisieren, sondern möglicherweise auch poetologisch wirksam werden. Die Frage nach Authentizitätssignalen wäre von hier aus neu zu stellen, nicht allein mit Blick auf die Konstitution eines Inneren (unter narratologischer oder subjektivitätsgeschichtlicher Perspektive), sondern hinsichtlich der Funktion von Erzähltexten für die Selbstbeschreibung höfischer Gesellschaft. Eine solche kommunikationstheoretisch und funktionsanalytisch orientierte Perspektive wäre auch für andere, nicht-narrative Gattungen zu entwickeln. Die Erweiterung des Gattungsspektrums ist derzeit in der germanistischen Mediävistik das dringlichste Desiderat. Für die fachinterne Methodendebatte könnte dadurch eine erheblich differenziertere Grundlage geschaffen werden. Ingesamt zeigt der Blick auf die Diskussion über Emotionen in der Literatur des Mittelalters, dass in diesem Feld, ähnlich wie in der neugermanistischen Diskussion, nicht nur eingeführte Fragen und bekannte Gegenstände neu beleuchtet werden, sondern Grundfragen des disziplinären Selbstverständnisses, der interdisziplinären Positionierung, der Anschlussfähigkeit derzeit verfügbarer Theorieangebote und nicht zuletzt forschungsstrategische Richtungsentscheidungen verhandelt werden. Für Runde Tische zur Frage nach >Emotionen in der Literatur< besteht noch viel Bedarf.
Das Gebet Anima Christi und die Vorgeschichte seines kanonischen Status: Eine Fallstudie zum kulturellen Gedächtnis Von Earl Jeffrey
Richards
I. Das Gebet zwischen London, British Library, Harley 2253 (1340) und dem Missale Romanum (1854) Die Handschrift British Library, Harley 2253 hat seit langem das Interesse vieler Mittelalterforscher geweckt, und dies aus mehreren Gründen: der Kodex, aus Herefordshire i m Westen Englands, besteht aus lateinischen, altfranzösischen und mittelenglischen Texten (Gebeten, Heiligenlegenden und fabliaux), die, was die darin erhaltenen mittelenglischen Texte betrifft, spätestens i m Zeitraum vom 1314 bis 1320 verfasst wurden, und später - überwiegend von einem einzigen Schreiber - gegen 1340 zusammengestellt und kopiert wurden. A u f Folio 54 v° b findet man das älteste Zeugnis des berühmten Gebets Anima Christi sanctifica me: Anima Christi, sanctifica me. Corpus Christi, salva me. Sanguis Christi, inebria me. Aqua lateris Christi, lava me. Passio Christi, conforta me. O bone Jesu, exaudi me. Intra tua vulnera absconde me. Et non me permittas separari a te. A b hoste maligno defende me. I n hora mortis meae voca me. Pone me juxta te, U t cum sanctis tuis laudem te. I n saecula saeculorum. Amen. Q u i hanc orationem devote dixit .iii.m. dies venie possedebit. 1
1 A n dieser Stelle möchte ich mich bei The Right Rev. Dr. Robert Jeffery, Oxford; Dr. Rolf De Kegel, Engelberg; Frau P D Dr. Johanna Thali, Freiburg / Schweiz; Prof. Dr. Constant Mews, Monash University, Melbourne; Sister Betty A n n M c N e i l , D.C., Provincial Archivist, Daughters of Charity, St. Joseph's Provincial House, Emmitsburg, Maryland;
Earl Jeffrey Richards
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Das Schriftbild der Handschrift erschwert deren Datierung, denn sie ist i n einer Schrift geschrieben, die wie eine A r t Ubergang von Textualis zu Cursiva aussieht. 2 Der Ablass am Ende des Textes bezieht sich auf den Ablass, mit dem Johannes X X I I an Gründonnerstag 1330 das Gebet versehen hat, obwohl der ursprüngliche Text dieser Bulle verschollen ist. Aus diesem Grund hat man i n der Vergangenheit des Öfteren Johannes X X I I als A u t o r vorgeschlagen, was sich auch nicht bestätigen lässt. Das Gebet, das wiederum von Pius I X mit einem Ablass v o m 9. Januar 1854 versehen und i m Missile Romanum als Gebet nach der K o m m u n i o n (Aspirationes [S. Ignatii] ad Ssmum Redemptorem) abgedruckt ist, ist heutzutage hauptsächlich bekannt als der Text, der i n der Regel am Anfang der Exerzitien von Ignatius von Loyola abgedruckt wird. M a n stellte bereits i m 18. Jahrhundert fest, dass Ignatius nicht der Verfasser des Textes war, aber die Verbindung zwischen Anima Christi und i h m ist verständlich: er empfahl es viermal i n seinen Exercitia spiritualia: 3 und betrachtete es als das drittwichtigste Gebet hinter dem Pater noster und dem Ave Maria. 4 I n z w i und Frau Bettina Disdorn, Wuppertal herzlich bedanken. Ihre Hilfe und Anregungen haben meine Forschung sehr erleichtert. Zum ersten Mal abgedruckt von Maurice Frost, »Anima Christi«, Theology ; Society for Promoting Christian Knowledge , 6 (1923), 285. Frosts Beobachtungen zur Datierung der in der in der Handschrift enthaltenen Texte sind äußerst wertvoll: »As regards date, it cannot be later than 1320, while a reference to Bannockburn in Thomas of Erceldoune's prophecy on f. 127 fixes the terminus a quo at 1314.« Diesen Text findet man auch auf S. 125 bei Ricardo Garcia-Villoslada, »Anima Christi: Origen y evolución de esta plegaria medieval«, Manresa , Espiritualidad ignaciana, 51 (1979), 119-144. Siehe auch N . R. Ker, »Introduction«, Facsimile of British Museum Ms. Harley 2253, hg. N . R. Ker (London 1965), x: »Its speedy arrival in Herefordshire is not surprising in view of the relations of Adam de Orleton w i t h the curia and Pope John X X I I . « 2
Ker, a. a. O , xviii, xxi: »Harley 2253 was written at a critical moment in the history of script, when scribes were trying to find a book hand which was not so difficult to write on a small scale as the traditional textura. [ . . . ] O n palaeographical grounds [ . . . ] the fourth decade of the fourteenth century seems more suitable than the second or even the thir for a hand which has rid itself so thoroughly of the script features still in common use in the first and second decades.« Vgl. Albert Derolez, The Palaeography of Gothic Manuscript
Books from the Twelfth
to the Early Sixteenth Century (Cambridge 2003).
3
Sancti Ignatii de Loyola, Exercitia Spiritualia , hg. Iosephus Calveras (Rom 1969), Bd. 1, 199, § 63; 249, § 147; 320, § 253, 322, § 258. Die Wichtigkeit des Gebets wurde z. B. von Erich Pryzwara in seinem Kommentar zu den Exerzitien [Deus semper maior; Theologie der Exerzitien (Wien / München 1964), Bd. 1, 9] hervorgehoben: »Das alte Gebet, das am Eingang der Exerzitien steht (aber nicht vom hl. Ignatius stammt), ist ein erster Durchblick.« 4 Für den ausführlichen Nachweis, dass das Gebet vor Ignatius' Geburt in Spanien nachgewiesen ist, siehe: D . A. Stracke, »lets over het Anima Chisti«, Bijdragen tot de Geschiedenis y 15 (1923), 832-860; Piet Schepens, »Pour Phistoire de la priére Anima Christi«, Nouvelle Revue théologique , 62 (1935), 669-710; Pedro Leturia, »Libros de horas, Anima
Christi y Ejercicios (1948), 3 - 5 0 .
Espirituales
de S. Ignacio«, Archivum historicum Societatis Iesu, 17
57
Das Gebet Anima Christi
sehen wissen wir, dass das Gebet erst 1576, zwanzig Jahre nach Loyolas Tod, unter dem belgischen Ordens general Everard Mercurian am Anfang der Exerzitien veröffentlicht wurde. 5 Viele Stundenbücher, die ab dem späten 14. Jahrhundert kopiert wurden, enthalten das Gebet, meistens in Verbindung mit Passionstexten, d. h., das Gebet hat sich bereits sehr früh von seinem ursprünglichen, rein liturgischen Zusammenhang in der Messe gelöst und genoß eine gewisse Eigenständigkeit, obwohl seine inhaltliche Verbindung zur Eucharistie eine historische Konstante blieb. Außerdem wurde es schnell in fast alle europäischen Sprachen übersetzt und mehrfach vertont. U m ein Bild seiner Verbreitung zu bekommen, bevor Ignatius von Loyola es so nachdrücklich empfahl, seien die Ubersetzungen ins Oberdeutsche i m Engelberger Gebetbuch, ins Mittelniederländische in der Zutphense-Grongingse Maerland-Handschrift und in der berühmten Van Hulthem-Handschrift; ins Französische von Christine de Pizan, ins Deutsche von Angelus Silesius [Johannes Scheffel] und ins Englische von Elizabeth A n n Seton (1774-1821, bekannt als die erste in den USA geborene Amerikanerin, die heilig gesprochen wurde) und von John Henry Cardinal Newman erwähnt. 6 Bereits 1501 hat der an der päpstlichen Kurie tätige Komponist Gaspar van Weerbeck das Gebet als Motette vertont, und zwar in dem in der Renaissance herrschenden Stil der madrigali spirituali (als musikalisches Kontrafaktum eher als volksnahe Melodien zu verstehen). Diese Tradition der Vertonung als Motette hat sich fortgesetzt, und man findet weitere Vertonungen dieser A r t des Gebetes, die von Schütz (SWV 325), L u l l y und Liszt (Searle 46 [1874]) komponiert wurden, u m nur die bekanntesten Komponisten zu erwähnen. Diese lange historische Rezeption des Gebets macht es zu einem idealen Forschungsgegenstand i m Bereich der cultural studies, denn es entstand zwar aus einer theologischen Polemik, die absolut typisch für die mittelalterliche Scholastik war, erlebte aber eine einmalige Verbreitung in allen Volkskulturen Europas. Allein die Tatsache, dass Christine de Pizan und Elizabeth A n n Seton das Gebet übersetzt haben, zeigt, wie wichtig das Gebet in der weiblichen Frömmigkeit war, zudem ist nicht zu vergessen, dass die deutsche Mystikerin Margaretha Ebner das Gebet als festen Bestandteil ihrer täglichen Andacht bereits 1344 erwähnt hat und i m späten 14. Jahrhundert i m Engelberger Gebetsbuch w o h l für den Gebrauch der dortigen Ordenschwestern übersetzt wurde. Die volksprachliche Rezeption, die Einblicke in die historische Alltagspraxis der Volksfrömmigkeit i m Allgemeinen gewährt, verdient eine nähere Untersuchung, die wiederum zweifelsohne zeigt, wie >sakrale< Materialien unvermutet 5
Balthasar Fischer, »Pone me iuxta te - Setze mich zu dir Motiv aus dem ursprünglichen Text des Anima Christi«, Trierer 94(1985), 188-196, siehe 189. 6
Diese Texte werden i m Anhang dieses Aufsatzes abgedruckt.
y
Ein verlorengegangenes Theologische Zeitschrift,
58
Earl Jeffrey Richards
reiche Forschungsmaterialien für cultural studies bieten. Die Geschichte des Gebets Anima Christi ist vor allem eine unvergleichliche Kulturgeschichte Europas, die bisher das Interesse von Forschern über Volksfrömmigkeit nicht geweckt hat, die ihrerseits in der Volksfrömmigkeit das Weiterleben heidnischer Praktiken untersuchen, und nicht die politische Lenkung des Volkes. 7 Loyolas Empfehlung verlieh dem Gebet einen kanonischen Status, der jedoch, was die Druckkultur betrifft, durch die Aufnahme des Gebets i n dem Antidotarius animae von Nicolaus von Saliceto (1494) und in dem viel nachgedruckten Hortulus animae (1498) vorbereitet wurde. 8 Allein die historische Erlangung dieser kanonischen Würde ist selbst ein Paradebeispeil für das inzwischen stark diskutierte Thema der Kanonbildung, die bekanntlich innerhalb cultural studies einen wichtigen Platz innehat. I n dieser Untersuchung w i r d die Vorgeschichte dieses Prozesses rekonstruiert.
II. Die eucharistische Kontroverse, die Polemik um die Erhebung der Hosti Infolge des heftigen Streites während der 2. Hälfte des 11. Jahrhunderts zwischen Bérenger de Tours (f 1088) und Lanfranc de Bec (f 1089) um die Transsubstantiationslehre hat Lanfranc 9 als Erzbischof von Canterbury eine Prozession des Sakraments am Palmsonntag angeordnet, damit die Gläubigen vor der dargebotenen Hostie in aller Öffentlichkeit niederknieen und sie anbeten können. Wie Gerhard Matern in seiner Studie über die Vorgeschichte der Fron7
Stellvertretend sollen folgende Studien erwähnt werden: Étienne Delaruelle La piété
populaire au moyen âge (Turin 1975); Raoul Manselli, La religion populaire au moyen âge, problèmes de méthode et d'histoire (Paris 1975); Luis Maldonado, Religiosidad popular, nostalgia de lo mágico (Madrid 1975); R. Alvarez Gastón, La religión del pueblo (Madrid 1976); Le christianisme populaire, hg. B. Plongeron und R Pannet (Paris 1976). Interessant für eine politische Erforschung der Volksfrömmigkeit ist der Sammelband Vita religiosa e
identità politiche: Universalità
e particolarismi
nelVEuropa del tardo medioevo, hg. Sergio
Gensini, Fondazione Centro studi sulla civiltà del tardo medioevo San Miniato (Pisa 1998). 8 Nicolaus von Salicetus, Antidotarius animae (Straßburg 1494), fol. X X X I I r°; Hortulus Animae (Straßburg 1498), fol C L X X X I V r ° - v ° . Der Text i m Hortulus Animae enthält Ergänzungen (»Intra vulnera tua absconde me« und »Et jube me venire ad te« statt »Pone me juxta te«), die sich gegenüber der Urfassung des Gebets durchgesetzt haben. Der erste Wiegendruck des Gebets auf Latein war von Vérard in seinen Heures a lusage de romme (1491); auf Deutsch i m gleichen Jahr erscheint in Klein Troja bei Prag eine deutsche Übersetzung i m Wiegendruck (siehe Anhang).
9
Jean de Montclos, Lanfranc et Bérenger, La controverse
eucharistique du XI e siècle
(Leuven 1971) und Charles M . Radding und Francis Newton, Theology, Rhetoric,
Politics in the Eucharistie
Controversy,
and
1078-1079, Alberic of Monte Cassino against
Berengar of Tours ( N e w York 2003). Siehe auch The Abbot of Pershore [Denys Prideaux],
»A Note on the Prayer Anima Christi«, Laúdate, 1 (1923), 9-21.
59
Das Gebet Anima Christi
leichnamsfeier betont, w i r d »das Anschauen der konsekrierten Hostie [bald] die volkstümlichste Frömmigkeitsübung des Mittelalters.« 1 0 Diese Verbindung eines gelehrten Streits und der Volksfrömmigkeit führte auch dazu, dass Eudes de Sully, Bischof von Paris von 1196 bis 1208, die Erhebung der Hostie während der Messe vorschrieb. 11 Solche Praktiken - auch in Verbindung mit einer wachsenden Anzahl von Berichten zu >Hostienwundern< - veranlassten allmählich die Kirche i m Laufe der nächsten 150 Jahre, eine festgelegte Feier der leiblichen Gegenwart Christi i m Sakrament der Eucharistie zu veranstalten. I m Jahre 1264 beauftragte der Papst Urban IV. Thomas von A q u i n damit, eine neue Liturgie für das Fest von Corpus Christi zu verfassen. Seit dieser Zeit gehören Thomas' Sequenzen (inkl. Laude Sion, Pange lingua, Sacis Solemnis und Verbum supernum prodiens) zum festen Bestandteil der Messe. Eine gewisse Steuerung der Volksfrömmigkeit ist auch von den liturgischen Erneuerungen von Eudes de Sully und Clement IV, dem Nachfolger von Urban IV, beabsichtigt, denn beide strebten auch mit anderen Maßnahmen nach einer solchen Lenkung populärer Andachtsformen: Eudes de Sully war z. B. bemüht, la Fête des Fous zu unterdrücken, während Clement IV. sein eigenes provenzalisches Gedicht über die sieben Freuden Mariens (Los VII. Gautz de Nostra Dona)12 10
Gerhard Matern, Zur Vorgeschichte
und Geschichte der Frohleichname sfeier,
ders in Spanien, Studien zur Volksfrömmigkeit
des Mittelalters
beson-
und der beginnenden Neu-
zeit (Münster 1962), 12. 11
Siehe E. Mangenot, »L'Élévation«, Dictionnaire
de théologie catholique , Bd. 4,
Sp. 2322: »Eudes ordonne aux prêtres de son diocèse de ne pas élever l'hostie, au début du canon de la messe, trop haut pour qu'elle ne puisse être vue par tous. Le célébrant doit tenir l'hostie devant sa poitrine, tandis qu'il dit: >Hoc est corpus meumDie Seele Christi heil'ge mich< unter die Passionslieder aufgenommen.« 34 Hermann Daniel Adelbert bestätigte diese Feststellung 1841: Contuli cum Rambachio Hortulum animae et Heures a Vusage , etc. 35 Seit dem Anfang der Anima Christi-Forschung mit Vincent Baestens Aufsatz von 1883 36 haben Forscher den Stundenbüchern eine besondere Rolle beigemessen. Baesten konnte nachweisen, dass das Gebet in etwa einem Viertel der handschriftlichen und gedruckten Stundenbücher vorkommt. I m Jahre 1948 hat Pedro Leturia das Gebet in zwölf von über fünfzig Stundenbüchern in der königlichen Bibliothek in Madrid gefunden. Das Gebet kommt dennoch in französichen Bibliotheken ausgesprochen selten in Stundenbüchern vor: Vincent Leroquais hat in seinem opus magnum weniger als zehn 33
Vgl. Juan Francisco Rivera Recio, Los arzobispos de Toledo en la Baja Edad Media,
(s. X I I - X V ) (Toledo 1969) und Oscár Villarroel González, Las relaciones entre la Monar-
quía y el arzobispado de Toledo en tiempos de Juan II de Castilla (1406-1454) (Toledo 2002). 34 August Jakob Rambach, Anthologie christlicher Gesänge aus allen Jahrhunderten der Kirche , nach der Zeitfolge geordnet und mit geschichtlichen Bemerkungen begleitet (Altona 1817), Bd.I, 354. 35 Hermann Adalbert Daniel, Thesaurus hymnologicus (Halle 1841-1846, Neudruck, 1973), I. 345. 36 Vincent Baesten, »Une inscription à Séville et la prière Anima Christi dans les livres d'heures du moyen âge«, Précis historiques, 32 (1883): 630-647.
Das Gebet Anima Christi
69
Beispiele i n den 335 Stundenbüchern der Bibliothèque nationale gefunden. 37 D a die Inhalte jedes Stundenbuches v o m Auftraggeber, und nicht vom Klerus bestimmt waren, hat das Vorhandensein oder das Fehlen des Anima Christi
in
einer Handschrift wenig Aussagekraft über die Verbreitung des Gebets. Dagegen ist die Tatsache, dass man bereits 1344 lediglich die Anfangszeile des Gebets zitierte, ein deutliches Zeichen dafür, dass es schnell allgemein bekannt war. Die deutsche Dominikanerin Margareta Ebner (1291-1351) erwähnt das Gebet zweimal i n ihren Offenbarungen an Heinrich von Nördlingen aus dem Jahre 1344: und do fiel mir ain inderiu begirde ine, daz ich meht gesprechen einen ieglichen tag ain paternoster sinem warhaften leben mir und den ich ez beger as mir selber, wa w i r unserm cristenlichen leben und gaistlichen leben nit haben gelept in der warhet, daz uns daz in sinem warhaften leben vergeben werde. U n d sprich ze ieglichen fünzig daz gebet Anima Cristi sanctifica me und beger da us sinem hailigen liden ainer craft, in der w i r widerstan mugen allem übel in gedanken ( . . . ) do wart mir mit grossem lust in minen begirden geben, daz ich Sprech fünf Miserere den fünf minnzaichen [= fünf Wunden Christi] und zuo iedem Miserere Anima Cristi sanctifica me. 3 8
Balthasar Fischer hat diese Stellen dahingehend interpretiert, dass das Gebet ursprünglich deutsch verfasst wurde und anschließend ins Latein übersetzt wurde. Z u m Beweis hat er eine mittelhochdeutsche Ubersetzung aus der Trierer Handschrift Stadtbibliothek, 494 herangezogen: Godes sele hele mich godes lichame bealde mic Godes blut del daz drenke mich wasser daz von gedes siten flois daz wesche mich de martel godes, Sterke mich o guder got herhöre mich hilf mir herre daz hich von deir nit werde gescheiden behude mich vor de bösen vienden in mime hende ruf mir und leide mich unde secze mich zu dir daz ich dich werde lobende mit de engele imer eweclige. A m e n der dis sprichit alse diche halse er is sprichet der hat dridusint tag abbellos dotheliger sunden 3 9 37
Vincent Leroquais, Les livres d'heures manuscrits de la Bibliothèque nationale (Paris
1927). 3 Bd. 38
Margaretha Ebner und Heinrich von Nördlingen, Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Mystik, hg. Philipp Strauch (Freiburg 1882; Neudruck: Amsterdam 1966), S. 80, 83.
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Der Ablass am Ende des Gebets ist aufgrund einer Rasur i n der Handschrift nicht mehr leserlich. Problematisch ist die Datierung der Handschrift i m Verhältnis zur Datierung des Ablasses. Da Fischer das Gebet auf das späte 13. Jahrhundert datieren wollte, schlug er eine mögliche Verbindung mit Ablässen Klemens' V. (1305-1314) vor. D a nur der Ablass aus dem Jahre 1330 als gesichert betrachtet werden kann, muss dieser Vorschlag als Spekulation eingestuft werden. Ein noch wichtigerer, und zwar theologisch-philologischer Grund spricht gegen die volkssprachliche Herkunft des Gebets, und zwar der Ausdruck »Godes seele«. Bei den Kirchenvätern findet man sehr selten den entsprechenden Ausdruck anima Dei. I n einer Predigt bespricht Origenes z. B. die Frage, ob Gott eine Seele hat: »Numquidnam putabimus, quia Deus habeat animam sicut homo? Absurdum est hoc sentire de Deo. Ego autem audeo et dico, quia anima Dei Christus est. Sicut enim verbum Dei est Christus et sapientia Dei et virtus Dei, ita et anima Dei est.« Hieronymus erklärte i n gleicher Weise, Gott habe eigentlich keine Seele: »hic est uinea Sorech, quae interpretatur electa , hic filius amantissimus, i n quo sibi conplacuit anima Dei, non quo Deus animam habeat, sed quod in anima omnis Dei monstretur affectus.« 40 Des Weiteren muss man sich i n Erinnerung rufen, wie oben dargelegt wurde, dass das Gebet Anima
Christi aus der thomistischen Eucharistielehre hervorgegangen ist und
dass die thematische Verbindung anima-corpus-sanguis
erst i n der Rezeption
dieser Lehre nachweisbar ist. Ebenfalls problematisch bleibt die Datierung der Trierer Handschrift 494. Fischer wies darauf hin, dass die Handschrift von Anfang des 14. Jahrhunderts stammt, und erweckte den irreführenden Eindruck, dass sich diese Datierung
39 Balthasar Fischer, »Das Trierer Anima Christi , Der bisher unveröffentlichte älteste nichtlateinische Text des Anima Christi aus einer Hs. des frühen 14. Jh.s in der Trierer Stadtbibliothek«, Trierer Theologische Zeitschrift , 60 (1951), 189-196; hier 192. 40 Ein kurzer Auswahl der zwanzig Beispiele in The Library of Latin Texts zeigt, wie selten der Ausdruck »anima Dei« ist: Origenes secundum translationem Rufini, In Leuiticum homiliae Cl. 0198 3 (A), hom. 16, p. 506, Verumtamen velim requirere, quid est >anima DeiVerbum< Dei est Christus et >sapientia Dei et virtus DeielectaEngelberger Gebetbuch< (Engelberg [Schweiz], Stiftsbibliothek, cod. 155) gewährt neue Einblicke in diese sprachliche Situation. D a die handschriftliche Überlieferung der Trierer Version des Gebets keine genauen Rückschlüsse über deren Entstehung erlaubt, ist das Vorhandensein des Anima
Christi i n diesem Gebetbuch umso bedeutender, vor allem weil es
zusammen m i t einigen anderen sehr wichtigen deutschen Gebeten des späten Mittelalters überliefert wurde. Der Codex 155 besteht aus zwei diskreten Textsammlungen, die i m späten 17. oder i m frühen 18. Jahrhundert zusammengebunden wurden. Die deutsche Übersetzung befindet sich i m zweiten Teil (E 2 ), der in der zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts kopiert wurde, und m i t einem Katechismus beginnt, gefolgt v o n Sühne- und Kommuniongebeten. 4 9 Unter diesen Andachtstexten sind vier Gebete, deren literaturhistorische Bedeutung durch ihre Zusammenstellung miteinander hier umso wichtiger wird: ein Meister Eckhart zugeschriebenes Sühnegebet (Nr. 94), eine Übersetzung des i m Corpus Thomisticum dem doctor angelicus zugeschriebenen Gebets concede mihi, misericors Dens, quae tibi sunt placita ardenter concupiscere, das Kommuniongebet Henrichs Seuses und dann die folgende Übersetzung des Anima
Christi:
Swer dis gebet sprichet mit andaht das hie nach stat, der hat drP tuseng tag aplaz. Oratio perpetualis D u sele Cristi heilige mich, Der licham Cristi behalte mich, Das blüt Cristi das trenke mich, Das wasser der siten Cristi das wesche mich, Das liden Cristi Sterke mich, O guter Ihesu erhöre mich, Vnd laze mich von dir gescheiden nit. Vor dem bösen viende behüt mich.
49 Für das Inhaltsverzeichnis des Codex, siehe Peter Ochsenbein, »Engelberger Gebetbuch«,^Verfasserlexikon, Bd. 2, Sp. 529-530. Vgl. seine anderen wichtigen Studien zum Engelberger Gebetbuch »Privates Beten in mündlicher und schriftlicher Form Notizen
zur Geschichte der abendländischen Frömmigkeit«, in: Viva vox et ratio scripta, Mündliche und schriftliche Kommunikationsformen im Mönchtum des Mittelalters, hg. Clemens Kasper und Klaus Schreiner (Münster 1997), 135-155; »Mystische Spuren i m Engelberger
Gebetbuch« in: Homo Medietas. Aufsätze zu Religiosität, Literatur und Denkformen des Menschen vom Mittelalter bis in die Neuzeit, hg. Claudia Brinker-von der Heyde und Nikiaus Lagier, Festschrift Alois Haas (Bern 1999), 275-298; und »Lateinische Liturgie im Spiegel deutscher Texte oder von der Schwierigkeit vieler St. Andreas-Frauen im Umgang mit der Kirchensprache im Mittelalter« in: Bewegung in der Beständigkeit. Zu
Geschichte und Wirken
der Benediktinerinnen
Rolf De Kegel (Alpnach 2000), 121 -130.
von St. Andreas /Samen Obwalden, hg.
Das Gebet Anima Christi
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I n der stunde des todes so ruffe mir V n d setze mich zv dir, das ich dich mit dinen heiligen engelen lobe von ewen ze ewen. A m e n . 5 0
Bemerkenswert erscheint vielen Forschern die Affinität des Engelberger Gebetbuchs zu einer breiteren Tradition der Mystik i m späten 14. Jahrhundert. Hier w i r d ein weiteres Mal deutlich, dass das Anima Christi immer wieder, entweder in Latein oder in einer volksprachlichen Übersetzung in einem Zusammenhang auftaucht, in dem neue Andachtsformen gesucht werden, u m die Volksfrömmigkeit zu steuern. Peter Ochsenbein hat die Entstehung des Engelberger Gebetbuchs noch spezifischer in Verbindung mit den Schwierigkeiten vieler Ordensschwestern mit der Liturgiesprache Latein gebracht. Daher ist i n diesem Zusammenhang ein weiterer Vergleich mit der Übersetzung des Gebets durch Christine de Pizan für die Ordensschwestern des dominikanischen Klosters St.Louis de Poissy bei Paris angebracht. I n ihrem Werk, Les heures de la contemplation de la Passion, hat Christine zwischen 1420 und 1430 ein Passionsamt auf französisch verfaßt, mit der klassischen Stundenteilung, mit Lektüren und Gebeten, die man in den entsprechenden lateinischen Brevarien findet. Sie weicht aber von diesen Quellen ab, in dem sie das Anima Christi ebenfalls einfügt. Ihre Version, ein klassisches Beispiel von amplificado, ersetzt die asyndetische Schlichtheit des Originals mit einer für sie typischen, sehr gehobenen Hypotaxe: O benoite ame de Jhesucrist, je te requiert, en l'onneur de celle saincte translación que tu feiz du benoist corps de Jhesucrist ou limbe pour traire hors les tiens, que vuilles la mienne povre [ame] saintiffier. Corps digne et sainct de mon Redempteur cruciffié, tu me vuilles sauver. Benoist precieux sang de mon Seigneur, vuillez moy [enivrer] en devocion. Sainne, pure et saincte playe, vuilles mes pechiez laver. Tres dignes et sacrees playes du precieux corps du Sauveur du monde, vuilles moy enluminer de grâce divine. Passion de mon tres doulx maistre, vuilles me en tous besoings conforter, et donner pacience en toutes adversités. Tres bon Jhesus, te plaise a moy ouyr et ne me laisse de 50 Diese diplomatische Transkription stammt aus der noch nicht veröffentlichten Textausgabe des Engelberger Stiftsbibliothek, Codex. 155, Gebet Nr. 97, fol. 172v°-173r°, die von Peter Ochsenbein gemacht wurde, und die mir freundlicherweise von Frau P D Dr. Johanna Thali (Freiburg / Schweiz) zur Verfügung gestellt wurde. Ein ungenauere Transkription des Gebets wurde bereits von Valentin Kehrein abgedruckt: »Uber den Verfasser
des Gebetes Anima Christi, sanctifica
me«, Der Katholik, 78 [3.Reihe, Bd. 18] (1898),
118-120, hier 119. Wie Thali mir mitteilte »Herr Ochsenbein hat auch die Parallelüberlieferung zu den dt. Fassungen des Gebets gesammelt. Die Zettelkästen aus seinem Nachlass liegen mir vor: I n seinen Karteikarten (aus den 1970er oder 1980er Jahren) notiert er 9 Uberlieferungszeugen sowie 24 Hss. mit >Fassungen< des mhd. Gebets; dazu kommen weitere Zettel, die weitere Hss. verzeichnen. Darunter findet sich auch der Hinweis auf
eine >Sonderform< bzw. >Vorform< von Anima Christi (Wis wilchomen heiligiu frucht / ver-
leihe mir geistliche und hymelisch zucht... Einiger got der tro(e)ste mich / starcker got der stercke mich) in der Hs. München, BSB, cgm 73 (nach 1300), fol. 57r°-57v°.«
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toy partir, deffens moy de l'esperit maling, en Teure de la mort me vuilles appeller et mectre couste toy, si que avec tes anges je te puisse louer par infini siecle. A m e n . 5 1
Da die Schwestern in Poissy aus dem Hochadel kamen und nur mit königlicher Erlaubnis dem Konvent beitreten durften, waren ihre rhetorischen Gewohnheiten von den elaborierten Formeln des französischen Königshofs geprägt, für den Christine selbst auch Schriften verfasst hat. Aus diesem Grund findet man in ihrer Version einen Widerspiegelung der Sprache des Hofzeremoniells vielmehr als der Volkssprache vor i m Gegensatz allen anderen Ubersetzungen des Gebets. Alle diese volkssprachlichen Zeugnisse entstanden in der gleichen Situation wie die Stundenbücher auf Latein: aus den persönlichen Bedürfnissen der Auftraggeber heraus. Ein Vergleich der extraliturgischen Überlieferung des lateinischen Textes des Anima Christi auch in Stundenbüchern - dessen geographische Ausbreitung nachzuweisen die Grenzen dieser Untersuchung sprengen würde - mit den verschiedenen volkssprachlichen Übersetzungen drängt sich deshalb geradezu auf. Für volkssprachliche und lateinische Traditionen gilt die Feststellung des Kunsthistorikers John Harthan über die Stundenbücher als Schnittstellen zwischen sakraler und volksnaher Andachtspraxis: »Combining sacred and secular elements in a manner found in no other type of illuminated manuscript, Books of Hours have an especial significance in the history of religious sentiment and in the development of painting . . . [and] though originating in the Church's liturgy, were used by men and women who lived secular lives«. 52 Dieser Vergleich mit den Stundenbüchern unterstreicht noch die vermittelnde Rolle des Gebets in den unterschiedlichen volkssprachlichen Zusammenhängen als Schnittstelle in der dynamischen Interaktion zwischen Klerus und Volksfrömmigkeit. Deshalb ist es nicht überraschend, dass Anima Christi in frühen gedruckten Gebetsbüchern, wie in dem Antidotarius animae (1494) und in dem häufig nachgedruckten Hortulus animae (1498) Aufnahme fand. M i t dieser Veröffentlichung nähern w i r uns dem Ende der Vorgeschichte dieses einzigartigen Gebets an. Das Gebet entstand, wie w i r gesehen haben, aus der thomistischen Eucharistielehre. I n der Neuzeit ist es am stärksten i m 19. Jahrhundert i m Anglo-Katholizismus rezipiert worden, d. h., zu der Zeit in Großbritannien, als englische Katholiken wieder am politischen Leben teilnehmen durften. Da die anglikanische Kirche die Transsubstantiationslehre nicht anerkennt, fällt es als ungewöhnlich ins Auge, dass ausgerechnet die A n glikaner (wie z. B. John Henry Newman, der zukünftige Kardinal), die sich nach der katholischen Emanzipation 1829 mit den historischen Beziehungen 51 Zitiert mit freundlicher Erlaubnis von der noch nicht veröffentlichten kritischen Textausgabe des Werkes, die von Liliane Dulac und René Stuip vorbereitet wird.
52
John Harthan, Books of Hours and Their Owners (London 1977), 9,11.
Das Gebet Anima Christi
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der englischen zur römischen Kirche auseinandersetzten, auf das Anima Christi ihre Aufmerksamkeit fokussierten. Die Frage nach der Eucharistie - nach der Real Presence - stand i m Mittelpunkt des Anglo-Katholizismus, so dass das Gebet Anima Christi an Aktualität gewann. Zwischen 1849 und 1882 gab es in England acht verschiedene Ubersetzungen des Gebets (siehe Anhang). Kardinal Newman beschrieb seine Ubersetzung als >sein Credoc sie gilt zu Recht als Kurzformel des christlichen Glaubens. 53 Dabei hat Kardinal Newman eine Tradition innerhalb der anglikanischen Kirche fortgeführt, die mit Lancelot A n drewes' (1555-1626) dreispaltiger Version des Gebets anfängt (siehe Anhang). So wie das Anima Christi wurden i m Laufe des 19. Jahrhunderts auch A n drewes' Schriften in das katholische Erbe der Ecclesia Anglicana aufgenommen und somit neu entdeckt und neu bewertet 5 4 . Eine andere Übersetzung, »Soul of m y Saviour, sanctify m y breast« gilt noch heutzutage als eine der bekanntesten H y m n e n Großbritanniens in den katholischen und anglikanischen Kirchen (die Hymne ist jedoch vollkommen unbekannt in den Vereinigten Staaten). Auffallend bei dieser Entwicklung ist das historische Phänomen, dass ausgerechnet Konvertiten zum Katholizismus, wie Kardinal Newman oder Elizabeth A n n Seton, das Gebet übersetzten und immer wieder ein neues Publikum dafür fanden. Dieses Phänomen war auch nicht neu, denn Johannes Scheffler (Angelus Silesius) übersetzte das Gebet (siehe Anhang) kurz nach seiner Konversion zum Katholizismus i m Jahre 1655. Die vielen englischen Übersetzungen des Gebets, die in dem spezifisch anglo-katholischen Umfeld des 19. Jahrhunderts gemacht wurden, brachten eine Wende in der Geschichte des Gebets, denn es wurde erneut zum Prüfstein der Unterschiede zwischen Katholizismus und Protestantismus, und so gewann es seinen ursprünglichen eucharistischen Charakter wieder. 5 5
53 Balthasar Fischer, »Das Anima Christi als Kurzformel des christlichen Glaubens. E i n Zeugnis John Henry Newmans aus seinem Todesjahr 1890)«, Trierer Theologische Zeit-
schrift, 99 (1990), 236-239. 54 John Shelton Reed, Glorious Battie, The Cultural Politics of Victorian Anglo-Catholicism (Nashville 1996), 6 8 - 7 2 , »The Real Presence«. 55
Die protestantische Rezeption des Gebets fällt vergleichsweise eher mager aus. Als Heinrich Schütz von Dresden aus das Gebet i m Jahre 1639 für den dänischen Prinzen Friedrich I I I . als Teil seiner »Kleinen Geistlichen Konzerte II« (SWV 306-337, siehe Anhang) nicht nur übersetzte, sondern auch vertonte, wurde es vollkommen aus einer liturgischen Zusammenhang herausgerissen. Als Hofkapellmeister bei Herzog Christian Albrecht von Schleswig-Holstein-Gottorf in den Jahren 1673 bis 1675 hat Johann Theile das Gebet als Kantate auch vertont. Sowohl Lutheraner wie Mitglieder der Herrnhuter Brüdergemeine haben die H y m n e in Schütz' Übersetzung gesungen. Einer der bekanntesten protestantischen Komponisten von Kirchenliedern, der Engländer John Wesley, hörte die deutsche H y m n e bei einer Schiffsüberfahrt 1735 nach Savannah (Georgia). Er hat sich einer Gruppe der Herrnhuter Brüdergemeine angeschlossen und wurde während der Fahrt mit vielen deutschen H y m n e n vertraut, einschließlich »Die Seele Christi, heil'ge
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Kann man sagen, dass das Gebet heutzutage in Vergessenheit geraten ist? Die A n t w o r t ist nein, sagt aber sehr viel über die Modalitäten des kulturellen Gedächtnisses aus. Viele, die die Hymne »Soul of m y Saviour« singen, wissen zweifelsohne u m die lange Geschichte des Gebets nicht. Dennoch lebt das Anima Christi in dieser musikalischen Form weiter, wie es bereits in den Vertonungen von Gaspar van Weerbeke, Johann Melchior Gletle, Heinrich Schütz, Johann Theile, Jean-Baptiste L u l l y oder Franz Liszt - und sogar in einer K o m position des zeitgenössischen Oxforder Philosophie-Professors Henry H a r d y 5 6 - musikalisch weiter tradiert wurde, oder wie es am Anfang i n Spanien Verwendung als politisch-theologische Inschrift fand, oder auch in einem abstrakten Tempera-Bild aus dem Jahre 1921 von Lothar Schreyer, Mitglied des Bauhaus, als neuzeitliches Conundrum mit geometrisch gestalteten Buchstaben vork o m m t . 5 7 . Die Fragmentierung des kulturellen Gedächtnisses und der Verlust des historischen Bewußtseins in der Medienkultur der modernen Zeit haben sicherlich auch einiges dazu beitragen. Allerdings hat das Anima Christi nicht mehr den gleichen Stellenwert wie das Pater Noster und das Ave Maria , die übersetzt wurden und in allen Volkssprachen gebetet werden. Der Verlust des Lateinischen als Liturgiesprache kann diesen verminderten Status kaum erklären, denn das Gebet wurde bereits Mitte des 14. Jahrhunderts übersetzt und verbreitet. Die Geschichte seiner Rezeption ist auch die Geschichte seiner vielen Übersetzungen. Die A n t w o r t liegt w o h l darin, dass ökumenische Bestrebungen seit dem Ende des 2. Weltkriegs größten Wert auf Gemeinsamkeiten zwischen den christlichen Kirchen legen. Die Eucharistielehre und das damit verbundene Interesse an den Sakramenten sind seit der Reformation bekanntlich die Streitpunkte, über die Kompromisse zwischen den Kirchen unerreichbar sind. Da das Anima Christi historisch mit der Eucharistielehre äußerst eng verbunden ist, ist es klar, dass dieses literarische Werk der Ökumene wegen in den Hintergrund gedrängt wird. Dies ist sehr zu bedauern: immerhin ist die Eucharistie in der westlichen Kultur sowohl für Katholiken wie auch für Protestanten auch eine der wichtigsten Gedächtnisfeiern schlechthin, denn,
mich«, die er ins Englische als »Jesu, T h y soul renew my own« übersetzte. Wesleys Übersetzung und Vertongung wurden dennoch durch Entwicklungen in Folge der katholischen Emanzipation in Großbritannien 1829 i n den Schatten gestellt. Siehe Henry Bett, Hymns
of Methodism in their Literary Relations , An Analysis of Literary and Theological Influences in the Hymns of John and Charles Wesley (London 1913); and G.W. Taylor, John Wesley and the Anglo-Catholic Revival (London 1905). Die evangelische Debatte über Schefflers Werk nahm i m 18. Jahrhundert eine neue Wende (siehe Anhang). 56
Henry Hardy, The Muse Remembered , The Complete Musical Works of Henry Har-
dy , C D von N y m e t Music, Devon. Hardy ist der Herausgeber der Werke von Sir Isaiah Berlin. 57 Das Bild hängt i m Los Angeles County Museum of A r t , und w i r d auf folgender Webseite nachgebildet: http: / / www.insecula.com / oeuvre / 00029168.html.
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Das Gebet Anima Christi w i e Jesus es selbst b e i m l e t z t e n A b e n d m a h l f o r m u l i e r t e : Hoc facite
in
meam
commemorationem.
Anhang London (Southwark), Southwark Cathedral Book of Hours, w o h l
in Avignon zwischen
1350-1380 kopiert: 5 8 Biaux sire dieux le tous paríais Grace uous rens de uos bienfaits, Mercy uous cri de mes meffais. Arne de jhesu crist sauue moy. Corps de ihesu crist sanctifie moy. Sang de ihesu crist enyure moy. Yaue qui issi du coste dieu laue moy. Passion de ihesu crist conforte moy. Et bon ihesu essauce moy. Et ne me seuffre pas estire sepaire toy. D u malin esprit deffent moy. A leure de la mort appelle moy Et me mest de coste toy. Si que auec les anges ie te loe En siecle des siecles. N B : Der Verbleib dieser Handschrift ist unbekannt. Die Beschreibung aus dem Jahre 1923 (siehe Anmerkung Nr. 1) ist einzige Nachweis dieser Handschrift. Näheres ist nicht bekannt, denn die katholische Kathedrale von Southwark besitzt heutzutage keine Bibliothek.
Verona, Biblioteca Capitolare (Cattedrale di Verona), nr. 750 (405), 14. Jh.59 Ave aneme de cristo salvame Anema de crista sanctificame Corporo de cristo ibriame Aqua loladi de cristo lavame Pasiuo de cristo confórtame Bon Yesu esoldime Enome lagar partidati Dalonemigo defendime I n lora delmamorte clamame E ponime a preso deti Acio che cum lito agnoli laúdete I n sempiterna saecula 58 Louis Gougaud, » U n très ancien texte français de Y Anima Christi«, La vie et les arts liturgiques, 1 (1923), 162-65, hier 163-64; siehe auch: Piet Schepens, »Pour l'histoire de la prière Anima Christi«, Nouvelle Revue théologique, 62 (1935), 699-710. D o r t ist der Text von Gougaud an S. 710 nachgedruckt. 59
Dreves, a. a. O., S. 495 - 96
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Heinrich Schütz, Kleine geistliche Konzerte II, (1639) (SWV 325) Die Seele Christi heilige mich, der Leichnam Christi speise mich, das Blut Christi trance mich, das Wasser, das aus seiner Seite floß, wasche mich, sein bitter Leiden und Sterben stärke mich, o lieber Herr Jesu, eröre mich. I n deine heiligen Wunden verbirg mich, o lieber Herr Jesu, erhäre mich. Laß mich nimmermehr von dir geschieden werden, O o lieber Herr Jesu, erhöre mich. Vor D e m bösen Feind bewahre mich, o liber Herr Jesu, erhöre mich. I n meiner letzten Stunde rufe mir, daß ich möge kommen zu dir und mit allen Auserwählten dich loben und preisen ewiglich, o lieber Herr Jesu, erhöre m i c h . 6 0
Johann Theile, Kantaten für Schloß Gottorf (1673-75)61 Die Seile Christi heilige mich, der Leichnam Christi erhalte mich, das Blut Christi tränke mich, das Wass, das aus seiner Seite floß, wasche mich, O gütiger Jesu erhöre mich. I n deine heiligen fünf Wunden verbirge mich, in der Stunde meines Todes begnade mich und setze mich zu dir, auf daß ich samt deinen heiligen Engeln und Auserwählten dich loben möge ewiglich. Amen.
Angelus Silesius /Johannes Scheffler Die Seele Christi heiige mich, Sein Geist verzücke [Variant: versetze] mich in sich, Sein Leichnam, der für mich verwundt, Der mach mir Leib und Seel gesund. Das Wasser, welches auf den Stoß Des Speers aus seiner Seiten floss, Das sei mein Bad, und all sein Blut Erquicke mir Herz, Sinn und M u t . Der Schweiß von seinem Angesicht Lass mich nicht kommen ins Gericht, Sein ganzes Leiden, Kreuz und Pein, Das wolle meine Stärke sein. O Jesu Christ, erhöre mich, N i m m und verbirg mich ganz in dich, Schließ mich in deine Wunden ein, Dass ich vorm Feind kann sicher sein. Ruf mich in meiner letzten N o t , U n d setz mich neben dich, mein Gott, Dass ich mit deinen Heilgen all'n M ö g ewiglich dein Lob erschall'n.
60
Abgedruckt i m Begleittext (S. 12) zu der von der International Heinrich-SchützGesellschaft herausgegebenen C D : Heinrich Schütz, Kleine geistliche Konzerte, 1996, Cantate Standards C 57605. 61 Abgedruckt i m Begleittext (S. 8) zur C D : Johann Theile, Kantaten und Instrumentalwerke für Schloß Gottorf Hamburger Ratsmusik, Simone Eckert, Christopherus C H R 77245.
Das Gebet Anima Christi
81
Quelle: Gedruckt in: Angelus Silesius, Sämtliche poetische Werke, Bd. 2: Jugend und Gelegenheitsgedichte.,
Heilige Seelenlust, hg. Hans Ludwig Held (München 1924), S. 116;
und Angelus Silesius, »Heilige Seelust«, Nr. 53 in: Sämtliche poetische Werke, hg. D . A . Rosenthal. (Regensburg 1862), Bd. I, S. 106. Siehe: A . F . W . Fischer, »Die Seele Christi heiige mich« in: Kirchenliederlexikon
(Nachdruck: Hildesheim 1967), Bd. I, S. 128; und
Walther Eisinger, »Scheffler, Johann (Johannes Angelus Silesius« in: Komponisten und Liederdichter des Evangelischen Gesangbuchs, (Hg.) Wolfgang Herbst (Göttingen 1999), Bd. 2, S. 270-72. Scheffels Ubersetzung ist Hymne Nr. 80 in Geistreiches Gesang-Buch: den Kern alter und neuer Lieder in sich haltend, hg. Johann Anastasius Freylinghausen (Halle 1704). Diese Version wurde ebenfalls für Orgel von Johann Christoph Oley (1738-1789) für Orgel vertont.
Die evangelische Auseinandersetzung mit Scheffels Werk im 18. Jahrhundert: Johann Caspar Wetzel berichtet 1721 von der innerkirchlichen Auseinandersetzung um Scheffler: »es ist zwar nicht zu leugnen / daß auch einige Spuren des Pabstthums in Angeli Liedern gefunden werden ( . . . ) allein das hindert einen andächtigen Lutheraner an der Erbauung nichts. ( . . . ) und wer den Geist GOttes hat, der prüfe und koste es selbst.« 62 Er ergänzt seine Beobachtungen zum Gebet i m letzten Band seiner I I I : 423-424: »[Zum Gebet ist] noch dieses anzumercken ( . . .[dass]) der selige Herr Wiegleb aber daraus ein Gespräch-Lied einer glaubigen Seele mit Christo gemacht habe«. v. 1 Seele Die Seele Christi heiige mich v. 1 Christus J a / S e e l e / j a / i c h heiige d i c h / M e i n Geist versetzet dich in mich / schau / wie mein Leichnam ist verwundt / der macht dir Leib und Seele gesund. v.2 Seele Das Wasser, welches auf den Stoß etc. v. 2 Christus Das Wasser, welches auf den Stoß des Speers aus meiner Seiten floß / das ist dein Bad / und all mein Blut / erquicket dir Hertz, Sinn und M u t h v. 3 Seele Der Schweiß von seinem Angesicht etc. v. 3 Christus Der Schweiß von meinem Angesicht läßt dich nicht kommen ins Gericht / mein gantzes Leiden / Creutz und Pein / soll / Seele / dir zur Stärckung seyn. v. 4 Seele O JEsu Christ, erhöre mich etc. v. 4 Christus Fleuch nur 7 du blödes Täubelein / in meiner Wunden sichern Schrein / hier lebest du in sanffter Still / trotz allem / was dir schaden will.
62
Johann Caspar Wetzel, Hymnopoeographia oder Historische Lebens-Beschreibung der berühmtesten Lieder-Dichter (Herrnstadt, 1719-1724), 3. Bd.; Zitat, I, 60.
82
Earl Jeffrey Richards v. 5 Seele
ruff mir in meiner letzen N o t h etc. v. 5 Christus Sey nur getreu bis in den Tod / ich w i l l dich reissen aus der N o t h / du sol[s]t dich dich setzen neben mich / und herrschen mit mir ewiglich. I m Jahre 1755 erschien ein anonymer Aufsatz »Altes aus dem fünfzehnten Jahrhundert, I: Anmerkungen über das Lied: Die Seeles Christi heiige mich etc.«, in der ersten deutschsprachigen theologischen Zeitschrift Beyträge von alten und neuen theologischen Sachen (die Fortsetzung von Unschuldige Nachrichten von alten und neuen theologischen Sachen), S. 703-710. Der Verfasser 63 verurteilt den Mißbrauch des Gebets: »Es haben demnach [1459] viele i m blinden Pabstthum aus dem Gebet nicht allein ein Opus operatum gemacht / sondern / wie ich mit hundert Exempeln aus meinen übrigen alten MSS bezeigen kan / solchem auch eine magische Kraft beygemeßen / und damit abscheulichen Aberglauben / ja ich darf sagen / Zauberey getrieben« (708).
Lancelot Andrewes Soul of Christ Body
hallow strengthen
Blood
wash
Stripes Sweat Wound
heal refresh hide
m e
i
The Anima Christi of St. Elizabeth Ann Seton (Elizabeth Seton's Prayerbook) Geschrieben an Fronleichnam, 1816 Soul of Jesus sanctify me Blood of Jesus wash me Passion of Jesus comfort me Wounds of Jesus hide me Heart of Jesus receive me Spirit of Jesus enliven me Goodness of Jesus pardon me Beauty of Jesus draw me H u m i l i t y of Jesus humble me Peace of Jesus pacify me Love of Jesus inflame me Kingdom of Jesus come to me Grace of Jesus replenish me 63
Der Verfasser ist wahrscheinlich David Gottfried Schöber, der mehrere Aufsätze zur Hymnologie in dieser Zeitschrift schrieb, siehe Stefan Michel, in »SCHÖBER, David Gottfried«, Bautz Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, http: / / www.bautz.de / bbkl / s / sl / schoeber_d_g.shtml. 64 The Preces Privatae of Lancelot Andrewes, Bishop of Winchester, Brightman (London 1903), 95.
hg. Frank Edward
Das Gebet Anima Christi
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Mercy of Jesus pity me Sanctity of Jesus sanctify me Purity of Jesus purify me Cross of Jesus support me Nails of Jesus hold me M o u t h of Jesus bless me i n life, in death - in time and Eternity in the hour of Death defend Me, call me to come to thee, receive me w i t h thy Saints in glory everlasting Quelle: Regina Bechtle und Judith Metz, Elizabeth
Bayley Seton Collected Writings , hg.
Ellin M . Kelly ( N e w York, 2000-2006), 3 Bd.; Bd. 3, 71.
Übersetzungen nach der katholischen Emanzipation in Großbritannien: Quelle: James Mearns, »Anima Christi« in: A Dictionary
of Hymnology , hg. John Julian
(London, 1892), 70. 1849: Soul of Jesus, once for me, M . Bridges, Hymns of the Heart , 1848; Nachdruck: Shipley, Divine Liturgy , 1862; Lyra Ecucharistica, , 1863,173; 1855: »Soul of Jesus, make me holy,« anonyme Übersetzung in der Zeitschrift Old Porch ( A p r i l 1855), mehrfach nachgedruckt. 1867: Soul of Jesus make me pure, J. W. Chadwick, People's Hymns , 1867, N o . 558. 1869: Soul of Christ, sanctify me, Treasury
of Devotion (röm-kath.), 1869, 6.
1872: Soul of Jesus, my soul make pure, E. A . Dayman, Hymnary ; 1872, N o . 443. 1875: John Henry Cardinal Newman, zunächst anonym veröffentlicht in Hymns for the Use of the Birmingham
Oratory , 1875. 65
Soul of Christ, be my sanctification; Body of Christ, be my salvation; Blood of Christ, fill all my veins: Water of Christ's side, wash out my stains; Passion of Chirst, my comfort be; O good Jesu, listen to me: I n T h y wounds I fain w o u l d hide, Ne'er to be parted from T h y side; Guard me, should the foe assail me; Call me when m y life shall fail me: Bid me come to Thee above W i t h the saints to sing T h y love, World without end. Amen. 1876: Shipley, Divine Liturgy, 4 t h ed. (anglikanisch), 1876,1 65 Zitiert bei Herbert Thurston, »Notes on Familiar Prayers: V I I . The Anima Christi«, The Month , 125 (1915), 493-505, hier 495; nachgedruckt in: Herbert Thurston, Familiar Prayers, Their Origin and History (London 1953), 3 8 - 5 3 , dort 41. Siehe auch Balthasar Fischer, a. a. O. (1990), 237.
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Earl Jeffrey Richards
1877: T. I. Ball: Sanctify me wholly, Soul of Christ adored; Be my sure Salvation, Body of the Lord: F i l l and satisfy me, O T h o u Blood unpriced: Wash me, Sacred Water, from the side of Christ. Passion of my Saviour, be my strength in need: Good and gracious Jesus, to my prayer give heed: I n T h y Wounds most precious let me refuge find: A l l the power malignant of the foeman bind: A t deaths final hour, call me to T h y face: Bid me stand beside Thee in the heavenly place: There w i t h Saints and Angels I shall sing to Thee Through the countless ages of eternity. 1882, anonyme Übersetzung, vertont von Mäher, S.J. und heute abgedruckt in: New English Hymnal
(Anglican), H y m n Nr. 322: »Soul of my Saviour«
Soul of my Saviour sanctify my breast, Body of Christ, be thou my saving guest, Blood of my Saviour, bathe me in thy tide, Wash me w i t h waters gushing from thy side. Strength and protection may thy passion be, O blessed Jesus, hear and answer me; Deep in thy wounds, Lord, hide and shelter me, so shall I never, never part from thee. Guard and defend me from the foe malign, I n death's dread moments make me only thine; Call me and bid me come to thee on high Where I may praise thee w i t h thy saints for ay.
Omnia vincit Amor« 1 : Boccaccios Decameron i m Zeichen hybrider Sinnlichkeit Von Rainer Zaiser
Der vierte Erzähltag von Boccaccios Decameron zeichnet sich durch einen außergewöhnlichen Auftakt aus. Wie zu Beginn des ersten Tages meldet sich dort der Erzähler der Rahmenhandlung mit einer Anrede an sein Lesepublikum zu Wort, das er explizit mit der Apostrophe »graziosissime donne« (I, 13) bzw. »Carissime donne« (IV, 459) 2 als ein weibliches und gleichsam auch höfisch sittsames bestimmt. Während der Erzähler in seiner Einleitung zum ersten Tag berichtet, wie sieben junge Frauen und drei junge Männer das von der Pest heimgesuchte Florenz des Jahres 1348 auf unbestimmte Zeit verlassen, u m nicht nur dem Tod, sondern auch den unter ihren Zeitgenossen umgreifenden »disonesti essempli« (I, 35) zu entfliehen, scheint er zu Beginn des vierten Tages mit dem Anspruch des »onestamente andare« (I, 36) der »lieta brigata« (I, 45) in einen gewissen Erzählhinterhalt gelangt zu sein. Die zehn jungen Leute verhalten sich an ihrem idyllischen und von den Keimen der Epidemie geschützten O r t in den Hügeln vor Florenz zwar recht schicklich, und die »tre giovani« verdingen sich auch abends »alle lor camere, da quelle delle donne separate« (I, 46), aber sie erzählen sich in den müßigen Stunden der Nachmittagshitze zur Ergötzung Geschichten, die immer wieder die moralischen Grundsätze überschreiten, zu deren Anwalt sie sich selbst in ihrem Leben machen. 3 I m Hinblick auf die Geschichten, die die jungen Leute zum Besten geben, kommt der Erzähler des Rahmens deshalb schon sehr bald in einen moralischen Rechtfertigungszwang, den er zum ersten Mal in der Einleitung zum vierten Tag thematisiert. D o r t glaubt er, seinen Leserinnen, den »discrete« und »valo1
Vergil, Bucolica, 10, v. 69.
2
Ich zitiere i m folgenden unter Angabe des Erzähltags in römischen Ziffern das Werk nach der Ausgabe Giovanni Boccaccio, Decameron. A cura di Vittore Branca, Nuova U n i versale Einaudi (Torino 1980), 169. 3 Inwieweit gerade die das Lachen provozierenden unschicklichen Geschichten zu einer moralischen Reinigung des Menschen beitragen wollen, hat Béatrice Jakobs in ihrer Dis-
sertation Rhetorik des Lachens und Diätetik in Boccaccios Decameron, Schriften zur Literaturwissenschaft 28 (Berlin 2006) nachgewiesen.
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Rainer Zaiser
rose donne« (IV, 461), eine Erklärung für den Inhalt der bereits erzählten Novellen schuldig zu sein, die ihn anscheinend bei anderen, i h m weniger w o h l gesonnenen Zeitgenossen i n tiefen Misskredit gebracht haben. Von seinen N e i dern sieht er sich nämlich dem Vorwurf ausgesetzt, er wolle mit der Verbreitung der Novellen nicht nur den Frauen gefallen, sondern auch seinem libidinösen Begehren freien Lauf lassen, und dies sei für sein Alter alles andere als eine »onesta cosa« (IV, 460), zumal die Geschichten nicht unter den hohen Auspizien der Musen des Parnaß entstanden seien, sondern immer wieder i n die niederen Töne der »ciance« und »frasche« (IV, 461), der Späße und Schrullen, abgleiten würden. Diese herabwürdigende Einschätzung durch seine Kritiker w i l l der Erzähler allerdings nicht widerspruchslos auf sich sitzen lassen, glaubt er doch selbst, dass die Erzählungen der »bella compagnia« (I, 42) »in istilo umilissimo e rimesso quanto i l piü si possono« (IV, 460) gehalten seien. Damit ist nun i n der Tat nicht der erhabene Stil der Musendichtung gemeint, der i n der Antike den sublimen Gattungen des Epos und der Tragödie vorbehalten war. Gemeint ist mit den Attributen des »umile e rimesso« aber auch nicht der burleske Stil, der dem Erzähler von seinen Kritikern zum Vorwurf gemacht wurde. I n dem berühmten Brief an Can Grande della Scala hat bereits Dante diese beiden Begriffe zur Kennzeichnung der Sprache seiner Commedia
be-
nutzt und sie dort als »locutio vulgaris i n qua et muliercule comunicant« definiert. 4 Dante nimmt folglich mit dem »modo loquendi« des »humilis et remissus« zunächst nur eine Abgrenzung vom Gebrauch des Lateins als Dichtungssprache vor und profiliert damit sein »poema sacro« als ein Werk jener Sprache, derer sich auch die Frauen bedienen können, nämlich des »volgare«. Lassen w i r einmal die geschlechterspezifische Problematik, die i n dieser Definition angelegt ist, außer acht und halten w i r fest, dass i n Dantes Verwendung der Begriffe »umile e rimesso« noch keine Aussage über die Stilhöhe impliziert ist. Die diesbezügliche Zuordnung trifft er definitiv erst mit der Bezeichnung seines Werkes als Komödie. Dieser Gattungsbezug öffnet das »poema sacro« mit seinem hehren, göttlichen Ziel auch auf die Sphären der niederen, allzu menschlichen und alltäglichen Erscheinungsformen der Schöpfung. 5 U n d genau u m die Dar-
4
Cf. die »Epistola tredicesima«, in: Opere minori di Dante Alighieri , Volume secondö:
Ii convivio, a cura di Fredi Chiappelli et Enrico Fenzi, Epistole, a cura di Angelo Jacomuzzi, Monarchia e Questio de aqua et terra y a cura di Pio Gaia (Torino 1986), 438-469, 450 ( X I I I , 10). 5 Cf. zum Alltagsrealismus der Divina Commedia vor allem die Studien von Erich Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt (Berlin / Leipzig 1929) und »Farinata und Caval-
cante«, in: Erich Auerbach, Mimesis: Dargestellte Wirklichkeit
in der abendländischen Lite-
ratur, 8. Aufl. (Bern /Stuttgart 1988), 167-194 sowie Andreas Kablitz, »Die Zeichen des Alltags und die Zeichen der Hölle: Dantes Inferno und der mittelalterliche >RealismusEra il giorno ch'al sol si scoloraro per la pietä del suo factore i rai< - Z u m Verständnis von Sinnstruktur und poetischem Verfahren in Petrarcas Can-
zoniere«, Romanistisches Jahrbuch, 39 (1988), 45-72. 14
Katharina Münchberg leitet aus den Legitimationsstrategien von Ghismonda geradezu ein »Weltmodell der Singularität« ab, das der Erzählwirklichkeit des Decameron ganz allgemein zugrundegelegt sei und dem Individuum zumindest in der Fiktion die Möglichkeit einräume, sich in einer kontingent begriffenen Welt frei zu entwerfen. Cf. ihren Beitrag »Singularität in Boccaccios Decameron: Überlegungen zum Verhältnis von literarischem Realismus und nominalistischem Weltmodell i m 14. Jahrhundert«, Poetica, 36 (2004), Heft 3 - 4 , 313-342, hierzu vor allem 316-328.
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»nobile« werde. Geadelt sind damit nicht jene, die durch einen willkürlichen A k t Fortunas in den entsprechenden sozialen Stand erhoben werden, sondern jene, die über die gesellschaftlichen Grenzen hinweg ihre natürlichen Dispositionen unter das Leitprinzip der tugendhaften Integrität stellen: »[la fortuna] assai sovente Ii non degni ad alto leva, abbasso lasciando i dignissimi.« Das beste Beispiel hierfür sei der »giovane valletto«, zu dem Ghismonda in Liebe entflammt ist: »Guiscardo, uom di nazione [nascita] assai umile ma per virtü e per costumi nobile« (IV, 472). Ghismondas Vater zeigt sich von den Worten seiner Tochter zwar beeindruckt, aber nicht so berührt, dass er von ihrer Unschuld überzeugt gewesen wäre. I n derselben Nacht lässt er Guiscardo noch töten, sein Herz aus dem Leib herausschneiden und dieses in einer goldenen Schale seiner Tochter überbringen. Die Unversöhnlichkeit ihres Vaters vorausahnend hatte sich Ghismonda aber bereits zuvor einen Sud aus giftigen Gräsern bereitet, beträufelt damit nun das Herz ihres toten Geliebten und trinkt daraufhin die Schale mit der Flüssigkeit leer. M i t der Schale und dem Herz in den Armen und so mit ihrem Geliebten vereint, legt sie sich nieder und wartet auf ihren Tod. Der Vater, erschüttert aufgrund seiner eigenen Grausamkeit, lässt die beiden Toten in einem gemeinsamen Grab beerdigen. Die Grausamkeit, die Tancredi den beiden Liebenden widerfahren lässt, ist jedoch noch zu steigern. Das Ende der Geschichte von Ghismonda und Guiscardo verweist auf das unglückliche Schicksal eines anderen Liebespaares des Decameron, von dem die neunte Novelle des vierten Tages handelt. D o r t erzählt Filostrato die Geschichte der provenzalischen Edelleute Guiglielmo Rossiglione und Guiglielmo Guardastagno, die in ritterlicher Freundschaft miteinander verbunden sind, bis sich eines Tages Guardastagno in die Frau seines Freundes verliebt und diese seine Liebe erwidert. Rossiglione entdeckt sehr bald diese Beziehung und hegt einen ähnlich teuflischen Plan aus wie Tancredi. Er lauert Guardastagno auf, tötet ihn mit einer Lanze und schneidet ihm eigenhändig das Herz aus der Brust heraus. I m Gegensatz zu Tancredi lässt er dieses Herz seiner Gemahlin nicht nur überbringen, sondern darüber hinaus noch von seinem Koch als Mahl vorbereiten, das seine Frau dann unwissentlich verzehrt. Erst nach dem Abendessen lüftet Rossiglione das Geheimnis u m die Herkunft der Speise. Seine Frau bricht in tiefen Schmerz aus, gelobt, dass sie nach einer »cosi nobil vivanda« (IV, 568) keine andere Speise mehr genießen werde, und stürzt sich daraufhin in den Tod. Auch dieses Liebespaar findet in einem gemeinsamen Grab seine ewige Ruhe. M i t der Geschichte vom toten Herzen, das dem Liebhaber entnommen w i r d und der Geliebten überbracht oder sogar zum Mahle gereicht wird, greift nun Boccaccio einen Stoff auf, der zur Zeit, in der die Novellen des Decameron entstanden sind, bereits zur Legende geworden war. Die bekanntesten voraus-
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gegangenen Texte sind die poetische Vita des provenzalischen Troubadours Guillem de Cabestaing (Ende 12. Jhdt.), dessen Name von Boccaccio zu Guiglielmo Guardastagno italianisiert wurde, und der altfranzösische Roman du Chatelain
de Coucy et de la dame de Fayel (Ende 13./Anfang 14. Jhdt.). 1 5
Das Interessante an dieser Legende besteht darin, dass sie eine allegorische Lesart zulässt, die das Mahl des Herzens auf der übertragenen Ebene nicht nur als sinnlich erotische Vereinigung der Liebenden erscheinen lässt, sondern auch als mystische Vereinigung mit dem Göttlichen. Kein Geringerer als Dante Alighieri lässt sich als Bürge für diese Zeichenauslegung zitieren. I m dritten »Capitolo« seiner Vita nuova (1292/93) berichtet der sich an seine Jugend erinnernde Erzähler von einem Traum, i n dem i h m jene »mirabile donna [ . . . ] della beatitudine« erschien, die ihn am selben Tag und schon einmal neun Jahre zuvor mit ihrem A n b l i c k überwältigt hatte: E pensando a lei, m i sopragiunse uno soave sonno, ne lo quäle m'apparve una meravigliosa visione: che me parea vedere ne la mia camera una nebula di colore di fuoco, dentro a la quäle io discerna una figura d'uno segnore di pauroso aspetto a chi la guardasse; e pareami con tanta letizia, quanto a se, che mirabile cosa era; e ne le sue parole dicea molte cose, le quali io non intendea se non poche; tra le quali intendea queste: »Ego dominus tuus«. N e le sue braccia m i parea vedere una persona dormire nuda, salvo che involta mi parea in uno drappo sanguigno leggeramente; la quäle io riguardando molto intentivamente, conobbi ch'era la donna de la salute, la quäle m'avea lo giorno dinanzi degnato di salutare. E ne l'una de le mani m i parea che questi tenesse una cosa la quäle ardesse tutta, e pareami che m i dicesse queste parole: »Vide cor tuum.« E quando elli era stato alquanto, pareami che disvegliasse questa che dormia, e tanto si sforzava per suo ingegno, che le facea mangiare questa cosa che in mano Ii ardea, la quäle ella mangiava dubitosamente. Appresso ciö poco dimorava che la sua letizia convertia in amarissimo pianto; e cosi piangendo, si ricogliea questa donna ne le sue braccia, e con essa m i parea che si ne gisse verso lo cielo [ . . . ] 1 6
Die doppeldeutige Symbolik dieser Textstelle ist evident. Die i m Traum wahrgenommene Erscheinungsvision des »segnore di pauroso aspetto« erinnert zunächst ohne Zweifel an die Offenbarungsweisen Gottes i m A l t e n Testament. Als bekannteste Beispiele hierfür lassen sich die Erscheinung Gottes i m brennenden Dornbusch vor Moses auf dem Berg Horeb (Exodus 3, 2) sowie seine Offenbarung der Zehn Gebote zitieren, die i n Exodus 19, 1 6 - 1 8 mit den folgenden Sätzen eingeleitet wird: » A m dritten Tag, i m Morgengrauen, begann es zu donnern und zu blitzen. Schwere Wolken lagen über dem Berg [ . . . ] Der ganze Sinai war i n Rauch gehüllt, denn der Herr war i m Feuer auf ihn herab15
Cf. die »Introduction«, in: Le roman du Châtelain de Coucy et de la dame de Fayel
par Jakemes. Traduit par A . Petit et F. Suard (Laferté-Milon 1986), 9 - 1 9 . 16
Opere minori di Dante Alighieri, volume primo: Vita nuova, De vulgari eloquentia,
Rime Ecloge, a cura di Giorgio Bârbari Squarotti, Sergio Cecchin, Angelo Jacomuzzi, Maria Gabriella Stassi (Torino 1983), 7 3 - 7 4 .
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gestiegen.« Auch die gebieterischen Worte des »segnore« in Dantes Traumvision - »Ego dominus tuus« - wecken Reminiszenzen an den kategorischen Imperativ, mit dem der alttestamentarische Gott seine Gebote verkündet: » [ . . . ] ich, der Herr, dein Gott [ . . . ] D u sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht mißbrauchen [ . . . ] « . U n d schließlich hält Dantes »segnore« noch eine »persona [ . . . ] nuda« i n den Armen, die in »uno drappo sanguigno« gehüllt ist und damit unmittelbar das Bild des gekreuzigten Christus evoziert, der in das Himmelreich seines Vaters aufgestiegen ist. A u f der anderen Seite erkennt Dantes Erzähler in dieser Person aber auch jene »donna de la salute«, der er am selben Tag schon in Wirklichkeit begegnet war und die er als seine M i n nedame auserkoren hatte. Daraufhin w i r d er zum Zeugen, wie der »segnore« ein entflammtes Herz in die Hand nimmt, dieses als das Herz des Erzählers identifiziert, die Dame auffordert, es zu verspeisen, und mit ihr zusammen in den H i m m e l emporschwebt. Ohne weiteres lässt sich somit der »segnore« des Traumes auch als Sinnfigur Amors entschlüsseln, und das brennende, von der Dame verzehrte Herz w i r d als Allegorie der Liebe lesbar. Dante lässt allerdings die Symbolik der Allegorie nicht in der Schwebe. Die Liebe steht bei ihm nicht i m Zeichen des Sinnlichen, sondern des Göttlichen. M i t der Himmelfahrt Amors und der Dame w i r d eindeutig signalisiert, dass die Liebe in der Erzählprosa der Vita nuova als eine »amor Dei« konnotiert ist. Diese Priorität des Göttlichen gegenüber dem Sinnlichen ist in der Semantik der Liebesallegorie i n Boccaccios Novelle dagegen nicht mehr gegeben. Als Rossiglione seiner Frau eröffnet, dass sie vom Herzen ihres Liebhabers gegessen habe, bekräftigt diese vor allem noch einmal den A k t ihrer körperlichen Hingabe an Guardastagno und betont dabei, dass sie den Ehebruch aus freien Stücken vollzogen habe: » [ . . . ] io, non sforzandomi egli, l'avea del mio amor fatto signore [ . . . ] « (IV, 568). M i t derselben Bestimmtheit entscheidet sie sich daraufhin für den Freitod, und zwar mehr aufgrund des unwiderbringlichen Verlustes der sinnlichen Liebesfreuden, die ihr nunmehr durch den Tod des Liebhabers genommen sind, als i n der Hoffnung auf eine übersinnliche Vereinigung mit ihm i m Reich Gottes. »Ma unque a D i o non piaccia che sopra a cosi nobil vivanda, come e stata quella del cuore d'un cosi valoroso e cosi cortese cavaliere [ . . . ] mai altra vivanda non vada!« (IV, 568), mit diesem Bekenntnis stürzt sie sich aus dem Fenster, ein Bekenntnis, in dem das Zitat Gottes nur noch als eine Formel erscheint und das auf das Herz verweisende Bild der edlen Speise i m Eingedenk an die Liebe i m wahrsten Sinne des Wortes auf den A k t des sinnlichen Genusses bezogen bleibt. Dennoch schreibt Boccaccio i n diese Liebessymbolik letztlich auch die christlich allegorische Lesart ein, und sei dies auch nur in der Tatsache begründet, dass er die Novelle als neunte i n der Reihenfolge der Erzählungen platziert, an deren Anfang bereits eine Geschichte mit derselben Symbolik steht. Auch hier
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lässt sich wiederum eine Stelle aus Dantes Vita nuova als Quelle für eine Sinnauslegung zitieren, die in der mittelalterlichen Hermeneutik zur gängigen Praxis gehörte. N i c h t nur, dass Dante in diesem Text die Zahl neun als zeitliches Strukturierungsprinzip seiner Geschichte verwendet und dabei in den Zusammenhang mit dem Auftreten von Beatrice stellt, sondern er liefert i m 29. Kapitel des Werkes gleichsam auch den Schlüssel für die Bedeutung dieses Zahlenspiels: Dunque se lo tre e fattore per se medesimo del nove, e lo fattore per se medesimo de Ii miracoli e tre, cioe Padre e Figli e Spirito Santo, Ii quali sono tre e uno, questa donna fue acccompagnata da questo numero del nove a dare ad intendere ch'ella era nove, cioe uno miracolo, la cui radice, cioe del miracolo, e solamente la mirabile Trinitade. 1 7
Aus diesem Zitat geht deutlich der sakrale Wert hervor, den Dante, wie die mittelalterliche Textexegese ganz allgemein, der Zahl neun und vor allem ihrem Teiler drei zuweist. I m Falle von Boccaccios neunter Novelle des vierten Erzähltags sprechen sowohl die intertextuellen Verweise auf Dantes Vita nuova als auch jene auf die Motivgeschichte des verspeisten Herzens für die These, dass die numerische Anordnung dieser Erzählung bewusst i m Hinblick auf die sakrale Bedeutung der Zahl neun kalkuliert ist, auch wenn diese Sinnauslegung i m Kontext der bereits hervorgehobenen sinnlich körperlichen Konnotierungen der Liebe wieder konterkariert wird. Als Zwischenergebnis lässt sich somit festhalten, dass die beiden bislang betrachteten Novellen eine Erzählstrategie entfalten, die darauf ausgerichtet ist, die Liebessemantik des Decameron in einer hybriden Sinnstruktur aufzulösen. Die aufgerufenen Liebeskonzepte erfahren keine Bewertung, die eine Prioritätensetzung erkennen ließe, sondern sie werden durch eine antithetische Gestaltung in eine prekäre Unausgewogenheit überführt. Dieses antithetische Strukturierungsprinzip, das zumindest die Frage nach der moralisch sanktionierten Form der Liebe in der Schwebe hält, lässt sich i m Grunde auch auf das Verhältnis der Novellen zueinander übertragen. Während z. B. in der ersten Novelle des vierten Tages das Plädoyer für die sinnliche Erfüllung des natürlichen Liebesverlangens durch die charaktervolle Umsicht der Protagonistin nobilitiert w i r d und damit gegen die christliche Liebesmoral der Verdammnis der körperlichen Lüste ausgespielt wird, ist das Liebesbegehren in der zweiten Novelle des vierten Tages wieder mit dem Makel des Verwerflichen belastet, zumal die Entgleisung dieses Triebes bei einem Vertreter jener Institution erfolgt, die sich geradezu als Hüterin der unbefleckten Liebe versteht. Bezeichnend ist hierfür das Thema, unter das die Erzählerin Pampinea ihre Geschichte stellt: »la ipocresia dei religiosi« (IV, 489). 17
Opere minori di Dante Alighieri, 133.
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Frate Alberto, ehemals ein »uomo di scelerata vita« (IV, 490), tritt offensichtlich aus Reue in einen Orden ein, führt ein Leben in Demut, Buße und Enthaltsamkeit und predigt diese Tugenden auch ständig von der Kanzel herab. Deshalb gilt er in Venedig, w o sich die Geschichte ereignet, als eine »santitä« (IV, 492) und w i r d von vielen als Beichtvater aufgesucht. Unter diesen Beichtenden befindet sich eines Tages auch eine junge verheiratete Frau namens Lisetta, an deren Schönheit der Frate Gefallen findet, hat er sich die Mönchskutte doch nur aus dem Grunde anverleibt, u m unter dem Deckmantel der Tugend unerkannt und deshalb geruhsamer dem Laster weiterhin frönen zu können. Kraft seines Amtes wirft er Lisetta, die i m Beichtstuhl einfältig ihre Schönheit rühmt, ihre Eitelkeit vor, u m sich bei nächster Gelegenheit wieder dafür zu entschuldigen und ihr die Lüge aufzutischen, der Engel Gabriel habe ihn wegen seiner Schelte gerügt. Dieser sei nämlich in ihre Schönheit verliebt und wolle, so vertraut der Mönch unter dem Siegel der Verschwiegenheit L i setta an, nichts lieber als eine Nacht mit ihr zu verbringen. Wenn sie sich dazu bereit fände, würde Gabriel sie i n jeder von ihr gewünschten Menschengestalt besuchen, da sie ihn als Engel ja nicht berühren könne und ihr »diletto« (IV, 495) deshalb geschmälert wäre. Erhabene Motive vortäuschend bietet der Frate Lisetta an, dem Engel Gabriel für ein paar Stunden seinen eigenen Körper zu leihen, da dadurch seiner Seele vergönnt sei, für diese Zeit i m Paradies zu verweilen. Die List gelingt. Frate Alberto kann als der vermeintliche Engel Gabriel eine Liebesnacht mit der jungen Frau verbringen, auf die noch weitere folgen, bis eines Tages die »geheime Mission« durch die geschwätzige Eitelkeit Lisettas an die Öffentlichkeit gerät. Sie bricht das Siegel des Schweigens über die verbrachten Nächte mit dem »Engel«, weil sie ihre Schönheit gegenüber einer rivalisierenden Freundin zu verteidigen hat, die sie schließlich mit dem Argument, dass sie vom Engel Gabriel des Nachts aufgrund ihrer unübertrefflichen Schönheit heimgesucht werde, auszuspielen versucht. Dieses Geständnis macht durch die nicht geringere Geschwätzigkeit der Freundin wie ein Lauffeuer die Runde und kommt auch den Schwägern Lisettas zu Ohren. Diese legen sich nun vor dem Haus ihrer Schwägerin auf die Lauer, u m den vermeintlichen Engel zu Gesicht zu bekommen, so dass sich Frate Alberto bei seinem nächsten Besuch vor ihren Zugriffen nur noch kleiderlos durch einen Sprung in den Canale Grande retten kann. Er findet zwar Unterschlupf i m Hause eines Mannes, dem er seine Nacktheit leidlich erklären kann, w i r d von diesem aber dadurch verraten, dass er ihn nach der Entdeckung seiner Identität u m sein Geld prellt und an den öffentlichen Pranger liefert. Als Liebhaber Lisettas auf dem Markusplatz entlarvt und von der Menge verschrien und mit Dreck beworfen, w i r d Alberto von einigen seiner herbeigeeilten Mitbrüdern befreit und ins Kloster zurückgeführt, »dove, incarceratolo, dopo misera vita si crede che egli morisse« (IV, 504).
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Gemessen an der moralischen Verfehlung, die der Vertreter des Klerus durch seine Verführung des anderen Geschlechts eingegangen ist, und gemessen an der Hybris, die er durch die himmlische Legitimierung seiner körperlichen Begierden vollzogen hat, erfährt die Sühne für seinen Fehltritt in der vorliegenden Geschichte gleich i n mehrfacher Hinsicht eine Marginalisierung. Erstens w i r d die christlich moralische Vergeltung mit einem Nebensatz abgegolten, bei dem der Erzähler mit einem »si crede« nicht einmal mehr die Bürgschaft für das weitere Schicksal des Frate und seiner Form der Sühne übernimmt. Zweitens ist die Bestrafung, die der Erzähler i n den Vordergrund seines récit rückt, moraltheologisch belanglos, denn sie speist sich aus einem trivialen volkstümlichen Verhöhnungs- und Demütigungsritual, das mehr aus der Schadenfreude der schaulustigen Volksmenge hervorgeht als durch eine ethische Überzeugung begründet ist. U n d drittens w i r d die List des Frate überhaupt erst durch eine Kette von Zufällen aufgedeckt: durch die mangelnde Verschwiegenheit Lisettas, durch die Geschwätzigkeit ihrer Freundin, durch die Neugier ihrer Schwäger, durch den Verrat des dem Frate Unterschlupf gewährenden Mannes. »Cosi piaccia a Dio« (IV, 504) steht letztlich nur noch idiomatisch als moralisches Fazit am Ende der Geschichte von Frate Alberto. Dieser w i r d für seine Sünden nicht mehr bestraft, weil G o t t dafür gesorgt hat, sondern weil der Zufall die Entdeckung seiner lasterhaften Tat herbeigeführt hat, die unter anderen Umständen genauso gut hätte unentdeckt bleiben können. 1 8 Dass das Verhältnis zwischen Moral und Unmoral, Bestrafung und Entlohnung, Vorsehung und Ereignis von keiner verlässlichen Ordnung bestimmt ist, zeigen die weiteren Liebesgeschichten, die am vierten Tag erzählt werden und immer wieder u m das Thema des Liebestodes kreisen. Bis auf die zweite Novelle, für die Pampinea von Filostrato mit der Bemerkung »troppo [ . . . ] da ridere« (IV, 505) am Schluß gerügt wird, und die zehnte, mit der der grundsätzlich in der Themenwahl freie Dioneo bereits den Übergang von der »dolorosa materia« zur »lieta« (IV, 571) des folgenden Erzähltages vollzieht, stehen die übrigen Geschichten i n einem motivlichen Zusammenhang mit der ersten und neunten Erzählung. Diese Aufhebung der Serie von Liebesgeschichten mit »infelice fine« (IV, 452) durch zwei Novellen mit einer »materia lieta« ist dabei durchaus ein Kalkül des Rahmenerzählers, der dadurch die Aleatorik, die i m
18 Dass in Boccaccios Erzählwelt immer wieder das Prinzip des Zufalls über die göttliche Vorsehung triumphiert, wurde in der Forschung in anderen Zusammenhängen bereits mehrfach nachgewiesen. Cf. z. B. Andreas Kablitz, »Zur Fortuna-Konzeption in Boccaccios Decameron «, Italienische Studien , 12 (1990), 7 - 2 5 ; H e l m u t Pfeiffer, »Glück und List: Decameron I I 4 und I I 9«, in: Walter Haug, Burghart Wachinger (Hgg.), Fortuna (Tübingen 1995), 110-142; Paul Geyer, »Boccaccios Decameron als Schwellenwerk: Vom Karnevalesken zum Kasuistischen«, in: Walter Buckl (Hg.), Das 14. Jahrhundert: Krisenzeit (Regensburg 1995), 179-211.
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moralischen System der Novellenwelt angelegt ist, auch strukturell sinnfällig macht. Der folgende summarische Blick auf einige weitere Erzählungen des vierten Tages soll diese These von der zufälligen Kombinatorik in der moralischen Ordnung der Novellen noch etwas stärker untermauern. Die dritte Erzählung handelt von drei Schwestern, die das Vermögen ihres Vaters stehlen und mit drei jungen Männern nach Kreta fliehen, w o sie als Paare ein Leben i n Saus und Braus führen. Da die Liebe schnell ihren Reiz verliert, wenn sie zur dauerhaften Verfügbarkeit wird, verliebt sich einer der jungen Männer, Restagnone, sehr bald in eine der ortsansässigen jungen Frauen, die wiederum die Eifersucht der Lebensgefährtin Ninetta derart erregt, dass diese sich von einer alten Griechin einen giftigen Trank bereiten lässt, den sie bei nächster Gelegenheit ihrem untreuen Liebhaber darreicht. Er stirbt, und sein Leichnam w i r d ohne Verdacht auf ein Verbrechen bestattet. Erst als die alte Giftmischerin aufgrund eines anderen Delikts verhaftet wird, gesteht sie unter dem Druck der Folter eine ganze Reihe von Übeltaten ein und nebenbei eben auch, dass sie für Ninetta den Gifttrank bereitet hatte, an dem deren Liebhaber gestorben ist. Somit werden allein durch den Zufall, dass die alte Griechin ein Vergehen beichtet, dessen sie gar nicht verdächtigt wird, die wahre Todesursache von Restagnone aufgedeckt und Ninetta verhaftet und angeklagt. D e m aber noch nicht genug der Zufälligkeiten. Die Schwester Maddalena versucht, Ninetta vor der Vollstreckung des Todesurteils zu retten, indem sie dem Herzog von Kreta, der sich schon lange u m ihre Liebe bemüht hat, ihre Dienste anbietet. Nach einer verbrachten Liebesnacht, die der Herzog durch die Verhaftung der beiden anderen Männer absichert, entlohnt er Maddalena mit der Freilassung ihrer Schwester. Diese muss zunächst jedoch versteckt bleiben, da der Herzog, u m in der Öffentlichkeit seine richterliche Autorität nicht zu verlieren, die Nachricht verkündet, Ninetta sei in der Nacht ertränkt worden. I n diesem Glauben wähnen sich auch die beiden verhafteten Männer, die am nächsten Morgen wieder freigelassen werden und zu ihren Frauen heimkehren. Maddalenas Lebensgefährte entdeckt dabei aber durch Zufall die versteckte Ninetta und argwöhnt sofort, wie deren Freiheit zustande gekommen ist. Nachdem er Maddalena zur Rede gestellt hat und diese ihm schließlich auf sein Drängen hin alles eingesteht, sticht er sie aus Wut nieder und fordert Ninetta »con viso infintamente lieto« (IV, 514) dazu auf, mit ihm zusammen zu fliehen: »[e] mai si seppe dove arrivati si fossero.« (IV, 514) Während jene, die ihre Hände mit Blut befleckt haben, sich mit unbekanntem Ziel ihrer Strafe entziehen können, w i r d das dritte zurückgebliebene und unschuldige Paar der Mithelferschaft an Maddalenas Tod angeklagt und ins Gefängnis gesteckt. Die Gefängniswärter sind jedoch bestechlich, so dass es ihnen gelingt zu fliehen. Sie gelangen schließlich nach Rhodos und fristen dort ein ärmliches und nur noch kurzes Dasein.
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Genauso willkürlich, wie diese Wechselfälle erzählerisch organisiert sind, erscheint schließlich auch das Fazit, mit dem der Erzähler am Schluss das Verderben der drei Paare erklärt: schuld daran sei »il folle amore di Restagnone e Pira di Ninetta« (IV, 515) - Omnia vincitAmor. Die Liebe besiegt letztlich aber auch die Logik jeder erzählerischen Moral. Der Wahn der Liebe hätte nämlich i m vorliegenden Fall ebenso gut andere Konsequenzen haben können. Wäre Ninettas Tat nicht durch Zufall entdeckt worden, wäre ihr Schicksal nicht weiter von ihrem Verbrechen affiziert worden und dieses somit auch ungesühnt geblieben. I n der sechsten Erzählung gelangt diese Brüchigkeit in der Ordnung von Erklärungszusammenhängen am Beispiel des Wechselspiels zwischen Vorsehung und Ereignis zu einem weiteren deutlichen Ausdruck. Der Ausgangspunkt ist wiederum ein Liebespaar, das von symbolträchtigen Träumen heimgesucht wird. Andreuola sieht in einem Traum, wie sie ihren Geliebten Gabriotto umarmt und wie dabei eine schreckliche Gestalt aus seinem Leib heraustritt und ihr den Liebhaber entreißt. Gabriotto selbst lacht über diesen Traum und schickt sich dazu an, das Mädchen davon zu überzeugen, dass es eine D u m m heit sei, den Träumen irgendeinen Glauben zu schenken. Er selbst habe ein furchterregendes Traumgesicht gehabt, das aber keinesfalls seine Angst beflügeln würde, es könnte sich auf irgendeine Weise bewahrheiten. So erzählt er, dass er in seinem Traum von einem Jagdhund angefallen worden sei, der sich in seiner Brust festbiss und ihm schließlich das Herz entriss und mit diesem davonlief. Kaum hatte Gabriotto seine Vision erzählt und Andreuola zur Beruhigung liebkosend umschlungen, bricht er tot in ihren Armen zusammen. Das verzweifelte Mädchen muss sich daraufhin zu allem Unglück noch vor dem Podestä des Dorfes verantworten, der ein Verbrechen nicht ausschließt und deshalb die Leiche Gabriottos untersuchen lässt. O b w o h l die Ärzte feststellen, dass der Mann an einer geplatzten Ader in der Nähe der Herzkammer gestorben ist, versucht der Podestä, die Freiheit des Mädchens durch ihre Zuneigung zu erkaufen. Andreuola bleibt jedoch standhaft, so dass sich der Podestä nur noch damit hinausreden kann, er habe sie lediglich in ihrer Tugend prüfen wollen. U n d schließlich kann Andreuola auch ihren Vater von ihrer endlosen, über den Tod hinausreichenden Liebe zu Gabriotto überzeugen, und der reiche Edelmann lässt den jungen Mann trotz seiner niederen Herkunft mit den Ehren eines Schwiegersohns bestatten. Die Tochter garantiert die ewige Treue gegenüber ihrem toten Geliebten durch die Einkehr ins Kloster. Die sechste Erzählung des vierten Tages weist Ähnlichkeiten, aber auch D i f ferenzen zu der vorher charakterisierten dritten Novelle desselben Tages auf. Auch in der Geschichte von Andreuola und Gabriotto spielt das Moment der Kontingenz die entscheidende Rolle in der Anlage der Handlung. Die vorausweisende Symbolik der Träume steht nämlich geradezu in einem ironischen
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Rainer Zaiser
Verhältnis zu dem eingetretenen Ereignis des Todes von Gabriotto. Dass dieser sofort nach der Schilderung seines unheilvollen Traumes stante pede stirbt, ist allein schon als ein erzählironisches Signal zu werten, das durch die anschließende Aufdeckung der wahren Ursache seines Todes nur noch verstärkt wird. Gabriottos plötzliches Dahinscheiden findet nämlich eine rein physiologische Erklärung und w i r d damit als ein medizinischer Schicksalsschlag ausgewiesen. I m Gegensatz zu der Geschichte von den drei Paaren in der dritten Novelle hat dieser willkürliche A k t Fortunas hier nun aber keine unmoralischen Folgen, sondern festigt ganz i m Gegenteil die Tugendhaftigkeit der Protagonistin: Omnia vincit Amor ; und zwar dieses M a l i m Sinne der Resistenz gegenüber jeder Versuchung zum unmoralischen Handeln. Geradezu absurde Züge nimmt der inszenierte Zufall in der siebten Novelle an. Die Liebenden Simona und Pasquino treffen sich in einem Garten zu einem Schäferstündchen. Als sie die mitgebrachten Speisen verzehren wollen, pflückt Pasquino aus Ubermut ein Salbeiblatt von einem Strauch und reibt sich damit den Mund ein, mit der Begründung, dass diese Pflanze der Gesundheit sehr förderlich sei. Daraufhin bricht er mit verzerrtem Gesicht tot zusammen. Simonas Angstschreie rufen eine ganze Reihe von Leuten herbei, die aufgrund der vorgefundenen Situation sehr schnell den Verdacht hegen, das Mädchen habe ihren Liebhaber vergiftet. Als Simona wieder zu Worten findet, versucht sie, diese Anklage zu entkräften, und führt selbst vor, wie Pasquino nur von einem der Salbeiblätter des Gartens gekostet habe. Auch Simona stirbt auf der Stelle mit denselben Symptomen wie ihr Liebhaber. Ratlos geben die Anwesenden schließlich dem Salbei die Schuld an den beiden Unglücksfällen und graben die Pflanze aus, um weiteres Unheil zu verhindern. Bei der Ausgrabung entdecken sie in der Erde eine Kröte, die - so mutmaßt man - ihre giftigen Säfte an die Wurzeln des Salbeis abgegeben haben muss. A m Ende dieser Novelle wird der durch die Verkettung unglücklicher Umstände eingetretene Tod der beiden Liebenden vom Erzähler jedoch als ein Glücksfall ihrer Liebe gefeiert, die nunmehr an einem anderen, weitaus glücklicheren Ort als an jenem der »vili uomini« fortdauern könne: O felici anime, alle quali i n un medesimo d i addivenne i l fervente amore e la mortal vita terminare! E piü felici, se insieme ad un medesimo luogo n'andaste! E felicissime, se nelPaltra vita s'ama, e voi v'amate come di qua faceste! (IV, 551-552)
Es entspricht der bisher immer wieder nachgewiesenen Ambiguität der Novellentexte, dass auch hier hinter der eindeutigen Lösung der Geschichte letztlich ein Fragezeichen steht. Die heilsgeschichtliche Rettung der Liebenden erfährt durch ein bedingendes »se« eine Relativierung, in der sich Gewissheit und Zweifel die Waage halten. Die vorausgehenden Betrachtungen zu den Novellen des vierten Tages haben am Beispiel des Liebesdiskurses zur Genüge zeigen können, dass diese Texte
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des Decameron eine hybride Sinnstruktur entfalten. Sowohl in den einzelnen Novellen als auch in ihrer seriellen Abfolge w i r d der Leser immer wieder mit einer ganzen Reihe von Bedeutungsvarianten der Liebe konfrontiert, die in der Gesamtschau kaum mehr eine Favorisierung erkennen lassen, sondern der beliebigen Verfügbarkeit anheim gestellt zu sein scheinen. Die höfisch sittsame Liebe konkurriert sowohl mit der wollüstigen als auch mit der göttlich sanktionierten Liebe, und zwar auf eine Weise, dass nicht mehr klar ersichtlich ist, welche dieser Formen das Glück oder die Tugend des Menschen garantiert. Mehr als die göttliche Prädestination oder das moralische Wirken des einzelnen scheint der Zufall über das Leben des Menschen zu entscheiden. Diese Ambiguitäten, die i m Decameron nicht nur i n der moralischen Bewertung der Liebe zutage treten, haben in der Forschung eine lang anhaltende Diskussion über Boccaccios Einordnung in die Epochenkontexte von Mittelalter und / oder Renaissance ausgelöst. Ausgegangen ist diese Diskussion i m wesentlichen von einer auf die fünfziger Jahre zurückgehenden und die Ambivalenzen des Textes harmonisierenden Deoimerow-Lektüre von Vittore Branca, der unter dem thesenhaften Titel Boccaccio medievale die mittelalterliche Verankerung des Werkes akzentuierte. 19 Branca stützt sich dabei vor allem auf den didaktischen Charakter der Novellen, die - als positive oder negative Fallbeispiele valorisiert - zur moralischen Belehrung i m Sinne der christlichen Ethik funktionalisiert seien. Nach der Auslegung Brancas sind die Exempla des Decameron als ein Plan angelegt, demzufolge die Tugend über die Untugend siegt. Über diesem Plan stehe die göttliche Vorsehung, die ihre lenkende Kraft auf die Verteilung von Glück und Unglück ausübe und damit die Welt i m Lichte einer gerechten Ordnung erscheinen lasse. 20 Hans-Jörg Neuschäfer hat in den späten 60er Jahren dagegen Brancas These einer kritischen Revision unterzogen und Boccaccios Decameron zum Schwellenwerk zwischen Mittelalter und Renaissance erklärt. 2 1 I n einem Vergleich zwischen Textbeispielen, die jeweils aus ver-
19
Ich zitiere die 1956 in der ersten Auflage erschienene Studie nach der Ausgabe Vittore Branca, Boccaccio medievale e nuovi studi sul Decameron. Nuova edizione riveduta e corretta (Florenz 1998). Cf. zur Verankerung des Decameron in den mittelalterlichen Denkstrukturen (falls es solche in der dabei vorausgesetzten Homogenität überhaupt gibt) auch Wilhelm Theodor Elwert, Die italienische Literatur des Mittelalters (München 1980), 225-232. 20 Cf. hierzu Branca 1998, 1 5 - 1 6 : »Dalla prima alPultima giornata [ . . . ] si svolge un ideale itinerario che va dalla riprensione aspra ed amara dei vizi dei grandi nella prima giornata allo splendido e architettato elogio della magnanimitä e della virtu nella decima giornata. [ . . . ] [Puomo] rivela pienamente la propria umanitä e puö rendersi degno dello splendido regno della virtu, misurandosi con le grandi forze che, quasi strumenti della Prowidenza divina, sembrano in qualche modo reggere il mondo: la Fortuna, PAmore, Plngegno.«
21 Cf. Hans-Jörg Neuschäfer, Boccaccio und der Beginn der Novelle: Strukturen der Kurzerzählung auf der Schwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit (München 1969).
Rainer Zaiser
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schiedenen Genera mittelalterlicher Kurzerzählungen stammen (Fabliau, Lais, Exemplum, Legende, Mirakel, Märchen usw.), und einigen thematisch ähnlich strukturierten Novellen des Decameron arbeitet Neuschäfer bestimmte Differenzkriterien heraus, die für eine frühneuzeitliche Verortung von Boccaccios Werk sprechen. Er fasst dabei das Verhältnis zwischen mittelalterlicher und rinascimentaler Symptomatik der Texte i n die Oppositionspaare »Eindeutigkeit« vs. »Vieldeutigkeit« i n bezug auf die Sinnvermittlung der Geschichten, »Absolutheit« vs. »Relativität« i m H i n b l i c k auf die Gültigkeit von (vor allem moralischen) Normvorgaben, »typischer Modellfall« vs. den durch die jeweiligen Umstände bedingten »Einzelfall«, Vorsehung vs. Zufall bei der Handlungsbegründung und Geschlossenheit vs. Offenheit bei der Lösung der Geschichten. 2 2 I n der jüngeren Boccaccio-Forschung wurden die von Neuschäfer für den rinascimentalen Diskurs beanspruchten Merkmale des Decameron jedoch i n eine neue Perspektive gerückt, die den Befund der frühneuzeitlichen Modernität für die einzelnen Novellen des Werkes eher problematisch werden lässt, für die kompositorische Gesamtanlage des Werkes dagegen umso entschiedener postuliert. 2 3 Isoliert am Beispiel der einzelnen Erzählungen betrachtet, sind die Signaturen der Ambivalenz und der Kontingenz, wie es auch die i m Rahmen dieses Beitrags vorgestellten Novellen des vierten Tages bestätigen, letztlich nur zaghaft ausgebildet, ganz zu schweigen von jenen Texten des Werkes, für die diese Merkmale gar nicht zutreffen. 2 4 Umgekehrt weisen die Formen der mittelalterlichen Erzählungen, wie die Boccaccio-Kritik in der Zwischenzeit ebenfalls herausgestellt hat, zum Teil bereits eine semantische Komplexität auf, die die entsprechend strukturierten Novellen des Decameron wiederum nicht besonders different zu ihren Vorläufern erscheinen lässt. 25 Was aber i m Einzelfall der Novelle nur verhalten, fast möchte man sagen zufällig angedeutet w i r d und immer wieder auch als Ausfall zu konstatieren ist, nämlich die hybride aleatorische Sinnstruktur des Textes, gewinnt i n der Syntagmatik, d. h. in der
22
Diese Symptomatik findet sich in dieser pointierten, zusammenfassenden Form bei
Neuschäfer, Boccaccio, 122. 23
Cf. hierzu Joachim Küpper, »Affichierte >ExemplaritätExemplaritätKünstlerbriefe
schönen Kunst< skeptisch gegenüber; ihr Versprechen einer, wenn auch nur symbolischen Überbrückung erweist sich für ihn immer wieder als brüchig, d. h. der Abgrund zwischen Empirie und Idee w i r d immer wieder aufs Neue aufgerissen; der Anspruch des Herzens an die Kunst sieht sich beantwortet durch einen Abbruch, den die Kunst tut. Einen solchen Abbruch stellt die Verklärung insofern vor, als sie das Zusammensehen des souveränen Betrachters vor dem Bild im Bild als ein Zusammensehen des seiner Souveränität enthobenen, von seiner Krankheit gezeichneten Knaben spiegelt. Dieser für den Betrachter prekären Reflexion steht im Gemälde selbst eine für die Renaissance noch durchaus geläufige, i m Zeitalter der Vernunftphilosophie und des Glaubens an die Kunst jedoch nicht mehr akzeptable, ja empörende These gegenüber: dass dem A n deren der Vernunft, für das i m Gemälde die Epilepsie in ihrer deutlich hervortretenden Qualifikation als heilige Krankheit steht, die angesprochene Überbrückung möglich ist, also gerade in der Absenz der Vernunft i m damals postulierten Sinn die Präsenz des Traums der Vernunft vorgestellt wird. Es ist diese These, die Kleist, mit deutlichen Bezugnahmen auf den Funktionszusammenhang von Raffaels Verklärung, für sich, d. h. für sein Kunstschaffen entdeckt. 7 0 Ein Beispiel dafür ist der Essay »Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft«. Angeregt durch Clemens Brentano bezieht Kleist das Gemälde Mönch
70 Dabei hat ihn das Andere der Vernunft schon i m September 1800 beim Besuch des Juliusspitals in Würzburg beschäftigt (vgl. dazu den Brief an Wilhelmine von Zenge, 13.-15. und 18.9.1800; 4,118-21). Jenseits aller Spekulationen, die diesen Besuch umranken, ist es interessant zu sehen, dass Kleist der dort vorfindlichen, i m Vergleich zu anderen Anstalten eher wohlwollend zu nennenden Internierungspraxis - u. a. von Epileptikern (4,118) - betont kritisch gegenübersteht. Einem solchen Ausschluß der Unvernünftigen durch die Vernünftigen setzt er das in seiner Zeit noch fremde Modell, man könnte auch sagen: die Utopie einer auf Heilung (gefasst als »Rückführung zur VernunftNormalen< entgegen (vgl. 4,120 f.). Dass diese ungewöhnliche Empathie dennoch von Ekel- und Schaudergefühlen angesichts der Kranken flankiert w i r d (4,119), lässt sich als weiteres Indiz für Kleists große innere Spannung verstehen, die eindringlich auch bei der >Besichtigung< des Jünglings, »den ein unnatürliches Laster wahnsinnig gemacht hatte«, hervortritt: der erschreckten Abweisung dieses »fürchterlichen Bild[es]« steht die immer wieder bemerkte emotionale Nähe zum Schicksal des Knaben gegenüber (ebd.).
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Daniel Tobias Seger
am Meer auf das ihm von Raffaels Verklärung her bereits bekannte Thema: das Sehen vor dem bzw. i m Bild in Verbindung mit der Frage nach der Möglichkeit einer Überbrückung des Abgrunds zwischen Empirie und Idee, wobei diese Möglichkeit auch jetzt als eine der Kunst diskutiert wird. Für die Verklärung wurde gezeigt, dass vor dem Bild die Frage nach der Möglichkeit einer Uberbrückung insofern positiv beantwortet wird, als der Betrachter beide Bildteile zusammensehen kann und damit das Gemälde als >schöne Kunst< erkennt. Als solche vermag sie, wenn auch nur symbolisch (nämlich als Kunst), auf die Überbrückung und damit auf die dem Subjekt entzogene Einheit - die hier gegeben ist als die der Anschauung - zu verweisen. Gezeigt wurde weiterhin, dass diese Kunstbetrachtung i m Sinne des Schönen im Bild auf prekäre Weise gespiegelt w i r d durch das Zusammensehen des gegenwärtig ganz der Natur unterworfenen, d. h. von seiner Krankheit eingenommenen Knaben, dessen Zustand als solcher jedoch auch auf eine ganz andere Möglichkeit der Überbrückung verweist. I m Mönch am Meer sind die >SehverhältnisseHinüber< i m Sinne der Überbrückung (»dass man hinüber mögte, dass man es nicht kann«) und lässt das Subjekt derart »alles zum Leben« vermissen. D o c h in dieser Ohnmacht vernimmt es nun auch die »Stimme des Lebens«, w o m i t das von Kant postulierte Rege-Werden des Vermögens der 71 Vgl. dazu Bernhard Greiner, »Das Erhabene in der Kunst als Verrückung und als Aporie: Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft, das Guiskard-Projekt und der Zusammenbruch von 1803/04«, in ders., Eine Art Wahnsinn. Dichtung im Horizont Kants: Studien zu Goethe und Kleist (Berlin 1994), 106-129. Dann auch in Greiner, Kleists Dramen und Erzählungen, 16-36.
Heinrich von Kleists >Künstlerbriefe
verbrauchtkranken Sehens das auf den ersten Blick der Symptomatik eines epileptischen grand mal entspricht, zu dem neben verdrehten auch weit aufgerissene,
72 7
Greiner, Kleists Dramen und Erzählungen,
3 Ebd. 30 f.
26-29.
Daniel Tobias Seger
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starr und ins Leere blickende Augen gehören. 74 Als entscheidend und bezogen auf die Vernunftphilosophie der Aufklärung als prekär erweist sich dann jedoch, dass sich dieses >kranke Sehen< doch auf ein Zusammensehen öffnet. Dabei scheint, wie gezeigt, der epileptische Knabe Empirie und Idee nicht nur symbolisch zu überbrücken, sondern diese Überbrückung auf eine der Vernunft entzogenen Weise geradezu in sich präsent zu halten. U n d auch bei Kleist bleibt es, wie Greiner feststellt, nicht beim Blick in die Leere und dem daraus resultierenden Unbehagen, vielmehr öffnet sich das >leere Sehen< auf ein i m wörtlichen Sinn »erfülltes Sehenc Angesichts der Leere, mit der sich der Betrachter, auf dem Bild als der Düne stehend, konfrontiert sieht, stößt er nun, so Kleist (der sich an dieser Stelle von der Argumentation Brentanos abwendet), unwillkürlich auf den »Rahm«, sowie auf die Materialität des Bildes, auf Leinwand und Farbe, bis zuletzt gar eine »neue Bahn i m Felde der Kunst« imaginiert wird, bei der die »Landschaft mit ihrer eigenen Kreide und ihrem eigenen Wasser« gemalt ist. 7 5 Während also im Bild mit dem Sehen des auf der Düne stehenden Mönchs eine Erfahrung des Erhabenen nahegelegt wird, stößt das der Szenerie der Seelandschaft äquivalente Sehen vor dem Bild auf nichts als auf die Materialität des Bildes. Für Kleist folgt daraus jedoch, dass auch die damit verbundene Erfahrung auf verstörende Weise verschoben erscheint, insofern man mit einem solchen Bild, wie es weiter heißt, »Füchse und Wölfe [ . . . ] zum Heulen bringen [kann]: das Stärkste, was man, ohne allen Zweifel, zum Lobe für diese A r t Landschaftsmalerei beibringen kann«. Statt vom Bildbetrachter ist nun also von Tieren die Rede, d. h. die Möglichkeit einer Überbrückung i. S. des Erhabenen w i r d vor dem Bild nicht als Möglichkeit des vernünftigen Wesens, sondern der vernunftunfähigen Wesen vorgestellt, über deren Erhabenheitserfahrung freilich keine Aussage gemacht werden kann: Diese mag sich einstellen, bleibt jedoch dem Vernunftdiskurs entzogen, insofern sie sich nur in tierischem Heulen zu artikulieren versteht. 76 So w i r d auch in Kleists Essay das Andere der Vernunft mit der Möglichkeit einer geglückten Überbrückung des Abgrunds zwischen Empirie und Idee verknüpft. Doch i m Gegensatz zu Raffaels Verklärung, w o in der epileptischen Absenz des Knaben die damit verbundene Möglichkeit einer Überbrückung für den Bildbetrachter deutlich als solche erkennbar wird, läßt sich bei Kleist eine solche für den als Tier vorgestellten >Bildbetrachter< zwar vermuten, bleibt dem Erkennen aber entzogen, ist sie doch auf ein für den Menschen unzugängliches Feld verschoben. 74 Zur Überlieferung gerade dieses Symptoms über die Jahrhunderte hinweg vgl. v. a. Owsei Temkin, The Falling Sickness. 75
Greiner, Kleists Dramen und Erzählungen.
76
Ebd. 35.
33.
Heinrich von Kleists >Künstlerbriefe
alten Glauben< schöpfende Musik, womöglich polyphon strukturiert und derart entgrenzend, 80 w i r d der andächtigen Gemeinde zur Manifestation des ebenfalls alle Grenzen sprengenden Gottes, zu dem sie sich erhoben fühlen kann. 8 1 Diesem i n sich geschlossenen Begründungsraum stehen die vier Brüder 77
Vom 22. 10. 1810 {Berliner Abendblätter,
78
Ebd. 78.
79
Ausführlicher dazu vgl. Greiner, Kleists Dramen und Erzählungen,
75-78). 397-419.
80
Zur These, es handle sich bei der Messe um ein polyphones Musikwerk vgl. ebd. 403-411. 81 Dass die Zahl der Gläubigen mit »mehr denn dreitausend« angegeben w i r d (3,292), lässt an das Pfingstgeschehen denken, w o nach der Ausgießung des Heiligen Geistes, der
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Daniel Tobias Seger
fremd gegenüber. Als Protestanten situieren sie sich jenseits des einen, die Einheit aller Menschen in Jesus Christus vermittelnden Glaubens, als Bilderstürmer bekämpfen sie jede Vermittlung des Göttlichen durch Kunst. Dass es zu ihrem Bildersturm nicht kommt, die Brüder vielmehr, »als ob [sie] katholisch wären«, zu einer »Verherrlichung des Heilands« ver-rückt werden (3,295), diese Verherrlichung aber nur verrückt , mit einer »entsetzlichen und gräßlichen Stimme«, als seien sie »Leoparden und Wölfe«, die »zur Winterszeit das Firmament anbrüllen« (3,303), zeigen können, diese rätselhafte Wendung läßt sich, so Greiner, bei einem Blick auf den Essay schlüssig begründen: Den ungläubigen Brüdern bleibt die für die Gläubigen erlebbare erhabene musikalische Prachtentfaltung ebenso verschlossen, wie dem Betrachter vor Friedrichs Seelandschaft das erhabene Erleben des i m Bild dargestellten Mönchs angesichts der übergroßen Natur. Der von Kleist für den Betrachter daraufhin imaginierte Ausweg, eine Erfahrung des Erhabenen doch noch, nämlich über die Materialität des Bildes zu machen, w i r d nun auch für die vier Brüder angeführt: I m Auftritt der i m Sterben liegenden Schwester Antonia als vermeintliche Heilige Cäcilie w i r d das für die Gläubigen wirksame Verweisungsgeschehen für die Ungläubigen gewissermaßen materialisiert, d. h. das, worauf (mit Musik) verwiesen werden soll, das Heilige, w i r d als anwesend nahegelegt: die Heilige Cäcilie, die Heilige der Musik selbst dirigiert die Messe. D o c h wie schon i m Essay resultiert aus dieser Verschiebung ins Material auf Seiten der Anschauung auch jetzt eine solche auf Seiten der Betrachter, hier: der Brüder, deren Agieren wie »Leoparden und Wölfe« i m städtischen Irrenhaus zwar als »Verherrlichung des Heilands« beschrieben w i r d (3,295), womit, in Analogie zum Fazit des Essays, ein Uberbrückungsgeschehen vom Sinnlichen zum Ideellen angedeutet ist, über deren erhabene Erfahrung jedoch letztlich keine konkrete Aussage gemacht werden kann: Sie bleibt dem Vernunftdiskurs entzogen, insofern sie sich nur in tierischem Gebrüll zu artikulieren vermag. 82 So w i r d in der Erzählung also erneut das Andere der Vernunft mit der Möglichkeit einer geglückten Uberbrückung des Abgrunds zwischen Empirie und Idee verknüpft. I n Raffaels Verklärung drückt sich diese Möglichkeit i m Blick und in der Haltung des epileptischen Knaben aus. Dieser w i r d - nur für den Betrachter sichtbar - den ratlosen Jüngern und dem hilflosen Volk als einer an die Seite gestellt, der nicht nur der Heilung durch Jesus Christus bereits teilhaftig wird, sondern der überdies die durch den Menschensohn verheißene Gemeinschaft Gottes mit den Menschen in sich vorstellt, ohne seiner U m w e l t davon jedoch, als ein in epileptischer Absenz Gefangener, Kunde geben zu in der Erzählung als »herabrauschende[s] Oratorium« erscheint (3,299), und der Predigt des Petrus dem damals neuen Glauben »etwa dreitausend Seelen hinzugetan« werden können (Apg. 2,41). 82
Greiner, Kleists Dramen und Erzählungen , 414 f.
Heinrich von Kleists >Künstlerbriefe
Veit< ist auf den Veitstanz hingewiesen, eine Krankheit, die häufig in Zusammenhang mit der eigentlichen Fallsucht, der Epilepsie, genannt w i r d . 8 5 Sie ist hier nicht als Krankheit selbst angesprochen, sondern weist auf das vom Tuchhändler in der Rückschau als >Irreleitungerzählt< wird. Die auf Steigerung angelegte Ballade besteht aus einem drei- und einem vierstrophischen Teil. I n der Triade fragt die Mutter insistierend, warum das Schwert ihres Sohns rot von Blut ist. Zweimal antwortet der Sohn ausweichend. Er habe seinen Falken getötet und sein Roß. A u f die dritte Frage folgt das schreckliche Geständnis des Vatermords. I n der Tetrade stellt die Mutter, wiederum in jeweils einer Strophe Fragen danach, wie sich der Sohn nach der Tat verhalten werde: welche Buße er tun werde, was mit seinem Schloß geschehen werde, was er seinen Kindern und seiner Frau und schließlich, was er seiner Mutter hinterlassen werde. Erst in den letzten beiden Versen kommt die furchtbare Wahrheit ans Licht. Der Sohn verflucht die Mutter, weil sie ihm zu der Tat geraten hat. I n der Ballade ist eine ungeheuere emotionale 6 Die Forschung hat sich erst relativ spät intensiver mit den Balladenmelodien beschäftigt. Während die für den englisch-schottischen Bereich maßgebende Textausgabe von Francis James C h i l d - The English and Scottish Populär Ballads. 5 Bde. (Boston 18821898) - i m ausgehenden 19. Jahrhundert erschien, wurde die entsprechende Melodiensammlung erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts veröffentlicht: Bertrand H . Bronson, The Traditional Tunes of the Child Ballads. 4 Bde. (Princeton 1959-1972). 7 Gerhard Kaiser, »Zu Johann Gottfried Herders Edwardin Gunter E. G r i m m (Hg.), Gedichte und Interpretationen: Deutsche Balladen (Stuttgart 2002, 1 1988), 5 9 - 6 8 .
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Wolfgang G. Müller
Steigerung beschlossen. Der Replikenwechsel ist affektgeladen, was sich in den vielfältigen Wiederholungen zeigt, besonders in den verdoppelten Anreden »Edward, Edward« und »Mutter, Mutter« und i n dem Minimalrefrain, dem Ausruf »O«, 8 die sich durch das ganze Gedicht ziehen. Was Herder an dieser und anderen britischen Balladen - sowie an James Macphersons ossianischen Dichtungen - faszinierte, waren die Ursprünglichkeit und Einfachheit der Themen - Liebe, Eifersucht, Ehebruch, Gewalt, Tod - , die Stärke der Empfindung und die Spontaneität und direkte Sinnlichkeit der Sprache. I n charakteristisch rhapsodischer Ausdrucksweise sagt er in seinem Briefwechsel über Oßian und die Lieder Alter Völker aus dem Jahr 1773: Wißen Sie also, dass je wilder, d. i. je lebendiger, je freiwürkender ein Volk ist, [ . . . ] desto wilder, d. i., desto lebendiger, freier, sinnlicher, lyrisch handelnder müßen auch, wenn es Lieder hat, seine Lieder seyn! Je entfernter von künstlicher, wißenschaftlicher Denkart, Sprache und Letternart das Volk ist: desto weniger müßen auch seine Lieder fürs Papier gemacht, und todte Lettern Verse seyn: vom Lyrischen, vom Lebendigen und gleichsam Tanzmäßigen des Gesanges, von lebendiger Gegenwart der Bilder, vom Zusammenhange und gleichsam Nothdrange des Inhalts, der Empfindungen, von Symmetrie der Worte, der Sylben, bei manchen sogar der Buchstaben, vom Gange der Melodie, [ . . . ] davon allein hängt das Wesen, der Zweck, die ganze wunderthätige Kraft ab, die diese Lieder haben, die Entzückung, die Erb- und Triebfeder, der ewige Lustgesang des Volks zu seyn! Das sind diese Pfeile des wilden Apollo, w o m i t er Herzen durchbohrt, und woran er Seelen und Gedächtniße heftet! 9
Wenn w i r die Ubersetzung mit dem Original vergleichen, fällt auf, dass Herder dem Vorbild weitgehend folgt. Zur Veranschaulichung sei die erste Strophe i m schottischen Original und in Herders Übersetzung zitiert: >Why dois your brand sae drap w i bluid,
Dein Schwert, wie ist's von Blut so rot?
Edward, Edward,
Edward, Edward!
W h y dois your sword sae drap w i bluid,
Dein Schwert, wie ist's von Blut so rot,
A n d w h y sae sad gang yee 0?< >0 I hae killed my hauke sae guid, Mither, mither, O I hae killed my hauke sae guid, A n d had nae mair bot hee 0.
Tam Linle réduit douloureux< d'où l ' o n venait de l'extraire, >les murs tapissés de quatre images du Crucifié qu'elle avait arrachées au journal [La Croix\«< [Gérald Antoine, Paul Claudel ou l'Enfer du génie (Paris 1988), 167].
Das Drama mit Gott bei Claudel
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t i g t , das i h n n i c h t m e h r loslassen w i r d . E r m e i n t alsbald, sich als C h r i s t verstehen z u m ü s s e n , 6 u n d e m p f i n d e t einen tiefen i n n e r e n W i d e r s p r u c h z w i s c h e n seinem e m o t i o n a l e n r e l i g i ö s e n E r l e b e n u n d seiner gesellschaftlichen w i e geistigen Orientierung,
d e n n R e l i g i o n ist e i g e n t l i c h i n seinem W e l t b i l d
nicht
vorgesehen, g i l t i n seinem sozialen U m f e l d als lachhaft, u n d s t ö r t seine w o h l bereits v o r h a n d e n e n l i t e r a r i s c h e n A m b i t i o n e n . D e s h a l b s p r i c h t C l a u d e l v o m » O p f e r d e r h e i d n i s c h e n F ä h i g k e i t e n des Geistes«, das n a c h seiner M e i n u n g e i n e m älteren K o n v e r t i t e n l e i c h t e r falle als e i n e m » j u n g e n M e n s c h e n v o l l e r G e s t a l t e n u n d S t i m m e n i n seinem I n n e r n , die n a c h außen d r ä n g e n « 7 . S c h o n i n diesem f r ü h e n Z e u g n i s t h e m a t i s i e r t er w i e später n o c h öfters die Tatsache, dass er damals z w e i g l e i c h e r m a ß e n m ä c h t i g e , gegensätzliche W a h r h e i t e n besaß u n d auf k e i n e v o n b e i d e n v e r z i c h t e n w o l l t e . 8 Sein literarisches Schaffen u m k r e i s t dieses D i l e m m a , aus d e m die Idee des O p f e r s entsteht, die eine religiöse w i e eine existentielle D i m e n s i o n b e s i t z t . D i e Tatsache, w i e sich f ü r C l a u d e l dieser Z w i e s p a l t darstellt, ist i n seiner P e r s ö n l i c h k e i t u n d i n der i h n p r ä g e n d e n d a m a l i g e n V o r s t e l l u n g s w e l t g r u n d g e l e g t , die literarische A n t w o r t auf diese E r f a h r u n g d ü r f t e j e d o c h h e u t e b e d e u t e n d e r d e n n je sein. D a s rege i n t e r n a t i o n a l e I n teresse an C l a u d e l s W e r k 9 h ä n g t m i t diesem G r u n d z u g seiner i m a g i n ä r e n W e l t zusammen.
6 Vgl. »Quand le 25 décembre 1886 je sortis comme ivre de Notre-Dame, je me trouvais placé en face d'un redoutable problème. D'une part, je me sentais poète, en possession de forces très grandes que je sentais en moi toutes bouillonnantes, j'avais le sentiment de la joie que Beethoven m'avait donnée, de la grandeur, de la beauté du monde et tout ce qu'il contient. Et d'autre part depuis quelques minutes, j'étais chrétien, c'est-à-dire que j'avais non moins profondément, plus profondément encore en moi le sentiment de l'amour, si tendu, si déchirant, auprès duquel le monde tout entier est comme un néant« {Bulletin de la Société Paul Claudel , 12-13). 7
»L'attitude de renoncement, du sacrifice des facultés païennes de l'intelligence, possible à un homme fait et qui fut celle de la plupart des grands convertis des siècles passés, ne l'était pas à un jeune homme plein d'êtres et de voix qui lui demandaient la vie« {Bulletin de la Société Paul Claudel, 13). Es ist bemerkenswert, dass Claudel in diesem nicht ursprünglich zur Veröffentlichung bestimmten Text von »facultés païennes« spricht und somit die ihn prägende zeitgenössische französische K u l t u r als heidnisch bezeichnet. 8
»Je tenais deux vérités également fortes et d'apparence contradictoire et je ne voulais lâcher aucune d'elles« {Bulletin de la Société Paul Claudel, 13). 9 A u f diese Vorstellung bezieht sich noch Albert Fuss. Sein Kenntnisstand widerspricht den Vorurteilen der heutigen Theaterkritiker: »Die rasche Veränderung der geistesgeschichtlichen Landschaft, des Erwartungshorizonts des Lesers und nicht zuletzt der methodologischen Prämissen der Literaturwissenschaft haben dennoch das Claudeische Œuvre nicht überrollt, vergessen oder lediglich dem fachspezifischen Interesse des Historikers überantwortet. Claudels Werk ist so lebendig und aktuell wie eh und je, wofür nicht zuletzt eine längst nicht mehr überschaubare und weiterhin rasch wachsende Sekundärliteratur, sondern in gleicher Weise immer neue Bühnenaufführungen seiner Dramen beredtes Zeugnis ablegen« [Paul Claudel, Erträge der Forschung 131 (Darmstadt 1980) 2 f.].
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Volker Kapp
Während die deutsche Claudel-Rezeption in der Nachkriegszeit stark v o m Mythos eines selbstsicheren, seine Orthodoxie triumphalistisch zur Schau stellenden Erfolgsautors geprägt ist, hat die neuere internationale Forschung ein viel differenzierteres Bild des Dichters erarbeitet, in dem seine Verbundenheit mit der literarischen Welt seiner Epoche verdeutlicht und die Komplexität seiner dichterischen Schau bis hin zu seinem Spätwerk mit Bibeldeutung herausgestellt wird, die schon zu ihrer Zeit einem Großteil der Theologenzunft ein Gräuel war. Seine Schwierigkeiten mit dem religiösen Erlebnis in Notre-Dame, das später als seine »Konversion« von den einen gefeiert, von den andern beargwöhnt oder verhöhnt wurde, erregen nun größere Aufmerksamkeit. Es dauert vier Jahre, bis Claudel seinen geistigen Widerstand gegen die Zumutung des Glaubens überwunden und sein religiöses Befreiungserlebnis akzeptiert hat. Die Sozialisation in einem katholischen Milieu hat seine H i n wendung zum Glauben höchstens in dem Sinne beeinflusst, dass er sein geistliches Erlebnis bei der Weihnachtsvesper als Aufforderung zur Rückkehr in die katholische Kirche verstand, während er den Protestantismus oder den Buddhismus abfällig beurteilte. Da die Forschung heute für Getaufte, die zu ihrer ursprünglichen Glaubensgemeinschaft zurückkehren, den Begriff des Revertiten erfunden hat, 1 0 bestreiten manche, dass der 1913 auf Bitten der Redaktion der Jugendzeitschrift Revue de la Jeunesse verfasste Essay zu Recht den Titel »Ma conversion« 11 trägt. Berichte über Bekehrungen sind eine verbreitete Textsorte und der von Claudel weist Gemeinsamkeiten mit anderen literarischen Ausformungen von derartiger geistlicher Erfahrung auf. Deshalb kann er in L'Évangile d'Isaïe (1951) sein Erlebnis auf die Formel bringen: »[l]a voix sans aucun son qui s'est fait entendre à moi le jour de Noël« und rückblickend mit seiner seitherigen Glaubenserfahrung in Beziehung setzen: »la voici qui est parvenue jusqu'au timbre, et il y a en moi une Église pour lui répondre qui s'émeut dans toutes les langues de la terre«. 12 Seine persönliche Erfahrung Gottes stellt sich ihm am Ende seines Lebens als Bestandteil des Ringens Gottes mit den Menschen dar, das zur Geschichte der Kirche gehört. Für das Verständnis von Claudels Drama mit Gott ist vorrangig, dass er 1886 sein geistliches Erlebnis einerseits als etwas versteht, das sein ganzes weiteres Leben grundlegend prägt, dass er es aber andererseits als Störung des Verstandes durch eine aus der Tiefe seiner Psyche kommende, fremde Instanz erlebt. 10 Vgl. zu diesem Thema: Frédéric Gugelot, La conversion des intellectuels au catholicisme en France (1883-1935) (Paris 1998). 11 12
Claudel, Œuvres en prose, 1008-1013.
Paul Claudel, Le Poète et la Bible. I I . 1945 -1955. Édition établie, présentée et annotée par Michel Malicet avec la collaboration de Dominique Millet et Xavier Tilliette (Paris 2004), 715.
Das Drama mit Gott bei Claudel
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Sieht man von dem nicht alltäglichen Erweckungserlebnis ab, so ist Claudels persönliches Drama exemplarisch für die Schwierigkeiten von Glauben i m modernen Europa. Die Auswirkungen dieser existentiellen Erfahrung auf sein literarisches Werk haben manche Interpreten zu einer naiv frommen Auslegung seines Œuvres verführt. Vielleicht hat das uns heute allzu direkt anmutende, häufig etwas plumpe Proselytentum des Dichters dazu beigetragen, dass die Komplexität der literarischen Verarbeitung dieses Erlebnisses übersehen wurde. Während bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts das Bild von Claudels triumphalen Katholizismus von der Forschung, positiv wie negativ, herausgestellt wurde, 1 3 steht in den letzten Jahrzehnten die starke Verflechtung von dichterischer Imagination und religiösem Suchen i m Vordergrund. Die frühen Dramen sind durch anarchistische Gedanken und eine entfesselte lyrische Sprache gekennzeichnet. Sie galten in der damaligen literarischen Welt von Frankreich, wie von Deutschland, als große neue Dichtung, die höchstens i m experimentellen Theater aufgeführt werden konnte. Für jene französischen Katholiken, die gegen das von den Zwängen des Marktes beherrschte Unterhaltungstheater ein erbauliches christliches Theater mit Laienspielgruppe entwickelten, war Claudels Dramenschaffen wegen seiner Verwurzelung i m Symbolismus suspekt. 14 Der Dichter selbst hat die lyrischen Reden seiner Figuren i m Frühwerk für problematisch gehalten und sich bei seiner Trilogie einer harten Selbstzensur unterworfen, u m spielbare Theaterstücke zu schreiben. 15 Die Dialoge sind i n der Trilogie noch immer recht umfangreich, weswegen die Dramaturgin des Maxim G o r k i Theaters Andrea Koschwitz bei den Kürzungen, die notwendig wurden, u m drei abendfüllende Stücke zu einem zu komprimieren, in hohem Maße bei den immer noch vorhandenen lyrischen Passagen ansetzen konnte. Claudel erkundet die christliche Vorstellungswelt mit Hilfe der Leitfiguren modernen Dichtens, Arthur Rimbaud und Stéphane Mallarmé. Deshalb gewinnt neuerdings ein Text an Gewicht, den er in den zwanziger Jahren zur Deutung von Rimbaud geschrieben hat, die Parabole d'Animus et d* Anima (1925). 16 Er handelt vom Konflikt zwischen zwei Instanzen in der Psyche des Menschen,
13 André Espiau de La Maëstre kritisiert, dass die Claudel-Forschung »einfach den Gläubigen mit dem Dichter identifiziert« hat [Das göttliche Abenteuer. Paul Claudel und sein Werk (Salzburg 1968), 48]. Vgl. auch Espiau de La Maëstre, Humanisme classique et syncrétisme mythique chez Paul Claudel (Paris 1977). 14 Vgl. Henry Philips, Le Théâtre catholique 133-139. 15
en France au XX
e
siècle (Paris 2007),
»Claudel veut écrire un drame «jouable» et travaille tout particulièrement l'art du dialogue« [Jean-Pierre Kempf - Jacques Petit, Études sur la » Trilogie « de Claudel 1 VOtage , Archives claudéliennes (Paris 1966), 21]. 16
Vgl. Paul Claudel, Œuvres en prose , 27 f.
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einer männlichen, verstandesmäßigen, die er Animus nennt, und einer weiblichen, irrationalen, die er Anima nennt. Diese Parabel setzt er gleichermaßen mit religiöser Erfahrung wie dichterischem Schaffen in Beziehung und findet sie i n der Symbolik der biblischen Gestalt der Weisheit bestätigt, wie sie die Liturgie entfaltet. Als Claudel 1886 nach der Weihnachtsvesper zu Hause eine Bibel in die Hand nahm, die eine protestantische Freundin seiner Schwester Camille geschenkt hatte, fiel ihm die Passage aus dem 8. Kapitel im Buch der Sprichwörter in die Hände, w o die Weisheit von sich sagt: »Der Herr hat mich geschaffen i m Anfang seiner Wege, / vor seinen Werken in der Urzeit; [ . . . ] Als er den H i m m e l baute, war ich dabei, / als er den Erdkreis abmaß über den Wassern [ . . . ] . Ich war seine Freude Tag für Tag / und spielte vor ihm allezeit« ( V I I I , 2 2 - 3 0 ) . Die biblische Weisheit bildet einen Bezugpunkt für seinen Dichtungsbegriff, für seine Lyrik wie für sein Dramenschaffen, dessen weibliche Figuren vielfach an sie erinnern. Sein Spätwerk mit geistlichen Betrachtungen von Bibeltexten, das die Exegeten irritierte, die sich zunehmend auf eine kritische Bibeldeutung einschworen, ist aus dieser Perspektive zu verstehen, wie Dominique Millet-Gérard 1 7 gezeigt hat. A m Ende des 19. Jahrhunderts gab es in literarischen Kreisen ein rein ästhetisches Interesse an Liturgie, das Stephane Mallarmé ebenso wie der Opfergedanken der Messe beschäftigte. 1887, also i m Jahr nach dem Weihnachtserlebnis, gelingt es Claudel, zu den Dienstagen dieses agnostischen Dichters zugelassen zu werden. Er schickt dieser Leitfigur der Avantgarde, ja modernen Dichtens überhaupt, eigene Dichtungen, widmet ihm welche und pflegt U m gang mit Mitgliedern seines Kreises, die sein religiöses Suchen keinesfalls teilen. Was an liturgischen Elementen i n den frühen Dramen zu finden ist - und dies ist keineswegs wenig - passt in diese ästhetisierende Perspektive, obwohl Claudel damit sicher mehr i m Sinne hatte. Bei aller Distanz, die er später zu Mallarmés Agnostizismus bezogen hat, anerkennt er, von ihm die entscheidende Frage, die er an alles richtet: »Was bedeutet es?« sowie die A n t w o r t gelernt zu haben, dass man nicht beschreiben, sondern deuten muss. 18 Dichtung ist für Claudel Weltdeutung. Damit unterscheidet er sich von jener Tendenz in der Literatur des 20. Jahrhunderts, die wie z. B. der Nouveau Roman zum Beschreiben neigt. I n der ersten seiner Cinq Grandes Odes mit dem Titel »Les Muses« lässt er das lyrische Ich des Dichters sagen: 17 Dominique Millet-Gérard, Anima Vexégèse claudélienne (Paris 1990).
et la Sagesse. Pour une poétique
comparée de
18 »Quand on me demande mes souvenirs sur Stéphane Mallarmé, ma réponse est toujours celle-ci: c'est l'homme qui m'a appris à me placer devant tout objet offert à mon attention avec cette question: Qu'est-ce que cela veut direï I I ne s'agit pas de peindre, il s'agit d'interpréter« [Claudel, Œuvres en prose, 1466, A n m . 4].
Das Drama mit Gott bei Claudel
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J'ai trouvé le secret; je sais parler; si je veux, je saurai vous dire Cela que chaque chose veut dire. Je suis initié au silence; i l y a l'inexhaustible cérémonie vivante, il y a un monde à envahir, i l y a un poëme insatiable à remplir par la production des céréales et de tous les fruits, 1 9
Der Dichter verhilft allem zu seinem Ausdruck. Da er ins Schweigen eingeweiht ist, spricht er aus, was alles eigentlich sagen bzw. bedeuten will. A n dieser Stelle wechselt die Ode ins Metaphorische und setzt das Schöngeistige der Lyrik mit dem Ackerbau in Beziehung, dessen wirtschaftliche Seite den Alltag des jungen Diplomaten in China ausfüllte. Die Metaphorik vergegenwärtigt somit die harte Realität des europäischen Kolonialismus oder auch des amerikanischen Kapitalismus, 2 0 mit denen Claudel in seinem Beruf lieber beschäftigt war als mit Repräsentationspflichten und gesellschaftlichen Anlässen, gegen die er eine tiefe Aversion besaß. Die Suche nach Bedeutung passt zur »Parabole d'Animus et d'Anima«, ein Gleichnis, das Claudel in seine Réflexions et propositions sur le vers français (1925) einfügte, u m sein Verständnis einer zweiten, 1886 nur Insiderkreisen bekannten Leitfigur modernen Dichtens, Arthur Rimbaud, zu illustrieren. Die Entdeckung der beiden Gedichtsammlungen Rimbauds in der literarischen Zeitschrift La Vogue schaffte nach Aussage des Dichters die Voraussetzungen für das spätere religiöse Erlebnis in der Weihnachtsvesper. Neben dessen neuer poetischer Sprache fasziniert Claudel weniger Rimbauds poetisches Umspielen wissenschaftlichen Denkens als dessen jugendliche Revolte gegen die Wertvorstellungen seiner Zeit, gegen Wissenschaftsgläubigkeit wie Religion. 2 1 Er empfindet sie als Befreiung, der er womöglich den letzten Anstoß zum eigenen Schreiben verdankt. 2 2 Das einzige erhaltene Gedicht aus der Zeit vor der Bekehrung »Pour la messe des hommes dernier sacrifice d'amour«, 2 3 das Claudel erst spät veröffentlichte, weil er es für schwach hielt, thematisiert dieses ästhetische Interesse an L i t u r g i e 2 4 mittels starker Anleihen an Rimbaud.
19 Paul Claudel, Œuvre poétique. Introduction par Stanislas Fumet. Textes établis et annotés par Jacques Petit (Paris 1967), 231. Vgl. dazu Verf., Poesie und Eros. Die Fünf Grossen Oden von Paul Claudel (München 1972), 34. 20 Die offizielle Korrespondenz als Diplomat und die i m Außerministerium aufbewahrten Gutachten erweisen ihn als Fachmann für Wirtschaftsfragen, mit denen er sich während seines aktiven Dienstes immer intensiv beschäftigt hat. 21
Später hat er allerdings immer wieder die religiösen Aussagen von Rimbauds Lyrik deutend umkreist. 22 Vgl. »Que fait Claudel lorsqu'il évoque la figure de Rimbaud en relation avec l'épisode crucial de sa conversion, sinon d'écrire l'histoire mythique de ses propres commencements, ne retenant de leur historicité que ce qui pourra s'intégrer dans un tableau exemplaire, clé de son existence entière?« (Millet-Gérard, Anima et la Sagesse, 33). 23
Claudel, Œuvre poétique, 5 f.
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Was bezweckt der A u t o r mit seinem Gleichnis? I m Gleichnis versinnbildet Animus sowohl die Rationalität als auch die Sprachmächtigkeit des Dichters. Animus beansprucht herrisch das Wort für sich und behandelt Anima übel, obw o h l er eigentlich nur deren Reichtum ausbeutet. Der Dichter wie der Wissenschaftler können wortgewaltig auftreten, aber nichts Wesentliches sagen, wenn sie es nicht von Anima lernen, die schweigt, sobald sie sich von Animus beobachtet weiß. Animus entdeckt nur zufällig ihren Gesang und ist so von ihm gefesselt, dass er Anima überlistet, u m wieder heimlich ihrem Gesang lauschen zu können. Dominique Millet-Gérard bezeichnet diese Überlegungen als Metasprache (métalangage) i m Sinne einer »variation continue sur le thème du mariage d'Animus (= le >choc< mallarméen) et Anima (= la >fécondation< rimbaldienne), dans la ligne de la moderne réflexion symboliste sur Pessence du langage et du phénomène poétique« 2 5 . Dieser Denkansatz ermöglicht Claudel eine Zusammenschau der Sphäre des Dichterischen mit jener des Religiösen unter den Vorzeichen des Weiblichen, das in der alttestamentarischen Figur der Weisheit und in Maria verbunden ist. 2 6 So erklärt sich die Bemerkung in La Rose et le rosaire (1946): Souvent la présence d'une femme, le passage d'une femme auprès de nous, suffit à nous troubler jusque dans la profondeur. Que sera-ce de la Femme qui est la mère de D i e u ? 2 7
Wenn w i r die »Parabole dÂnimus et dÄnima« ernst nehmen, dann dürfen w i r uns nicht daran stoßen, dass sich Claudel durch das Dichtungsverständnis der Modernität zum dichterischen Erkunden jener Bereiche ermutigt sieht, die dem Zugriff der Ratio entzogen sind. Er liebt dichterische Aussagen, die fließend ins Religiöse übergehen, weder frei von Widersprüchen sind, noch es erlauben, Poesie restlos in die Logik der Prosa zu übersetzen. Seine poetische Schau und ihre Sprachmagie können deshalb auch jene faszinieren, die zwar nicht seinen Glauben, aber seine Offenheit für den Gesang von Anima teilen. Claudel hat in Rimbauds Dichtung jenen Reichtum von Anima wahrgenommen, den die Wissenschaftsgläubigkeit des 19. Jahrhunderts als etwas Unseriöses aus ihrem Horizont ausgeschlossen hat. Er blieb zeit seines Lebens v o m Reichtum des durch rationale Prinzipien des Animus nicht einzufangenden Universums von Anima überzeugt und wäre deshalb sicher zu einem der Vorläufer der Post24 » [ . . . ] la >Messe des hommes< est déjà un »exercice décadent< [André Vachon, Le temps et l'espace dans l'œuvre de Paul Claudel. Expérience chrétienne et imagination poétique (Paris 1965), 52]. 25
Anima et la Sagesse, 19.
26
Vgl. »Mais le coup de génie de Claudel consiste à avoir rassemblé les fils épars de la réflexion symboliste en une grande construction cohérente dont la pierre angulaire est la figure féminine« (Millet-Gerard, Anima et la Sagesse, 793). 27 Paul Claudel, Le Poëte et la Bible. 1.1910-1946. Édition établie, présentée et annotée avec la collaboration de Dominique Millet et Xavier Tilliette (Paris 1998), 1299.
Das Drama mit Gott bei Claudel
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moderne erhoben worden, wenn er nicht diese Vorstellung gleichermaßen für den Glauben reklamiert hätte, ohne diesen ins Beliebige aufzulösen. Diese Bipolarität bringt ihn auf den Gedanken, Rimbaud einen Mystiker in wildem Zustand, »un mystique à l'état sauvage «28 zu nennen. Diese Deutung hat ihm von Seiten der Rimbaud-Forscher herbe K r i t i k , ja H o h n eingebracht, ist aber nur solange anstößig, als man sich nicht der Mühe unterzieht, sie i m Kontext seines Dichtungsverständnisses zu interpretieren. I n der Sammlung La Messe là-bas handelt das Gedicht »Consécration« von Rimbaud. D o r t heißt es über ihn: Tu ne te trompais pas quand tu dévorais les choses ainsi, poëte sans le pouvoir de prêtre, >Ceci estAbsage< in Ligugé Fiktion und Leben verbinden, somit eine Literarisierung seines Lebens sind. 4 6 Die imaginäre Welt folgt ihrer eigenen inneren Logik, die nur bedingt mit den Wechselfällen des Lebens zusammenhängt. Deswegen dürfen w i r das Drama mit Gott i m Schaffen von Claudel nicht einfach auf seine Biographie zurückführen, sondern müssen überlegen, wie seine dichterische Phantasie damit umgeht. I m Drama La jeune fille Violaine , dessen zweite Fassung 1901 i n der Sammlung L'Arbre veröffentlicht wird, verzichtet die Titelheldin auf ihren Verlobten, den ihre Schwester Mara erobert hat, sowie auf ihr Erbe, während ihre Schwester Mara ihr heiße Asche in die Augen streut, damit sie erblindet. Als Mara einen blinden Sohn zur Welt bringt, sucht sie ihre Schwester Violaine auf, die arm unter Bettlern in der Einsamkeit lebt und als Wundertäterin gilt. Violaine kann dem K i n d auf wunderbare Weise das Augenlicht wieder geben, w i r d aber dann von ihrer eifersüchtigen Schwester niedergeschlagen. Als sie nach Hause getragen wird, gesteht sie ihrem früheren Verlobten ihre Liebe zu ihm, klärt ihn über die wahren Vorgänge auf und verpflichtet ihn, seine jetzige Frau Mara zu lieben. Diese Fabel mag vielleicht manchem befremdend vorkommen. Deshalb möchte ich einschieben, dass sie nicht nur ein zentrales Moment in Claudels Œuvre, sondern auch in dessen Wirkungsgeschichte ausmacht. Violaine verkörpert den Gedanken des Opfers und w i r d v o m A u t o r zu einem seiner bekanntesten Dramen weiterverarbeitet, L'Annonce faite à Marie, dessen erste Fassung 1912 in Paris durch Lugné-Poe uraufgeführt und 1913 i m Festspielhaus Hellerau in einer sehr freien deutschen Ubersetzung von Jakob Hegner gespielt wird. Beide Male handelt es sich u m Spielstätten, die neue Theaterformen erprobten. Thomas Mann bekennt 1918 in den Betrachtungen eines Unpolitischen, er habe Maria Verkündigung »mehrmals mit größter Rührung und Freude« gelesen und den »stärksten"künstlerischen Eindruck davon emp45
Claudel, Œuvre poétique, 276.
46
Vgl. Gérald Antoine in: Claudel, Partage de Midi, 7.
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fangen« 47 . Womit konnte diese Sicht der Opfer-Thematik Leser und Publikum faszinieren? Zunächst durch ihre Neuartigkeit, denn eine solche Ausgestaltung der konventionellen Dreiecksgeschichte und Eifersuchtsthematik ist ungewöhnlich. Thomas Mann lobt aber auch »die köstliche Mischung von Klarheit und Mystik« i m Stück sowie »seine hohe, zarte und demütige Empfindsamkeit« 4 8 . Violaine entdeckt in ihrem Elend eine Stimme in sich und erfährt plötzlich eine Umkehrung ihrer Selbstvergewisserung, die sie in die Worte fasst: Ce n'est point nous qui choisissons, c'est nous qui sommes choisis. 49
Solche Aussagen findet man vielfach i m geistlichen Schrifttum, aber Claudel fasst den Gedanken in starke Bilder, wenn er die Anziehungskraft dieser inneren Stimme mit sexuellem Erleben veranschaulicht: Au-dessous de la raison, au-dessous de la conscience, au-dessous du sens, Au-dessous de l'instinct, et de toute la part allumée de nous-mêmes, De l'attraction disproportionnée de celui qui est comme l'abîme et le silence, Voici que, tout éperdus, dans une révolte comme celle de la conception, Nous sentons que nous ne pouvons plus défendre ceci en nous Q u i est comme le noyau germinal, le grain intime, la sentence de notre propre n o m . 5 0
Die Wendung am Schluss der zitierten Passage spielt auf die bekannte Stelle aus Jesaja an: »So sollst du erkennen, dass ich der Herr bin, der dich bei deinem Namen ruft, ich, Israels Gott« (Is. 45,3). Diese Bibelparaphrase muss man i m Lichte von Claudels bereits erwähnter Verarbeitung von Mallarmé deuten, die i m Art poétique mit Berufung auf die Bibel in der Wendung des »nom nouveau« zutage tritt und folgendermaßen charakterisiert wird: [ . . . ] ce nom propre en qui nous avons été appelés à naître pour l'éternité, ce nom ineffable qui reste à jamais un secret entre le Créateur et nous et qui n'est communiqué à aucun autre. Apprendre ce nom, c'est comprendre notre nature, nous nourrir de notre raison d'être. 5 1
Claudel, der sein Leben lang viel über das Problem des Namens nachgedacht hat, lässt seine Überlegungen über die Natur des Menschen in die Aussage münden, es sei unmöglich, den Personkern des Menschen zu fassen. Er begründet diese Uberzeugung mit einer theologischen Anthropologie: 47 Paul-André Lesort, Paul Claudel in Selbstzeugnissen und Dokumenten 1964), 142. 48
(Hamburg
Lesort, Paul Claudel , 143.
49
Paul Claudel, Théâtre. Tome I. Introduction et chronologie de la vie et de l'ofeuvre par Jacques Madaule (Paris 1956), 601. 50
Claudel, Théâtre. I., 621.
51
Claudel, Œuvre poétique, 198 f.
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Mais au-dessous de tout, i l y a la personne que je serais bien embarrassé de définir, puisque comme la terre le Créateur a voulu que nous soyons suspendu sur rien [Job 26, 7]. Et sous la personne même i l y a le nom que Dieu seul connaît et qui l'a appelée à l'existence, une existence qui ne consiste qu'à répondre. 5 2
Gegen das Pochen auf die Autonomie des Subjekts betont Claudel die Berufung, die in der Konstitution jedes Geschöpfes und seiner Einbindung in seine U m w e l t grundgelegt ist. Das Drama mit Gott kann aus diesem Konstitutionsprinzip bzw. aus den Konflikten erwachsen, die diese Einbindung mit sich bringt. Als Dramatiker konzentriert sich Claudel auf Konstellationen, in denen sich eine außergewöhnliche Figur besonderen Anforderungen stellen muss. Die Beziehung zwischen Mann und Frau spielt dabei manchmal eine eigentümliche Rolle. Schauen w i r uns Beispiele für diesen Gedanken in Claudels Trilogie an. I n Le Père humilié lieben die Brüder Orso und Orian dieselbe Frau, die blinde Pensée. Der schüchterne Orso lässt seinen Bruder Orian an seiner Stelle u m sie werben. Orian berichtet Papst Pius, dass er dabei etwas Unerwartetes erlebt hat: A h , j'étais trop orgueilleux aussi, trop dur, trop sûr de moi-même! Tout cela qu'il y avait en moi et que je ne connaissais pas, à mesure qu'elle parlait, tout cela qui fournissait en moi comme de la musique! I l ne fallait pas que la vie fût si facile pour moi, il y a quelqu'un qui s'est chargé d'y mettre bon ordre. Ce n'est pas drôle qu'à la vue de ce beau visage sans que je sache comment, i l y ait quelque chose en moi qui se soit mis à chanter? [ . . . ] Toute une partie de moi-même dont je croyais qu'elle n'existait pas, parce que j'étais occupé ailleurs et que je n'y pensais pas. A h Dieu, elle existe, elle vit terriblement! 5 3
Die literarische Vorstellung von der Frau als Muse des Dichters weitet sich hier ins allgemein Menschliche aus. Der selbstsichere Verstand stößt durch die Begegnung mit einer Frau in neue Dimensionen vor, weil Anima durch die Wahlverwandtschaft mit ihr Melodien zu singen beginnt, die der herrische Animus bisher nicht kannte. Der nahe liegenden Lösung, dass die beiden Liebenden für einander bestimmt sind und heiraten sollen, widerspricht Papst Pius unter Protest von Orso mit der überraschenden Begründung, dass Pensée sich von einer Vereinigung mit Orian ein rein innerweltliches Glück verspricht, das ihr keine wahre Erfüllung ihres Sehnens bringt. Orians Opfer bildet die Voraussetzung dafür, dass der Papst ihn mit dem erstaunlichen Auftrag zu den Menschen aussendet: 52 53
Claudel, Le Poète et la Bible. I., 750.
Paul Claudel, Théâtre. Tome II. N o t e bibliographique et textes établis par Jacques Madaule (Paris 1956), 521.
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Fais-leur comprendre qu'ils n'ont d'autre devoir au monde que de la joie! La joie que nous connaissons, la joie que Nous avons été chargé de leur donner, faisleur comprendre que ce n'est pas un mot vague, un insipide lieu commun de sacristie, Mais une horrible, une superbe, une absurde, une éblouissante, une poignante réalité! et que tout le reste n'est rien auprès. 54
Die wahre Freude ist nichts rein Innerweltliches. Sie zerstört die Selbstgewissheit des Menschen und wirft ihn letztlich aus der Bahn, die er sich ausgedacht hat. Sie beinhaltet jedenfalls einen A k t des Verzichtens auf Selbstvergewisserung. Das Opfer kann die Voraussetzung für das Entstehen von Freude sein. I m ersten Gespräch von Orian mit Pensée w i r d schon die Freude i n diesem Sinne an den Erlösungsgedanken gebunden, wenn Orian gegen Pensées am Alten Testament orientierte Haltung opponiert: Pensée - Nous ne voulons pas de la souffrance! Orian - Vous ne voulez donc point de la joie. 5 5
Die Freude, die der Dramatiker i m Auge hat, verdankt sich dem Opfer, mit dem Christus die Menschen erlöst hat. Trotz der Verklärung seines irdischen Eros erteilt Claudel allen Versuchen, durch das Liebesglück zur Erlösung zu finden, eine klare Absage. So passt es zu dieser Logik des Gedankens, wenn Orian i m Gespräch mit Pensée ihre Trennung mit der erstaunlichen Begründung rechtfertigt: I l est nécessaire que je ne sois pas u n heureux! I l est nécessaire que je ne sois pas un satisfait! I l est nécessaire que l'on ne me bouche pas la bouche et les yeux avec cette espèce de bonheur qui nous ôte le désir ! 5 6
Dieses Prinzip des Verzichts auf ruhiges Glück und der positiven Rolle von ungestilltem Verlangen gilt für Claudels ganzes Schaffen. Seine Dichtung gewinnt dadurch an Rang, dass er zwischen den Lehrmeinungen und dem konkreten Menschen zu unterscheiden vermag. Pensées Liebe bezwingt Orians Widerstand, ohne ihn von seiner Sendung abzuhalten, die er mit seinem Leben bezahlt. D o c h Pensée erwartet von ihm ein K i n d und erhält so eine Wiedergutmachung für das Opfer ihrer Großmutter Sygne de Coûfontaine, deren Nachkommen Orian »mit einer Beschwerde und einem Schuldschein« 57 vor sich sieht. 54
Claudel, Théâtre. II., 528. Zur Deutung dieser Stelle und der ganzen anklingenden Thematik vgl. Pierre Ganne, Die Freude ist die Wahrheit. Ein Rundgang durch das Werk Claudels (Einsiedeln 1968), 2 9 - 3 3 . 55
Claudel, Théâtre. II., 508.
56
Claudel, Théâtre. II., 534.
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Sygnes Opfer ihrer Liebe zu Georges de Coüfontaine ist anders geartet, weil die Verbindung beider durch den Widerstand gegen die Folgen der Französischen Revolution und die Zielsetzung inspiriert ist, das Aussterben des Adelsgeschlechts der Coüfontaine zu verhindern. Der widerliche Gegenspieler von Georges de Coüfontaine, Toussaint Turelure, erpresst Sygne, die der einfache Pfarrer Badilon zur Selbstaufgabe bewegt, 5 8 u m den Papst zu retten. Claudel gestaltet in L'Otage die persönlichen Schicksale der beiden Adeligen, denn Georges, durch dessen Handeln der Papst zur Geisel und Sygne zum Opfer der Erpressung wird, kann ihr Verhalten weder verstehen noch innerlich bejahen. Sygne wiederum w i r d mit dem ihr auferlegten Opfer verständlicherweise nicht fertig. Claudel ringt lange mit der Gestaltung dieser Problematik, vor allem in der Schlußszene, die auch die Kritiker bei der Uraufführung 1914 beschäftigt hat. Sygne hat ihrem Ehemann Turelure einen Sohn geboren, den sein Vater i m zweiten Drama der Trilogie, Le pain du,r y hasst, entzieht sich ihm jedoch. Sie vertritt loyal und erfolgreich in den Verhandlungen mit Georges als Abgesandten des Königs die Interessen ihres opportunistischen Ehemannes, der die Ermöglichung einer Rückkehr des Königs an die Abtretung des N a mens und der Rechte derer von Coüfontaine bindet. Als Georges aber Turelure erschießen will, stellt sie sich vor diesen und opfert sich für ihn, verweigert ihm aber anschließend die Geste der Versöhnung, die er als Zeichen für seine Erlösung erbittet. Die eigentümliche Lösung der Problematik der Erlösung des Usurpators, mit der sich Claudel intensiv beschäftigt hat, 5 9 rührt von seiner Verwurzelung in der Modernität her. 6 0 Der Dramatiker ändert seinen Text immer wieder, u m diesem Ende eine gewisse Offenheit zu lassen, die seiner religiösen Intention entspricht. Er lässt zwar Georges als Verteidiger der Monarchie i n der Revolte 57 So übersetzt Herbert Meier »avec un grief et une créance« (Claudel, Théâtre I I , 528) treffend [Paul Claudel, Die Trilogie. Die Geisel. Das harte Brot. Der Erniedrigte (Freiburg 2007), 284]. 58 Man kann sich darüber streiten, ob er sie moralisch dazu zwingt. Die Varianten belegen, dass Claudel mit diesem Problem hart gerungen hat (Vgl. Jean-Pierre Kempf Jacques Petit, Études de la »Trilogie« de Claudel 1. UOtage, 3 9 - 4 4 ) . Nach meiner Meinung hat der schockierende Dialog mit Badilon vorwiegend dramaturgische Funktion. D e m einfachen Dorfpfarrer fällt die undankbare Aufgabe zu, eine für Claudel wichtige theologische Dimension des Opfergedankens zu vergegenwärtigen, den Badilon zwar geltend machen, aber nicht verantworten kann und will. 59 Vgl. »La mise en évidence du personnage de l'usurpateur conduit en effet à envisager l'évolution du drame claudélien [ . . . ] comme un effort sans cesse repris pour sauver ce personnage obsédant de l'usurpateur, de l'échec de Tête d ' O r à la victoire de Camille« [Jacques Petit, Claudel et l'usurpateur (Paris 1971), 55]. 60 Vgl. Verf., »Claudel und die Modernität«, Literaturwissenschaftliches N F 14 (1973), 421-444.
Jahrbuch,
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gegen Gott angeekelt darüber sterben, dass die Monarchie durch ein Bündnis mit dem ehemaligen Revolutionär Turelure die Oberhand gewinnt, w i l l aber Sygne menschlich dadurch glaubwürdig machen, dass sie am ihr auferlegten Opfer zerbricht. Die menschliche Glaubwürdigkeit einer Person w i r d damit über die religiöse Moral gestellt, ohne dass diese damit hinterfragt würde. Claudel möchte damit in Anlehnung an sein persönliches Schicksal deutlich machen, dass die konkreten Verhältnisse nicht einfach in der Logik eines Wertesystems aufgehen können. Turelure w i r d erst i m zweiten Drama der Trilogie, Le pain dur ; für seine Niedertracht bestraft. Als Geizhals treibt er seinen Sohn zum Äußersten, so dass dieser zwei Schüsse auf ihn abfeuert. O b w o h l diese ihn nicht treffen, stirbt er als Angsthase den lächerlichen Tod durch den Schrecken, den er erleidet. Zuvor wollte er seinem Sohn noch dessen Geliebte abspenstig machen, die Polin Lumir, die dann letztlich wieder ihrerseits ihren Liebhaber sitzen lässt, u m ihre Existenz einem utopischen Kampf für die Befreiung Polens zu opfern. I m dritten Drama der Trilogie, Le père humilié , w i r d ihr tragisches Ende nebenbei in einer Bemerkung über sie mitgeteilt. 6 1 D o r t ist die blinde Pensée die Tochter aus der Ehe von Turelures Lebensgefährtin Sichel und dessen Sohn Louis, der ebenso charakterlos wie sein Vater und eigentlich sein treues A b b i l d ist. Dürfen w i r dann wenigstens hoffen, dass das K i n d von Orian und Pensée eine Wendung zum Besseren bringt? Der Dramatiker beantwortet diese Frage nicht und gesteht damit das Undurchschaubare des Weltgeschehens ein. Doch ist dies nicht sein letztes Wort zum Drama mit Gott. War die Epoche der Französischen Revolution in der Trilogie das Indiz für die Entsakralisierung der politischen Vorstellungen und die Marginalisierung des Christentums i m europäischen Bewusstsein nach der Aufklärung, so vergegenwärtigt Le Soulier de satin die Zeit der Eroberung des spanischen Weltreichs als eine Epoche, i n der die Geschlossenheit Europas sich zu einer neuen Weltkultur öffnet. Die Entdeckung Amerikas bedeutet einerseits eine Rundung des Erdballs, andererseits die Relativierung der europäischen Vorstellungswelt durch die Begegnung mit anderen Kulturen. Das Stück wurde 1944 von JeanLouis Barrault i m besetzten Paris uraufgeführt und kurz darauf in Zürich in der Ubersetzung von Hans Urs von Balthasar gespielt, die dann auf deutschen Bühnen bis 2003 gegenwärtig blieb, als Herbert Meier für die Basler Inszenierung von Stefan Bachmann eine neue Übersetzung verfasste. 62 Man hat dieses Drama auf den Begriff des Welttheaters festlegen wollen. Dies trifft nur inso61 62
Vgl. Claudel, Théâtre. II., 494.
Vgl. Paul Claudel, Der Seidene Schuh. Aus dem Französischen von Herbert Meier (Freiburg 2003). I m selben Verlag sind auch Balthasars Übersetzungen von Claudels Lyrik greifbar.
Das Drama mit Gott bei Claudel
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fern zu, als vom Prolog bis zum vierten Tag immer wieder das Meer das alles tragende und verbindende Element, aber auch den wankenden Boden abgibt, auf dem die Menschen ebenso wie die Kontinente i n einer manchmal tragischen, teilweise komischen Bewegung sind. 6 3 Die Länge und Komplexität dieses Dramas konnte nur langsam auf der Bühne umgesetzt werden. Barrault spielte es 1980 erstmals ganz, Antoine Vitez brachte es i m Juli 1987 beim Festival von Avignon ohne wesentliche Kürzungen heraus, und diese Inszenierung war i m Oktober 1987 in Berlin zu sehen. 64 Olivier Py hat 2003 in Avignon dasselbe Experiment gewagt. I n der letzten Unterredung der Protagonisten des Dramas ( I I I , 13) verhandelt Dona Prouhèze vor der Festung Mogador mit D o n Rodrigue, den sie zu Hilfe gerufen hat. Wie Sygne de Coüfontaine hält sie D o n Camille, dem A b trünnigen, die Treue, nachdem sie ihre Aufgabe, ihn in Schach zu halten, nur dadurch erfüllen konnte, dass sie sich ihm hingab. Dona Prouhèze bittet D o n Rodrigue, sie freizugeben, übergibt ihm ihre Tochter Dona Sept-Épées w i l l aber selbst zu D o n Camille zurückkehren, u m mit ihm ein gewaltsames Ende zu nehmen. D o n Camille hat somit mehr Glück als Turelure, dem er in vieler Hinsicht gleicht, denn der Dramatiker lässt ihn mit seiner Gewalttätigkeit oder vielleicht sogar gerade wegen ihr, zum Heil kommen. Diese Peripetie w i r d in einer Szene vorbereitet, w o der Schutzengel der schlafenden Dona Prouhèze D o n Camilles Verlangen aus himmlischer Sicht erklärt. Schon i m zweiten Tag hält D o n Camille seinem Gegenspieler D o n Rodrigue höhnisch vor: Vous vouliez satisfaire à la fois votre âme et votre chair, votre conscience et votre penchant, votre amour, comme vous dites et votre ambition. 6 5
D o n Camille als Negativgestalt darf in seiner Bosheit all das tun, was sein positives Gegenstück D o n Rodrigue gerne täte. Das Drama mit Gott kommt somit an den Punkt, w o auch der Böse auf sein H e i l hoffen darf. Wenn man diese Lösung des Dramas mit Gott als Kern der Vorstellung vom Welttheater bei Claudel ansehen möchte, dann kann man nicht mit kritischer Absicht von einer Neuauflage eines barocken Konzepts sprechen, sondern muss wie Claudel mit 63 Erich Przywara unterstreicht, dass in diesem Drama »das Meer selbst Symbol des zwecklosen Spiels in sich selbst« ist, und folgert, dass Claudel »unnachsichtig die W i r k lichkeit des wirklichen Lebens als reines Spiel unüberschaubarer scheinbarer Unordnung« darstellt [Erich Przywara, In und Gegen. Stellungnahmen zur Zeit (Nürnberg 1955), 150 f.]. 64
Vgl. Verf., Totales Theater als Herausforderung an die Interpreten: literaturwissenschaftliche Bemerkungen zu den Inszenierungen von Claudels Soulier de satin durch JeanLouis Barrault und Antoine Vitez, in: Franz Norbert Mennemeier und Erika FischerLichte (Hgg.), Drama und Theater der europäischen Avantgarde (Tübingen / Basel 1994), 255-270. 65
Claudel, Théâtre. II., 756.
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einem portugiesischen Sprichwort betonen: »Gott schreibt auch auf krummen Linien gerade«. 66 Der Schluss des zweiten Tages des Soulier de satin verschaulicht in zwei dramatisch wie dichterisch kühnen Szenen das Drama der beiden Protagonisten mit Gott. Zunächst spricht der »Doppelschatten« eines Mannes und einer Frau die Anklage: Et pourquoi ont-ils inscrit sur le mur, à leurs risques et périls, ce signe que Dieu leur avait défendu? Et pourquoi m'ayant créée, m'ont-ils ainsi cruellement séparée, moi qui ne suis qu'un? 6 7
Der M o n d greift in der nächsten Szene diese Thematik auf und lässt Dona Prouhèze i m Traum sprechen: Jamais je ne pourrai plus cesser d'être sans lui et jamais il ne pourra plus cesser d'être sans m o i . 6 8
Die Vorstellung von ewiger Liebe w i r d dann in erstaunlicher Weise korrigiert, wenn Dona Prouhèze sagt: A h ! J'ai de quoi lui fournir ce qu'il me demande ! O u i , ce n'est pas assez de lui manquer, je veux le trahir, C'est cela qu'il a appris de moi dans ce baiser où nos deux âmes se sont jointes, t...] Si je ne puis être son paradis, du moins je puis être sa c r o i x ! 6 9
Das Drama mit Gott kreist bei Claudel immer u m das Kreuz, dessen schreckliche Realität dem Dramatiker die wahre Liebe und die Nachtseiten des Menschen in Erinnerung rufen. I m zweiten Kreuzweg, den Claudel in seinem Alter (1952) geschrieben hat, fragt er in Hinblick auf Veronica, die dem Leidensmann ein Schweißtuch reicht: Cette femme qui essuie le visage du Christ, pourquoi ne serait-ce pas une enfant? 70
Der späte Claudel, der in seinem Schloss in Brangues seine Bleibe und seine letzte Ruhestätte gefunden hat, schließt zwar nicht die Augen vor dem Drama mit Gott, aber er sucht aus den Erfahrungen eines bewegten Lebens und einer reichen literarischen Ernte kein tragisches, sondern ein versöhnendes Fazit zu ziehen. 66
»Deus escreve direito per linhas tortas« (Claudel, Théâtre. II., 647).
67
Claudel, Théâtre. II., 762 f.
68
Claudel, Théâtre. II., 765.
69
Claudel, Théâtre. II., 765.
70
Paul Claudel, Le Chemin de la croix n° 2, X I Véronique, Bulletin de la Société Paul Claudel, 42 (1971), unpaginierter Faksimiledruck des Manuskripts.
Plotting Inheritance: Literary Configurations of Cultural Succession By Jorg Thomas Richter For Jules Zanger Early in Susan Glaspell's drama Inheritors, Silas Morton, a second generation Midwestern farmer, wonders: »Ain't it queer how things blow from mind to mind - like seeds.«1 Silas' wonder refers to a number of cultural transmission processes, that comprise behavioral patterns and ideas but also biological and economical properties. As already the title of Glaspell's drama, Inheritors, suggests, the entire play foregrounds the strange transmission of human characteristics from one generation to another, from the past to the present, from a then to a now. 2 I n a way typical for the 1920s and later periods, Glaspell aligns generational change to fantasies of cultural reproduction. The following paper w i l l chiefly concentrate on GlaspelFs play. I w i l l use the play, however, to reflect on the literary fashioning of intergenerational ties in a larger sense by providing some additional evidence from the drama of the late 1930s and 1940s. The aim is to show some options of how literature reflects on, or reacts to a diversity of culturally established inheritance discourses. Anxiety over issues of cultural continuity loomed large in the aftermath of the First World War on account of urbanization and industrialization processes on a large scale, due to an ever increasing mass immigration predominantly from Eastern Europe, and also due to the social changes that went along w i t h female emancipation, growing divorce rates, and excessive individualism. The climax of eugenic thinking in the 1920s, w i t h its often racist worrying about the decline of a native racial stock, has meanwhile been well investigated. 3 1
Susan Glaspell, Inheritors , in: Plays , ed. C. W. E. Bigsby (Cambridge 1987), 103-157, here 115. Hereafter cited parenthetically w i t h i n the text. 2 Such fantasies of inheritance recall a number of classical literary motifs that had already haunted a number of nineteenth-century authors in the guise of the cri-du-sang, or voiceof-blood-motif. See Jörg Thomas Richter, »Exemplary American: Logan, the Mingo Chief, in Jefferson, Neal and Doddridge,« in: Colonial Encounters: Essays in Early American History and Culture , ed. Hans-Jürgen Grabbe (Heidelberg 2003), 157-172, here 167-170. 3 See Daniel J. Kevles, In the Name of Eugenics: Genetics and the Uses of Human edity (New York 1985).
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Again and again, eugenicists pointed out how, for instance, declining birth rates, the ever increasing age of marriage, unrestrained individualism, and the spread of mental illnesses were due to genetic mismatches in past generations. The growing concern that American society might tear apart under such cultural tension became manifest in the discourse about inheritance and family. I n a manner exemplary for the 1920s up to the 1940s (and even for today's debates about family decline), the Harvard sociologist Carle C. Zimmerman, who w i t h Pitirin Sorokin had founded the >rural sociology< in the 1920s, complains after one and a half decade of research into agrarian families and family economy that [t]he Western family is rapidly approaching its third violent crisis. [ . . . ] It w i l l be reflected in extremely high rates of all the symptoms of family decay - divorce, childlessness, disloyality of family members to each other, and the unwillingness of many persons to burden themselves w i t h families. Even heterosexuality itself w i l l be challenged. This development of antifamilism w i l l be associated w i t h a changed system of social relations in which more and more human behavior w i l l be based on willed contract, compulsion, and temporary selfish interest rather than on family feeling and the voluntary willingness of persons to carry on their daily social duties. 4
For contemporary demographers and sociologists, the modern tendency towards antifamilism combined w i t h immigration statistics came to the result »that the birth rate of the native whites in the United States is declining to such an extent that that element in our population threatens to become extinct if present tendencies continue.« 5 The wear and tear of the social fabric is believed to be borne out in the family, and if any disruption of cultural coherence should occur, as some contemporary social reformers would have it, it is sensed first and precluded first w i t h i n that basic social element. Inheritance is, of course, a broad term, covering a variety of transmission processes, and in analyzing inheritance a few rough distinctions are necessary. To begin with, one needs to distinguish between what is inherited on the one hand - this includes as diverse things as the bequest of material assets, the transmission of behavioral patterns, cultural values, or, one should add, the quite 4
Carle C. Zimmerman, »The Social Conscience and the Family«, The American Journal of Sociology, 52 (1946), 263-268, here 263. Quite similarly in his analysis, even if different in the suggested remedies is Charles A . Ellwood, Sociology and Modern Social Problems, rev. ed. ( N e w York 1913), esp. chapt. V I I I . 5 Ellwood, Modern Social Problems, 177. Apparently, the crisis of the family has remained w i t h us ever since, at least as long as we believe the public discourse about the family. Modern versions of this tale can be found i n Phillip Longman, The Empty Cradle: How Falling Birthrates Threaten World Prosperity and What to Do about It ( N e w York 2004), or, in combination w i t h the traditional plea for the re-establishment of marriage, in David Popenoe's Life without Fathers: Compelling New Evidence that Fatherhood and Marriage Are Indispensable for the Good (New York 1996).
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biologically conceived continuity of a family across the various generations and the very transmission processes on the other hand that transfer these entities from one generation to the next. 6 As regards the transmission processes, it is helpful to line out what sociologists call the »imaginative references [that] govern [the] transmission between generations« in its two aspects: on the one hand there is a »fantasy of repetition [ . . . ] which recommends the return to tradition by establishing the broken link between founders and most recent generations«, and on the other hand there is a »permanent new deal [ . . . ] based on a never ending breaking, a process in which each generation makes a clean sweep of the past so as to invent another w o r l d in which the social link w i l l disintegrate w i t h the passing generation.« 7 Both >clean sweep< and establishing the broken link< are broad generalizations for the in fact quite heterogeneous array of cultural discourses about inheritance. As I w i l l point out below, inheritance might be conceived in a legalistic, biological, or cultural way. M y readings of Susan Glaspell's Inheritors, Clifford Odets' Awake and Sing!, and Arthur Miller's Death of a Salesman, w i l l highlight some of these discursive formations of inheritance as they become manifest in the plots of the different plays. I chose these plays because they all focus on the family. For it is, as sociology in the first half of the twentieth century sees it, above all the family that functions as »the prime instrument for the transmission of culture from one generation to the next.« 8 It is w o r t h noting that all the dramas considered here tell of family decline and dissolution rather than family prosperity, and they all use the family motif to more or less directly show the perversions of the American Dream ideology. 9 Given this scepticism, what was at stake for contemporary sociologists and dramatists alike was the odd permanence of some human features and cultural units transmitted despite such often adverse cultural change.
I.
Susan Glaspell's play Inheritors is firmly set w i t h i n the discourse of inheritance in the 1920s. To read the play against this background requires a brief sketch of this discourse. Contemporary conceptions of inheritance at that time were being shaped more and more by biological thinking. The impact of the 6
See Jean Kellerhals, Cristina Ferreira, and David Perrenoud, »Kinship Cultures and Identity Transmissions«, Current Sociology , 20.2 (2002), 213-228, here 214. 7 Bernadette Bawin-Legros, »Filiation and Identity: Towards a Sociology of Intergenerational Relations«, Current Sociology , 50.2 (2002), 175-183, here 176-177. 8 Helen Leland Witmer, »The Influence of Parental Attitudes on the Social Adjustment of the Individual«, American Sociological Review, 2 (1937), 756-763, here 757. 9 Paul Goetsch noted this more than 30 years ago. See his »Einleitung«, in: Paul Goetsch (ed.), Das amerikanische Drama (Düsseldorf 1974), 9 - 2 6 .
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rediscovery of Mendel's law on nineteenth-century evolutionary theory was immense, it was felt throughout American culture, not only i n drama. QuasiLamarckian ideas of inheritance had still been in currency up to the end of the nineteenth century. The widespread conviction that acquired traits could be inherited counterbalanced the unsettling randomness of Darwinian evolution, retaining the consolidating idea that evolution might eventually mean progress. After 1900, however, the biological determinism of Johann Georg Mendel and August Weismann gave short shrift to that idea. Evolution and heredity became separate. I f evolution accounted for development and variety, biological heredity made sure that the decisive cell nuclei were stably transmitted from one generation to the other. One might suspect that such biological determinism w o u l d seem inadequate to a culture that has been shaped by the popular m y t h of the self-made man. 1 0 I n sharp contrast, the genetic theory of the 1920s indeed held that the present generation was determined by the traits it inherited from past generations. A n exercise in applied genetics, the eugenic movement helped to show a way out of this cultural dilemma by adapting biological determinism to the m y t h of the self-made society in its combination of biological, demographic and psychological methods. »Rational mating< in order to »breed a better race< w o u l d avoid the randomness implicit in Darwinian evolution and allow for shaping a progressive, rationally controlled development of the race in the future. Thus, if the present is restrained by biological heritage, the future w o u l d again be open for deliberate design. According to Tamsen Wolff's recent study Mendel's Theatre, American drama i n the formative period of the 1920s was heavily influenced by contemporary biological and evolutionary theories. 11 I n particular the new science of eugenics provided a valuable frame of reference for American dramatists. I n the words of Eugene O ' N e i l l : »the subject of drama is man's struggle w i t h his o w n fate. The struggle used to be w i t h the gods, but it is now w i t h himself, his o w n past.« 12 As Wolff argues, contemporary dramatists began to found the motifs for theatrical plot in generational backformation in a more or less open analogy to genetic method. Aside from Mendelism, Wolff identifies a second prominent source for inheritance themes in the analytical dramas of Henrik Ibsen and August Strindberg, whose dramas time and again traced a family conflict in the 10 See Jules Zanger, »Consider the Lilies in the Field: The Inheritance Theme in American Literature«, The Antioch Review, 41.4 (1983), 480-487, here 483. His concise essay, focusing on economical rather than biological inheritance is especially good in pointing out the odd divergence of inheritance conceptions w i t h contemporary notions of the American Dream at the end of the nineteenth century. 11 Tamsen Wolff, Mendel's Theater: Performance, Eugenics and Early tury Drama (Unpublished Dissertation, Columbia University 2002). 12
O ' N e i l l qtd. in Wolff, Mendel's Theatre, 155.
Twentieth-Cen-
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present back to pathological or hereditary flaws in previous generations. 13 I n taking both Mendelism and the contemporary vogue of Scandinavian analytical drama into account, Wolff certainly has a point. Against this reading, I contend, however, that especially the drama of the 1920s shows i n how far Mendelian thought competes w i t h or merely complements other, already existing, models of inheritance. 14 Wolff's claim about Mendelian thought in the dramatic literature of the 1920s also disregards that even contemporary eugenics encompass a variety of non-Mendelian inheritance conceptions. I n fact, it w o u l d be quite reductive to leave such alternative, e.g. cultural, economic, or symbolic models of inheritance out of the picture. 1 5 Contemporary science is a case in point. I n the face of biological determinism and eugenics, even a university text book of genetics could still claim at that time: »Civilization is a matter of collective achievement; it is not a biological inheritance at all, but a cultural one. >We are the heirs of all the ages< not biologically, but only culturally.« 1 6 I n Taboo and Genetics: A Study of the Biological, Sociological, and Psychological Foundation of the Family, published in 1920, 17 even stronger opposition is mustered up on the very grounds of eugenics: »It is time to abandon the notion that biology prescribes in detail how we shall run society.« 18 I n the three essays that comprise the book, a biologist, an ethnologist and a psychologist each lay out a different plot of inheritance. Notwithstanding their methodological differences, the essays share a common intention. They all converge in the claim that »the patterns of our social life [ . . . ] go back to an immemorial past. [ . . . ] They [are] survivals of social habits just as the vestigial structures w i t h i n our body are the remnants of our biological past.« 19 What the cell nucleus means to the biologist, the 13 As Rudolph Binion states, the anti-familist sentiment of these dramas can in fact be seen w i t h i n the development of a larger discourse of »domestic crisis« that had formed throughout European fiction between 1879 and 1914 as a result of the redefinition of the family, especially in regard to intermarital birth-control. See Rudolph Binion, »Fiction as Social Fantasy: Europe's Domestic Crisis of 1879-1914«, Journal of Social History; 27A (1994), 679-699. 14 For a complementary position in regard to the treatment of the past in drama, see Patricia R. Schroeder, The Presence of the Past in Modern American Drama (London 1989). 15 For an up-to-date discussion of eugenics as a discourse pervasive in modernism see the special issue »Eugenics O l d and New«, New Formations, 60 (2007). 16
W. E. Castle, Genetics and Eugenics, 371.
17
Melvin Moses Knight, Iva Lowther Peters, and Phyllis Mary Blanchard, Taboo and Genetics: A Study of the BiologicalSociological, and Psychological Foundation of the Family (London and N e w York 1920). 18
Knight, Peters, Blanchard, Genetics and Taboo, 13.
19
Knight, Peters, Blanchard, Genetics and Taboo, 211.
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sociologist takes up when she is in her turn analyzing the function of the taboo in human development, and both biological and anthropological approaches finally combine in a concluding chapter that explores the mechanisms of human mating behavior through a behaviorist approach. Taboo and Genetics basically argues that since biological and ethnological development could not keep up w i t h the fast advance of cultural evolution, first of all, a rational redefinition of conventional gender roles on biological and social grounds is necessary. As the psychologist argues in the final chapter, »[ujnless modern civilization can set up some such form of rational control for the sexual and reproductive life of its members, the present conflict between individuation and socialization w i l l continue and the dysgenic factors now operative in society steadily increase.« 20 By putting forth a largely feminist agenda on biological as well as social grounds, the study is a reminder that, well beyond Mendelism, the academic discourse of inheritance in the 1920s, and, moreover, contemporary eugenics should not be too carelessly reduced to biological determinism alone. Eugenics in the 1920s opened a reformist venue for most diverse agendas that included nativism, white and black racism, feminism, socialism, or simply health reform. Many of Susan Glaspell's works demonstrate that she was well-versed in the evolutionary and naturalist thinking of her time. 2 1 Glaspell, a Drake University graduate, journalist, writer of short stories and novels, one of the early and highly influential exponents of both modern American Realist and Expressionist drama, co-founder of the Provincetown Players, and supporter of the later famous Eugene O ' N e i l l , a socialist by marriage and conviction, is today mostly read for the radical feminist positions she adopted in many of her works, most famously in her early one-act play Trifles. Early in her career, while still w o r k ing as a journalist in Davenport, she had joined the Monist Society, a religioscientific group that was loosely modelled on ideas of the German naturalist Ernst Haeckel and saturated w i t h evolutionary ideas of Darwinian and Nietzschean origin. A t the Monist Society she met her later husband, also a founding figure of the Provincetown Players, George Cram C o o k . 2 2 Cook had presented papers on »Evolution and the Superman« already i n 1906, his reviews for the Friday Review discussed Alfred Russel Wallace's The World of Life and Patrick Geddes and Arthur J. Thompson's Evolution, to name but a few 20
Knight, Peters, Blanchard, Genetics and Taboo, 300-301.
21
See Mary E. Papke, »Susan GlaspelPs Naturalist Scenarios of Determinism and Blind Faith«, Disclosing Intertextualities: The Stories, Plays and Novels of Susan Glaspell, eds. Martha Carpéntier, Barbara Ozieblo (Amsterdam and N e w York 2006), 1 9 - 3 4 , especially 25-31. 22 For Glaspell's biographical background see more extensively Barbara Ozieblo, Susan Glaspell: A Critical Biography (Chapel H i l l and London 2000).
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titles. 2 3 For Cook, evolutionary struggle is deliberately taken up by the »inspired individual«, or, in his terms: Into what new and at first terrible environment do inspired men like Nietzsche, insane w i t h truth, plunge and return gasping? [ . . . ] O u t there y o u deal w i t h phases of this fathomless universe you were not made to deal w i t h - you do not inherit powers thereto adapted. The Nietzsches know their dangers perfectly, and yet they go - and perish. [ . . . ] Therefore we can breathe. 24
GlaspelPs play Inheritors, one of the last she wrote for the Provincetown Players, similarly reflects on evolutionary themes, aesthetically complicating the various plots for inheritance I sketched above. The three act play was first performed in March 1921, just eight months before her more well-known radical feminist and experimental drama The Verge. O f course, The Verge is a feminist text but it is also a cautionary, dramatic exposition of evolutionary, particularly eugenic, reformist thought. Zooming in on the mechanisms of biological heredity w i t h i n a tightly controlled cultural context, it features a female botanist who, by breeding a new species of plants, tries to break natural mechanisms of heredity. Claire Archer, the botanist, finally turns herself from given roles of womanhood to a kind of Nietzschean superwoman, breaking w i t h all social and linguistic constraints. As a result, one remains undecided whether this transformation led her to a superior form of femininity or to sheer mental confusion. Inheritors, »the least feminist« of her plays, has been often evaded by Glaspell scholars, for, other than her early success Trifles and other than The Verge, it does not fit the mostly feminist focus of Glaspell scholarship. 2 5 Inheritors can be quickly summarized. The first act is set i n a hospitable farmhouse in the Midwest on the 4 t h of July i n 1879. Here, beneath a picture of Abraham Lincoln, the second generation farmer Silas M o r t o n discusses w i t h his mother and w i t h his friend, Felix Fejevary, w h y he decided to give away a portion of his land for the founding of a college. The second act leaps forward to the fall of 1920. I t is set in the library of M o r t o n College, the institution in23 See Thomas Tanselle, »George Cram C o o k and the Poetry of Living, w i t h a Checklist«, Books at Iowa, 24 (1976), 3 - 3 7 . 24 25
George Cram Cook qtd. in Ozieblo, Susan Glaspell, 39.
This critical evasion of early Glaspell scholarship still prevails in the most recent studies, which is only the more amazing since Inheritors was written and performed close to GlaspelPs most radical feminist play, The Verge, both first performed in 1921. For a good, concise summary of the Glaspell reception so far see Kristina Hinz-Bode, Susan Glaspell and the Anxiety of Expression: Language and Isolation in the Plays (Jefferson and London 2006), 1 - 8 . But then even those scholars push the play in the margins of their studies who, like Hinz-Bode or Barbara Ozieblo, complain about the almost exclusively feminist interest in Glaspell.
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stalled by Silas Morton's land grant. N o w , a generation later, the college is run by Felix Fejevary I I who intends to expand the college because it has to keep up w i t h the demographic development of its region, i.e. a rising student population and extended educative requirements. I n consequence, Fejevary I I is understandably eager to raise public funds. Senator Lewis, his political counterpart, promises the funds on the basis that education w o u l d be structured more along conservative political lines, that is to say that the college should conform to the contemporary Espionage and Sedition Acts. Fejevary I I assures that M o r t o n College has become a »one-hundred-percent American college« (Inheritors, 119), a place where, for instance, foreigners are tightly supervised and where students willingly act as strike breakers. He also promises that he w i l l keep the one liberal professor the college has in check and, if the professor w o u l d not concede, fire him. O f course, this professor, who is i n a situation of pressing economic need, does concede. The major conflict in Acts Two and Three arises when Madeline Morton, granddaughter of the college founder Silas, violently defends t w o H i n d u students that were about to be beaten up both by xenophobic fellow students and the police, because the Hindus, too, had claimed the right of free speech in reference to Abraham Lincoln. Madeline, daughter of both the Fejevary s and the Mortons by third generation intermarriage, who is threatened w i t h jail for sympathizing w i t h the foreign offenders, resists a number of temptations to give up her liberal principles i n the last act. Finally, she goes to prison as a sort of martyr for the liberal faith of her grandfather. Thus, in an ideological reading, the three acts present what has been termed the »tragic disintegration of American idealism.« 26 This reading, however conclusive it may be, neglects the evolutionary orchestration of Glaspell's political theme. I n taking up the long-term development of a family across four generations, the play mimics the then established method of genetic family studies already in its dramatic structure. Eugenic studies of the time like Henry H . Goddard's The Kallikak Family or Wilhelmine Key's Study of Differential Mating in a Pennsylvania Family would usually begin by outlining some specific, heritable traits such as, to name but a few, feeble-mindedness, aggressiveness, sexual looseness, mental slowness, nomadism, and criminality in a first generation of immigrants, and they would then show how these traits are reproduced in the following generations. 27 I n a quite similar manner, the first act of Glaspell's drama shows the first generation of the M o r t o n family, represented by Grandmother Morton, offering ample opportu26 L u d w i g Lewisohn, »Susan Glaspell«, in: idem., The Drama and the Stage ( N e w York 1922), 102-110. 27 Henry H . Goddard, The Kallikak Family: A Study in the Heredity of Feeble-Mindedness ( N e w York 1912); Wilhelmine E. Key, Heredity and Social Fitness: A Study of Differential Mating in a Pennsylvania Family (Washington 1920).
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nity to judge her sturdiness, will-power, and hospitality. After having defined the grandmother's traits, the coming acts illustrate how these features are replicated in the second generation. The third generation of the Mortons, represented by Ira Morton, Madeline's father, takes after his grandmother, and unlike Silas or Madeline, Ira replicates his grandmother's sense of social isolation as well as his concern for private business. A n d it is again in the genetically familiar pattern of the skipping of one generation that Madeline inherits from Silas, her grandfather, the altruistic and liberal spirit which w i l l later get her into trouble. I n a pattern common to eugenic analysis, inherited traits and properties are staged in their multigenerational distribution, a hereditary focus that is already set up by the very title of the play, Inheritors. More than this, the play seems to toy w i t h an even more open eugenic rationale. Eugenics, in its endeavor to improve the genetic pool of the American nation, stressed the importance for each and every individual to select a partner that w o u l d genetically improve the social fitness of progeny. I n this vein, Madeline must be conceptualized as the inheritor of most desirable traits: being a genetic cross both of the pioneering Mortons and the intellectually refined Fejevarys, she w o u l d actually be the individual most desirable for eugenic matchmaking. Indeed, both her ancestral lines are marked in her laudable behavior as an outstanding college student and in her defense of liberal ideals. That she rejects all offers to >mate< can already be seen as a provocation of eugenic discourse. That it is exactly her inherited traits that bring her into opposition w i t h society even more clearly expresses Glaspell's critique of contemporary eugenics and its functional synthesis of genetics and social evolution. When the somewhat over-idealized Madeline is sent to prison for the very excellence of her genes, it is the environment rather than her genes that are represented as being unfit for the future. Other than challenging the official version of eugenics in the plot structure of the play, Glaspell also qualifies ideals of evolution common i n the more bohemian and reformist social circles of her time, notably the belief that intellectual refinement and Nietzschean willpower could shape the biological basis of human society. George Bernard Shaw, who most visibly stood for this concept of »Creative Evolution«, 2 8 is echoed at least partially in the writings of Glaspell's husband, George Cram Cook. Commenting on the arts and social progress, Cook theorizes: Suppose the nascent depends not on blind evolutionary forces, involving the whole nation, but on whether or not the hundred artists w h o have in them potential power arrange or do not arrange to place themselves in vital stimulating relationship w i t h each 28 George Bernard Shaw, Back to Methuselah: A Metabiological 1921), 7.
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other, in order to bring out, coordinate and direct their power. Suppose the stage of economic, political, and social evolution is such that a great creative moment can either appear or not appear in the second decade of twentieth century America, according to the deeds or omissions of a hundred poets, painters, novelists, critics, scholars and thinkers. Does that not stir the blood of those w h o k n o w they may be of that hundred? Does it not make them feel like reaching out to each other - for strengthening of heart, for the generation of intercommunicating power, the kindling of communal intellectual passion? 29
Such Nietzschean sense of evolutionary aspiration forms the essence of the Provincetown »community of life givers« that should, as Cook says elsewhere, literally »body forth in beauty the truer, finer conception, fuller conception [ . . . ] of the w o r l d of life.« 3 0 Gerhard Bach reads the passage as a call for creative revolution, and he is certainly right in noting that, through such a program, Cook indeed provides substance to the bohemian community in its strife for an American Renaissance. What Bach overlooks, however, is the conspicuous wording of the manifesto w i t h its quite open biological reference. If evolution is blind, artists should provide its eyes and help to direct evolution towards desirable goals. As strange as such an outlook may seem today, I am convinced that these ideas do not spring from the confused mind of, as Thomas Tanselle w o u l d have it, a »sentimentalist idealists N o r w o u l d Cook, this rather anarchist and bohemian thinker of the avant-garde, agree w i t h the official conception of eugenics as a publicly controlled venture. Cook merely conforms to what, in a different context, a scholar has recently termed »eugenics by way of aesthetics« 31 - the complicated, often left-wing Utopian, socialist idea that intellectual refinement w o u l d help to ameliorate the bio-cultural evolution of human society. Again Glaspell cautions against such idealizations. When toward the end of the first act she presents such a neo-Lamarckian view, she does so only to contrast it w i t h the dire consequences such a desire w o u l d bring forth. Back in 1879, Silas, uneasy because of the politics of Indian removal that have made his prosperity possible, tries to conceptualize w h y he wanted to have a »Harvard upon a hill«. Felix Fejevary I I , the later college president, but at that time a young Harvard student on holiday, explains to Silas M o r t o n the survival of the fittest. Felix tries to tell him w h y the Blackhawks had to be killed and w h y he, Silas Morton, is the rightful owner of their land. Here is the dialog: 29
Cook qtd. in Bach, Glaspell, 6 1 - 6 2 .
30
Cook qtd. in Tanselle, »Cook«, 5, 6.
31
Anna Maria Jones, »Eugenics by Way of Aesthetics: Sexual Selection, Cultural Consumption, and the Cultivated Reader in The Egoist«, Literature Interpretation Theory; 16 (2005), 101-128.
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F E L I X : You haven't read Darwin, have you, Uncle Silas? SILAS: Who? F E L I X : Darwin, the great new man - and his theory of the survival of the fittest? SILAS: N o . N o , I don't know things like that, Felix. F E L I X : I think he might make y o u feel better about the Indians. I n the struggle for existence, many must go down. The fittest survive. This - had to be. SILAS: Us and the Indians? Guess I don't k n o w what you mean - fittest. F E L I X : H e calls it that. Best fitted to the place in which one finds one's self, having the qualities that can best cope w i t h conditions - do things. From the beginning it has been like that. H e shows the growth of life from forms that were barely alive, the lowest animal forms - jellyfish - up to man. SILAS: Oh, yes, that's the thing the churches are so upset about - that we come from monkeys (.Inheritors,
115-116).
I n e x p l a i n i n g e v o l u t i o n a r y t h e o r y , F e l i x first justifies past i n j u s t i c e b y D a r w i n i a n , n a t u r a l selection. C o n t r a r y t o his expectations, social D a r w i n i s m does i n n o w a y h e l p t o relieve Silas f r o m his feeling o f g u i l t t o w a r d s t h e B l a c k h a w k s . N o t u n t i l F e l i x a c t u a l l y deviates f r o m D a r w i n d o Silas a n d G r a n d m o t h e r M o r t o n f o l l o w his t h e o r i z i n g . W h a t F e l i x explains is a b r i e f s u m m a r y o f L a m a r c k b y w a y o f G e o r g e B e r n a r d Shaw: F E L I X : [ . . . ] [Holding
out his hand.] W h y have we hands?
G R A N D M O T H E R M O R T O N : Cause G o d gave them to us, I s'pose. F E L I X : [ . . . ] [W]hen y o u think we have hands because ages back - before life had taken form as man, there was an impulse to do what had never been done - when y o u think that we have hands today because from the first of life there have been adventurers - those of best brain and courage w h o wanted to be more than life had been, and that from aspiration has come doing, and doing has shaped the thing w i t h which to do - it gives our hand a history which should make us want to use it well (.Inheritors, 116). A s i n Shaw's quasi L a m a r c k i a n c o n c e p t i o n o f t h e C r e a t i v e E v o l u t i o n , t h e d r i v i n g force b e h i n d e v o l u t i o n a r y d e v e l o p m e n t is w i l l p o w e r . 3 2 U n c l e Silas responds e n t h u s i a s t i c a l l y : SILAS: [Breathed from deep.] I f it's true that we made ourselves - made ourselves out of the wanting to be more - created ourselves y o u might say, by our o w n courage - our - what is it? - aspiration. Why, I can't take it in. [...] 32 I n fact, Felix just highlights those Lamarckian elements in Darwin's theory that appeared to have become extinct in the popular readings of D a r w i n i n the 1920s. After all, D a r w i n himself insists »that when any sensation, desire, dislike, etc., has led during a long series of generations to some voluntary movement, then a tendency to the performance of a similar movement w i l l almost certainly be excited, whenever the same, or any analogous or associated sensation, etc., although very weak, is experienced; notwithstanding that the movement i n this case may not be of the least use. Such habitual movements are often, or generally inherited« [Charles Darwin, The Expression of the Emotions in Man and Animals, 3 r i ed. (London 1998), 54; my italics].
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SILAS: Then we are what we are because all through all that time there've been them that wanted to be more than life had been. F E L I X : That's it, Uncle Silas. SILAS: But - why, then we aren't finished yet! (.Inheritors,
116-117)
Silas' altruism is caused by his felt responsibility towards his evolutionary past. Evolution, to h i m who »has a way w i t h all the beasts« (Inheritors, 114), forms a strong sense of attachment between past, present, and future animal culture. I n consequence, Silas now clearly sees the evolutionary significance of his college project: »1 see that college rising as from the soil itself, as if it was what has come at the last of that thinking that breathes from the earth. [ . . . ] Then maybe I can lie under the same sod w i t h the red boys and not be ashamed« (Inheritors, 118). »Thought«, as he exclaims, »why thought's our chance. I know now. W h y I can't forget the Indians. W h y we killed their joy before we killed them. We made them less. [ . . . ] I got to give it back their hill. I give it back to j o y - a better j o y - j o y o' aspiration« (Inheritors,
118). I n its overall outline the first act advances a specific Utopian vision of evolutionary thought, an idea then echoed in many of the radical and reformist ventures circulating in the arts. 33 When Silas finally toasts: »And to the dreams of a million years« (Inheritors, 118), the Utopian vision closes A c t One. A n d w i t h the curtain opening to Acts Two and Three, the Utopian vision back from the 1870s is falsified by the reality of the vision come true in the 1920s. I t is thus both official eugenics and bohemian evolutionary fantasy that fall prey to Glaspell's critique, a critique that blends accepted traditional and advanced evolutionary versions of inheritance and, in so doing, cautions against the corruptibility of overdrawn idealist expectations i n biological heredity. 3 4 A n d one should add that there is also the odd persistence of the image of Abraham Lincoln throughout the play, a figure who, for the H i n d u students, for Silas Morton, and for Madeline alike, serves as a common (albeit cultural) reference point i n the intergenerational continuities the play explores. A n d finally, there remains the land itself that has shaped the families that have evolved on it. Thus, it is the specific mixture of biological, cultural, behavioral, and environmental inheritance factors that only in their sum ac33 Charlotte Perkins Gilman is certainly the best k n o w n example for the adaptation of eugenicist thought to a progressivist and, especially, feminist reform agenda. See Lisa Ganobcsik-Williams, Revisioning American Democracy through Evolutionary Rhetoric: Charlotte Perkins Gilman in Dialogue with the Social Reform Discourses (Unpublished Dissertation, M i a m i University 1998). 34
For Glaspell's blending of traditional and radical conceptions see A r t h u r Waterman, »Susan Glaspell's The Verge: A n Experiment in Feminism«, The Great Lakes Review, 6.1 (1979), 17-23.
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count for intergenerational succession, a conceptual mixture, moreover, that is evoked to counter the then semi-institutionalized discourse of the eugenics movement. II. The critical nexus of social and biological theories of cultural reproduction as exemplified by Glaspell continues to trouble later dramatists. I w i l l briefly turn to t w o of the most prominent dramas of the period, Clifford Odets' Awake and Sing!, first performed in 1935, and Arthur Miller's Death of a Salesman, first performed in 1949. Both dramas, even if they acknowledge the biological ties that were so prominent in the 1920s, conceive of inheritance on quite different discursive grounds. Odets turns to Marxist economy, Miller to what one may call culturalism. I n comparison to Glaspell, their w o r k is set against a quite different cultural background. Meanwhile, the Scopes Trial had divided the American public over evolutionary theory i n a well-planned public relations campaign for Dayton, Tennessee.35 More than any evolutionary fantasy, however, the economic realities of the Great Depression swept the US, and, after the First World War, a Second World War was already in the making. Furthermore, the 1930s already saw some decisive transformation w i t h i n the discourse about inheritance. I n the social sciences, American sociology emerged as a discipline that competed both w i t h psychology's and biology's authority to make sense of social development. Yet in spite of the w o r k of anthropologists like Philip Boas and Margaret Mead, who had further undermined genetic determinism in favor of cultural relativism, contemporary eugenicists and sociologists w o u l d still attentively watch how eugenic programs and the restructuring of the German family under Hitler would w o r k o u t ; 3 6 at least they w o u l d do so until the horror of the German concentration camps and eugenic politics was made public in the course of the ending Second World War. A t the close of the 1940s, when Miller was writing Death of a Salesman, conceptions of genetic heredity had become a cultural sine qua non. I f Glaspell had both worked w i t h i n and undercut the eugenic inheritance paradigm, Clifford Odets (1906-1963) wants to overcome inheritance as a biological issue altogether. H e »want[s] to find out how mankind can be helped 35 For a recent analysis of the Scopes trial see Edward J. Larson's magisterial study Summer for the Gods: The Scopes Trial and America's Continuing Debate Over Science and Religion (1997, N e w York 2006). 36 See, for instance, Joseph K . Folsom, »Changing Values i n Sex and Family Relations«, American Sociological Review, 2.5 (1937), 717-726, here 724; and Frederick Osborn, »The Eugenic Development of a Eugenic Philosophy«, American Sociological Review, 2.5 (1937), 389-397, here 392.
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out of the animal kingdom into the clear sweet air.« 37 For Odets, it is the animal kingdom where D a r w i n and Mendel reign, in the sweet air reigns Marx. His social drama Awake and Sing ! explores the clash between animal determination and social reformism. The central motif of the plot is a Jewish family of the Bronx in, as Odets describes it, »struggle for life amidst petty conditions«. 38 Even if the play is thus explicitly anchored in a mainly Darwinian conception, the struggle for life is here no longer interpreted in a biological vein. To be sure, Odets' initial character description still betrays a quite unexpected sense of inheritance concerns. Bessie, for instance, the female head of the household, is described as energetic, and Hennie, her daughter, »inherits her mother's sense of humor and energy« (Awake and Sing!, 37), whereas Bessie's husband, Myron, is, as Odets puts it, »a horn follower« (Awake and Sing!, 39). Contrary to such biological ties mainly laid out in the secondary text, kinship as a stage action results from commodity exchange, as Jürgen Groß pointed o u t . 3 9 Ralph's complaint is a good example and may suffice to make the point: BESSIE: You got money and money talks. But without the dollar w h o sleeps at night? R A L P H : I been working for years, bringing in money here - putting it in your hand like a kid. A l l right, I can't get my teeth fixed. A l l right, that a new suit's like trying to buy the Chrysler Building. You never in your life bought me a pair of skates even - things I died for when I was a kid. I don't care about that stuff, see. O n l y just remember I pay some of the bills around here, just a f e w . . . and if my girl calls me on the phone I ' l l talk to her any time I please. [He exits. HENNIE
applauds .] (Awake and Sing!, 66)
Through these w i t t y exchanges, any obligations that result from generational succession are again and again depicted as symptoms of bourgeois hypocrisy, so that, when suspicion arises that the unmarried Hennie is pregnant and her mother, Bessie, proceeds in arranging a marriage, Jacob Berger, the Marxist grandfather, exclaims: »Marx said it - abolish such families« (Awake and Sing!, 55). Jacob's monolog in the second act combines both Marxist and Darwinian ideas when he addresses his religious son in law, Myron: So you believe in G o d . . . you got something for it? You! You worked for all the capitalists. You harvested the fruit from your labor? You got God! But the past comforts you? The present smiles on you, yes? I t promises you the future something? D i d y o u found a piece earth where you could live like a human being and die w i t h the sun on your face? Tell me, yes tell me. I w o u l d like to k n o w myself. But on these questions, on this theme - the struggle for existence - you can't make an answer. The answer I see in your face . . . the answer is your mouth can't talk. (Awake and Sing!, 73) 37
Odets qtd. in Jürgen Groß, Protest und Prophetie: Die frühen Odets (Frankfurt am Main 1985), 159.
Dramen Clifford
38 Clifford Odets, Awake and Sing!, in: Clifford Odets, Six Plays (New York 1939), 33-101, here 37. Hereafter cited parenthetically w i t h i n the text. 39
See Groß, Protest, 99-100.
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The struggle for existence is here clearly used i n the sense of Marxist economy, yet the evolutionary metaphor is still deemed fit to w o r k as a corrective against illusionist bourgeois family ideals. But despite the mainly cultural logic shown here, biology enters through the back door. I n fact, Hennie's illegitimate progeny actually causes the conflict that comes to full force at the end of the second act. The climax approaches when Hennie's husband, Sam Feinschreiber, finally learns that the child he has w i t h Hennie is actually not his. U p to that time Sam had believed that »[t]he baby looks like m y family. He's got Feinschreiber's eyes« (Awake and Singly 82). H i s belief i n inherited traits is, of course, just one more petty construction. Just some moments after this insight, Jacob, the Marxist grandfather w h o had joined the family conspiracy about Hennie's marriage, commits suicide. I n terms of inheritance, the structure of that climax is telling. First, i n the acknowledgement of the illegitimate child, it is indeed simple biological reproduction that finally unmasks the hypocrisy of the bourgeois family ideal. Second, w h e n Jacob kills himself, he is doing so to open up an alternative conception of reproduction to his grandson Ralph that w o u l d reach beyond socio-biological family ties: he leaves money and books. I n a straightforward rendering of Marxist theory, his very suicide provides the finances that Ralph is to inherit. Ralph, w h o rejects the money for the sake of family survival, nevertheless accepts the books. I n other words: he accepts generational continuity as an intellectual challenge rather than bio-social reproduction. Similarly, Bessie, w h o runs off to Cuba, leaves behind her baby i n a desire to make a clean sweep w i t h a confining, biologically manifested past. As a result, Awake and Sing! represents a call for the disruption of bio-social generational ties, a call Odets was only able to dramatize, however, w i t h the help of hereditary logics. Accordingly, I agree w i t h H a r o l d Cantor w h o says that Odets »moves from the family trap to the societal, from the w o r l d of blood relations to the bloody w o r l d outside.« 4 0 True, but then, as I have indicated, acknowledging the biological trap still seems a necessary precondition for Odets to make that move. I f for Odets the biological inheritance theme resolves i n economical and intellectual determiners, for A r t h u r M i l l e r such a bio-determinist n o t i o n becomes even less relevant a decade later. L i k e Glaspell's and like Odets' plays, Miller's Death of a Salesman plots family discourse i n a w a y that presents the American Dream as a fake. Yet different from Odets, Miller's use of the inheritance m o t i f no longer helps to unmask social hypocrisy but instead functions as just another component of it. Most interpretations of Death of a Salesman focus o n Miller's dual critique of the American dream and the protagonist's tragic inabi-
40 Harold Cantor, »The Family as Theme in Odets's Plays«, Critical Essays on Clifford Odets, ed. Gabriel Miller (Boston 1991), 127-140, here 139.
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lity to transcend its repressive content, and I do not want to argue this point. Instead, I would just like to add something to this interpretive trajectory. Miller too draws on the early twentieth century idea of the heritability of behavioral traits, even if only as backdrop to the socio-cultural logic that otherwise pervades his play. The best example for remaining traces of hereditary thought is Biff's cleptomania, a trait that is used to signify the go-get-it-mentality of American culture w i t h i n the symbolic structure of the play. O n the one hand, the play clearly establishes Biff's cleptomania as - in Freudian terms - a neurotic response to the paternal ethics of recklessness and success. O n the other hand, Biff's behavior also shows as a consequence from the generational development of the Lomans: traces of it appear in the legend of Ben's diamond business, analogous behavior occurs when Willy's father deserts his family to go to Alaska. So even if Biff's neurosis is the outcome of paternal socialization, it has been well prepared by those hereditary dispositions Freud himself w o u l d have called »Erinnerungsspuren«. 41 Aside from Biff, other characters display similar features of inheritance. Willy, for instance, inherited craftsmanship from his father. Promiscuity is a trait handed d o w n from W i l l y to Happy. 4 2 Other than that, one might mention the pioneer mentality equally shared by Willy's father, by the diamond miner Ben, by the Salesman himself - »who has slaughtered them in Boston« and by Biff, whose dream is to be a cowboy that travels from one Texan Farm to another. I n this context Miller might have been drawn to then advanced theories of social heredity that focused on the immigrant experience, especially on how traits from the first immigrant generation were neglected by second generation Americans, but expressed themselves even stronger i n the third generation. 43 For Miller, perhaps, such allusions to a bio-behavioral inheritance conception is just one symbolically enhanced element among many others that show the confines of American culture. I t is nevertheless the sheer
41 See Sigmund Freud, »Der Mann Moses und die monotheistische Religion«, in: Gesammelte Werke, 18 vols. ( 6 t h ed., Frankfurt am M a i n 1981), Vol. X I I I , 101-246, here 206-207. I n a quite Lamarckian perspective, Freud concedes later: »die analytische Erfahrung hat uns die Uberzeugung aufgedrängt, daß selbst bestimmte psychische Inhalte wie die Symbolik keine anderen Quellen haben als die erbliche Übertragung, und in verschiedenen völkerpsychologischen Untersuchungen w i r d uns nahegelegt, noch andere, ebenso spezialisierte Niederschläge frühmenschlicher Entwicklung in der archaischen Erbschaft vorauszusetzen« (Sigmund Freud, »Die endliche und unendliche Analyse«, in: Gesammelte Werke, 18 vols., Vol. X I I I , 5 7 - 9 9 , here 86). 42 For more detail see James H u r t , »Family and History in Death of a Salesman«, Approaches to Teaching Miller's Death of a Salesman, ed. Matthew C. Roudane ( N e w York 1995), 134-141. 43 See Ohad Parnes, Ulrike Vedder, Stefan Willer, Das Konzept der Generation: Wissenschafts- und Kulturgeschichte (Frankfurt am M a i n 2008), 267 - 268.
Eine
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fact that he could use them that sheds a light upon the odd persistence of genetic faith even in the transition from an industrial to a post-industrial society.
III. To conclude: I suggested, first of all, a certain coalescence of dramatic imagination and a number of bio-social questions such as eugenics, genetic determination, and socio-cultural variation. Secondly, I suggested that from the 1920s onwards, heredity underwent a shift from being a literary topic towards a symbolic function in which biological inheritance underpins a more socially oriented, more cultural construction of inheritance. Thirdly, I w o u l d like to claim on the basis of m y research that biological determinism was an accepted and, at the same time, questioned basis for the fantasy of cultural reproduction in the 1920s that surely can be found outside the dramatic genre as well. So far I have skipped a number of questions that most certainly tie in w i t h discourses of cultural reproduction. For instance, I skipped the question whether such an inheritance discourse actually fits a culture that has been shaped by the popular m y t h of the self-made man, a m y t h Miller shows in all its repressive force. As to the latter point, I suggest that genetics and issues of inheritance fall on fertile ground in the US, ground that has been well prepared by the Puritan sense of predestination and election through grace. Mendelian heredity and natural selection seem like a sort of ersatz theory for Manifest Destiny, even if, as my examples suggest, this destiny evolved into manifest decline. 4 4 A t any rate, a closer look at the sociological and bio-political discourses of the American 1920s, 30s, and 40s evinces a vein of thought that appears oddly similar to current discussions of genetics (and eugenetics). 45 The familist and social apocalypse that is discussed today by a number of politicians and sociologists seems only a slight variation on an age-old theme that had already been well orchestrated in the 1920s. Both then and now, the chief villains are the rampant individualism, feminism, and gender transgressions that make life fearsome for the old reproductive institution of the family in the hectic times of highly industrialized capitalism and economic pressure made permanent. Both then and now, the answers were sought in modifications of the crippled family, or of those feminist, individualist, queer philosophies that have apparently emerged w i t h i n such an economic context. Thus, I wonder whether or not the 44 Kaja Finkler, »Illusions of Controlling the Future: Risk and Genetic Inheritance«, Anthropology and Medicine , 10.1 (2003), 5 1 - 7 0 . 45
Such similarities are explored more fully in Wendy Kline, Building a Better Race: Gender ; Sexuality ; and Eugenics from the Turn of the Century to the Baby Boom (Berkeley / Los Angeles / London 2001).
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conservative p h i l o s o p h e r Francis F u k u y a m a is r i g h t i n his w e l l - k n o w n thesis t h a t w e are a p p r o a c h i n g a p o s t h u m a n f u t u r e . 4 6 Q u i t e c o n t r a r y t o t h i s , I sense t h a t t h e 1920s already are the v e r y p o s t h u m a n past t h a t w e have s i l e n t l y c o m e t o adapt t o o u r presence. C o n s i d e r i n g the decline o f b i o g e n e t i c i n h e r i t a n c e t h e ories i n t h e h u m a n i t i e s d u r i n g a n d after t h e 1950s, t o d a y t h e t i d e appears t o have t u r n e d once m o r e t o w a r d s theories o f genetic d e t e r m i n a t i o n . 4 7
46
Francis Fukuyama, Our Posthuman Future: Consequences of the Biotechnology volution (New York 2002).
Re-
47 See Paul Brodwin, w h o in »Genetics, Identity, and the Anthropology of Essentialism«, Anthropological Quarterly, 75.2 (2002), 323-330, here 323, observes: »The notion that individuals craft their identity through social performances, and hence that their identity is not a fixed essence, fundamentally drives current research into gender and sexuality. The notion that collective identity emerges out of political struggle and compromise underlies contemporary studies of race, ethnicity, and nationalism. [ . . . ] Outside the academy, however, [ . . . ] essential identities grow ever more powerful and seductive. Genetic knowledge, for example, adds to the cachet of objective science to the notion that one's identity is an inborn, natural, and unalterable quality.«
Agnostizismus, Ironie und Humanität bei Thomas Mann: Eine vergleichende Studie zu den Beziehungen zwischen Thomas Manns Ironie-Konzeption und Seren Kierkegaards Ironie-Kritik V o n Borge
Kristiansen
»Nein, wissen kann man gar nichts« (Hans Castorp i m Zauberberg)
I.
Thomas Mann gehört zusammen mit Heinrich Heine zu den größten ironischen Erzählern der deutschen Literatur. Seine Ironiekonzeption bleibt aber nicht die gleiche, sondern ändert sich wesentlich i m Laufe seiner Entwicklung von den ersten Erzählungen bis zum Ende seines Schaffens. I n der 1918 verfasst e n Vorrede
z u d e n Betrachtungen
eines Unpolitischen
w i r d der Ironiebegriff
noch all zu sehr als bloße Affirmation und kritiklose »Unterwerfung unter das Tatsächliche« (XIL22) 1 verstanden, als dass hier von Ironie wirklich die Rede sein kann. Das ist umso erstaunlicher, als es in dem früher geschriebenen Kapitel Ironie und Radikalismus - wie noch zu zeigen ist - schon eine für das Werk nach Tonio Kröger angemessene Bestimmung der Ironie gibt. Diese Erzählung nimmt hinsichtlich der Ironieform Thomas Manns eine markante Sonderstellung ein, weil die für das Frühwerk bestimmende Ironie-Konzeption sich i n Tonio Kröger entscheidend wandelt und von einem auch für das spätere Werk Thomas Manns geltenden Ironie-Verständnis abgelöst wird. I n den frühen Erzählungen - man denke an Tristan und Gladius Dei - manifestierte sich Ironie noch vor allem als eine die Erzählform fundierende Distanzierung des Erzählers von sämtlichen erzählten Positionierungen, weshalb nicht das »WederN o c h und Sowohl-Alsauch« (XII:91) der ironischen Mehrdeutigkeit, sondern die Eindeutigkeit der Ablehnung für das Erzählverfahren dieser Erzählungen ausschlaggebend ist. W i r haben es in den frühen Erzählungen bis Tonio Kröger 1
Zitiert w i r d nach: Thomas Mann, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden (Frankfurt am M a i n 1974) mit Bandnummer und Seitenangabe.
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B0rge Kristiansen
also m i t einem Bewusstsein zu tun, dem alles i n der erzählten Welt anekelt, u n d für das Sein u n d Leben - m i t einer Formulierung aus Tonio Kröger - nur eine »abscheuliche Erfindung« (VIII:300) sind. D a m i t aber enthüllt sich die Wahrheit , die diesen frühen Erzählungen zugrunde liegt, als die Sinnlosigkeit aller Dinge, u n d das das Erzählverfahren konstituierende Bewusstsein des Autors als das Bewusstsein des Nihilismus.
M i t dieser eindeutigen Positionierung des
Erzählers i m Frühwerk als N i h i l i s t handelt es sich, was die Ironieform anbelangt, recht besehen i m Grunde u m das Paradoxon einer ironiefremden Ironie. Diese nihilistische Ironieform der frühen Erzählungen löst sich i n Tonio Kröger durch eine andere Ironie-Konzeption ab, u n d diese Ironie-Konzeption, die auch für das folgende Werk Thomas Manns bestimmend bleibt, soll durch eine Analyse der ironischen Struktur dieser Erzählung vor dem H i n t e r g r u n d der Existenzphilosophie u n d Ironiekritik Soren Kierkegaards erfasst werden, wonach abschließend nach der die Ironie begründenden Bewusstseinsform Thomas Manns u n d ihrem Verhältnis z u m Begriff der Humanität gefragt werden soll. II. Das nihilistische Bewusstsein löst sich i n Tonio Kröger durch das ironische Bewusstsein ab, eine Entwicklung, die unter anderem aus dem Umstand zu erklären ist, dass Nietzsches dionysische Lebensbejahung m i t dieser Erzählung eine weit größere u n d viel entscheidendere Rolle spielt als i n dem voraus liegenden Werk. Ü b e r diese E n t w i c k l u n g äußert sich Thomas M a n n folgenderm a ß e n i n d e n Betrachtungen
eines
Unpolitischen :
Die Sache war die, daß, während in >Buddenbrooks< nur der Schopenhauer-Wagner'sche Einfluß, der ethisch-pessimistische und der episch-musikalische, sich hatte geltend machen können, in >Tonio Kröger< das Nietzsche'sche Bildungselement zum Durchbruch kam, das fortan vorherrschend bleiben sollte. Der dithyrambisch-konservative Lebensbegriff des lyrischen Philosophen und seine Verteidigung gegen den moralistisch-nihilistischen Geist, gegen die >Literatur