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German Pages 483 Year 2002
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES J A H R B U C H Neue Folge, begründet von H e r m a n n Kunisch
IM AUFTRAGE DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N PROF. DR. T H E O D O R B E R C H E M , PROF. D R . V O L K E R KAPP, PROF. DR. F R A N Z L I N K f , PROF. D R . K U R T M Ü L L E R , PROF. DR. R U P R E C H T W I M M E R , PROF. D R . A L O I S W O L F DREIUNDVIERZIGSTER B A N D
2002
Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch wird im Auftrage der Görres-Gesellschaft herausgegeben von Prof. Dr. Theodor Berchem, Institut für Romanische Philologie der Universität, Am Hubland, 97074 Würzburg, Prof. Dr. Volker Kapp, Romanisches Seminar der Universität Kiel, Leibnizstraße 10,24098 Kiel, Prof. Dr. Kurt Müller, Institut für Anglistik/ Amerikanistik, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Abbe-Platz 8, 07743 Jena (federführend), Prof. Dr. Ruprecht Wimmer, Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät, Katholische Universität Eichstätt, 85071 Eichstätt und Prof. Dr. Alois Wolf, Lorettostraße 60, 79100 Freiburg. Redaktionsanschrift: Lehrstuhl für Amerikanistik, Institut für Anglistik/Amerikanistik, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ernst-Abbe-Platz 8, 07743 Jena. Redaktion: Dr. Jutta Zimmermann. Das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch erscheint als Jahresband jeweils im Umfang von etwa 20 Bogen. Manuskripte sind nicht an die Herausgeber, sondern an die Redaktion zu senden. Unverlangt eingesandte Beiträge können nur zurückgesandt werden, wenn Rückporto beigelegt ist. Es wird dringend gebeten, die Manuskripte druckfertig einseitig in Maschinenschrift einzureichen. Ein Merkblatt für die typographische Gestaltung kann bei der Redaktion angefordert werden. Die Einhaltung der Vorschriften ist notwendig, damit eine einheitliche Ausführung des Bandes gewährleistet ist. Besprechungsexemplare von Neuerscheinungen aus dem gesamten Gebiet der Literaturwissenschaft, einschließlich Werkausgaben, werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Gewähr für die Rezension oder Rücksendung unverlangt eingesandter Besprechungsexemplare kann nicht übernommen werden. Verlag: Duncker & Humblot GmbH, Carl-Heinrich-Becker-Weg 9, 12165 Berlin.
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES
JAHRBUCH
DREIUNDVIERZIGSTER BAND
LITERATURWISSENSCHAFTLICHES JAHRBUCH NEUE FOLGE, BEGRÜNDET V O N H E R M A N N K U N I S C H
I M A U F T R A G E DER GÖRRES-GESELLSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N T H E O D O R B E R C H E M , V O L K E R KAPP, F R A N Z L I N K f KURT MÜLLER, RUPRECHT WIMMER, ALOIS WOLF
DREIUNDVIERZIGSTER B A N D
2002
D U N C K E R
&
H U M B L O T
- B E R L I N
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2002 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0075-997X ISBN 3-428-10926-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97060
INHALT
Nachruf auf Franz Link
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Schriftenverzeichnis Franz Link
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AUFSÄTZE Dennis H. Green (Cambridge), Was verstehen wir unter Fiktionalität um 1200?
25
Marcel Klings (Heidelberg), Für eine gematrische Lesart des Don Quixote : Probleme der Schrift und der Überwindung des Dualismus 39 Alois Hahn (Trier), Pascal und die Soziologie
53
Christine Fischer (Bern), Pietro Metastasio als Bearbeiter eines Librettos. Eine neue Quelle zur Genese der Pastorale Ii trionfo de IIa fedeltä von Maria Antonia Walpurgis 69 Urs Heftrich (Heidelberg), Die fünf Gesichter der Lüge: Nikolaj Gogols Tote Seelen als verborgene Theologie der Wahrheit 95 Kurt Schlüter (Freiburg i. Br.), Shelley's »Intellectual Beauty«: Illusion or Reality? ..
121
Claudia Buffagni (Modena), Die Schönheit als zum Tode führend: Versuch einer semiotischen Lektüre von Fontanes Novelle Schach von Wuthenow 151 Javier Gómez-Montero (Tübingen), Obscuritas und Lesbarkeit moderner Lyrik. Zu Mallarmés »Sonnet en -yx« (mit einem Seitenblick auf Góngoras »Hurtas mi vulto...«) 171 Michael Neumann (Eichstätt), Zwölftontechnik? Adrian Leverkühn zwischen Schönberg und Wagner 193 Heiko Christians (Köln), Die Form der Gemeinschaft. Communitasmodelle zwischen Eposideal und Romangeschichte 213 Astrid Erll (Gießen), Literatur und kulturelles Gedächtnis: Zur Begriffs- und Forschungsgeschichte, zum Leistungsvermögen und zur literaturwissenschaftlichen Relevanz eines neuen Paradigmas der Kulturwissenschaft 249 Irmgard Scheitler (Würzburg), Reisebeschreibung - Metafiktionale Verwendung in der Gegenwartsprosa 277
6
Inhalt SYMPOSIUM: STILFRAGEN Wolf gang G. Müller zum 60. Geburtstag
Max Nänny (Zürich), Die ikonische Verwendung des Chiasmus in der Literatur Heinrich F. Plett (Essen), Aristokratischer und bürgerlicher Stil
293 317
Martin Brunkhorst (Potsdam), »See, see how the Lovers sit in State together«: Tragödienschluß und Schlußtableau bei Marlowe, Shakespeare und Dryden 331 Ansgar Nünning (Gießen), »Gentlemen, [ . . . ] remember that you are English«: Teutonische Thesen zum Nationalstil der englischen Literaturgeschichtsschreibung 347
K L E I N E BEITRÄGE Martina Backes (Freiburg i. Br.), Aus der Feder eines Klerikers? Ein neuer Vorschlag zu Eilharts Tristrant 373 Iris Wenderholm (Berlin), Extrait de Télémaque. Zur Verwendung von Fénelons Aventures de Télémaque in der Prinzenerziehung am Berliner Hof um 1700
381
Thomas Pittrof (Freiburg i. Br.), »Kontexte der Gottesfrage« in germanistischer Perspektive 391
BUCHBESPRECHUNGEN Sabine Heimann-Seelbach, Ars und scientia. Genese, Überlieferung und Funktionen der mnemotechnischen Traktatliteratur im 15. Jahrhundert. Mit Edition und Untersuchung dreier deutscher Traktate und ihrer lateinischen Vorlagen (von Volker Kapp) 401 Julia M. Kisacky
y
Magic in Boiardo and Ariosto (von Christine Zwinger)
Christopher Cairns (ed.), The Renaissance Theatre: Texts, Performance, Volumes (von Michael Steppat)
403 Design. 2 407
Historicizing / Contemporizing Shakespeare. Essays in Honour of Rudolf Böhm, ed. Christoph Bode and Wolf gang Klooß (von Wolfgang G. Müller) 411 Philip Edward Phillips, John Milton's Epie Invocations: Converting the Muse (von Kurt Schlüter) 414 Sophie Hache: La langue du ciel. Le sublime en France au XVII Trémolières) Bettina B. Cenerelli, Dichtung und Kunst: Die transposition Gautier (von Christine Zwinger)
e
siècle (von François 421
d'art bei Théophile 424
Inhalt Roger Bauer; Die schöne Décadence. Geschichte eines literarischen Frank-Rutger Hausmann)
Paradoxons (von 427
Erkme Joseph, Nietzsche im Zauberberg (von Michael Neumann)
430
Theodramatik und Theatralität. Ein Dialog mit dem Theaterverständnis von Hans Urs von Balthasar; hg. Volker Kapp y Helmut Kiesel und Klaus Luhbers (von Dieter Breuer) 434 Frank-Rutger Hausmann, »Vom Strudel der Ereignisse Romanistik im »Dritten Reich« (von Volker Kapp) Annette Herr; L'esprit Fricke)
d'enfance
dans l'œuvre
verschlungen«.
Deutsche 438
d'Eugène Ionesco (von Dietmar 443
Territorios de la Poesta. Territorien der Lyrik in Spanien. Spanisch - Baskisch - Katalanisch - Galicisch / Deutsch. Eine Anthologie, hg. Javier Gomez-Montero (von Pere Joan i Tous) 446 Joseph Jurt (Hg.), Von Michel Serres bis Julia Kristeva (von Annette Herr)
447
Claude Rawson, God, Gulliver; and Genocide. Barbarism and the European Imagination,, 1492 -1945 (von Paul Goetsch) 449 Susanne Bach (Hg.), Spiritualität und Transzendenz sprachigen Literatur (von Bruno Zerweck) Erzählte Identitäten. Ein interdisziplinäres Daniel Fulda)
in der modernen englisch452
Symposion, hg. Michael Neumann (von 455
Armin Paul Frank und Kurt Mueller-Vollmer y The Internationality of National Literatur es in Either America: Transfer and Transformation. Volume 1/2: British America and the United States, 1770s-1850s (von Jan Stievermann) 458 Multiperspektivisches Erzählen: Zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur im englischen Roman des 18. bis 20. Jahrhunderts, hg. Vera und Ansgar Nünning (von Wolf gang G. Müller) 462 Uwe Baumann, Shakespeare und seine Zeit - Vera Nünning und Ansgar Nünning, Englische Literatur des 18. Jahrhunderts - Vera Nünning, Der englische Roman des 19. Jahrhunderts - Ansgar Nünning, Der englische Roman des 20. Jahrhunderts - Hans-Wolfgang Schaller, Der amerikanische Roman des 20. Jahrhunderts - Gottfried Krieger; Das englische Drama des 20. Jahrhunderts - Herbert Grabes, Das amerikanische Drama des 20. Jahrhunderts (von Paul Neubauer) 467
Namen- und Werkregister (von Jutta Zimmermann)
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Nachruf auf Franz Link A m 13. Oktober 2001 ist Franz Link, Professor emeritus für Amerikanistische Literaturwissenschaft an der Universität Freiburg i. Br. und seit 1979 M i t herausgeber des Literaturwissenschaftlichen Jahrbuchs, i m Alter von 77 Jahren gestorben. Geboren am 1. August 1924 in Frankfurt am Main, studierte Franz L i n k nach Abitur, Kriegsdienst und Gefangenschaft zwischen 1946 und 1950 an der Universität seiner Heimatstadt Englische Philologie, Geschichte und Philosophie. Neben seinen anglistischen Lehrern Theodor Spira, Else von Schaubert und Helmut Viebrock prägten ihn Historiker wie O t t o Vossler, Matthias Geizer und Paul K i r n ebenso wie der Philosoph Hans-Georg Gadamer, dem er wichtige Anstöße für die Beschäftigung mit Grundfragen geisteswissenschaftlicher Forschung verdankte. Er promovierte 1950 bei Theodor Spira mit einer Dissertation über Ralph Waldo Emerson. Nach einem einjährigen Studienaufenthalt i n den USA war er anschließend als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent am Amerika-Institut der Universität Frankfurt tätig, w o er sich mit einer 1962 veröffentlichten Schrift über die Erzählkunst Nathaniel Hawthornes habilitierte. Seit seiner Berufung an die Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i m Jahre 1962 bis zu seiner Emeritierung i m Jahre 1989 stand er als Direktor der Amerikanischen Abteilung des Englischen Seminars und dem später daraus hervorgegangenen Institut für Nordamerikastudien vor. Als Mitglied vieler Universitätsgremien prägte er die Geschicke seiner Universität maßgeblich mit. 1979 übernahm Franz L i n k die Mitherausgeberschaft der 1960 von Hermann Kunisch begründeten Neuen Folge des Literaturwissenschaftlichen Jahrbuchs, dessen disziplinübergreifendes Profil unter seiner Federführung durch die Erweiterung des Herausgebergremiums weiter geschärft wurde. Als langjähriger Leiter der Sektion für Englisch-Amerikanische Philologie der Görres-Gesellschaft, als Mitherausgeber der i m Auftrag der Gesellschaft erscheinenden Buchreihen »Schriften zur Literaturwissenschaft« und »Beiträge zur englischen und amerikanischen Literatur« sowie als spiritus rector und Organisator zahlreicher Symposien gab er der Literaturwissenschaft immer wieder wegweisende, insbesondere auch fächerübergreifende Impulse. Beispielhaft genannt seien hier die Symposien »Gott, Götter und Spielleiter i m Drama von der Antike bis zur Gegenwart«, »Paradeigmata: Literarische Typologie des Alten Testaments« und »Tanz und Tod i n Kunst und Literatur« und die daraus hervorgegangenen
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Nachruf auf Franz Link
Sammelband-Veröffentlichungen, die über die Fachgrenzen hinaus ein weites Echo fanden. Das wissenschaftliche Wirken von Franz L i n k war geprägt von einem umfassenden Wissensfundus, einem immer wieder die Grenzen des eigenen Fachs überschreitenden Verstehenshorizont und nicht zuletzt einem in tiefer Religiosität fundierten moralischen Verantwortungsbewusstsein. Erkenntnisleitend war für ihn immer wieder die Frage nach den in der ästhetischen Struktur zu entschlüsselnden humanen, orientierungs- und sinngebenden Dimensionen von Literatur und Kunst. Charakteristisch für die Weite seines Horizonts ist der seinem Freund, dem Philosophen Max Müller, gewidmete Beitrag »Denkversuche: Montaigne und Pascal, Emerson und Nietzsche, Postmoderne« i m Literaturwissenschaftlichen Jahrbuch (1994), in dem er die philosophisch-literarische Gattungstradition des Essays von Montaigne bis hin zu zeitgenössischen Denkern wie Foucault und Derrida aufarbeitet und in der kritischen Auseinandersetzung mit postmodernen Positionen zugleich auch sein eigenes wissenschaftliches Ethos charakterisiert - als den immer wieder neu anzusetzenden Versuch, »Wahrheit aufleuchten zu lassen und ihr nahezukommen [ . . . ] , in dem Bewußtsein, Wahrheit oder Wirklichkeit nie endgültig erfassen zu können, aber doch in dem Glauben, daß es eine solche dennoch gibt« (386). Von diesem Ethos zeugen seine zahlreichen Aufsätze ebenso wie die stattliche Anzahl von Monographien zu einzelnen Autoren - Prosaschriftstellern wie Nathaniel Hawthorne und Edgar Allan Poe, Dramatikern wie Eugene O ' N e i l l und Tennessee Williams oder Dichtern wie Ezra Pound, Emily Dickinson und Hilda Doolittle - und mehrbändigen Überblicksdarstellungen zur amerikanischen Erzählkunst und zur amerikanischen Verskunst. Maßgeblich für den moralischen Impuls i m Schaffen Franz Links war nicht zuletzt die Erfahrung des Naziterrors, die ihn nachhaltig sensibilisiert hatte gegen totalitäre Anmaßungen, wie sie, unter anderen Vorzeichen, auch i n den sechziger Jahren Gesellschaft und Universität bedrohten. Von diesem moralischen Impuls sind insbesondere auch jene Studien aus seinen beiden letzten Lebensjahrzehnten durchdrungen, in denen er sich intensiv mit der literarischen Verarbeitung von Judenverfolgung und Judenvernichtung auseinandergesetzt hat. Verbunden mit der Erschließung der moralischen Dimension von Literatur war für Franz L i n k stets auch die Frage nach ihren ästhetischen Qualitäten. Nach seiner Dissertation über die Begriffe des »Poet« und des »Writer« setzte er sich in einer Reihe von Aufsätzen mit verschiedenen erzähl-, dichtungs- und dramenästhetischen Problemaspekten auseinander. I n seiner Monographie zu Edgar Allan Poe befasste er sich mit der zwischen Romantik und Moderne angesiedelten ästhetischen Konzeption dieses Autors und in einer weiteren
Nachruf auf Franz Link Monographie mit der Kategorie der Zeitstruktur i m Drama. Von seinem Interesse an ästhetik- und geschichtstheoretischen Fragestellungen zeugen seine Beiträge zur Dichtungstheorie der N e w Critics, zur Geschichte amerikanischer Verskunst oder zur Theorie und Praxis amerikanischer Literaturgeschichtsschreibung. Dem hohen moralischen und wissenschaftlichen Auftrag, den sich Franz L i n k als Mensch und Literaturwissenschaftler gegeben hatte, blieb er bis zum letzten Tage seines Lebens verpflichtet. Die Görres-Gesellschaft und das Literaturwissenschaftliche Jahrbuch verlieren mit ihm einen Menschen und Kollegen, dem sie für sein Wirken i m Dienste einer am Wert des Humanen orientierten Wissenschaft bleibenden Dank schulden. Die Herausgeber
Schriftenverzeichnis Franz Link zusammengestellt von Bernd Engler und Kurt
Müller
I. Selbständige Schriften Die Begriffe des »Poet« und des »Writer« in ihrer Stellung im Ganzen der Lebensauffassung von Ralph Waldo Emerson. Diss. Frankfurt a. M., 1950 (Masch.). Die Erzählkunst Nathaniel Hawthornes. Heidelberg: Winter, 1962. Amerikanische 1963.
Literaturgeschichtsschreibung:
Eugene O'Neill und die Wiedergeburt und Bonn: Athenäum, 1967.
Ein Forschungsbericht.
Stuttgart: Metzler,
der Tragödie aus dem Unbewußten. Frankfurt a. M.
Edgar Allen Poe: Ein Dichter zwischen Romantik und Moderne. Frankfurt a. M. und Bonn: Athenäum, 1968. Stilanalysen amerikanischer Erzählkunst: Eine Einführung und Bonn: Athenäum, 1970.
mit Übungen. Frankfurt a. M.
Tennessee Williams* Dramen: Einsamkeit und Liebe. Darmstadt: Thesen Verlag, 1974. Dramaturgie der Zeit. Freiburg: Rombach, 1977 (Rombach Hochschul Paperback, Bd. 87). Zwei amerikanische Dichterinnen: Emily Dickinson und Hilda Doolittle. Berlin: Duncker & Humblot, 1979 (Schriften zur Literaturwissenschaft, Bd. 2). Geschichte der amerikanischen Erzählkunst im 19. Jahrhundert. 1980 (Sprache und Literatur, Bd. 112). Geschichte der amerikanischen (Sprache und Literatur, Bd. 119). Ezra Pound: Eine Einführung. gen, Bd. 15).
Stuttgart: Kohlhammer,
Erzählkunst , 1900-1950. Stuttgart: Kohlhammer, 1983 München und Zürich: Artemis, 1984 (Artemis Einführun-
Geschichte der amerikanischen Verskunst bis 1900. Stuttgart: Kohlhammer, 1988 (Sprache und Literatur, Bd. 127). Amerikanische Erzähler seit 1950: Themen , Inhalte , Formen. Paderborn: Schöningh, 1993 (Beiträge zur englischen und amerikanischen Literatur, Bd. 12). Make It New: US-amerikanische Lyrik des 20. Jahrhunderts. (Beiträge zur englischen und amerikanischen Literatur, Bd. 14).
Paderborn: Schöningh, 1996
Schriftenverzeichnis Franz Link
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Das moderne amerikanische Sonett. Heidelberg: Winter, 1997 (Anglistische Forschungen, Bd. 253). Studien zur englisch sprachigen Literatur und deren Stellung in der Weltliteratur. Band 1: Von Aischylos bis Mark Twain. Paderborn: Schöningh, 1997 (Beiträge zur englischen und amerikanischen Literatur, Bd. 15). Studien zur englischsprachigen Literatur und deren Stellung in der Weltliteratur. Band 2: Von Henry Adams bis Denise Levertov. Paderborn: Schöningh, 1998 (Beiträge zur englischen und amerikanischen Literatur, Bd. 17). US-amerikanische Erzählkunst 1990-2000. Berlin: Duncker & Humblot, 2001 (Schriften zur Literaturwissenschaft, Bd. 15).
I I . Herausgegebene Schriften Amerika, Vision und Wirklichkeit: Beiträge deutscher Forschung zur amerikanischen Literaturgeschichte. Frankfurt a. M. und Bonn: Athenäum, 1968. Amerikanische Lyrik: Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Ausgewählt und kommentiert von Franz H. Link. Übersetzt von Franz und Annemarie Link. Stuttgart: Reclam, 1974, verb. und erw. Aufl. 1984. H. D. (Hilda Doolittle), Trilogie. Ubersetzt und kommentiert von Annemarie und Franz Link. 2 Bde. Freiburg i. Br.: Engl. Seminar der Univ., 1978. Mark Twain, Ein Yankee am Hofe des Königs Artus. Frankfurt a. M.: Insel, 1981 (Inseltaschenbuch, Bd. 437). Nachw., Biogr., ausgew. Lit., 471- 493. Theatrum Mundi: Götter; Gott und Spielleiter im Drama von der Antike bis zur Gegenwart,, zusammen mit Günter Niggl. Berlin: Duncker & Humblot, 1981 (Sonderband des Literaturwissenschaftlichen Jahrbuchs). Jewish Life and Suffering as Mirrored in English and American Literature Leben und Leiden im Spiegel der englischen und amerikanischen Literatur. Schöningh, 1987 (Beiträge zur englischen und amerikanischen Literatur, Bd. 6).
/ Jüdisches Paderborn:
Paradeigmata: Literarische Typologie des Alten Testaments. Erster Teil: Von den Anfängen bis zum 19. Jahrhundert. Berlin: Duncker & Humblot, 1989 (Schriften zur Literaturwissenschaft, Bd. 5/1). Paradeigmata: Literarische Typologie des Alten Testaments. Zweiter Teil: 20. Jahrhundert. Berlin: Duncker & Humblot, 1989 (Schriften zur Literaturwissenschaft, Bd. 5/2). Zwischen Dogma und säkularer Welt: Zur Erzählliteratur englischsprachiger katholischer Autoren im 20. Jahrhundert, zusammen mit Bernd Engler. Paderborn: Schöningh, 1991 (Beiträge zur englischen und amerikanischen Literatur, Bd. 11). Tanz und Tod in Kunst und Literatur. Literaturwissenschaft, Bd. 8).
Berlin: Duncker & Humblot, 1993 (Schriften zur
Amerikanische Lyrik. Ausgewählt und kommentiert von Franz Link. Übersetzt von Annemarie und Franz Link. 4., um einen Anhang erw. Aufl. Stuttgart: Reclam, 1998.
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Schriftenverzeichnis Franz Link I I I . Periodica - Reihen
Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, N.F., mit Hermann Kunisch Bd. 20-32 (19791991); Theodor Berchem Bd. 21 ff. (1980ff.), Eckhard Heftrich Bd. 27-36 (1986-1995), Alois Wolf Bd. 27 ff. (1986 ff.), Volker Kapp Bd. 33 ff. (1992 ff.), Kurt Müller Bd. 34 ff. (1993 ff.), Ruprecht Wimmer Bd. 37ff. (1996 ff.). Beiträge zur englischen und amerikanischen Literatur; Herbrüggen. Paderborn: Schöningh, Bd. 1-17,1984-2000. Schriften zur Literaturwissenschaft.
zusammen mit Hubertus Schulte
Berlin: Duncker & Humblot, Bd. 1-8,1979 -1993.
IV. Aufsätze »Goethe und die Renaissance des neuenglischen Geisteslebens im 19. Jahrhundert«. Die Neueren Sprachen, Bd. 3 (1954), 63-73. Nachdrucke in: Amerika, Vision und Wirklichkeit, hg. Franz H. Link. Frankfurt a. M. und Bonn: Athenäum, 1968, 85-95, und in: American Transcendental Quarterly, Bd. 14 (1972), 94-99. »Vier Gedichte Emily Dickinsons«. Die Neueren Sprachen, Bd. 3 (1954), 406-423. »>And< oder >with< + Partizipium«. Anglia, Bd. 73 (1955), 322-327. »>TaleSketchEssay< und >Short StoryMS Found in a BottleLigeia< und das Paradoxon der modernen Dichtung«. Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Bd. 37 (1963), 363-376. Nathaniel Hawthorne, Der Marmorfaun. Frankfurt a. M. und Hamburg: Fischer, 1964 (Exempla Classica, Bd. 95). Nachwort, 325-331. »Das Theater Thornton Wilders«. Die Neueren Sprachen, Bd. 14 (1965), 305-318. Nachdruck in: Das amerikanische Drama von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. Hans Itschert. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1972,177-194. »Solange das Sunlicht meiner Raison anhellt: Bemerkungen zu einer neuen deutschen Übertragung der Werke Edgar Allan Poes«. Neusprachliche Mitteilungen, Bd. 19,4 (1966), 233-238. »Die Burlesken Edgar Allan Poes«. Die Neueren Sprachen, Bd. 16 (1967), 461-471. »Das christliche Schauspiel T. S. Eliots«. Literatur und Sprache der Vereinigten Staaten. Aufsätze zu Ehren von Hans Galinsky, hg. Hans Helmcke, Klaus Lubbers und Renate Schmidt-von Bardeleben. Heidelberg: Winter, 1969,165 -179. »Edward Taylors Dichtung als Lobpreis Gottes«. Jahrbuch für Amerikastudien, (1971), 77-101.
Bd. 16
»Amerikanische Lyrik der Gegenwart«. Amerikanische Literatur im 20. Jahrhundert, Alfred Weber und Dietmar Haack. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1971,206-248. »Melville, >Bartleby, the ScrivenerThe UndefeatedThe Blue Hotelc Eine Interpretation«. Literatur Unterricht, Bd. 5 (1972), 22-32.
in Wissenschaft
und
»Edgar Allan Poe, >Ulalume< - A Bailad«. Die amerikanische Lyrik, hg. Klaus Lubbers. Düsseldorf, 1974,103-114, 435. »Walt Whitman und die Tradition der amerikanischen Verskunst«. Miscellanea AngloAmericana: Festschrift für Helmut Viebrock, hg. Kuno Schuhmann, Wilhelm Hortmann und Armin Paul Frank. München: Pressler, 1974, 351-371. »Identität und Identifizierung in Whitmans >Song of MyselfA Girl< and Ovid's Metamorphoses , I, 547-555«. Paideuma, Bd. 8,3 (1979), 409-410. »Translation, Adaptation and Interpretation of Dramatic Texts«. The Languages of Theatre, ed. Ortrun Zuber. Oxford and New York: Pergamon Press, 1980,24-50. »W. S. Merwin: Metaphysiker des Schweigens«. Literaturwissenschaftliches Bd. 21 (1980), 303-320.
Jahrbuch, N.F.
»Pound's Imagist Alba: Myth as Cognitive Method«. Poetic Knowledge: Circumference and Centre, hg. Roland Hagenbüchle und Joseph T. Swann. Bonn: Bouvier, 1980, 128 — 140. »Theorien zur Geschichte der amerikanischen Verskunst«. Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, N.F. Bd. 22 (1981), 361-381.
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Schriftenverzeichnis Franz Link
»Götter, Gott und Spielleiter«. Theatrum Mundi; Götter, Gott und Spielleiter im Drama von der Antike bis zur Gegenwart, hg. Franz Link und Günter Niggl. Berlin: Duncker & Humblot, 1981,1-47. »A Note on >The apparition of these faces .. .< in The House of Mirth and >In a Station of the MetroPrefer not toThe RavenTamerlanesingen sich selbstFace to facec Literarische Anverwandlungen eines biblischen Bildes bei Whitman, Dikkinson, Albee u.a.«. Wege amerikanischer Kultur/ Ways and Byways of American Culture: Aufsätze zu Ehren von Gustav H. Blanke / Essays in Honor of Gustav H. Blanke, hg. Renate v. Bardeleben, Frankfurt a. M: Lang, 1989,159-173. »Bestimmungen der amerikanischen Erzählkunst nach 1950: Ein Forschungsbericht«. Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, N.F. Bd. 31 (1990), 337-371. »Pogromdramen: Emma Lazarus - Arnold Zweig - Elie Wiesel - Joshua Sobol«. Arcadia, Bd. 26(1991), 50-71. »Emma Lazarus. Die jüdische Dichterin und ihr Dance to Death«. Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, N.F. Bd. 32 (1991) 29-147. »>The unsubsumable minorityc Euthanasie und Genozid bei Raymond Federman und Walker Percy«. Zwischen Dogma und säkularer Welt: Zur Erzählliteratur englisch sprachiger katholischer Autoren im 20.Jahrhundert, hg. Bernd Engler und Franz Link. Paderborn: Schöningh, 1991,125-134. »The Bible in Twentieth-Century Jewish Literature (German, English, and French)«. Literatur in Wissenschaft und Unterricht, Bd. 24 (1991), 321-338. »Tanz und Tod in Kunst und Literatur: Beispiele« und »Tanz und Tod in Kunst und Literatur: ein Nachwort«. Tanz und Tod in Kunst und Literatur, hg. Franz Link. Berlin: Duncker & Humblot, 1993,11-68, 663-668. »The Slave Narrative Novel«. Literaturwissenschaftliches 277-304.
Jahrbuch, N.F. Bd. 34 (1993),
Schriftenverzeichnis Franz Link
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»>Only an Aberration of Evolutionc Zur Bestimmung des Menschen bei B. F. Skinner, Anthony Burgess und Walker Percy«. Aspekte der Medizin. Preisverleihung 1992. Ernst Jung-Gedächtnisvorlesung. Aufsätze und Berichte, hg. Walter Siegenthaler u. Rudolf Haas. Stuttgart und New York: Thieme, 1993, 73-77. »Evolutionistische Utopien in der neueren englischsprachigen Erzählkunst: Skinner Burgess - Percy - Malamud - Vonnegut«. Das Natur/Kultur-Paradigma in der englischsprachigen Erzählliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts: Festschrift zum 60. Geburtstag von Paul Goetschy hg. Konrad Groß, Kurt Müller und Meinhard Winkgens. Tübingen: Narr, 1994, 320-338. »The Imaginary Voyages Into the Unknown of Edgar Poe, Herman Melville and Jean Giono«. Colloquium Helveticum, Bd. 18 (1993), 49-71. »In Search for the Figure in the Carpet of History: Thomas Pynchon, Ishmael Reed and Umberto Eco«. Historiographie Metafiction in Modern American and Canadian Literature , hg. Bernd Engler und Kurt Müller. Paderborn: Schöningh, 1994,185-196. »Denkversuche: Montaigne und Pascal, Emerson und Nietzsche, Postmoderne«. Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, N.F. Bd. 35 (1994), 343-386. Auch gedruckt als: »Der Essay als Denkversuch von Montaigne bis zur Postmoderne«. Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 1994 (1995), 59-76. »The Spider and Its Web in American Literature«. Literaturwissenschaftliches N.F. Bd. 36 (1995), 289-314.
Jahrbuch,
»Vom Sein und Scheinen des Schönen: Überlegungen zum Briefwechsel Emil Staigers mit Martin Heidegger«. Dialogische Strukturen / Dialogical Structures. Festschrift für Willi Erzgräber zum 70. Geburtstag, hg. Thomas Kühn und Ursula Schäfer. Tübingen: Narr, 1996, 209-231. »The New Formalism«. Anglistik, Bd. 8 (1997), 81-94. »Formen des Sonetts in der modernen amerikanischen Lyrik bis 1950«. Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, N.F. Bd. 38 (1997), 307-329. »Religiöse Thematik in der amerikanischen Lyrik der Gegenwart«. Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, N.F. Bd. 39 (1998), 217-248. Nachdruck in: Spiritualität und Transzendenz in der modernen englischsprachigen Literatur,; hg. Susanne Bach. Paderborn: Schöningh, 2001,91-122. »Houdini, der Entfesselungskünstler, als >Held< seiner Zeit in der amerikanischen Literatur«. Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, N. F. Bd. 40 (1999), 255-276. »Edgar Allan Poe: Romantik und Moderne«. Romantik, hg. Vera Alexander und Monika Fludernik. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2000, 51-67. »Dana Gioia: Critic and Poet of the New Formalism«. Symbolism , Bd. 2 (2001), 207-228. »Imagination and Faith in Denise Levertov's Poetry«. Anglistik, Bd. 12 (2001), Heft 2, 81-95.
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Schriftenverzeichnis Franz Link V. Rezensionen
Ernst Theodor Sehrt, Vergebung und Gnade bei Shakespeare. Stuttgart 1952. Shakespeare Jahrbuch, Bd. 90 (1954), 355-360. Karin Pfister, Zeit und Wirklichkeit Sprachen, Bd. 4 (1955), 43-44.
bei Thomas Wolfe.
Heidelberg 1954. Die Neueren
Waldemar Besson, Die politische Terminologie des Präsidenten Franklin D. Roosevelt. Tübingen 1955. Die Neueren Sprachen, Bd. 5 (1956), 45-47. Gustav H. Blanke, Amerikanischer Geist: Begriffs- und wortgeschichtliche gen. Meisenheim 1956. Jahrbuch für Amerikastudien, Bd. 2 (1957), 290-291.
Untersuchun-
Jahrbuch für Amerikastudien, Bd. 1, hg. Walther Fischer. Heidelberg 1956. Mitteilungsblatt des ADNV, Bd. 11 (1958), 29-30. Anthology of American Verse, selected and edited by H. Lüdeke. Bern 1957. Die Neueren Sprachen, Bd. 7 (1958), 93. Gustav H. Blanke, Der Amerikaner: Eine sozio-linguistische Jahrbuch für Amerikastudien, Bd. 3 (1958), 277-279.
Studie. Meisenheim 1957.
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Schriftenverzeichnis Franz Link
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Was verstehen wir unter Fiktionalität u m 1200P1 Von Dennis H. Green
Das Ziel meiner Ausführungen ist es, eine provisorische Begriffsbestimmung der Fiktionalität vorzuschlagen, die sich auf die zwischen 1150 und 1220 geschriebenen Romane anwenden läßt, ohne den Anspruch auf eine Gültigkeit über diesen beschränkten Zeitrahmen hinaus erheben zu wollen. Ich bin mir dessen bewußt, daß ich mir bei einem so heiklen Thema eine Blöße gebe, halte es aber für besser, diese Gefahr zu laufen, als mich, wie es Walter Haug tut, der Schwierigkeit einer Definition einfach zu entziehen. Ein Einstieg zu diesem Thema bei der Antike ist nicht so irrelevant, wie es den Anschein haben mag. Piatos K r i t i k an der Dichtung war für das Christentum bei seiner Auseinandersetzung mit der heidnischen Literatur akzeptabel, aber auch für das vor der relativ späten Aristotelesrezeption v o m Piatonismus beherrschte Mittelalter annehmbar, während die Poetik des Aristoteles, obwohl dem lateinischen Westen erst seit dem 13. Jahrhundert zugänglich, Argumente lieferte, die der Fiktion günstiger waren als Piatos. Piatos K r i t i k geht davon aus, daß der Dichter ein bloßer Nachahmer sei, der sich mit den Erscheinungen statt mit dem Wirklichen abgebe und infolgedessen eine Lüge statt der Wahrheit biete. Seiner Argumentation liegt eine radikale Unterscheidung zwischen Dichtung und Philosophie zugrunde, die das Christentum später als die zwischen Dichtung und Theologie umdeutete. Aus Piatos Höhlenmythos geht hervor, daß der Dichter den Gefangenen ähnelt, die, rückwärts gerichtet, nur die vom Feuer geworfenen Schatten sehen, so daß das Produkt des Dichters i m zweiten Grade von der Wirklichkeit entfernt ist. Piatos Einwände gegen die Dichtung sind grundsätzlicher Natur: sie begnügt sich mit dem Schein, statt ihn zu hinterfragen; sie äfft das Geistige nach, u m es dadurch zu entwerten; sie zielt auf Plausibilität ab, so daß ihr Wahrheitsgehalt vorgetäuscht ist. 1 Dieser Aufsatz ist die leicht gekürzte Fassung eines Vortrags, den ich an den Universitäten Cambridge, Köln, Freiburg im Breisgau, Fribourg (Schweiz) und Basel gehalten habe. Der Vortragsstil ist absichtlich beibehalten worden, so daß es keine bibliographischen Hinweise gibt. Diese sind im ersten Kapitel des Buches, aus dem der Aufsatz hervorgegangen ist, zu finden: The Beginnings of Medieval Romance: Fact and Fiction, 11501220 (Cambridge 2002).
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Damit noch nicht genug, denn zu diesen Bedenken kommen Piatos Vorbehalte gegen die Schriftlichkeit und deshalb gegen eine verschriftlichte Literatur hinzu. I h m ist die Schriftlichkeit von geringerem Wert als das Gedächtnis und der lebhafte dialektische Gedankenaustausch. Wie die Dichtung distanziert sich auch die Schriftlichkeit von der Wahrheit, denn sie kann auch lügen und eine Nachahmung oder Fälschung vorlegen. Diese K r i t i k an der Schriftlichkeit verstärkt Piatos Polemik gegen die Dichtung (spezifisch gegen die verschriftlichte Dichtung), aber sie bezieht sich auch auf die Fiktionalität, weil die Entstehung der Fiktion in der griechischen Antike mit dem Beginn der Schriftlichkeit verbunden zu sein scheint. (Daß diese Verbindung auch ursächlicher Natur sein könnte, w i r d uns durch die Parallelerscheinung i m Mittelalter nahegelegt, w o die Genese der volkssprachlichen Fiktion i m 12. Jahrhundert mit der Verschriftlichung der für Laien bestimmten Literatur einhergeht.) Für Plato ist also die Dichtung (in unserem Fall: die Fiktion) unwahr und eines Philosophen unwürdig. Bei Aristoteles verhält es sich bekanntlich anders. Seine Auffassung der Dichtung als Nachahmung oder Mimesis umfaßt auch die Fiktionalität, so daß seine Poetik das beschreibt, was man als eine Theorie des Fiktiven anerkannt hat. Diese Theorie kommt einer Verteidigung gleich, i m Gegensatz zu Piatos K r i t i k , denn Aristoteles kontrastiert den Dichter nicht mit dem Philosophen, sondern mit dem Historiker. Das hätte leicht auf eine Unterscheidung zwischen Unwahrheit und Wahrheit hinauslaufen können, aber statt dessen behauptet Aristoteles, daß die Dichtung nicht spezifische Aussagen macht (wie die Geschichte), sondern allgemeine (und deshalb als philosophisch einzuschätzen ist!). Die universelle Natur der Dichtung informiert uns nicht über das Geschehene, sondern über das, was geschehen könnte, so daß die Dichtung wertvoller als die Geschichte ist. Durch Hervorhebung der generellen, philosophischen Natur der Dichtung stellt sich Aristoteles gegen Piatos K r i t i k , aber dies tut er auch mit der Behauptung, daß w i r in der Dichtung plausible Unmöglichkeiten höher schätzen sollten als nicht plausible Möglichkeiten. Damit gesteht er der Plausibilität eine positive Rolle zu (während Plato sie als Schwäche, als Drückebergerei vor der Wahrheit abgetan hatte). Zur gleichen Zeit verweist hier Aristoteles darauf, daß die Fiktion nicht nach den Maßstäben der Wahrheit und der Unwahrheit, wie i m faktischen Diskurs, zu beurteilen ist. Seine Rhetorik und Poetik hat man sogar als Antworten auf Piatos K r i t i k gelesen. Während die platonische Denkweise i m Frühmittelalter dominant und sein Angriff auf die Dichtung dem christlichen Fundamentalismus willkommen war, verfügte man in Westeuropa über die aristotelische Poetik erst i m 13. Jahrhundert, als Ubersetzung eines arabischen Kommentars, der die Mimesistheorie i n sehr veränderter Form darbot. Das erweckt den Eindruck, als seien diese beiden antiken Denker für unsere Fragestellung irrelevant: Piatos Polemik lie-
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ferte allenfalls eine K r i t i k an der Fiktionalität, während die aristotelische Verteidigung zu spät bekannt wurde (und zwar in verballhornter Fassung), u m bei der Genese der volkssprachlichen Fiktion i m 12. Jahrhundert eine Rolle zu spielen. Diesem Mißstand kann durch Hinzunahme derjenigen lateinischen Autoren abgeholfen werden, die die Ansichten des Aristoteles teilten und die ihrerseits i m Mittelalter, vor allem i m 12. Jahrhundert, bekannt waren. I n einem als aetas Ovidiana bezeichneten Jahrhundert trifft es sich gut, ein Beispiel aus O v i d heranzuziehen. I n seinen Amores I I I 12 sagt Ovid, daß er, statt sich mit historischen Themen (Theben, Troja, Caesar) zu befassen, die Geliebte Corinna besungen habe, daß man dem Dichter keinen Glauben schenken sollte, als wäre er ein Zeuge, und daß seinen Worten kein Gewicht beizumessen sei. Daß die von ihm abgestrittene Autorität als historische Zuverlässigkeit anzusehen ist, geht aus seiner Behauptung hervor, daß die erfindungsreiche Freiheit des Dichters nichts mit der histórica fides zu tun habe, so daß sein Lobgesang auf die erdichtete Corinna tatsächlich eine Lüge sei. N i c h t aber i m Sinne einer Täuschungsabsicht, denn nur die Leichtgläubigkeit seiner Rezipienten versperre ihnen die Einsicht, daß seine Worte unwahr seien. M i t diesem Geständnis erinnert uns O v i d sowohl an Plato als auch an Aristoteles. Wie Plato stellt er seine Dichtung dem Lügen gleich, aber er ähnelt Aristoteles, indem er das Fiktive an seiner scheinbar autobiographischen Dichtung von der historischen Wahrheit unterscheidet {poeta und licentia vatum i m Gegensatz zu testis und histórica fides). Indem er darauf besteht, daß man die Unwahrheit seiner Dichtung (falsa) hätte durchschauen und daß sie niemanden hätte betrügen sollen, verweist O v i d auf das Wesentliche bei einer Begriffsbestimmung der Fiktionalität: Sie beruht auf einem zwischen A u t o r und Publikum geschlossenen Vertrag, in dem jeder die ihm zugewiesene Rolle wissentlich zu spielen hat. Dieses Beispiel (obwohl es auch andere gibt) ist nur ein Einzelfall, ist deshalb eine zu enge Basis, u m als Erklärung dafür zu dienen, wie antike Ansichten über die Fiktionalität ins Mittelalter Eingang gefunden haben könnten. Ein anderer, weniger beschränkter Ansatz betrifft die durch Isidor von Sevilla ans Mittelalter weitergegebene Theorie der antiken Rhetorik über die drei Erzähltypen, die genera narrationis. Dieser Theorie zufolge war einer von diesen Typen, die historia , ein wahrhaftiger Bericht über Ereignisse, die tatsächlich stattgefunden hatten, wenn auch i n der fernen Vergangenheit. Die fabula war dagegen eine Wiedergabe fiktiver Ereignisse, die nicht geschehen waren und nie hätten geschehen können (wie i n den Äsopischen Fabeln oder Ovids Metamorphosen). Logisch zwischen diesen beiden Extremen angesiedelt war das argumentum, das sich mit Ereignissen befaßt, die nicht geschehen waren, doch w o möglich hätten geschehen können. Den direkten Wert dieser Dreiteilung für die Entstehung einer mittelalterlichen Fiktionalitätstheorie hat man als gering
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eingestuft, aber dagegen hat man neuerdings nachweisen können, daß dieses ursprünglich rhetorische Schema i m 12. Jahrhundert auch auf die Poetik übertragen wurde. W i r sind also berechtigt, i n der Definition, die ich jetzt vorschlagen möchte, diesen drei Erzähltypen Rechnung zu tragen: Die Fiktion ist ein literarisches Kunstwerk , das auch Ereignisse in sich schließen kann , die vermutlich stattgefunden haben, aber vor allem über Ereignisse berichtet , die nicht einmal möglich sind , und über Ereignisse , die , wenn auch möglich , nicht stattgefunden haben, und das sein Publikum dazu einlädt, so zu tun, als wäre das wahr, was es sonst für unwahr halten würde. Verschiedene Punkte sind noch erklärungsbedürftig. Ich beginne damit, daß in dieser Definition von Ereignissen die Rede ist, von denen man meinte, sie seien tatsächlich geschehen, denn damit scheint man in dieser Definition für die historia einen Platz gewonnen zu haben, der der fabula oder dem argumentum vorbehalten sein sollte. O b w o h l die rhetorische Theorie zwischen Geschichte und Fiktion unterscheidet, können historische Einzelheiten trotzdem i n fiktive Werke eingebracht werden, was von der modernen wie auch von der früheren Theorie anerkannt wird. Bei Tolstoi besteht ein Nebeneinander von Geschichte (Napoleons Rußlandfeldzug) und Fiktion (Napoleons von Tolstoi erfundene Gespräche oder die Liebesgeschichte von Pierre und Natascha). Ein fiktives Werk kann also wirkliche Personen- und Ortsnamen der außerfiktiven Welt neben erfundenen Namen enthalten. I m Parzival Wolframs von Eschenbach bestehen Baghdad und A n j o u auf der einen Seite neben Munsalvaesche und Schastel Marveile auf der anderen. Das Vorhandensein des Außerfiktiven innerhalb der fiktiven Welt hat man mit der Beobachtung weiter unterstrichen, daß eine Fiktion bekannte Einzelheiten i n neuen Kombinationen zusammenstellen kann: während die Bestandteile aus der Wirklichkeit bezogen werden, macht ihr Vorkommen i n einer neuen Kombination die Fiktion aus. Schon früh ist aufgefallen, daß die Geschichte trotz der theoretischen Unterscheidungen oft i n die Fiktion durchsickern konnte. Aristoteles war sich dessen bewußt, daß es Tragödien mit durchaus fiktiven Namensträgern gab, aber auch andere, w o dies nur zum Teil gilt. Die mittelalterliche K r i t i k an Homer stimmt mit der antiken darin überein, daß sie i h m den Vorwurf macht, die historische Wahrheit mit unmöglichen Erfindungen wie der Teilnahme der Götter an menschlichen Handlungen verbunden zu haben. Horaz räumt ein, daß Homer gelogen hat, lobt ihn aber deshalb, weil er das Falsche mit dem Wahren so gemischt hat, daß er konsequent und daher plausibel blieb. Laut Macrobius ist Vergil in der Aeneis ähnlich verfahren: Auch er hat eine Fiktion, die Didohandlung, in einen historischen Bericht eingebaut, der sich vom Untergang Trojas bis zur Gründung Roms erstreckt. Diese Auffassung von Vergils Werk ist noch
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i m 12. Jahrhundert zu belegen. Der dem Anselm von Laon zugeschriebene accessus beginnt mit der intentio des Dichters: Augustus zu loben, aber deshalb viele (doch nicht alle) historische Wahrheiten unterdrückt und gewisse poetische Fiktionen hinzugefügt zu haben. Diese Verbindung von fiktiven mit faktischen Einzelheiten mag w o h l einige Mitglieder des Publikums i m 12. Jahrhundert anfangs i n Verwirrung gebracht haben, nicht etwa weil sie dem hinterwäldlerischen Zuschauer bei einer Theateraufführung ähnelten, der auf die Bühne sprang, u m die Heldin vor dem Bösewicht zu retten, sondern weil sie noch nicht mit der neuen und nicht immer einfachen Erscheinung der literarischen Fiktion vertraut genug waren. Die Reaktion eines solchen Publikums, diesen neuen Forderungen nicht gewachsen, kann darin bestanden haben, daß sie die ganze Fiktion (nicht nur die darin enthaltenen historischen, faktischen Einzelheiten) für wahr hielten. Sie werden also aus Unkenntnis die Fiktion als historia betrachtet haben. Die oft ohne viel Federlesens als unwahr bezeichnete fabula berichtet über Ereignisse, die nicht einfach unwahr sind, sondern nicht einmal der Wahrheit ähnlich sind, nicht einmal plausibel. Z u den Hinweisen darauf, daß es sich u m diesen Erzähltyp handelt, gehören fiktive Gegenstände wie der Zauberring i m Iwein, der den Träger unsichtbar macht, oder der Zaubergürtel i m englischen Artusroman Sir Gawain and the Green Knight. H i n z u kommen fiktive Geschöpfe, die sich über die Wirklichkeit hinwegsetzen (bei Isidors Definition der fabula kommen die Worte contra naturam vor) oder eine phantasievolle K o m bination von Merkmalen darstellen, die in der Wirklichkeit nur getrennt auftreten (Zentauren, Sirenen, Einhörner). Damit erhebt sich die schwer zu beantwortende Frage, inwieweit an die Existenz von solchen Gegenständen und Geschöpfen geglaubt wurde, inwieweit der A u t o r sich darauf verlassen konnte, daß sie als fiktiv durchschaut wurden. Auch wenn sie nicht durchschaut wurden, ist die Fiktion nicht als lügenhafte Täuschung abzustempeln, denn der Autor, der einen solchen Hinweis einsetzt, bedient sich eines Signals, das ihm und potentiell auch seinem Publikum transparent ist. Es gibt auch Zeugnisse dafür, daß man auf solche Merkmale auf zweierlei Weise reagiert hat: Sie wurden als wahr hingenommen oder man betrachtete sie mit Verdacht und Skepsis. Daraus ergeben sich zweierlei Reaktionen auf die Fiktionalität: die Unfähigkeit und die Fähigkeit, ihr Vorhandensein zu erkennen, mit anderen Worten die Möglichkeit eines nicht homogenen Publikums. Betrachtet man dies in einem längeren Zeitraum, so geht es nicht einfach u m eine geradlinige Ablösung der Leichtgläubigkeit durch die Skepsis, denn Marco Polo glaubte noch an die Existenz von Priester Johannes, der noch bei den Entdeckungsreisen von Vasco da Gama eine Rolle spielte. Sogar diejenigen, die das Vorhandensein der Fiktionalität nicht anerkannten, brauchen nicht unbedingt die betreffenden Signale übersehen zu haben, denn klerikale Rigoristen können z. B. behauptet haben,
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die Fiktion stehe i n keinem Verhältnis zu tatsächlichen Ereignissen oder Fakten, sei also als bloße Unwahrheit abzutun. Daher die gängige Gleichsetzung der fabula und der darauf beruhenden Fiktionen mit Lügen. Als Beispiel für eine der Fiktion zugrundeliegende fabula wähle ich das mittellateinische Tierepos Ecbasis Captivi. Da schon die Gattung in die Tradition der Äsopischen Fabeln einzuordnen ist, die man regelmäßig als offensichtlich fiktiv buchte, darf dieses Epos als fiktiv gelten. Von dieser Gattung sagt Quintilian, daß die Einfältigen ihr Vergnügen am Erdichteten (willing suspension of disbelief< und andererseits der schwer zu übersetzende englische Ausdruck >make-believemake-believeMake-believemake-believeÜbereinstimmungs >KonventionVertragFiktion< Verwirrung, denn es besitzt die technische Bedeutung, die uns angeht (>ein fiktives KunstwerkFalschheithistorischen< Gestalten hätten nie zusammenkommen können). H i n z u kommt aber die weitere Frage, ob die Aeneis auch als fabula rezipiert wurde. Hier ist Macrobius höchst informativ, nicht nur über die eigene Reaktion, sondern auch über die der ganzen Welt (universitas). Er behauptet, daß jedermann weiß, daß diese fabula falsch ist, da sie nur
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den Schein der Wahrheit darbietet (speciem veritatis und pro vero), denn jedermann ist klar, daß D i d o keusch war und sich umgebracht hat, u m ihre Ehre zu retten. Wegen der Schönheit von Vergils Erzählung (pulchritudo narrandi) unterdrückt man aber i n sich den Zeugniswert der historischen Wahrheit (intra conscientiam veri fidem prementes) und zieht es vor, den Reiz der Fiktion zu feiern, als wäre sie wahr (malint pro vero celebrari quod pectoribus humanis dulcedo fingentis infudit). Hier betont Macrobius, daß Vergils Rezipienten, denen die historische Wahrheit bekannt ist, seine Fiktion trotzdem als Wahrheit annehmen: ihr Verfahren ist ein >make-believeawareness of the power of his fictive art to command credence even in the face of the audience's knowledge that the anachronistic affair between Aeneas and D i d o is the poet's o w n created fictionmake-believe< handelt es sich u m das, was man sonst für unwahr halten würde. M i t dieser Formulierung w i r d angedeutet, daß die historische oder faktische Wahrheit durch einen Wahrheitsbegriff abgelöst wird, der vielmehr als literarisch, imaginativ oder fiktiv zu kennzeichnen wäre. (Von philosophischer Seite ist allerdings dagegen Einspruch erhoben worden, die Fiktionalität überhaupt i n Beziehung zur Wahrheit zu setzen, aber i m Mittelalter, w o sich die Fiktionalität von der absoluten Antithese Wahrheit - U n wahrheit freizumachen hatte, war diese Bezugnahme historisch unvermeidlich.) Es waren die Gegner der mittelalterlichen Fiktionalität, diejenigen, die dieser absoluten Antithese noch verhaftet waren, die den Einwand erhoben, sie entspreche nicht der faktischen Wahrheit, müsse infolgedessen erlogen sein. N i c h t alles, was sie für erlogen hielten, ist fiktiv (man denke z. B. an die Angriffe der geistlichen litterati gegen die Unzuverlässigkeit der mündlichen Geschichtsüberlieferung oder die K r i t i k zeitgenössischer Historiker an Geoffrey von Monmouth). N i c h t alles Fiktive ist lügenhaft, wie diese Gegner wahrhaben wollten. Indem sie eine Zwischenstellung einnimmt, ist die Fiktionalität weder wahr noch unwahr (auch wenn sie manchmal als Abwehrmaßnahme mit Wahrheitsbeteuerungen nicht hinterm Berg hält). Diese Zwischenstellung der Fiktionalität war der Antike bekannt. Der Passus in Ovids Metamorphosen , in dem die Leser aufgefordert werden, die Rollen von Lelex und Pirithous zu übernehmen, bezieht sich auf einen Bericht, der gleichzeitig wahr (factum) und unwahr (ficta) ist. Eindeutiger definiert und dem Mittelalter auch gut bekannt war die rhetorische Stellung des argumentum als Treffpunkt von zwei binären Gegensätzen. Der eine ist der zwischen dem Fiktiven (fabula , argumentum) und dem Nichtfiktiven (historia ), der andere der zwischen dem Wirklichkeitsnahen (historia, argumentum) und dem, was keineswegs plausibel ist (fabula). Aus dieser Gruppierung erhellt, daß das argumentum, für unsere Zwecke der interessanteste der drei Erzähltypen, sowohl fiktiv als auch plausibel wahr ist. Eine volkssprachliche Bekräftigung dieses Sachverhalts finden w i r i m 12. Jahrhundert, i m Roman de Brut von Wace, an einer Stelle, an der er zwischen
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dem eigenen historischen Werk und den Erzählungen über König Artus und die Abenteuer der Tafelrunde eine strenge Unterscheidung macht. Diese Erzählungen werden von Berufssängern kolportiert, deren Werke von Wace als bloße fables angeprangert werden und die deshalb von ihm als fablëors bezeichnet werden. Damit steht Wace dem lateinsprachigen Historiker William von Malmesbury sehr nahe, der ebenfalls die von den Britonen propagierten Fabeln heftig kritisiert und als geschichtswidrig abgelehnt hatte. Wichtig für unsere Zwecke ist die A r t und Weise, in der Wace den Inhalt dieser Erzählungen beschreibt, denn sie sind i n seinen Augen weder völlig lügenhaft noch völlig wahr (ne tot mançonge ne tot voir ; / Ne tot folor ne tot savoir). Es fällt schwer, sich vorzustellen, die Erzählungen dieser Sänger hätten für Wace bereits das erst von Chrétien de Troyes in seinen Romanen Geleistete verkörpert (Fiktion nicht als faktische, sondern als narrative Wahrheit), vor allem wenn man bedenkt, daß Chrétien sich schon i m Prolog zum Erec ausdrücklich von solchen Berufssängern und ihren Machwerken distanziert. Wace hatte wahrscheinlich statt dessen die Verbindung dessen, was man für historisch beglaubigt hielt (König Artus und seine Gründung der Tafelrunde), mit fiktiven Zutaten (mervoilles y avantures) i m Sinne. Solch fiktives Beiwerk war schon William von Malmesbury ein Stein des Anstoßes, der ebenfalls Artus als historische Gestalt anzunehmen bereit war, aber die über ihn umlaufenden Fabeln nicht gelten lassen wollte. Aus diesen Worten von Wace geht hervor, wie gut sich die matière de Bretagne zu der von Chrétien i n Gang gesetzten Fiktionalisierung geeignet haben mußte. Seine Worte sind die erste volkssprachliche >theoretische< Formulierung eines Bruchs mit der alten Dichotomie zwischen wahr und unwahr, der erste Hinweis darauf, daß diese Erzählungen, wie bald darauf Chrétiens Romane, das Mittelfeld zwischen diesen beiden Polen besetzen. Die Fiktionalität nach den Maßstäben dieser Dichotomie zu beurteilen, heißt also ein sachfremdes Kriterium anzuwenden, aber Wace gebührt wenigstens die Ehre, das eingesehen zu haben. M i t dieser Doppelstellung steht er der modernen Fiktionstheorie auch nicht so fern, denn vom modernen Roman (und, wie ich meine, auch vom mittelalterlichen) heißt es, daß die darin gemachten Aussagen fiktional wahr, aber außerhalb der Welt des Romans faktisch unwahr sind, was A u t o r und Publikum gleichermaßen bekannt ist. Wie sich diese vorläufig skizzierte Argumentation auf die Interpretation des höfischen Romans (matière de Rome und matière de Bretagne, i n anglonormannischer, französischer und deutscher Sprache) anwenden läßt, ist ein zu weites Feld und bleibt dem Buch vorbehalten, aus dem dieser Aufsatz entstanden ist.
Für eine gematrische Lesart des Don Quixote: Probleme der Schrift und der Überwindung des Dualismus Von Marcel Krings
Bereits Friedrich Schlegel befand 1799 in seiner »Rede über die M y t h o l o gie« 1 , Cervantes eigne neben Shakespeare und der Mythologie jener »grosse Witz, der nicht in einzelnen Einfällen, sondern i n der Construktion des Ganzen sich zeigt«. 2 Weniger bekannt scheint allerdings auch unter den Romantikern gewesen zu sein, w o r i n nun eigentlich das Wesen dieser ganzheitlichen Konstruktion besteht. Schlegel selbst weist zwar auf diese künstlich geordnete Verwirrung, diese reizende Symmetrie von Widersprüchen, diese[n] wunderbar ewige[n] Wechsel von Enthusiasmus und Ironie hin, welcher »selbst i n den kleinsten Gliedern des Ganzen lebt« 3 , meint damit aber augenscheinlich kein tektonisches Strukturprinzip, sondern eher semantische Verklammerung. Auch seine Kollegen Tieck und A.W. Schlegel haben immer wieder auf die planvolle Gesamtkonstruktion des Don Quixote 4 hingewiesen, ohne diese dann allerdings anders zu behandeln als hinsichtlich der eingeschobenen Novellen des ersten Teils und auch hier nur wesentlich in bezug auf die zentrale Novelle des »Curioso Impertinente«. So ist es w o h l zu erklären, daß bis in die heutige Zeit hinein die Auffassung des Don Quixote als eines strukturell durchdachten Kunstwerkes sich entweder gar nicht oder höchstens unter Beschränkung auf die eingeschobenen Novellen des ersten Teils durchgesetzt hat. 5 Der zweite Teil w i r d wegen der allgemein vertretenen Meinung 1
Friedrich Schlegel, »Rede über die Mythologie«, in: ders., Kritische Schriften, hg. Andreas Huyssen (Stuttgart 1978), 190-201, hier 195. 2 Ebd. 3 Ebd.
und theoretische
4 Die Namen werden aus Gründen der weiter unten erklärten Zählart und zur Vermeidung von Mißverständnissen von Anfang an zitiert nach Don Quixote de la Mancha. Facsímil de la Primera Edición y hg. Real Academia Española, 2 Bde (Madrid 1976). Textstellen sind ansonsten der folgenden Ausgabe entnommen: Vicente Gaos (Hg.), El Ingenioso Hidalgo Don Quijote de la Mancha. Edición critica y comentario , 3 Bde (Madrid 1987). 5 So etwa in den Arbeiten von Joaquin Casalduero [Sentido y forma del Quijote (Madrid 1949)] und Knud Togeby [La Composition du román Don Quijote (Kopenhagen
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einer seltsam poetologischen Wendung zum Metaroman aus dieser Strukturdiskussion ausgeklammert, so als ginge dort jegliche Ordnung verloren. 6 Es ist leicht zu sehen, dass sich dieses Verfahren jedoch selbst seines Anspruches einer Gültigkeit für das Ganze beraubt. W i l l man den Don Quixote also nicht als planlose Aneinanderreihung von Ereignissen mißverstehen, so muß zum Zweck einer Strukturanalyse offensichtlich anderswo als auf der reinen Handlungsebene nach Kriterien der Ordnung gesucht werden. So hat bereits Georg Lukäcs in seiner Theorie des Romans darauf hingewiesen, daß Cervantes in der Periode der letzten, großen und verzweifelten Mystik, des fanatischen Versuchs einer Erneuerung der versinkenden Religion aus sich selbst; in der Periode der in mystischen Formen aufsteigenden neuen Welterkenntnis [lebte].7 N u n ist schon seit langem bekannt, daß nach dem Erscheinen des Buches Bahir u m 1180 in Südfrankreich Spanien ab dem 13. Jahrhundert zur Hochburg der Kabbalisten wurde, deren Bewegung und Geheimlehre sich, gespeist aus orientalischen Quellen, »in rapider, erstaunlich intensiver Entwicklung zu ihren vollausgebildeten Gestaltungen« 8 ausbreitete. Spanien schien mit seinen starken Bevölkerungsanteilen von Mauren und Juden geradezu prädestiniert für eine kabbalistische Esoterik, die es, wie Gershom Scholem schreibt, mit ihrer Betonung der lebendigen, symbolhaften Einheit Gottes anders als ihr Gegenpol, das zum rein historisch gewordenen Gesetz des rabbinischen Judentums, vermochte, den von der Katastrophe der Vertreibung der spanischen Juden 1492 aufgewühlten Gemütern eine Antwort auf die immer wieder dringlich auftauchende Frage nach dem Sinn des Exils zu geben.9 Doch nicht alle Juden hatten 1492 das Land verlassen. Als zum Christentum übergetretene conversos blieben einige i n Spanien und erreichten in der spanischen Philosophie und Gelehrsamkeit »bei weitem mehr Einfluß, als es ihrer
1957)]. Howard Mancing betrachtet in seinem Buch The Chivalric World o/Don Quijote. Style, Structure, and Narrative Technique (Columbia 1982) zwar den zweiten Teil, nicht aber mit dem Ziel der Aufweisung einer einheitlichen Struktur des Textes. Seine Absicht ist eher die Systematisierung der (auch rhetorischen) Wirklichkeitsverdrehungen Don Quixotes bzw. der Nachvollzug der zum Ende hin fallenden Handlung. 6 So beispielsweise bei Raymond Immerwahr; »Structural Symmetry in the Episodic Narratives of Don Quijote«, Comparative Literature 2 (1958), 121-135. Immerwahr erkennt nur in den Novellen des ersten Teils eine stringente Tektonik, in bezug auf die Novellen des zweiten Teils kann er nur feststellen, daß ihre Anzahl sich verringert hat. 7 Georg Lukäcs: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, (Neuwied und Berlin 21963), 104 [Zuerst 1920]. 8 Gershom Scholem: Zur Kabbala und ihrer Symbolik, (Frankfurt / Main 91995), 121. 9 Ebd.
Für eine gematrische Lesart des Don Qiuxote
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Anzahl entsprach«. 10 O f t des heimlichen Judaismus verdächtigt, brachten es die Neuchristen sogar bis in die höchsten Ränge der katholischen Kirche: Diego de Deza, der Nachfolger Torquemadas als Großinquisitor, war jüdischer Abstammung. 1 1 A u f diese Weise konnten die Geheimnisse der jüdischen Mystik »eine sichere Heimstatt i n der christlichen Theologie« 1 2 finden. Daß eine solche Vermischung der Lehren letztlich auch Cervantes nicht fremd gewesen sein wird, machen seine i n Madrid Ende der 1560er Jahre erworbene Bildung sowie die mögliche Abstammung der Familie Cervantes von Conversos wahrscheinlich. 13 N u n steht Cervantes' aufrichtige christliche Frömmigkeit nicht in Zweifel. Insofern religiöse Weltsicht aber unter dem Verlust der Glaubenssicherheit zu leiden begann, galt es, den Mangel auszugleichen. U n d so soll gezeigt werden, daß der Don Quixote Techniken der Kabbala als Vehikel einer Restitution der Evidenz des christlichen Glaubens i n Anspruch nimmt. N u n enthält die Kabbala vor allem eine Technik, die in der Literatur ihre Wirkung entfaltete: die Gematria. Papus und Nestler definieren: Man ersetzt nun die Buchstaben durch Zahlen und umgekehrt und nimmt mit den Zahlen verschiedene Rechenoperationen vor. Man nennt diese kabbalistische Methode Gematria (von ye^M-expia = Geometrie oder Mathematik im allgemeinen).14 Die so sich ergebenden Zahlen konnten nun zur Reflexion über das Wesen der heiligen Namen herangezogen werden, hielt man doch die Schrift für den sichtbaren Ausdruck des göttlichen logos, eben für »die Gestalt, in der sich der H i m m e l der Erde offenbart«. 15 Dabei konnten die Zahlen für die Textexegese entweder in ihrer Bedeutung als Summe oder Quersumme nutzbar gemacht werden, wobei letztere als Kondensation der Zahl auf ihr Wesentliches galt. 1 6 10
William Byron, Cervantes. Der Dichter des Don Quijote und seine Zeit (München 1982), 32. 11
Byron, Cervantes, 22. Ebd. Byron führt eine Liste der von der jüdischen Mystik beeinflußten Persönlichkeiten auf, die von Melchor Cano, Luis Ponce de Leon, Agustin de Cazalla über Theresia aus Avila und die Illuministenbewegung bis hin zu Luis de la Puente reicht, der im Jahre 1605, dem Erscheinungsjahr des ersten Bandes des Quixote, seine Meditationen über die Mysterien unseres heiligen Glaubens veröffentlichte (15). Zur Aufnahme der jüdischen Mystik und ihrer arabischen Einflüsse in die christliche Wissenschaft siehe auch Richard Kieckhefer, Magie im Mittelalter (München 1995), 136-140. 13 Bei Byron, 36-41, ausführlich diskutiert. 14 Papus / Julius Nestler, Die Kabbala. Einführung in die jüdische Geheimlehre (Wiesbaden 1996), 22 [zuerst Paris 1903]. 15 Ebd., 19. 12
16 Siehe hierzu die klassische Studie über Buchstabenmystik von Franz Dornseiff, Das Alphabet in Mystik und Magie (Leipzig / Berlin 21925), 116.
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Ebenso waren Sinnsuche und Deutung aus der Anzahl der Buchstaben eines Wortes herleitbar. 17 Ursprünglich auf das hebräische Alphabet bezogen, wurde die Gematria bald auf die jeweiligen Landessprachen übertragen und verbreitete sich i m 17. Jahrhundert bis nach Deutschland: Grimmelshausen läßt seinen Simplizissimus i m 12. Kapitel des dritten Buchs 893 Goldstücke finden und erstellt so nach der H I C ergebenden Zählweise A = l , B = 2 usw. das Psychogramm eines I C H , das sich noch in der Unordnung befindet, aus der es erst der Glaube erretten wird. Gleichzeitig ist die Richtung des Glaubens angegeben: H I C steht für >Herr Jesus Christus und < j > wegen ihrer bis in das 18. Jahrhundert bestehenden graphischen Identität ein und denselben Zählwert erhalten müssen. Vgl. dazu den Diccionario de Autoridades , hg. Real Academia Española (Madrid 1726), der als erster mir zugänglicher die beiden Buchstaben getrennt verzeichnet. 19 Zur Zahlenallegorese siehe hier und im folgenden Heinz Meyer, Rudolf Suntrup, Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen (München 1987). 20 Auch Immerwahr, op.cit., zieht aus der Anzahl der von ihm gefundenen Novellen keine Schlußfolgerungen. Dies ist allerdings auch nicht seine Absicht. 21 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (Bern 1948), 496. Überhaupt bietet der ganze XV. Exkurs zur Zahlenkomposition eine Fülle an Nachweisen von Zahlen als Strukturprinzip der mittelalterlichen Literatur. 18
22 23
Ebd., 496 und 500. Vgl. Meyer/Suntrup, s.v. Zwölf.
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Auch i m Don Quixote spielt die erste Stelle, an der sich der Protagonist wirklich als Ritter fühlt, paradoxerweise am Herzogshof (also da, w o alles nur Schein ist), und zwar deshalb, weil er endlich einmal alles sich so abspielen sieht, wie er es in den Ritterromanen gelesen hatte: [ . . . ] y aquél fue el primer día que de todo en todo conoció y creyó ser caballero andante verdadero, y no fantástico, viéndose tratar del mesmo modo que él había leído se trataban los tales caballeros en los pasados siglos (Bd. II, 447). Dies kann er aber nur, weil am Herzogshof unter anderem eben die Zahlensymbolik stimmt: sechs (¡numerus perfectus) Fräulein nehmen ihm die Waffen ab, zwölf Edelknaben führen ihn zur Tafel, auf der vier Gedecke stehen, die christologisches Symbol der Weltganzheit sind. 2 4 Das gesuchte notwendige Kriterium einer geordneten Struktur scheint sich offenbar unter Hinzuziehung allegorisch-mystischer Traditionen aufzeigen zu lassen. Letzte Gewißheit vermag aber erst der aus dem Text entwickelte volle christliche Horizont zu geben, vor dem die Zahlen ihre Bedeutung annehmen.
D o n Quixote als Soldat Gottes D o n Quixote ist gläubiger Katholik. Er begreift sich von Anfang an als Soldat Gottes, der den Versuch einer Lebensführung nach dem Muster der alten Ritterromane unternimmt, welches er gerade in seinem eisernen Zeitalter als verbindlich ansieht: Sancho amigo, has de saber que yo nací, por querer del cielo, en esta nuestra edad de hierro, para resucitar en ella la de oro, o la dorada, como suele llamarse. Yo soy aquel para quien están guardados los peligros, las grandes hazañas, los valerosos hechos (Bd. I, 382). Dies zeugt von der erwähnten, zutiefst christlich-mittelalterlichen Vorstellung, i n einer von Gott signierten Welt zu leben, in der jedes Zeichen auf den Schöpfer deutet, in der also die scriptum Dei noch einfach lesbar ist, so einfach wie eben - die Ritterromane, die D o n Quixote i n einem Maße gelesen hat, welches Michel Foucault dazu bewogen hat, ihn als Allegorie der Texte, Bücher und Sprache zu deuten. 2 5 I n der Tat scheint das transzendentale Selbst-Bewußtsein i n einem umfassenden Sinne ein lesendes zu sein: lego , ergo sum.2( i
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Vgl. Meyer/Suntrup, s.v. Sechs und Vier. Michel Foucault, Les mots et les choses (Paris 1966), 60: »Tout son être n'est que langage, texte, feuillets imprimés, histoire déjà transcrite.« 26 Vgl. dazu auch Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt (Frankfurt / Main 31996), Kapitel IX, 108-120. 25
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Insofern sich D o n Quixote als Soldat Gottes begreift, sind die Motive seiner Ausritte auch rein christlich: I n 1,1 geht es i h m u m den Dienst am Gemeinwesen (Motiv der christlichen caritas ), u m die Mehrung seiner Ehre und u m die Erlangung eines ewigen Namens und Ruhmes. Damit ist jedoch nicht der irdische Ruhm i m Sinne eines humanistischen Denkens gemeint, wie er in 11,8 Sancho erklärt: los cristianos, católicos y andantes caballeros más habernos de atender a la gloria de los siglos venideros, que es eterna en las regiones etéreas y celestes, que a la vanidad de la fama que en este presente y acabable siglo se alcanza; la cual fama, por mucho que dure, en fin se ha de acabar con el mesmo mundo, que tiene su fin señalado (Bd. II, 134). Insofern ist ersichtlich, daß für D o n Quixote die ritterlichen Taten nicht zum Selbstzweck erhoben werden, sondern nur das Mittel sind, sich als tüchtiger Erfüller des göttlichen Auftrags den Weg i n den H i m m e l zu sichern: muchos son los caminos por donde lleva Dios a los suyos al cielo: religión es la caballería; caballeros santos hay en la gloria (Bd. II, 139). Dieses christliche Missions- und Sendungsbewußtsein reicht aber für D o n Q u i xote nicht allein aus.
Person und Bedeutung der Dulcinea Denn noch gilt es, sich nach dem Vorbild der mittelalterlichen Ritter eine Minnedame zu stilisieren. Mag es sich also zunächst u m eine Wahl aus der Konvention heraus handeln, so w i r d Dulcinea schon i m Moment der K ü r auf eine dem bloß Konventionellen enthobene Ebene entrückt. Es heißt, der fahrende Ritter ohne Liebe sei ein »cuerpo sin alma« (Bd. I, 65). Dulcinea besitzt also von Anfang an die Qualität der Notwendigkeit für die Existenz D o n Q u i xotes: Sie ist seine Seele. Darum tritt ab I, 31, w o Sancho seinem Herrn Dulcineas angebliche Aufforderung zum Besuch überbringt, als drittes M o t i v der Ausfahrten D o n Quixotes immer mehr die Suche nach Dulcinea zutage, ohne die ihn alle Lebenskraft zu verlassen scheint, wie er Sancho entrüstet verdeutlicht: Decid, socarrón de lengua viperina, ¿y quién pensáis que ha ganado este reino, y cortado la cabeza a este gigante, y héchoos a vos marqués, que todo esto doy ya por hecho y por cosa pasada en cosa juzgada, si no es el valor de Dulcinea, tomando a mi brazo por instrumento de sus hazañas? Ella pelea en mí, y vence en mí, y yo vivo y respiro en ella, y tengo vida y ser (Bd. I, 617). Dulcinea bedeutet hier, in Ubereinstimmung mit dem lateinischen Etymon dulcedöy >Huld und Seligkeit< für D o n Quixote, sie ist die Allegorie der Schönheit,
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A n m u t und Güte. Ja, sie ist für den Ritter der »norte de mis caminos«, die »estrella de m i ventura« (Bd. I, 503), sie ist ihm der Stern der Liebe, wie er jedoch i n eindeutiger Erfüllungshoffnung - von dem jungen Maultiertreiber in Kapitel 43 des ersten Teils besungen wird. Damit entrückt D o n Quixote sie aber vollkommen dem Bereich des Irdischen und hebt sie in den Bereich der kosmischen Absolutheit, der Vollkommenheit, in dem die menschliche Sündhaftigkeit nicht besteht: Nirgends w i r d von Schwächen oder gar Fehlern D u l cineas berichtet. D o n Quixote w i r d so i m Gegensatz zu dem Maultiertreiber seinen Stern nie erreichen. Ja, er darf nicht wie dieser nach den Erfüllungen der fleischlich-irdischen Liebe streben, sondern muß, den Grundsätzen seiner soldatischen Sendung getreu, rein bleiben: Hemos de matar en los gigantes a la soberbia; a la envidia, en la generosidad y buen pecho; a la ira, en el reposado continente y quietud del ánimo; a la gula y al sueño, en el pococomer que comemos y en el mucho velar que velamos; a la lujuria y lascivia, en la lealtad que guardamos a las que hemos hecho señoras de nuestres pensiamentos; a la pereza, con andar por todas las partes del mundo, buscando las ocasiones que nos puedan hacer y hagan, sobre cristianos, famosos caballeros (Bd. II, 135). N u r die Treue gegenüber den Prinzipien des katholischen Glaubens und gegenüber Dulcinea sichert D o n Quixote also die Rechtfertigung seiner Existenz. Damit gerät seine Suche aber i n die Aporie des Gegensatzes Ideal-Wirklichkeit: Die Untreue gegenüber Dulcinea wäre Verfall an die Wirklichkeit und somit Verrat am Ideal, die Fortsetzung der Suche nach Dulcinea ist aber gleichbedeutend mit der Vernachlässigung alles Irdisch-Faktischen. D o n Quixotes Weltbild ist somit von Dualismus gekennzeichnet, er ist ein Wanderer zwischen den Welten. U n d so verwundert es nicht, wenn Sancho Pan^a in einem seiner wachen Momente den wahren Charakter der Liebe seines Herren so wiedergibt: Con esa manera de amor [ . . . ] he oído yo predicar que se ha de amar a Nuestro Señor, por sí solo, sin que nos mueva esperanza de gloria o temor de pena (Bd. II, 633). Demnach wäre Dulcinea für D o n Quixote nicht nur dem Irdischen enthoben, sondern sogar der Ebene des Göttlichen gleichgesetzt. Doch bei gematrischer Untersuchung nach der Zählweise A = 1, B = 2 usw. ergibt sich für Dulcinea die Summe 66. 2 7 Als Verdoppelung der Zahl 33, die das Lebensalter Christi 27
Jedes Graphem beeinflußt diese Summe anders. Um daher Cervantes* Zählweise zu rekonstruieren, muß auf die Faksimile-Ausgabe (siehe Fußnote 4) des Don Quixote zurückgegriffen werden, weil die heute geläufigen Ausgaben alle die Graphie der Sprachentwicklung angepaßt haben. Zur Zählweise im Spanischen wurde herangezogen Sebastián de Covarrubias, Tesoro de la lengua castellana o española (Madrid 1611). Covarrubias hat die folgenden Buchstaben: l.a, 2.b, 3.c (inklusive q und ch), 4.d, 5.e, 6.f, 7.g, 8.h, 9.i und j, lO.k, 11.1 (inklusive 11), 12.m, 13.n, 14.o, 15.p, 16.q, 17.r, 18.s, 19.t, 20.u und v, 21.x, 22.y (kein
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bezeichnet, deutet sie auf die in Christus vereinigten Naturen und steht somit für die Synthese von Irdischem und Metaphysischem. 28 Mitten in D o n Q u i xotes verzweifelter Suche ist i h m also die Möglichkeit einer Auflösung seines Lebensdualismus bereits gegeben, die der Erkenntnis der gegenseitigen Durchdringung der Sphären des Göttlichen und des Irdischen gleichkäme und mithin die Lesbarkeit der göttlichen Präsenz i n der Welt garantierte. Es ist D o n Q u i xotes eigentliches Problem, daß er diese Erkenntnis jedoch nicht vollziehen kann. Er nimmt nur die Auseinanderlegung der zwei Bereiche wahr, die i m Text voller Ironie durch Dulcinea und Aldonza Lorenzo, der Bauernmagd und angeblichen echten, empirischen Dulcinea, dargestellt sind. Das Problem der innerweltlichen Lesbarkeit Gottes w i r d - soviel sei noch gesagt - durch die Zahl 66 auch in der Hinsicht reflektiert, als sie die Zahl der kanonischen Bücher der Bibel ist 2 9 : Das weltschöpfende Wort Gottes, des archipoeta, ist den Christen dort als Garantie der Rückführbarkeit des Geschöpfes auf den Schöpfer gegeben. Diese Vorstellung kennt i n ähnlicher Weise auch die Kabbala mit ihrer Lehre der Entstehung der Welt aus einer Verbindung der göttlichen Sephirot mit den Buchstaben des hebräischen Alphabets. Insofern also Sprache ist, ist göttliche Schöpfung, insofern diese seiend existiert, ist der Schluß auf Gott zulässig. Der Text führt mithin christliche und jüdische Traditionen parallel. D o c h mit D o n Quixotes Vertrauen i n die Eindeutigkeit des Bibelkanons, des göttlichen Wortes, erweist sich wiederum die fatale Schwäche des Ritters: Die Absolutsetzung der Schrift. Denn es zeigt sich i m Fortgang des Romans immer mehr, daß die Welt verworren ist und den literarischen Vorlagen nicht mehr entspricht. Es entsteht eine Krisis des Lesens, aus der als Einziges hervorgeht, daß die Entzifferung Gottes i n der Welt nicht einfach vorausgesetzt werden kann. D o n Quixote ist der Weg zu Dulcinea, d. h. zum wahren erfüllten Gehalt ihres Seins i n der Welt verstellt. Ist die Welt aber verworren, so ist auch, sofern Dulcinea den Bibelkanon allegorisiert, der Gehalt der Heiligen Schrift, also das Sein Gottes, i n dieser Welt nicht erfahrbar. U n d sofern an dieser Stelle das Problem der Rückführbarkeit der Schöpfung auf den Schöpfergott (archipoeta) entsteht, so scheint Cervantes, der nach Gottes Vorbild - allerdings liteeigener Eintrag, existiert aber als eigenständiges Graphem schon im Personalpronomen yo sowie in rey und muy), 23.z. 28 Vgl. Meyer/Suntrup, s.v. 66. Durch die Quersumme zwölf als Zahl der Apostel wird auf die Verbreitung des Glaubens angespielt, der über die ganze Welt verbreitet und geschützt werden soll, verstand man doch die zwölf als Produkt der Zahlen drei und vier, die Trinität und Erde allegorisieren (Meyer / Suntrup, s.v. Zwölf). Auf die Bedeutung der Zahl 6 wird noch eigens einzugehen sein. 29 Hier ist auch die katholische Bibel gemeint, die freilich noch andere, deuterokanonische, Bücher enthält.
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rarische - Welt erschaffende alter creator; dieses ironisch aufzunehmen, wenn er die eigene Autorenrolle i m Don Quixote i n geheimnisvoller Dunkelheit verrätselt. 30
Gott und die Liebe War aber Dulcinea schon ganz zu Anfang die dem Irdischen entrückte Seele D o n Quixotes, so erfolgt am Ende des Buches, somit nach der erfolglosen Suche, die Einsicht, keinen Spaß mit dem Seelenheil treiben zu dürfen (II, 74). Die Suche nach Metaphysischem transzendiert das irdische Dasein und birgt so bei der Beschränkung auf die Dimension des rein Physischen die Gefahr der Aporie. Gott erleuchtet aber aus Barmherzigkeit die Seele D o n Quixotes und nimmt sie zu sich. M i t dieser Bündelung des Heils auf Gott tritt dieser ganz an die Stelle Dulcineas: D o n Quixote w i l l von ihr nichts mehr wissen, er schwört seinem gesamten vorigen Ritterleben ab. Der Grund ist die Erkenntnis, i n der Welt aus eigener Kraft nicht zur Erfahrung der metaphysischen Liebe gelangen zu können. Diese Erfahrung hatte D o n Quixote während seiner Fahrten immer wieder machen müssen, ist doch in der Tat der bloß physische Charakter der Liebe vorherrschend: Denn die Liebeserzählungen, die i n Form von eingeschobenen Novellen oder Erlebnissen D o n Quixotes in das ganze Buch eingearbeitet sind, beschäftigen sich alle mit dem Thema der Erfüllung oder des Scheiterns der Liebe auf Erden. Von Raymond Immerwahr stammt die strukturelle Untersuchung der sieben eingeschobenen Novellen i m ersten Teil des Romans: 3 1 1. Grisöstomo-Marcela (Kapitel 11-14), 2. Cardenio-Luscinda (23 -26), 3. Fernando-Dorothea (28-36), 4. Curioso Impertinente (33-35), 5. Sklave-Zoraida (39-41), 6. Maultiertreiber-Dona Clara (37-42) und 7. Eugenio-Leandra (51). Ganz richtig erkennt Immerwahr sowohl die Funktion der Novellen als Reflexion auf die Situation D o n Quixotes als auch ihre symmetrische Anordnung u m die mittlere Novelle herum, den »Curioso Impertinente«. I n bezug auf den zweiten Teil des Romans w i l l Immerwahr jedoch nur drei eingeschobene Novellen gelten lassen: 1. Hochzeit des Camacho (19-21), 2. Claudia Jeronima (60-61), 3. Ana Felix-Gregorio (63, 65). Geht man jedoch dem Problem des Dualismus von metaphysischer und physischer Liebe nach, das D o n Quixote mit seiner Suche nach Dulcinea zu überwinden trachtet, so ist es nicht sinnvoll, sich nur auf die Novellen zu konzentrieren. Es müssen i m Gegenteil alle Liebesgeschehen i n Betracht gezogen werden, auch die, welche D o n Quixote selbst zustoßen. I n Teil I I müssen also 30
In der Tat ist ja die exakte Darlegung der Erzählerinstanz im Don Quixote schlechthin unmöglich. 31 Vgl. Immerwahr, op. cit.
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hinzugerechnet werden: 4. D o n Quixotes Begegnung mit der angeblichen D u l cinea (10), 5. die Erzählung der Trifaldi (38-41), 6. Altisidoras Avancen (44, 57 und 69) und 7. die Geschichte u m Dona Rodriguez und Tosilos (48, 52 und 56). Es ergibt sich somit die Summe von 14 Liebeserzählungen, die i n zwei Siebenergruppen in den Roman eingegangen sind. 3 2 I n ihnen erlebt D o n Quixote, der auf seinen langen Reisen stets nach metaphysischer Liebe strebt, die D o m i nanz des Physischen, des Beschränkt-Irdischen. Diese Welt ist ihm oft genug Grund zur Verzweiflung und zum körperlichen Schmerz, wenn er wieder einmal mit einem fingierten amourösen Abenteuer an der Nase herumgeführt wird. Daß er diesen Erfahrungen aber nicht ausweicht, erhellt aus seiner Leidenschaft für das Transzendente. N u n lautet die lateinische Ubersetzung des Wortes >Leidenschaft< passio, was in der christlichen Liturgie bekanntlich den Bericht und die Betrachtung des Leidensweges Christi in 14 Stationen bezeichnet. U n d insofern auch D o n Quixote nach den 14 Liebesgeschichten von Gott erlöst und zu sich genommen wird, liegt die Vermutung nahe, Cervantes habe hier nach jesuanischem Muster eine ebenso physische wie säkularisierte Passionsgeschichte verfaßt. Der fahrende Ritter würde so zur Allegorie Christi. 3 3 Die 14 ist aber auch in gematrischer Hinsicht bedeutungsvoll, denn aus 14 Buchstaben besteht der Name >Aldonza LorenzoDulcinea< nach gematrischer Zählweise 66, deren Quersumme wie die des Alonso Quijano 12, also 2 x 6 , ist. Endlich liegt D o n Quixote nach seiner Rückkehr in sein D o r f sechs Tage i m Fieber und schläft am siebten Tag sechs Stunden, bevor Gott ihn erleuchtet. 39 Was bedeutet nun also die Zahl Sechs für den Don Quixote f Zunächst scheint es, der Text und sein A u t o r spiele zum Zweck des geschickt verdunkelten Eigenlobs hier mit ihr als dem Zeichen der perfectio in der Literatur. 4 0 Denn schon seit dem Mittelalter galt die Sechszahl in Gedichten als Zeichen der perfectio operis - ein Topos, der sich übrigens bis i n die Moderne hinein tradiert 35
Vgl. Meyer /Suntrup, s.v. Neun. Ihre Namen ergeben nach gematrischer Zählart den Wert 135 bzw. 90. 37 Meyer /Suntrup, s.v. Zwölf 38 Bei genauer Rechnung sind es sechseinhalb. 39 Daraufhin macht Don Quixote-Alonso sein Testament, lebt noch drei Tage und stirbt. Addiert man sieben und drei, so ergibt sich 10 als Zahl der Vollkommenheit Gottes, in die Alonso gerufen wird, vgl. Meyer/ Suntrup, s.v. Zehn. 36
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Vgl. Meyer /Suntrup, s.v. 6.
4 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 43. Bd.
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hat 4 1 und auf den Cervantes mit den sechs Kapiteln des U r - D o n Quixote anzuspielen scheint. 42 Weit interessanter aber ist die eigentliche Bedeutung der Sechs als Zahl der Verbindung von Geistigem und Materiellem, die darauf reflektiert, daß irdisches Geschehen überirdischem Muster folgt. 4 3 Sie stellt somit auch als Strukturelement des Textes das zentrale Problem des Don Quixote dar: Die Möglichkeit der Vereinigung des Dualismus, wie sie schon - allerdings unbemerkt von D o n Quixote - in Dulcinea enthalten war. Nunmehr erweist sich, daß er selber als der geläuterte Alonso i m Zeichen der Sechs erlöst w i r d . 4 4 So scheint es, daß der Text auch i n - und vielleicht gerade durch - Zahlen die Möglichkeit der Vereinigung i m Sinne einer positiven Utopie andeutet: Das zweifelnde Bewußtsein findet seine letzte Sicherheit in Gott wieder. Wenn es also wahr ist, daß, wie Schleiermacher und Gadamer meinten, 4 5 zum Verständnis der Stellung eines Werkes in der Weltliteratur das Erfassen seines zentralen Problems (seiner >Idee< bzw. seiner >SacheToten Seelen< ganz offensichtlich als ein >Heldengedicht< sui generis konzipiert hat«, gibt Horst-Jürgen Gerigk in seiner Interpretation von Nikolaj GogoPs einzigem Roman zu bedenken, und stellt diesen damit i n die Tradition der großen Epen seit Homer. 2 I n der Tat ist zumindest ein Teil der Toten Seelen in regelrechter Konkurrenz zu Homer entstanden: nämlich i m Wettstreit mit der zeitgleich heranreifenden russischen Übertragung der Odyssee durch den Romantiker Zukovskij. Die Homer-Lektüre half GogoP, die Anfangsschwierigkeiten mit dem eigenen Epos zu überwinden und lieferte zugleich einen ästhetischen Maßstab: 3 1
Dieser Aufsatz bildet die Essenz des zweiten Kapitels eines demnächst erscheinenden Buches über GogoPs Tote Seelen. Seine Kernthese wurde zuerst bei einem Vortrag an der Bonner Universität am 5. 11. 1998 auf deutsch, später auf englisch an der University of Kansas, der University of Toronto sowie an der Columbia University (N. Y.) präsentiert. Zum Stand der Forschung vgl. vom Verf.: »Cicikovs Reise zu sich selbst: Versuch einer Deutung von Nikolaj GogoPs Toten Seelen«, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres- Gesellschaft, Neue Folge, Bd. 42 (2001), 175-224. - GogoPs Werke werden unter Angabe von Bandnummer (röm.) und Seitenzahl (arab.) zitiert nach: N. V. GogoP, Polnoe sobranie socinenij v 14 tomach (Moskva, Leningrad 1937-1952). Die Zitate aus den Toten Seelen basieren auf der Übersetzung von Michael Pfeiffer (4. Aufl., Berlin / Weimar 1984), die erforderlichenfalls stillschweigend verbessert wird. 2 Horst-Jürgen Gerigk, »Nikolaj Gogol: Die toten Seelen«, in: Bodo Zelinsky (Hg.): Der russische Roman (Düsseldorf 1979), 86-110, hier 92. 3 Brief an Zukovskij vom 29. 12. 1847-10. 1. 1848. Vgl. auch die Briefe an Zukovskij vom 28. 3. 1843 (XII, 157), vom 2. 12. 1843 (XII, 239) sowie aus dem Herbst 1849 (XIV, 152). Vgl. auch den Brief vom 25. 2. 1849 an A. S. Danilevskij, in dem GogoP die potentielle Rezeption des II. Teils der Toten Seelen mit der Aufnahme von Zukovskijs Odyssee durch das russische Publikum vergleicht (XIV, 107).
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Urs Heftrich Schon lange hatte mich der Gedanke an ein großes Werk beschäftigt, in dem alles, was an Gutem und Bösem im russischen Menschen steckt, vorgestellt [ . . . ] würde. Ich sah und erfaßte viele Einzelteile, doch der Plan eines Ganzen wollte nicht [ . . . ] Gestalt gewinnen [ . . . ] . [ . . . ] Auf Schritt und Tritt spürte ich, daß [ . . . ] ich [ . . . ] erst den Aufbau der großen Schöpfungen bei den bedeutenden Meistern studieren mußte. Ich [ . . . ] begann mit unserem lieben Homer. Schon schien es mir, daß ich etwas zu begreifen anfange [ . . . ] - aber die Fähigkeit zum Schaffen kehrte immer noch nicht zurück. [ . . . ] Mit großer Mühe gelang es mir irgendwie, den ersten Teil der Toten Seelen in die Welt zu entlassen, gleichsam um an ihm zu ermessen, wie weit ich noch vom Erstrebten entfernt war. (XIV, 35-36)
Daß ein A u t o r sich am Werk eines großen Vorgängers mißt und es als Stimulans zum eigenen Schaffen gebraucht, ist nicht ungewöhnlich. Die Bedeutung Homers für Gogol' geht darüber aber weit hinaus. Bei seinem Aufbruch ins Meer der großen Epik blickt er zu dem Griechen eben nicht nur als ästhetischem, sondern erstaunlicherweise auch als ethischem Leitstern empor: »Das Erscheinen der Odyssee ist ein epochales Ereignis. Die Odyssee ist entschieden das vollkommenste Werk aller Zeiten. Ihr Gehalt ist gewaltig; die Ilias hat ihr gegenüber nur episodische Bedeutung« ( V I I I , 236). Dieses Urteil stützt Gogol' nun aber weniger auf den künstlerischen Rang der Odyssee, als ausgerechnet auf ihre Moral Die Geschichte des großen Irrfahrers gilt ihm nicht allein als der umfassendste Sittenkodex der Antike, sondern als eines der »moralischsten Werke« überhaupt ( V I I I , 238). Eine solche Einschätzung der Odyssee verblüfft, wenn man bedenkt, daß Homer selbst i n der Antike immer wieder aus sittlichen Gründen angegriffen wurde. Gemeinsames Ziel der Homer-Kritik von Hesiod bis Piaton war bekanntlich das zwiespältige Verhältnis des Sängers zur Wahrheit; 4 und unter diesem Gesichtspunkt schnitt die Odyssee, dieses Preislied auf den gerissensten aller Achäer, eindeutig schlechter ab als die Ilias. 5 Diese überlieferte Hierarchie der beiden Epen w i r d nun von Gogol' auf den Kopf gestellt - paradoxerweise aber nicht von dem Künstler, sondern von dem christlichen Moralisten Gogol'.
4 Vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (6. Aufl., Bern, München 1967), 210-211. Vgl. auch das Kapitel über >Die ästhetisch motivierte Unwahrheit bei Rudolf Schottlaender, »Die Lüge in der Ethik der griechisch-römischen Philosophie«, in: Otto Lipmann / Paul Plaut (Hgg.), Die Lüge in psychologischer,; philosophischer,; juristischer; pädagogischer,; historischer,; soziologischer.; sprach- und literatur wissenschaftlicher und entwicklungsgeschichtlicher Betrachtung (Leipzig 1927), 98-121, hier 106-108. 5 Vgl. etwa Piaton, Hippias minor; 364e-365c. Zum Vorwurf der »Lügenhaftigkeit« an Odysseus und dem ursprünglichen Umgang der Griechen mit diesem Phänomen vgl. auch Volker Sommer, Lob der Lüge. Täuschung und Selbstbetrug bei Tier und Mensch (München 1992), 14.
Nikolaj Gogos Tote Seelen als Theologie der Wahrheit
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Darüber mag man sich u m so mehr wundern, als der späte Gogol' die Frage von Wahrheit und Lüge zu einem regelrechten Eckpfeiler seines ethischen Weltgebäudes erhob. Er konnte sich dabei auf die traditionelle platonischchristliche Position stützen: gegen die ursprünglich griechische »Theologie der Bosheit«, 6 die auch den Göttern einen Willen zu bewußter Irreführung unterstellt - gegen Homer also - behauptet Piaton, »die Gottheit und das Göttliche« seien »ganz ohne Unwahrheit«. 7 Wie überall, neigt GogoP jedoch auch hier dazu, die christliche Lehre dramatisch zuzuspitzen. U m nur ein Beispiel zu nennen: w o es bei Paulus heißt, »Gott sey wahrhafftig / und alle Menschen falsch« (Luther), da wartet GogoP mit der beklemmenden Botschaft auf, »daß der ganze Mensch Lüge ist«. 8 Er wittert die Lüge überall, und zuerst auf seiner ureigensten Domäne: dem Feld der »Wortemacherei« (XIV, 62). Die Verwandtschaft zwischen Dichtung und Schwindelei hat ihn seit jeher gefesselt; denken w i r nur an seine Charakteristik Chlestakovs, des Helden i m Revisor: [L]ügen bedeutet, die Lüge in einem Ton vorbringen, der der Wahrheit so nahe kommt, [ . . . ] daß man so eigentlich nur die Wahrheit sagen kann [ . . . ] . Chlestakov schneidet keineswegs kaltschnäuzig oder prahlerisch-theatralisch auf; er schwindelt mit Gefühl; seine Augen drücken das Vergnügen aus, das er dabei empfindet. Das ist überhaupt der schönste und poetischste Augenblick seines Lebens, fast eine Art Inspiration. (IV, 99-100) M i t dem Fortschreiten von GogoPs religiöser Krise aber weicht diese Faszination zusehends dem Schrecken. Die Einsicht, daß auch das Lügen gekonnt sein w i l l , verkehrt sich in den Verdacht, das eigene Können sei nichts als Lüge. D e m Priester Matvej Konstantinovskij gesteht GogoP: Vieles möchte ich Ihnen sagen. Doch dazu bräuchte ich ganze Seiten und würde leicht in Wortemacherei, 9 vielleicht gar ins Lügen geraten... Der Geist der Lüge ist mir so nah und hat mich schon so oft betrogen [ . . . ] . (XIV, 62) Eine solche Verwischung der Grenzen zwischen Kunst und Geflunker läßt sich tief in GogoPs Biographie hinabverfolgen: bis zu jenem Lügenbrief, mit dem er 1829 seine überstürzte Reise nach Lübeck gegenüber der Mutter rechtfertigte. Sein Versuch, die Flucht vor dem Scheitern seines literarischen Debüts 6
Paul Ricoeur, Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II (Freiburg / München 1971), 104. 7 Piaton, Politeia, 382e-383c. 8 Zit. nach Rolf-Dietrich Keil, »GogoP im Spiegel seiner Bibelzitate«, in: Reinhold Olesch u. Hans Rothe (Hgg.), Festschrift für Herbert Bräuer zum 65. Geburtstag am 14. April 1986 (Köln/Wien 1986), 193-220, hier 206. 9
Die »Wortemacherei« (»mnogoslovie«) gilt GogoP offenbar als Vorstufe zur Lüge. Vgl. hierzu das Diktum des Augustinus: »Verbositas enim quid aliud est, quam semen quod fructum non facit?« (Augustinus, »Sermo de silentio«, in: Patrologiae cursus completus, Series Latina, ed. J.-P. Migne, 40,1239 f.). 7 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 43. Bd.
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durch eine fingierte Liebesgeschichte zu kaschieren, trägt selbst alle Merkmale von Literatur: in keinem früheren Brief Gogols w i r d eine solche Vielzahl rhetorischer Register gezogen. 10 Wie man weiß, hat sich Gogol' seit Ende der dreißiger Jahre mit wachsender Intensität i n die Patristik eingelesen. M i t Augustinus' Einstellung zur Lüge war er also gewiß vertraut, auch wenn eine unmittelbare Lektüre von dessen Schrift Über die Lüge schwer nachzuweisen ist. Sollte er sie aber gekannt haben, mußte sie ihn wie ein Kommentar zu Chlestakovs und seiner eigenen Lust am Erdichten anmuten. I m 18. Abschnitt von De mendacio nämlich heißt es: 11 Es besteht [ . . . ] ein Unterschied zwischen einem Menschen, der lügt, und einem lügenhaften Menschen. Zur ersten Gruppe gehört auch, wer ungern lügt; ein lügenhafter Mensch hingegen lügt gern und lebt geistigerweise in der Lust zu lügen. Gleichstellen muß man auch die, welche mit einer Lüge ihren Mitmenschen gefallen wollen, nicht um irgendeinem ein Unrecht zuzufügen oder eine Schmach anzutun [ . . . ] , sondern um in ihren Reden angenehm zu sein. Diese [ . . . ] Lügen schaden immerhin denen, die sie gläubig hinnehmen, nicht [ . . . ] . Denen selbst freilich, die lügen, schaden solche Lügen sehr: den einen, weil sie von der Wahrheit so abweichen, daß sie an der Tauschung ihre Freude haben, den anderen, weil ihnen mehr daran liegt, daß sie selbst Gefallen erwecken als die Wahrheit. I m 25. Abschnitt, w o Augustinus verschiedene Formen der Lüge klassifiziert, w i r d diese Aussage noch weiter zugespitzt: diejenige A r t der Lüge, die »allein durch die Lust am Lügen und Täuschen zustande« komme, sei »die Lüge in Reinkultur«. 1 2 Freilich hat Augustinus bei seinem Kampf gegen die Lüge nicht die als solche ausgewiesenen - und darin ja wiederum aufrichtigen Fiktionen der Dichtkunst i m Sinn. Seine Dichtungskritik, wie sie etwa das I. Buch der Bekenntnisse am Beispiel der Aeneis formuliert, zielt eher auf das Zerstreuungs- als auf das Täuschungspotential fiktiver Welten. 1 3 Andere Kirchenväter, wie die frühchristlichen Apologeten, 1 4 waren da weniger differenziert und schrieben dem Teufel als dem Vater der Lüge ohne Zögern auch die Vaterschaft an der Dichtung zu. Bedenkt man, mit welchem Stolz sich manche Romantiker auf diesen Ahnherrn beriefen, 15 erstaunt es vielleicht weniger, daß 10
Brief an Mar'ja I. Gogol' vom 24. 7.1829 (X, 145-151). Aurelius Augustinus, Die Lüge und Gegen die Lüge, übertr. u. erläutert v. Paul Keseling (Würzburg 1953), 28-29. 12 Ibid., 37. Vgl. auch Abschnitt 42 von De mendacio (ibid., 59). 13 Aurelius Augustinus, Bekenntnisse, übers., mit Anmerkungen vers. u. hg. v. Kurt Flasch u. Burkhard Mojsisch (Stuttgart 1989), 47. 11
14 Vgl. Walter Rehm, Kierkegaard tius, op. cit., 538, Anm. 3. 15
und der Verführer
(München 1949), 327 sowie Cur-
Vgl. Mario Praz, Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik (3. Aufl., München 1988), 66-95.
Nikolaj GogoPs Tote Seelen als Theologie der Wahrheit
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der späte GogoP in der eigenen Freude an den Truggebilden der Poesie den Keim des Bösen vermuten konnte. 1 6 Von seinem Plädoyer, die Odyssee als moralische Anstalt zu betrachten, nimmt GogoP denn auch einen Punkt explizit aus. Er spricht vom »Ungenügen« der griechischen Religion, »die sogar den Betrug [ . . . ] erlaubte« ( V I I I , 243; Herv. U.H.). Offenbar soll der russische Mensch des 19. Jahrhunderts dem Odysseus zwar in vielem nacheifern, doch in einem nicht: in seinem äußerst geschmeidigen Umgang mit der Wahrheit. Hier, an dieser Stelle bestreitet GogoP die exemplarische Qualität des homerischen Helden. Was aber - fragt man sich - bleibt noch von dem listenreichen Odysseus, wenn man sein wichtigstes Epitheton ornans in Zweifel zieht? Was würde aus einem Odysseus, der sich eines Tages seiner Listen zu schämen begänne? Die A n t w o r t sei schon jetzt vorweggenommen: Cicikov, der erst gerissene, später reuige Held der Toten Seelen! Odysseus und Cicikov: GogoP hat die Parallele selbst gezogen und Wert darauf gelegt, daß die hervorstechendste Eigenschaft des Homerischen Helden seinem Odysseus noch in viel höherem Maße zukomme als dem Original: Wendigkeit, Schläue, Erfindungsreichtum - auf russisch »uvertlivost'«. Als Zukovskij ihn i m Herbst 1849 von der Fertigstellung seiner Odyssee-Übertragung unterrichtet, erwidert er: Die Nachricht von Vollendung und Druck der Odyssee macht mich sprachlos. Das Vieh Cicikov hat noch kaum die Hälfte seiner Wanderschaft hinter sich. Vielleicht deshalb, weil ein russischer Held im Umgang mit dem russischen Volk unvergleichlich viel wendiger sein muß als ein Grieche unter Griechen. (XIV, 152) U n d sogleich setzt er hinzu, wie u m den Verdacht abzuwehren, er könne solche Wendigkeit für eine Tugend halten: »Vielleicht auch deshalb, weil der A u t o r der Toten Seelen seelisch sehr viel besser sein muß als das Vieh Cicikov.« Vorgesehen war, daß das Vieh Cicikov sich auf seinem (nach dem Vorbild der Göttlichen Komödie dreistufig angelegten) Weg durch den Roman schließlich in einen erlösten Sünder verwandeln würde - eine Metamorphose, die nach der Hoffnung des Autors mit seiner eigenen moralischen Besserung konvergieren sollte. Der Plan ging bekanntlich nicht auf: die Toten Seelen sind Fragment geblieben, weil GogoP schon an der Vollendung ihres zweiten Teils verzweifelte. Verstohlene Bewunderung für die Kunst des Lügens, für die Lüge als Kunstform auf der einen Seite - offene Sehnsucht nach einer Läuterung von der Lüge 16
Walter Rehm vergleicht GogoP unter diesem Aspekt unmittelbar mit Kierkegaard und Brentano (op. cit., 326-329). Susanne Fusso findet in der Dichtungskonzeption Friedrich Schlegels eine mögliche Inspirationsquelle für die Nähe von »artist« und »liar« in den Toten Seelen [dies., Designing Deads Souls. An Anatomy of Disorder in Gogol (Stanford 1993) 47]. 7»
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durch die Kunst auf der andern: an diesem Zwiespalt ist der Künstler Gogol' zugrunde gegangen. Doch hat nicht dieselbe Spannung, an der er schließlich zerbrach, ihn überhaupt erst zu seinem Meisterwerk angetrieben? Verdankt der erste Teil der Toten Seelen seine ästhetische Geschlossenheit nicht gerade dem verstiegenen, auf die Länge uneinlösbaren Plan, einem Odysseus mit dem Licht der christlichen Wahrheit heimzuleuchten - kurz: ihm auf seiner Irrfahrt das Lügen abzugewöhnen?
I I . Die fünf Gesichter der Lüge Der Zweck von Cicikovs Reise durch die russische Provinz ist ein Trickbetrug: er kauft »tote Seelen« - verstorbene, aber auf der Steuerliste noch geführte Leibeigene - zum Schein auf, u m diese Karteileichen später gegen reales Land zu verpfänden. I m ersten Band des Romans versucht er, mit fünf Gutsbesitzern handelseinig zu werden: Manilov, Korobocka, Nozdrev, Sobakevic und Pljuskin. Hinter der Reihe dieser skurrilen Figuren vermutete die Forschung lange nicht mehr als eine - potentiell beliebig erweiterbare - satirische Portraitgalerie. Neuerdings hat sich jedoch zeigen lassen, daß die fünf Visiten des Helden in einer sehr präzisen Relation zu fünf Stationen seines Vorlebens stehen, dessen unrühmliche Geschichte das Schlußkapitel des ersten Teils wiedergibt. 1 7 Die fünf Gutseigner sind, genau besehen, nichts anderes als die auferstandenen Gespenster aus Cicikovs eigener dunkler Vergangenheit; sie gleichen Geisterspiegeln, die ihm die Schatten seines früheren Selbst zurückwerfen - und zwar i n genau gegenchronologischer Folge. Manilov reflektiert Cicikovs jüngstes Projekt (den Plan, mit Seelen zu handeln), Korobocka ein davor liegendes Intermezzo als Rechtsvertreter, Nozdrev eine alte Schmuggelaffäre beim Zoll, Sobakevic eine noch ältere Affäre aus einer Baukommission, Pljuskin schließlich die Kindheit und den ergaunerten dienstlichen Aufstieg des Helden. So weit wurde der verborgene Bauplan der Toten Seelen inzwischen aufgedeckt ebenso wie der Sinn einer solchen Konstruktion: indem Gogol' seinen Helden in der Erzählgegenwart von Abenteuer zu Abenteuer treibt, läßt er ihn Punkt für Punkt sein Sündenregister aus der Vorgeschichte entziffern. Natürlich ahnt Cicikov selbst davon nichts, die Botschaft ist allein für das Auge des Lesers bestimmt! Romanhandlung und Exposition treten damit jedoch für den, der ihr tieferes Zusammenspiel durchschaut, in ein klares Verhältnis von Schuld und Vergeltung. M i t anderen Worten: die Ästhetik der Toten Seelen folgt i n letzter Instanz den Gesetzen der E t h i k ! 1 8
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Vgl. den oben (Anm. 1) genannten Aufsatz des Verf., auf den hier nicht mehr im einzelnen verwiesen wird.
Nikolaj Gogol's Tote Seelen als Theologie der Wahrheit
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Eine weitere Frage drängt sich indes auf: haben jene fünf Gesichter aus Cicikovs Vorzeit, die ihm da i m Spiegel seiner fünf Gegenüber wieder präsent werden, womöglich etwas miteinander gemeinsam? Verbirgt sich hinter den unterschiedlichen Fehltritten seiner Laufbahn eine A r t Ursünde, auf die all seine Einzelvergehen letztlich zurückgehen? Gibt es ein Cicikovsches Kardinallaster? Die A n t w o r t sei hier schon vorweggenommen. Der »faule Fleck« 1 9 dieses Früchtchens, der i m Verlauf des Romans immer klarer hervortritt, ist seine Abneigung gegen das achte Gebot, das wie ein M o t t o gleich über dem Beginn seiner Laufbahn prangt: »Du sollst nicht lügen« sind die ersten Worte überhaupt, die Cicikovs Vater an seinen Sprößling richtet (VI, 224). U m unsere Hypothese zu überprüfen, gilt es nun einen schärferen Blick i n jene fünf Spiegel zu werfen, die Gogol' am Weg seines Helden aufgestellt hat.
1. Das erste Antlitz
der Lüge: Manilov
Manilov, der erste Gutsherr, den Cicikov besucht, folgt bei all seinen Äußerungen einem kategorischen Imperativ der Beschönigung. Schon die Wegbeschreibung zu seinem Gut ist ein Euphemismus: Er drückte [Cicikov] sehr, sehr lange die Hand und bat ihn inständig, ihm die Ehre eines Besuches auf seinem Gut zu erweisen, welches seinen Worten zufolge nur fünfzehn Werst von der Stadtgrenze entfernt gelegen war. (VI, 17) Nachdem der anreisende Gast zwanzig Werst zurückgelegt hat, ohne etwas von Manilovs Anwesen zu Gesicht zu bekommen, erinnert er sich schließlich, »daß, wenn ein Freund jemanden auf sein Gut einlädt, das fünfzehn Werst entfernt sein soll, es in Wirklichkeit dreißig Werst bis dahin sind« (VI, 22). Manilovs Verniedlichungstick verrät bereits stilistisch eine tiefe Verhaftung i m Sentimentalismus: das Adjektiv, das i m Smalltalk zwischen ihm und seinem Besucher geradezu obsessiv eingesetzt wird, lautet »prijatnyj«, »angenehm«. 20 18 Vgl. Horst-Jürgen Gerigks ganz analoge Überlegungen zu den Brüdern Karamazov [ders., »Die zweifache Pointe der >Brüder KaramasowPopensohij und jener war - obwohl in der Tat ein Popensohn - unerklärlicherweise tödlich beleidigt und antwortete ihm auf der Stelle heftig und ungewöhnlich scharf, und zwar folgendermaßen: »Nein, du lügst, ich bin Staatsrat und kein Popensohn, der Popensohn bist du!« Und fügte dann, ihm zum Trotz und um ihn noch mehr zu ärgern, hinzu: »Ja, genau das!«. Obwohl er auf diese Weise alles heimgezahlt und die ihm selbst angeheftete Bezeichnung zurückgegeben hatte [ . . . ] , war er damit nicht zufrieden und schrieb obendrein noch eine Denunziation. (VI, 237)32 So kommt der wendige Cicikov über der Äußerung einer schlichten Wahrheit zu Fall. Insofern ist seine Klage, er habe »für die Wahrheit« gelitten - die w o h l dreisteste Lüge seiner gesamten Laufbahn - völlig berechtigt! M i t der Raffinesse der Pythia macht sich das Schicksal die Grenzverwischung zwischen Wahrheit und Lüge, deren sich der Held schuldig gemacht hat, zunutze, u m ihn zu stürzen.
4. Das vierte Antlitz
der Lüge: Sobakevic
Der russisch bärenhafte Sobakevic und der frankophile Schöngeist Manilov sind einander in ihrer Haltung zur Wahrheit exakt entgegengesetzt: während der eine sich am Wort als solchem berauscht, ohne nach dessen Wahrheitsgehalt auch nur zu fragen, wittert der andere hinter jedem Wort die Absicht zur Lüge. Sobakevic gibt sich als einsamer Anwalt der Wahrheit in einer Welt des Truges aus - und ist dabei der gerissenste Schwindler von allen. Eben diese Paradoxie bildet das zentrale Bindeglied zwischen Sobakevic und der Vorgeschichte des Helden. Der erste Knick i n Cicikovs Karriere wurde nämlich durch einen Vorgesetzen bewirkt, dessen ostentative Wahrheitsliebe der schier unbegrenzten Anpassungsgabe des Lügengenies Paroli bot (VI, 230 ff.). Wie in einem Déjà-vu durchlebt der H e l d diese Konstellation bei Sobakevic auf's neue. A u c h hier gerät er an ein Gegenüber, das der öffentlichen Lüge den Kampf angesagt hat; und auch hier muß er feststellen, daß das effektivste M i t t e l seines gesamten 32
Unübersehbar ist die Parallele zum Ende der Damepartie zwischen Cicikov und Nozdrev (VI, 85). In beiden Fällen geht es den Widersachern vor allem darum, die ihnen »selbst angeheftete Bezeichnung zurückzugeben«, und hier wie dort wird Cicikov zum Verhängnis, daß er ausnahmsweise nichts weiter tut, als die Wahrheit zu konstatieren.
Nikolaj Gogos Tote Seelen als Theologie der Wahrheit
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Repertoires - seine geschmeidige Lernfähigkeit - plötzlich wirkungslos bleibt. Beim Feilschen u m die toten Seelen erprobt Cicikov an Sobakevic nämlich eine Beschönigungstaktik, die er erkennbar Manilov abgeschaut hat - ein Kunstgriff, durch den Gogol' die Antithetik zwischen den beiden Gutsherren noch einmal unterstreicht: Was die Hauptsache anbelangte, so drückte sich Cicikov sehr vorsichtig aus. Er sprach nicht etwa von toten Seelen, sondern nur von »nicht existierenden«. (VI, 101) Die gleiche Vorsicht i n der Umschreibung des Todes ließ bereits Manilov walten, der anstelle von toten Seelen lieber von solchen sprach, die »in gewisser Weise ihre Existenz beendet haben« (VI, 36). U n d so, wie dort Cicikov die gesellschaftliche Übereinkunft einer «ständige[nj Beruhigung über den Tod« 33 brach, indem er das Pudendum einfach beim Namen nannte, erwidert nun Sobakevic »sehr schlicht, ohne die geringste Verwunderung, als wäre die Rede von Getreide«: »Brauchen Sie tote Seelen?« (VI, 101). Gogol' unterstreicht den Rollentausch noch, wenn er Cicikov, als sei der Geist Manilovs vollends i n ihn gefahren, insistieren läßt: »>Janicht existierendem (VI, 101). Auch Cicikovs letzter Anlauf, sich an den Bären i m Gewand des Empfindsamen heranzupirschen, scheitert. Als er nämlich Sobakevic suggerieren möchte, es sei ihm doch gewiß »angenehm« (»prijatno«), sich seiner verstorbenen Seelen zu entledigen, erwidert dieser knapp und geschäftlich: »Bitte, ich bin bereit zu verkaufen« (VI, 101). Sobakevic läßt Cicikov keine Lüge durchgehen; diese Eigenart teilt er mit Nozdrev. I m Gegensatz zu dessen reflexhaften Betrugsbezichtigungen sind Sobakevics Verdächtigungen jedoch äußerst gezielt; sie wollen die Fakten ans Licht bringen: Cicikov begann sich herauszureden, er hätte kein Geld dabei; doch Sobakevic sagte derart bestimmt, daß er Geld dabei hätte, daß er noch ein Scheinchen zückte. (VI, 107) Die Fakten wiederum interessieren Sobakevic nicht als solche, sondern als Machtinstrument; ethisch gilt diesem Provinz-Machiavelli die Wahrheit gleichviel wie die Lüge. 3 4 Dies zeigt sich besonders eindringlich dann, wenn er Cicikov mit der Illegalität seiner Geschäfte und der Gefahr öffentlichen Glaubwürdigkeitsverlustes - kurz: mit der Wahrheit - droht, allein u m dadurch für sich selbst bessere Konditionen beim Abschluß des illegalen Handels herauszuschlagen. Sobakevics Umgang mit der Wahrheit zeichnet sich somit durch eine eigentümliche Kombination von Skepsis und Manipulationsbereitschaft aus, die am präzisesten unter dem Begriff des Zynismus gefaßt werden kann. Schon i m Namen trägt der »Hundesohn« (»sobaka« = »Hund«) dieses Merkmal vor 33 34
Martin Heidegger, Sein und Zeit (17. Aufl., Tübingen 1993), 253. Vgl. das 18. Kapitel von Machiavellis Principe.
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sich her. M i t den antiken Kynikern verbindet ihn seine beißende Öffentlichkeitskritik, die weder in Revolution noch einsiedlerischer Weltverachtung eine Lösung sucht, sondern »die bestehende Gesellschaftsordnung nötig [hat], u m sich an ihr zu reiben.« 35 Deutlicher noch ist Sobakevic indes als Zyniker i m modernen Sinne ausgewiesen. Das Wesen solchen Zynismus besteht darin, daß ein allgemein akzeptierter höchster Wert, dessen Unbedingtheit die Unterordnung aller anderen Zwecke erheischt, gerade unter Berufung auf jene Absolutheit als Werkzeug partikularer Zwecke eingesetzt w i r d . 3 6 Das Ideal, das Sobakevic derart instrumentalisiert, ist die adaequatio rei et intellectus. Niemand pocht so hartnäckig wie er darauf, daß dem Gedanken ein Gegenstand entsprechen müsse. Daß er damit, wie erwähnt, die genaue Gegenposition zu Manilov vertritt, unterstreicht Gogol' auch stilistisch. So läßt er Sobakevic nicht allein feststellen, beim Gouverneur werde den Gästen gehäuteter Kater als Hase aufgetischt, er weist dieses Menu obendrein noch als Spezialität der französischen Küche aus. Manilovs Frankophilie w i r d somit als Hang zum Etikettenschwindel entlarvt. Wer dem Koch derart i n die Töpfe schaut, der verstößt natürlich gegen die Manilovsche N o r m der »prijatnost'«, des »Angenehmen«: »Ich weiß doch, was sie auf dem Markt kaufen. Da kauft diese Kanaille von Koch, wie er's beim Franzosen gelernt hat, einen Kater, zieht ihm das Fell ab und serviert ihn als Hasen.« »Pfui! was für unangenehme Sachen du erzählst«, sagte Sobakevics Gemahlin. (VI, 98; Herv. U.H.) Gegen diese euphemistische Spielart der Lüge behauptet Sobakevic, in seinem Hause kämen Wort und D i n g stets vollständig zur Deckung - ja mehr als vollständig! Das Wort w i r d bei ihm von seinem sachlichen Korrelat regelmäßig überboten: »Bei mir ist es nicht so. Wenn es bei mir Schweinebraten gibt, dann muß das ganze Schwein auf den Tisch; gibt es Hammelbraten - her mit dem ganzen Hammel, gibt es Gans - her mit dem ganzen Gänsevieh!« (VI, 99; Herv. U.H.) Wenn Sobakevic so alle anderen der Schönrednerei überführt und sich selbst zu dem einzigen stilisiert, der faktisch sogar mehr hält als er verbal verspricht, ist es ihm i m Grunde aber ebensowenig u m die Wahrheit zu tun wie seinem Antipoden Manilov. Dies erweist sich am zentralen Prüfstein des Romans: dem Verhältnis zur menschlichen Seele. Bei dieser Probe schneiden Sobakevic und Manilov gleichermaßen schlecht ab. Wenn der »Teufelskulak« (VI, 108) gegen 35
Heinrich Dörrie in: Der Kleine Pauly (München 1979), Bd. 3, Sp. 399 f. Vgl. Pavel Kouba, Die Welt nach Nietzsche. Eine philosophische Interpretation (München 2001), 125. 36
Nikolaj Gogos Tote Seelen als Theologie der Wahrheit
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Cicikovs Bemerkung, die toten Seelen seien nicht mehr als ein »Traum«, protestiert: »Nein, gar kein Traum«, so grenzt er sich damit zwar vordergründig gegen den »Träumer« Manilov ab (VI, 103); doch der Redeschwall, mit dem er den Gast von der Lebendigkeit seiner Leichen zu überzeugen versucht (um diese teurer verkaufen zu können), trägt alle Merkmale einer sich verselbständigenden Rhetorik - kurz: der Manilovscina. »Nein, gar kein Traum« - diese Wendung erfüllt formal genau die Bedingungen von Sobakevics oberster Maxime: i m Namen der Wahrheit stets das Sein gegen den Schein zu verteidigen. N u r setzt er dieses Prinzip jetzt ganz gezielt ein, u m dem Nichtexistenten, das er loswerden w i l l , einen Anschein von Sein zu verleihen. Das ist zynisch. Sobakevics Lobgesängen auf die Toten steht denn auch eine grenzenlose Verachtung der Lebenden gegenüber (VI, 103). Sein unerbittliches Abklopfen der Sprache auf ihren materiellen Gehalt, seine ausschließliche Fixierung auf die »solide« Gegenständlichkeit (VI, 94) degradiert auch den Menschen auf das Niveau einer Sache. U m dies zu verdeutlichen, läßt Gogol' an Sobakevics Tisch eigens eine weitere Person Platz nehmen, von der w i r so gut wie nichts erfahren - nur eben folgendes: Es gibt Menschen auf der Welt, die nicht als Gegenstand existieren, sondern nur als nebensächliche Pünktchen oder Flecke auf einem Gegenstand. (VI, 98; Herv. U.H.) Der Mensch, Träger einer unsterblichen Seele, als nebensächliches Akzidens der Dinge - diese komplette Umstülpung der christlichen Werthierarchie sollen w i r offenbar als Konsequenz von Sobakevics Weltsicht begreifen. Indem Sobakevic auf der Waage der Wahrheit alles Gewicht auf die Seite der Sachen legt, verfehlt er die erstrebenswerte Balance ebenso wie Manilov, der allein der Schwere des Wortes vertraut. U n d so, wie die Überschätzung des Wortes i n Manilovka bereits den Weg bahnt zu dessen magischer Herrschaft in Korobockas »Zamanilovka«, kündigt umgekehrt die Dominanz der Dinge auf Sobakevics Gut von fern schon die Gerümpelberge i m Haus des Raffzahnes Pljuskin an. N i c h t umsonst bezeichnet der Hundesohn den Alten metaphorisch als seinen Vater: als »Hund« (VI, 99). Fassen w i r zusammen! Sobakevic und Manilov verkörpern beide gleichermaßen die Differenz zwischen Wort und Ding: sie besetzen deren zwei dialektische Pole. Eben diese Differenz ist wiederum die Grundvoraussetzung für Cicikovs Handelsprojekt; w o Wort und D i n g sich decken, ist für den Bauernfänger nichts zu holen. Von daher leuchtet vollkommen ein, weshalb er auf seiner Fahrt ursprünglich nur gerade diese zwei Gutsbesitzer, und niemand anderen, ansteuert: Manilov und Sobakevic markieren jeweils den logisch ersten und letzten Schritt auf Cicikovs Weg zu dem Ziel, bloße Namen i n harte, bißfeste Münze zu verwandeln.
8 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 43. Bd.
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Urs Heftrich 5. Das vergessene Antlitz
der Wahrheit: Pljuskin
Der Name Pljuskins steht nicht von vornherein auf der Liste von Cicikovs Visiten, sondern w i r d dort erst aufgrund eines Hinweises von Sobakevic nachgetragen. Zwar möchte dieser vor seinem Nachbarn ausdrücklich warnen; doch die Anklage, der alte Geizhals lasse seine Bauern wie Fliegen sterben, verkehrt sich i m O h r des Gastes in eine Empfehlung (VI, 99). Jenseits seiner vordergründigen Antipathie ist Sobakevic i m Untergrund des Romangewebes also offenbar auf das engste mit Pljuskin verknüpft. Ahnlich wie Manilov den Helden zur Korobocka lockt, lotst ihn Sobakevic zu Pljuskin. Dieser Eindruck w i r d wiederum mit onomastischen Mitteln unterstrichen: dem Namenspaar »Manilovka - Zamanilovka« entspricht diesmal das Doppel »Sobakevic - Sobaka«; denn als »sobaka«, als H u n d , bezeichnete der Bär ja den Alten ausdrücklich! Es ist nicht die einzige Gemeinsamkeit zwischen den beiden. Wie Sobakevic zieht nämlich auch Pljuskin verbal gegen die Lüge zu Felde und lügt doch ganz ungeniert, w o immer er sich davon einen Nutzen verspricht. »Ich bin zu alt, Väterchen, u m zu lügen!« (VI, 122) erklärt er dem A n kömmling, kurz nachdem er ihm auf die Frage, ob der Gutsherr zu sprechen sei, in höchsteigener Person versichert hat, dieser sei »nicht zuhause« (VI, 114). Seinen Leibeigenen stiehlt er alles, was ihm in die Finger gerät, und wenn sie ihn nicht gerade auf frischer Tat ertappen, schwört er bei Gott, die betreffende Sache ehrlich erworben zu haben (VI, 117). Zugleich bezichtigt er sie seinerseits grundlos des Diebstahls und droht ihnen, wenn sie leugnen, mit dem Jüngsten Gericht als Strafe für Lügen (VI, 126 f.). Solche Doppelmoral in Fragen der Wahrheit scheint auf den ersten Blick dem Zynismus eines Sobakevic auffallend zu ähneln. Dasselbe gilt für Pljuskins Mißtrauen gegenüber allen denkbaren positiven Regungen seiner Mitmenschen. Er verfährt hier nach der Maxime: traue niemandem, solange du keinen niedrigen Beweggrund für sein Handeln gefunden hast! Als er Cicikovs scheinbar selbstloses Anerbieten vernimmt, ihn von der Steuerlast seiner toten Seelen zu befreien, hält er ihn zunächst für geistesschwach, dann für einen Militär (für ihn nur eine Spielart ersteren Zustands!), bevor ihn schließlich der Verdacht beschleicht, der Fremde habe sich das alles nur ausgedacht, u m auf seine Kosten Tee trinken zu können (VI, 123 ff.). Diese Reduktion aller menschlichen Antriebe auf das materielle Interesse erinnert an Sobakevic. Dessen Vorliebe für das Dingfeste erfährt in Pljuskins Sammelleidenschaft für Dinge jeder A r t eine krankhafte Steigerung. U n d doch gibt es zwischen den beiden einen fundamentalen Unterschied, der sich am knappsten mit dem Stichwort Entwicklung umreißen läßt. Der vermeintlich unheilbar mißtrauische - und darin Sobakevic scheinbar verwandte Pljuskin durchläuft nämlich schon während des Gesprächs mit Cicikov eine erstaunliche Metamorphose: zuletzt nimmt er seinem Gast dessen vorgetäuschten
Nikolaj GogoFs Tote Seelen als Theologie der Wahrheit
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Altruismus gerührt ab - eine Arglosigkeit, deren Sobakevic nie fähig wäre. 3 7 D e m entspricht, was in der Forschung oft festgestellt wurde: Pljuskins gegenwärtige Erstarrung w i r d vom Erzähler nicht statisch, sondern als Ergebnis eines allmählichen Prozesses gesehen. Besondere Beachtung verdient in unserem Zusammenhang indes der Umstand, daß GogoF i n der entsprechenden Digression ausdrücklich das Wahrheitsthema anschlägt: Und zu solcher Nichtigkeit, Kleinheit und Widerwärtigkeit konnte ein Mensch herabsinken! konnte sich derart verändern! Kann daran noch Wahrheit sein? An allem ist Wahrheit, alles kann mit dem Menschen geschehen. (VI, 127) Pljuskins Charakter ist - i m Gegensatz zu Korobocka, Nozdrev oder Sobakevic - nicht unwandelbar, sondern bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen zwei Polen: ausgehend von ursprünglicher Reinheit hat er sich sukzessiv der äußersten Korruption genähert; doch die Möglichkeit, daß das Pendel irgendwann einmal zurückschwingt, w i r d offengehalten. Die gleiche Bipolarität kennzeichnet auch Pljuskins Verhältnis zur Wahrheit. Zwar lügt er in concreto wie gedruckt; dennoch hat er sich in abstracto ein klares Bewußtsein für die Sündhaftigkeit der Lüge bewahrt. Daß der Mensch für den Mißbrauch des Wortes beim Jüngsten Gericht zur Rechenschaft gezogen wird, klingt bereits in seinen Drohungen gegen die Leibeigenen an. Auch die theologische Ursache jenes Straftatbestands ist ihm bekannt: der göttliche Ursprung des Wortes, wie ihn das Evangelium und die Offenbarung des Johannes verkünden. I n Anspielung auf die Apokalypse erklärt Pljuskin seinem lügengesättigten Gast: »Dem Wort Gottes kann keiner widerstehen« (VI, 123), und hält ihm damit das vergessene Antlitz der Wahrheit vor Augen. Wörter dienen zum Erfassen des Wesens der Wirklichkeit; Namensgebung ist ein göttliches Vorrecht, das dem Menschen zuteil ward. Diesen Grundsatz des christlichen Verständnisses vom Logos umschreibt der Erzähler wie folgt: Kraftvoll drückt sich das russische Volk aus! Und wenn es jemanden mit einem Wörtchen bedenkt, dann bleibt es an den Vorfahren und den Nachkommen hängen, er schleppt es mit sich in den Staatsdienst und in den Ruhestand und nach Petersburg und an das Ende der Welt. [ . . . ] Nicht nur das Geschriebene, auch das treffend Gesagte kann man mit keiner Axt zunichte machen. Und wie treffend ist all das, was aus der Tiefe Rußlands kommt, wo [ . . . ] alles ureigenster, lebhafter und behender russischer Geist ist, der nicht lange nach einem Wort sucht, [ . . . ] sondern es sofort gestaltet - und zwar zu einem Paß für ewige Zeiten; hinterher gibt es nichts mehr hinzuzufügen über
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Bezeichnend ist auch die Differenz zwischen den beiden im Umgang mit der eigenen Sterblichkeit: während Sobakevic sogar noch seiner strotzenden Gesundheit als einem bösen Omen mißtraut (VI, 145), betrachtet Pljuskin - als einziger in den Toten Seelen die Vergänglichkeit des Menschen als gottgewollt - auch die eigene (vgl. VI, 125: »segodnja ziv, a zavtra i bog vest« mit VI, 130: »lucse ostavlju ich emu posle moej smerti«). 8*
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die Art der Nase oder Lippen - mit einem Wort ist man erfaßt vom Kopf bis zu den Füßen! (VI, 108-109, Herv. U.H.) Der Logos erfaßt präzis den Charakter seines Trägers, und zwar ganz i m Sinne platonischer Wesensschau: es ist das Ewige, das bei der Namensgebung i n den Blick gerät. Mindestens ebenso bedeutsam wie der Gehalt dieser Aussage ist für das Verständnis von GogoPs Roman aber auch der Ort, w o sie getroffen wird: Anlaß zu der umfangreichen Digression gibt ausgerechnet der Spitzname, den die Bauern Pljuskin anheften! Als wandelndes Witzwort verkörpert dieser verlogene Alte, ohne es selber zu wollen, die absolute Deckung von Wort und Gegenstand! Offenbar trifft in Pljuskins Person beides zusammen: die N o r m der adaequatio rei et intellectus und die Abweichung von dieser N o r m . Die Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Sprache als Wahrheitsgarant ist i n ihm zur Gestalt geronnen. Das Oszillieren zwischen der theoretischen Einsicht in das göttliche Wahrheitsgebot und der Lügenpraxis des Alltags, zwischen der Reinheit des Anfangs und der Korruption des Alters ist Pljuskins hervorstechendstes Merkmal. Blicken w i r zurück: die erste Lehre, die Cicikovs Vater seinem Sohn mit auf den Weg gab, war das achte Gebot: »Du sollst nicht lügen«. Der Erzähler betont bei dieser Gelegenheit, daß Cicikov zwar kaum eine bewußte Erinnerung an seine ersten Lebensjahre behalten habe, von den väterlichen Lehren aber gleichwohl tief geprägt worden sei (VI, 224 f.). Pljuskin ruft ihm jenes Gebot, auch wenn er es selbst mißachtet, erneut ins Gedächtnis. Als wäre dies nicht genug der Reminiszenz an die Kindheit, kommt er auch noch als einziger unter allen fünf Gutsherren explizit auf die eigene Jugend zu sprechen: er erinnert sich voller Wehmut an einen alten Freund aus Schultagen (VI, 126). Damit markiert er eine scharfe Gegenposition zu Manilovs verlogenem Freundschaftskult - ein weiteres Argument dafür, Pljuskin i m Lügenspektrum der Toten Seelen am ehesten i n der Nachbarschaft der Wahrheit anzusiedeln. Denn wer zum Anwalt der Wahrheit das Gedächtnis macht, nähert sich ihrem griechischen Ursprung: aletheia bedeutet, etwas der Lethe, der Vergessenheit zu entbergen. Indem der verkommene Greis das Bild seiner unbeschwerten Kindheit heraufbeschwört, leistet er auf der symbolischen Ebene des Romans ein Doppeltes. Z u m einen entfaltet er das moralische Verfallsspektrum des ursprünglich reinen Menschen nochmals zu maximaler Spannweite: unmittelbar auf Pljuskins Jugenderinnerung folgt eine Erzählerdigression über den endgültigen, unwiderruflichen Untergang der Humanität. Z u m andern konfrontiert er Cicikov mit dessen eigener Frühzeit, führt ihn also zum absoluten Ausgangspunkt seiner Lebensreise zurück. Rufen w i r uns ins Gedächtnis, w o Cicikovs Wanderschaft ihren Anfang nahm: »Das Leben sah ihn zuerst mit säuerlich-unfreund-
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lichem Gesicht durch ein trübes, schneeverwehtes Fenster an«; ohne Freunde, ohne Spielkameraden, immer nur »mit der Feder i n der Hand«, mußte der Knabe in der väterlichen Stube den Dienst eines Schreibers leisten (VI, 224). M i t einer ganz ähnlichen Bildlichkeit schildert GogoP Pljuskins Vereinsamung: Mit jedem Jahr wurden neue Fenster in seinem Haus zugemacht, schließlich blieben nur noch zwei übrig, von denen eines [ . . . ] mit Papier zugeklebt war; mit jedem Jahr verschwanden mehr und mehr die wichtigsten Teile der Wirtschaft aus seinem Gesichtskreis, und sein kleinlicher Blick wandte sich den Papierchen und Federchen zu, die er in seinem Zimmer auflas [ . . . ] . (VI, 119) Die Gegenstände, auf die sich Pljuskins nichtige Aufmerksamkeit zusehends konzentriert, sind Papier und Federn - mit anderen Worten... Schreibwerkzeug! A u f Pljuskins Schreibtisch wiederum liegt, so weiß der Erzähler zu berichten, »eine Menge von allerhand Allerlei« herum (VI, 115). »Das Buch von allerhand Allerlei« (»Kniga vsjakoj vsjaciny«) aber lautet ein Titel aus GogoVs Werkregister: mit eigener Hand hatte ihn der Siebzehnjährige auf ein Heft gemalt, das er in wahlloser Sammelleidenschaft mit Notizen füllte. Offenbar kommt Cicikov bei seiner letzten Visite nicht nur mit den Anfängen seiner eigenen Skribentenlaufbahn in Berührung; er wirft hier einen verstohlenen Blick ins Laboratorium seines Schöpfers.
I I I . I m Schattenreich der Lüge Der listenreiche Odysseus w i r d ins Reich der Schatten geschickt, u m von ihnen die Wahrheit über sein Schicksal zu erfahren. D o r t sieht er sich massiv mit der Vergangenheit konfrontiert: erst w i r d er von Teiresias an die Ursache all seiner Irrfahrten erinnert - die Unterschätzung Poseidons - dann erscheinen ihm der Reihe nach seine Mutter und die ehemaligen Kampfgefährten und geben gegen einen Z o l l von Opferblut ihr Wissen preis. Der listenreiche Cicikov muß eine ganz ähnliche Fahrt i n die Unterwelt unternehmen. Was ihm dort entgegentritt, sind, salopp gesagt, die moralischen Leichen aus dem eigenen Keller: allegorische Personifikationen seiner früheren Vergehen. N i c h t anders als in der Odyssee, könnten auch diese Schatten dem Helden »Wahres erzähl e n « 3 8 - wenn er nur hören wollte. Ihre Wahrheit trägt stets ein doppeltes A n t litz: jeder von Cicikovs fünf Gesprächspartnern hält ihm einerseits einen bestimmten Abschnitt seiner Biographie vor Augen, andererseits einen bestimmten Aspekt seiner zentralen Verfehlung. Die Reihenfolge, i n der die fünf ihre Wahrheit offenbaren, entspringt einer strengen Kausalität, die es abschließend aufzudecken gilt. 38
Homer, Odyssee, XI, 148.
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Urs Heftrich
Cicikovs Ursünde besteht i m Verstoß gegen das christliche Wahrheitsgebot. I n allegorischer Form entfalten die Toten Seelen eine ganze Theologie von Wahrheit und Lüge. M i t geradezu mathematischer Stringenz werden alle denkbaren Abweichungen von der göttlichen N o r m durchgespielt und zu leibhafter Anschaulichkeit gebracht. I n der Mitte, gleichsam i m Zentrum des Bösen, steht die absolute Nichtentsprechung von Wort und Ding: Nozdrev. Beiderseits dieser Achse sind die milderen Formen der inadaequatio rei et intellectus angeordnet, und zwar i n je zwei antithetischen Paaren: der Verachtung der Dinge zugunsten des Wortes (Manilov) steht das Mißtrauen gegen das Wort u m der D i n ge willen gegenüber (Sobakevic), der Gefahr einer magisch-dämonischen Dekkung von Wort und D i n g (Korobocka) schließlich die noch uneingelöste Möglichkeit ihrer gottgewollten Vermählung (Pljuskin). Wie w i r d diese Symmetrie, die sich aus der phänomenologischen Anordnung der unterschiedlichen Spielarten der Lüge ergibt, nun von GogoP in einen chronologischen Geschehensablauf umgesetzt? Cicikovs ursprünglicher Besuchsplan sieht lediglich je eine Visite bei Manilov und Sobakevic vor. Damit würde seine Fahrt geradenwegs aus dem Reich der Luftschlösser - man denke an Manilovs Träumereien! - in den Bezirk des unerschütterlich fest Gegründeten führen - man erinnere sich an Sobakevics robuste Behausung! A u f symbolischer Ebene würde eine solche Reiseroute exakt das Grundprinzip von Cicikovs Seelenschwindel nachvollziehen: nämlich aus bloßen Namen schließlich ein reales Gut zu errichten. Seine Gaunerei besteht ja, vom Ideal der adaequatio rei et intellectus her betrachtet, darin, daß er ein krasses Gefälle zwischen Wort und D i n g in dessen genaues, nicht minder extremes Gegenteil umkehren, das Verhältnis Wort > D i n g durch die Relation D i n g < Wort ersetzen möchte. Doch der A u t o r macht seinem Helden einen Strich durch die Rechnung: er zwingt ihn zu einem doppelten Umweg. GogoPs ideologische Pointe besteht darin, daß er die beiden Umwege nicht einfach als Irrwege gestaltet, sondern als ein geradliniges Hinausschießen über das angepeilte Ziel. Folgen w i r ihm auf den ersten Umweg! Von Manilov, den er eigentlich anvisiert hatte, w i r d Cicikov auf seiner Bahn nolens volens über die Korobocka bis zu Nozdrev weitergetragen. Daß diese drei Gutsbesitzer - gegenüber den beiden anderen eine in sich geschlossene Handlungseinheit bilden, erklärt sich aus der A r t ihrer Abweichung von der gebotenen Entsprechung zwischen Wort und Ding. Die Angst der Korobocka vor einer magischen Gewalt des Wortes über die Dinge, d. h. vor der Möglichkeit einer dämonischen Deckung zwischen beiden Sphären, stellt i m Grunde nur eine Steigerung der von Manilov repräsentierten Hierarchie dar. Was aber herauskommt, wenn der Dämon sich tatsächlich der Wörter bemächtigt, führt schließlich Nozdrev vor Augen: das Chaos. So w i r d jenes Prinzip, aus dem der H e l d Kapital schlagen w i l l , nämlich das Über-
Nikolaj Gogos Tote Seelen als Theologie der Wahrheit
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gewicht des Wortes über die Dinge, in drei Stufen zu seiner letzten, diabolischen Konsequenz vorangetrieben. Daß die beiden Gestalten, die Cicikovs Ausgangsposition bis zum Absurden zuspitzen dürfen - Korobocka und N o z drev - , vom Erzähler dann auch mit der Rolle der Nemesis betraut werden, leuchtet ein. Cicikovs zweiter Umweg ist kürzer. Dem Ziel seines gesamten Strebens, der finalen Aufhebung des Wortes i m Materiellen, kommt er in der Gestalt Sobakevics i n der Tat plangemäß näher. Doch durch die unvorhergesehene Verlängerung seines Weges - hin zu Pljuskin - w i r d ihm der Preis dieses Zieles verdeutlicht: wer die Welt nur noch auf Dinge reduziert, bezahlt dafür mit seiner Seele. Diese - der für GogoP so wichtigen Imitatio Christi des Thomas von Kempen entlehnte - Botschaft dringt zwar noch nicht an Cicikovs von Habgier und Lügen berauschtes Bewußtsein; unbewußt aber bereitet sie seine spätere Erlösung vor: Pljuskin bringt ihm das göttliche Gebot einer ausgewogenen Entsprechung von Wort und D i n g in Erinnerung. U n d auch diese Figur, die zunächst nur die ihr vorangehende Position potenziert, erfüllt in letzter Instanz eine heilsgeschichtliche Mission: Pljuskin sollte, nach GogoPs Plan, zu guter Letzt mit dem Helden ins Paradiso einziehen dürfen. Betrachten w i r beide Umwege Cicikovs von oben, gleichsam aus himmlischer Perspektive, zeigt sich folgendes: für das Seelenheil des Helden erlangen ausschließlich diejenigen Wegstationen Bedeutung, die sein Plan ursprünglich nicht vorsah, die aber der Logik jenes Plans bis zur extremen Ubersteigerung folgen. So spielt die Vorsehung mit Cicikovs Vorsicht und hält sie - gewissermaßen durch Übererfüllung des Plans - zum Narren. Diese Dialektik zwischen menschlichem Kalkül und göttlich gesteuertem Zufall formt das Gebäude der Toten Seelen i m gleichen Maß wie die Spannung zwischen Wahrheit und Lüge.
Shelley's »Intellectual Beauty«: Illusion or Reality? Von Kurt Schlüter
Shelley s hymn is remarkable not only for its supreme beauty but also the reactions it has produced in the more recent history of its reception. H i g h l y reputable literary experts have treated this artifact not as a piece of poetic fiction but as a linguistic document that records an appeal by an author to a divinity i n which he really believed. Such misunderstanding has left its mark not only on the discussion of the meaning of the poem but perhaps also on the recent criticism of the text. 1 I t should prove very interesting to consider the possible reasons for these failures of established scholarship. Such a discussion w o u l d have to touch on very basic questions as to the nature of literature and lyric poetry. I n addition, more specific questions would have to be raised, such as what is a h y m n and what are the uses and the effects of personification. Discussions of each of these questions could fill volumes, if not libraries. Understanding readers should therefore ask for no more than to be shown how answers might influence and even determine views and positions relating to the poem to be discussed here. I n classical times, Aristotle found literature to be in essence the verbal imitation of an action. Literary language is therefore an instrument for creating not a real w o r l d but a fiction. A t the beginning of the history of modern English literature, Sir Philip Sidney's idea of the »golden world« created by poets revitalized the insight that fictionality is the essential quality of literature. Sometimes, scholars have been puzzled as to the true status of lyric poetry - not least because Aristotle, who had more to say about epic and especially dramatic literature than about the lyric kinds, left critics without sufficient guidance. Some literary theorists have tried to define the essence of lyric poetry i n terms of its emotional expressiveness. But when lyric poetry is seen essentially i n terms of 1
Recent editions include: Shelley's Poetry and Prose , sei. and ed. Donald H. Reiman and Sharon B. Powers, Authoritative Text and Criticism (New York: Norton, 1977); Timothy Webb, ed., Percy Bysshe Shelley: Poems and Prose (London: Dent, 1995); and Geoffrey Matthews and Kelvin Everest, eds., The Poems of Shelley , vol. 1 (London: Longman, 1990). But all quotations of the text of Shelley's poems are taken from Thomas Hutchinson, ed., Shelley: Poetical Works , 2 n d ed., corr. G. M. Matthews (1904; Oxford: OUP, 1970).
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Kurt Schlüter
the subjective expression of personal feelings, it becomes increasingly difficult to find in it even the elementary properties of an action whose literary imitation w o u l d have concerned Aristotle. O n the other hand, we cannot deny that even if the lyric utterance is no more than a cry, it could still be a rudimentary action - either performed directly or imitated poetically and thereby fictionalized. The theory describing lyric poetry as a kind of emotional outcry has definitely had its day now. But the insight that even this sort of literature does not represent an immediate reality has not yet found general acceptance. The question seems intimately bound up w i t h that concerning the identity of the speaker of a lyric poem. I n the recent past, concepts such as »mask« or »persona« or »voice« have been developed i n order to refer to the lyric »I,« or speaker of the poem. This suggests that solutions to the problem of how to separate speaker from author are forcefully advancing. I n principle, a critic who nowadays naively identifies speaker w i t h author lacks conviction. Borderline cases may be possible: a very naive or egotistical author could conceivably deceive even himself as to who is to be identified w i t h the persona who presents the words of his poem. I t is also possible to imagine the case of an author who wants readers to think that the words they read come straight from his mouth. Such an author w o u l d do well to choose an unmetrical form of language and an unpoetic choice of words if he does not want to create a »frame« that w o u l d open up his utterance to interpretation; on the other hand, a poet might deliberately set out to create the illusion that his words come straight from his mouth. Finally, it must be recognized that it is by no means impossible for readers to be theoretically inclined to separate the speaker from the author of a poem and yet allow themselves to be overwhelmed by a particular poet's powers of creating illusions. Part of our discussion of Shelley's poem, therefore, must be concerned w i t h this problem of separation. The situation becomes even more complicated when we leave the discussion of problems presented by general literary kinds and turn our attention to the particular subgenre to which Shelley's » H y m n to Intellectual Beauty« belongs. The present article shall advance the argument that Shelley's poem is one in a long line of poems i n the history of western lyric poetry written in imitation of classical poems that utilized forms of rhetoric believed to have been originally developed by the ancient Greeks for religious purposes. 2 The original models are hardly to be classified as literature proper, if literature is defined as being essentially fictional. Theoreticians who shrink from excluding such texts from 2
For the prayer hymn as a productive element in the history of the English lyric see Kurt Schlüter, Die englische Ode (Bonn 1964). The influence of this rhetorical structure on American poetry has been studied by Bernd Engler, Die amerikanische Ode (Paderborn 1985). For a recent study of hymnic rhetoric in some of Shelley's major poetry see Vera Alexander, Monika Fludernik (Eds.), Romantik (Trier 2000), 181 -199.
Shelley's »Intellectual Beauty«: Illusion or Reality?
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the realm of genuine literature are prone to fall back on outmoded definitions of lyric poetry as language ennobled and adorned by metrical and rhetorical devices. But the important difference is clearly that the linguistic structures used by the ancients for liturgical purposes really were used for praying to, praising, and propitiating deities. The gods invoked were believed to really exist both by those who devised such forms of speech and by those who used them in their religious observances, whereas literary imitations of these ancient liturgical structures merely create the illusion of doing what their models did namely, to use words that incorporate or perform the acts of praising, propitiating, and praying. This difference between the liturgical models and the poems created in imitation of them is arguably paralleled by the difference between the texts we find i n modern hymn-books used in religious worship and the many poems called hymns that appear i n collections of poetry. The multiple meanings of the w o r d h y m n that can be observed here may have contributed to the confusion between a fictional text and one that embodies reality. I n the following argument, therefore, special attention shall also be paid to the fictional status of Shelley's poem. 3 After a clarification of the uses made of the rhetorical trope called personification, after a radical fictionalization of the speaker and the insight that the poem as a whole presents an imaginary w o r l d created by an active Romantic phantasy, the question w i l l arise as to how scholars should approach the meanings of these imaginative creations. The way suggested here is one that sharply distinguishes literal and allegorical meaning. I f critical readers feel reminded of the theological theory of the fourfold meaning of scripture and the method of reading derived from this theory that Dante Alighieri recommended to his patron Can Grande, they are at least partly justified, but the present analysis intends to economize w i t h t w o levels only. Leaving these preliminaries, we shall now try to elucidate the characteristic features of Shelley's poem by relating it to the tradition of the above-mentioned prayer hymn of classical antiquity. We could do this by comparing the structure of this poem and its individual parts w i t h the description of the hymnos kletikos given by Menander the rhetorician i n his Epideiktikon. 4 But comparison w i t h 3 S. Curran does not sufficiently allow for the decisive difference between hymnic poetry and the type fo text found in hymn books. Correspondingly deficient is his distinction between authors and speakers. But he classifies Shelley's poem as »the major hymn of British Romanticism« and treats it fairly extensively. See Stuart Curran, Poetic Form and British Romanticism (New York 1986) 56-58, 63. 4 See Donald A. Russell and Nigel G. Wilson, eds. and trans., Menander Rhetor (Oxford 1987) 8-17. An even more detailed characterization of this poetical structure can be gleaned from the pages of Eduard Nordend seminal study »Die Messallaode des Horatius und der >DuPsychographie< und >Spiegelung< im 14. Kapitel von Fontanes >Schach von Wuthenowformale Existenz< lebt, vermag es nicht, im Porträt den Ausdruck eines Seelischen zu finden.« Gerade in der Fähigkeit, das Geistige zum Ausdruck zu bringen, bestand aber laut Fontane die höchste Aufgabe der Kunst. 24 Dasselbe erfährt auch Frau von Carayon, die, auf dem Weg zum König, vom Kutscher gefragt, »nicht in der Laune [ist], das Allerheiligste der Rietz oder auch nur ihre Porträtbüste kennenlernen zu wollen« (660). Aber hier ist es der moralische Sinn, der sie beleidigen würde: die Geliebte eines Fürsten würde ihr keine Ermutigung zum beschlossenen Schritt bedeuten, bei dem König für ihre verführte Tochter Victoire um Regelung des Geschehens zu bitten. 22
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Das wundervoll tiefblau getönte Tuch, das die Büßende halb verhüllte, fesselte Frau von Carayons Aufmerksamkeit, und sie trat heran, u m sich über den Maler zu vergewissern.« 25 Das Bild ersetzt jede andere Erklärung des Gemütszustands der adligen Dame: Sie versteht sich auch als büßende Magdalene, da sie keine makellose Vergangenheit hat; und ihre Tochter ist auch als solche zu betrachten. 26 N o c h vor dem Gespräch Schachs mit dem König betont der Erzähler das ihn bedrückende Auftauchen von »in anscheinend überlebensgroßen Portraits [ . . . ] [paradierenden] glotzäugigen blauen Riesen König Friedrich W i l helm I.«, 2 7 die an die zur Neige gehende Macht Preußens erinnern. Auch sein Treffen mit der Königin erfolgt unter dem Eindruck von »einer Menge hier aufgestellter römischer Kaiser [ . . . ] , von denen ihn einige faunartig anzulächeln schienen.« 28 Bilder von Preußen und römischem Kaisertum begleiten ihn auf seinem Weg zum Tode. Die Liebesszene zwischen Victoire und Schach, die den Höhepunkt der Geschichte bildet, entbehrt hingegen jeder bildlichen Darstellung. Die Verführung geschieht auf einer geistigen Grundlage und erfolgt ausschließlich durch Worte: die des Prinzen (deren Malice von Bülow und Sander wahrgenommen wird), und die Victoires, 2 9 deren Äußerungen vom leichten Fieber und vor allem vom Brief ihrer Freundin Lisette überreizt worden sind. Aber Schach ist kein Mann des Wortes, eher des Bildes: Er w i r d dieser (verbalen) Faszination nur vorübergehend unterliegen. Seine innere Annahme der Pflicht und der herrschenden Ästhetik führt ihn zum Tode: Zuerst zum ästhetischen, durch die Karikaturen verursachten, dem notwendigerweise dann der physische Tod folgen muß.
I I . Spiegel als Selbstbilder. Ihre mehrdeutige Funktion Spiegel treten selten i n Stifters Novelle auf, üben aber eine u m so bedeutendere Funktion aus. Zuerst erlebt Brigitta die Anschauung des eigenen Spiegel25
Ebd., 663. Ferner erinnert das sie verschleiernde blaue Tuch der Magdalena an den blauen Schleier, den Victoire bei der Preußischen Parade getragen hatte. 27 Ebd., 665. 28 Ebd, 666. 29 Zu bemerken ist auch, daß Victoire, im deutlichen Unterschied zu Brigitta, keine besonderen moralischen Tugenden zugesprochen werden: Sie wird mehrmals von verschiedenen Figuren als »liebenswürdig« (von Bülow, Sander, Alvensleben) bezeichnet, sie weist einen »witzig-elegisch[en]« Ton (Nostitz) auf, aber ihr Charakter und besonders ihre ethische Kraft bleiben unberücksichtigt, sind also im Grunde aus dem fontaneschen Diskurs ausgeschlossen. 26
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bildes 3 0 als einen Schock: Niemand hat sie noch mit echter Freundlichkeit angeblickt, und an eine solche Möglichkeit kann sie nicht mehr glauben. Sie besitzt aber die innere Fähigkeit, diese Erfahrung produktiv mit den Bildern ihres Inneren in Zusammenhang zu bringen, und das ermöglicht ihr den ersten Schritt zur Gewinnung eines erweiterten Bewußtseins und einer reicheren Persönlichkeit. Nach dem kurz danach stattfindenden Gespräch mit Murai, während dessen er die Nacht lobt und sie ein gemeinsames Schweigen teilen, w i r d ihre Reaktion beim Sich-Spiegeln heftiger und ungläubiger: Da Brigitta [ . . . ] sich in ihr Zimmer begeben hatte, und den Putzflitter Stück um Stück von dem Leibe nahm, trat sie im Nachtgewande vor den Spiegel, und sah lange, lange hinein. Es kamen ihr Thränen in die Augen [ . . . ] . Es waren die ersten Seelenthränen in ihrem ganzen Leben gewesen. [ . . . ] Es war, [ . . . ] als müßte ihr um vieles leichter werden, wenn sie das Herz heraus geweint hätte. [ . . . ] Da endlich die Quellen nachgelassen hatten, und die Kerzen herab gebrannt waren, saß sie noch auf der Erde vor dem Spiegeltische, gleichsam wie ein ausgeweintes Kind und sann. Es lagen die Hände in dem Schooße, die Schleifen und Krausen des Nachtgewandes waren feucht, und hingen ohne Schönheit um den keuschen Busen.31 A n dieser Stelle der Geschichte beginnt Brigitta an die Echtheit des Gefühls von Murai ihr gegenüber zu glauben, und die Erfahrung des Geliebt-Werdens belehrt sie auch über das Versäumte: sie hat nämlich bis zu diesem Moment auch nie lieben gelernt, da sie nie geliebt worden war. Das lange Weinen befreit sie, und sie beginnt, die Realität um sich zu sehen, auf die sie bisher nur verständnislos gestarrt hatte. Erst die Liebe des zukünftigen Mannes hat ihr die Betrachtung und erst recht die Annahme ihres Spiegelbildes ermöglicht. Dadurch lernt sie auch, ihr Empfinden mitzuteilen, und sich der Liebe anderer zu öffnen. Von Bedeutung ist, daß sich in beiden Szenen die Heldin frei vom »Putzflitter« macht: Ihre Spiegelung erfolgt bar jeder äußerlichen Ausschmükkung und ästhetischen Verschönerung. Der Spiegel erweist sich als erstes Stadium von Brigittas Bildung zum reifen, vollkommeneren Menschen, den Murai zu schätzen weiß. 3 2 30
Br; 228: Zuerst wirkt die Überraschung eines fremden, freundlichen Blicks auf sie als Schlaflosigkeit: »Als Brigitta in ihr Schlafgemach gekommen war [ . . . ] und als sie sich dort entkleidete, schoß sie im Vorbeistreifen einen Blick in den Spiegel, und sah die braune Stirne durch denselben gleiten, und die rabenschwarze Locke, die sich um die Stirne schlang. Dann ging sie [ . . . ] gegen ihr Bett [ . . . ] , legte sich darauf, that den schlanken Arm unter ihr Haupt, und schaute mit den schlaflosen Augen gegen die Decke des Zimmers.« 31 Ebd., 229. 32 Ebd., 231 f.: »Aus dem tiefen Herzen des bisher unbekannten Mädchens ging ein warmes Dasein hervor [ . . . ] . Weil sie ihr Herz nicht durch Liebesgedanken und Liebesbilder vor der Zeit entkräftet hatte, wehte der Odem eines ungeschwächten Lebens in seine Seele. [ . . . ] Weil sie stets allein gewesen war, hatte sie auch allein ihre Welt gebaut, und er wurde in ein neues, merkwürdiges, nur ihr angehörendes Reich eingeführt.«
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Murai ist sich aber seinerseits noch nicht der Natur seiner Liebe zu ihr bewußt: Er hat unmittelbar und unbewußt begonnen, sich zu ihr hingezogen zu fühlen, ohne sich nach dem Grund seines Gefühls zu fragen. Ferner läuft er als schöner, angebeteter Mann Gefahr, sich in einer in sich geschlossenen Selbstbetrachtung zu gefallen. Das ist auch der Grund seines späteren Interesses für die hübsche Gabriele, die »spiegelnde[... ] Augen« 3 3 aufweist: Diese können sein eigenes Ich widerspiegeln. Seine Liebe ist noch eine selbstische, er muß einen Läuterungsweg einschlagen. Dem Spiegel strictu sensu können auch Fenster gleichgestellt werden: A n zwei Kernstellen steht Murai, in Anwesenheit Brigittas, vor einem Fenster. 34 Beiden Szenen folgt in kurzer Zeit eine gewichtige Entscheidung (im ersten Fall, der erste Kuß; i m zweiten Fall, die endgültige Wiedervereinigung der Eheleute). Der Zusammenhang Spiegel - Selbstbewußtsein w i r d indirekt auch durch die Tatsache unterstrichen, daß der Tiefpunkt der Geschichte, die dramatische Abfahrt Murais, durch eine Schilderung dargestellt wird, die in allem der Szene gleicht, in der Brigitta vor dem Spiegel Selbsterkenntnis erwirbt; 3 5 diese ernste, zentrale Begebenheit erlangt aber gerade durch die Abwesenheit des Spiegels an Bedeutung. Ihr Ich ist nämlich schon vorhanden und braucht keine Wiederherstellung oder Änderung. Der Spiegel erweist sich in diesem Sinne als überflüssig, da sie schon über eine klare Vorstellung von sich selbst verfügt. O b w o h l schmerzlich, die von ihr selbst geforderte Scheidung vom geliebten Mann vermag sie folglich nicht zu vernichten; sie beginnt vielmehr durch die Liebe zum Sohn die Welt mit dessen Augen zu sehen und sie nach ihren Wünschen und ihren inneren Bildern zu gestalten. Brigitta, die sich willig allen ihrem persönlichen Reifeprozeß nötigen Prüfungen unterzogen hat, zeichnet sich nicht nur als stark, entschlossen und in der Landwirtschaft als geradezu schöpferisch aus, sondern sie w i r d auch zum 33
Ebd., 236. Ebd., 229: »Als sie wieder in das Zimmer getreten war, ging er auch hinein, und stand lange vor einem Fenster«; S. 248 f.: »Der Major war schon zugegen, er stand an dem Fenster, das Angesicht gegen das Glas gekehrt, als sähe er hinaus.« 35 Der Erzähler erwähnt hier erstaunlicherweise die Ähnlichkeit dieser Szene mit der ihrer kindlichen sonderbaren Einsamkeit; er will möglicherweise dadurch die Aufmerksamkeit des Lesers eher auf die poetologische Lektüre des Textes lenken: »So lag sie, wie einst, da sie die Dichtungen ihres Herzens den Büschen des Gartens zugerufen hatte, auch jetzt vor Schmerz auf dem Teppiche [ . . . ] und [ . . . ] heiße Thränen rannen aus ihren Augen« (236). Der Künstler erkauft sich mit Mühe und Entbehrungen eine ethische Kunst und einen ausgeglichenen Stil. Vgl. die Einleitung von Matteo Galli zur italienischen Übersetzung, in Adalbert Stifter, Brigitta (Venezia 1991), 20. Trotzdem sind die Übereinstimmungen mit der genannten Spiegel-Szene unübersehbar. Auf der Ebene der erzählten Geschehnisse handelt es sich nämlich um eine weitere Prüfung, die Brigitta zu bestehen hat. Beide Lektüren ergänzen sich gegenseitig. 34
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Treibfaktor der Handlung: Ihre Reifung führt nämlich indirekt zur menschlichen Bildung des geliebten Mannes und zur endlichen, das Happy End ermöglichenden Wiedererkennung. Der gealterte Erzähler betont letztlich auch den positiven Einfluß ihres endgültigen Zusammenkommens für sein folgendes Leben: Brigitta und ihre Beziehung zur Schönheit kann ohne weiteres als der M o t o r der ganzen Handlung betrachtet werden. Der Spiegel übt in Fontanes Schach von Wuthenow hingegen eine i m engeren Sinne ästhetische Funktion aus: die Figuren achten darauf, daß ihr Spiegelbild ihrer zugewiesenen Rolle entspricht. »[Der] große, reich vergoldete Trumeau [mußte] [ . . . ] der schönen Frau wieder aufs neue versichern, daß sie noch eine schöne Frau sei.« Ihr »jeden Tag zu kontrollierendes Spiegelbild« 36 ist untrennbar von der Selbstauffassung Frau von Carayons und von ihrer allseits anerkannten Rolle. 3 7 Andererseits berichtet der Text über keine Spiegelung Victoires, deren Aussehen aber oft zum Gegenstand des Erzählerberichts und der Figurengespräche wird. Was Schach angeht, scheint ihn der Spiegel nach dem ersten, äußerst gespannten Dialog mit der Witwe von Carayon zur Wiederherstellung seines Gleichgewichts zu führen: »Er [Schach] blieb vor einer Spiegelkonsole stehn [ . . . ] . »Mein Schicksal. Ja, >der Moment entscheidet^ Ich entsinne mich noch, so schrieb sie damals. [ . . . ] Alle Schuld liegt bei dir. Deine Schuld ist dein Schicksal. U n d ich w i l l sie tragen.« [ . . . ] Es war, als ob er sich durch das Selbstgespräch [ . . . ] von dem Drucke, der auf ihm lastete, freigemacht habe.« 38 I m Grunde handelt es sich hier aber eher u m eine Probe für seine aufgezwungene Rolle: Er probt die Worte, die besser zu seinem Gesicht und seiner dazugehörenden U n i f o r m passen. Es geht nicht u m die Gewinnung eines höheren Bewußtseins, sondern u m die Suche nach der Lösung einer Frage ästhetischer Natur: Die Furcht vor dem Lächerlichen, die wiederholt in wesentlichen Passagen vorkommt, gehört zum Wunsch, seinem Leben den Anschein einer höheren Kunstform zu verleihen; das Komische beleidigt seinen ästhetischen Sinn, der eher auf das Tragische oder Heldenhafte angelegt ist. Es zeigt sich aber bald, daß die von Schach erdachte Rolle dem Schlag, der durch die Karikaturen herbeigeführt wird, nicht gewachsen ist. Die Realität in Form des Komischen und Häßlichen hat hier die ästhetische theatralische Einbildung der Figur besiegt. Die von Victoire auf Schach ausgeübte Faszination folgt aus dem Zusammenspiel zwischen den Fremdurteilen über ihr Aussehen und der unerhörten 36
SvW, 574. Die absichtlich übertriebene Wiederholung des fünfzehn Male vorkommenden Adjektivs »schön«, das durch kein Synonym ersetzt wird, betont die Bedeutung ihrer Rolle als besonders attraktive Frau. 38 SvW, 635. 37
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Tatsache, daß sie selbst mit ihm auf das heikle Thema eingeht. Schach bleibt eine ausschließlich ästhetische N a t u r 3 9 und vermag ihren Mangel an einer traditionellen Schönheit, besonders i n einer bildlichen Darstellung, nicht zu ertragen. Der Spiegel hat bei ihm keine Bildung zu einem höheren ethischen Begriff von Schönheit herbeiführen können. Auch ein normaler Reifeprozeß bleibt ihm deswegen versagt.
I I I . Schönheit in Gesprächen: Brigitta und Victoire, M u r a i und Schach Jeder der beiden Erzähltexte behandelt die Schönheit als bedeutendes Konversationsthema auf unterschiedliche Weise. Stephan Murai verfügt wie Schach über ein allen traditionellen Regeln der Schönheit völlig entsprechendes Aussehen und über einen ausgesprochen ästhetischen Sinn. Er verliebt sich sehr jung in die häßliche Brigitta Marosheli und schämt sich nicht, sich öffentlich dazu zu bekennen. Wie einen Engel des Lichtes verehrte er sie, er blieb zurück gezogen, sein Auge ging an den größten Schönheiten, die ihn umringten, vorüber, das ihre mit sanfter Bitte zu suchen. So war es unabänderlich fort. Auch an ihr begann die dunkle Macht und die Größe des Gefühles in der verarmten Seele zu zittern. An beiden erschien es offen. Die Umgebungen begannen das Unglaubliche zu ahnen, und man erstaunte unverhohlen. Murai legte seine Seele entschieden vor dem Angesichte aller Welt dar. 40 Murai folgt unbefangen seinem Instinkt, diese Frau werde ihm viel bedeuten; und tatsächlich überschüttet sie ihn mit Liebe, Hingebung und moralischer Kraft, so daß er eine überaus »schöne« Verlobungszeit verbringt. Murais Begriff von Schönheit ist hier ein eigenständiger, der sich von dem Diktat der Gesellschaft unterscheidet, die »unverhohlen« staunt. Dasselbe verehrte Mädchen hat ihm anfangs von seinem Schritt abgeraten, und dadurch ihren eigenen Mangel an Schönheit zum Thema eines privaten Gesprächs gemacht: »Ich weiß, daß ich häßlich bin, darum würde ich eine höhere Liebe fordern, als das schönste Mädchen dieser Erde. Ich weiß es nicht, wie hoch, aber mir ist, als sollte sie ohne Maß und Ende sein. Seh'n Sie - da nun dies unmöglich ist, so werben Sie nicht u m mich.« 4 1 Er w i r d später zwar v o m betörenden 39 Die Möglichkeit einer solchen Verführung prophezeit ihm indirekt von Bülow: »Und nun spricht der Fürst! Er ist der Gesetzgeber seines Landes in all und jedem, in großem und kleinem, also natürlich auch in Aestheticis. [ . . . ] Ich habe solche zehn Gebote mehr als einmal verkünden hören und weiß seitdem, was es heißt: regarder dans le Néant« ( SvW y 562). Es sind gerade die Worte des Prinzen in Aestheticis, die Schach vorübergehend betören und zur für ihn fatalen Handlung führen. 40
Br } 231.
11 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 43. Bd.
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Bild der schönen Gabriele irregeführt, 42 aber das ändert nichts an seiner inneren Überzeugung vom höheren Wert der Gattin. Trotzdem w i r d er einen langen und schmerzlichen Läuterungsweg gehen müssen, u m sich ihrer würdig zu erweisen, und er w i r d sie und den gemeinsamen Sohn retten müssen, bevor er mit ihr vereint sein kann. Die von Stifters Hauptfiguren gepriesene Schönheit 43 ist von ethischer Natur; jene stellt sich einer ausschließlich äußeren entgegen: Diese letztere ist weder von großer Bedeutung, noch von Dauer, 4 4 während die erstere angestrebt werden und die Welt durch ihre Dichtung verschönern soll. Die Novelle behandelt den langen Bildungsweg des männlichen Helden zur höheren Auffassung von Schönheit: Vom ersten ungenauen und schwankenden Begriff gelangt er zum ruhigen, schmerzlich erworbenen Bewußtsein. 45 Dies bewirkt am Ende durch die Liebe sogar eine Form wirklicher Schönheit der Heldin, die auch der anonyme Erzähler wahrnimmt: » N u n hob sie, noch i n Thränen 41
Ebd., 230.
42
Das Bild der attraktiven Frau ist aber nur als letzter Schritt einer wachsenden Entfernung zwischen den Eheleuten zu verstehen, wie Matteo Galli tiefgreifend festgestellt hat. Die leere Schönheit Gabrieles steht ferner auch für eine unkontrollierte Kunst und für einen unausgeglichenen Stil. Vgl. Matteo Galli, ebd., 20 und 194 f., und Wolfgang Matz, Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge (München / Wien 1995), 193. 43 Sie wird explizit im semantischen Feld von »Herz« und »Liebe« eingeordnet. Man erkennt in dieser Erzählung schon stilistische Züge, u. a. die »zeremoniösen Wiederholungen, Vervielfältigungen, ihre nachgerade tautologische Tendenz«, die Stifters Spätwerk prägen werden [Helmut Pfotenhauer, »>Einfach ...wie ein Halm< Stifters komplizierte kleine Selbstbiographie«, Deutsche Vierteljahrsschrift, 64 (1990), 134-148, hier 143]. Die streng kontrollierte Sprache Stifters dient zur Bearbeitung und Vermittlung einer eindeutigen, positiven Mitteilung, wobei »das gelebte Leben in seiner Vielfalt und Buntheit [ . . . ] draußen bleiben [muß]« (ebd., 144). 44
Aus diesem Grund muß die schöne Gabriele, in die sich der Major kurz verliebt, früh aus dem Leben scheiden: »Ich sah auf dem Rückwege Gabrielens Grabmal, die schon vor zwölf Jahren im Gipfel ihrer jugendlichen Schönheit gestorben war« (253). Das Schöne an sich als leer, als »Wüste« wird auch von Rosenkranz abgewertet, vgl. die Einleitung zu Karl Rosenkranz, Estetica del brutto, hg. Remo Bodei (Bologna 1984), 7-42, hier 16: »Lo sforzo di Rosenkranz tende ad evitare che >il bello in sedeserto delPidentitäLe laid c'est le beauDie wahre hohe Schule der Zweideutigkeit: Frivolität und ihre autobiographische Komponente in Fontanes Erzählwerk«, Fontane Blätter, 95-96 (1998), 138-162, hier 147 ff. 61 In diesem engeren Sinne können sie tatsächlich als Charaktere eines Märchens bezeichnet werden. Vgl. Patricia Howe, ebd Was hingegen die ferneren Zusammenhänge zwischen der Form des Märchens und der behandelten Novellen angeht, stimme ich mit der These der Autorin nicht überein. 62 Vgl. SvW y 617: »>Ich meinte, daß ich den Wagen gehört hätte< >Du hörst zu fein.< Aber sie schüttelte den Kopf, und im selben Augenblicke fuhr der Wagen der Frau von Carayon vor. »Verlassen Sie mich ... Bitte.Wenn doch alles nur.. .< Und es übergoß sie mit Blut.« 64 Ebd, 619 f. 65 Bei seiner Beurteilung des Stückes »Die Weihe der Kraft« wird er zweimal von Frau von Carayon der Oberflächlichkeit seines Urteils bezichtigt: bei der ersten habe er sich über die übertriebene Dauer des Stückes beklagt, bei der zweiten habe er auf die anachronistische Beschreibung der Figur Luthers hingewiesen, bei welcher er sie einem Bild Dürers und einem Altarblatt gleichgestellt hatte. In beiden Fällen betrachtet er aber das Stück nicht als solches, sondern insbesondere seine Nicht-Entsprechung der Geschichte. Victoire, die inzwischen schnell zu ihrer früheren realistischeren Auffassung des Lebens zurückgekommen ist, teilt dieses Urteil. (619 ff.). 66 Ebd, 628. 67 Ebd, 632 f. 68 Ebd, 640 ff.: Das beweist auch die Tatsache, daß er nach langem Schwanken dem alten Prediger nichts anvertraut: »>Aberwas soll mir schließlich seine Antwort? Hab' ich diese Antwort nicht schon vorweg? Hab'
Die Schönheit als zum Tode führend
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siert er von fernen Ländern, von phantastischen Geschehnissen und besonders von der stummen Sirene und schließlich entscheidet er sich für die endgültige Reise in den Tod. Dieses ohnehin »aparte« Ende entspricht seiner ästhetischen Vorstellung eher als eine zurückgezogene Landehe mit Victoire. Sowohl die Beschreibung des allwissenden Erzählers als auch die komische Bemerkung seines treuen Dieners Baarsch betonen aber gerade das Scheitern von Schachs ästhetischer Vorstellung. I n der fontaneschen Novelle ist der Titelheld nicht die einzige Figur, die sich konfus über die Schönheit äußert: Frau von Carayon, die eine Passion für das Theater und für die »Tagesberühmtheiten« hegt, und sich nicht schämt, sich dadurch auch als frivol zu erweisen, hält aber der melancholischen und verlassenen Victoire einen Vortrag über ihre Schönheit: »Der Prinz [hat] erst neulich wieder von deiner Schönheit auf dem Massowschen Balle gesprochen [ . . . ] . Das ist nicht hin, davon blieb dir, und jeder muß es finden, der ihm liebevoll in deinen Zügen nachzugehen den Sinn und das Herz hat.« 6 9 Die schöne Mutter scheint hier, i m Unterschied zu ihrem übrigen Verhalten, an demselben Begriff von Schönheit zu hängen, den Stifters Helden beschwören. Aber nicht nur dies: Hier erfolgt die Einordnung einer überspitzten ästhetischen Betrachtung innerhalb einer moralischen; offenbar ist Frau von Carayon sich nicht des speziellen Zusammenhanges bewußt, in dem die schmeichelnde Äußerung stattgefunden hat, und ihre Deutung der Aussage des Prinzen beruht auf einer falschen Grundlage. Erneut zeugt diese Verkennung subtil von der steten Aufmerksamkeit, die Fontane den weitläufigen, oft zum Unverständnis führenden Figurengesprächen widmet. Bilder füllen die Lücken, die Briefe bzw. Gespräche offen lassen; Gespräche, die oft unterbrochen werden oder andere Geschichten beinhalten, und die dadurch nicht so sehr bereichert als eher kupiert werden. Victoire erkennt dies und faßt zusammen: »Wie lösen sich Rätsel? Nie. Ein Rest von Dunklem und Unaufgeklärtem bleibt, und in die letzten und geheimsten Triebfedern andrer oder auch nur unsrer eignen Handlungsweise hineinzublicken, ist uns versagt.« 70
ich sie nicht in mir selbst? Kenn' ich nicht die Gebote? Was mir fehlt, ist bloß die Lust, ihnen zu gehorchen.< Und [ . . . ] [er] ließ [ . . . ] den Plan eines Zwiegesprächs fallen« (650). 69 Ebd, 656. 70 Ebd., 680.
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Claudia Buffagni Schlußfolgerung
Während Kunstbilder in Brigitta die Aussage des Erzählers bestätigend begleiten, spielen sie in Schach von Wuthenow eine die gesprochenen Worte unterminierende Rolle. Bilder können sich i n Fontanes stärker sprachskeptischem Text besser als Gespräche der nie vollkommen erklärbaren und äußerst widerspruchsvollen Wahrheit der menschlichen Seele annähern. 71 Die in Stifters Novelle sparsam vorkommenden Bilder dienen zur Erhellung einzelner Stufen des Erziehungsprozesses Brigittas, und, indirekt, Murais und des Erzählers: Die wenigen vorhandenen, höchst stilisierten Dialoge unterstreichen diese Interpretation. Die i m Mittelpunkt stehende, von Stifters Figuren hervorgerufene und v o m Erzähler bekräftigte Auffassung von Schönheit ist ethischer Natur; die Schönheit, die die i m Text wiederholt als häßlich bezeichnete Brigitta am Ende erlangt, läßt auf der Ebene der Geschichte die theoretische Aussage Wirklichkeit werden: Ihre innere Schönheit verwandelt ihre äußere Erscheinung, und der positive Ausgang bestätigt die Richtigkeit und den Erfolg solcher Auffassung. Schach von Wnthenow läßt hingegen einen Titelhelden auftreten, der unbewußt von einem ausschließlich ästhetischen Begriff von Schönheit besessen ist. 7 2 Er entzieht sich jeder möglichen ethischen Bildung, die ihn notwendigerweise zum Heraustreten aus seiner schönen, aber leeren Einbildung zwingen würde. Er ist durch Bilder und ästhetische Worte äußerst beeinflußbar, und stellt darin die Verkörperung der brüchigen Grundlagen dar, auf denen die preußische Gesellschaft sowohl 1806 vor der Niederlage von Jena als auch Anfang der achtziger Jahre beruhte. Schach, der seine innere Hohlheit beweist, indem er an einigen ihn schildernden Karikaturen zugrunde geht, verkörpert aber nur die extreme Personifizierung solcher verkehrten Realitäts- und Schönheitsauffassungen: Abgesehen vom Prinzen zeigen auch Frau von Carayon und Victoire sowie der vom Bild Luthers beeinflußte Alvensleben eine krankhafte Abhängigkeit von Schein und Bild. Trotz der vielen u m Schach kreisenden Gespräche ist es ferner die Unmöglichkeit einer authentischen Kommunikation mit ihm, die ihn zum Alleinsein, 71
Vgl. auch Werner Schwan, ebd Insofern ist er »der reine Formalist, der unabhängig bleibt von >Inhaltenblanc et noir< que possible, et i l me semble se prêter à une eau-forte pleine de rêve et de vide«. 3 6 Diese interpretatorische Spur müßte verfolgt werden, u m die ästhetische Konsistenz dieser Zimmerlandschaft zu ermitteln. Auffällig ist dennoch die Negation der genannten Objekte (»salon vide«, »ptyx«, »bibelot«) und der dargestellten Ereignishaftigkeit (»ne recueille pas«), was sicherlich in »le Néant« des achten Verses gipfelt. I m anschließenden Terzett schweben nunmehr unbestimmte Gegenstände i m Raum (»un or«, »une nixe«), und das gesamte Dekor fällt dem Zweifel (»peut-être«) anheim. Gaukelte bislang der Sprachgestus den Realitätsstatus der dargestellten Welt vor, werden nun ihre bloß sprachliche Erzeugung entlarvt und sogar Wahrnehmungen simuliert, die i m Falle der »défunte nue« (sei damit eine Wolke oder eine nackte Naiade gemeint) auf Grund der vorgegebenen Homonymie durchaus möglich sind. Stellen die Einhörner ferner einer Nixe nach, oder stürzt sich eine Sirene aus Liebeskummer ins Wasser und ertrinkt (etwa wie i m Sonett »A la nue accablante tu«)? Oder handelt es sich dabei u m eine Allegorie der Muse oder der Seele? Das Tableau verschwindet dann zusehends i m Wechselspiel von H e l l und Dunkel, von Präsenz und Vergessen (V. 13). Dieser agonalen Dynamik (V. 10) folgt eine Nacht, in die hinein sich der Raum öffnet, sich in das A l l ausweitet und schließlich zu einer Konstellation (zum großen Wagen) gerinnt (vgl. letzte Strophe).
35 36
»Mallarmés Ptyx und der >sens réelsens réelDoctor Faustus< (London 1973), 37-41 u. 168-73. 13 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 43. Bd.
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Michael Neumann
bizarr anmuten. Der Roman hat denn auch von den verschiedensten Seiten vehemente K r i t i k erfahren. Immerhin verständlich w i r d diese Verknüpfung aber, wenn man das Buch als eine »radikale Autobiographie« liest. 3 Die Roman-Verquickung von Politik und Musik entspringt Thomas Manns Analyse der eigenen Lebens-Verstrickung von Politik und Literatur. 4 Allerdings verschiebt sich damit nur die Bruchstelle. Wenn die historisch fragwürdige Analogie von deutscher Politik und deutscher Kunst in der M o derne aus der Perspektive des Autors subjektiv plausibel gemacht werden kann, w i r d der Avantgardismus problematisch, den Leverkühn ja offensichtlich mit Thomas Mann nicht teilt. 5 Auch sind dem leidenschaftlichen Musikhörer Mann die Werke der A r n o l d Schönberg, A n t o n von Webern und Alban Berg nie zu einem eigenen Musikerlebnis geworden. 6 Daß es tatsächlich mit Leverkühns Verbindung zu Schönberg prekärer steht, als man gemeinhin anzunehmen geneigt ist, zeigt der Kommentar, den Thomas Mann in seiner Erzählung von der Entstehung des Doktor Faustus der ihm abgenötigten Copyright-Angabe nachschiebt ( X I 168): Der Verweis auf Schönberg geschehe »ein wenig gegen meine Überzeugung [ . . . ] , weil« - und hier zitiere ich zunächst etwas verkürzt: die Idee der Zwölf-Ton-Technik in der Sphäre des Buches [ . . . ] eine Färbung, einen Charakter annimmt, die sie - nicht wahr? - in ihrer Eigentlichkeit nicht besitzt und die sie wirklich gewissermaßen zu meinem Eigentum, das heißt: zu dem des Buches machen. Schönbergs Gedanke und meine ad hoc-Version davon treten so weit auseinander, daß es [ . . . ] in meinen Augen fast etwas von Kränkung gehabt hätte, im Text seinen Namen zu nennen. Thomas Mann war sich der Spannung zwischen der autobiographischen Fundierung des Romankonzepts und dem Avantgardismus von Leverkühns Zwölfton-Technik bewußt. So kam es ihm sehr zupaß, daß i n Amerika sein Erzählen gelegentlich neben das von Joyce gerückt wurde. Nach der Lektüre einer Joyce-Monographie von Harry Levin 7 vermerkt er i m Tagebuch: »Ein 3 S. Eckhard Heftrich, »>Doktor FaustusWagner-KriseVolkes< selbst immer etwas Archaisch-Apprehensives« enthalten haben. »Ich spreche vom Volk, aber die altertümlich-volkstümliche Schicht gibt es in uns allen«; sie »unter sicherem Verschluß zu halten« ist nach seiner Meinung Sache der Literatur und des Humanismus ( V I 53 f.). Doch wovon sich der Humanist fernzuhalten sucht - wie der Erste Weltkrieg zeigt, gelingt auch ihm das nicht durchwegs dem darf Leverkühn sich nicht verweigern, da es ein wesentliches Moment der Musik ausmacht: »Kunstfähig«, so erläutert Thomas Mann 1940 ( X I I I 356 f.), ist in der deutschen Tradition »allein das Mythisch-Rein-Menschliche, die unhistorisch-zeitlose Urpoesie der Natur und des Herzens« - Formulierungen, die durchwegs auf Wagners theoretische Schriften zurückweisen. Das Zitat stammt aus einem Text, mit dem Thomas Mann den wesentlichen Verbindungen zwischen Wagners Werken und dem Nationalsozialismus nachspürt. Das Ausweichen vor dem Historisch-Gesellschaftlichen ins Mythische, das zur «Lüge«, zum grausigen »Surrogat« wird, sobald es ins Politische eindringt, hat in der Kunst sein eigenes und volles Recht. Wenn Thomas Mann Wagners Genie »eine ganz beispiellose Mischung von höchster Modernität und 39
Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (München 1980), Bd. 12, 436: Nachgelassene Fragmente, Herbst 1887; vgl. Bd. 11,235, u. Bd. 12,133. 40 S. R. Wimmer (Anm. 37), 51-60. S.a. St.P. Scher (Anm. 38), bes. 269-74. 41 S. Vaget (Anm. 4), 303-335, und Michael Neumann (Anm. 17), 142-183.
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Michael Neumann
Intellektualität mit Elementen einer mythischen Ur-Popularität« attestiert ( I X 519), zielt er über die Zweideutigkeit von Virtuosität und Demagogie hinaus auf eine tiefere, ernsthaftere Doppeldeutigkeit. Wagners Musik, so schreibt er in Leiden und Größe Richard Wagners ( I X 380 f.), »die wie ein Geysir aus vorkulturellen Tiefen des Mythos hervorzuschießen scheint (und nicht nur scheint: sie tut es wirklich), ist in Wahrheit und außerdem - gedacht, berechnet, hochintelligent, von ausgepichter Klugheit«. Thomas Manns stehende Formel für diese Zweideutigkeit lautet «Psychologie und Mythus« ( I X 368 4 2 ) - und das ist gleichzeitig seit geraumer Zeit auch schon die Leitformel für sein, Thomas Manns, eigenes Werk. 4 3 Über Leverkühns Apocalipsis aber klagt Zeitblom ( V I 496): Wie oft ist dieses bedrohliche Werk in seinem Drange, das Verborgenste musikalisch zu enthüllen, das Tier im Menschen wie seine sublimsten Regungen, vom Vorwurf des blutigen Barbarismus sowohl wie der blutlosen Intellektualität getroffen worden! Ich sage: getroffen; denn seine Idee, gewissermaßen die Lebensgeschichte der Musik, von ihren vor-musikalischen, magisch-rhythmischen Elementar-Zuständen bis zur ihrer kompliziertesten Vollendung in sich aufzunehmen, stellt es vielleicht nicht nur partiell, sondern als Ganzes jenem Vorwurf bloß. Die entscheidenden Elemente von Thomas Manns Wagner-Deutung sind hier alle beisammen: die musikalische Enthüllung des Verborgensten weist auf Wagners psychologische Analyse, die Thomas Mann wiederholt der Psychoanalyse Freuds an die Seite gestellt hat; 4 4 die Verknüpfung von Barbarismus und Intellektualismus auf das Zugleich von »vorkulturellen Tiefen des Mythos« mit ausgepichter Berechnung; das Resüme der »Lebensgeschichte der Musik« schließlich auf Wagners Ring , der gleichzeitig »Kosmogonie« und »Schöpfungspoem der Musik« ist ( X I I I 356, vgl. I X 522). Die Überzeugung von der elementaren Ambivalenz der Kunst - von der Zweideutigkeit aus Mythos und Psychologie, aus Barbarismus und Intellektualismus - ist ein Erbe der deutschen Romantik. »Die Nacht«, so schreibt Mann 42 Vgl. GW IX 525: »diese Mischung aus mythischer Urtümlichkeit und psychologischer, ja psycho-analytischer Modernität.« 43 S. Brief an Kerenyi vom 18. 2. 41: Thomas Mann/Karl Kerenyi: Gespräch in Briefen [Zürich 1960] (München 1967), 105. 44 Z. B. »Leiden und Größe Richard Wagners« (GW IX 369 f.): Im »frühlingshaft keimenden [ . . . ] Liebesleben des Knaben Siegfried« wisse die Orchestermusik bereits von jener Verquickung aus »Mutterbindung, geschlechtlichem Verlangen und Angst«, die erst Sigmund Freud analytisch zutage gefördert hat. »Wie in Siegfrieds Träumerei unter der Linde der Muttergedanke ins Erotische verfließt, wie in der Szene, wo Mime den Zögling über die Furcht zu belehren sucht, im Orchester das Motiv der im Feuer schlafenden Brünnhilde auf eine dunkel entstellte Weise sein Wesen treibt, - das ist Freud, das ist Analyse, nichts anderes.«
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i n Leiden und Größe Richard Wagners ( I X 400), »ist Heimat und Reich aller Romantik, ihre Entdeckung, [ . . . ] das Reich der Sensibilität gegen die Vernunft« - und er verweist auf E.T.A. Hoffmann ( I X 403), dessen Werk die Musik als unheimliche Hochzeit des Heiligen mit dem Dämonischen vorführt. 4 5 Es ist diese Ambivalenz, die es dem Komponisten, der zu einer neuen Kunst durchbrechen will, nicht erlaubt, nur ein Heiliger zu sein. U m des Werkes willen, u m der Kunst willen, muß Leverkühn sich mit dem Mythischen, dem Barbarischen, dem Dämonischen einlassen. Dies ist gleichermaßen das Thema des Romans Doktor Faustus wie der Kantate Dr. Fausti Weheklag, für beide formuliert in dem zwölfsilbigen Satz, der der Kantate Grundthema und Grundreihe gibt: >Denn ich sterbe als ein guter und ein böser Christbösegut< ist« ( X I I I 358 4 7 ). I n diesem Sinne schließt er sich selbst ausdrücklich ein in die Verantwortung, welche die deutsche Geschichte nach 1945 jedem Deutschen aufbürdet. Wenn er aber Leverkühn u m des Durchbruchs i m Werk willen »die Schuld der Zeit auf den eigenen Hals« nehmen läßt ( V I 662), dann sind diese Worte des Wahnsinns von einer Konsequenz der Parallelkonstruktion erzwungen, die den Ausgangspunkt der »radikalen Biographie« weit hinter sich läßt. Wie Tho46
Vgl. Vaget (Anm. 4). Vgl. »Deutschland und die Deutschen« (GW X I 1146). Zum Kontext der Ein- oder Zwei-Deutschland-Debatte s. Hans Rudolf Vaget: »Germany: Jekyll and Hyde. Sebastian Haffners Deutschlandbild und die Genese von Doktor Faustus«; in: Thomas Mann und seine Quellen. Festschrift für Hans Wysling, hg. Eckhard Heftrich u. Helmut Koopmann (Frankfurt am Main 1991), 249-271. 47
Zwölftontechnik ?
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mas Mann w o h l die Versuchung des Nationalismus in der eigenen Seele erfahren, sich dann aber v o m Nationalsozialismus abgewandt hatte, so hatte er auch mit Hilfe Wagners w o h l den naturalistischen Roman überwunden, aber doch nicht eine literarhistorische Revolution verursacht, die der Wirkung Wagners in der Musikgeschichte vergleichbar wäre. Die eigenen Erfahrungen als Deutscher bilden also den Ausgangspunkt für eine mentalitätsgeschichtliche Erforschung der deutschbürgerlichen Seele, als welche Hans Rudolf Vaget den Doktor Faustus liest. I n sich selbst hat Thomas Mann das gute wie das böse Deutschland entdeckt. A n sich selbst hat er auch die Verwirrungen durchlitten, welche die Vermischung ästhetischer und politischer Kategorien bewirkt. Als Auseinandersetzung mit Deutschlands politischem Weg i m 20. Jahrhundert mußte der Roman freilich gewaltig radikalisieren, was autobiographisch gegeben war. U n d da Thomas Mann das >gute und böse< Deutschland i n Parallelkonstruktion zum >guten und bösen< Komponisten Leverkühn geführt hatte, mußte auch auf Seiten der Kunst entschieden radikalisiert werden. Wagners Revolution der Kunst ließ sich wegen mangelnder Zeitgenossenschaft nicht mehr direkt gebrauchen. So wurde Leverkühn aus verschiedenen Ingredienzien zusammengebraut. Die Zweideutigkeit seiner Musik, ihre Affinität zu jenem Volkstümlich-Archaischen, als dessen Sklavenauf stand i n der Polit i k Thomas Mann den Nationalsozialismus interpretierte, kam Leverkühn von Wagner zu. Seine Künstlerpersönlichkeit bis hin zum Zusammenbruch i m Wahnsinn hat vieles von Nietzsche geerbt, den Thomas Mann immer wieder als den Uberwinder Wagners herausgestellt hatte. Die technischen Details seiner musikalischen Revolution aber bezog er von Schönberg, dessen Musik Thomas Mann ihre Radikalität schon dadurch bewies, daß er sie trotz seiner hochbeträchtlichen musikalischen Bildung i m Hören nicht mehr verstand. So war es, das wußte er ( I X 380 f.), einst auch vielen Gegnern Richard Wagners ergangen, an deren Mitspracherecht i n musicis kein Zweifel bestehen konnte. Leverkühns Avantgardismus geriet dann freilich mit der autobiographischen Seite des Romans i n Konflikt. Das Thema des Avantgardismus war nicht von Anfang an vorgesehen gewesen. Die erste Idee hatte einst, 4 8 unter dem autobiographisch geprägten Generalthema der >HeimsuchungLebenAnsichten< derselben Gesellschaft bieten. Die Frage, ob man ein (deutsches) Nationalepos finden, rekonstruieren, transformieren 6 , fordern oder gar schreiben w i l l , ist ganz offensichtlich keine reine >Sachfrage< und die abgemilderte Frage nach den Entstehungsbedingungen von einmal zu >Epen< qualifizierten Texten der Antike, des Mittelalters oder der Gegenwart ebenfalls nicht. Wenn ein A u t o r oder Wissenschaftler das seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr notwendig an die gebundene Rede gekoppelte Epos-Konzept dem Roman vorzieht, hat er nicht nur in Fragen der Poetik und Ästhetik gewählt, sondern unter Umständen einen, mit bestimmten Tendenzen moderner, ausdifferenzierter Gesellschaften rivalisierenden Vorstellungskomplex dem Publikum näher gerückt. Erich Köhlers These, daß man i m 4 Poetik bleibt auf Poetik-Vorlesungen und Werkstattberichte zumeist experimentell ausgerichteter Autorschaften beschränkt, Ästhetik bearbeitet heute die Wahrnehmung im Einflußraum von konkurrierenden technischen Medien, nicht mehr von Gattungen. 5 Diese Arbeitsweise des Romans hebt Michail Bachtin (1895-1975) in zahlreichen Arbeiten hervor. 6 Zur Erinnerung: Rudolf Borchardt überträgt von 1923 bis 1930 (als Dante Deutsch) Dantes vollständige Divina Commedia in ein eigens dafür (re-)konstruiertes >wahres< Hochdeutsch des 14. Jahrhunderts und nennt sein Projekt selbst einen »fingierten Traditionsprozeß«. Vgl. Rudolf Borchardt, »Konrad Burdach. Zum siebzigsten Geburtstage (Nachwort)«, in: ders., Dante Deutsch (Berlin 1930), 467-523, hier 523.
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»Phänomen des rivalisierenden Nebeneinanders von Gattungen, auf die Ebene des Systems projiziert, den Niederschlag von unentschiedenen Rivalitäten i m sozialen Bereich« 7 sehen kann, muß nur modifiziert werden, denn die angedeutete Rivalität von Epos und Roman braucht nicht länger als Rivalität »sozialer Gruppen« festgeschrieben werden. Selbst an den von Köhler modifizierten (materialistischen) Ausgangsbegriff der >Widerspiegelung< kann man anknüpfen: Das »Verhältnis zwischen Gattungssystem und Gesellschaftssystem w i r d dabei an einem Begriff von künstlerischer Widerspiegelung festhalten können«, schreibt Köhler, »der diese als produktive Aneignung von Realität und deren den Aneignungsprozeß einschließende Reproduktion, d. h. als rückwirkende, i m Interpretationsprozeß selbsterschaffende Wirklichkeit i m Überbau versteht.« 8 Der O r t der produktiven Aneignung und Interpretation kann heute genauer angegeben werden. Epos und Roman sind nicht nur soziologisch, sondern vor allem mediengeschichtlich zu unterscheidende Konzeptualisierungen von Wirklichkeit, welche wiederum immer stärker als eine in inszenatorische Schleifen verstrickte Medienwirklichkeit, nicht länger als eine in unaufhebbaren gesellschaftlichen Widersprüchen verfangene Klassenwirklichkeit in Betracht kommt. Gattungssoziologie ist deshalb nicht mehr nur Gruppensoziologie und die Analyse der basalen Materialitäten hat sich bis in die Philologien verschoben. 9 Wie die »doppelte Funktion einer Gattung - einerseits i m symbolischen und andererseits i m sozialen System« 10 - neu zu bestimmen ist, bleibt die Aufgabenstellung. Die Beschäftigung mit diesen unterschiedlichen Wirklichkeitsmodellen Epos und Roman führt allerdings nicht zwangsläufig zu einer Distanz haltenden Analyse. Heute - nach dem ersten Abschwung einer vorbehaltlosen Modernisierungseuphorie und dem erneuten Uberdenken regional-kommunitär ausgerichteter Gemeinschafts- und Gesellschaftsentwürfe 11 - , ist die wissenschaftlich abgekühlte Beobachtung des Epos-Komplexes nicht mehr zu einer uneingeschränkten ideologiekritischen Verurteilung bereit, und die immer neuen Reflexionsspiele und -Zuwächse auf dem genuin modernen Terrain des Romans und seiner inhärenten Poetik werden nicht mehr so vorbehaltlos als ästhetische Wertsteigerung begrüßt. 7
Erich Köhler, »Gattungssystem und Gesellschaftssystem«, a. a. O , 14. Ebd., 12. 9 Vgl. nur Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation (Frankfurt/Main 1988) und Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme 1800/ 1900, 2, erw. und korr. Aufl. (München 1987; 1985). 10 Wilhelm Voßkamp, »Gattungen als literarisch-soziale Institutionen«, a. a. O , 32. 11 Vgl. Robert D. Putnam, Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community (New York 2000). 8
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So gilt es, diesen aneinander gekoppelten Gattungskomplexen eine erneute, schlichte Bevorzugungen politischer Konzepte zurückdrängende Aufmerksamkeit zu schenken, u m eine diesem Stand gerecht werdende politische Poetik zu erhalten. Bleibt auch weiterhin ein enger Zusammenhang zwischen der »Einstellung zur Realität und der Wahl der Gattung, die stets auch eine Entscheidung für einen O r t i m System, d. h. i m Ganzen, bedeutet«, 12 bestehen, so lassen sich doch anfallende Beobachtungen nicht mehr so leicht auf negative und positive >RückkoppelungenImmunisierungen< und >Öffnungen< (des Systems), >dominante< und >nichtkanonisierte< 13 Genera verteilen. D e m Epos als bekanntestem (Opfer-)Fall funktional motivierter, (teil-) systeminterner Umbauten bleibt so immer nur der Makel, »die heroische Existenz einer Klasse zu feiern, deren parasitäre Existenz und Funktionslosigkeit trotz ihres gesellschaftlichen Prestiges allzu offenkundig war.« 1 4 Die schon Köhler und Voßkamp Pate stehende (ältere) Systemtheorie Niklas Luhmanns hat unterdessen i m Verbund mit anderen Ansätzen ein noch feineres Instrumentarium zur Verfügung gestellt, um das in Frage stehende Teilsystem und seine Korrelationen mit dem Gattungssystem zu beobachten. Hierbei werden komplexe Analysen der gesellschaftlichen Prozesse stärker an medienhistorische Befunde gekoppelt. Diese Ansätze sollen i m Folgenden sowohl wissenschaftsgeschichtlich als auch gattungstheoretisch genutzt werden.
I. Lange Zeit hielt man die in der Runde u m den Sänger versammelten Hörer und den die Fertigkeit des rhythmischen Vortrags innerhalb seiner Zunft tradierenden Sänger für die Konstituenten einer sich nahezu gleich bleibenden spontanen Realität der Epen: »Bei einem >epischen Anlaß< müssen drei Instanzen zugegen sein: ein oder mehrere Sänger; ein oder mehrere Gönner; eine Zuhörer- und Zuschauerschaft.« 15 Dieses setting primärer Oralität ist nicht haltbar. Tatsächlich sind Größe, Herkunft und Frequenz der für den >aktuellen< 12
Erich Köhler, »Gattungssystem und Gesellschaftssystem«, a. a. O., 23. Diese Gleichsetzung des >Systems< mit dem (alten) >Ganzen< ist allerdings eine von der Systemtheorie nicht vorgesehene Möglichkeit. » Ebd., 18. 14 Ebd. Voßkamp schreibt ganz ähnlich: »Solche Modifikationen im sowohl literarischen wie gesellschaftlichen Gesamtsystem werden etwa an geschichtlichen Ablösungsprozessen von Gattungen deutlich: z. B. Ablösung der dominanten Rolle des Epos durch den Roman im 18. Jahrhundert [...].« (Wilhelm Voßkamp, »Gattungen als literarischsoziale Institutionen«, a. a. O., 32). 15 Arthur T. Hatto, Eine allgemeine Theorie der Heldenepik (Opladen 1991), 8.
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Vortrag verwendeten Textstücke nicht geklärt. 1 6 Heute geht man sowohl i m Falle der Ilias und Odyssee, als auch der Sagas und der mittelalterlichen Epen von unterschiedlichen (dezentralen) Versionen bei größeren beweglichen Stoffmengen in einer semioralen (>vokalenRomanen< Christian von Troyes und den keltisch-bretonischen Sagen selbst erscheint Karl Vossler frühzeitig in diesem Licht: »Woher Christian die Geschichten von Artus, von Tristan und Isolde, von Iwein, Garein, Lancelot, Parcival usw. bezogen hat, das ist eine schwere gelehrte Streitfrage, die w i r hier [ . . . ] nicht zu entscheiden haben. Wahrscheinlich hat er sie aus lateinischen Chroniken, schwerlich aus keltischen mündlichen oder schriftlichen Erzählungen.« 18 Jan-Dirk Müller siedelt das u m oder kurz vor 1200 entstandene Nibelungenlied »in einer schwer faßbaren Kontaktzone zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit« 1 9 an. Außerdem ist nur schwer zu kalkulieren, welchen Einschnitt die Verschriftlichung qualitativ und quantitativ schließlich bedeutet hat. Es handelt sich auf jeden Fall beim Nibelungenlied oder beim altenglischen Beowulf nicht einfach u m eine zusammenfassende Niederschrift umfangreicherer heldenepischer Stoffmengen. Die buchhaft großepische Form ist ein neues literarisches Genre, dessen Verfasser keine bloß >registrierenden< (A. Wolf) Verschriftlichungen vorgenommen haben, sondern gerade die »hellglänzende Kampfrhetorik« 2 0 , die »naive Exaltation des Kriegerischen« 21 der mündlichen (deutschen, fränki16 Vgl. J. B. Flueckiger, Gender and Genre in the Folklore of Middle India , (Ithaca/ N.Y. 1996), 134: »Further, certain episodes of the epic are performed more frequently than others; and there may be episodes that exist only in the oral tradition and not in performance at all.« 17 Paul Zumthors Begriff der >Vokalität< charakterisiert eine komplizierte und je andere Verschränkung verschiedener sozialer und medientechnischer Bedingungen >bei Hofim Kloster< und >an der Universität^ Die Untersuchung der höfischen Literatur beispielsweise trifft auf eine schriftgelehrte Autorschaft, einen schriftkundigen Vortrag und ein analphabetisches Auditorium, auf welches der gelehrte Text mit Elementen fingierter Mündlichkeit wiederum reagiert. Dazu u. a.: Dennis H. Green, Medieval Listening and Reading. The Primary Reception of German Literature 800-1300 (Cambridge, New York 1994); Jan-Dirk Müller (Hg.), >Aufführung< und >Schrift< in Mittelalter und Früher Neuzeit (Stuttgart, Weimar 1996). 18 Karl Vossler, »Der Roman und das Epos«, in: ders. Die Dichtungsformen der Romanen, hg. A. Bauer (Stuttgart 1951), 291-316, hier 294. 19 Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes (Tübingen 1998), 31. 20 Alois Wolf, »Die Verschriftlichung von europäischen Heldensagen«, in: ders, Erzählkunst des Mittelalters. Komparatistische Arbeiten zur französischen und deutschen Literatur, hg. M. Backes et al. (Tübingen 1999), 87-110, hier 95. 21 Ebd., 92.
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sehen, isländischen) heroic ages und ihrer wenigen vermeintlichen Zeugnisse >problematisierend< einer Umwertung und Umgestaltung unterziehen. Großepische Verschriftlichung bedeutet »nicht nur den Übergang in ein anderes Medium, sondern ist auch ein Eingriff in diese heroische Tradition selbst.« 22 Grundsätzlich aber ist der Aporie, auf das heroic age und seine (mündlichen) Texte nur aus der Schrift schließen zu können, nicht zu entkommen. Diese Einschränkungen gelten heute - bis auf die historischen Rahmendaten - genauso für die Ilias Homers, wie Eric A . Havelock in einer späten und vorsichtigen Revision seiner eigenen Forschungen bestätigt: »Ich kam zu dem Ergebnis, daß der Prozeß der Schriftfassung längere Zeit gebraucht hatte (eine Vermutung, die aus anderen Gründen sinnvoll scheint), daß die Epen stückweise auf Papyrus aufgezeichnet worden waren und daß an der Herstellung der zusammenhängenden Form, i n der w i r die Epen heute kennen, die Augen nicht weniger als das Gehör beteiligt waren.« 2 3 Eine Unterscheidung von Primär - und Sekundärepen läßt sich vor diesem Hintergrund genauso wenig aufrecht erhalten wie die Annahme einer »enormous difference between H o m e r s oral and Virgile written art« 2 4 . A u c h M u t maßungen über die eigentliche, »existentielle Phase« der (Helden-)Epik fallen zwangsläufig wieder in diese unbrauchbaren Unterscheidungen auseinander: »Die Wucht, Tiefe und Vielfarbigkeit der Heldenepik sind derart, daß sie nach Abklingen ihrer existentiellen Phase als Unterhaltung oder Erbauung mit oder 22
Ebd., 97. Eric A. Havelock, Als die Muse schreiben lernte (Frankfurt/Main 1992), 28. Zu demselben Ergebnis kommen Rosalind Thomas, Literacy and orality in ancient Greece (Cambridge 1992) und Ruth Finnegan, Oral poetry. Its nature , significance and social context (Cambridge 1977), 160-168. Zur Rolle der Schrift in der homerischen Gesellschaft vgl. Barry B. Powell, Homer and the Origin of the Greek Alphabet (Cambridge 1991), 187237. 23
24 C. M. Bowra, From Virgil to Milton (London 1961), 2 f. Ganz ähnlich argumentiert auch: J. B. Hainsworth, The Idea of Epic (Oxford 1991). Einen Überblick bietet u. a.: Edward R. Haymes, Das mündliche Epos. Eine Einführung in die >Oral Poetry< Forschung (Stuttgart 1977). Die neueste amerikanische Forschung verläßt diesen Weg der >oral poetryIliad< (Ithaca/N.Y. 1989). Dazu der instruktive Beitrag »Epic as Genre« von G. Nagy, in dem einen Querschnitt dieser neuesten Forschung bietenden Sammelband: M. Beissinger, J. Tylus und S. Wofford (Hg.), Epic Traditions in the Contemporary World. The Poetics of Community (Berkeley 1999), 21-32.
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ohne Hilfe der Schrift weiterleben kann.« 2 5 So weicht schließlich das, was man sich unter einer rhapsodischen Urszene vorstellt, bis heute kaum von den an blinden Sängern und keltischen Barden orientierten Projektionen des 18. Jahrhunderts ab: »Gen H i m m e l schauend greift, i m Volksgedränge, / Der Barde fromm in seine Saiten ein.« 2 6
II. Diese sich periodisch erneuernde Projektion von Medienidyllen als Entstehungsort der Epen w i r d durch die poetologische Unterscheidung von Gebrauchskunst und >echter< Literatur oder >Dichtung< nur scheinbar unterbrochen: »Schon i n klassischer Zeit«, schreibt U v o Hölscher in seiner grundlegenden Studie zur Odyssee, »sind Ilias und Odyssee Literatur, in dem Sinne, daß sie von ihrer rhapsodischen Praxis abgelöste Kunstwerke geworden sind« 2 7 , und meidet so das idyllische Arrangement. Was aber sind »die Kriterien solcher Literarisierung?« 28 , lautet die zentrale Anschlußfrage. »Wenigstens eines ist dies«, antwortet Hölscher, »daß eine Gesellschaft sich in einer Dichtung wiedererkennt. Von Ilias und Odyssee, von Gestalt und Schicksal Achills und Odysseus' müssen früh starke Eindrücke auf die Nation gewirkt haben, gleichsam Angebote, sich mit ihnen zu identifizieren.« 29 Es ist hier ein erster identifikatorischer Schub in der politischen Gemeinschaft, der den Kunstcharakter anzeigt. Wie aber darf und kann eine >Identifikation< wiederum nur wirken? Ist sie politischer Ansporn zu kriegerischen Taten oder >bloße< Unterhaltung ohne unmittelbare Haftung i n der (vermuteten) politischen Wirklichkeit? Die Frage, ob das Kollektiv einer Sippe, eines Volkes oder eines Staates, das, was es zu sein bemüht ist, allererst den Texten, die diese soziologischen Fiktionen begründen und weiterreichen, entnimmt, oder ob Texte, mit denen es in Verbindung gebracht w i r d und werden möchte, nur (noch) seine Strukturen nachzeichnen, ist in allen damit befaßten Fächern umstritten und läuft schließlich auf die (pauschale und weitgehend ungeklärte) Frage nach dem Status und der Wirkungsweise der Texte in kleinen und großen, alten und modernen Gesellschaften hinaus. 25 Arthur T. Hatto, Eine allgemeine Theorie der Heldenepik, a. a. O , 19. Den Grund für die Aporie benennt Hatto selbst: »Der Sekundärepik fehlt die mündliche Stufe. Bei ihr sind >mündliche< Merkmale rein analogisch« (35). 26 [Motto] Heinrich von Kleist, Prinz Friedrich von Homburg (1821). 27
Uvo Hölscher, Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Roman (München 1990),
39. 28 29
Ebd. Ebd.
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Homers Ilias entstand mit einiger Sicherheit in der ersten Hälfte des achten vorchristlichen Jahrhunderts. Es ist nicht leicht zu entscheiden, ob es sich bei diesem >ersten< Text der abendländischen Kultur u m die mythologisch verschlüsselte Schilderung einer zeitgenössischen Adelsgesellschaft handelt, der auch der >Sänger< (Aoide) Homer angehörte, oder ob tatsächlich die längst vergangene »mykenische Welt der Bronzezeit besungen« 30 wird. Welches identifikatorische Potential aber eine Vermischung dieser Hintergründe noch erlaubt, ist angesichts von versprengten, d. h. autarken Höfen und Gesellschaften, die ihre Privilegien genealogisch rechtfertigten und gerade gegenüber dem späteren Kollektivsubjekt des (>einfachenasiatischer< Perspektive geschilderten Krieg u m Troia. Die neueste Forschung beschreibt Homer vorsichtiger als A n gehörigen einer ionisch-griechischen Kolonisatorenoberschicht in Kleinasien (Smyrna). Der Troia-Stoff stammt danach aus der viel älteren mykenischen Uberlieferung einer mit der griechischen Expansion ebenfalls nach Kleinasien ausgreifenden professionellen Sängergilde oder -praxis. 3 2 Das sagenhafte Wilusa oder Ilion w i r d dann von Homer »mit den Augen ausländischer Feinde« 3 3 gesehen. Die Frage, ob der schließlich i m 8. Jahrhundert v. Chr. von Homer verschriftlichte und >geheftelte< 34 Text - unabhängig von der Frage nach der historischen Substanz der geschilderten Ereignisse des »Trojanischen Krieges< schließlich als Wertekatalog einer dezentralisierten kriegerischen Oberschicht fungiert oder als früheste >Dichtung< zum ersten Mal von der üblichen Sänger30
Michael Siebler, Troia. Mythos und Wirklichkeit (Stuttgart 2001), 13. Rudolf Borchardt, »Grundriss zu Epilegomena zu Homeros und Homer« (1944), in: ders., Gesammelte Werke in Einzelbänden. Prosa II (Stuttgart 1992), 7-108, hier 36. Borchardt vertritt in seinem unvollendeten Ilias-Buch die These, daß Homers Leistung nicht aus der »dichterisch-künstlerischen Einzigkeit, sondern der >politischen< Funktion der Ilias resultiert«. Diese bestehe in der »Umstimmung des spielmännisch populärsten heroisch-mythischen Zyklus der Landschaft auf die politischen Parolen der Epoche« (29). 31
32
Vgl. Joachim Latacz, Troia und Homer. Der Weg zur Lösung eines alten Rätsels (München, Berlin 2001), 182. 33 Ebd., 204. 34 So lautet eine seit dem 18. Jahrhundert gebräuchliche, auf die Entstehungsbedingungen zielende Übersetzung des >RhapsodischenpsychologischeVolckGesindeJ >RotteHauffen< oder >PöbelZeitung< 37 oder eines informativen >Frieses< (Borchardt) zukam. Diejenige Beziehung von Epos und Nation, die noch Hölscher i m Falle der Odyssee andeutet, bleibt damit dem 17. und 18. Jahrhundert als der Geburtsstunde der >Nationen< vorbehalten, denn >Identifikation< ist ein Programm, das der Literatur nicht von Anfang an zur Verfügung steht, »und zwar insofern, als die Identifizierbarkeit offenbar schon eine bestimmte Auffassung des Problems der Individualität bedeutet«. 38 Setzt man voraus, daß eine individuelle Identifikation an Fiktionsbewußtsein, eine bestimmte Literatur, ihre drucktechnische Verbreitung und einen bestimmten Lesertypus gebunden ist, liegt die Uberlegung nahe, daß auch >Nationen< »imagined communities« 3 9 sind und »dazu passende Epiphanieerlebnisse« 40 brauchen, die eben solche Literatur und ihre 35 Vgl. Magdalene Stoevesandt, »Der Mythos vom Trojanischen Krieg im Spiegel der >Iliasdichterische< Überhöhung und Verstärkung jener militärischen Mobilmachung der bürgerlichen Gesellschaft, die mit den preußischen Militärreformen und den Befreiungskriegen schon ihren (vorläufigen) Abschluß gefunden hat. Wenn der Autor »seinen Adressaten nicht über sich sucht, sondern um sich herum; wenn er nicht den einzelnen, sondern kollektives Verhalten anspricht dann verläßt er das Feld der Preis- und Gelegenheitspoesie und mischt sich ein.« Dazu: Heinrich Bosse, »Klopstocks >Kriegslied< (1749). Militärische Poesiepolitik im 18. Jahrhundert«, Jahrbuch des freien Deutschen Hochstifts (2000), 50-84, hier 68.
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halbwegs fiktionsgeschulten Leser zur Voraussetzung haben, wie Benedict Anderson gezeigt hat. III. Der Versuch der Rückbindung eines Kollektivs an exponierte Texte, d. h. die Verbindlich- oder auch nur Wahrscheinlichmachung einer bestimmten Rezeption eines bestimmten Textes ist bei der Entstehung von Dichtung nicht nur weil man keine Lesergemeinschaft voraussetzen kann, selbst wenn die Epen als Texte vorliegen - unwahrscheinlich und problematisch. 41 Diese Schwierigkeit holt auch Hölschers Argumentation ein. Ist man doch laut Hölscher scheinbar immer gerade an jenem Punkt, »wo Dichtung noch an die Formen und Gelegenheiten des geselligen Lebens gebunden ist, aber schon die Gelegenheit transzendiert und i m Begriffe ist, reine Kunst zu werden.« 4 2 Was aber sind die Struktur und der O r t einer solchen wiederkehrenden Gelegenheit ( occasion) 43 jener Transzendierung des noch Geselligen zur Kunstf Die Schrift hat sich - je mehr man i n der Gegenwart die Wunschvorstellung einer rekonstruierbaren spontanen mündlichen und vor-künstlerischen Kommunikation aufgab - als Existenzbedingung mythischer oder >mythosanaloger< (Lugowski) Stoffe immer weiträumiger in das Blickfeld der Kulturwissenschaften vorgeschoben. Ein Beharren auf spontanen epischen oder mythischen »Grundsituationen« setzt dagegen immer mit der Beschreibung eines Verlustes oder Defizits ein, u m das Verlorene schließlich in stilisierten nahräumlichen Arrangements - den typologisch noch kaum erschlossenen Medienidyllen 44 - aufzufangen. Diesem Vorgehen können sich auch Lugowskis Studien zur inneren Struktur der frühen deutschen Prosaerzählung - so der Untertitel seiner Dissertation von 1932 41
Auch wenn es sich gelegentlich in der Forschungsliteratur anders anhört: »The oral poet-performer [ . . . ] and his audience, which is effectively the whole Community, are one.« (usw.). J. B. Hainsworth, The Idea of Epic y a. a. O., 6. 42 Uvo Hölscher, Die Odyssee , a. a. O., 38. 43 Vgl. Anm. 24. Jan-Dirk Müller versucht mehrfach eine differenzierte Betrachtung des Wechsels (und seiner Konsequenzen für die Texte selbst) von der »gemeinschaftlichen Rezeption volkssprachlicher Epik« im Mittelalter zur »privaten Absonderung des Lesers« mit den Prosen des 16. Jahrhunderts. Vgl. ders., »Held und Gemeinschaftserfahrung. Aspekte der Gattungstransformation im frühen deutschen Prosaroman am Beispiel des >Hug SchaplerVon Guten und Bösen NachbarnErster Text< und >Ursprungsvolk< fallen - nicht nur bei Lugowski - so zusammen: Wie es nun überhaupt der gemeinsame Blick auf den Mythos war, der die Gemeinsamkeit des griechischen Volkes erst schuf, so ist es im besonderen der heroisch-mythische Stoff an der attischen Tragödie, in dem vor der Dichtung der Grieche mit dem Griechen seine Heimat findet und die griechische Gemeinsamkeit wahrhaft gegründet ist. 50 45
Clemens Lugowski, Die Form der Individualität im Roman, a. a. O , 9. Jan-Dirk Müller und Heinz Schlaffer bemühen sich seit einiger Zeit um das Werk Lugowskis. Vgl. u. a. die Beiträge in dem Sammelband Matias Martinez (Hg.), Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen (Paderborn 1996). 47 Clemens Lugowski, Die Form der Individualität im Roman, a. a. O , 8. Vgl. auch Lugowskis Ausführungen zu den isländischen Sagas in: ders, Wirklichkeit und Dichtung. Untersuchungen zur Wirklichkeitsauffassung Heinrich von Kleists (Frankfurt/Main 1936), 96-136, hier 110. 48 Vgl. Victor Turner, »Das Liminale und das Liminoide in Spiel, >Fluß< und Ritual. Ein Essay zur vergleichenden Symbologie«, in: ders. Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels (Frankfurt/Main 1995; 1982), 28-94, hier 75. 49 Inge Baxmann schreibt über den Tanz als ein anderes medienidyllisches Arrangement (der 1920er Jahre) und die mit ihm verbundene »Erfahrung über synästhetische Kommunikation hergestellter Communitas«. Vgl. I. Baxmann, Mythos: Gemeinschaft. Körperund Tanzkulturen in der Moderne (München 2000), 256. 46
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Auch die gegenwärtige Forschung beheimatet noch Völker i n >ersten< Texten. Aaron Gurjewitsch schreibt über die isländischen Sagas: »Die Saga [ . . . ] ist weder Geschichte noch Roman. Lebendigkeit und Dramatik der Erzählung sind nicht Ergebnis eines wohlüberlegten künstlerischen Willens und schriftstellerischen Handwerks, sondern direkter Ausdruck des Bewußtseins und Erlebens der Isländer in der Entstehungszeit der Sagas.«51 Der »gemeinsame Blick auf den Mythos< 5 2 als Urszene einer Gemeinschaft ist aber nur als Metapher lesbar. Dieser (einmalige) Blick einer illiteraten Gesellschaft auf einen nicht-existenten Text gibt die Rolle von Texten für Gemeinschaftsbildungen lediglich spiegelverkehrt wieder, wie Benedict Anderson zeigt: Menschen, die die verschiedensten [ . . . ] Idiome gebrauchten und darum nur schwer oder gar nicht miteinander reden konnten, vermochten sich nun mit Hilfe von Buchdruck und Papier zu verständigen. In diesem Prozeß wurden sie allmählich der Hunderttausende, ja Millionen Menschen in ihrem eigenen Sprachbereich gewahr - und gleichzeitig der Tatsache, daß ausschließlich jene Hunderttausende oder Millionen dazu gehörten. Diese Mit-Leser, mit denen sie über den Buchdruck verbunden waren, bildeten in ihrer besonderen, diesseitigen und >ersichtlichen< Unsichtbarkeit den Beginn der national vorgestellten Gemeinschaft, 53 Lugowski und Gurjewitsch wiederholen an dieser Stelle eine zentrale kulturkritische Operation aus der Mitte des 18. Jahrhunderts: 54 Von der (so immer schon) defizitären, weil aufgezeichneten Vergangenheit aus w i r d der Faden 50
Clemens Lugowski, Die Form der Individualität im Roman, a. a. O , 8 f. Dieses Arrangement ist beileibe nicht so fern und entrückt, wie der Rekurs auf die griechische Antike es nahelegt. Auch die Mediendiskurse der zwanziger Jahre bleiben dieser Selbstbeschreibung treu, wie (erneut) Inge Baxmann - Ricciotto Canudo zitierend - gezeigt hat: »Der Kinosaal wird zum modernen Amphitheater« [I. Baxmann, Mythos: Gemeinschaft, a. a. O , 168]. 51 Aaron J. Gurjewitsch, »Zeit, Schicksal, Mythos und Geschichte in der Saga«, in: ders, Stumme Zeugen des Mittelalters. Weltbild und Kultur der einfachen Menschen (Frankfurt/Main 2000; 1990), 79-128, hier 80. 52 Joseph Vogl schildert diesen »gemeinsamen Blick< als politisches Paradoxon der >identitären Repräsentation (in Anlehnung an und Auseinandersetzung mit Rousseau und Schmitt): »Das versammelte Volk vertritt sich selbst, indem es jede Vertretung auflöst, und die Homogenität der Gemeinschaft, des Volkes oder der wahren Republik bemißt sich an der Fähigkeit, ihre eigene Urszene [ . . . ] zu vergegenwärtigen.« J. Vogl, »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen (Frankfurt / Main 1994), 7-27, hier 9. 53 Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation, a. a. O , 45. Vgl. auch Andreas Gardt, »Nation und Sprache in der Zeit der Aufklärung«, in: ders. (Hg.), Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart (Berlin, New York 2000), 169-198. 54 Vgl. Verf., Art. »Kulturkritik«, in: Ansgar Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze - Personen - Grundbegriffe, 2. überarb. u. erw. Aufl. (Stuttgart, Weimar 2001), 347 f.
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einer Verfallsgeschichte bis zur Gegenwart gesponnen, die es wiederum zu beenden gilt, u m diese Gegenwart korrektiv an jenen intakten, aber i n seiner substantiellen Intaktheit nicht dokumentierbaren Beginn zu binden: »Später wandelt sich dieses Verhältnis, der Kreis des heroischen Mythos, der die Gemeinschaft schuf, verliert seine Geschlossenheit, löst sich auf.« 55 N i m m t man die Macht eines solchen, Strukturen prägenden Topos ernst, muß man mit jener Fiktion einer (sich wiederholenden) rhapsodischen Urszene notgedrungen auch die Vorstellung einer rekonstruierbaren kollektiven Rezeption aufgeben, und stattdessen die Differenz von Epos und Roman als Differenz der Imagination und Imaginationssteuerung formulieren. Die Mediävistik hat die Konsequenzen mehrfach gezogen: Wo sich mit dem >Buchepos< (Müller) und einer sich entfaltenden laikalen Lesekultur bzw. avancierterer Buchherstellungstechnik die Möglichkeit privater Lektüre und einer >rekursiven Erzählsyntax< 56 entwickelt, kann man keine kollektiv-mündlichen, sondern nur noch sozial-schriftliche (A. H a h n 5 7 ) Ordnungen, d. h. Formen >imaginierter< und inszenierter Gemeinschaft rekonstruieren. Es sind dann der moderne Roman und das ihn transportierende >Journalbürgerlichen< Schichten des 18. Jahrhunderts zu beginnen.« 94
95 96
Voltaire, Versuch über die epische Dichtkunst, a.. a. O , 12. Paul Goodman, Percival Goodman, Communitas, a. a. O , 132 f.
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Imaginationspotential, das ein modernes Eposprogramm, das die >Alten< adressiert, aus dieser sehr irdischen Konkurrenz zur Vorstellung einer eigenen verbindlichen, umfassenden (konnektiven) Lektüre zurücktransformieren möchte. Sich in Übereinstimmung (bzw. i n Konkurrenz) mit dem in einer exemplarischen Schrift verkörperten Geist seines oder eines Volkes zu bringen, ohne dessen geschichtsphilosophisch gebundene, als »vergangen« markierte Stellung zu vernachlässigen, ist allerdings ebenfalls ein moderner A k t : Vom Leser / Zuschauer w i r d »geschultes (und doch nicht: bewußt gehandhabtes) Unterscheidungsvermögen< (Luhmann) verlangt. Es w i r d nicht nur möglich, »anders als i m eigenen Leben, Anfang und Ende (zu) beobachten«, es darf auch »in der Unterhaltung, gerade wenn die Geschichte als fiktiv erzählt wird, nicht schlechthin alles fiktiv sein.« 97 Die Erzählungen (und ihre Rezeption) setzen nach Niklas Luhmann «Subjekte voraus - als fiktionale Identitäten, die die Einheit der erzählten Geschichte erzeugen und zugleich einen Übersprung zur (ebenfalls konstruierten) personalen Identität der Zuschauers ermöglichen. Dieser kann die Charaktere der Erzählung mit sich selbst vergleichen.« 98 Diese Emanzipation der ursprünglich in einer lockeren Reihe plazierten, nun zur gerundeten Einzelerzählung ausgebauten Episode - die schon Schelling als Gegenpol des Epos beschreibt 99 - erfaßt spätestens i m 19. Jahrhundert auch die Darstellung der Kollektivgeschichte. Walter Scotts erfolgreicher historischer Roman Waverley aus dem Jahr 1812 gruppiert die Archivalien so u m seinen offensichtlich >unbürgerlichen< und >vergangenen< Helden, daß der Roman nicht mehr als entwicklungsgeschichtliches, psychologisch plausibles Paralleluniversum des >aufsteigenden< (oder >scheiterndenalles< beschrieben wird, beschreibt Schelling als Konstituenten des Epos, dessen Prototyp wiederum Homers Ilias darstellt. F. W. J. Schelling, Philosophie der Kunst, 294 f., zit. n. Gerhard Plumpe, Ästhetische Kommunikation der Moderne, 2 Bde. (Opladen 1993), Bd. 1, 204 f. (Vgl. hier insgesamt das Kap.: »Schellings Philosophie der Dichtung«, ebd., 194-211). Außerdem schon Voltaire, Versuch über die epische Dichtkunst, a. a. O., 16. 98
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beliebigen >individuellen< Protagonisten nachträglich oder projektiv motivieren und somit jede Communitas als imaginär, als »a set of overlapping, unprogrammable connections and analogies w i t h i n the strictly delimited frame of the w o r k itself« 1 0 0 analysieren kann. Das Epos-Programm w i r d an diesem kritischen Punkt als Chance genutzt, den sich pluralisierenden imaginären Communitäten eine erneute Verbindlichkeit zu verleihen. Clemens Lugowskis Analyse der isländischen Sagas richtet sich folgerichtig i m Kern genau gegen diesen modernen Begriff der »Wahrscheinlichkeit, u m ihre (angeblich der Moderne überlegene) besondere Qualität erneut hervorzuheben: »So besitzen diese erzählten Geschehnisse in sich selbst die Würde des Wirklichen, ohne daß es notwendig wäre, die Tatsächlichkeit des einzelnen durch Motivation wahrscheinlich zu machen.« 1 0 1 Die i m romanspezifischen Aufbau komplexer Individualitäten optimierte manipulative Kraft des Mediums Literatur (>ImaginationSitteGesetzGeschichteGeschlecht< oder >Glaube< neu gegründet werden. Uber die Romane Walter Scotts merkt Adalbert Stifter deshalb in einem Brief an Heckenast an, daß ihm die am besten gefallen, in denen das Völkerleben in breiteren Massen auftritt wie z. B. in den >PresbiterianernMichael Kohlhaas< (1810)«, Kleist-Jahrbuch (2000), 161 -179.
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zungen des Völkerlebens sind Verklärungen dieses Gesezes. [ . . . ] Es scheint mir daher in historischen Romanen die Geschichte die Hauptsache und die einzelnen Menschen die Nebensache [ . . . ] Darum steht mir das Epos viel höher als das Drama, und der sogenannte historische Roman erscheint mir als das Epos in ungebundener Rede.102
VII. Das Epos des 18. Jahrhunderts steht so unweigerlich poetologisch und konstruktionstechnisch i m Kraftfeld zwischen der geschichtsphilosophisch organisierten historischen Erzählung von einem exemplarischen Kollektivsubjekt namens Volk oder Nation, welches sich explizit am Epos orientiert, 1 0 3 und dem >unterhaltenden< Roman als der hochgradig identifikationsfähigen Erzählung von einem psychologisch gesättigten, exemplarischen (mittleren) H e l d e n . 1 0 4 Beide Erzählungen haben die Form einer dramatisierbaren Verlaufsgeschichte i m Medium der etablierten >faktualen FiktionenVorrede< zu seiner Osnabrückischen Geschichte von 1768: »Wir können sodenn dieser Geschichte nicht allein die Einheit, den Gang und die Macht der Epopee geben, worin die Territorialhoheit und der Despotismus zuletzt die Stelle einer glücklichen oder unglücklichen Auflösung vertritt; sondern auch den Ursprung, den Fortgang und das unterschiedliche Verhältnis des Nationalcharakters unter allen Veränderungen mit weit mehrer Ordnung und Deutlichkeit entwickeln, als wenn wir bloß das Leben und die Bemühungen der Ärzte beschreiben, ohne des kranken Körpers zu gedenken« [Sämtliche Werke, Bd. 12/2 (Oldenburg, Hamburg 1965), 42-59, hier 48]. 104 Voltaire weist auf dieses Manko des Epos gegenüber dem Roman hin: »So oft zween Kriegsmänner in der Iliade kämpfen, geschiehet es, daß wir durch die Schilderung des Kampfs aufgeweckt werden, ja wir empfinden oft an unserer Seele einen Anfall der Wut, die sie belebet: Jedoch wir fühlen weder für den einen noch für den andern die mindeste Regung einer Furcht oder Hoffnung, und wir gleichen hierinn der Juno in der Eneide« [Voltaire, Versuch über die epische Dichtkunst, a. a. O , 15]. Henry Fielding, der sich in Amelia von 1751 so intelligent mit dem Epos-Ideal auseinandersetzt, betont in seinem epochemachenden (neuen) Roman Tom Jones: »Nun, die Kost, die wir hier bereitet haben, ist die menschliche Natur« [H. Fielding, Tom Jones. Die Geschichte eines Findlings (Leipzig 1963; 1749), 6]. Ganz ähnlich geht Johann Carl Wezel in Hermann und Ulrike vor, wenn er zwischen >Heldengedicht< und >Roman< unterscheidet: »Alles in jenem ist poetisch, alles muß in diesem menschlich [ . . . ] sein« Q. C. Wezel, Hermann und Ulrike (München 1919; 1780), Bd. 1, XLIV f.].
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agierenden Protagonisten auszubreiten: »Meine Führerschaft hört heute auf, w i r leben wieder jeder einzelne als ein einzelner Mann; aber w i r wollen i n Liebe und Treue einander gedenken, die gekämpft haben.« 1 0 5 Die Gemeinschaft muß durch diesen Protagonisten, der kein mittlerer H e l d ist, repräsentiert werden. Der Protagonist (und damit die ihn entwickelnde Erzählung) darf nicht durch den schrittweisen Aufbau psychischer Komplexität und einen offenen Ausgang (plot) die Aufmerksamkeit des Lesers absorbieren, muß aber andererseits genügend Individualität aufbauen, u m die Gemeinschaft, in die er >zurücktritteinmalig< agieren läßt, übernimmt der psychisch unterkomplexe H e l d des Epos eine seine Individualität wertmäßig übersteigende Rolle aus einem beschränkten Repertoire möglicher Rollen, die den Rahmen und die Aufgaben der Gemeinschaft zugleich definieren. Diese paradoxe Konstellation von Repräsentation und Teilhabe i m Bezug auf die Gemeinschaft läßt sich nie ganz auflösen: »>Ich will, daß dir keiner gleich istso weit die Augen blicken [ . . .].Wir sind einer wie der andere.«« 107 Gegenüber der geschichtsphilosophischen oder heilsgeschichtlichen Erzählung kann sich die Handlung nicht auf mehr oder weniger deutlich ausgewiesene schematische (z. B. dialektische) Vorgaben verlassen, die es bloß personell auszustaffieren gilt. Herders negative Charakteristik des Epos gibt die Probleme dieser Gattung vor dem Hintergrund der sich etablierenden episodischen Fiktion des Romans und der geschichtsphilosophischen Spekulation eindrucksvoll wieder: Es mußte also eine reine, grosse, ewige That seyn, zu welcher der geöffnete Himmel mitwirkte, der sich die ganze Hölle widersetzte. Daher, daß man in der politischen Geschichte, selbst bei grossen Begebenheiten, bei Gründung der Völker und Reiche z. B. so wenig Stoff zur Epopee fand. Kein Arthur, kein Heinrich, kein Beiisar bestand der hohen Anforderung, der Lagerung eines Himmels um ihn auf die Erde. Wohlbedächtig unterließ Pope seinen Brutus, Klopstock seinen Heinrich den Vogler; Hermann selbst bearbeitete er nur dramatisch, nicht episch.108 Was aber ist »diese Lagerung eines Himmels um ihn (den Protagonisten, H.C.) auf die Erde«? I m Epos geht es genau nicht u m die »Aufhebung einer 105
Adalbert Stifter, Witiko (München 1981; 1865-67), 637. Gilles Deleuze bestimmt dieses Handlungsschema als »S-A-S-FormelSich-vorstellen-können< bis zu einer (säkularisierten) Form der >Nachfolge< abdeckt, w i r d mit dem Politik, Poetik und Ethik erneut verschränkenden Programm des Epos zur wunschhaften Vorstellung der (Wieder-)>Eingliederung< in eine umfassendere Gemeinschaft gebändigt. Karl Vossler illustriert und bekräftigt diese Wunschvorstellung mit dem passenden Imperativ, der sich wiederum ganz und nur gegen die (längst etablierte) Romanlektüre konturieren kann. Der Stoff des Epos, behauptet er, ist »nicht neu, nicht spannend, nicht unterhaltsam [ . . . ] sondern i m allgemeinen vertraut [ . . . ] . Dichter und Publikum finden sich i m Stoff zusammen. >Sing uns vom Roland, unsrem Roland, die und die Geschichten« 1 1 0 Deutlich wird, daß sich diese Entwürfe einer diskursiven Absonderung der idealisierten Epos-Rezeption an einer perhorreszierten, doch längst normalen Roman-Lektüre ausrichten. Die >Gesinnung< des Epos ist in dieser polemischen Lesart immer »eine gemeinsame seelische Hochspannung [ . . . ] also das genaue Gegenteil von der Langeweile und Depression und Vereinzelung des Romanlesers.« 111
VIII. Die Erwartung einer gemeinsamen seelischen Hochspannung< hegt Karl Vossler gegen die (unter anderem von Benedict Anderson und Lennard J. Davis) analysierte Realität der bestehenden medialen und ökonomischen Bedingungen. Diese Vorstellung speist bekanntlich schon das empfindsame Programm des 18. Jahrhunderts. Bevor das poetologisch-politische Projekt des Epos unter den Bedingungen der i n diesem Jahrhundert lektüretechnisch emanzipierten >Imagination< zuende verfolgt wird, muß seine gattungsgeschichtliche Entwicklung zu den Bedingungen und Forderungen empfindsamer Kommunikation ins Verhältnis gesetzt werden, die bekanntlich vereinzelte Leser erneut 109 Zum Aufbau von romanspezifischer Komplexität merkt Luhmann an, daß man die »größeren Freiheiten fiktionaler Literatur« nutzen kann, »um Geschichten zu erzählen, die, obwohl fiktiv, dem Leser doch Rückschlüsse auf die ihm bekannte Welt und auf sein eigenes Leben ermöglichen; aber Rückschlüsse, die ihm, eben weil es sich um fiktionales Geschehen handelt, freigestellt sind. Dabei stützt sich das Angebot auf eine allgemeine Struktur, die als Aufhebung einer selbsterzeugten Ungewißheit über den Ausgang der Geschichte jeder Art von Unterhaltung zugrundeliegt.« Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, a. a. O , 104. 110 Karl Vossler, »Der Roman und das Epos«, a. a. O , 303 f. 111 Ebd., 304.
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zusammenzubringen vermochte. Richard A l e w y n etwa betont ausdrücklich »die gemeinschaftsbildende Wirkung, die von Klopstock ausging.« 112 H i n z u kommt eine Selbstinszenierung der Lektüre i m Buch seit Cervantes, die den Anschein erweckt, »als ob die Lektüre i n den eigenen vier Wanden den Brauch eines i n Gemeinschaft mitgeteilten Textes nicht aufheben sollte.« 1 1 3 N o c h und gerade die Gegenwart zeigt, wie - vor allen anderen Subjekten isolierte Medienuser den Suggestionen von spontaner Teilnahme, Präsenz und Gemeinschaft mit Einzelnen oder vielen erliegen und die Medien diese Bedürfnislage erhalten und ausbauen. >Empfindsamkeit< heißt also auch dieser nicht nur semantisch aufwendige Versuch, Einzel- wieder in Kollektivlektüren zu verwandeln. D o c h ein solcherart rezeptionszentrierter Beobachtungskontext von Literatur verwandelt alle Stoffe und Gattungen mittelfristig i n empfindsame Texte und läßt produktionsästhetische, gattungszentrierte Kriterien i n den Hintergrund treten. Die empfindsame Lektüre läßt Gattungsgrenzen i m Zeichen von Gefühl, Tränen und Visualisierungen verschwinden und entschärft so den politisch-programmatischen Gemeinschaftsbegriff. I n der Epostradition ließ sich der erbauliche Kontext nur noch bedingt von Miltons Paradise Lost auf Klopstocks Messias übertragen. Klopstocks Messias ist i m Gegensatz zu Miltons Held Lucifer ein Zeitgenosse des Romans. Der ökonomische Mißerfolg von Klopstocks Werk und seine sprichwörtlich gewordene >Langweiligkeit< 114 werden durch die sich gleichzeitig vollziehende Säkularisierung der Erbauung verursacht. Gerade die Romane rufen nun Rührung oder innere Bewegung effektiver und treffsicherer hervor als religiöse Texte, und so werden Roman und Epos in einem Atemzug genannt: »Ach, wenn ich in der Clarissa lese und i m Messias«, gestehen zwei zeitgenössische Klopstockverehrerinnen, »so bin ich außer m i r . « 1 1 5 Klopstocks Messias zieht deshalb auch nicht wirklich eine forcierte Produktion von Epen nach sich, sondern eine neue und kurzlebige Tradition biblischer Epik - Patriarchaden - , die doch ganz »unter dem Eindruck der klassischen Tradition entstanden« 116 . 112
Richard Alewyn, »Klopstocks Leser«, a. a. O., 112. Roger Chartier, »Muße und Geselligkeit«, in: ders., Lesewelten. Buch und Lektüre in der frühen Neuzeit (Frankfurt /Main 1990), 146-168, hier 149. 114 »Ohngeachtet des wilden Krähgeschreies über diese Sprache«, schreibt Herder über Klopstocks Erfolg, »währete der Eifer für dieselbe ein Viertheil-Jahrhundert und länger fort, bis, als der eilfte Gesang des Meßias, als die späteren lyrischen Gedichte, als Salomo, David, Hermann erschienen, in vielen dieser eifer ungeheuer erkaltet war« [Johann Gottfried Herder, Sämmtliche Werke y a. a. O., Bd. 24, 277]. 113
115 C.F. Cramer, Klopstock (Dessau 1781), 7. (Zit. n. Richard Alewyn, »Klopstocks Leser«, a. a. O., 121). 116 Jürgen Jacobs, »Das Verstummen der Muse. Zur Geschichte der epischen Dichtungsgattungen im XVIII. Jahrhundert«, Arcadia, 10 (1975), 129-146, hier 133.
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IX. Johann Gottfried Herders »Untersuchung vom Langweiligen, das die Epopee oft begleitet« 1 1 7 , disqualifiziert das alte, der Lehre von den Stilen geschuldete »wesentliche Erforderniß der Epopee, die Größe-habende Handlung« und die »ihr zukommende eigne, höhere Sprache«, mit dem Hinweis, daß sie »zu lang und zu breit war, als daß sie in O h r und Auge als ein Ganzes behalten werden konnte.« 1 1 8 Die >Epopee< verfällt der »Göttin Langweile« 1 1 9 , den »Schlummerkörnern i m Füllhorn der epischen Muse« 1 2 0 . Wenn der Leser außerdem »das Ende erwartet, und es immerdar - nicht k o m m t « 1 2 1 , wenn die Epopee bloß eine »Encyklopädie des Wißens« 1 2 2 liefert, dann langweilt sie, weil das Spannung verbürgende Lesetempo des Romans nicht gewährleistet ist. Inhaltliche Aspekte geraten in den Vordergrund, wenn der Gegenstand der Epopee die »Kreuzzüge«, die »Eroberungen Mexico's, Peru's« oder der »Aurakaner« 1 2 3 ist: »Wie verschoben mußte das Regelmaas des Rechts und der gemeinsten Billigkeit seyn«, empört sich Herder, »wenn man Handlungen der A r t als Großthaten des menschlichen Geschlechts epopöirte!« 1 2 4 Statt dessen ist, »was sich allein i m Werth erhält«, für Herder, »was innern Werth hat, was Menschlichkeit fühlte« 1 2 5 . M i t deutlichen Worten verabschiedet Herder die antiken Mythologeme und Götterhandlungen 1 2 6 und schließt dem Epos neue Stoffe auf, die genaugenommen von denen des Romans nicht mehr zu unterscheiden sind: »Wer in der Geschichte unsres und der vergangnen Jahrhunderte, i m aus- und einspringenden Strom menschlicher Begebenheiten und ihrer Charakter keinen Stoff zum Epos, kein lebendiges Wort findet, der thut wohl, wenn er die Welt mit Geschichten verschont, die nichts bedeuten.« 1 2 7 Bedeutung aber hat, was >innen< rührt, was den Gedankenflug nicht hemmt, was genügend Tempo erlaubt. 117
Johann Gottfried Herder, Sämmtliche Werke, a. a. O , Bd. 24, 284. Ebd. Vgl. auch Voltaire, Versuch über die epische Dichtkunst, a. a. O , 13: »Niemand widerspricht, daß die Iliade zu lang sey.« 119 Johann Gottfried Herder, Sämmtliche Werke, a. a. O , Bd. 24,285. 120 Ebd, 284. 121 Ebd. 122 Ebd, 286. 123 Ebd, 291. * 2 4 Ebd, 292. 125 Ebd, 288. 126 »In Kunst und Dichtkunst sind wir Einmal und immer keine Griechen mehr« (Ebd, 290). 127 Ebd, 300. 118
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Nachdem so i m Namen von Lebendigkeit, Gefühl, Menschlichkeit und Spannung alle Kennzeichen des Epos als höherer Stil- und Personaletage verabschiedet wurden, bleibt das Gebundene der Rede als letzte Hürde zum Roman, doch auch hier legt Herder wenig Dogmatismus an den Tag: Jambus, Hexameter, Stanze; in Cissides und Paches, im Meßias und Oberon zeigen sie, daß sie nur auf den Wink des Mächtigen warten. Der Epopee scheint das Silbenmaas das angenehmste, das bei der reichsten Mannigfaltigkeit an Abwechselungen den einförmigsten Tritt und Gang hat, mittels welches es uns wie fortzieht. Unlustig gehet sichs mit einem Sänger, der keinen Tritt hält; auch mit dem Epossänger giebt es ein böses Verkehr, der uns, wenn auch nur durch Fehler, in jeder Zeile an sein SyIbenmaas erinnert. Des Sylbenmaaßes wegen lesen wir nicht. 128
X. Das Epos vermag - nur gemessen an den mobilisierten Empfindungen - eine eigene Existenz nicht länger zu behaupten. Der empfindsame Roman kann es sich spielend als zitiertes (»Klopstock!« 1 2 9 ) Rührungsmaximum inkorporieren. Die gattungszentrierte Klassifizierung >Eposheroischen Romanerste Urkunde der Menschheit« - keine empirischen Werke mehr zuordnen kann: Das Feld der Epopee, wenn es dieses Namens werth seyn soll, fodert gleichsam die Mitwirkung der ganzen Natur, die ganze Ansicht der Welt zwischen Himmel und Erde, mithin auch die ganze Wissenschaft und Seele des Dichters. Im Herzen und Geist der Nation soll es ein Schauplatz des Weltalls, ein lebendiges Wort für Alle, in Allem werden: so ward es Homer, weil sein Gesang von Allem, was im Gesichtskreise seiner Nation lag, gleichsam die Krone erfaßte. So umfaßten Dante, Milton, Klopstock, jeder in seinem Gesichtskreise Himmel und Erde. 130 128
Ebd., 301. Johann Wolfgang Goethe, Die Leiden des jungen Werthers, in: ders., Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, 20 Bde, hg. Karl Richter (München, Wien 1985-1998), Bd. 1.2, 215. 129
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Johann Herder, Sämmtliche Werke, a. a. O., Bd. 24, 281. Die Zuordnung von Dante, Milton und Klopstock wird später eingeschränkt. Es bleibt bei Homer und hier nähert
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Das Epos w i r d hier - das macht Herders blumige Forderung nach einer »ganzen Ansicht der W e l t und »ganzer Wissenschaft deutlich - ein holistisches Programm für eine längst in teilautonome Funktionssegmente gegliederte Gesellschaft: »Menschlichkeit, >ErbauungNation< oder >Patriotismus< heißen längst diejenigen Programme, die es dem Epos wiederholt erlauben sollen, den romanspezifischen und damit gemeinhin modernitätsträchtigen systematischen Ausbau der Fiktion und die Einübung in ihre Handhabung zu blockieren und so die funktionale Autonomie i n eine communitäre Verbindlichkeit zurück zu verwandeln. Anstatt eine periodisch begehbare Sonderrealität zu schaffen, konzentriert sich das Epos-Programm darauf, die unkommunizierbare Gesamtgesellschaft als »Gemeinschaft aus dem heterogenen Bereich des Literatursystems heraus zu simulieren. Johann Gottfried Herders K r i t i k an Klopstocks Messias zeigt deutlich, wie alle negativen Zuschreibungen und Einschränkungen in Hinsicht auf das Ziel einer gemeinverbindlichen Dichtung immer nur die schon etablierte Realität des Literaturmarktes treffen, dessen Synonym der Roman ist: Warum mußte Klopstocks Gedicht mit so vielen Fabeln durchwebt seyn, die gar nicht zum Inhalt gehören, ihn gar nicht verstärken, sondern ewig zerstreuen, schwächen und bei jedem Schritt aus dem Lande des Poetischen Glaubens, den gewiß jedes ReligionsPoem fodert, uns auf den wankenden Boden eines geistlichen Romans versetzen? Das würdigste Gedicht Deutschlands wird also, falls nicht neue Barbarei einbräche, keiner Parthei je ein Volksgedicht werden, wie es auch nur Homer und Ariost gewesen.131 Das Epos ist hier selbst aus empfindsamer Perspektive von ständiger Kontamination durch das >Romanhafte< bedroht. Gerade die komplexen Konkurrenzverhältnisse des Literatursystems - »eine Bibliothek fliegender Blätter, Nachahmungen, Widerlegungen, Zusätze, Korrektionen« 1 3 2 - müssen deshalb sowohl politisch als auch medientechnisch verneint werden, u m >das Ganze< noch oder wieder adressieren zu können: »Ein Dichter ist Schöpfer eines Volkes u m sich«, behauptet erneut Herder, »er gibt ihnen eine Welt zu sehen und hat ihre Seelen in seiner Hand, sie dahin zu führen« 133, denn »wie der Magnet das Eisen, kann er Herzen an sich ziehen und wie der elektrische Funke allgegenwärtig durchdringt, allmächtig fortwandelt: so trifft auch sein Blitz, w o er w i l l , die Seele.« 134
sich die Utopie der Inhalts- und Gesichtskreistotalität wieder tautologisch dem paradigmatischen Fall der ersten Urkunde einer Nation. 131 Johann Gottfried Herder, »Ueber die Würkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten. Eine Preisschrift (1778)«, in: ders, Sämmtliche Werke, a. a. O , Bd. 8, 334-436, hier 430 f. 1 32 Ebd., 432. 133 Ebd., 433. 134 Ebd., 433 f. 16 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 43. Bd.
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Daß auch hinter dieser technisch avancierten Vision volksnaher »allgegenwärtiger« Dichtung der besonders an das Epos geknüpfte Wunsch endgültiger Medienlosigkeit und Unmittelbarkeit steht, überrascht wenig: Ihr Moses, Hiobs, Orpheus, Homere, erscheint wieder: werdet ihr eure Mitbrüder Deutschlands erkennen? werdet ihr in Deutschland gedruckte Dichter je werden? Wenn wahre Dichtkunst vor aller Schrift und nur vor derselben war: wie vielmehr war sie vor allem Druck, und vorm Druck unter solchen Umständen, in solchem Formate.
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Hier gehen Religion und Ethik, Politik und Poetik (bzw. Medientechnik) eine unwahrscheinliche Allianz ein: Was Peter Fuchs für den modernen Patriotismus beschreibt, gilt ganz genauso für das Programm des Epos i m 18. Jahrhundert, das sich gerade in dieser Allianz ansiedelt: Entscheidend ist, daß diese Teilöffentlichkeiten sich als Teile einer Öffentlichkeit trotz der Besonderheit der jeweils spezifischen Weltsicht gerieren, und diese Öffentlichkeit ist im wesentlichen die der Modernisierungselite des 18. Jahrhunderts. Für sie wird das Problem der Einheit des Ganzen spürbar, weil sie unentwegt mit differierenden Einschätzungen (Beschreibungen) des Ganzen aus Teilperspektiven konfrontiert wird. 1 3 6
XI. Die Chance des Epos und des eine unerreichbare Gesamtgesellschaft ansteuernden Gemeinschaftsbegriffs ist eine aufwendige Abgrenzung vom >imaginativen< Kraftfeld des Romans. Wie das Epos, das dergestalt ethische, politische und religiöse Versatzstücke i n seine Poetik reintegriert, deshalb auf panoramatische (räumliche) Arrangements setzt, belegt abschließend ein genauerer Blick auf die komplexen Zeit- und Beobachtungsverhältnisse unterschiedlicher Erzählmodelle. Was als »Gesang von Allem, was i m Gesichtskreise seiner N a t i o n lag« 1 3 7 , auftritt, muß inszeniert werden. Die Figuren werden i m Epos zu ornamentalen 1 3 8 , u m einen oder mehrere Helden gruppierten Ensembles geordnet, Ebd., 429. Peter Fuchs, Die Erreichbarkeit der Gesellschaft. Zur Konstruktion und Imagination gesellschaftlicher Einheit (Frankfurt/Main 1992), 151 f. 137 Johann Gottfried Herder, Sämmtliche Werke, a. a. O., Bd. 24,281. 138 Dazu die Anmerkungen N. Luhmanns zum »Ornamentalen«: »Das Ornamentale dient direkt der Organisation von Raum und Zeit, der Füllung dieser Medien mit Redundanz und Varietät. Ornamente setzen einen durch sie selbst definierten und gleichsam von innen geschlossenen Raum voraus; und Entsprechendes gilt für die Ornamentalisierung von Zeit (etwa im Tanz oder im Aufbau oder Abbau von Spannung in einer Erzählung). [ . . . ] Dagegen setzt die repräsentierende Kunst zunächst einmal die Erzeugung eines imaginären Raums oder einer imaginären Zeit voraus, um damit größere Freiheiten zu haben, 136
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statt daß wenige Protagonisten mit schrittweise ausgebauter, identifikationsfähiger psychischer Komplexität ausgestattet werden. Die den Verhältnissen des Romans entspringende »Gleichzeitigkeit w i r d mit dem Rekurs auf eine >gröbere< Naturzeit beantwortet, u m sich von der episodischen Sonderrealität des Romans abzukoppeln. Der Geschlossenheit der Episode setzt das Epos das Zurückreichen des Erzählten in eine unbestimmbare, unscharfe Vorzeit entgegen. Hierbei w i r d offensichtlich ein älteres Modell von Zeit mit der neueren »Gleichzeitigkeit des Romans konfrontiert. Daß es sich aber bei dem älteren >epischen< Zeitmodell nicht u m eine einfachere und unumgängliche Kopplung des Erzählens mit einer tatsächlichen Naturzeit handelt, hat Aaron Gurjewitsch i m Rückgriff auf Bachtins Begriff des >Chronotopos< 139 an jenem Beispiel des Nibelungenliedes nachgewiesen. Einerseits gibt es i m Epos einen Zwang zur »linearen Folgerichtigkeit« des Geschehens, insofern »zwei Ereignisse nicht gleichzeitig an verschiedenen Orten stattfinden können«, sondern immer »aufeinanderfolgen müssen«. 140 Andererseits ist dieser Zeitstrom nicht Teil einer homogenen Zeit, sondern »unstetig« und »diskontinuierlich«. I m Epos existiert die »Zeit, die nicht Gegenstand der Beschreibung ist, nicht real, sie w i r d quasi ausgeschaltet oder angehalten.« 141 Die Konsequenz dieser Zeitstruktur aber ist nicht einfach eine Verarmung, bzw. eine A r m u t gegenüber den neuzeitlichen Erzählverhältnissen. »Das Epos mit (unserer Vorstellung von, H.C.) Geschichte zu verknüpfen«, schreibt Gurjewitsch, ist nur »eine wenig produktive Aufgabe. Eine andere Sache ist, daß für die Menschen i m Mittelalter das epische Lied wahre Geschichte gewesen sein kann«, denn »den epischen Poeten kostet es keine Überwindung, Leute zusammenzuführen, die in Wirklichkeit zu unterschiedlichen Zeiten gelebt haben.« 1 4 2 Für das Nibelungenlied stellt Gurjewitsch schließlich fest, daß auch hier »die Interpretation der Zeit zum eigentlichen Wesen der Konzeption des gesamten deutschen Epos gehört« 1 4 3 , indem w i r »drei Zeitschichten vor uns« haben: »die außerzeitliche märchenhafte Urzeit, die Heldenepoche der Völkerwanderung und die (zeitgenössische, H.C.) Gegenwart.« 1 4 4 Alle Konflikte werden so refordies selbstgeschaffene Medium sowohl repräsentierend als auch ornamental zu nutzen.« ders. Die Kunst der Gesellschaft, a. a. O , 185. 139 Vgl. insgesamt Michail Bachtin, Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik (Frankfurt/Main 1989; 1975). 140 Aaron J. Gurjewitsch, »Das >Chronotopos< des >NibelungenliedsChronotopoiRomanRunde< stark eingeschränkt. Das Epos, das i m Falle Stifters schon ganz selbstverständlich i n Prosa gefaßt ist, verweigert sich strukturell (chronometrisch) einer Leistung des (in diesem Fall historischen) Romans, u m eine andere Leistung zu erbringen. Niklas Luhmann beschreibt die vom Epos damit alternativ behandelte Situation seit dem 18. Jahrhundert, welches den Roman und das Journal gleichzeitig hervorbrachte: Die tradierten Zeitvorstellungen deformieren sich unter dem Druck der Notwendigkeit, dem massenhaft auftretenden Neuen und dem wachsenden Bedarf für Entscheidungen Rechnung zu tragen; es muß mehr Verschiedenartiges in der Zeit untergebracht werden. [ . . . ] Der Roman des 18. und 19. Jahrhunderts und alle von ihm abstammenden Formen der Unterhaltung wählen das Unbekanntsein der Zukunft als Prinzip der Textorganisation - aber mit Aussicht, wenn nicht auf Erlösung, dann doch auf Auflösung der Spannung im selben Text. 150 Der bewußte Rückgriff auf ältere, d. h. alternative Zeitvorstellungen ermöglicht eine andere Ökonomie der Neuigkeiten oder Informationen. Die Gemeinschaft als programmatisches Ordnungs- und Strukturierungsprinzip des Epos agiert akklamatorisch 151, gegen die »Freigabe von K o m m u n i k a t i o n ^ 1 5 2 Bekanntes und Bekanntgegebenes w i r d bestätigt, weil das Epos gegen den auf Uberraschung zielenden (und diese schließlich auflösenden) polyperspektivischen Komplexitätsaufbau des Romans nur die Bestätigung einer längst lancierten, als gültig ausgezeichneten Information (einer Weisheit also) stark machen k a n n . 1 5 3 150 Besonders wichtig dazu das Kapitel >Temporalisierungen< in: Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde (Frankfurt/Main 1999), Bd. 2, 997-1016, hier 1007. Vgl. auch die ältere Schrift Erich Köhlers Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit von 1973. 151 »Der Wille des Volkes kann durch Zuruf, durch acclamatio, durch selbstverständliches, unwidersprochenes Dasein ebensogut und noch besser demokratisch geäußert werden als durch den statistischen Apparat, den man seit einem halben Jahrhundert mit einer so minutiösen Sorgfalt ausgebildet hat.« Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 5. Aufl. (Berlin 1979; 1923), 22. 152 Vgl. Torsten Hahn, Fluchtlinien des Politischen, unveröffentl. Typoskript (Köln 2000), 65-101. Der Begriff der »Gemeinschaft ist im Kern eine semantische Konstruktion von Idealkommunikation des 18. Jahrhunderts. Otto Brunners Hinweis, daß es sich bei »Gemeinschaft um einen zentralen Terminus aus Friedrich Gentz' Übertragung von Edmund Burkes Keflections on the Revolution in France, and on the proceedings in certain societies in London relative to that event (1790) handelt, stützt diesen Befund. Gentz' Übertragung aus dem Jahr 1793 (Bemerkungen über die französische Revoluzion und das Betragen einiger Gesellschaften in London bey diesen Ereignissen), die »partnership< zu »Gemeinschaft macht, wird in der Folgezeit von Adam Müller verstärkt in Umlauf gebracht. [Vgl. Otto Brunner, »Das »Ganze Haus< und die alteuropäische »OkonomikGedächtnis< bezeichnet in der Regel den Vorrat oder Speicher an Wissen über Vergangenheit, >Erinnerung< den Akt der Vergegenwärtigung. 2 »Kulturelle Erinnerung< ist der Terminus, den ich im folgenden verwenden werde, wenn ich, ohne auf Einzelkonzepte und deren spezifische Begrifflichkeiten einzugehen, von kulturwissenschaftlichen Konzeptualisierungen der Verbindung von Kultur und Gedächtnis bzw. Erinnerung spreche. 3 Stellvertretend für viele andere Schriften zur kulturellen Erinnerung seien hier genannt: Mary Carruthers, »The Book of Memory « - A Study of Memory in Medieval Culture (Cambridge 1990); David Middleton und Derek Ewards (Hg.), Collective Remembering (London 1990); Siegfried J. Schmidt (Hg.), Gedächtnis. Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung (Frankfurt a.M. 1991); darin vor allem den Aufsatz von Peter M. Hejl, »Wie Gesellschaften Erfahrungen machen oder: Was Gesellschaftstheorie zum Verständnis des Gedächtnisproblems beitragen kann«, 293-336; Anselm Haverkamp und Renate Lachmann (Hg.), Memoria. Vergessen und Erinnern (München 1993); Otto Gerhard Oexle (Hg.), Memoria als Kultur (Göttingen 1995); Jörg Jochen Berns und Wolfgang Neuber (Hg.), Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung der Gedächtniskunst 1400-1750 (Tübingen 1996); Harald Weinrich, »Lethe«. Kunst und
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ist dabei der Versuch, einen Beitrag zur Kernproblematik kulturwissenschaftlicher Forschung zu leisten: Es geht u m Fragen nach Inhalten, Funktionsweisen und Aufgaben gesellschaftlicher Sinndeutungen und Selbstbeschreibungen. Die dabei verwandte Terminologie variiert allerdings erheblich. I m Kontext der kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Erinnerung und Gedächtnis stößt man auf Ausdrücke wie Oral History , memoria , cultural memory , »soziales Gedächtnis«, mémoire collective , lieux de mémoire , »Tradition« oder »kulturelles Gedächtnis«. Die mit ihnen verbundenen semantischen Füllungen sowie die Strukturen der jeweiligen Begriffsfelder ähneln sich zwar in einigen Punkten, sind aber nicht ohne weiteres vereinbar. Z u den wichtigsten Vertretern der Forschung zur kulturellen Erinnerung sind Jan und Aleida Assmann zu zählen, deren Begriff »kulturelles Gedächtnis« viel Beachtung gefunden hat und i m deutschen Sprachraum aus der kulturwissenschaftlichen Diskussion nicht mehr wegzudenken ist. Angesichts der allgemeinen Virulenz der Erinnerungsproblematik stellte Jan Assmann i m Vorwort zu seinem 1992 erschienenen Buch Das kulturelle Gedächtnis fest: »»Alles spricht dafür, daß sich u m den Begriff der Erinnerung ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften aufbaut, das die verschiedenen kulturellen Phänomene und Felder - Kunst und Literatur, Politik und Gesellschaft, Religion und Recht - in neuen Zusammenhängen sehen läßt.« 4 Literatur, das ist auch Jan Assmanns Aussage zu entnehmen, stellt eines der zentralen Symbolsysteme der Kultur dar. Doch obgleich Konsens darüber herrscht, daß daher die Literaturwissenschaft zu den Kulturwissenschaften zu rechnen ist, findet das neue Paradigma des kulturellen Gedächtnisses hier noch zu wenig Beachtung. Zwar liegen Analysen zur Bedeutung kultureller Erinnerung i n ausgewählten Epochen oder in den Werken einzelner Autoren vor. 5 Versuche, die Erkenntnisse der Forschung zum kulturellen Gedächtnis i n einen umfassenden literaturwissenschaftlichen Theorieentwurf zu integrieren, sind Kritik des Vergessens (München 1997); Mieke Bai, Jonathan Crewe und Leo Spitzer (Hg.), Acts of Memory: Cultural Recall in the Present (Hanover, N H 1999); Paul Ricoeur, La memoire , Vhistoire , Voubl (Paris 2000); Gerhard Kurz (Hg.), Erinnerung und Meditation in der frühen Neuzeit (Göttingen 2000) sowie die seit 1989 erscheinende Zeitschrift History and Memory. Studies in Representation of the Past. 4 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift , Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen (München 1992), 11. 5 So z. B. Manfred Koch, Mnemotechnik des Schönen. Studien zur poetischen Erinnerung in Romantik und Symbolismus (Tübingen 1988); Heiner Weidmann, Flanerie , Sammlung, Spiel. Die Erinnerung des 19. Jahrhunderts bei Walter Benjamin (München 1992); Frauke Berndt, Anamnesis. Studien zur Topik der Erinnerung in der erzählenden Literatur zwischen 1800 und 1900 (Moritz - Keller - Raabe) (Tübingen 1999); Nicolas Pethes, Mnemographie. Poetiken der Erinnerung und Destruktion nach Walter Benjamin (Tübingen 1999).
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aber kaum zu verzeichnen. Eine der wenigen Ausnahmen bilden bislang die Überlegungen von Ansgar N ü n n i n g in dem 1995 erschienenen Aufsatz »Literatur, Mentalitäten und kulturelles Gedächtnis«. 6 Wenn man bedenkt, daß literarische Werke neben Denkmälern, Riten, religiösen oder historischen Schriften ein wichtiges Medium kultureller Erinnerung darstellen, erscheint der Mangel an theoretischer Konzeptualisierung des Verhältnisses von Literatur und kultureller Erinnerung erstaunlich. Zielsetzung und Aufbau des Aufsatzes ergeben sich aus dem skizzierten Defizit: Angesichts der Vielzahl kulturwissenschaftlicher Begriffe zu Erinnerung und Gedächtnis sollen i m ersten Teil drei zentrale Einzelkonzepte zur kulturellen Erinnerung vorgestellt werden, die vor der Prägung des Begriffs »kulturelles Gedächtnis< entwickelt wurden. Erst nach einem solchen Blick auf die Begriffs- und Forschungsgeschichte können Aussagen darüber getroffen werden, welche neuen Erkenntnisse das Assmannsche Konzept des kulturellen Gedächtnisses vermittelt. Diese Frage steht i m Zentrum des zweiten Teils, in dem die zentralen Merkmale des kulturellen Gedächtnisses und die das begriffliche Feld strukturierenden Oppositionen rekapituliert und in Beziehung zu den vorhergehenden Konzepten gesetzt werden. I m dritten Teil w i r d aufgezeigt, welches Leistungsvermögen der Begriff des kulturellen Gedächtnisses für die heutige kulturwissenschaftliche Forschung bewiesen hat und in welcher Hinsicht er speziell für die Literaturwissenschaft als relevant zu bewerten ist. Ausgehend von einer kritischen Sichtung der vereinzelten Versuche, das Verhältnis von Literatur und kulturellem Gedächtnis zu theoretisieren, werden abschließend einige der Desiderate benannt, die für eine literaturwissenschaftliche Konzeptualisierung des Begriffs »kulturelles Gedächtnis< von zentraler Bedeutung sind.
I. Begriffe kultureller Erinnerung: Halbwachs, Warburg, Nora Der Begriff »kulturelles Gedächtnis< ist eine von Jan und Aleida Assmann Ende der achtziger Jahre vorgenommene Neuprägung. Allerdings existierten zu diesem Zeitpunkt schon zahlreiche andere, ähnliche Komposita, wie »soziales Gedächtnis< und »kollektives Gedächtnis», oder inhaltlich verwandte Begriffe, wie invented traditions und lieux de mémoire , innerhalb der Kulturwissenschaften. M i t ihnen verbunden sind Konzeptualisierungen kultureller Erinnerung, die zwar einige wesentliche Grundannahmen, wie die symbolische Ver6 »Literatur, Mentalitäten und kulturelles Gedächtnis. Grundriß, Leitbegriffe und Perspektiven einer anglistischen Kulturwissenschaft«, in: Ansgar Nünning (Hg.), Literaturwissenschaftliche Theorien , Modelle und Methoden (Trier 1995), 173-197.
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faßtheit der Kultur, Konstrukthaftigkeit und Gegenwartsbezug der Erinnerung sowie die Bedeutung gemeinschaftlichen Gedenkens für kollektive Identität, teilen, mit denen aber doch unterschiedliche Aspekte kultureller Erinnerung akzentuiert werden. Der Assmannsche Begriff des kulturellen Gedächtnisses ist einerseits Resultat eines Rückgriffs auf und der Auseinandersetzung mit zuvor entwickelten Konzepten kultureller Erinnerung. Andererseits zeichnet er sich durch Merkmale aus, die ihn deutlich von diesen Konzepten unterscheiden. U m Gemeinsamkeiten und Unterschiede zentraler Begriffe kultureller Erinnerung aufzuzeigen, soll zunächst ein Blick auf die Geschichte der Gedächtnisforschung i m Rahmen der Sozial- Kultur- und Geschichtswissenschaften des 20. Jahrhunderts geworfen werden. Exemplarisch werden die Gedächtnisbegriffe Maurice Halbwachs', A b y Warburgs und Pierre Noras vorgestellt. I m Zentrum steht dabei die Frage nach ihrer Relevanz für die heutige kulturwissenschaftliche Forschung und nach Möglichkeiten ihrer Anschließbarkeit an spezifisch literaturwissenschaftliche Theorien und Methoden.
Maurice Halbwachs: »Das kollektive
Gedächtnis«
Die für die gegenwärtige kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung w o h l einflußreichsten Studien stammen von dem französischen Soziologen Maurice Halbwachs. Der Schüler Henri Bergsons und Émile Dürkheims entwickelt seinen Begriff des kollektiven Gedächtnisses anhand zweier zentraler Begriffspaare, »Kollektivität und Individualität« sowie »Gedächtnis und Geschichte«. Anders als seine Zeitgenossen Bergson, Sigmund Freud oder Marcel Proust, deren Gedächtnisbegriffe auf individuelle Erinnerungsprozesse ausgerichtet sind, konzeptualisiert Halbwachs das Gedächtnis als erster konsequent als soziales Phänomen. Der Begriff mémoire collective ist bei ihm keine Metapher. Erinnerung ist ein kollektives Phänomen in dem Sinne, daß sie, wie Halbwachs ausführlich i n seiner ersten Schrift zum Thema, Les cadres sociaux de la mémoire 7, ausführt, ohne soziale Bezugsrahmen gar nicht möglich wäre: Es würde in diesem Sinne ein kollektives Gedächtnis und einen gesellschaftlichen Rahmen des Gedächtnisses geben, und unser individuelles Denken wäre in dem Maße fähig sich zu erinnern, wie es sich innerhalb dieses Bezugsrahmens hält und an diesem Gedächtnis partizipiert. 8
7 Maurice Halbwachs, Les cadres sociaux de la mémoire (Paris 1925). Im folgenden zitiert nach der deutschen Ausgabe: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen (Frankfurt a.M. 1985). 8 Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, 21.
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Halbwachs geht von der Annahme aus, daß jede soziale Gruppe einen Vorrat an gemeinsamen Erinnerungen besitzt. Ein derartiges kollektives Gedächtnis konstituiert sich durch Interaktion - gemeinschaftliches Handeln und geteilte Erfahrungen - und durch Kommunikation - wiederholtes Vergegenwärtigen der Vergangenheit innerhalb der Gruppe. Aus dem Kern von für das Kollektiv relevanten Gedächtnisinhalten, die laut Halbwachs »ein unabhängiges System bilden« 9 und für jedes Mitglied der Gruppe mit Leichtigkeit abrufbar sind, 1 0 leiten sich soziale Bezugsrahmen ab, die die A r t der gruppenspezifischen Wahrnehmung und Erinnerung prägen. Das hat zur Folge, daß eine physische Präsenz des Kollektivs nicht nötig ist, u m Ereignisse gemäß seiner Bezugsrahmen erleben und erinnern zu können. Das Individuum stellt eine Verbindung zur Gruppe her, indem es sich »zeitweilig ihre Denkungsart zu eigen« 11 macht. Erst die durch soziale Interaktion vermittelten kollektiven Denksysteme und Wahrnehmungsschemata erlauben uns eine Verortung des zu Erinnernden. So sind schon grundlegende Koordinaten wie Raum und Zeit, die Bedingungen der Möglichkeit von Erinnerung, soziale Konstrukte, die von Gruppe zu Gruppe variieren. 12 Obgleich Erinnerung solchermaßen kollektiv bestimmt ist, kann sie nur in Individuen realisiert werden. I n der 1950 postum erschienenen Schrift La mémoire collective erläutert Halbwachs, auf welche Weise die an soziale Gruppen gebundene kollektive Erinnerung in den Gedächtnissen einzelner Menschen ihren Ausdruck findet: 1 3 »[J]edes individuelle Gedächtnis ist ein »Ausblicksp u n k t auf das kollektive Gedächtnis.« 14 Dieser >Ausblickspunkt< ist als Standort zu verstehen, den Menschen aufgrund ihrer Sozialisation und kulturellen Prägungen einnehmen. Jeder Mensch gehört mehreren sozialen Gruppen an, der Familie, der Religionsgemeinschaft, den Kollegen am Arbeitsplatz usw. Er 9 Maurice Halbwachs, La mémoire collective (Paris 1950). Im folgenden zitiert nach der deutschen Ausgabe: Das kollektive Gedächtnis (Stuttgart 1967). Hier 11. 10 Vgl. Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, 29: »So gehören Begebenheiten und Kenntnisse, die wir uns am mühelosesten ins Gedächtnis zurückrufen, dem Gemeingut zumindest eines oder einiger Milieus an.« 11 Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, 3. 12 Vgl. hierzu Halbwachs' Abgrenzung der Erinnerungsbilder zum Traum, der außerhalb der sozialen Konstrukte Raum und Zeit stattfinde und daher häufig nur schwierig erinnerbar sei. (»Der Traum und die Erinnerungsbilder«, in: Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, 25-72.) Zur Bedeutung von Zeit und Raum als Rahmen kollektiver Erinnerung vgl. die Kapitel »Das kollektive Gedächtnis und die Zeit« sowie »Das kollektive Gedächtnis und der Raum«, in: Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis (Stuttgart 1967). 13 Vgl. »Kollektives und individuelles Gedächtnis«, in: Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, 1-33. 14 Halb wachs, Das kollektive Gedächtnis, 31.
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verfügt daher über einen Vorrat unterschiedlicher, gruppenspezifischer Erfahrungen und Denksysteme. N i c h t die Erinnerung selbst also, sondern die K o m bination der Gruppenzugehörigkeiten und daraus resultierender Erinnerungsformen und -inhalte ist demnach das wirklich Individuelle, das die Gedächtnisse einzelner Menschen voneinander unterscheidet. Halb wachs konzeptualisiert die Begriffe »Individualität« und »Kollektivität« nicht als Gegensatz, sondern betont deren gegenseitige Abhängigkeit und Durchdringung bei der Gedächtnisbildung. Er weist darauf hin, »daß das Individuum sich erinnert, indem es sich auf den Standpunkt der Gruppe stellt, und daß das Gedächtnis der Gruppe sich verwirklicht und offenbart in den individuellen Gedächtnissen.« 15 Ein kollektives Gedächtnis ist also ohne die Aktualisierung seiner Inhalte i m Individuum nicht denkbar. Umgekehrt werden individuelle Erinnerungen durch soziale Rahmen erst ermöglicht. Das zweite zentrale Begriffspaar, »Geschichte und Gedächtnis«, ist hingegen als binäre Opposition zu verstehen. Für Halbwachs handelt es sich u m zwei Formen des Vergangenheitsbezugs, die einander ausschließen. Gleich zu Beginn ihrer Gegenüberstellung in La mémoire collective betont Halbwachs, »daß die Geschichte i m allgemeinen an dem Punkt beginnt, an dem die Tradition aufhört - i n einem Augenblick, an dem das soziale Gedächtnis erlischt und sich zersetzt.« 16 Die Merkmalsbündel beider Begriffe sind unvereinbar: Geschichte ist für Halbwachs universal, sie zeichnet sich durch eine unparteiische Gleichordnung aller vergangenen Ereignisse aus. I m Zentrum ihres Interesses stehen Gegensätze und Brüche. Das kollektive Gedächtnis hingegen ist partikular. Seine Träger sind zeitlich und räumlich begrenzte Gruppen, deren Erinnerung stark wertend und hierarchisierend ist. Hervorgehoben werden vor allen Ä h n lichkeiten und Kontinuitäten, die identitätsbildend wirken. Damit besteht zwischen Geschichte und Gedächtnis ein fundamentaler Unterschied. Die eine Sicht auf Vergangenheit ist nur durch Ignorierung oder Zersetzung der anderen zu erreichen. Dies verdeutlicht Halbwachs, indem er erklärt, wie Gedächtnis zu Geschichte transformiert wird: Man kann die Totalität der vergangenen Ereignisse nur unter der Voraussetzung zu einem einzigen Bild zusammenstellen, daß man sie vom Gedächtnis jener Gruppen löst, die sie in Erinnerung behielten, daß man die Bande durchtrennt, durch die sie mit dem psychologischen Leben jener sozialen Milieus verbunden waren, innerhalb derer sie sich ereignet haben, und daß man nur ihr chronologisches und räumliches Schema zurückbehält. 17 15 16 17
Halb wachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, 23. Halb wachs, Das kollektive Gedächtnis, 66. Halb wachs, Das kollektive Gedächtnis, 73.
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Innerhalb des von Halb wachs entworfenen Begriffsfeldes können also zwei Formen des Vergangenheitsbezugs unterschieden werden: Die objektive, unbeteiligte Geschichte und das subjektive, lebendige kollektive Gedächtnis. Letzteres fungiert bei Halbwachs als Oberbegriff für eine ganze Reihe heterogener Phänomene. So erwähnt er zum einen persönliche Kindheitserinnerungen, die heute innerhalb der Psychologie als Teil des biographischen Gedächtnisses verstanden würden, als Beispiele für mémoire collective ,18 Z u m anderen befaßt sich Halbwachs mit Gruppengedächtnissen, die sich aus der Alltagsinteraktion ergeben. I n seiner Abhandlung über das »Familiengedächtnis« 19 z. B. geht es u m mündlich tradierte, wenig geformte und zeitlich stark begrenzte Generationengedächtnisse, Gegenstand heutiger soziologischer und alltagsgeschichtlicher Forschung. Schließlich verweist seine Beschäftigung mit religiösen Gruppengedächtnissen 20 auf stärker geformte Ausprägungen kollektiver Gedächtnisse, die neben mündlicher Rede auch der Gedächtnisorte zur Rahmenbildung bedürfen und deren Zeithorizont über Tausende von Jahren hinwegreicht. Hierin vereinigt er Arbeitsfelder der heutigen Ethnologie, Religionssoziologie oder Geschichtswissenschaft. Halbwachs' Begriff des kollektiven Gedächtnisses zeichnet sich damit durch einen sehr weiten, Disziplinen und Forschungsgegenstände übergreifenden A n wendungsbereich aus. Dies hat zwei Auswirkungen: Z u m einen ist das theoretische Konzept des kollektiven Gedächtnisses nicht ausreichend begrifflich differenziert und konsistent. Halbwachs' Begriff s Verwendungen erscheinen zu heterogen, als daß sie in ihrer Gesamtheit als Basis eines kulturwissenschaftlichen Theorieentwurfs dienen könnten. Z u m anderen ist aber zu beobachten, daß einzelne Elemente seiner Begriffsbildung in verschiedenen Disziplinen adaptiert wurden. So avancierte Halbwachs zum Ahnherr unterschiedlicher Theorieentwürfe. Innerhalb der Psychologie setzen sich Vertreter sogenannter ökologischer Ansätze kritisch mit Halbwachs' Theoretisierung der kollektiven Bedingtheit individueller Erinnerung auseinander. 21 Die Oral History knüpft 18
So in dem Kapitel »Kindheitserinnerungen«, in: Halb wachs Das kollektive
Gedächt-
nis, 16-22. 19
So in dem Kapitel »Das kollektive Familiengedächtnis«, in: Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, 203 - 242. 20 Vgl. hierzu das Kapitel »Der religiöse Raum«, in: Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis. 156-163; »Das Kollektivgedächtnis der religiösen Gruppen«, in: Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. 243 - 296; sowie Maurice Halbwachs, La topographie légendaire des évangiles en terre sainte (Paris 1941). 21 So z. B. Ulrich Neisser und Eugene Winograd (Hg.), Remembering Reconsidered. Ecological and Traditional Approaches to the Study of Memory (Cambridge 1988); Cari Graumann, »Zur Ökologie des Gedächtnisses«, in: Gerd Lüer und Uta Lass (Hg.), Erinnern und Behalten: Wege zur Erforschung des menschlichen Gedächtnisses (Göttingen 1997), 269-286.
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an seine Untersuchungen zum Alltagsgedächtnis an. 2 2 Wo Halbwachs das kollektive Gedächtnis an Raum und Gegenstände bindet und damit aus dem begrenzten Horizont lebendiger Generationen löst, wie beispielsweise i n seinen Untersuchungen zur religiösen Topographie Palästinas, erscheint er als wegweisend für kulturwissenschaftliche Ansätze, die sich mit der Kontinuierung kulturellen Wissens beschäftigen. 23 Welche Erkenntnisse kann die Literaturwissenschaft aus dem Begriff des kollektiven Gedächtnisses ableiten? Literarische Texte finden nur vereinzelt Erwähnung in Halbwachs' Schriften. A u f die scheinbar geringe Anschließbarkeit an literaturwissenschaftliche Fragestellungen verweist Jan Assmanns Bemerkung, daß Halbwachs »die Rolle, die gerade die Schrift für die Verfaßtheit kollektiver Erinnerung spielt, nirgends systematisch einbezieht oder auch nur irgendwo zusammenhängend erwägt.« 24 So kommen schriftliche Zeugnisse und damit auch Literatur als Medien des kollektiven Gedächtnisses i n Halbwachs' Theoriebildung zwar nicht i n den Blick. Hält man sich allerdings seine Erkenntnisse über Mechanismen und Funktionen kollektiver Erinnerung und deren Abgrenzung zur Geschichte z. B. bei der Lektüre von Gesellschafts- oder historischen Romanen vor Augen, dann w i r d schnell deutlich, daß diese Texte eine spezifische A r t »sozialer Rahmen« konstituieren, indem sie kollektive Gedächtnisse inszenieren. Anders als innerhalb der Diskursform der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung 25 können Zeitgeschichte oder historische Ereignisse in solchen Romanen als »lebendige Geschichte« 26 i m Halbwachsschen Sinne dargestellt werden. So schaffen beispielsweise spezifisch literarische Mittel, wie Symbole und Metaphern, oder die Darstellung eines »gestimmten Raumes« 27 die von Halbwachs als Merkmal lebendiger Erinnerung betonte atmosphärische Einstimmung: Sie vermitteln den »Stil der Epoche«, das »Bild des Milieus«. 2 8 22 So z. B. Lutz Niethammer (Hg.), Lebenserfahrung und Kollektives Gedächtnis. Die Praxis der »OralHistory« (Frankfurt a.M. 1985). 23 Zur Auseinandersetzung mit Halbwachs' Begriff des kollektiven Gedächtnisses und seiner kulturwissenschaftlichen Weiterentwicklung durch Jan und Aleida Assmann vgl. Teil I I I dieses Aufsatzes. 24 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 45 f. 25 Zur Abgrenzung literarischen und historischen Erzählens vgl. Ansgar Nünning, »>Verbal Fictions?« Kritische Überlegungen und narratologische Alternativen zu Hayden Whites Einebnung des Gegensatzes zwischen Historiographie und Literatur«, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 40 (1999), 351 -380. 26 Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, 50. 27 Zum »gestimmten Raum« vgl. Gerhard Hoff mann, Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit. Poetologische und historische Studien zum englischen und amerikanischen Roman (Stuttgart 1978), 55-108. 28 Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, 41.
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Halbwachs hat deutlich gemacht, daß soziale Gedächtnisbildung auf K o m munikation beruht. Gerade die spezifische Kommunikationsstruktur narrativfiktionaler Texte erlaubt es, die Entstehung und Wirkungsweise kollektiver Gedächtnisse auf verschiedenen textinternen und -externen Ebenen zu inszenieren: Literarische Figuren erleben und erinnern gemeinsam, Erzählinstanzen appellieren durch Leseranreden an fiktive Leser, Teil einer Erinnerungsgemeinschaft zu werden. A u t o r und Leserschaft bilden schließlich eine soziale Gruppe, die die Kenntnis eines bestimmten Textes verbindet, aus dem wiederum Schemata für die Rezeption weiterer Texte oder für die Wahrnehmung der außertextuellen Wirklichkeit abgeleitet werden.
Aby Warburg: »Das soziale Gedächtnis« Während Halbwachs anhand seines i m wörtlichen Sinne zu verstehenden Begriffs des kollektiven Gedächtnisses zu Einsichten über das Verhältnis von Erinnerung und sozialer Interaktion gelangt, lenkt sein Zeitgenosse, der deutsche Kunsthistoriker und Völkerkundler A b y Warburg, den Blick auf die metaphorische Dimension kultureller Erinnerung. Warburg, der bedeutende Vordenker der modernen, interdisziplinär orientierten und ihre Quellenbasis erweiternden Kulturwissenschaften, rückt den Gedächtnisbegriff zwar erst spät ins Zentrum seiner Untersuchungen. Das >Kollektivgedächtnis< erweist sich aber bald als Schlüsselbegriff für Warburgs zentrales Anliegen, Kontinuität und Wandlungen bestimmter bildhafter Gebärden in Kunstwerken nachzuzeichnen und zu verstehen. So trägt sein letztes Projekt, ein Atlas, der ein Epochen und Länder überschreitendes Bildgedächtnis veranschaulichen sollte, auch den Namen »Mnemosyne« (1924-1929). 2 9 Ausgehend von seiner Beobachtung, daß in den Renaissancegemälden Boticellis und Ghirlandaios Formen und Motive antiker Kunst wiederaufgenommen werden, postuliert Warburg das Vorhandensein eines »sozialen Gedächtnisses^ 30 Kultur objektiviert sich innerhalb bestimmter symbolischer Formen. 3 1 Einigen Ausprägungen kultureller Symbolik schreibt Warburg eine 29
Vgl. Aby Warburg, Der Bilderatlas Mnemosyne (Berlin 2000). Zu Aby Warburg und seinem Begriff des sozialen Gedächtnisses vgl. Ernst H. Gombrich, Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie (Hamburg 1992); (Originalausgabe: Aby Warburg. An Intellectual Biography, London 1970); Roland Kany, Mnemosyne als Programm. Geschichte, Erinnerung und die Andacht zum Unbedeutenden im Werk von Usener; Warburg und Benjamin (Tübingen 1987). 31 Zur Theoretisierung der Kultur als Gesamtheit der symbolischen Formen vgl. die im Umkreis der Warburgschen Bibliothek entstandene »Philosophie der symbolischen Formen« von Ernst Cassirer. 30
17 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 43. Bd.
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besondere Überlebenskraft zu. Es handelt sich u m die sogenannten »Pathosformeln« 3 2 , Details der künstlerischen Darstellung von Gebärden, die eine leidenschaftliche Erregung ausdrücken. Laut Warburg, der sich hier an die Terminologie der Gedächtnispsychologie Richard Semons anlehnt, wirken Pathosformeln als kulturelle »Dynamogramme« 3 3 . Sie überdauern i n der Zeit als »Energiekonserven« 34 , deren »mnemische Energien« 35 sich unter veränderten historischen Umständen oder an weit entfernten Orten wieder zu entladen vermögen. Entladungen antiker Ausdruckgebärden weist Warburg i n Renaissancegemälden ebenso wie auf Briefmarken der zwanziger Jahre nach. Sie sind jedoch mehr als schlichte Wieder-Abbildungen des Alten. Gemäß der historisch veränderten Mentalitäten schaffen die Aktualisierungen Distanz zu dem als für überkommen oder gar für gefährlich gehaltenen affektiven Gehalt der alten Formen. Dies geschieht beispielsweise durch Offenlegung des Illusionscharakters der wieder aufgenommenen Symbole oder durch eine zeitgemäße Neuinterpretation: »Die energetisch umwertende Sinngebung: Schutzhülle«. 36 I m Zentrum von Warburgs Konzeptualisierung des »sozialen Gedächtnisses< stehen Elemente der materialen Dimension 3 7 von Kultur. Als Kunsthistoriker untersucht er i n erster Linie Werke der bildenden Kunst, zieht aber auch literarische Quellen, Alltagsgegenstände oder Feste heran. Hervorzuheben ist, daß Warburg die für jede Zeit und jeden O r t typischen Veränderungen und Aktualisierungen der kulturellen Erinnerung betont. Anders als Halbwachs, für den sich das kollektive Gedächtnis vor allem durch Ähnlichkeiten und Kontinuitäten seiner Inhalte auszeichnet, richtet Warburg den Blick auf das Spannungsverhältnis von Kontinuität und Umdeutung bei der Aneignung der Vergangenheit. Für kulturwissenschaftliche Fragestellungen erweist sich Warburgs Begriff des sozialen Gedächtnisses als besonders fruchtbar, weil das spezifische Zusammenspiel von Kontinuierung und Veränderung kultureller Erinnerung i n Kunstwerken Rückschlüsse auf die mentale Dimension der Kultur zu ziehen erlaubt: »Die Abweichungen der Wiedergabe, i m Spiegel der Zeit erschaut, 32
Vgl. Warburgs Vortrag: »Dürer und die italienische Antike« [1906], in: Aby Warburg: Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hg. Dieter Wuttke (Baden-Baden 1979), 125-136. 33 So z. B. in Warburg, Allgemeine Ideen; zit. n. Gombrich, Aby Warburg, 338. 34 Vgl. Warburgs Notiz: »Energiekonserve-Symbol«, in: Grundbegriffe; zit. n. Gombrich, Aby Warburg, 327. 35 Zit. n. Gombrich, Aby Warburg, 330. 36 Warburg: Tagebuch; zit. n. Gombrich, Aby Warburg, 338. 37 Zur Unterscheidung zwischen materialer, mentaler und sozialer Dimension der Kultur vgl. Roland Posner, »Kultur als Zeichensystem. Zur semiotischen Explikation kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe«, in: Aleida Assmann und Dietrich Harth (Hg.), Kultur als Lebenswelt und Monument (Frankfurt a.M. 1991), 37-74.
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geben die bewußt oder unbewußt auswählende Tendenz des Zeitalters wieder und damit kommt die wunschbildende, idealsetzende Gesamtseele an das Tageslicht.« 38 Die Tatsache, daß Warburg für seinen Gedächtnisbegriff neben dem Ausdruck »soziales Gedächtnis« auch den des »europäischen Kollektivgedächtnisses« 39 verwendet, bedeutet gegenüber dem auf recht begrenzte soziale Gruppen fokussierten »kollektiven Gedächtnis« eine enorme Ausweitung der Trägerschaft. Dies ist möglich, weil Warburg als zentrales Medium kultureller Erinnerung nicht die mündliche Rede, sondern das potentiell lange Zeiten überdauernde und weite Räume durchquerende Kunstwerk annimmt. So erlaubt Warburgs Gedächtnisbegriff, den historisch variablen und gruppen- oder nationenspezifischen Ausprägungen kultureller Erinnerung Rechnung zu tragen und zugleich deren Einbettung in eine übergreifende, Europa und Asien verbindende »Erinnerungsgemeinschaft« 40 nicht aus dem Blick zu verlieren. Die literaturwissenschaftliche Relevanz des »sozialen Gedächtnisses« ergibt sich vor allem aus Warburgs Fokussierung auf das wiederholte Aufgreifen von Motiven und Strukturen in Kunstwerken. M i t Blick auf literarische Werke und in Weiterentwicklung des Bachtinschen Dialogizitätsbegriffs hat Julia Kristeva einen analogen Mechanismus als »Intertextualität« bezeichnet. Bei Kristeva, und später vor allem in den Studien Renate Lachmanns, erscheint literarische Erinnerung als Aneignung von Prätexten, als deren Transformation und Aktualisierung. 41 Warburgs Konzept ist damit vor allem an literaturwissenschaftliche Theorien anschließbar, die Kultur zeichentheoretisch als fortlaufenden Prozeß der »De- und Resemiotisierung« begreifen. 42 Kulturelle Erinnerung bedeutet hier die Resemiotisierung von Zeichen, also ein Wieder-Aufladen von Elementen überlieferter Kunst mit Bedeutung, wie dies in literarischen Werken beispielweise durch intertextuelle Bezüge, durch metatextuelle Reflexion oder Gattungsreferenzen geschieht. 43
38
Warburg, Handelskammer; zit n. Gombrich, Aby Warburg, 359. Ebd. 40 Warburg, »Die Wanderungen der antiken Götterwelt vor ihrem Eintritt in die italienische Hochrenaissance«; zit. n. Kany, Mnemosyne als Programm, 176. 39
41
Vgl. Julia Kristeva, Semeiotikè. Recherches pour une sémanalyse (Paris 1969); Renate Lachmann, Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne (Frankfurt a.M. 1990). 42 Vgl. Renate Lachmann, »Kultursemiotischer Prospekt«, in: Haverkamp und Lachmann, Memoria, XVIII. 43 Zu einer Systematisierung intertextueller Relationen vgl. Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe (Frankfurt a.M. 1993). 17*
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Astrid Erll Pierre Nora: »Erinnerungsorte«
Während Halbwachs' und Warburgs Schriften zur kollektiven und kulturellen Dimension von Gedächtnis heute allgemein als zentrale Grundlegungen für die Konzeptualisierung kultureller Erinnerung diskutiert werden, wurden sie zunächst kaum rezipiert. Begriffe von Gedächtnis als kollektiv gestütztes und Kultur konstituierendes und kontinuierendes Phänomen gerieten in Vergessenheit. I n den Geschichts- und Sozialwissenschaften setzte erst Ende der siebziger Jahre erneut eine Beschäftigung mit Kollektivgedächtnissen ein. Dabei stand die Problematisierung des Verhältnisses von Geschichte und Gedächtnis i m Vordergrund. 4 4 Innerhalb dieser Diskussion ist Pierre Nora w o h l einer der einflußreichsten Vertreter der strikten begrifflichen Trennung beider Vergangenheitsbezüge. I n dem seinem monumentalen, siebenbändigen Werk Les lieux de mémoire 45 vorangestellten Aufsatz »Zwischen Geschichte und Gedächtnis« 46 betont er: »Gedächtnis, Geschichte: keineswegs sind dies Synonyme, sondern [ . . . ] in jeder Hinsicht Gegensätze.« (13) Die sich anschließende Auflistung der seinem Gedächtnis- bzw. Geschichtsbegriff zugeordneten Merkmalsbündel entspricht der Halbwachsschen Gegenüberstellung von Geschichte und Gedächtnis bis ins Detail: Für Nora ist Geschichte »die stets problematische und unvollständige Repräsentation dessen, was nicht mehr ist«, »eine intellektuelle, verweltlichte Operation« (13), »Entzauberung«. Sie ist »zum Universalen berufen«, »befaßt sich nur mit zeitlichen Kontinuitäten«, »kennt nur das Relative«, so daß sie zur »Vernichtung«, zur »Entlegitimierug der gelebten Vergangenheit« (14) wird. Das Gedächtnis hingegen ist »eine in ewiger Gegenwart erlebte Bindung« (13). Es »rückt die Erinnerung ins Sakrale« (13 f.), »entwächst einer Gruppe«, »haftet am Konkreten, i m Raum, an der Geste, am Bild und Gegenstand«. Es ist »ein Absolutes« (14), »das Leben« (13). 44 So z. B. Jaques Le Goff, Histoire et mémoire (Paris 1977) oder Yosef Hayim Yerushalmi, Zakhor. Jewish Memory and Jewish History (Seattle 1982). 45 Pierre Nora (Hg.), Les lieux de mémoire I: La République (Paris 1984); Les lieux de mémoire II: La Nation (Paris 1986); Les lieux de mémoire III: Les France (Paris 1992). Zu Stellungnahmen zu Noras Werk vgl. Etienne François, Hannes Siegrist, Jakob Vogel (Hg.), Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich. 19. und 20. Jahrhundert (Göttingen 1995); Etienne François (Hg.), Lieux de mémoire - Erinnerungsorte: D3 un modèle français a un projet allemand (Berlin 1996); Peter Carrier, »Places, Politics and the Archiving of Contemporary Memory«, in: Susannah Radstone (Hg.), Memory and Methodology (Oxford, New York 2000), 57-58. Vgl. auch das in Anlehnung an Noras Methode entstandene deutsche Projekt »Deutsche Erinnerungsorte«, dessen drei Bände gerade erschienen sind: Etienne François und Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1 - 3 (München 2001). 46
Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis (Frankfurt a.M. 1998). Die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf diese Ausgabe.
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Anders als Halbwachs, der noch von der Existenz kollektiver Gedächtnisse ausgeht, resümiert Nora jedoch mit Blick auf unsere Zeit: »Nur deshalb spricht man so viel vom Gedächtnis, weil es keines mehr gibt.« (11) Z u m Gegenstand seiner Reflexion werden deshalb >Erinnerungsortekommunikativem< und >kulturellem< Gedächtnis. Inhalt, Formen, Medien, Zeitstruktur und Träger dieser beiden GedächtnisRahmen unterscheiden sich grundlegend. 52 Das kommunikative Gedächtnis entsteht durch Alltagsinteraktion, hat die Geschichtserfahrungen der Zeitgenossen zum Inhalt und bezieht sich daher immer nur auf einen begrenzten, »mitwandernden« Zeithorizont von ca. 80 bis 100 Jahren. Bei dem kulturellen Gedächtnis handelt es sich hingegen u m eine an feste Objektivationen gebundene, hochgradig gestiftete und zeremonialisierte Erinnerung. Ihr Gegenstand sind mythische, als die Gemeinschaft fundierend interpretierte Ereignisse einer mehr oder weniger fernen Vergangenheit. Die Inhalte des kommunikativen Gedächtnisses sind veränderlich und erfahren keine feste Bedeutungszuschreibung. Das kulturelle Gedächtnis hingegen transportiert einen festen Bestand an Inhalten und Sinnstiftungen, zu deren Kontinuierung und Interpretation Spezialisten ausgebildet werden. I n dem 1988 erschienen Aufsatz »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität« erläutert Jan Assmann die begriffliche Trennung von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis zum ersten Mal. Das kommunikative Gedächtnis gehört laut Assmann zum Gegenstandsbereich der Oral History. 53 Es dient Jan und Aleida Assmann als Oppositionsbegriff und Abgrenzungsfolie zum kulturellen Gedächtnis, welches den eigentlichen Fokus ihrer Forschung darstellt. Das kulturelle Gedächtnis w i r d in dem genannten Aufsatz wie folgt definiert: Unter dem Begriff kulturelles Gedächtnis fassen wir den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten zusammen, in deren »Pflege« sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv ge50
Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 50.
51
Vgl. Jan Assmann: »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität«, in: Jan Assmann und Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis (Frankfurt a.M. 1988), 9-19, hier 11. 52 Zur folgenden Merkmalsliste beider Gedächtnis-Rahmen vgl. die Tabelle in Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis , 56. 53
Vgl. Jan Assmann, »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität«, 10.
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teiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart stützt. 54 Ein Bündel zentraler Merkmale legt den Gebrauch des Begriffs fest 5 5 : »Identitätskonkretheit< bedeutet, daß soziale Gruppen ein kulturelles Gedächtnis konstituieren, aus dem sie ihre Identität ableiten. M i t >Rekonstruktivität< w i r d der Einsicht in die Gegenwartsbezogenheit jeglicher Erinnerung Rechnung getragen: Das kulturelle Gedächtnis ist ein retrospektives Konstrukt. »Geformtheit< ist das erste distinktive Merkmal zur Unterscheidung zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnisrahmen. Das kulturelle Gedächtnis ist auf feste Objektivationen, auf die Kontinuierung von Sinn anhand »sprachlicher, bildlicher und ritueller Formung« 5 6 angewiesen. Die Geformtheit des kulturellen Gedächtnisses bildet die Voraussetzung für die übrigen Merkmale. »Organisiertheit« bezeichnet die Institutionalisierung kultureller Erinnerung und Spezialisierung ihrer Trägerschaft. Aus der »Verbindlichkeit« des kulturellen Gedächtnisses ergibt sich für die Gruppe eine »klare Wertperspektive und ein Relevanzgefälle« 57. Das Merkmal der »Reflexivität«, verweist schließlich auf die Tatsache, daß das kulturelle Gedächtnis die Lebenswelt der Gruppe, ihr Selbstbild und nicht zuletzt sich selbst reflektiert. A n die 1988 vorgenommene Begriffsprägung schließen sich in der Folgezeit zahlreiche Untersuchungen an, die die Anwendbarkeit des Konzeptes auf unterschiedliche Forschungsbereiche unter Beweis stellen und das begriffliche Feld erweitern und semantisch füllen. 5 8 Eine zentrale weitere Differenzierung führt Aleida Assmann einige Jahre später ein. Sie unterscheidet innerhalb des kulturellen Gedächtnisses einen Funktions- und einen Speicherbereich. 59 Das »Funktionsgedächtnis« nennt sie das »bewohnte Gedächtnis«. Es besteht aus »bedeutungsgeladenen Elementen«, die zu einer kohärenten Geschichte konfiguriert werden können und sich durch »Gruppenbezug, Selektivität, Wertbindung und Zukunftsorientierung« auszeichnen. Das »Speichergedächtnis« hin54
Jan Assmann, »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität«, 15. Zur folgenden Zusammenfassung vgl. Jan Assmann, »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität«, 13-15. 56 Jan Assmann, »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität«, 14. 57 Jan Assmann, »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität«, 14. 58 Um nur die beiden offensichtlich am stärksten rezipierten, interdisziplinär und kulturwissenschaftlich angelegten Sammelbände zu nennen: Aleida Assmann und Dietrich Harth (Hg.), Kultur als Lebenswelt und Monument (Frankfurt a.M. 1991); Aleida Assmann und Dietrich Harth (Hg.), Mnemosyne: Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung (Frankfurt a.M. 1991). 59 Aleida Assmann, »Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis - Zwei Modi der Erinnerung«, in: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses (München 1999), 130-148. 55
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gegen ist das »unbewohnte Gedächtnis«, eine »amorphe Masse« ungebundener, »bedeutungsneutraler« Elemente, die keinen »vitalen Bezug zur Gegenwart« aufweisen. 60 Auf kollektiver Ebene enthält das Speichergedächtnis das unbrauchbar, obsolet und fremd Gewordene, das neutrale, identitäts-abstrakte Sachwissen, aber auch das Repertoire verpaßter Möglichkeiten, alternativer Optionen und ungenutzter Chancen. Beim Funktionsgedächtnis dagegen handelt es sich um ein angeeignetes Gedächtnis, das aus einem Prozeß der Auswahl, der Verknüpfung, der Sinnkonstitution [ . . . ] hervorgeht. Die strukturlosen, unzusammenhängenden Elemente treten ins Funktionsgedächtnis als komponiert, konstruiert, verbunden ein. Aus diesem konstruktiven Akt geht Sinn hervor, eine Qualität, die dem Speichergedächtnis grundsätzlich abgeht.61 Die Relation zwischen diesen zwei M o d i der Erinnerung bezeichnet Assmann als perspektivische: Das Funktionsgedächtnis ist als Vordergrund zu denken, der sich vor dem Hintergrund des Speichergedächtnisses abhebt. Zwar erfüllt das Funktionsgedächtnis so zentrale Aufgaben wie Identitätskonstruktion oder die Legitimierung einer bestehenden Gesellschaftsform. Das Speichergedächtnis ist deshalb aber nicht weniger wichtig. Es dient als »Reservoir zukünftiger Funktionsgedächtnisse«, als »Ressource der Erneuerung kulturellen Wissens« und damit als »Bedingung der Möglichkeit kulturellen Wandels« 62 . Alle Elemente des Speichergedächtnisses können, wenn sie für die Gesellschaft eine zusätzliche Sinndimension erhalten, in das Funktionsgedächtnis übergehen. Entscheidend sind daher nicht nur die Inhalte der beiden Gedächtnisebenen, sondern auch der Grad der Durchlässigkeit zwischen ihnen, der die Möglichkeit von Veränderung und Erneuerung bestimmt. Durch eine solche Konzeptualisierung des kulturellen Gedächtnisses i m weiteren Sinne, innerhalb dessen Speichergedächtnis und Funktionsgedächtnis zu unterscheiden sind, werden Wandlungsmöglichkeiten und -prozesse kultureller Erinnerung erklärbar. Es handelt sich gegenüber dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses i m engeren Sinne, dem Funktionsgedächtnis, u m eine Ausweitung des Gegenstandsbereichs auf alle Objektivationen einer gegebenen Kultur, die von der Gesellschaft aufbewahrt werden. M i t dem von Jan Assmann 1988 aufgestellten Merkmalsbündel, das sich offensichtlich nur auf den Funktionsbereich bezieht, hat das so konzeptualisierte kulturelle Gedächtnis nur noch das Merkmal der Geformtheit gemeinsam. Anhand des von Jan Assmann aufgestellten Merkmalsbündels des kulturellen Gedächtnisses i m engeren Sinne und Aleida Assmanns Unterscheidung zwischen Funktions- und Speichergedächtnis kann beschrieben werden, wie sich 60 61 62
Vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume, 134 f. Aleida Assmann, Erinnerungsräume, 137. Aleida Assmann, Erinnerungsräume, 140.
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der Begriff des kulturellen Gedächtnisses von den oben vorgestellten Begriffen kultureller Erinnerung unterscheidet. Halbwachs' »kollektives Gedächtnis« bezieht sich in erster Linie auf ungeformte Alltagskommunikation und hat daher nur die Merkmale der Identitätskonkretheit und Rekonstruktivität mit dem kulturellen Gedächtnis gemeinsam. Warburg prägt seinen Begriff des sozialen Gedächtnisses, u m Phänomene der Umdeutung und Aktualisierung kultureller Erinnerung bei der Untersuchung kultureller Objektivationen erklärbar zu machen. Sein Konzept rückt daher die Merkmale der Geformtheit, Rekonstruktivität und Reflexivität i n den Vordergrund. Identitätskonkretheit, Organisiertheit und Verbindlichkeit kommen hingegen bei Warburgs Gedächtnisbegriff nicht i n den Blick, weil es ihm nicht u m Fragen der Funktionsweise gesellschaftlicher Systeme geht. I m Gegensatz dazu w i r d mit Noras Begriff der Erinnerungsorte die enge Verbindung von kultureller Erinnerung und nationaler Identität betont. Da Nora aber vor allem Wert auf die Erklärung und Veranschaulichung des Verschwindens einer homogenen, politisch bedeutsamen kollektiven Erinnerung legt, zeichnen sich seine Erinnerungsorte zwar als identitätskonkret, rekonstruktiv, geformt und reflexiv aus, aus zwei Gründen handelt es sich bei ihnen aber nicht u m Elemente eines Funktionsgedächtnisses. Erstens bilden sie auf gesamtgesellschaftlicher Ebene kein kohärentes Sinngefüge. Aus ihnen sind daher keine verbindlichen Normen und Werte ableitbar. Zweitens handelt es sich bei den Erinnerungsorten nur zum Teil u m Elemente eines institutionalisierten nationalen Gedächtnisses. Von einer Organisiertheit der kulturellen Erinnerung i m Sinne des Funktionsgedächtnisses kann also ebensowenig die Rede sein. Schließlich kann anhand der Unterscheidung von Speicher- und Funktionsgedächtnis auch erklärt werden, warum es sich bei dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses nicht einfach u m eine »Neuauflage« des Traditionsbegriffs handelt. Gerade zu neueren Konzeptualisierungen der Traditionsbegriffs, wie Hobsbawms invented traditions 63, weist das kulturelle Gedächtnis zwar zahlreiche Ähnlichkeiten auf: Beide betonen die Konstrukthaftigkeit und politischen Funktionalisierungen kollektiver Erinnerung. Gleichzusetzen sind die beiden Begriffe jedoch nicht. Das »kulturelle Gedächtnis« besteht i m Gegensatz zur invented tradition i m »Modus der Potentialität als Archiv, als Totalhorizont« und i m »Modus der Aktualität« 6 4 . M i t den invented traditions bekommt man nur die Aktualität, also den Funktionsbereich kultureller Erinnerung, i n 63
Vgl. Eric Hobsbawm und Terence Ranger (Hg.), The Invention of Tradition (Cambridge 1983). 64 Jan Assmann, »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität«, 13. Das Konzept von Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis findet also schon 1988 Erwähnung. Zu den Konsequenzen für die Merkmalsbündel beider Modi des kulturellen Gedächtnisses äußert sich Jan Assmann hier aber nicht.
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den Blick. Damit bezeichnet der Begriff des kulturellen Gedächtnisses i m weiteren Sinne nicht nur einen größeren Objektbereich, als dessen Teilmenge die invented traditions zu begreifen wären. M i t ihm kann auch beschrieben werden, woraus sich Traditionen speisen und was bei ihrer Konstitution in Vergessenheit gerät.
I I I . Leistungsvermögen u n d literaturwissenschaftliche Relevanz des Begriffs »kulturelles Gedächtnis< Zentrales Verdienst des von Jan und Aleida Assmann geprägten Begriffs des kulturellen Gedächtnisses ist, die Verbindung von Gedächtnis, Kultur und sozialen Gruppen, die vormals nur in Einzelaspekten konzeptualisiert wurde, systematisch und theoretisch fundiert aufgezeigt zu haben. So trägt der Begriff zur Erklärbarkeit und Verortung zahlreicher Phänomene bei. Genannt seien hier nur die unsere eigene Zeit und Gesellschaft betreffenden Auseinandersetzungen um die Erinnerung an den Holocaust. Die Positionen der Überlebenden und der Historiker oder die Funktionen der geplanten Mahnmale werden verständlicher, wenn man unsere Zeit als einen Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis begreift - mit allen Konsequenzen für die Medien der Speicherung und Formen der Vergegenwärtigung, für die A r t der Trägerschaft sowie für die weitreichenden Entscheidungen darüber, was i n den Funktionsbereich des kulturellen Gedächtnisses aufgenommen werden soll und was innerhalb des Speicherbereichs verbleibt. Die von Jan und Aleida Assmann vorgenommene Begriffsbildung hat sich als außerordentlich fruchtbar erwiesen. N i c h t nur in den von ihnen herausgegebenen Sammelbänden wurde die Anwendbarkeit des neuen Paradigmas innerhalb der unterschiedlichsten Disziplinen erwiesen und auf viele Bereiche produktiv angewendet. Für beinahe alle Aufsätze, Sammelbände und M o n o graphien, die sich seit Ende der achtziger Jahre mit dem Zusammenhang von Kultur und Gedächtnis beschäftigen gilt, daß sie ohne einen Rekurs auf das »kulturelle Gedächtnis< nicht auskommen. 65 Mittlerweile hat der Begriff des kulturellen Gedächtnisses die Beschäftigung mit Erinnerung und Gedächtnis fest als Forschungsbereich in den Kultur65
So entstehen zum einen Schriften, die den Begriff explizit in den Titel aufnehmen, wie Sigrid Weigel, Bilder des kulturellen Gedächtnisses: Beiträge zur Gegenwartsliteratur (Dülmen-Hiddingsel 1994) oder Klaus Naumann, Der Krieg als Text: Das Jahr 1945 im kulturellen Gedächtnis der Presse (Hamburg 1998). Andere Untersuchungen zur kulturellen Erinnerung treten in einen kritischen Dialog mit dem Begriff, z. B. Doris BachmannMedick (Hg.), Kulturals Text (Frankfurt a.M. 1996); Claudia Öhlschläger (Hg.), Körper Gedächtnis - Schrift: Der Körper als Medium kultureller Erinnerung (Berlin 1997).
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Wissenschaften verankert. 66 Es ist ein Konzept, das alle drei Dimensionen der Kultur mit einbezieht: Die materiale Dimension konstituieren die Medien des kulturellen Gedächtnisses. Das zu Erinnernde w i r d mit Hilfe kultureller O b jektivationen gespeichert und tradiert - seien dies Texte, Monumente, Riten oder auch mündliche Formen, wie Sprüche. Zur sozialen Dimension der Kultur gehören die Institutionen, die in jeder Gesellschaft geschaffen werden, u m das kulturelle Gedächtnis zu kontinuieren und auszulegen. Zur mentalen Dimension können schließlich Funktionen des kulturellen Gedächtnisses, wie Identitätsbildung, die Etablierung von Selbst- und Fremdbildern und die Konstitution von Normen und Werten gerechnet werden. Aus dieser Mehrdimensionalität des Begriffs resultiert ein hoher Grad der Anschließbarkeit an etablierte Disziplinen, Forschungsgegenstände und Methoden. Er eröffnet ein gemeinsames Forschungsfeld, das so unterschiedliche akademische Fächer wie Geschichtswissenschaft, Altertumswissenschaft, Religionswissenschaft, Kunstgeschichte oder Soziologie unter einem Dach zu vereinen vermag. Damit schafft der Begriff des kulturellen Gedächtnisses die Voraussetzungen für eine Zusammenschau bislang disparater Felder durch ein gemeinsames Erkenntnisinteresse. N i c h t zuletzt ermöglicht er, wie Dietrich Harths kürzlich erschienene Monographie erwiesen hat, die Reflexion auf die Kulturwissenschaften selbst. 67 Welches Potential birgt der Begriff des kulturellen Gedächtnisses für die Literaturwissenschaften? U m diese Frage beantworten zu können, muß zunächst geklärt sein, w o literarische Werke innerhalb des kulturellen Gedächtnisses zu verorten sind. Hierzu erhält man in Jan und Aleida Assmanns Schriften allerdings interessanterweise nur wenige Hinweise. Ein Blick auf die Publikationen der letzten zehn Jahre erweist, daß literarische Werke vor allem unter dem Aspekt >SchriftLiteratur< von anderen Symbolsystemen unterscheidet und welche Funktionen es für das kulturelle Gedächtnis übernehmen kann. Zwei Beiträge sind zu verzeichnen, in denen Jan und Aleida Assmann Aussagen über Verortung und Funktionen der Literatur innerhalb der von ihnen entworfenen Systematik machen. I n dem gemeinsam verfaßten Artikel »Das Gestern i m Heute. Medien und soziales Gedächtnis« 69 , der eine leicht verständliche Zusammenfassung ihrer Forschung darstellt, veranschaulicht eine Tabelle die »Unterschiede zwischen Speichergedächtnis und Funktionsgedächtnis« 7 0 . Unter der Rubrik »Medien und Institutionen« werden »Feste, öffentliche Riten kollektiver Kommemoration« dem Funktionsgedächtnis, »Literatur, Kunst, Museum, Wissenschaft« dem Speichergedächtnis zugeordnet. Da Aleida Assmann grundsätzlich von einem »Binnenverkehr« zwischen Speichergedächtnis und Funktionsgedächtnis ausgeht, jedes Element des Speichergedächtnisses also potentiell auch in das Funktionsgedächtnis übergehen kann, stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen literarische Werke als dem Funktionsgedächtnis zugehörig betrachtet werden können. Eine A n t w o r t hierauf erhält man in Aleida Assmanns 1995 erschienenen Aufsatz »Was sind kulturelle Texte?« 71 Hier w i r d deutlich, daß die Merkmale, anhand derer schriftliche Zeugnisse dem Speicher- oder Funktionsgedächtnis zugeordnet werden, literarischen Werken nicht inhärent sind. Ausschlaggebend ist vielmehr das zeitgenössische Rezeptionsverhalten. Aleida Assmann unterscheidet zwei »Rezeptionsrahmen [ . . . ] , in denen sich Texte entweder als >literarische< oder als >kulturelle< konstituieren.« 72 Bei kulturellen Texten handelt es sich u m verbindliche Texte, die Elemente des Funktionsgedächtnisses darstellen. Sie unterscheiden sich von literarischen Texten durch eine andere Form der Aneignung und Textexegese: Der Fokus liegt nicht auf Ästhetik und Geschichtlichkeit, sondern auf der Moral und überzeitlichen Bedeutung literarischer Werke. Statt einsamer Lektüre, ästhetischer Distanz und Verlangen nach und Burkhard Gladigow (Hg.), Text und Kommentar. ; Archäologie der literarischen Kommunikation IV (München 1995). 69 Aleida und Jan Assmann, »Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis«, in: Klaus Merten, Siegfried J.Schmidt und Siegfried Weischenberg (Hg.), Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft (Opladen 1994), 114140. 70 Aleida und Jan Assmann, »Das Gestern im Heute«, 123. 71 Aleida Assmann, »Was sind kulturelle Texte?«, in: Andreas Poltermann (Hg.), Literaturkanon - Medienereignis - kultureller Text. Formen interkultureller Kommunikation und Übersetzung (Berlin 1995), 232-244. 72
Aleida Assmann, »Was sind kulturelle Texte?«, 234.
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Neuem bestimmen die Rezeption kultureller Texte das Verlangen nach Aneignung von Wissen über Identität, Herkunft, Normen und Werte, die Suche nach Wahrheit und die Gewißheit, durch die Lektüre ein Teil des Kollektivs zu sein. Für Aleida Assmann ist das »Paradigma des kulturellen Textes [ . . . ] die Bibel« 7 3 . Doch auch i m Bereich der weltlichen Literatur finden sich Texte, deren Aneignung sich durch die genannten Merkmale auszeichnen. Zentrale Voraussetzung für eine Rezeption literarischer Werke als kulturelle Texte ist laut Assmann deren Aufnahme in den Bildungskanon. 7 4 Daß mit der Betrachtung kanonischer Texte jedoch noch bei weitem nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind, das Verhältnis von Literatur und kulturellem Gedächtnis zu konzeptualisieren, läßt sich aus Aleida Assmanns weiterer Beschäftigung mit literarischen Werken schließen. Bei den i n ihrer M o n o graphie Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses interpretierten Gedichten und Kurzgeschichten von Wordsworth, Heine oder Forster handelt es sich nicht u m verbindliche kulturelle Texte. Dennoch verdeutlichen Assmanns Interpretationen, daß diese literarischen Werke durch die fiktionale Thematisierung und Inszenierung kultureller Erinnerung ein beträchtliches Maß an Reflexion und K r i t i k leisten. Sie mit den Attributen des Speichergedächtnisses »unbrauchbar«, »obsolet« oder »fremd« zu versehen, scheint daher ihrem Leistungsvermögen für die gesellschaftliche Konstitution und Thematisierung kultureller Erinnerung nicht angemessen zu sein. Aussagen über Wirkungspotentiale und Funktionen literarischer Texte für die zeitgenössische Kultur oder Vorschläge zu ihrer Verortung innerhalb der Systematik des kulturellen Gedächtnisses sind Aleida Assmanns Interpretationen aber leider nicht zu entnehmen. Das zentrale Problem bei der Konzeptualisierung der Verbindung von Literatur und kulturellem Gedächtnis scheint zu sein, daß der Begriff des kulturellen Gedächtnisses nur zwei Möglichkeiten der Verortung kultureller Objek73
Aleida Assmann, »Was sind kulturelle Texte?«, 237. Vgl. auch Aleida Assmann, Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee (Frankfurt a.M. 1993). Erstens wäre hiergegen allerdings mit Nora einzuwenden, daß diese Texte heute allenfalls den Status eines Erinnerungsortes haben, daß aus ihnen also keine verbindlichen Werte und Normen ableitbar sind und man sie vor allem >sentimentalisch< liest. Zweitens sei nur am Rande bemerkt, daß durch eine solche Unterscheidung natürlich auch der Gegensatz zwischen Hoch- und Popkultur befördert wird. Hier offenbart sich der Kulturbegriff des kulturellen Gedächtnisses: Hinsichtlich des kulturellen Funktionsgedächtnisses bezeichnet das Adjektiv >kulturell< nicht Kultur im weitesten Sinne, also die Gesamtheit der menschlichen Sinndeutungen und Selbstauslegungen, sondern inszenierte, stilisierte, auf den Beobachter ausgerichtete Kultur. (Vgl. hierzu auch: Aleida Assmann, »Kultur als Lebenswelt und Monument«, in Aleida Assmann und Dietrich Harth (Hg.), Kultur als Lebenswelt und Monument (Frankfurt a.M. 1991), 11-25.) 74
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tivationen nahelegt. Entweder handelt es sich um Elemente des Funktionsgedächtnisses oder des Speichergedächtnisses. Entweder erweisen sie sich als funktional für die gesamte Gesellschaft oder sie erscheinen als obsolet. Dies resultiert aus der Tatsache, daß das kulturelle Gedächtnis als ein kollektives Gedächtnis i m Singular konzeptualisiert wurde. Es bezeichnet einen einzigen Vorrat gesellschaftlich dominanter und verbindlicher kultureller Erinnerung. I n seiner Anwendung auf frühe Hochkulturen hat sich der Begriff zwar als beschreibungsadäquat erwiesen, hinsichtlich moderner Gesellschaften ist er aber problematisch. Gesellschaftliche Ausdifferenzierung, Erhöhung der Speicherkapazitäten, Demokratisierung, das Zusammenleben unterschiedlicher Ethnien und die für die Identitätsbildung zunehmende Bedeutung der Populärkultur sind nur einige Stichworte, die verdeutlichen, daß das gesamte Spektrum kultureller Erinnerung nur schwer mit dem Begriff eines singulären (hoch-)kulturellen Gedächtnisses faßbar ist. U m der Pluralität von Vergangenheits- und Identitätskonstruktionen gerecht zu werden, böte sich daher eher der Begriff der Erinnerungskulturen an. 7 5 Er zeichnet sich aufgrund der terminologischen Akzentuierung von Pluralität vor dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses vor allem durch inhaltliche Adäquatheit aus. M i t ihm kann der Tatsache Rechnung getragen werden, daß sich kulturelle Erinnerung nicht nur historisch und geographisch höchst variabel gestaltet, sondern auch, und dies bedeutet eine erneute Rückbesinnung auf Halbwachs, daß innerhalb einer Gesellschaft meist mehrere Erinnerungskulturen koexistieren. Zudem impliziert >Erinnerung< die Prozeßhaftigkeit von Vergangenheitskonstruktionen, ihre Kreativität und Veränderlichkeit, während mit >Gedächtnis< ein fester Vorrat an Gespeichertem assoziiert wird. Welche Rolle das Symbolsystem Literatur innerhalb dieser Erinnerungskulturen spielt, müßte freilich theoretisch fundiert aufgezeigt werden. Da die Klärung dieser Frage Gegenstand einer eigenständigen Studie wäre, sei abschließend lediglich betont, daß die literaturwissenschaftliche Relevanz des neuen kulturwissenschaftlichen Paradigmas auf vielfältige Weise konzeptualisierbar ist. Z u einer Systematisierung dieser Vielfalt kann eine grundlegende Differenzierung zwischen textinternen und -externen Ebenen der Verbindung von Literatur und kulturellem Gedächtnis beitragen. Aus funktionsgeschichtlicher Perspektive lassen sich drei Ausprägungen dieser Verbindung unterscheiden, die i m Anschluß an Roy Sommer i m folgenden als »Intention, Wirkungspotential und Rezeption« bezeichnet werden 7 6 . 75 So auch der Name des seit 1997 bestehenden Gießener Sonderforschungsbereich 434, in dem disziplinübergreifend an einer Rekonstruktion der Geschichte des Erinnerns gearbeitet wird. 76 Vgl. Roy Sommer: »Funktionsgeschichten. Überlegungen zur Verwendung des Funktionsbegriffs in der Literaturwissenschaft und Anregungen zu seiner terminologi-
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Der Begriff der Intention verweist in diesem Kontext auf die Selbstverortung von Autoren i m System gesellschaftlicher Sinnkonstruktion und Traditionsbildung. Daß Dichter Stifter und Bewahrer kultureller Erinnerung seien, ist ein Topos, der bis zur antiken Literatur zurückzuverfolgen ist. 7 7 Der Anspruch, die eigenen Kunstwerke in das kulturelle Gedächtnis einzuschreiben, findet sich bei Vergil ebenso wie bei Dante, M i l t o n oder Goethe bis hin zu Vertretern der klassischen Moderne, wie T.S. Eliot, und zeitgenössischen Autoren, wie Günter Grass oder D o n D e L i l l o . 7 8 Eine derartige Autorintention, kulturelle Erinnerung zu stiften, ist allerdings nicht mit dem literarischen Text selbst zu verwechseln. Formen der Darstellung und Vermittlung kultureller Erinnerung manifestieren sich auf verschiedenen textinternen Ebenen 7 9 . So können Inhalte und Formen kultureller Erinnerung auf der Handlungsebene dargestellt werden. Beispiele hierfür sind die meisten historischen Romane des 19. Jahrhunderts, deren Aufgabe in erster Linie in der Darstellung »lebendiger Vergangenheit bestand. Z u der Fülle möglicher Vermittlungsformen ist die Thematisierung kultureller Erinnerung durch Erzählinstanzen zu rechnen. Explizite Reflexionen über den Problemzusammenhang von Kultur, kollektiver Sinnstiftung und Gedächtnis sind ein rekurrentes Merkmal zeitgenössischer Literatur und können als Indiz für die nicht nur in wissenschaftlichen Kreisen hohe Konjunktur des Themas gewertet werden. U m eine implizite Variante solcher Reflexionen handelt es sich bei der Inszenierung kultureller Erinnerung durch Darstellungsverfahren, die der Textstruktur zuzuordnen sind: Durch Gedächtnismetaphorik werden in der Literatur Vorstellungen von Funktionsweisen und Problemen kultureller Erinnerung sehen Differenzierung«, in: Literaturwissenschaftlicbes Jahrbuch 40 (2000), 319-341. Die folgenden Ausführungen orientieren sich an Sommers terminologischer Unterscheidung zwischen »drei zentrale[n] Aspektefn] des Funktionsbegriffs« (327) und beziehen anschließend auch seine Überlegungen zu Prämissen der Funktionsgeschichtsschreibung ein. 77 Vgl. hierzu den wegweisenden Aufsatz von Friedrich Ohly, »Bemerkungen eines Philologen zur Memoria«, in: Karl Schmidt und Joachim Wollasch, (Hg.), Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert liturgischen Gedenkens im Mittelalter (München 1984), 9-68; sowie Aleida Assmann, »Die Säkulisierung des Andenkens - Memoria, Fama, Historia«, in: Erinnerungsräume , 33-61. 78
Vgl. Aleida Assmann über Dante, Spenser und Milton: »Als Dichterfürsten schreiben sie ihre Werke [ . . . ] der Intention nach unmittelbar ins nationale Gedächtnis ein.« in: Aleida Assmann, »Was sind kulturelle Texte?«, 238. 79 Vgl. hierzu ausführlicher Ansgar Nünning, »Die literarische Aneignung von Geschichte im Roman«, in: Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion. Bd. 1: Theorie , Typologie und Poetik des historischen Romans (Trier 1995), 58-89. Nünnings Überlegungen zur Selektion, narrativen Konfiguration und zu Interdiskursivität des historischen Romans erweisen sich in weiten Teilen auch für die allgemeinere Fragestellung nach dem Verhältnis von Literatur und kultureller Erinnerung von hohem Erkenntniswert. 18 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 43. Bd.
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verhandelt. Eine Inszenierung der Präsenz der Vergangenheit i m Gedächtnis der Gegenwart ermöglichen Spezifika der Zeitstruktur - etwa die Gegenüberstellung oder Durchdringung verschiedener Zeitebenen - ebenso wie intertextuelle oder intermediale Verweise auf Zeugnisse früherer Epochen. Die Gestaltung der Perspektivenstruktur kann dazu beitragen, sowohl die Individualität als auch die kulturelle Bedingtheit der Einzelperspektiven auf die Vergangenheit zu veranschaulichen. M i t der Semantisierung der Raumdarstellung vermag der literarische Text schließlich die zentrale Bedeutung von Orten für kollektives Erinnern zu hervorzuheben. Schon anhand dieser wenigen Beispiele w i r d deutlich, daß Literatur auf allen Textebenen und anhand unterschiedlichster Darstellungsverfahren zum Mediu m der Inszenierung von Inhalten und Formen kultureller Erinnerung werden kann. 8 0 Z u betonen ist allerdings, daß es sich hierbei nicht u m mimetische A b bildungen bestehender kollektiver Erinnerungspraxis handelt, sondern u m eine poietische Erzeugung oder Reflexion derselben. Eindeutige Rückschlüsse auf die gesellschaftliche Wirklichkeit erlauben literarische Werke daher zwar nicht. Das bedeutet aber ebenso wenig, daß sie sich in einem von der gesellschaftlichen Wirklichkeit abgegrenzten Raum bewegten. Literatur ist vielmehr Teil der kulturellen Praxis: Sie nährt sich aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit, ist angewiesen auf Institutionen, die ihre Verbreitung und Überlieferung garantieren, und kann umgekehrt gesellschaftlich wirksam werden. 8 1 Erkenntnisse über die gesellschaftliche Wirksamkeit literarischer Werke sind jedoch aus der Textanalyse allein nicht ableitbar. Hiermit lassen sich nur Aussagen über das Wirkungspotential 8 2 treffen, von dem i m tatsächlichen Rezeptionsprozeß immer nur ein Teil aktualisiert wird. Erst durch eine Einbeziehung des dritten Aspekts des Funktionsbegriffs, der historischen Wirkung, kann die Frage beantwortet werden, ob und wann die untersuchten literarischen Werke tatsächlich bedeutsam für Erinnerungskulturen werden. Hinweise auf ihren Eingang in den Funktionsbereich kollektiver Erinnerung bieten Auseinander80 Auf diese textinterne Ebene des Verhältnisses von Literatur und kultureller Erinnerung konzentriert sich Aleida Assmann in ihren Analysen zu Wordsworth, Forster und Heine. Aleida Assmann, »Wordsworth und die Wunde der Zeit« und »Gedächtniskisten«, in: Erinnerungsräume, 89-129. 81 Beispielhaft konzeptualisieren das wechselseitige Verhältnis von Literatur und gesellschaftlicher und kultureller Wirklichkeit etwa funktionsgeschichtliche Ansätze. Genannt sei hier Winfried Flucks wegweisende Studie Das kulturelle Imaginäre: Eine Funktionsgeschichte des amerikanischen Romans 1790-1900 (Frankfurt a.M. 1997). 82 Roy Sommer definiert das Wirkungspotential als »begründbare Annahme über die möglichen Effekte der narrativen Strategien, die den nacherzählbaren Inhalt eines literarischen Textes strukturieren und organisieren und damit für den Sinn entscheidend sind.« (Sommer, »Funktionsgeschichten«, 328).
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Setzungen i m Feuilleton ebenso wie Bestsellerlisten, Formen der Institutionalisierung, etwa die Aufnahme der Werke i n Lehrpläne, ihre Kanonisierung i m Sinne von Aleida Assmanns »kulturellen Texten< oder der Eingang von literarischen Zitaten in die alltägliche Redeweise. Neben der aus funktionsgeschichtlicher Perspektive erfolgten Differenzierung zwischen drei Ausprägungen möglicher Verbindungen von Literatur und kulturellem Gedächtnis, der Autorintention, dem Wirkungspotential und der historischen Wirkung, erfordert die Reflexion literaturwissenschaftlicher Theoriebildung die Beachtung eines weiteren Begriffs, den der Funktionszuschreibungen. 8 3 Bei allen Aussagen, die aus literaturhistorischer Perspektive über Funktionen literarischer Texte getroffen werden, ist davon auszugehen, daß es sich u m retrospektive Konstrukte von Wissenschaftlern handelt, deren methodische Prämissen, Standortgebundenheit und Erwartungshaltungen i n die Deutung der Quellen mit einfließen. Funktionen, wie die des Stiftens, Bewahrens oder kritischen Hinterfragens von kultureller Erinnerung, sind Texten nicht inhärent. Sie sind nicht einmal aus der weitgehenden Kenntnis historischen Rezeptionsverhaltens eindeutig ableitbar. Das bedeutet, daß es sich bei Aussagen über das Verhältnis von Literatur und kulturellem Gedächtnis u m (begründete) Hypothesen handelt, die ebenso viel über zeitgenössische Erinnerungskulturen verraten wie über den historischen Gegenstand der Analysen. Ein Kulturhistoriker, der dieser Tatsache konsequent Rechnung getragen hat, ist Pierre Nora, dessen Begriff der Erinnerungsorte die geschichtswissenschaftliche Analyse produktiv mit der notwendig auswählenden und wertenden Tätigkeit des Rückschauenden verbindet und die Bildung von Funktionshypothesen selbst als eine A r t kulturellen Erinnerns begreift. Daß das neue Paradigma des kulturellen Gedächtnisses auch und gerade für die Literaturwissenschaft, die eine kulturwissenschaftliche Erweiterung ihres Gegenstandsbereichs und Methodenspektrums anstrebt, von hoher Relevanz ist, dürfte deutlich geworden sein. U m die Verbindung von kultureller Erinnerung und Literatur angemessen beschreiben zu können, bedarf es allerdings einer Rekonzeptualisierung des Begriffs »kulturelles Gedächtniscomedie-ballet< Le Bourgeois Gentilhomme (1670 in Chambord anlässlich der königlichen Herbst) agd aufgeführt), das die Anregung gab für Richard Strauss' konzertante Suite Der Bürger als Edelmann (1920), thematisiert den falschen Ehrgeiz des zu Geld und Wohlstand gelangten Bürgers M o n sieur Jourdain, sich gegen Bezahlung in den typischen kulturellen Praktiken des Adels, also des höheren Standes, unterweisen zu lassen und somit ein größeres Sozialprestige zu gewinnen. Dazu gehören Fechten, Tanz, Musik, Philosophie, die Poesie und selbst die Kunst, sich a la mode zu kleiden. Wie nach der Lage der Dinge nicht anders zu erwarten ist, schlägt dieses Vorhaben fehl. Die Adaption des neuen kulturellen Codes gelingt nicht; stattdessen w i r d Monsieur Jourdain, dessen Eitelkeit ihn nicht auf seinen Verstand und seine Frau achten lässt, von einem adligen Betrüger hinters Licht geführt und u m sein Geld geprellt. Dass es dennoch zu einem glücklichen Ende kommt, ist hauptsächlich Madame Jourdain zu verdanken, die stets Bürgerin bleibt und zur List einer aristokratisch-höfischen Maskerade greift, u m ihr Ziel, die Verheiratung ihrer Tochter Clorinde mit einem bürgerlichen jungen Mann aus gutem Hause, durchzusetzen. I n Molieres Komödie prallen folglich zwei kulturelle Codes und zwei Stilformen, in denen sie sich manifestieren, aufeinander: Allerdings stellt dieses Drama i n der Frühen Neuzeit keinen Einzelfall für Begegnung und Konflikt von aristokratischem und bürgerlichen Code dar. Beispiele von komischer oder tragischer Behandlung dieses Themas finden sich in Shakespeares höfischen Komödien und dem bürgerlichen Lustspiel The Merry Wives of Windsor sowie in Calderöns Der Richter von Zalamea bis zu den bürgerlichen Trauerspielen Lessings und Schillers. Ein essentielles Konstituens dieser beiden Codes ist der (sprachliche) Stil. Schon seit längerem hat die Forschung erkannt, dass der aristokratische Stil wesentlich von der Rhetorik geprägt ist. Kontrastierend zu ihm hat man gern, aber fälschlich geltend gemacht, dass der bürgerliche Stil antirhetorisch oder gar unrhetorisch sei. A u f diese Weise lässt sich natürlich ein binäres System oppositioneller stilistischer Codes postulieren. Von dieser Opposition soll
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nachfolgend zunächst in heuristischer Absicht Gebrauch gemacht werden, u m sie dann jedoch deutlich zu modifizieren. Weiterhin soll Stil nicht ausschließlich sprachlich interpretiert werden, sondern die benutzten stilistischen Kategorien werden einen semiotischen Status erhalten, das heißt als Zeichen für alle möglichen Erscheinungsweisen der beiden kulturellen Codes 1 verwendet werden: etwa Architektur, bildende Kunst, Musik, selbst die Kleidermode.
I I . Der aristokratische Stil Der aristokratische Stil zeichnet sich besonders durch drei Eigenschaften aus, welche i n der rhetorischen Tradition durch drei Termini bezeichnet werden: amplificatioy translatio und demonstratio.
1. Amplificatio oder: die Vergrößerung des aristokratischen Seins Der aristokratische Stil strebt nach bedeutungsvoller Größe. Das Mittelalter kennt wie das klassische Altertum drei Stilebenen (genera dicendidie nach verschiedenen Höhen angeordnet sind: solchen des Themas, der rhetorischen und literarischen Gattung und der sozialen Schicht der dargestellten, redenden und angeredeten Personen. 2 D e m großen oder hohen Stil (stilus gravis, grandiloquus) angemessen sind Heroen, Könige, Feldherren und andere hochgestellte Persönlichkeiten (graves personae). Die entsprechende literarische Gattung ist das heroische Epos, etwa in der Rota Vergiliana des Johannes de Garlandia die Aeneis des römischen Klassikers. Themen dieses Stils sind Heldentaten, vor allem solche der kriegerischen Art. I n der Renaissance, die das Drama der Griechen und Römer wiederentdeckte, wurde das gleiche Stilprinzip auf die Tragödie ausgeweitet. I n Verbindung mit dieser Zuordnung bildete sich die sog. Ständeklausel heraus; das heißt: Der hohen Literaturgattung und dem hohen Stil sind keine Personen niederen Standes und keine niederen Themen angemessen. Jeder Bruch dieser Konvention - etwa durch Vermischung von Stilen, Ständen und Themen - galt als unschicklich, abwegig, sozial unakzeptabel, ja 1
Zur Konzeption kultureller Codes cf. Jurij Lotman, Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur, hg. K. Eimermacher (Kronberg / Ts. 1974); Jurij Lotman & Boris Uspenskij, »Die Rolle dualistischer Modelle in der Dynamik der russischen Kultur (bis zum Ende des 18. Jahrhunderts), Poetica, 9,1 (1977), 1 -40; Renate Lachmann, Die Zerstörung der schönen Rede: Rhetorische Tradition und Konzepte des Poetischen (München 1994), Kap. I & II. 2 Cf. dazu Edmond Faral, Les arts poétiques du XII Chap. III.
e
et du XIII
e
siècle (Paris 1971),
Aristokratischer und bürgerlicher Stil
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revolutionär, so dass etwa das Bürgertum nicht in die hohe, aristokratische Tragödie Eingang finden konnte und eine bürgerliche Tragödie keine Daseinsberechtigung fand, es sei denn als bürgerliches Trauerspiel. 3 Das lag nicht zuletzt daran, dass dem Bürgertum i n der »hohen« Tragödie keine adäquate tragische »Fallhöhe« zugebilligt wurde. N o c h Georg Büchner konnte diese in dem antithetischen Kampfruf seines Hessischen Landboten prägnant zum Ausdruck bringen: »Friede den Hütten, Krieg den Palästen!« Die amplifizierende Erhöhung des Stils lässt sich treffend anhand einer Textstelle aus Shakespeares Tragödie King Lear illustrieren. I n einer Szene vor Gloucesters Schloss (ILii) beschimpft Kent den hinterhältigen Höfling Osrick auf das unflätigste und rechtfertigt sein Sprachverhalten mit seiner plainness: »Sir, 'tis my occupation to be piain.«, wobei piain ein polysemes Wortspiel mit den Bedeutungen »niedrig« (vom Stil) und »offen, ehrlich« (vom Charakter) enthält. Vom Herzog von Cornwall wegen seiner rüden A r t gescholten, demonstriert er anschließend, dass er auch in einer anderen Stilart reden kann: Sir, in good faith, in sincere verity, Under the allowance of your great aspect, Whose influence, like the wreath of radiant fire Of flickering Phoebus* front, {King Lear II.ii. 102-105) - in der Ubersetzung von Wolf Graf Baudissin: Gewiss, Herr, und wahrhaftig - ganz im Ernst - , Unter Vergünst'gung eures hocherhabenen Aspekts, des Einfluss wie der Strahlenkranz Um Phoebus' Flammenstirn, Stilwechsel signalisiert hier einen Rollen- und Standeswechsel. Hier spricht der Graf von Kent zum Herzog von Cornwall, dem Gatten der Lear-Tochter Regan und einem der beiden künftigen Herrscher Englands. Kent, vom König unter Androhung der Todesstrafe aus seinem Reich verbannt, hat sich zu seinem Schutz als »gemeiner Mann< verkleidet und kann in dieser Rolle einen »planen« Stil benutzen, der dazu passt. I n der zitierten Textperikope verlässt Kent bewusst diese Redeweise (»To go out of my dialect«) und demonstriert zum Erstaunen seiner Zuhörer, dass er sich wie eine Person von Stand auszudrücken weiß. Als Aristokrat gebraucht er den amplifizierenden Stil der Aristokratie mit dessen Merkmalen: formelle Anrede des Angesprochenen, steigernde, dekorative Epitheta, schmückenden Vergleich, mythologische 3 Cf. dazu Peter Szondi, Die Theorie des bürgerlichen hg. G. Mattenklott (Frankfurt 1973).
Trauerspiels
im 18. Jahrhundert ,
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Metapher. Die amplificatio erscheint hier in zweifacher Form: als vertikale zur Steigerung der D i k t i o n und als horizontale zu deren verbaler Ausweitung. 4 Da beides in diesem Fall äußerst person- und situationsunangemessen ist, w i r k t der von Kent verwendete aristokratische Stil hier bombastisch und übernimmt die Funktionen von Parodie und Satire, u m sein Gegenüber lächerlich zu machen. Jede Steigerung in die Höhe kennt Maß und Ubermaß. Die vertikale amplificatio manifestiert sich deutlich in der Hyperbel, einer rhetorischen Figur, welche die Realität übersteigt. Aus diesem Grund übersetzt der elisabethanische Literaturtheoretiker George Puttenham den griechischen Terminus mit dem englischen Ausdruck The Overreacher. 5 I m wörtlichen Sinn w i r d der aristokratische Mensch ein solcher Overreacher; indem er sein physisches Erscheinungsbild durch entsprechende Kleidung vergrößert: »Hohe Absätze und hohe Frisuren steigern die Figur in die Länge, Polster und Gestelle erweitern sie in die Breite.« 6 H i n z u kommt die Perücke: »Sie betont das Haupt, aber sie lenkt vom Gesicht ab. Roger de Piles erzählt uns, wie schwer es war, jemanden wiederzuerkennen, den man gestern in einer anderen Perücke kennengelernt hatte.« 7 Anders gesprochen, die Perücke schafft eine Rolle, deren soziale Signifikanz von deren Größe bestimmt ist. Eine derartige physiognomische Hyperbolik durch die Kleidung besitzt ihr Pendant i n der ikonischen Hyperbolik des aristokratischen Porträts, vor allem des Herrscherporträts, das die dargestellte Person oft überlebensgroß erscheinen lässt. Der italienische Barock-Bildhauer Gian Lorenzo Bernini verlangt ausdrücklich, »dass das Portrait die triviale Ähnlichkeit unterdrücke und das >Große< betone« 8 . Die gleiche ikonische Hyperbolik erscheint in Reiterporträts (z. B. des englischen Königs Charles I von A n t o n van D y c k 9 ) und Reiterstandbildern (z. B. von Kaiser Wilhelm I.), die dem erhaltenen Archetyp des Reiterstandbilds des römischen PhilosophenKaisers Marc Aurel auf dem Kapitol nacheifern. Der Stil der amplifizierenden künstlerischen Porträtierung hebt den aristokratischen Menschen über die unteren Stände hinaus und ermöglicht seine allseitige Wahrnehmbarkeit. Je höher der aristokratische Rang, desto größer die ikonische Hyperbolik. Analoges gilt 4
Zur vertikalen und horizontalen amplificatio bzw. Höhen- und Breiten -amplificatio cf. H.F. Plett, »Amplification«, in: Encyclopedia of Rhetoric , ed. T.O. Sloane (Oxford/ New York 2001), 25-26. 5 George Puttenham, The Arte of English Poesie, ed. G. D. Willcock & A. Walker (Cambridge 1970), 191: »Hiperhole, or the Ouer reacher, otherwise called the loud Iyer:« 6 Richard Alewyn, Das große Welttheater: Die Epoche der höfischen Feste (Berlin 1985), 46. 7 Ibid., 48-49. 8 Ibid., 48. 9 Cf. Roy Strong, Van Dyck: Charles I on Horseback (London 1972).
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für die aristokratische Herrschaftsarchitektur des Schlosses, das sich im Urbanen Umfeld deutlich über die niedrigen Bürgerhäuser erhebt und sie an Länge und Breite übertrifft (Höhen- und Breiten-Amplificatio) und nur einen einzigen Rivalen besitzt, die hochaufragende Sakralarchitektur von Domen und Kathedralen (z. B. der Louvre i m Vergleich zur nahe gelegenen Kathedrale von Notre Dame in Paris). Wie i m Fall der Reiterstatue greift man auch hier auf ein antikes Vorbild zurück, bezeichnenderweise auf die nunmehr säkularisierte Architektur des griechisch-römischen Tempels, die schon Palladios Villenarchitektur inspiriert hatte. Die amplifizierende Hyperbolik hebt unter stilsoziologischem Aspekt den natürlichen Menschen über das Normalmaß des Menschlichen hinaus, macht ihn zu einer A r t von Übermenschen. Der englische Renaissance-Dramatiker Christopher Marlowe hat diesen Aufstieg in einer Reihe von »titanischen Heroen« vorgeführt: in Tamburlaine the Great etwa den Aufstieg eines einfachen Hirten zum Heerführer, König und schließlich zum Weltherrscher, w o bei seine Darstellung in einer ständig sich steigernden Hyperbolik der Worte und Taten erfolgt. Solche Akte der Heroisierung vollziehen sich zwangsläufig in der Form der antiken Mythologie, und zwar gleichermaßen in Literatur, Kunst und Musik. Einige Beispiele: Henri I V von Frankreich, der in seinem Land die Religionskriege durch geschickte Diplomatie beendete, ließ sich in Gedichten und Emblemen als Hercules Gallicus feiern, als jener mythische Kulturheros, der die barbarischen Gallier nicht mit der physischen Gewalt der Keule, sondern den goldenen Ketten seiner Beredsamkeit bezwang. 1 0 Königin Elizabeth I von England wurde als Astraea tituliert und damit der Göttin der Gerechtigkeit gleichgesetzt, die auf Erden ein neues goldenes Zeitalter hervorbringt. 1 1 Jedoch auch ein weniger bedeutender Territorialfürst wie der als Gründer der Wolfenbütteler Bibliotheca Augustana berühmt gewordene Herzog August von Braunschweig (1579-1666) kommt i n den Genuss der erhebenden Mythisierung, indem er von Harsdörffer mit dem Caduceus des Redegottes Mercurius in der Rechten und auf dem Musenross Pegasus sitzend dargestellt w i r d . 1 2 Louis X I V von Frankreich übertrifft alle seine Vorgänger, indem er sich den Titel eines Sonnenkönigs (»Roi Soleil«) beilegt und auf diese Weise mit dem obersten Planeten i m Makrokosmos in Konkurrenz tritt. I n dieser mythischen 10 Cf. Carlo Vivanti, »Henri IV, the Gallic Hercules«, Journal of the Warburg and Courtauld Institutes , 30 (1967), 176-197; Carlo Vivanti, Lotta politica e pace religiosa in Francia fra Cinque e Seicento (Turin 1963), 74-131. 11 Cf. Frances A. Yates, Astraea: The Imperial Theme in the Sixteenth Century (Harmondsworth 1977). 12 »Alles mit Bedacht«: Barockes Fürstenlob auf Herzog August (1579-1666) in Wort , Bild und Musik. , hg. M. Bircher & Th. Bürger (Wolfenbüttel 1979), 90-93.
21 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 43. Bd.
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Rolle erscheint er i n Literatur, Kunst und Tanz, wie der jüngst erschienene F i l m Le roi danse (2001) eindringlich vorführt. Dass derartige mythologische Amplifizierungen jedoch auch ambivalent sein können, zeigt etwa Jean-Baptiste Lullys höfische >tragedie en musique< Phaeton, die den Himmelssturz des Sohnes des Sonnengottes zum Thema hat.
2. Translatio oder: die Tropizität des aristokratischen Rollenspiels Was Ernst H . Kantorowicz in seinem Klassiker der politischen Theologie als die »zwei Körper des Königs« 1 3 bezeichnet: als die Duplizität von privatem und öffentlichem Sein, gilt mutatis mutandis für die aristokratische Existenz schlechthin. Das rhetorische Analogon dieser doppelten persona ist die semantische Tropizität, das heißt: die »Übersetzung« (translatio) einer als »eigentlich« definierten Bedeutung durch eine andere, »uneigentliche« oder imaginierte Bedeutung. Die öffentliche Repräsentanz derselben erscheint i n einem subtilen Rollenspiel, das einem genau festgelegten Code folgt. I n augenfälliger Weise tritt dieses Rollenspiel bei höfischen Festen zutage, in denen die Aristokratie i n allegorischen und mythologischen Verkleidungen auftritt. Manfred Windfuhrs These einer »tropischen Hofgesellschaft« 14 lässt sich anhand des Maskenspiels vorzüglich illustrieren. Die am H o f der frühen Stuarts in London unter der M i t w i r k u n g des Dichters Ben Jonson und des Architekten und Bühnenbildners Inigo Jones sowie verschiedener Komponisten aufgeführten Maskenspiele erlauben auf Grund der erhaltenen Dokumente eine detaillierte Rekonstruktion der Tropizität des aristokratischen Stils. Das höfische Maskenspiel besteht hier i n der Regel aus zwei Teilen, der Antimasque mit ihrer Darstellung einer negativen, chaotischen Welt von bösen Geistern, Satyrn oder Hexen sowie der eigentlichen Masque mit ihrer Darstellung einer idealen, geordneten Welt von erhabenen Personifikationen und Figuren der klassischen Mythologie. Während die Rollen der Antimasque von Berufsschauspielern dargestellt wurden, wurden die Rollen der eigentlichen Masque von den aristokratischen M i t gliedern des Königshofes übernommen. So sind etwa von den aristokratischen Mitwirkenden an der 1608 in Whitehall aufgeführten Masque of Beautie (1608) die Namen überliefert: allesamt hochgestellte Damen bei Hofe, an ihrer Spitze 13 Ernst H. Kantorowicz, The King's Two Bodies: A Study in Mediaeval Political Theology (Princeton, N.J. 1957). 14 Manfred Windfuhr, Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker: Stilhaltungen in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts (Stuttgart 1966), 154 f. Zum Konzept cf. auch - mit anderer Akzentuierung - Frank Whigham, Ambition and Privilege: The Social Tropes of Elizabethan Courtesy Theory (Berkeley / Los Angeles / London 1984).
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die Königin A n n e . 1 5 Ein anderes Maskenspiel mit dem Titel Oberon y The Faerie Prince (1611), das mit einem großen Aufwand an Bühnentechnik und Musik für den Kronprinzen geschaffen war, stellte diesen in der mythologischen Verkleidung des Feenprinzen in den Mittelpunkt. Sein Auftritt selbst erfolgte unter feierlicher Musik i n einem trionfo auf einem von zwei weißen Bären gezogenen Prunkwagen, der von Sylvanen begleitet war, und mündete in eine allseitige Huldigung durch die Feen: Seeke you maiestie, to strike? Bid the world produce his like. Seeke you glorie, to amaze? Here, let all eyes stand at gaze. Euery vertue of a king, And of all, in him, we sing.16 M i t einer solchen Form der Selbsttropisierung schuf sich die Aristokratie ein idealisiertes Bild ihrer selbst, und wenn am Schluss des Maskenspiels der ganze zuschauende H o f sich dem Tanz der darstellenden Personen anschloss, so gelangten i n diesem A k t der Festlichkeit Rollenspiel und Realität, Tropizität und Literalität zur Deckung. Indem die Duplizität der beiden personae und damit die Fiktionalität der theatralen Präsentation aufgehoben wird, w i r d deutlich, was der eigentliche Zweck dieser stilistischen translatio ist: die Epideixis des herrschenden feudalistischen Regimes.
3. Demonstratio oder: die Epideixis aristokratischer Repräsentation Die Aristokratie tritt vor die Öffentlichkeit mit dem Gestus der Zur-SchauStellung ihrer selbst. Der Stil der Repräsentation ist ein solcher des Lobs, nicht selten eines Auftrag-Lobs eines aristokratischen Mäzens, das von Dichtern, Malern oder Musikern gespendet wird. Lob und Tadel aber sind Konstituenten des dritten rhetorischen Genres, des genus demonstrativ um bzw. der Epideixis. Diese gliedert sich in der Spätantike, etwa in dem Traktat des Menander Rhetor, 15
Ben Jonson, [Works], ed. C.H. Herford & P. & E. Simpson. Vol. VII. (Oxford 1963), 191. - Zur Interpretation s. Stephen Orgel, The Jonsonian Masque (New York 1981), 116-128. - Zu Inigo Jones s. die Darstellungen von John Summerson & Sir Howard Colvin, Inigo Jones, rev. ed. (New Haven 2000) [J1966] und British Council, Inigo Jones, 1573-1652 (Mailand 1973). 16 Ben Jonson, 355-356. Zum Kontext des Oberon-Mythologems cf. Patricia B. Worrall, The Figure of Oheron in Seventeenth- and Eighteenth-Century English Literature (PhD diss. University of Georgia, 1999).
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in zahlreiche Unterarten: Lob von Personen, Gegenständen, Handlungen, Orten, Zeiten, usw. 1 7 Für das aristokratische Lob relevant ist ein bedeutsamer zeitlicher Anlass: Geburt, Hochzeit, Namensfest, Sieg in einer Schlacht, Friedensschluss mit ehemaligen Feinden, Tod. 1 8 Aus solchen Anlässen entstand in der Frühen Neuzeit die Fülle von epideiktischen Gelegenheitsdichtungen, mythologischen Gemälden, Pageants und Festkantaten. Die Stilprinzipien, die bei derartigen Gelegenheiten Verwendung fanden, sind die bereits erwähnten Formen der Amplifikation und Translation. Ein Exempel von ikonischer Eulogie ist etwa das Armada-Porträt (1588?) Elizabeths I 1 9 , ein solches der epideiktischen Musikformen etwa die opulenten Krönungshymnen, Geburtstagsoden und Trauerelegien zu Ehren der englischen Königin Mary (1689-1695). 20 Da die Epideixis als rhetorisches Genre nur eine eindimensionale Argumentation ohne Widerspruch kennt, hat E. R. Curtius 2 1 sie zu Recht als ästhetisches Phänomen bezeichnet; das heißt: sie trägt ihren persuasiven Zweck letztlich in sich selbst. Ihr Wesen ist die Autotelie. Dies besagt für den aristokratischen Stil, dass seine Erscheinungsformen ästhetischen Charakter besitzen, wenn sich hinter dem ästhetischen Charakter auch häufig eine konkrete Zielabsicht verbirgt. Während in der Frühen Neuzeit (und darüber hinaus) der aristokratische Stil von hyperbolischer, tropischer und epideiktischer Repräsentanz geprägt ist, gibt eine idealistische Konzeption geradezu eine antirhetorische Losung aus. Sie ist zentriert u m das Konzept der sprezzatura (engl, understatement) und stammt von dem italienischen Höfling und Politiker Baidassare Castiglione, der in seinem in Europa weit verbreiteten Traktat Ii Cortegiano postuliert, dass die A n m u t (grazia) oder Ästhetizität von Kunst in der Leichtigkeit ihrer Ausübung bestehe. Er fährt fort: Daher kann man sagen, dort sei die wahre Kunst, wo man die Kunst nicht sieht, so dass es die Hauptsorge sein muss, sie zu verbergen; kommt sie zutage, ist alles Vertrauen verloren, und der Mann verachtet. 22 17 Edition: Menander Rhetor ; ed. with Translation and Commentary by D.A. Russell & N.G. Wilson (Oxford 1981). 18 Zur Renaissance cf. die grundlegende Studie von O.B. Hardison, Jr., The Enduring Monument: A Study of the Idea of Praise in Renaissance Literary Theory and Practice (Chapel Hill, N.C. 1962) [rpt. 1973]. 19 Cf. Roy Strong, Gloriana: The Portraits of Queen Elizabeth I (London 1987), 131 f. 20 Die Musik, die hauptsächlich von Henry Purcell stammt, ist neuerdings wieder zugänglich in einer ausgezeichneten Wiedergabe auf einer CD mit dem Titel Music for Queen Mary: A Celebration of the Life and Death of Queen Mary [Sony SK 66243]. Das vorzügliche Booklet enthält die Texte sowie Hintergrundinformationen. 21 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (Bern/ München 31961, Tübingen 101993).
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Der Ursprung dieses Postulats ist die Maxime des celare artem Ciceros und der antiken Rhetorik. 2 3 Es findet sich auch in Poetiken und Kunsttheorien, in letzteren als difficulté vaincue. Die höfische Kultur hat in den besten Repräsentationen des aristokratischen Stils diese sprezzatura realisiert. Ihr herausragender Gestalter ist vielleicht William Shakespeare. I n den Verfallserscheinungen aristokratischer Dekadenz neigt dieser Stil zur Übertreibung seiner Mittel, zum Bombast {mala affectatio). Wo der aristokratische Stil degeneriert, kommt es zu einer Opposition. Diese initiiert der Tiers Etat, das Bürgertum. Solche Opposition ist nicht auf den Stil und die Kultur beschränkt, sondern greift auf die soziale und politische Dimension über, w o ihr eigentlicher Ursprung liegt. Richard A l e w y n beschreibt in seinem Buch Das große Welttheater diesen revolutionären Stilbruch so: Ein letztes Mal stellt der bachantische Zug sich her. [ . . . ] Aber wenn im strahlendsten Fest jäh die Türen auffliegen, ist es nur der Bürger, der hereintritt und die Fackel löscht, weil vor den Fenstern ein fahler Morgen erwacht ist. 24 Der neue Morgen, der anbricht, ist der Morgen der Französischen Revolution, der bürgerlichen Revolution. M i t dem Bürgertum artikuliert sich ein neuer Stil. Er hat sich schon lange vor der bürgerlichen Revolution herangebildet und ist w o h l derjenige Stil, mit dem w i r heute am besten vertraut sind. Von ihm soll i m nächsten Teil dieser Ausführungen die Rede sein.
I I I . Der bürgerliche Stil Der bürgerliche Stil lässt sich i m Gegensatz zum aristokratischen am besten mit englischen Termini beschreiben - nicht, weil dieser gänzlich unrhetorisch wäre, sondern weil er sich theoretisch und praktisch vor allem i m englischen 22 Baidassare Castiglione, Der Hofmann: Lebensart in der Renaissance. Aus dem Italienischen von A. Wesselski. Mit einem Vorwort von A. Beyer (Berlin 1996), 36. Im italienischen Original heißt es: »perö si po dir quella esser vera arte, che non pare esser arte« [B. Castiglione, Ii libro del cortegiano (Turin 1960), 55 (I.xxvi)]. - Cf. zur sprezzatura Wayne A. Rebhorn, Courtly Performances: Masking and Festivity in Castiglione's »Book of the Courtier« (Detroit 1978), 33-40; Manfred Hinz, Rhetorische Strategien des Hofmanns: Studien zu den italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts (Stuttgart 1992), II.3 »Die Ausstattung des Hofmannes« (110 ff.); Joseph A. Mazzeo, Renaissance and Revolution: The Remaking of European Thought (New York 1966), 131-160, der behauptet, dass von den vier für den Cortegiano konstitutiven Konzepten - grazia, gravita, sprezzatura, leggiadria - der grazia als dem Telos die Vorrangstellung zukomme. 23 Cf. zu den klassischen Quellen Harry Caplans Anmerkung zu Rhetorica ad Herennium IV.vii.10 in der Loeb Edition (London / Cambridge, MA 1954), 250-251. 24 Alewyn, Das große Welttheater; p. 17.
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Sprachraum herangebildet hat. Es handelt sich u m die Termini plainness, literalness und simplicity. Sie dienen nachfolgend nicht dazu, u m präzise antithetische Relationen zum aristokratischen Stil herauszustellen. Vielmehr geht es u. a. auch darum, Ubergänge vom einen zum anderen Stil und sogar zu Adaptionsfomen des aristokratischen Stils in der bürgerlichen Kultur zu ermitteln.
1. Plainness oder: die stilistische Nivellierung des bürgerlichen Seins I m Gegensatz zur Aristokratie, deren Streben nach Größe sich i n stilistischen Amplifikationen manifestiert, verlangt die Ideologie der Gleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft einen nivellierenden Stil ohne erhöhende Eigenschaften. Dieser Gleichheit demonstrierende piain style, wie er i m anglophonen Sprachraum seit dem 17. Jahrhundert heißt 2 5 , nimmt als sermo humilis oder genus tenue den untersten Rang auf der rhetorischen Skala der Stilebenen ein. Er ist nicht der Stil der opulenten, gebundenen Rede (ritualen< wie den >feierlichen< Aspekt des Dramenschlusses. 8 Vgl. Felix Bossonnet, The Function of Stage Properties in Christopher Marlowe's Plays (Bern 1978), 35.
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Damit garantiert sie aber auch in höherem Maße als der Titelheld selber die stilistische Höhe der Darstellung. Als Requisiten der Macht sind Prunk und Pracht der Kleidung Verschönerung bzw. Ausblendung des Alltags, sind Lebensüberhöhung. Tamburlaines sprachliche Tiraden der Selbstdarstellung erhalten hier ihre visuelle Ergänzung und Bestätigung. 9 Metaphernbeladene Sprache wie prunkvolle Kulisse und üppige Requisiten garantieren als Ensemble die stilistische Höhe des Festspiels wie der Tragödie. Der Tod der Zenocrate ereignet sich allerdings bereits i m zweiten A k t . Hier w i r d eine Kulisse auf der Hinterbühne aufgebaut, die überragende bildhafte und damit statische Bedeutung für das Drama erlangt. Sorgfältig ist der gesamte Hofstaat als »almost motionless tableau« 10 u m das Krankenlager arrangiert: »The Arras is drawen, and Z E N O C R A T E lies in her bed of state, T A M B U R L A I N E sitting by her: three P H I S I T I A N S about her bed, tempering potions. T H E R I D A M A S , T E C H E L L E S , U S U M C A S A N E , and the three sonnes [ C A L Y P H A S , A M Y R A S , C E L E B I N U S ] . « (2:2.4) M i t seiner egomanischen Trauerrede fängt Tamburlaine klischeehaft die Atmosphäre dieser Situation der sterbenden Zenocrate ein: Blacke is the beauty of the brightest day, The golden balle of heavens eternal fire, That danc'd with glorie on the silver waves, Now wants the fewell that enflamde his beames: And all with faintnesse and for foule disgrace, He bindes his temples with a frowning cloude, Ready to darken earth with endlesse night: (2:2.4. 1 - 7 ) Der Leichenzug der Zenocrate w i r d eindrucksvoll i m dritten A k t vor dem Hintergrund einer brennenden Stadt inszeniert und bleibt anschließend für die folgende Handlung, auch wenn die aufgebahrte Leiche nicht mehr sichtbar ist, Sinnbild für das gesamte weitere Geschehen. 11 I n dieser Funktion erscheint der Katafalk dann am Ende wieder auf der Bühne. Er ist unter all den Insignien und Requisiten der Macht und der Trauer das eindrucksvollste Sinnbild eines tragischen Geschehens: »In the face of the coffin the drama threatens to dissolve completely.« 12 Angesichts der i m Tode vereinigten Protagonisten verkündet 9 Zur Geschichte des Sehens und zur Repräsentation der Exotik vgl. Robert S. Nelson (Hg.), Visuality before and beyond the Renaissance: Seeing as Others Saw (Cambridge
2000). 10
Bosonnet, a. a. O. 43. Vgl. David Fuller, »Introduction«, in: Christopher Marlowe, The Complete Works , Bd. 5, a. a. O., xxxvii: »When Tamburlaine has Zenocrate's body wrapped in gold and her coffin kept with him, his aim is to remain in communion with what is irrevocably lost - her spiritual presence - through contact with its obvious symbol.« 12 Bosonnet, a. a. O. 55. 11
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der neue König Amyras das Ende des Spiels: »Meet heaven and earth, and here let al things end, [ . . . ] « (2:5.3. 250). Beide Teile von Marlowes Doppeldrama enden in einem aussagekräftigen Sinnbild mit statischer Schlußgestaltung. Das Geschehen erstarrt i m Bild, das Bild ist der Schluß. Tamburlaine und Zenocrate werden nicht mehr hinausgetragen. Soweit das Geschehen sich auf der Hinterbühne abspielt, w i r d der Vorhang zugezogen, soweit das Geschehen sich auf der Vorderbühne abspielt, markieren die Worte des Amyras das Ende der Fiktion. Als verkürzter Schlußmonolog kommentieren diese Worte das Ende und leiten in die Realität des Theaters über. Tamburlaine und - soweit i m Katafalk vorhanden - Zenocrate können sich mit Würde wieder als Schauspieler und nicht mehr als Spielfiguren erheben. Der Applaus ist ihnen sicher.
III. Was haben Hamlet und Cleopatra als Titelfiguren der entsprechenden Shakespeare-Dramen gemeinsam? Unter anderem dies, daß sie am Ende des Dramas - egal, ob in Dänemark oder Ägypten - als Leichen von der Bühne getragen werden. U n d zwar geschieht das »in keeping w i t h the style of the play«, d. h. hier der hohen Tragödie angemessen. Der Gattung und damit zugleich auch ihrem sozialen Rang verdanken sie einen stilgerechten Abgang - auch noch i m Tod. Das Schlußbild der Tragödie, der statisch bildhaft inszenierte Tod bzw. der Leichenberg, ist in beiden Dramen vorhanden. Ebenfalls w i r d hier in beiden Fällen jedoch noch einmal Bewegung in die Schlußsituation gebracht, indem die Leichen weggetragen werden. Das ist anders als in Marlowes Tamburlaine - zumindest sind hier Bühnenanweisungen überliefert, die eine Differenz der Aufführungspraxis nahelegen. Lawrence Olivier läßt seinen Hamlet-Film von 1948 mit dem Schluß der Tragödie beginnen: Die Leiche des Dänenprinzen w i r d durch das ganze Schloß getragen bis hinauf zur höchsten Zinne - eines der vielen und oft bedeutungsschwer-aufdringlichen Symbole in diesem Film. Die letzte Bühnenanweisung des Folio-Textes dagegen besagt: »Exeunt marching, after which a peal of ordnance is shot off.« 1 3 Dieser Abmarsch der Truppen des Fortinbras und deren militärischer Salutschuß ist Teil der Bestattungszeremonien für Hamlet. Gleichzeitig sorgt diese Zeremonie dramentechnisch aber auch für ein Leerräumen der Bühne bzw. für den Abgang aller Schauspieler als tote oder lebende Bühnenfiguren, wenn Fortinbras befielt: »Take up the bodies« (5. 2. 406). 13
William Shakespeare, Hamlet, The Arden Shakespeare, hg. Harold Jenkins (London/New York 1981, Ndr. 1992). 22 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 43. Bd.
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Das militärische Ende des Dramas kündigt sich bereits lange vorher an. N o c h der sterbende Hamlet konnte die Truppen des Fortinbras in der Ferne hören: »What warlike noise is this?« (5.2. 354) U n d die akustische Reminiszenz der Fortinbras-Handlung lenkt Hamlets letzte Sorge auf die Thronfolge und das Schicksal des Staates: »He has my dying voice« (5.2. 361). I m Sinne eines Wahlkönigtums ist die Wahl des Fortinbras wahrscheinlich - und Hamlet stimmt ihr zu. Insofern kommt hier die Staatshandlung zum positiven A b schluß. Die Staatshandlung war von Anfang an das Hauptthema. Bereits in einer ersten Evaluation der Geistererscheinung hatte Horatio Unregelmäßigkeiten in der Regierung als Ursache für die apparition vermutet: But in the gross and scope of my opinion This bodes some stränge eruption to our State. (1.10. 68 f.) U n d Marcellus sekundiert i h m nur wenig später: »Something is rotten in the State of Denmark« (1.4. 65). Beider Ahnung erfüllt sich am Ende. Hamlet spannt i m ersten A k t den Bogen noch weiter und sieht gleich die gesamte Zeit aus den Fugen geraten: The time is out of joint. O cursed spite That I was born to set it right! (1.50.197 f.) 14 Wenn er seine Aufgabe der Korrektur dieser Unregelmäßigkeit erfolgreich abgeschlossen hat, hat sich sein Schicksal erfüllt, ist er tot. Er hat mit dem Leben für das Wohl, für die Kontinuität des Staates bezahlt. Sein Tod steht als letzter in der Kette der Todesfälle. Während es auch i m Handlungsverlauf ab dem dritten A k t bereits Tote gibt - Polonius, Ophelia häufen sich die Todesfälle i n der letzten Szene, so daß hier tatsächlich mit vier Toten und der Nachricht von zwei weiteren Todesfällen - Rosencrantz und Guildenstern - als barockes Todesemblem der Leichenberg als Schlußtableau der Tragödie entsteht. Zugleich ist die Duellszene i m fünften A k t aber auch in Anwesenheit des gesamten Hofstaats genau wie die Theateraufführung i m dritten A k t auf Anordnung des Königs eine offizielle Angelegenheit, eine Staatsszene, die Gelegenheit zur Prachtentfaltung und damit zur Demonstration der Machtfülle des Claudius gibt. Insofern Pomp und Tod zusammenfallen, präsentiert diese Schlußszene auch das vanitas-yioxxv und verweist auf die Vergänglichkeit von Reichtum und Macht, kurz: aller irdischen Güter. Die Trauer des Horatio w i r d durch die militärische Intervention des Fortinbras unterbrochen. Argerlich fragt Horatio: »Why does the drum come 14
G. Wilson Knight, The Wheel of Fire: Interpretations of Shakespearean Tragedy (London/New York 1930, Ndr. 1995), 19 sieht hier ausdrücklich den Bezug zum Staat: »He cries out against the cruel fate that has laid on him, whose own soul is in chaos, the command of righting the evil in the state.«
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hither?« (5.2. 366). Z u dem wenig militärischen Hamlet paßt auch am Schluß keine Marschmusik. Horatios empfindsame Freundschaft hat wenig Verständnis für eine solche Störung der Trauer - wie er es empfindet. U n d doch ist es nicht primär die Aussicht auf die Krone, die Fortinbras auf die Szene führt. M i t seinen ersten Worten bezieht er sich auf den Anblick des Schlußtableaus: »Where is this sight?« (5.2. 367). U n d er betont den emblematischen Charakter des sich ihm bietenden Anblicks eines Gemetzels: O proud death What feast is toward in thine eternal cell, That thou so many princes at a shot So blodily hast struck? (5.2. 369-372) Alle Opfer gehören dem Hochadel an, der >Prinzenberg< symbolisiert die Macht des Todes. Die Fallhöhe ist durch den sozialen Status garantiert. Sic transit gloria mundi. Der tragische Effekt w i r d durch das Bühnenbild eindringlich unterstrichen. Das Militär ist Machtdemonstration und damit Insignium der Mächtigen. Allein sein sozialer Status berechtigt Hamlet zu militärischen Totenehren. Insofern sind die Soldaten des Fortinbras auch eine Stilfrage. Ihr Auftritt entspricht der hohen Tragödie. Doch das i m wörtlichen Sinn >merkwürdige< Schicksal Hamlets fordert auch aus der Sicht des Horatio zur Veröffentlichung heraus - sei es zur Warnung oder zur Belehrung der Menge bzw. der Fürsten. Insofern weiß sich Horatio durchaus der Soldaten des Fortinbras zu bedienen, damit der Nachwelt die Taten und das Streben Hamlets überliefert werden: [ . . . ] give order that these bodies High on a stage be placed to view, And let me speak to th' yet unknowing world How these things came about. (5.2. 382-385) Selbst i m Tode noch kommt den Prinzen die von Stephen Greenblatt so benannte »privileged visibility« z u . 1 5 Sie agieren stets gewollt oder ungewollt auf einer exponierten Plattform. I n dieser Hinsicht möchte Horatio alle Leichen auf einer Bühne drapieren, u m den theatralischen Effekt, u m die Zurschaustellung der vorangegangenen Handlung zu betonen. Hier konvergieren die Aufklärungsinteressen von Horatio und Fortinbras. Der letztere sekundiert dem Inszenierungsstreben des Horatio durch die Einbeziehung des Publikums in dieses theatrum mundi: Let us haste to hear it, And call the noblest to the audience. (5.20. 339 f.) 15
Stephen Greenblatt, Shakespearean Negotiations: The Circulation of Social Energy in Renaissance England (Oxford 1988, Ndr. 1992), 64. 22*
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Durch diese Spezifizierung des Publikums w i r d die Zuordnung des Textes zur Fürstenspiegelliteratur nahegelegt. Wenn Horatio dann noch einmal fordert: »But let this same be presently performed«, so geht die Aufführung des Dramas direkt wieder von vorne los. Aus dem Königspalast werden die Leichen auf eine »Bühne« transportiert, von der einen auf die andere Bühne: Die Hamlet-Aufführung läuft ad infinitum. Das statische Schlußtableau w i r d von Shakespeare aufgelöst zu einem perpetuum mobile. Insofern hatte Lawrence Olivier recht mit seinem Filmanfang, der das Ende des Dramas zeigte. Hamlet ist in diesem ewigen Spiel nur die prominenteste Leiche. I h m stehen daher die höchsten militärischen Ehren zu: Let four captains Bear Hamlet like a soldier to the stage, For he was likely, had he been put on, To have prove'd most royal; and for his passage, The soldiers' music and the rites of war Speak loudly for him. (5.2. 348-353) Diese martialische Schlußgestaltung paßt wenig zu einer Handlung, die durch Verrat, Betrug und Intrige voranschritt, und zu einer Hauptfigur, die durch Gelehrsamkeit und Witz brillierte. Doch Staatsaktionen sind - wie bereits angeführt - Machtspiele, und das Militär ist der offensichtlichste Machtfaktor. Ophelia lobte an Hamlet »The courtier's, soldier's, scholar's eye, tongue, sword« (3.1. 152). I m Sinne eines vielseitig bzw. umfassend gebildeten Menschenideals des uomo universale 16 darf auch hier der militärische Aspekt nicht fehlen. Gerade dem Schluß verleiht er die für die hohe Tragödie notwendige Würde i m pompe funebre. Fortinbras gibt zwar selbst am Ende noch den Hinweis, daß der Anblick der Leichen eher dem Schlachtfeld als dem häuslichen Bereich des Palastes zukommt, doch in diesem Drama ist der Sitz der Regierung, der Palast des Königs, zum Schlachtfeld geworden. Insofern ist der militärische Schluß dem Charakter des Dramas angemessen.
IV. Der Tod der Cleopatra beginnt mit der Einkleidung der Königin: Give me my robe. Put on my crown. I have Immortal longings in me. (5.2.279 f.) 17 16
Vgl. zur weiten Verbreitung dieser Konzeption Peter Burke, The Fortunes of the Courtier: The European Reception of Castiglione's Cortegiano (Cambridge 1995).
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Die königlichen Insignien der Macht schmücken Cleopatra in alle Ewigkeit. Das Paradoxon der Identität von Sterblichkeit und Unsterblichkeit leitet die Szene ein. Der Selbstmord als heroischer A k t ist durch das antike Schrifttum überliefert. Cleopatra möchte es dem geliebten wie bewunderten A n t o n y gleichtun: I see him rouse himself To praise my noble act. (283 f.) Iras, Cleopatra und Charmion - die Szene der drei sterbenden Frauen ist gefühlvoll und rührend. Der abschließende Kommentar der Dienerin über die Eigeninszenierung dieses Selbstmords betont aber auch die Angemessenheit und Würde dieser Todesart: It is well done, and fitting for a princess Descended of so many royal kings. (5.2. 325 f.) Selbst Caesar muß die Tapferkeit dieser Tat anerkennen. Indem Cleopatra ihren eigenen Willen gegenüber den anderslautenden Anordnungen Caesars durchsetzt, beweist sie in ihrer Eigenständigkeit auch die Würde ihres Charakters. Innere Motivation wie äußere Gestaltung garantieren ein stilvolles Ende für ein königliches Leben. Entsprechend vermag auch Caesar sich nicht mehr zwischen die Liebenden zu stellen: Er gesteht ihnen das gemeinsame Grab zu. Was i m Leben nicht möglich war, soll i m Tod Wirklichkeit werden. A n t o n y und Cleopatra bleiben i m Tode vereint: No grave upon the earth shall clip in it A pair so famous: (5.2. 358 f.) U m eine solche Bestattung zu inszenieren, müssen die Leichen zunächst aber vom O r t Ihres Todes wegtransportiert werden: Take up her bed, And bear her women from the monument. (5.2. 355 f.) Damit löst sich das Schlußtableau der i m Tode als strahlende Königin eingekleideten Cleopatra - dekorativ umgeben von ihren beiden niedergesunkenen Dienerinnen - auf. 1 8 Charmian hatte noch mit einem letzten rührenden Handgriff 17 William Shakespeare, Antony and Cleopatra, The Arden Shakespeare, hg. John Wilders (London/New York 1995). 18 Als Staatsszene ist das Schlußtableau allerdings defizitär: Vgl. Alexander Leggatt, Shakespeare's Political Drama: The History plays and the Roman plays (London/New York 1988, Ndr. 1994), 187: »Though she is robed and crowned, she dies not on a throne but on a bed [...].« Zum Aspekt der Figurengruppierung vgl. John Wilders, »Introduction«, in: W. Shakespeare, Antony and Cleopatra , a. a. O. 1-84; 8: »Though no visual impressions were created by scenery, the play is full of expressive groupings of characters on which the audience could concentrate without distraction, [...].«
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die Krone zurechtgerückt, ehe sie selber starb. Die Königin i n all ihrer Pracht muß korrekt gekleidet sein. Der Ubergang aus der Endlichkeit i n die Ewigkeit erfordert die genaue Beachtung der Zeremonien. Bei Shakespeare soll diese kleine Geste der Ordnung des Arrangements der Insignien jedoch vor allem Rührung erzielen. Durch Caesars Befehl verändert sich die Szene zu einem Trauerzug mit militärischen Ehren - und das ist auch Caesars Absicht: Our army shall In solemn show attend this funeral, [ . . . ] . (5.2. 362 f.) So gelangt eine ägyptische Königin zu einem römischen Begräbnis. D o c h nicht nationale oder ethnische Komponenten sind relevant, sondern der soziale Status. Auch wenn die ägyptische Königin sich auf der Seite von Caesars Gegnern befand, so steht ihr doch i m Tod ein Trauerzug - auf der Bühne zu sehen - wie ein Begräbnis - auf der Bühne angekündigt - mit allen militärischen Ehren zu. Dabei ist es i m Prinzip gleichgültig, ob diese Ehrung nach ägyptischem oder römischem Ritus erfolgt. Da die Shakespeare-Zeit sich jedoch auf die römische Antike beruft und erst durch die römische auch für die ägyptische Geschichte Interesse zeigt, stehen die römischen Ehren in höherem Ansehen als die ägyptischen. Entsprechend dem Stil der hohen Tragödie ist stets auf die höchsten Ehren zu zielen, u m einen würdigen Rahmen für das Geschehen zu garantieren. Als Mittel standesgemäßer Beerdigungszeremonien bewirkt der martialische Anstrich von Militärmusik und Truppenparade eine Steigerung des Pomps. N o c h genau so wie in Marlowes Tamburlaine ist der Aufmarsch von Feldherrn und Soldaten als Tragödienschluß durch den Handlungskontext legitimiert. Das Schlußtableau der vier - in Hamlet - bzw. drei - in Antony and Cleopatra - Leichen w i r d aufgelöst in einen pompösen Umzug, der zugleich die Bühne frei räumt und das Ende der Fiktion durch die Leere des Schauplatzes markiert. V. A m Ende von Drydens All for Love passiert dem römischen Feldherrn und Welteroberer Marc A n t o n y ein Mißgeschick: Wie es sich für Personen seines Standes entsprechend der antiken Uberlieferung geziemt, stürzt er sich in sein Schwert, u m einer unehrenhaften Gefangennahme durch den Gegner zu entgehen. Das ist als römischer Soldatenselbstmord durchaus gattungskonform. D o c h Antony verfehlt sein Herz: »Fve mist m y heart« (5.1. 347). 1 9 Von einem 19 John Dryden, The Works, Bd. 13, hg. Maximilian E. Novak (Berkeley/Los Angeles/London 1984).
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schnellen Verscheiden ist danach nicht mehr auszugehen. Das ist die Regie des Autors. Das Schlußtableau erfordert einen gewissen Aufwand des Arrangements, der nur gewährleistet wird, wenn Cleopatra A n t o n y noch lebend findet. Es geht nicht nur u m den rührenden Abschied Cleopatras vom sterbenden A n t o ny, sondern auch u m die Inthronisation des römischen Feldherrn, der jetzt mit vereintem Bemühen auf einen Stuhl gehoben wird. D e m Befehl Cleopatras »Help me seat him.« (5. 1. 361) entspricht die Bühnenanweisung: »They place him in a Chair.« Solchermaßen durch den Stuhl gestützt bleibt A n t o n y noch Zeit, i m Gespräch mit Cleopatra vorangegangene Mißverständnisse aufzuklären. U n d es bleibt noch Zeit für die sentimentale Geste, für den allerletzten Kuß This one kiss - more worth Then all I leave to Caesar. (5.1. 401 f.) Dies sind Antonys letzte Worte, die den Dramentitel bestätigen: All for Love: or y the World well Lost. Doch nicht nur zum Titel, auch zum Dramenanfang findet die Handlung hier zurück. They teil me, 'tis my Birth-day, and Tll keep it With double pomp of sadness. (1.1. 203 f.) Dies sind Antonys erste Worte i m Drama, und sie erfüllen sich am Ende: Sein Geburtstag ist sein Todestag. Die Vorahnung kreiert von Anfang an eine dem Trauerspiel angemessene Atmosphäre. Der sich i n der Identität von Geburtsund Todestag verdoppelnde Pomp garantiert die hohe Stillage. N i c h t Tragik, sondern feierlich-würdige Trauer ist vorherrschend angestrebtes Wirkpotential. Man kann auch formulieren: Die Trauer übertrumpft die Tragik. Wenn Cleopatra ihm in den Tod folgt, so möchte Dryden durch das unmittelbare Zusammenlegen von beider Selbstmord gegenüber Shakespeare eine Steigerung der Rührung erzielen. Zudem zielt Cleopatra auf eine Vereinigung i m Tode, die nicht nur eine Vereinigung i n Liebe, sondern auch i n der Ehe sein soll: I have not lov'd a Roman not to know What should become his Wife; [ . . . ] For 'tis to that high Title I aspire, And now I'll not die less. (5.1. 412-415) Das Gesetz, unter dem diese Ehe steht, ist das der Ewigkeit, nicht das der Zeitlichkeit. Die Legitimität der Verbindung ist i m gemeinsamen Schicksal begründet. Der nach dem irdischen Gesetz A n t o n y angetrauten Frau gilt Cleopatras ganze Verachtung:
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Martin Brunkhorst Let dull Octavia Survive, to mourn him dead: my Nobler Fate Shall knit our Spousals with a tie too strong For Roman Laws to break. (5.1. 415-418)
I m Tode vereint - Cleopatra legt größten Wert auf die Dokumentation dieses Umstandes durch das richtige Arrangement der Leichen. Für ihre eigene Person legt sie fest: O turn me to him, And lay me on his breast. (5.1. 499 f.) Solchermaßen vereint, vermag keine irdische Macht mehr, die Liebenden zu trennen: Caesar, ; thy worst; Now part us, if thou canst. (5.1. 500 f.) Dieses Arrangement ergibt aber auch ein theatralisches Tableau von größter Wirksamkeit: Die Frau ruht an der Brust des geliebten Mannes. Sie sind umgeben von ihrem Hofstaat: ein Römer und zwei Ägypterinnen. Keiner bewegt sich. Alle sind tot. Für einen kurzen Moment entsteht ein Bild für die Ewigkeit. Hier setzt der Kommentar der Überlebenden ein. Alexas, der Politiker, und Serapion, der Priester, weisen in ihrer rezeptionslenkenden Funktion auf unterschiedliche Aspekte der Situation hin. Doch der Rom treuen Kirche steht der höhere moralische Anspruch und damit auch das Schlußwort zu. Serapion weiß die rechte Moral aus dem Anblick der toten Liebenden zu ziehen und so dem Drama einen angemessenen Ausklang zu geben: And Fame, to late Posterity, shall tell, No Lovers liv'd so great, or dy'd so well. (5.1. 518 f.) I m Hinblick auf das große oder eher großartige Leben der Liebenden ist es ein passender und damit ein guter Tod, der ihnen widerfährt. Denn was i m Leben keinen Bestand haben konnte, erhält i m Tod unzerstörbare Dauer. Schon vorher wußte Serapion seinem Empfinden beredten Ausdruck zu verleihen: See, see how the Lovers sit in State together, As they were giving Laws to half Mankind. (5.1. 508 f.) Die Leichen sind gleichsam ihr eigenes Monument. Trotz der vorangegangenen Beschreibung einer rührenden Aneinandergeschmiegtheit ergibt sich hier die eher steif-statuarische Impression des regierenden d. h. des gesetzgebenden K ö nigspaares. Das volle Staatsornat drängt die sentimentale Komponente zurück und betont eher legislative oder jurisdiktionelle Elemente einer Staatsaktion.
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Auch Marlowe betonte diesen gesetzgeberischen Aspekt anläßlich der Krönung der Zenocrate und der Friedensfeier am Ende des ersten Teils von Tamburlaine. Insofern ist auch Dryden - zumindest i n der Wirkkraft des Schlußtableaus - an ein Tragödienkonzept gebunden, das bei aller Sentimentalität doch dem Staatsgedanken als letzter Ordnungsinstanz verbunden bleibt. U n d da dieses Bild für die Ewigkeit gedacht ist, erübrigt sich der Abtransport der Leichen. Anders als bei Shakespeare ordnet Caesar bei Dryden kein Begräbnis mit militärischen Ehren an. I n der Geschichte der unverbrüchlich Liebenden bleibt seine Person von der Darstellung auf der Bühne ausgespart. Lediglich sein Name hängt als permanente Bedrohung über dem gesamten Geschehen. I h m gilt jeweils die letzte Äußerung der beiden Protagonisten. I m Vorwort schreibt Dryden: »In my Stile I have profess'd to imitate the D i vine Shakespeare;« (18). Diese Bemerkung ist in der Forschung vielfach kommentiert worden. Wahrscheinlich bezieht sie sich aber lediglich auf Drydens Rückkehr zum Blankvers. Doch auch in der rein formalen Komponente der Versgestaltung liegt - wie in den anderen Komponenten der Aufführung - ein Stilwille, der erst i m Ensemble der einzelnen Komponenten seine Kraft voll entfalten kann. Bei Dryden liegt aber auch der Anfang einer Entwicklung, die von den pompösen Schlußtableaus einer monarchischen Prachtentfaltung der Staatsaktionen übergeht zu den eher sentimentalen Tableaus einer rührenden häuslichen Bescheidenheit. Der Ansatzpunkt für diesen Übergang liegt in der Selbstcharakteristik und i m Selbstverständnis der Cleopatra: Nature meant me A Wife, a silly harmless household Dove, Fond without art; and kind without deceit; (4.1. 91-93). Von diesem Bild der treu sorgenden Hausfrau ist es nicht mehr weit zur sentimentalen she-tragedy Nicholas Rowes und zu den Anfängen einer bürgerlichen Dramatik, die von L i l l o zu Diderot und Lessing reicht. Gerade am Schlußtableau läßt sich aber auch Drydens Zwischen- oder Übergangsstellung beobachten, wenn die legislative Omnipotenz einer monarchischen Prachtentfaltung in der Zurückdrängung des rührenden Elements den Charakter einer barocken Staatsaktion immer noch unterstreicht. Dryden legt größten Wert auf den angemessenen Stil der Darstellung dieses Herrscherpaares auch i m Tod.
»Gentlemen, [ . . . ] remember that you are English«: Teutonische Thesen zum Nationalstil der englischen Literaturgeschichtsschreibung"" Von Ansgar
Nünning
I. >No theories, tendencies, and influences, please, we are English.. .< I n einem Essay aus dem Jahre 1918, der den Titel »On the Terms >Classical< and >Romanticklassisch< und »romant i s c h machen. Obgleich er ihnen mit einem reichlich zweischneidigen Kompliment >ein ungewöhnliches Talent zum Philosophieren attestiert, kritisiert er ihre Neigung, immerzu Zuflucht zu nominalistischen Abstraktionen zu nehmen. U m sein Publikum vor den Gefahren übertriebener teutonischer Intellektualität zu warnen, wendet er sich mit einem ebenso pathetischen wie patriotischen Aufruf an seine Zuhörer und appelliert an sie, sich auf den sprichwörtlichen englischen C o m m o n Sense und die empirische Tradition zu besinnen: Gentlemen, I would I could persuade you to remember that you are English, and to go always for the thing, casting out of your vocabulary all such words as »tendencies,< »influences,< »revivals,< »revoltsschwätzenschools,< >influences,< >revivals,< >revolts,< »tendencies,< >reactionsNationalstil< der englischen Literaturgeschichtsschreibung die Rede ist, dann handelt es sich insofern u m eine übertragene Verwendungsweise des Stilbegriffs, 16 als nicht primär individuelle 14 Pat Rogers, »Editor's Foreword«, in: ders. (Hg.), The Oxford Illustrated History of English Literature (Oxford 1987), v. 15 Simon Gikandi, Maps of Englishness: Writing Identity in the Culture of Colonialism (New York 1996), 9.
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sprachliche Ausdrucksmittel gemeint sind. Vielmehr geht es u m die unverwechselbaren diskursiven und rhetorischen Grundmuster bzw. die besondere A r t und Weise der Darstellung, durch die sich englische Literaturgeschichten auszeichnen. Gleichwohl läßt sich auch eine solche übertragene Verwendung des Stilbegriffs i m Konzept >Nationalstil< auf einen der Topoi des Stilbegriffs zurückverfolgen, deren geistes- und toposgeschichtliche Dimension Wolfgang G. Müller in seinem wegweisenden Standardwerk Topik des Stilbegriffs umfassend rekonstruiert hat: auf das D i k t u m »Le style est la nation«. 1 7 Diesem D i k t u m liegen die auf Wilhelm von H u m b o l d t zurückgehenden Auffassungen zugrunde, daß auch Sprachen einen >Charakter< haben und daß die Sprache dem jeweiligen Nationalcharakter entspricht. Überträgt man diese Vorstellung einer Entsprechung von Sprachstil und N a tionalcharakter auf die Literaturgeschichtsschreibung, so ergeben sich daraus folgende Fragen: Gibt es in diesem Bereich so etwas wie ausgeprägte nationale Darstellungstraditionen, die es gerechtfertigt erscheinen lassen, von einem historiographischen >Nationalstil< zu sprechen? I n welchen Diskurselementen und auf welchen Ebenen von Literaturgeschichten manifestiert sich ein solcher Nationalstil? Lassen sich Korrelationen beobachten zwischen bestimmten Zügen eines historiographischen Nationalstils und jenem Ensemble von kollektiven Denkweisen, Gefühlen, Überzeugungen, Vorstellungen und Wissensformen, die mit dem Begriff >Mentalität< bezeichnet werden? 1 8 U n d welche Funktionen erfüllt ein solcher historiographischer Nationalstil i m Kontext der nationalen Identitätsbildung? Vorweggeschickt sei allerdings, daß es natürlich nicht darum gehen kann und soll, fragwürdige Generalisierungen über die englische Mentalität, den Nationalcharakter oder gar den >Volksgeist< aufzustellen, als dessen Ausdruck Stil bekanntlich noch von Karl Vossler angesehen wurde. Vielmehr gilt es, in notgedrungen verkürzter und thesenhaft zugespitzter Form einige Hypothesen zum Nationalstil der englischen Literaturgeschichtsschreibung zu formulieren;
16 Zum Stilbegriff vgl. die ausgezeichneten Lexikonbeiträge von Wolfgang G. Müller, »Style«, in: Thomas O. Sloane (Hg.), Encyclopedia of Rhetoric (Oxford 2001), 745-757; ders., »Stil«, in: Ansgar Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze - Personen - Grundbegriffe (Stuttgart, Weimar 2001 [1998]), 603. Zur Expansion des Stilbegriffs und zu dessen interdisziplinärer Untersuchung vgl. die Beiträge in folgendem Sammelband, der bei Abschluß dieses Manuskripts noch nicht erschienen war: EvaMaria Jakobs, Annely Rothkegel (Hg.), Perspektiven auf Stil (Tübingen 2001). 17 Vgl. Wolfgang G. Müller, Topik des Stilbegriffs: Zur Geschichte des Stilverständnisses von der Antike bis zur Gegenwart (Darmstadt 1981), insbes. das Kapitel »Der Topos >LE STYLE EST LA NATIONMentalität< vgl. stellvertretend für viele andere Arbeiten Volker Sellin, »Mentalität und Mentalitätsgeschichte«, Historische Zeitschrift 241 (1985), 555-598.
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dabei handelt es sich um eine idealtypische Analyse i m Sinne Max Webers. Inwiefern sich in den ermittelten Merkmalen des historiographischen Nationalstils spezifische Aspekte einer englischen Mentalität manifestieren, ist eine andere (und sehr komplexe) Frage, die hier nur gestreift werden kann. Außerdem liegt der Akzent auf einer systematischen Untersuchung einer repräsentativen Auswahl englischer Literaturgeschichten aus dem 20. Jahrhundert, wobei die diachrone Dimension der Veränderungen der Konventionen der Literaturgeschichtsschreibung bewußt ausgeklammert w i r d . 1 9 Schließlich geht es nicht um eine stilkritische Bewertung der ermittelten nationalspezifischen Besonderheiten, sondern u m eine deskriptive Bestandsaufnahme. Das Konzept des historiographischen Nationalstils bezieht sich auf diskursive Regularitäten, auf »ein ungewöhnliches Maß an Standardisierung sowohl der Darstellungskonventionen als auch der [IJnhalte und ein noch ungewöhnlicheres Maß an Langlebigkeit dieser Standards«. 20 Ganz i m Gegensatz zum Konzept des Individualstiis geht es also nicht u m individuelle Besonderheiten einzelner Literaturgeschichten, sondern u m kollektive, weitverbreitete Konventionen, die für die spezifische A r t und Weise, wie in England Literaturgeschichte geschrieben wird, kennzeichnend sind. I m Rahmen einer kultur- und mentalitätsgeschichtlich orientierten Untersuchung des Nationalstils der englischen Literaturgeschichtsschreibung »läßt sich Stil in bezug auf Gattung, Sprache und Kultur als ein Ensemble von Strategien des Ausschlusses und der Homogenisierung, zugleich aber auch als ein Interpretationsmodell betrachten, das die genannten Bereiche zu totalisieren versucht«. 21 Solche Strategien stellen diskursive Konventionen der Literaturgeschichtsschreibung dar, die innerhalb einer Kultur mehr oder weniger unbefragt akzeptiert und von einer Generation von Literaturhistorikern zur nächsten tradiert werden. Obgleich solche Konventionen natürlich auch historischem Wandel unterliegen, zeichnen sie sich durch relative Langlebigkeit aus. Die weite Verbreitung, der hohe Grad an Verbindlichkeit sowie die ungewöhnliche Langlebigkeit dieser diskursiven Konventionen verweisen darauf, daß die Literaturgeschichtsschreibung als eine gesellschaftliche >Institution< an19 Die Geschichte der englischen Literaturgeschichtsschreibung umfassend zu rekonstruieren und unterschiedliche Epochenstile zu bestimmen, ist eine nur monographisch zu lösende Aufgabe. Vgl. dazu Klaus Stierstorfer, Konstruktion literarischer Vergangenheit: Die englische Literaturgeschichte von Warton bis Courthope und Ward (Heidelberg 2001) sowie das von Herbert Grabes geleitete DFG-Projekt »Literarischer Erinnerungskanon, Nationalkultur und nationale Identität: Englische Literatur in englischen, amerikanischen und deutschen Literaturgeschichten des 20. Jahrhunderts«. 20 Assmann, »Viel Stil«, 520. 21 Renate Lachmann, »Synkretismus als Provokation eines Stils«, in: Gumbrecht, Pfeiffer (Hg.), Stil, 541 -558, hier: 541.
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zusehen ist. Ähnlich wie Gattungen haben Literaturgeschichten den Charakter von >literarisch-sozialen Institutionen^ 2 2 Versteht man Literaturgeschichtsschreibung als eine Institution, als »the collective effort of many literary historians« bzw. »a collective process carried forward through générations«, 23 dann w i r d deutlich, daß die kollektiven Strategien der Auswahl und die diskursiven Praktiken dieser Institution von der jeweiligen Kultur und Gesellschaft geprägt sind. Durch den Rückgriff auf die soziologische Kategorie der Institution soll hervorgehoben werden, daß es sich bei der Literaturgeschichtsschreibung und ihren Produkten, den Literaturgeschichten, u m eine »tradierte oder konstituierte soziale Einrichtung mit bestimmten Zwecken« handelt: »>Institution< meint entsprechend die historischen Möglichkeitsbedingungen der Produktion und Rezeption von Texten«. 24 Es hängt demnach zu einem nicht unerheblichen Teil von der Institution der Literaturgeschichtsschreibung ab, welche Darstellungsformen und Inhalte in Literaturgeschichten zu einer bestimmten Zeit möglich, denkbar und akzeptabel sind. Darüber hinaus sind literarhistoriographische Nationalstile zu einem großen Teil geprägt durch das, was Johan Galtung als den »intellektuellen Stil< bezeichnet hat, der in einer Kultur gepflegt w i r d und der den Forschungsprozeß färbt. Galtung zufolge ist der intellektuelle Stil auf einer »Ebene zwischen dem Individuellen und dem Universalen« angesiedelt: »Im weitesten Sinne ist es die Ebene der Zivilisationen oder Sub-Zivilisationen - in anderen Worten, die makro-kulturelle Ebene.« 25 N i c h t umsonst trifft das meiste von dem, was Galtung über den sachsonischen Stil schreibt, auch auf die englische Literaturgeschichtsschreibung zu. Bei den i m Titel angekündigten Hypothesen zum Nationalstil der englischen Literaturgeschichtsschreibung handelt es sich aus mindestens zwei Gründen u m »teutonische Thesenteutonischen< bezeichnet hat. Die Frage nach historiographischen und intellektuellen Nationalstilen läßt sich daher nicht auf den Gegenstandsbereich einschränken, sondern sie betrifft auch die Standortgebundenheit der eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit, die unweigerlich durch den eigenen nationalkulturellen Kontext geprägt ist. 2 6 Aufschlußreich sind solche interkulturellen Untersuchungen nicht zuletzt deshalb, weil es dabei u m »die Betrachtung der Grundlagen dessen [geht], was man tut, die Erforschung der Standortgebundenheit, der die eigene intellektuelle Tätigkeit unterworfen ist«. 2 7 Aus diesen Begriffsbestimmungen geht zum einen hervor, warum die Bestimmung eines solchen historiographischen Nationalstils ein schwieriges U n terfangen ist; zum anderen geben sie aber zugleich Anhaltspunkte dafür, wie bei der Untersuchung des Nationalstils der englischen Literaturgeschichtsschreibung methodisch vorzugehen ist. Ebenso wie der Stilbegriff generell ist auch das Konzept des Nationalstils »ein nützliches terminologisches Instrument zur Bezeichnung von Totalisierungsversuchen i n der Beschreibung sprachlichen Handelns, die w o h l nicht ohne hermeneutische Wagnisse zustande kommen könnten«. 2 8 Schwierig sind solche Totalisierungsversuche allein schon deshalb, weil sie auf einem >Totaleindruck< beruhen, der intuitiv unmittelbar einleuchtend sein mag, aber analytisch und methodisch u m so schwerer i m einzelnen zu bestimmen ist. I n dieser Hinsicht besteht die gleiche Schwierigkeit, mit der sich Wilhelm von H u m b o l d t bei seinem kühnen Versuch konfrontiert sah, den »Charakter der Sprachen< zu erfassen, der ebenfalls auf einem solchen Totaleindruck beruht: 26 Vgl. Hans-Manfred Bock, »Nation als vorgegebene oder vorgestellte Wirklichkeit? Anmerkungen zur Analyse fremdnationaler Identitätszuschreibung«, in: Ruth Florack (Hg.), Nation als Stereotyp: Fremdwahrnehmung und Identität in deutscher und französischer Literatur (Tübingen 2000), 11-36, der die interaktive Dimension der »transnationalen Perzeptionsthematik« (32) prägnant umreißt: »Diese stellt sich nicht mehr als eine reaktive Annäherung an eine feststehende fremdnationale Identität dar, sondern als interaktive Projektion, an der sowohl der (von einer Nationalkultur geprägte) Beobachter als auch die Nation, die Objekt der Wahrnehmung ist, beteiligt sind. In der Regel gehen in jedes Sich-Befassen mit einer fremden Nation Interessen und Fragen ein, die der Beobachter aus seinem eigenen nationalkulturellen Kontext mitbringt und die seinen gesellschaftlichen wie politischen Standort widerspiegeln.« (ebd.) 27
Galtung, »Struktur, Kultur und intellektueller Stil«, 306-307. Jürgen Trabant, »Der Totaleindruck: Stil der Texte und Charakter der Sprachen«, in: Gumbrecht, Pfeiffer (Hg.), Stil, 169-188, hier: 173 -174. 28
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Denn wenn auch der Totaleindruck jeder [Sprache] leicht aufzufassen ist, so verliert man sich, wie man den Ursachen desselben nachzuforschen strebt, in einer zahllosen Menge scheinbar unbedeutender Einzelheiten, und sieht bald, dass die Wirkung der Sprachen nicht sowohl von gewissen grossen und entschiednen Eigenthümlichkeiten abhängt, als auf dem gleichmässigen, einzeln kaum bemerkbaren Eindruck der Beschaffenheit ihrer Elemente beruht. 29 Da der Nationalstil der englischen Literaturgeschichtsschreibung auch auf einem »gleichmässigen, einzeln kaum bemerkbaren Eindruck der Beschaffenheit ihrer Elemente beruhtmovements< and >tendencies< rather than by individual merit, even as his predecessor M. Taine generalized them by »environments Now movements and environments are facts, important facts; but for vital study of a vital literature by the young, some of whom (as the teacher hopes) are destined to perpetuate it, neither movements nor environments can challenge the actual and individual work of individual authors as the first main object of concern. And if this be true for any literary study, it is notably true of English, wherein genius has so often mated itself with eccentricity. 32 Diese patriotisch-interkulturelle laudatio-cum-exhortatio bedarf eigentlich keiner ausführlichen Erläuterung, denn ihre Bedeutung für die Frage nach historiographischen Nationalstilen liegt auf der Hand: Dies zeigt sich allein schon an dem etwas zweischneidigen Kompliment, das Quiller-Couch seinem französischen Kollegen für seinen »Gallic instinct for logical neatness« zollt, den er, so Quiller-Couch, doch etwas überstrapaziere. Woran sich der empirisch geschulte englische Kritiker freilich noch sehr viel mehr stößt, ist der unwiderstehliche gallische (er hätte w o h l auch >teutonische< sagen können) Drang, Autoren und Werke nach >StrömungenBewegungen< und >Tendenzen< einzuteilen und sie in entsprechende Rubriken einzuordnen. Das eigentliche Interesse des Literaturhistorikers, so Quiller-Couch weiter, sollte aber nicht solchen nominalistischen Abstraktionen gelten, sondern der Individualität der einzelnen Autoren und Werke, »the actual and individual w o r k of individual authors«. Dieser Grundsatz gelte u m so mehr, wenn es nicht u m irgendeine Literatur gehe, sondern u m die englische, in der sich Genie so oft mit der sprichwörtlichen englischen Exzentrizität gepaart habe. M i t einer ebenso pauschalen wie apodiktischen Bemerkung gibt Quiller-Couch unzweideutig zu verstehen, was er von der deutschen und französischen A r t der Literaturgeschichtsschreibung, Autoren und Werke in Epochen zu untergliedern und in abstrakte Kategorien einzuteilen, hält: Now the method of considering literature as the product not of successive men of genius and talent, but of abstract >influences< and >tendencies< divisible in periods and capable of being studied in compartments, has various vices, mostly consequent upon its being untrue. 33 Diese perspektivisch gefärbten Charakterisierungen französischer und deutscher Literaturgeschichtsschreibung aus englischer Sicht sind insofern sehr aufschlußreich, als sie bereits Rückschlüsse auf zentrale Merkmale des Nationalstils der englischen Literaturgeschichtsschreibung zulassen, die i m folgenden 32 Arthur Quiller-Couch, »Preface«, in: Legouis, Cazamian, A History of English Literature, v-vii, vii. 33 Quiller-Couch, »On the Terms >Classical< and >Romantic-ismen< sowie gegen den Gebrauch von Fachbegriffen, die gerne polemisch als >Jargon< abqualifiziert werden. 3 4 Diesen kontinentalen Auswüchsen w i r d meist ein englisches Ideal gegenübergestellt, dessen zentrale Merkmale eine Orientierung an der empirischen Tradition, der Glaube an ein Ideal der Transparenz der Sprache 35 sowie der sprichwörtliche englische Common Sense sind. Was Easthope über journalistische Literaturkritik schreibt, trifft ebenso auf den Diskurs der Literaturgeschichtsschreibung zu: »The ferocity, assurance and consistency w i t h which literary journalism denounces theory for its >jargon< exposes its o w n trust that language by nature communicates meaning w i t h the ease of light passing through a pane of glass.« 36 Welche stillschweigenden Annahmen der verbreiteten Theoriefeindlichkeit zugrunde liegen, hat Easthope prägnant auf den Begriff gebracht: [RJeality is just there - watch, I'm going to kick it; forget theory, all that matters is concrete judgements and particular analysis; like Johnson's stone, the literary text is simply given, there to be experienced, an object inside a line which firmly masks off theory as outside.37 Ebenso wie der Großteil der englischen Literaturkritik zeichnet sich der Nationalstil der englischen Literaturgeschichtsschreibung dadurch aus, daß zumeist auf jedwede theoretische Reflexionen verzichtet und statt dessen rein pragmatisch verfahren wird. I m Gegensatz zu den new literary histories 38 sowie den meisten deutschen und französischen Ansätzen der Literaturgeschichtsschreibung, die sich ausgiebig und explizit mit Grundproblemen der Historiographie auseinandergesetzt und komplexe struktural-funktionale oder andere theoretische Modelle entwickelt haben, 39 finden sich i n englischen Literatur34 Zur Abneigung gegen Theorien als Merkmal des sachsonischen intellektuellen Stils vgl. Galtung, »Struktur, Kultur und intellektueller Stil«. Der einzige, der meines Wissens je das Gegenteil behauptet hat, ist George Watson, Never Ones for Theory ? England and the War of Ideas (Cambridge 2000), der mit seiner anekdotisch, apodiktisch und idiosynkratisch vorgetragenen Ansicht, England sei die eigentliche Geburtsstätte der Theoriebildung (»Modern critical theory is English.« 7), aber wohl ziemlich allein stehen dürfte. 35 Vgl. Easthope, Englishness and National Culture , 64, der von »the ideal of transparency« spricht. 36
Easthope, Englishness and National Culture , 123. Für weitere einschlägige Beispiele der englischen Vorliebe für >jargon-bashing< vgl. Easthope, 68-69, 93,119,122-124. 37 Easthope, Englishness and National Culture , 88. 38 Vgl. etwa Claire Colebrook, New Literary Histories: New Historicism and Contemporary Criticism (Manchester 1997).
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geschichten bislang weder Spuren der wichtigsten Literatur- und Kulturtheorien des 20. Jahrhunderts noch solche, die von einer Auseinandersetzung mit den Debatten über die Probleme und (Un-)Möglichkeit der Literaturgeschichtsschreibung zeugen. 40 Dies bestätigt die These von Galtung, daß der >sachsonische intellektuelle Stil< »nicht sehr stark i n der Theoriebildung und nicht eben stark in der bewußten Wahrnehmung der Paradigmen« sei. 41 Anstatt theoretische Reflexionen anzustellen und sich Rechenschaft über das eigene methodische Vorgehen abzulegen, begnügen sich englische Literaturhistoriker oft damit, rein pragmatische Entscheidungen zu treffen. So bemerkt etwa Albert C. Baugh i m Vorwort seiner vielgelesenen A Literary History of England , »that the approach to the different sections w i l l seem to be that best suited to the literature concerned«. 42 Eine ähnlich pragmatische Verfahrensweise zeigt sich auch darin, daß i n der Regel darauf verzichtet wird, den zugrunde gelegten Literaturbegriff zu explizieren oder gar zu definieren. Daß i m Lande der selbsternannten Exzentriker eine launige und schrullige Bemerkung theoretische Reflexionen und Definitionen ersetzen kann, beweist der ebenso unkonventionelle wie humorige Ausspruch, den F.W. Bateson an den Anfang seines Guide to English Literature stellt: »Geography is about maps, Biography is about chaps. A n d Literature is about - whatever it is that literature is about.« 4 3 Darüber hinaus ist es kennzeichnend für die meisten englischen Literaturgeschichten, daß sie einen weiten Literaturbegriff zugrunde legen und bemüht sind, die Gesamtheit des Geschriebenen bzw. Gedruckten zu berücksichtigen. Literaturgeschichten wie die Cambridge History of English Literature und The Oxford History of English Literature zeichnen sich dadurch aus, daß sie neben den >drei Hauptgattungen< sowohl Genres wie Reiseliteratur, Kinderliteratur, Balladen und weitere Formen von popular literature als auch andere nicht- bzw. semifiktionale Textsorten wie A u tobiographien, Biographien, Essays, Pamphlete sowie Werke der Historiogra39
Für einen Überblick mit viel weiterführender Literatur vgl. Ansgar Nünning, »No Literary or Cultural History without Theory: Ten Teutonic Theses on the Deconstruction and Reconceptualisation of two Complex Relationships«, in: Herbert Grabes (Hg.), Literary History / Cultural History: Forcefields and Tensions. REAL - Yearbook of Research in English and American Literature 17 (Tübingen 2001), 35-66. 40 Vgl. stellvertretend für eine Vielzahl anderer Studien Perkins, Is Literary History Possible ? sowie ders. (Hg.), Theoretical Issues in Literary History (Cambridge MA 1991). 41 Galtung, »Struktur, Kultur und intellektueller Stil«, 313; vgl. auch ebd., 324: »Paradigmen-Analyse und Theoriebildung sind in der teutonischen und gallischen Praxis ebenso allgegenwärtig wie sie in der sachsonischen [ . . . ] und nipponischen intellektuellen Tätigkeit zumeist fehlen.« 42 Albert C. Baugh, »Preface«, in: ders. (Hg.), A Literary History of England (London 1948,1967), v-vi, hier: v. 43 Frederic Wilse Bateson, A Guide to English Literature (London 1965), v.
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Ansgar Nünning
phie, Philosophie und sogar Naturwissenschaft einbeziehen. Trotz dieses Merkmals der Offenheit bzw. Pluralität kommen natürlich auch englische Literaturgeschichten nicht umhin, eine (im Idealfall begründete) Auswahl zu treffen. I m Bereich der Selektion, des Ausschlusses und der Gewichtung von A u t o ren und Werken lassen sich mindestens drei spezifisch >englische< Züge des historiographischen Nationalstils beobachten: eine weitverbreitete Vorliebe zur evaluativen Unterscheidung zwischen einigen wenigen >major authors< und der Masse der >minor writers< , eine ebenso verbreitete Tendenz, eine spezifisch >englische< great tradition zu konstruieren, und die Tatsache, daß der Prozeß der Kanonbildung kaum je Gegenstand selbstreflexiver Erörterungen w i r d . 4 4 Besonders deutlich w i r d der englische Hang, die Literatur in >große< und »weniger große< Autorinnen und Autoren zu unterteilen, in den Arbeiten von F.R. Leavis, dessen bekanntestes Buch w o h l nicht umsonst The Great Tradition heißt. Es beginnt mit einer bemerkenswert apodiktischen Feststellung, die keinen Widerspruch duldet: »The Great English novelists are Jane Austen, George Eliot, Henry James, and Joseph Conrad.« Emphatisch fügt der englische Literaturpapst hinzu, man könne bei solchen Werturteilen gar nicht klar genug sein: »[T]he best way to promote profitable discussion is to be as clear as possible about what one sees and judges , to try and establish the essential discriminations in the given field of interest, and to state them as clearly as one can.« 45 Charakteristisch für den Nationalstil englischer Literaturgeschichten ist die auf Leavis und Matthew A r n o l d zurückgehende Neigung, qualitative Unterschiede zu postulieren und klare Werturteile zu formulieren. Wer allerdings mehr über die Kriterien erfahren möchte, auf denen die Wertungen beruhen, und es auf den Versuch ankommen läßt, genauer bei F.R. Leavis nachzusehen, w i r d in dessen Prosa allerdings kaum fündig, sondern das Nachsehen haben, denn der Kritiker-Literaturhistoriker kommt über vage Gemeinplätze kaum hinaus: It is necessary to insist, then, that there are important distinctions to be made, and that far from all of the names in the literary histories really belong to the realm of significant creative achievement. And as a recall to a due sense of differences it is well to start by distinguishing the few really great - the major novelists who count in the same way as 44
Eine bemerkens- und lobenswerte Ausnahme in dieser Hinsicht ist das ausgeprägt selbstreflexive Einleitungskapitel »Poets' Corners: The Development of a Canon of English Literature« in Andrew Sanders, The Short Oxford History of English Literature (Oxford 1994), eine der ganz wenigen englischen Literaturgeschichten, in denen der Verfasser explizit auf »the very contentiousness of all attempts to formulate a canon« (7) hinweist. 45 Frank Raymond Leavis, The Great Tradition: George Eliot, Henry James, Joseph Conrad (Harmondsworth 1972 [1948]), 9 (Hervorhebungen A.N.).
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the major poets, in the sense that they not only change the possibilities of the art for practitioners and readers, but that they are significant in terms of the human awareness they promote; awareness of the possibilities of life. To insist on the pre-eminent few in this way is not to be indifferent to tradition; on the contrary, it is the way towards understanding what tradition is. [ . . . ] To distinguish the major novelists in the spirit proposed is to form a more useful idea of tradition (and to recognize that the conventionally established view of the past of English fiction needs to be drastically revised). It is in terms of the major novelists, those significant in the way suggested, that tradition, in any serious sense, has its significance. 46 Anstatt ästhetische Kriterien zu nennen, speist Leavis seine Leser mit vagen Hinweisen auf das allgemeinmenschliche Bewußtsein der als >groß< bzw. >bedeutend< eingestuften Autoren (»human awareness they promote; awareness of the possibilities of life«) sowie darauf aufbauenden apodiktischen Urteilen ab; und anstatt seine Begriffe und Maßstäbe zu erläutern, begnügt er sich nicht selten mit Tautologien. Ein besonders eklatantes Beispiel ist seine eigenartige tautologische >Definition< seines zentralen Konzepts >great tradition great tradition< I mean the tradition to which what is great in English fiction belongs.« 4 7 Argumentation und Begründung ästhetischer Werturteile werden in Leavis' Buch durch Reiteration und beschwörende Emphase ersetzt: »[T]here is - and this is the point - an English tradition, and these great classics of English fiction belong to i t . « 4 8 Sowohl die dominant thematischen und moralischen Kriterien, die Leavis zur Differenzierung der >wenigen wirklich großen< Autorinnen heranzieht, als auch seine A r t der autorzentrierten Literaturgeschichtsschreibung und Literaturkritik, die auf einer Vermengung ästhetischer und moralischer Aspekte beruht, haben sich als so einflußreich erwiesen, daß sie den historiographischen Nationalstil der englischen Literaturgeschichtsschreibung und Literaturkritik bis heute nachhaltig geprägt haben. 49 Dieser zeichnet sich u. a. dadurch aus, daß recht vage inhaltliche und lebensweltliche, insbesondere moralische, Kriterien bei der Auswahl, Vorstellung und Wertung literarischer Werke zugrunde gelegt werden. Welche Maßstäbe dies i m einzelnen sind, geht etwa aus der folgenden Erläuterung hervor: »They [the great English novelists] are all distinguished by a vital capacity for experience, a kind of reverent openness before life, and a 46
Leavis, The Great Tradition, 10-11. Leavis, The Great Tradition, 16. 48 Leavis, The Great Tradition, 18. 49 Vgl. auch Watson, Never Ones for Theory19: »[T]o study literature in Englishspeaking lands is to study meaning. [ . . . ] Literature is a moral activity, in the English view, and criticism exists to show that it is. [ . . . ] Even the analysis of style, in England, was in the end a moral issue.« 47
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marked moral intensity.« 50 N i c h t nur F.R. Leavis verstand Literatur als einen Träger moralischer Werte, sondern diese Auffassung zählt zu den typischen Merkmalen englischer Literaturgeschichtsschreibung und Literaturkritik insgesamt. N i c h t umsonst spricht Watson von »the high moral purpose of English theory, wholly distinct from [ . . . ] the airless formalisms of the French«. 51 Weitere Züge des historiographischen Nationalstils der englischen Literaturgeschichtsschreibung lassen sich beispielhaft an dem äußerst populären und vielgelesenen The Pelican Guide to English Literature ablesen, i n dem sich auch der nachhaltige Einfluß von F.R. Leavis zeigt und dessen Einfluß auf die Ausformung des literarischen und kulturellen Gedächtnisse kaum überschätzt werden kann. 5 2 Vor allem die »General Introduction« des Herausgebers, die in jedem der sieben Bände nachgedruckt wurde, gibt Aufschluß über weitere Merkmale des historiographischen Nationalstils. »Typisch englisch< ist etwa die Charakterisierung des intendierten Zielpublikums dieser Literaturgeschichte, die sich nicht an eine kleine Gruppe von Spezialisten, sondern an den gebildeten Durchschnittsleser, Virginia Woolfs common reader ; richtet: »[T]his Guide has been expressly designed for those thousands of people who might be described as something less than advanced and specialist students of literature, but who accept w i t h genuine respect what is known as >our literary heritage^« 53 Zwei weitere Merkmale der englischen Literaturgeschichtsschreibung sind eine Vorliebe für Autoren, die als spezifisch >englisch< angesehen werden, sowie offensichtliche Probleme i m Umgang mit solchen, denen der Ruf anhaftet, >unenglisch< zu sein. Autoren, die als Inbegriff von Englishness gelten wie Chaucer, Shakespeare, Fielding, Dickens und viele Exzentriker, w i r d in Literaturgeschichten traditionell breiter Raum eingeräumt, während solche, die bzw. deren Werke für >unenglisch< gehalten werden, oft marginalisiert oder ignoriert werden. Es ist sicherlich kein Zufall, daß i n dem Pelican Guide solch un- bzw. amoralischen - und allein schon deshalb auch >unenglischen< - Autoren wie 50
Leavis, The Great Tradition, 18. Watson, Never Ones for Theory 22. 52 Vgl. Chris Baldick, Criticism and Literary Theory 1890 to the Present (London 1996), 121. 53 Boris Ford, »General Introduction«, in: ders. (Hg.), The Pelican Guide to English Literature , 7 Bde. Bd. 1: The Age of Chaucer (Harmondsworth 1954), 7-11, hier: 7. Die folgenden Zitate, die im Text in Klammern durch die entsprechenden Seitenzahlen belegt werden, stammen alle aus dieser Einleitung. Vgl. auch Baugh, »Preface«, v: »The purpose of the present book will be sufficiently apparent - to provide a comprehensive history of the literature of England, an account that is at once scholarly and readable, capable of meeting the needs of more mature students and of appealing to cultivated readers generally.« 51
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Swinburne oder Oscar Wilde kein eigenes Kapitel gewidmet wird; auch Pepys, Boswell, Gibbon, De Quincey, Hazlitt und Pater werden geflissentlich übersehen. 54 I n der Bevorzugung von Autoren, die als >typisch englisch< gelten, schlägt sich außerdem die auf die Vorromantik zurückgehende Auffassung nieder, daß Sprache, Stil und >große< Literatur in vorzüglicher Weise »Ausdruck oder Verkörperung des Nationalgeists« 55 sei: English poetry may be regarded historically as one of the ways in which the national spirit has expressed itself in successive ages; or as the work of a succession of individual poets, each expressing his own mind and spirit; or as an art with various sub-species - epic, lyric, drama, etc. - each of which has developed in accordance with its own traditions. We shall try to do justice as our space permits to all these aspects of the subject. Considering, however, that poems are made not by influences or traditions but by men, we shall lay most stress on the second.56 Nationalspezifische Besonderheiten sind auch in den Bereichen der Periodisierung und der Bezeichnung von Epochen zu beobachten, i n denen sich die spezifisch englische Auffassung, daß >Gedichte nicht von Einflüssen oder Traditionen, sondern von Männern gemacht< seien, sehr deutlich manifestiert. Z u den markanten Zügen des historiographischen Nationalstils der englischen Literaturgeschichtsschreibung zählen vor allem die bis heute ungebrochene Vorliebe für autorzentrierte Epochenbegriffe, die mit der bereits erwähnten Skepsis gegenüber abstrakten literaturgeschichtlichen Ordnungskategorien korrespondiert, und eine entsprechend pragmatisch verfahrende Form der Untergliederung von Epochen. Dies zeigt sich schon daran, daß oftmals die Namen von bedeutenden Autoren als Epochenbezeichnungen, Titel von einzelnen Bänden und als Kapitelüberschriften fungieren. I n vielen englischen Geschichten der englischen Literatur (z. B. The Cambridge History of English Literature , The Pelican Guide to English Literature und der Sphere History of Literature ) finden sich Kapitel zu Epochen, die nach berühmten Dichtern benannt und als >The Age of ChaucerThe Age of Shakespeares >The Age of Dryden< bzw. >The Age of Johnson< bezeichnet werden; der Herausgeber erläutert diese Praxis mit einem ganz pragmatischen Hinweis: »Each separate volume, w i t h the exception of the last, has been named after those writers w h o dominate or stand conveniently at either end of the period, and who also indicate between them the strength of the age in literature.« 57 54
Vgl. Baldick, Criticism and Literary Theory , 154. Müller, Topik des Stilbegriffs, 121. 56 Herbert J.C. Grierson & J.C. Smith, »Prefatory Note«, in: dies., A Critical History of English Poetry (London 1947 [1944]), v. 57 Ford, »General Introduction«, 8. Die Tatsache, daß in dem neunbändigen The New Pelican Guide to English Literature , einer Neubearbeitung des Pelican Guide to English Literature , fast alle Bandtitel der ersten Auflage beibehalten wurden, verdeutlicht einmal 55
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Ähnlich theoretisch unreflektiert und pragmatisch verfahren fast alle englischen Literaturgeschichten, wenn es u m Probleme der Periodisierung geht: A n statt Reflexionen über Epochengrenzen, Epochenschwellen oder Epochenbewußtsein anzustellen, 58 begnügt man sich in der Regel einmal mehr mit der Nennung von Autorennamen, deren Werke als besonders typische Kristallisationspunkte oder als Schwellen für eine Epoche angesehen werden. Typische Beispiele für solche Epochenbezeichnungen finden sich i n The Pelican Guide to English Literature , dessen Bände Titel tragen wie The Age of Shakespeare, From Dryden to Johnson oder From Dickens to Hardy. Obgleich der Herausgeber freimütig einräumt, daß die Grenzen zwischen den Bänden (und damit auch den Epochen) nicht klar und eindeutig gezogen werden könnten (»the boundaries between the separate volumes cannot be sharply drawn, and in many instances there is an overlap«), bereiten ihm diese Überschneidungen und die daraus resultierenden konzeptionellen Probleme offensichtlich keinerlei Sorgen, sondern er glaubt, darin sogar einen Vorzug zu sehen: »[F]ar from being a disadvantage, however, this should help to make the Guide a single w o r k rather than seven distinct works.« 5 9 Derlei optimistische Bekundungen können freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Ignorieren von Problemen der Periodisierung und der Mangel an einer klaren Gesamtkonzeption gerade nicht dazu angetan sind, zur Einheit oder zumindest Homogenität der Darstellung beizutragen. Der Mangel an einer erkennbaren Gesamtkonzeption w i r d auch daran deutlich, daß es in vielen englischen Literaturgeschichten an Versuchen fehlt, die jeweiligen Werke in diachrone oder synchrone Zusammenhänge einzuordnen, übergreifende Entwicklungen aufzuzeigen oder Beziehungen zwischen den literarischen Texten und dem außerliterarischen Kontext darzustellen. Daß es sich bei der Praxis, Epochenbegriffe und Periodisierung i n erster Linie an >großen Autoren< auszurichten, tatsächlich u m eine der nationalspezifischen Besonderheiten der englischen Literaturgeschichtsschreibung handelt, zeigt sich noch deutlicher, wenn man diese Konvention mit den Verfahren kontrastiert, die die französischen Literaturhistoriker Legouis und Cazamian in ihrer History of English Literature verwenden. Ebenso wie die meisten deutschen Geschichten der englischen Literatur greifen sie bevorzugt auf abstrakte Ordnungskategorien wie Gattungen, Strömungen und Stiltendenzen zurück, unter denen dann einzelne Autoren und Werke subsumiert werden. I n Legouis' mehr, wie langlebig und traditionsbildend einmal etablierte Formen der Periodisierung und Klassifikation oftmals sind. 58 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Ursula Link-Heer (Hg.), Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie (Frankfurt/M. 1985) und Reinhart Herzog, Reinhart Koselleck (Hg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. Poetik und Hermeneutik 12 (München 1987). 59 Ford, »General Introduction«, 8.
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und Cazamians Standardwerk taucht bezeichnenderweise kaum ein Autorenname in Kapitelüberschriften - geschweige denn als Epochenbezeichnung - auf. Wie Hippolyte Taine vor ihnen konstruieren Legouis und Cazamian außerdem ein dezidiert >französisches< (bzw. deutsches) Bild der englischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, indem sie sie als einen >Kampf< zwischen Klassizismus und Romantik darstellen; Buch I I I des zweiten Teils trägt nicht umsonst den Titel »The Survival of Classicism (1740-70)«. Man braucht kaum hinzuzufügen, daß in englischen Geschichten der englischen Literatur ein deutlich anderes Bild der gleichen Epoche gezeichnet w i r d . 6 0 Deren weitgehender Verzicht auf abstrakte Ordnungsbegriffe wie >Klassizismus< und >Romantik< läßt sich u. a. auf die ungebrochene Vorherrschaft der empirischen Tradition zurückführen. 6 1 D o c h nicht nur die weite Verbreitung von autorzentrierten Epochenbegriffen, sondern auch Aufbau und Struktur der meisten englischen Literaturgeschichten unterstreichen, daß das Interesse in erster Linie individuellen >großen< Autoren und >bedeutenden< Werken gilt. Obgleich der Herausgeber emphatisch das Gegenteil behauptet und die Einheit des Werkes beschwört, ist The Pelican Guide to English Literature weder »a single work« noch »seven distinct works«, sondern hat - wie viele andere englische Literaturgeschichten i m übrigen auch - eher den Charakter einer losen Sammlung von Essays, die durch kein übergreifendes Konzept zusammengehalten werden; es handelt sich, wie der Herausgeber durchaus treffend bemerkt, i m Grunde u m »detailed studies of some of the chief writers and works in the period«. 6 2 Daß es in den meisten anderen Literaturgeschichten nicht anders aussieht, stützt die These, daß es sich bei der rein additiven Vorgehensweise, der essayistischen Darstellungsweise und der >writers and their workgroßen< Autoren w i r d jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet, wohingegen weniger >große< (sog. minor authors) i n anderen Kapiteln zusammengefaßt werden. Außerdem erwecken die oft wenig aussagekräftigen Überschriften (»Four Notable Authors«, »Other Prose Writers«, »Drama«) und die Abfolge der Kapitel den Eindruck, daß es an einem umfassenden O r d 60 Vgl. z. B. Band 4 des Pelican Guide, der den Titel From Dryden to Johnson (1957) trägt, oder Roger Lonsdale (Hg.), Dryden to Johnson. Sphere History of Literature Bd. 4 (London 1986 [1971]). 61 Vgl. Easthope, Englishness and National Culture. 62 Ford, »General Introduction«, 9.
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nungsprinzip mangelt. Die Abfolge von dominant werkimmanenten Interpretationen mag zwar die darstellerische Bewältigung des heterogenen Materials erleichtern, hat jedoch zur Folge, daß dadurch bestenfalls ein rein additives Bild der Literatur entsteht. Bei dieser A r t von Literaturgeschichtsschreibung werden ordnende Methode und Zusammenschau weitgehend durch chronologische Kompilation und additive Faktenreihung ersetzt. Die Tatsache, daß viele der etablierten Nachschlagewerke - etwa The Concise Cambridge History of English Literature und die Sphere History of Literature - diesem Muster folgen, stützt die These, daß es sich bei den genannten Besonderheiten u m weitere Züge des Nationalstils der Literaturgeschichtsschreibung handelt. Das gleiche gilt für den weitgehenden Verzicht auf O r d nungsbegriffe und Typologien, die >literaturwissenschaftlich< (bekanntlich ein Terminus, der sich nicht ins Englische übersetzen läßt!) fundiert zu nennen wären. Die meist sehr pragmatischen Verfahrensweisen bestärken die These von Perkins, daß »few literary historians have reflected upon the processes by which they obtained their classifications. They have worked naively and ad hoc.« 6 3 Ein typisches Beispiel dafür ist etwa die Typologie, die Phelps seinem Uberblick über den englischen Roman der Nachkriegszeit in dem weitverbreiteten The New Pelican Guide to English Literatur. Vol. 8: The Present voranstellt und die durchaus Anwartschaft auf die Aufnahme in eine literaturwissenschaftliche Kuriositätensammlung beanspruchen könnte: [I]t is convenient to divide novelists roughly into six main categories: the survivors of the thirties [ . . . ] ; novelists who were already writing during the same period, but who either did not achieve maturity or failed to gain full recognition until after the Second World War; the so-called >Angry Young Menfeminist< persuasion; a group of anti- or at least post-imperialist writers; and a few writers who have also achieved considerable reputations in the period under consideration but have little in common with any of the other categories.64 >Convenient< mag diese Unterteilung durchaus sein, zweckmäßig oder gar erkenntnisfördernd ist sie freilich kaum. Bei Typologien wie diesen handelt es sich vielmehr u m eine willkürliche Auflistung vager, heterogener, inkommensurabler und Undefinierter Größen, die nicht zu einer konsistenten Klassifikation vordringt. Gleichwohl bilden solche Ad-hoc-Typologien in englischen Literaturgeschichten eher die Regel, während man >teutonische< Systematik vergeblich sucht. 63
Perkins, Is Literary History Possible84. Gilbert Phelps, »The Post-War English Novel«, in: Boris Ford (Hg.), The New Pelican Guide to English Literature, 9 Bde. Bd. 8: The Present (Harmondsworth 1983), 417449, hier: 417 f. 64
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Versucht man, den kleinsten gemeinsamen Nenner der bisher identifizierten Züge des Nationalstils der englischen Literaturgeschichtsschreibung zu ermitteln, so sind dies eine ausgeprägte Vorliebe für das Besondere, seien es einzelne Autoren, Werke oder >Faktenthe Victorian periods without reflecting that the long stretch of time between Oliver Twist and Three Plays for Puritans contains as many different periods as the similar stretch of time between Dekker's Wonderful Year and Dryden's Annus Mirabilis; or readers who accept quasi-scientific definitions and theories of what is, and what is not, literature, without reflecting that though Dickens could no more have written A Sportsman's Sketches than Turgenev could have written Pickwick y the plain human, historical fact is that we want both. 66 I n diesem Fall zeigt sich mit exemplarischer Deutlichkeit, daß sich der Nationalstil der englischen Literaturgeschichtsschreibung nicht nur i n der Auswahl der kanonisierten englischen Klassiker manifestiert, sondern auch und gerade in der A r t und Weise, wie Werke in Literaturgeschichten behandelt und dargestellt werden. Es ist dabei charakteristisch für den in England gepflegten literarhistoriographischen Nationalstil, daß der Akzent oftmals weniger auf der Darstellung übergreifender literargeschichtlicher Entwicklungen oder Zusammenhänge liegt, sondern auf criticism und dem hochangesehenen close reading, auf essayistischen und textnahen Interpretationen der großen Klassiker. Über solch >unenglische< Phänomene der Literaturgeschichte wie Strömungen, Bewegungen, Gattungen, Entwicklungstendenzen oder Einflüsse erfährt man in den etablierten englischen Standardwerken meist bemerkenswert wenig. N i c h t umsonst bemerkt der Herausgeber des Pelican Guide, das Ziel der einzelnen Kapitel, aus denen diese essayistische Gesamtdarstellung besteht, bestände vor allem darin, »to convey a sense of what it means to read closely and w i t h perception; and also to suggest how the literature of a given period is most profitably read, i.e. w i t h what assumptions, and w i t h what kind 65
Perkins, Is Literary History Possible 20. George Sampson, The Concise Cambridge History of English Literature (Cambridge 1965), xi. 66
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of attention«. 6 7 Eines der Hauptziele einer solchen Literaturgeschichte besteht mit anderen Worten nicht darin, einen Überblick über zentrale literaturgeschichtliche Entwicklungen zu geben, sondern Leser in die Kunst der richtigen Interpretation einzuweihen und ihnen damit eine Vorstellung von einigen der Glanzlichter des kulturellen Gedächtnisses Großbritanniens ins Bewußtsein zu bringen.
IV. Zusammenfassung u n d Ausblick Versucht man abschließend, die ermittelten Merkmale auf einer höheren A b straktionsebene zu bündeln und den Nationalstil der englischen Literaturgeschichtsschreibung zusammenfassend zu charakterisieren, so ergibt sich etwa folgendes Gesamtbild, das vor allem durch fünf Stilzüge geprägt ist. Charakteristisch für den historiographischen Nationalstil der englischen Literaturgeschichtsschreibung sind erstens eine starke Orientierung an der empirischen Tradition und eine entsprechend große Skepsis gegenüber abstrakten und nominalistischen Ordnungskategorien. Diese Skepsis geht oft mit ausgeprägter Abneigung gegenüber >JargonMeisterwerksachsonische intellektuelle Stil< »nicht sehr stark in der Theoriebildung und nicht eben stark in der bewußten Wahrnehmung der Paradigmen« sei. 69 Hans-Dieter Gelfert, Typisch englisch: Wie die Briten wurden, was sie sind (München 1998 [1995]), 44.
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stisch gefärbte Literaturkritik bzw. das close reading von Meisterwerken, die zur great tradition gezählt werden. Das darstellungstechnische Äquivalent der genannten Merkmale ist schließlich fünftens eine Bevorzugung essayistischer und bisweilen anekdotischer Schreibweisen, die das Individuelle und das signifikante Detail würdigen, selbst wenn dies auf Kosten übergreifender Zusammenhänge oder der Kohärenz der Darstellung geht. Obgleich diese thesenhafte Darstellung einiger der wichtigsten Charakteristika englischer Literaturgeschichtsschreibung keinen Anspruch erhebt, dieses vielschichtige Thema erschöpfend behandelt zu haben, 70 dürfte doch deutlich geworden sein, daß sich die Praxis der englischen Literaturgeschichtsschreibung durch eine Reihe markanter Merkmale auszeichnet, die es durchaus gerechtfertigt erscheinen lassen, von einem spezifischen literarhistoriographischen Nationalstil zu sprechen. Gestützt w i r d dieses Fazit außerdem durch die Tatsache, daß dieser englische Nationalstil noch durch eine Reihe weiterer Stilzüge geprägt ist, die aus Platzgründen nicht ausführlich behandelt werden konnten. Dazu zählen etwa die Bevorzugung narrativer Darstellungsformen, die Vorliebe für Fortschritts- und Erfolgsgeschichten vom Typ >the rise of -< sowie ein oft kaum unterdrückter Patriotismus: »Literature was not only seen as an identifiable achievement of the British nation, but also as an expression of the unity and of the continuity of the institutions of that same nation.« 7 1 Selbst auf sprachlicher bzw. mikrostruktureller Ebene ließen sich zahlreiche Besonderheiten des historiographischen Nationalstils herausarbeiten, die man getrost als >typisch englisch< bezeichnen kann. A n erster Stelle wäre in dem Zusammenhang w o h l der unwiderstehliche Drang zur humorvollen, ironischen und geistreichen Bemerkung zu nennen, der den sachsonischen intellektuellen Wissenschaftsstil generell vom teutonischen unterscheidet. Dies geht auch aus der Bemerkung von Watson hervor, ironische Leichtfertigkeit sei so sehr integraler Bestandteil der nationalen Tradition, daß grillenhafter H u m o r die eigentliche englische Untugend sei: Most national traditions do not demand or expect careless ease in their academic writers; and the ironic flippancy he [William Empson] loved, though often a joy, can also be a trap. It is the English vice; and when the French, in speaking of le vice anglais , mean masochism and cold baths, they miss the point. The real English vice is whimsy.7 70 Eine Vielzahl weiterer interessanter Beispiele für den Gebrauch nationaler Stereotype, auf die hier aus Platzgründen nicht näher eingegegangen werden kann, findet sich in den Diskursen der Literaturkritik und Literaturtheorie. Selbst ein renommierter Kritiker und Theoretiker wie Terence Hawkes macht da keine Ausnahme, wenn er im Times Literary Supplement vom 15. 7. 1994 über »a frenchified jargon currently fogging the pages of many a literary journal« (12) klagt. 71 72
Sanders, The Short Oxford History , 6. Watson, Never Ones for Theory 70.
24 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 43. Bd.
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Inwiefern die ermittelten Stilzüge als Ausdruck >der< englischen Mentalität oder als Verkörperung von Englishness anzusehen sind, ist eine komplexe Frage, die sich empirisch nicht beantworten läßt. I n jedem Fall ist unübersehbar, daß Korrelationen bestehen zwischen einigen der herausgearbeiteten Besonderheiten des literarhistoriographischen Nationalstils und Charakteristika der Mentalität, die als »typisch englisch< gelten. Besonders deutlich ist dieser Zusammenhang i m Falle der ebenso empirischen wie pragmatischen Vorgehensweise der meisten Literaturgeschichten, der ausgeprägten Vorliebe für das Individuelle sowie des »Sinn[s] fürs Praktische«, 73 denn dies sind durchweg Charakteristika, die als Merkmale von Englishness angesehen werden. 7 4 Gestützt w i r d die These, daß es zwischen dem historiographischen Nationalstil und der englischen Mentalität unübersehbare Parallelen gibt, dadurch, daß signifikante Unterschiede zwischen englischen und deutschen Literaturgeschichten auch auf der Ebene des intellektuellen Habitus zu beobachten sind, auch wenn diese hier nur noch angedeutet werden können. Wie Hans-Dieter Gelfert in seinem Buch Typisch englisch überspitzt, wenngleich durchaus treffend bemerkt, scheinen deutsche Gelehrte »unter dem sonderbaren Zwang zu stehen, so kompliziert wie irgend möglich zu schreiben, während man bei englischen Autoren den Eindruck hat, als müßten sie aus einem entgegengesetzten Zwang heraus so einfach wie möglich schreiben«. 75 Gelfert erläutert diesen Gegensatz durch eine anschauliche Metapher, die die Unterschiede zwischen den intellektuellen Nationalstilen nochmals zugespitzt verdeutlicht: »Wenn ein deutscher Gelehrter einen Vortrag hält, pflegt er mit einem atemberaubend schwierigen Satz zu beginnen, der die Zuhörer zwingt, ihm mit einem gewaltigen Klimmzug auf das intellektuelle Hochreck zu folgen, w o er ihnen Riesenwellen des Geistes vorturnen w i r d . « 7 6 I m Gegensatz dazu ist ein einfacher, vertrauter und klar verständlicher Stil kennzeichnend für den englischen intellektuellen Habitus: »Das englische Stilideal zwingt den A u t o r dazu, so zu schreiben, daß der Leser die Mühe der Denkarbeit eben nicht merkt, sondern bei der Lektüre das Gefühl hat, dem intellektuellen Spiel eines Müßiggängers zuzuschauen.« 77 Insgesamt scheinen sich englische Literaturhistoriker weniger als reine Wissenschaftler zu verstehen, sondern nach wie vor am klassizistischen Stil- und Persönlichkeitsideal des >Gentleman-Scholar< zu orientieren, der die »Synthese zwischen Wissenschaftlichkeit und Lebensart, zwischen dem Gelehrten und dem Weltmann, zwischen Akademie und Salon« 78 repräsentiert. 73 74 75 76 77
Gelfert, Typisch englisch , Vgl. Easthope, Englishness Gelfert, Typisch englisch , Gelfert, Typisch englisch , Gelfert, Typisch englisch ,
56. and National Culture und Gelfert, Typisch englisch. 33. 33. 34.
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Dieser kurze Ausblick auf einige der makrostrukturellen, mikrostilistischen und mentalitätsgeschichtlichen Aspekte des Themas mag genügen, u m zumindest exemplarisch anzudeuten, daß eine Reihe von wichtigen Fragen, die den Nationalstil der englischen Literaturgeschichtsschreibung betreffen, nur am Rande gestreift werden konnten. Damit sind i m übrigen noch keineswegs alle wichtigen Probleme des Themas angesprochen, die in Zukunft einer genaueren Erforschung bedürfen und von denen zumindest zwei abschließend genannt seien: erstens die Frage nach den diachronen Veränderungen des Nationalstils der englischen (und ebenso der deutschen, französischen etc.) Literaturgeschichtsschreibung, also die oben ausgeblendete Dimension der literarhistoriographischen Epochenstile, und zweitens die interkulturelle bzw. komparatistische Frage nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen verschiedenen literarhistoriographischen Nationalisten. Gerade in einer Zeit, i n der die Europäisierung und Globalisierung der Philologen zügig voranschreitet, verdient die Frage nach den Besonderheiten intellektueller Nationalstile jedenfalls verstärkte Beachtung.
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Gerd Stratmann, »Easy and Familiar: Zur klassizistischen Theorie des Prosastils«, in: Rüdiger Ahrens, Erwin Wolff (Hg.), Englische und amerikanische Literaturtheorie: Studien zu ihrer historischen Entwicklung, 2 Bde. Bd. I: Renaissance, Klassizismus und Romantik (Heidelberg 1978), 237-251, hier: 248. 2*
KLEINE BEITRÄGE
Aus der Feder eines Klerikers? Ein neuer Vorschlag zu Eilharts Tristrant Von Martina Backes
Fragt man nach den Anfängen des französischen Einflusses auf die deutsche Literatur des Mittelalters, richtet sich der Blick fast immer auf den »rheinischen Kulturraum« i m Westen. »Hier war die kulturelle Verbindung mit dem ständisch und künstlerisch fortgeschritteneren französischen Sprach- und Einflussgebiet, Kenntnis der französischen Sprache und Literatur am weitesten verbreitet und die Aufnahmebereitschaft daher am offensten« heißt es nahezu kategorisch in der Literaturgeschichte Helmut de Boors, und seine Einschätzung prägt die Forschung bis heute. 1 Dabei gerät allerdings leicht außer acht, dass auch i m Osten, fernab von der romanischen Sprachgrenze, Dichtungen nach französischem Vorbild entstanden, und zwar nicht mit großer zeitlicher Verzögerung. Bereits eines der frühesten Werke, die Bearbeitung der afrz. Chanson de Roland durch den pfaffen Konrad u m 1170 weist nach Bayern, in den Herrschaftsbereich der weifischen Herzöge, und es wurde, durchaus mit guten Gründen, in der Forschung diskutiert, ob nicht auch das erste erhaltene mittelhochdeutsche Epos überhaupt, das einer französischen Quelle folgt, das Alexanderlied des pfaffen Lambrecht, aufgrund stilistischer Merkmale und der frühen (und einzigen) Überlieferung in der Vorauer Handschrift nach Regensburg gehört, das damals ein Zentrum der weltlichen Epik war. 2 Dass die Rezeption französischer Werke i m Mittelalter keineswegs an die unmittelbare Nähe zur Sprachgrenze geknüpft war, vermag auch ein Blick über den Tellerrand der weltlichen Epik hinaus in den Bereich der theologisch-wissenschaftlichen Lite1
Helmut de Boor, Die höfische Literatur. Vorbereitung , Blüte , Ausklang 1170-1250. 10. Aufl. bearb. Ursula Hennig (München 1979), 20. Grundlegend für eine detaillierte Beschäftigung mit den französischen Einflüssen auf die deutsche Literatur ist immer noch die Studie von Joachim Bumke, Die romanisch-deutschen Literaturbeziehungen im Mittelalter. Ein Überblick (Heidelberg 1967). 2 Eine Zusammenfassung der Forschungsdiskussion bietet Joachim Bumke, Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 11501300 (München 1979), 75-78.
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Martina Backes
ratur zu belegen. So gelangten gelehrte französische Schriften durch fahrende Studenten und >internationale< Klosterbeziehungen äußerst rasch i n den Osten, w o etwa, wie Peter Classen i n seiner Untersuchung zur Frühscholastik gezeigt hat, die Werke Abaelards, Hugos von St.Viktor, Gilberts von Poitiers und des Petrus Lombardus bereits sehr früh verbreitet waren. 3 Ähnlich schnell und bereitwillig nahm man in den lateinischen Osterspielen des Donauraums die in Frankreich entwickelte Szene des Salbenkaufs auf. 4 A u c h hier stellte die geographische Entfernung offenbar kein entscheidendes H i n dernis dar, wenn man sich für literarische Neuerungen bzw. Handschriften aus Frankreich interessierte, und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass dies nur für geistliche Werke galt. So lassen z. B. bereits die Quirinalien des Metellus von Tegernsee aus der Mitte des 12. Jahrhunderts erkennen, das der mittellateinische Klosterautor nicht nur die antike Literaturtradition kannte, sondern auch mit Episoden der französischen Heldenepik, insbesondere der Chevalerie Ogier ; vertraut war. 5 Die Vermutung der älteren Forschung, Metellus müsse deswegen rheinischer Herkunft sein, entbehrt jeder Grundlage und unterschätzt die Möglichkeiten, durch Studienaufenthalte oder Kontakte mit befreundeten ausländischen Ordensniederlassungen Kenntnisse fremder Stoffkreise zu erwerben. 6 Kuriose Blüten hat die klischeehaft verbreitete Vorstellung von der nahezu ausschließlichen Bindung der Rezeption französischer Stoffe an die Nähe der Sprachgrenze insbesondere bei der Lokalisierung der ersten deutschen TristanDichtung durch Eilhart von Oberg hervorgebracht. O b w o h l weder die historische Bezeugung des - allerdings nur in den späten Textzeugen überlieferten Dichternamens in einer Braunschweiger Ministerialenfamilie noch die Sprache Eilharts bzw. die ältesten Handschriften Indizien dafür bieten, spielt die These, Eilhart habe am Niederrhein oder gar in den südlichen Niederlanden geschrieben, bis heute eine große Rolle in der Forschung. 7 So hält Werner Schröder 3
Siehe Peter Classen, »Zur Geschichte der Frühscholastik in Österreich und Bayern«, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 67 (1959), 249-277. 4 Siehe Helmut de Boor, »Der Salbenkauf in den lateinischen Osterspielen des Mittelalters«, in: Festgabe für L.L. Hammerich (Kopenhagen 1962), 29-44. 5 Siehe Rita Lejeune, Recherches sur le Thème: Les Chansons de Geste et l'Histoire (Liège 1948), 52 bzw. 123 f. 6 Dass man in Tegernsee damals auch die zeitgenössische theologisch-wissenschaftliche Literatur aus Frankreich kannte, belegen z. B. Handschriften des 12. Jahrhunderts mit Werken Hugos von St.Viktor (clm 18527a) oder aus der Abaelard-Schule (clm 19134). 7 Zur kritisch abwägenden Sichtung der Forschungsdiskussion siehe Bumke, Mäzene, 108 -113. Die Autornennung »Von Hobergin her Eylhart/ Hat uns diz buchelin gerichtet« findet sich in V.9446 der Dresdener Handschrift von 1433 (Sächsische Landesbibliothek, Ms. M 42). Zu den Varianten des Namens in anderen späten Textzeugen siehe Hadumod Bußmann in der Einleitung zu seiner Ausgabe: Eilhart von Oberge, Tristrant. Synoptischer
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noch in der 2. Auflage des Verfasserlexikons daran fest, wobei insbesondere die Begründung, »im östlichen Sachsen könnte der Dichter schwerlich mit der frz. Tristan-Dichtung bekannt geworden sein« 8 wenig stichhaltig zu sein scheint. Z u m einen war seit der Heirat Heinrichs des Löwen mit Mathilde, der Tochter Eleonores von Aquitanien und Heinrichs von England, i m Jahr 1168 eine Herzogin am Braunschweiger Hof, »die besonders gut als Vermittlerin des französischen Tristanromans gedacht werden kann«. 9 Z u m anderen blieb in der germanistischen Diskussion bislang völlig außer acht, dass die Domschule i m Braunschweig benachbarten Hildesheim seit dem frühen 12. Jahrhundert äußerst enge Beziehungen zu nordfranzösischen Schulen, insbesondere zu Paris pflegte und überdies bereits seit alter Zeit mit Reims, der Patenkirche des jungen Hildesheim, verbrüdert war. Hier erhielt u. a. Rainald von Dassel, der spätere Kölner Erzbischof und Kanzler Friedrich Barbarossas, seine erste Ausbildung, bevor er nach Frankreich ging, und er war es vermutlich auch, der nach seiner Rückkehr als Hildesheimer Dompropst (1148 -1154) Heinrich, den nachmaligen Bischof von Lübeck, der ebenfalls in Paris studiert hatte, an die Spitze der Domschule berief. Später wurde Heinrich die Leitung der Schule am herzoglichen Burgstift St. Blasien in Braunschweig übertragen, und er stieg zu einem engen Vertrauten Heinrichs des Löwen auf. 1 0 Die Verbindungen zu
Druck der ergänzten Fragmente mit der gesamten Parallelüberlieferung (Tübingen 1969), Vllff. 8 Werner Schröder / Ludwig Wolff, »Eilhart von Oberg«, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. 2., völlig neu bearb. Aufl. hg. Kurt Ruh u. a. Bd. 2 (Berlin 1980), 410-418, hier 410 f. 9 Bumke, Mäzene, 353, Anm. 284. Volker Mertens lokalisiert den Tristrant ebenfalls in den Umkreis des Braunschweiger Hofes und erwägt als Auftraggeber den weifischen Seneschall Jordan von Blankenburg bzw. den gleichnamigen ältesten Sohn Heinrichs des Löwen, der den Vater ins zweite Exil begleitete und dort angevinische Hofkultur kennengelernt habe. Siehe Volker Mertens, »Eilhart, der Herzog und der Truchsess. Der >Tristrant< am Weifenhof«, in: Tristan et Iseut, mythe européen et mondial, hg. Danielle Buschinger (Göppingen 1987), 262-281 und ders., »Deutsche Literatur am Weifenhof«, in: Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Präsentation der Weifen 1125-1235. Bd. 2: Essays, hg. Jochen Luckhardt u. Franz Niehoff (München 1995), 204-212, hier 207 ff. 10
Zu den Verbindungen der Hildesheimer Domschule mit Paris, die auch in der älteren Hildesheimer Briefsammlung deutlich werden (abgedruckt in: MGH> Die Briefe der deutschen Kaiserzeit y Bd. 5,15-106), siehe Joachim Ehlers, »Deutsche Scholaren in Frankreich während des 12. Jahrhunderts«, in: Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen und späten Mittelalters y hg. Johannes Fried (Sigmaringen 1986), 97-120, hier 115 ff. sowie Bernhard Gallistl, »Schüler, Bücher und Gelehrsamkeit am Hildesheimer Dom«, in: Ego sum Hildensemensis. Bischof Domkapitel und Dom in Hildesheim 815 bis 1810. Kataloge des Dom-Museums Hildesheim 3 (Petersberg 2000), 213-238. Zu den Hinweisen, die auf den nicht ausdrücklich belegten Studienaufenthalt Rainalds in Frankreich schließen lassen, siehe Ehlers, Scholaren, 103.
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Frankreich bestanden also in Braunschweig nicht nur in Form der politischen und verwandtschaftlichen Kontakte Mathildes, sondern waren insbesondere bei den gelehrten Klerikern innerhalb der Führungsschicht am weifischen H o f weitaus vielfältiger und intensiver als bisher in der literaturwissenschaftlichen Forschung wahrgenommen. Dabei wurden solche Ausbildungs- und Studienkontakte, wie ein Schreiben Heinrichs des Löwen an den französischen König L u d w i g V I I . zeigt, vom H o f durchaus zielstrebig unterstützt. I n diesem Brief, der zwischen 1154 und 1180 entstanden sein muss, bedankt sich Herzog Heinrich für die Aufnahme eines jungen Adligen aus seiner Umgebung, der, wie der Uberlieferungszusammenhang der Abschrift in einer Handschrift aus SaintVictor erkennen lässt, zu Studienzwecken nach Frankreich geschickt worden war. 1 1 Spuren des kulturellen französischen Einflusses lassen sich in Hildesheim nicht nur i m Bereich der Paläographie in Form einzelner Schriftmerkmale der neuen, in Frankreich ausgebildeten gotischen Textura nachweisen, die schon sehr früh in Hildesheimer Handschriften auftauchen, 12 sondern etwa auch i m mittellateinischen Hildesheimer Nikolausspiel I (Tres filiae), das offenbar weitgehend die in Frankreich entstandene Urfassung repräsentiert. 13 Bedenkt man darüber hinaus, dass sich in der Privatbibliothek des Hildesheimer Bischofs Bruno (1153-1161) bereits u m die Mitte des 12. Jahrhunderts die modernsten wissenschaftlichen Werke zeitgenössischer französischer Autoren finden, 1 4 so scheint es, insbesondere auch i m Hinblick auf das viel zitierte
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Eine Abbildung des Briefes bietet der Katalog Heinrich der Löwe und seine Zeit , Bd. 1, D 10, 163 f. Zur planvollen Förderung der Ausbildung des weifischen Kanzleipersonals durch den Herzog vgl. auch Martin Kintzinger, »Herrschaft und Bildung. Gelehrte Kleriker am Hof Heinrichs des Löwen«, in: Heinrich der Löwe und seine Zeit , Bd. 2, 199-203. 12 Siehe Bernhard Bischoff, »Paläographie«, in: Deutsche Philologie im Aufriß. 2., Überarb. Aufl. hg. Wolfgang Stammler. Bd. 1 (Berlin 1957), 379-451, hier 425. 13 Das Hildesheimer Spiel ist in einer Handschrift aus dem 11./12. Jahrhundert erhalten (London, British Library, cod. Add. 22414, f.3v-4r). Zur Rekonstruktion der französischen Einflüsse siehe G.R. Coffman, A new Theory concerning the Origin of the Miracle Play. Diss. Chicago (Menasha 1914), 59-66 sowie Karl Young, The Drama of the Medieval Church. Vol. 2 (Oxford 1933, Nachdr. 1951), 311-324. 14 Das Bücherverzeichnis ist abgedruckt im Urkundenhuch des Hochstifts Hildesheim und seiner Bischöfe. Bd. 1, hg. Karl Janicke (Leipzig 1896), Nr. 324, 311 f. Zur Person Bischof Brunos siehe Hans Goetting, Die Hildesheimer Bischöfe von 815 bis 1221 (1227), Germania sacra N.F. 20 (Berlin/New York 1984), 383-400 Siehe auch Harald Woltervon dem Knesebeck, »>Die Weisheit hat sich ein Haus gebaute Bilder, Buchkunst und Buchkultur in Hildesheim während des 12. Jahrhunderts«, in: Abglanz des Himmels. Romanik in Hildesheim, hg. Michael Brandt (Hildesheim 2001), 95-136 sowie Gallistl, Schüler, Bücher und Gelehrsamkeit, 222 ff. Gallistl weist außerdem daraufhin, dass auch von den ältesten Handschriften in Hildesheimer Besitz die meisten aus dem Gebiet des heutigen Nordfrankreich stammen (214 f.).
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Zeugnis Arnolds von Lübeck über die durchaus nicht nur theologischen Interessen deutscher Studenten in Paris, keineswegs so abwegig, wie Schröder meinte, dass i m östlichen Sachsen damals auch zeitgenössische weltliche Literatur aus Frankreich greifbar war. 1 5 Dass ein Johannes von Oberg 1190 als Kleriker in einer Urkunde Heinrichs des Löwen und später von 1197 bis 1203 als Kanoniker und Kustos am weifischen Hauskloster St. Blasien in Braunschweig bezeugt ist, 1 6 könnte überdies Beziehungen der Familie Eilharts zu diesem Kloster nahe legen, das, wie oben erwähnt, durch die institutionellen Verbindungen mit der Hildesheimer Domschule und durch Persönlichkeiten wie seinen zeitweiligen Schulleiter Heinrich über rege Kontakte nach Frankreich verfügte. U n d Johannes war vermutlich nicht das einzige Mitglied der zwischen Braunschweig und Hildesheim beheimateten Ministerialenfamilie von Oberg, das eine geistliche Karriere in den Klöstern und Stiften der Umgebung einschlug. Die gelegentlich immer noch spürbare Scheu, höfische Liebesromane aus der Feder von Klerikern zu akzeptieren, sollte mit einem interdisziplinären Blick auf die Vagantendichtung, die erotischen Lieder der Ripollsammlung oder das Werk des Andreas Capellanus endgültig ausgeräumt sein, zumal auch in Deutschland die frühen Autoren der höfischen Epik fast ausschließlich Kleriker waren, die aufgrund ihrer Ausbildung und ihrer Studienaufenthalte etwa an den Schulen von Reims, Laon oder Paris allein über das literarische Handwerkszeug und die notwendigen französischen Sprachkenntnisse verfügten. 17 Schließt man die Möglichkeit, dass Eilhart Kleriker war, nicht von vornherein aus und durchforstet daraufhin noch einmal das erhaltene Urkundenmaterial, so wäre zu fragen, ob der Autor des Tristrant nicht auch mit jenem Eilhardus identisch sein könnte, der zwischen 1146 und 1166 in den Zeugenlisten verschiedener Urkunden unter den canonici des Hildesheimer Domkapitels aufgeführt w i r d und vor 1191 verstorben sein muss. 18 Denn i m Kapiteloffiziums15 Arnold von Lübeck berichtet, dass dänische Fürsten ihre Söhne zu Beginn des 13. Jahrhunderts ausdrücklich nicht nur deshalb nach Paris schickten, um dort die für eine klerikale Karriere notwendigen theologischen Studien zu betreiben. Sie sollten vielmehr zugleich mit den vornehmen weltlichen Sitten des französischen Adels und der Sprache des Landes vertraut werden und taten dies, wie Arnold vermerkt, »usum Teutonicorum imitantes«. Siehe Arnold von Lübeck, Crónica, III, 5, in: MGH SS XXI, 147. 16 Siehe Edward Schröder, »Eilhard von Oberg«, Zeitschrift für deutsches Altertum 42 (1898), 72-82 und 195 f. sowie Bumke, Mäzene, 113. 17 Zum Verhältnis von klerikaler und laikaler Kultur, die im Mittelalter keineswegs durch ein »beziehungsloses Nebeneinander« geprägt waren, siehe Rüdiger Schnell, »Kirche, Hof und Liebe. Zum Freiraum mittelalterlicher Dichtung«, in: Mittelalterbilder aus neuer Perspektive, hg. Ernstpeter Ruhe und Rudolf Behrens (München 1985), 75-108. Schnell weist u. a. darauf hin, dass sich der Zisterzienserorden 1199 genötigt sah, seinen Mitgliedern das Anfertigen von Liebesliedern durch ein Statut zu verbieten (95). 18
Siehe Janicke (Hg.), Urkundenbuch des Hochstifts Hildesheim und seiner Bischöfe, Nr. 239, 263, 276, 280, 285, 311, 323, 334, 337, 339. Ohne Kenntnis dieser Urkunden hatte
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buch, das in diesem Jahr für die liturgische Memoria der Hildesheimer K o m munität angelegt wurde, erscheint sein Name in der Liste der verstorbenen Diakone. 1 9 Während dieser Eilardus in der ältesten Urkunde von 1146 noch unter den subdiaconi aufgeführt wird, erscheint er in den folgenden Jahren stets als diaconus bzw. canonicus. Dabei nimmt er in der Zeugenliste einer Urkunde Rainalds von Dassel von 1154 die erste Stelle unter den Diakonen ein (Nr. 285), in der großen Urkunde Bischof Brunos aus dem Jahr 1161 über die Stiftung des Johanneshospitals durch Rainald, der zu dieser Zeit bereits Kölner Erzbischof und Kanzler Barbarossas war, steht er als celerarius (ein A m t , das zuvor auch Rainald innehatte) an vierter Stelle der Diakone (Nr. 323). Diese Urkunde belegt zudem enge Kontakte zu Angehörigen des weifischen Herzogshofes. Denn unter den weltlichen Zeugen w i r d neben anderen Hofbeamten an letzter Stelle jener Jordanus marschalcus, d. h. Jordan I. von Blankenburg, genannt, der als Truchsess einer der wichtigsten Berater Heinrichs des Löwen war und den vor allem Volker Mertens als möglichen Auftraggeber des Tristrant zur Diskussion gestellt hat. 2 0 Dass der Zusatz von Oberge i n den geistlichen Zeugenlisten der lateinischen Urkunden nicht erscheint, ist nicht außergewöhnlich und spricht nicht gegen eine Identifizierung mit dem Verfasser des Tristrant. So w i r d z. B. auch Rainald von Dassel stets nur als Rainaldus aufgeführt, während sein Bruder, Graf Ludolf von Dassel, als Ludolffus de Dassella erscheint. Nichts spricht meines Erachtens dagegen, dass bereits dieser Eilhardus Mitglied der Familie von Oberge war, in der »Eilhart« offenbar zu den Erbnamen gehörte. Als H i l desheimer Kleriker konnte er mühelos nicht nur über das für eine schriftstellerische Arbeit notwendige gelehrte Wissen verfügen, sondern zugleich über die erforderlichen Sprachkenntnisse, da eine zeitweilige Fortsetzung der Studien in Frankreich für viele junge Angehörige des Domstifts zur Ausbildung gehörte. U n d dass die Geistlichen des bischöflichen Hofes nicht in strenger klösterlicher Disziplin lebten, sondern durchaus auch weltlichen Interessen nachgingen, beklagte ein anonymer Chronist bereits 1080. Seiner Meinung nach hatten sich die Sitten in Hildesheim insbesondere seit dem Amtsantritt des Bischofs Azelinus (1044-54), der zuvor Hofkaplan Kaiser Heinrichs I I I . gewesen war, sträflich gelockert. Wie er in seiner Fundatio ecclesiae Hildesheimensis berichtete, fanden die Kleriker Geschmack an vornehmen und eleganten Umgangsformen, bereits Joachim Bumke erwogen, dass Eilhart Kleriker war. Siehe Bumke, Mäzene, 113 bzw. 353, Anm. 283. 19 Die Totenliste der Hildesheimer Domkanoniker ist abgedruckt im Rahmen des Chronicon Hildesheimense , hg. Georg Heinrich Pertz, in: MGH SS 7 (Hannover 1846), 845 - 873, hier 849. Zur Beschreibung des heute in der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel aufbewahrten Codex (Cod. Guelf. 83.30 Aug. 2°) siehe Eckart Freise, »Das Kapiteloffiziumsbuch des Hildesheimer Domkapitels 1191«, in: Ego sum Hildensemensis , 239244. 20
Siehe Mertens, »Eilhart, der Herzog und der Truchsess«, 270 ff.
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pflegten einen »ehrgeizigen höfischen Lebensstil« (ambitiosa curialitas) und waren »gewissenhafter auf jede Form von Kultur bedacht«. 21 Dass dieser Text überdies, wie C. Stephen Jaeger feststellte, mit der zitierten Formulierung den ältesten erhaltenen Beleg des Substantivs curialitas aufweist, mag einmal mehr verdeutlichen, welch modernes geistiges Klima damals in Hildesheim herrschte, das damit, obwohl geographisch weit entfernt von der französischen Sprachgrenze i m Osten gelegen, durchaus nicht zur kulturellen Provinz zählte. Vielmehr praktizierte man dort am bischöflichen H o f nach dem Vorbild des Kaiserhofes, w o seit 1043 die südfranzösische Fürstin Agnes von Poitou als Gemahlin Heinrichs I I I . lebte, offenbar sogar früher als in anderen deutschen Gegenden den neuen, französisch inspirierten höfischen Lebens- und Repräsentationsstil, zu dem zweifellos auch die Förderung von Literatur gehörte. Berücksichtigt man dieses Umfeld, so erscheint Eilharts Tristrant i m Osten keineswegs länger als ein Fremdkörper oder Irrläufer. Könnte man sich für jenen 1146 bis 1166 bezeugten Hildesheimer Kanoniker Eilardus als Verfasser entscheiden, so würde diese gegenüber den bisher bekannten Urkunden, die alle erst aus dem Zeitraum zwischen 1189 und 1209 stammen, deutlich frühere Bezeugung nicht zuletzt die chronologischen Schwierigkeiten aus dem Weg räumen, die mit einer Spätdatierung des Tristrant u m 1190 verbunden sind. Das Werk könnte nun ohne weiteres u m 1170, d. h. vor Veldekes Eneit entstanden sein und wäre damit tatsächlich »eine Pionierleistung i n der Geschichte des höfischen Romans«. 22
21 Fundatio ecclesiae Hildesheimensis, abgedruckt in: MGH SS 30,2, 939-946, hier 945: Eo enim presidente irrepsit ambitiosa curialitas, quae dum in vestitu mollior.; in victu lautior, in omni cultu accuratior amari quam timeri maluit, disciplinae molito rigore claustri claustra relaxavit. (»In seiner Amtszeit schlich sich eine ehrgeizige höfische Lebensweise ein, die - vornehmer und weibischer, was die Kleidung, eleganter und feiner, was den Lebensstil betraf, gewissenhafter auf jede Form von Kultur bedacht, in der Absicht, eher Liebe als Furcht einzuflößen - zu einer Lockerung der klösterlichen Strenge führte.«) Zitat und Übersetzung nach C. Stephen Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur. Vom höfischen Bischof zum höfischen Ritter (Berlin 2001), 213 (die amerikan. Erstausgabe erschien bereits 1985 unter dem Titel »Origins of Courtliness«). Vgl. die ähnlich harsche Kritik des Abtes Siegfried von Gorze an den neumodischen Umgangsformen, die seit der französischen Heirat Heinrichs III. am Kaiserhof, an dem Azelinus vor seiner Übernahme der Hildesheimer Bischofswürde gelebt hatte, herrschten, zitiert bei Joachim Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter (München 1986), 108. Zum Begriff curialitas siehe zuletzt Paul Gerh. Schmidt, »Curia und curialitas. Wort und Bedeutung im Spiegel der lateinischen Quellen«, in: Curialitas, hg. Josef Fleckenstein (Göttingen 1990), 15-26 (mit weiteren Literaturhinweisen). 22
Bumke, Mäzene, 109.
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Martina Backes Anhang: Übersicht über die urkundlichen Bezeugungen des Eilardus
1146 März 11:
Bischof Bernhard von Hildesheim bezeugt die Stiftung und Dotation des Klosters St. Godehard. Eilardus erscheint an vierter Stelle der subdiaconi (UB des Hochstifts Hildesheim und seiner Bischöfe, Nr. 239).
1150 Mai 8:
Bischof Bernhard belehnt Graf Hermann mit der Winzenburg. Eilardus erscheint unter den ceteri maioris ecclesie canonici (UB, Nr. 263).
1151:
Bischof Bernhard belehnt einen Conventualen des Michaelisklosters mit Neubruchland. Eilhardus erscheint unter den canonici nostri (UB, Nr. 276).
1152 Oktober 13: Bischof Bernhard bezeugt die Gründung des Klosters Bokein durch Liemmar, einen Dienstmann des Herzogs Heinrich. Eilhardus erscheint unter den diaconi (UB, Nr. 280). 1154:
Dompropst Reinald von Dassel gibt seine Zustimmung zur Überlassung von Rechten des Domkapitels an das Kloster Riechenberg. Unter den maioris ecclesie canonici erscheint Eilardus an erster Stelle (UB, Nr. 285).
1158 Mai 28:
Bischof Bruno bestätigt den Kauf eines Grundstücks. Unter den Zeugen: Eilardus diaconus (UB, Nr. 311).
1161 (1159?):
Bischof Bruno bezeugt Schenkungen Rainalds von Dassel an das Domkapitel und den Neubau des St. Johannishospitals durch ihn. Unter den geistlichen Zeugen: Elardus celerarius, unter den weltlichen Zeugen: Ludolffus de Dassella und Iordanus marschalcus (UB, Nr. 323).
1163 August 23:
Bischof Hermann trifft Verfügungen zugunsten des Kreuzstifts. Unter den Zeugen an siebter Stelle: Ego Eilhardus diaconus sancte Marie ss. (UB, Nr. 334).
1166 August 6:
Bischof Hermann verpfändet einen Hof, um dem Kaiser 400 Mark für seine Nichtteilnahme an dessen Zug in die Lombardei zu zahlen. Eilhardus erscheint an zweiter Stelle der diaconi (UB, Nr. 337).
1166 August 25:
Bischof Hermann erlaubt den Bau einer Kapelle in Hemmendorf. Eilhardus erscheint an erster Stelle unter den diaconi (UB, Nr. 339).
1191:
Das in diesem Jahr angelegte Kapiteloffiziumsbuch des Hildesheimer Domkapitels führt Eilhardus diaconus in der Liste der verstorbenen Domkanoniker auf.
Extrait de Télémaque Zur Verwendung von Fénelons Aventures de Télémaque in der Prinzenerziehung am Berliner H o f u m 1700
Von Iris Wenderholm
I m Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz hat sich ein bisher unveröffentlichtes Schriftstück erhalten, das ein weiteres Indiz für die außergewöhnlich frühe und intensive Rezeption von Fénelons Les Aventures de Télémaque am Berliner H o f darstellt. 1 Die Handschrift, die mit Extrait de Télémaque betitelt ist, befindet sich in einem Konvolut von Korrespondenzen und privaten Schriftstücken der ersten preußischen Königin Sophie Charlotte (1668-1705) und ist ein bemerkenswertes Beispiel für den Einsatz des Romans in der frühneuzeitlichen Prinzenerziehung. 2 Die Aventures de Télémaque wurden gegen Ende des 17. Jahrhunderts von François de Fénelon, dem Erzbischof von Cambrai und Präzeptor des französischen Dauphin, als Lehrschrift ad usum delphini verfaßt. 3 Als i m Jahre 1699 die ersten unauthorisierten Exemplare der Aventures de Télémaque gedruckt wurden, dürfte Sophie Charlotte bereits Kenntnis von dem Roman gehabt haben, da ihre verwandtschaftlichen Verbindungen zum H o f Ludwig XIV. durch die Heirat ihrer Cousine Elisabeth Charlotte, genannt Liselotte von der Pfalz, ausgesprochen eng waren. Ausführlich berichtet Liselotte in einem Brief vom 1 GstA-PK, BPH, Rep. 56 I I F Nr. 7, Bd. 1.2, fol. 704 r - 707 v. Die Handschrift umfaßt vier beidseitig beschriebene, stark gebräunte Seiten in Quartformat, die mit Goldschnitt und einem Wasserzeichen versehen sind. Der unbekannte Schreiber verwendete braune Tinte. Absätze werden durch kleine Tilden markiert, das Textende ist durch eine große barocke Schlußvignette gekennzeichnet. 2
Das Konvolut befindet sich als Nachlaß der Sophie Charlotte zwischen den Dokumenten des Prinzen Heinrich (1726-1802) und besteht aus privaten Schriftstücken der ersten preußischen Königin, ihrer Familie und Umgebung. Zu Sophie Charlotte siehe Ausst. Kat. Sophie Charlotte und ihr Schloß. Ein Musenhof des Barock in Brandenburg-Preußen, hg. Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg (München / London / New York 1999). 3
Verwendet wird im folgenden die Ausgabe Fénelon, Œuvres (zit. Œuvres), Jacques Le Brun, Bd. 2, Bibliothèque de la Pléiade, 437 (Paris 1997).
hg.
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14. Juni 1699 an Sophie Charlottes Mutter von dem Werk, das sie als Manuskript gelesen habe und als ein »recht artig undt schön buch« 4 würdigt. Zugleich beklagt Liselotte die Weigerung des Autors, den Roman veröffentlichen lassen zu wollen: » O n ne m'a prêté le manuscrit que par fragments, et l'on ne m'en donnait un autre que lorsque j'avais lu le précédent. O n m'a fait promettre aussi de ne pas les faire copier; sans cela, je vous en aurais certainement envoyé une copie.« 5 Fénelons Versuche, die Veröffentlichung des Werkes zu unterbinden, scheinen jedoch eine ungewöhnlich reich dokumentierte Rezeption des Romans am Berliner H o f nicht verhindert zu haben. Jüngste Dokumentenfunde und zahlreiche Belege in Kunst und Literatur können das große Interesse der kunstsinnigen Sophie Charlotte an den Aventures de Télémaque bezeugen. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die Veröffentlichung der ersten deutschen Übersetzung als Staats-Roman durch August Bohse gen. Talander i m Jahre 1700, die dem preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm gewidmet ist. 6 I n seiner an den Prinzen gerichteten Vorrede verweist Bohse-Talander auf den moralphilosophischen Nutzen des Werkes, das nicht nur dem docere, sondern auch dem delectare dienen sollte. N o c h vor der Krönung von Kurfürst Friedrich I I I . zum König Friedrich I. in Preußen am 18. Januar 1701 ließ Sophie Charlotte einen fiktiven Dialog mit ihrem Sohn veröffentlichen, die Conversation sur le livre de Télémaque , in dem sie sich explizit für die Anwendung der in Fénelons Roman vertretenen Grundlagen der Prinzenerziehung ausspricht. 7 Allusiv w i r d die Kurfürstin am Ende der Conversation sogar mit Fénelons Mentor-Minerva und ihr Sohn mit Telemach gleichgesetzt: »Ceux qui furent témoins de cette conversation, crurent que Minerve n'avait quitté Télémaque, que pour venir dans les jardins de Lutzenbourg, inspirer au jeune prince de Brandenbourg de ses sentiments dignes d'elle, et de l'illustre sang dont il est 4
Briefe der Herzogin Elisabeth Charlotte von Orléans , hg. Hans F. Helmolt, 2 Bde. (Leipzig 1908), Bd. 1,185. 5 Lettres de la Princesse Palatine de 1672 a 1722 , hg. Maurice Goudeket (Straßburg 1964), 94. 6 Staats=Roman y welcher unter der denckwürdigen Lebens-Beschreibung T E L E M A C H I Königl. Printzens aus Ithaca y und Sohnes des Ulysses vorstellet wie die Königl und Fürstlichen Printzen vermittelst eines anmuthigen Weges zur Staats=Kunst und Sitten-Lehre anzuführen durch Franciscum de Salignac de la Mothe-Fénelon y [...]. In Französischer Sprache beschrieben und aus derselben ins Deutsche übersetzet durch Talandern (Breslau 1700). 7 Wiederveröffentlicht von Volker Kapp, »Conversation sur le livre de Télémaque« (zit. Conversation ), Dix-Huitième Siècle , 14 (1982), 221-229. Interessanterweise enthält das Konvolut, in dem sich der Extrait befindet, auch eine zeitgenössische Abschrift der Conversation , deren Status aber kaum zu rekonstruieren ist. Die Vermutung drängt sich auf, daß es sich um eine Reinschrift nach dem ursprünglichen Entwurf handelt.
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sorti.« 8 Einige Jahre nach Sophie Charlottes Tod, u m 1710, entstanden i n diesem Zusammenhang auch zehn Supraporten für die Eichengalerie des Charlottenburger Schlosses, die als Teil einer geplanten Gesamtdekoration in Auseinandersetzung mit dem Telemach-Roman gedeutet werden können. 9 I n diesem geistesgeschichtlichen Kontext am Berliner H o f des frühen 18. Jahrhunderts dürfte auch der Extrait de Télémaque anzusiedeln sein. Eine genauere Datierung ist jedoch nur schwer zu leisten und muß sich auf Hilfskonstruktionen stützen. Einen Hinweis auf eine Datierung in das erste Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts könnte vielleicht der Vergleich mit den frühen Ausgaben von Fénelons Roman liefern. Ein Beispiel ist der i m Extrait verwendete Ausdruck »une vaine idée de gloire, un titre« (fol. 707 r), der identisch in der von Adrian Moetjens gedruckten Ausgabe Den Haag 1712, S. 325, verwendet wird. Auch in Fénelons autographem Manuskript der Bibliothèque nationale (ms. fr. 14944), das als verbindliche Textfassung für die ersten Druckausgaben des Romans gilt, heißt es noch »une vaine gloire, un titre«, wogegen Fénelon in der von ihm selbst später korrigierten Kopie der Bibliothèque nationale (ms. fr. 14945) die Textstelle zu »une fausse gloire, un vain titre« verändert. 10 Eine Aussage über den Verfasser des Extrait zu machen, muß mangels Signatur oder anderer signierter Vergleichsbeispiele i n dem Konvolut des Geheimen Staatsarchivs spekulativ bleiben. Z u denken wäre an eine exzerpierende A b schrift durch Liselotte von der Pfalz, die sie i n dem zitierten Brief zwar verwirft, aber trotzdem angeordnet haben könnte. Gegen diese Annahme spricht jedoch ein wichtiges Charakteristikum des Textes. Der unbekannte Schreiber richtet sich zwar sehr genau nach der Vorlage von Fénelons Roman, ersetzt jedoch sämtliche Eigennamen wie etwa Sésostris, Pigmalion und selbst Télémaque durch Personalpronomina oder einen nicht weiter spezifizierten »Prince«. Als Beispiel für die Umwandlung zu einem allgemeingültigen Lehrspruch sei der Satz »Polydamas, i l est vrai, sait la guerre; mais il aime la paix.« 1 1 angeführt, 8 Zitiert nach Conversation , 229. Schauplatz der fiktiven Unterhaltung ist der Garten der Sommerresidenz der Königin in Lietzenburg, die nach ihrem Tode als Geste ehelicher pietas von Friedrich I. in Charlottenburg umbenannt wurde. 9
Vgl. dazu mit älterer Literatur Verf., »Gelehrsame Spaziergänge. Zur Rezeption von Fénelons Roman Les Aventures de Télémaque am Hofe von Sophie Charlotte«, erscheint in den Akten des Kolloquiums »Aspekte der Kunst und Architektur in Berlin um 1700« vom 31. 01. 2000 in der wissenschaftlichen Reihe der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg. 10 Nach Œuvres , 1432. Einen weiteren Beleg für eine Datierung des hier vorgestellten Manuskriptes in den Zeitraum kurz nach 1700 liefert das Wasserzeichen des für das Extrait verwendeten Papiers, das ein weiteres Mal in demselben Konvolut in einem Brief der Henriette Charlotte von Pöllnitz, Erstes Kammerfräulein und enge Vertraute Sophie Charlottes, vom 29. 4. 1700 (fol. 712/713) erscheint. 11
Œuvres, 285.
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der in dem Extrait zu »Ii faut savoir la guerre mais aimer la paix.« (fol. 707 v) umgeformt wird. Keine inhaltliche Zusammenfassung des Romans, der ein noch unwissender Leser folgen könnte, scheint also das vornehmliche Ziel des Extrait de Télémaque zu sein, sondern eine Zusammenstellung moralisch verbindlicher Maximen aus dem Bereich der Prinzenerziehung. So erscheinen die von Fénelon kunstvoll in die Handlung der Aventures de Télémaque eingeflochtenen Raisonnements über die Tugenden eines Fürsten aus dem Roman herausdestilliert und in eine literarische Form gebracht, die den frühneuzeitlichen Sammlungen von Sittensprüchen zu vergleichen wäre. Ein konkretes Vergleichsbeispiel sind die erstmals 1708 anonym in Hamburg erschienenen Morales choisies de Vhistoire de Telemach. Oder Auserlesene Sitten=Sprüche und Lehren. Zusammen gezogen aus der Lebensbeschreibung des Griechischen Helden Telemachi. Die insgesamt 299 Sprüche, die sich ausschließlich den zu erstrebenden Tugenden eines Fürsten widmen, stellen eine ebensolche Kompilation von moralischen Lehrsätzen dar wie der Extrait selbst. Aus diesem Umstand lassen sich Schlüsse wenn schon nicht über die tatsächliche Identität des Verfassers, so doch über die Funktion des Extrait anstellen. Es ist denkbar, daß es sich u m eine Vorlage des preußischen Prinzenerziehers handelt, nach der Friedrich Wilhelm arbeitete, oder u m die Abschrift einer Arbeit des Kronprinzen selbst. 12 Pointiert könnte gesagt werden, daß die Funktion der Aventures de Télémaque , die von Fénelon ad usum delphini verfaßt wurden, in dem Extrait durch seine maximenähnliche Form deutlich aufgegriffen wird. Die gattungsgemäße Bestimmung der Aventures de Télémaque als Fürstenspiegel und seine Verwendung in der Prinzenerziehung fände so in dem hier erstmals zugänglich gemachten Extrait de Télémaque erneut Bestätigung. 1 3
12
Freundlicher Hinweis von Volker Kapp, Kiel. Zur Funktion von Fénelons Roman als Fürstenspiegel vgl. etwa Emmanuel Bury, »La paideia du Télémaque: miroir d'un prince chrétien et lettres profanes«, Littératures Classiques , 23 (1995), 69-81, und Volker Kapp, »Éloge et instruction dans le Télémaque «, Littératures Classiques , 23 (1995), 83-97. 13
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Extrait de Télémaque 14 [fol. 704 r] Il faut prévoir le péril et le craindre mais quand on y est il le faut mépriser. 15 ~ Heureux le peuple qui est conduit par un sage Roy, il vit dans Pabondance et aime celuy a qui il doit tout son bonheur. ~ Princes, aimés vos peuples, goustés le plaisir qu'il y a d'estre aimés d'eux, faites qu'ils ne puissent sentir de joye sans le souvenir de vous. ~ Les Rois qui ne songent qu'a abattre leurs sujets pour les rendre plus soumis, sont craints, comme ils veulent l'estre, mais ils sont aussy haïs et detestés, et ils ont encore plus a craindre de leurs sujets, que leurs sujets n'ont a craindre d'eux. 16 ~ Il me fit remarquer la joye répanduë en tout ce pais là, la bonne police, des villes, la justice exercée en faveur du pauvre, les enfans accoustumés a l'obeissance, au travail, a la sobriété, a l'amour des Arts et des Lettres, au désir de l'honneur, a la crainte pour les Dieux. Heureux, disoit il sans cesse, le peuple qu'un sage Roy conduit ainsy mais encore plus heureux le Roy qui fait le bonheur de tant de peuple et trouve le sien en sa vertu. 17 ~ [fol. 704 v] Il écoutait tous les jours a certaines heures ceux de ses sujets qui avaient des plaintes a luy faire ou des avis a luy donner. Il ne mesprisoit ny ne rebutoit personne, et ne croyoit estre Roy que pour faire du bien a ses Sujets. Il recevoit les étrangers avec bonté croyant mesme qu'il étoit utile de s'instruire par eux des maximes des autres peuples éloignés; Il se delassoit le soir a écouter des hommes savans ou a converser avec d'honnêtes gens qu'il savoit bien choisir pour les admettre en sa confidence. 18 ~ Tout son plus grand plaisir étoit de secourir la vertu malheureuse.19 ~ Helas a quoy les Rois sont ils exposés. Ils sont environnés d'hommes artificieux et intéressés. Les bons qui ne sont ny empressés ny flatteurs attendent qu'on les cherche et les princes ne savent gueres les aller chercher. Au contraire les méchants sont hardis, trompeurs, empressés a s'insinuer et a plaire, adroits a dissimuler, prests a tout faire pour contenter la passion de celuy qui regne. O que les princes sont malheureux. D'estre ainsy exposés aux artifices des Méchans. Ils sont perdus s'ils ne repoussent la flatterie et s'ils n'aiment ceux qui disent hardiment la vérité. 20 ~ Il faut devenir grand par la patience. Les princes qui ont toujours été heureux ne meritent gueres de l'estre. La Mollesse les corrompis, [fol. 705 r] l'orgueil les enyvre. 21 ~ 14 GstA-PK, BPH, Rep. 56 I I F Nr. 7, Bd. 1.2, fol. 704 r-707 v. Zur Orientierung wird in den Fußnoten auf die jeweilige Textstelle der Aventures de Télémaque verwiesen, die dem Verfasser des Extrait als Vorlage gedient hat. 15 [Il faut prévoir. .. mépriser.]. Keine Ubereinstimmung mit dem Text der Œuvres gefunden. 16 [Heureux le peuple. . .d'eux.], vgl. Œuvres , 16. 17 [// me fit remarquer. . .en sa vertu.], vgl. Œuvres , 17. 18 [Il écoutait tous les jours. ..en sa confidence .], vgl. Œuvres, 18. 19 [Tout son.. .malheureuse.], vgl. Œuvres, 19. 20 [Helas a quoy. . .hardiment la vérité.], vgl. Œuvres, 19. 21 [Il faut devenir grand. . .les enyvre.], vgl. Œuvres, 20.
25 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 43. Bd.
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Heureux ceux qui se dégoustent des plaisirs violents et qui savent se contenter d'une vie innocente. Heureux ceux qui se divertissent en s'instruisant et qui se plaisent a cultiver leur esprit par les sciences; En quelque endroit que la fortune ennemie les jette ils ont de quoy s'entretenir, l'Ennuy qui devore les autres au milieu des delices leur est inconnu 22 & Quiconque est capable de mentir est indigne d'estre compté parmy les hommes et quiconque ne sait pas se taire est indigne de gouverner. 23 Le défaut des princes trop faciles et inappliqués est de se livrer avec une confiance aveugle a des favoris artificieux et corrompus. Le défaut de celluy cy étoit de se défier des plus honnetes gens; Il ne savoit point discerner les hommes qui agissent sans deguisement; aussy n'avoit il point veu de gens de bien, car telles gens ne cherchent point les Rois corrompus. Depuis qu'il étoit sur le thrône il avoit veu dans les hommes dont il s'estoit servy tant de dissimulation et de perfidie et de vices déguisés, qu'il supposoit qu'il ny avoit aucune Vertu sincere sur la Terre. 24 ~ On meine les hommes sans contrainte par la recompense. L'Authorité seule ne fait jamais bien; Il faut gaigner les coeurs et faire trouver aux hommes leur avantage.25 ~ Je scay mourir, mais je ne me puis résoudre à mentir. 26 ~ [fol. 705 v] Quand on recompense bien ceux qui excellent dans les Arts on est seur d'avoir bientost des hommes qui les meinent a leur derniere perfection. 27 ~ Quand est ce que vous serés assés sage pour ne parler jamais par vanité, et que vous saurés taire tout ce qui vous est avantageux quand il n'est pas absolument nécessaire de le dire.28Elle vous louë par ce qu'elle vous croit foible et assés vain pour vous laisser tromper par des louanges.29 ~ L'Ambition et l'Avarice des hommes sont les seules sources de leurs malheurs, les Hommes veulent tout avoir, s'ils se contentoient des besoins et vivre simplement, on verroit partout l'abondance et la paix. 30 ~ Je luy demanday en quoy consistoit l'autorité du Roy. Il peut tout sur les peuples. Mais les loix peuvent tout sur luy; Il a une puissance absolue pour faire le bien et les mains liées quand il veut faire le Mal; Les loix luy confi[ent] le peuple mais a condition qu'il en sera le pere. Elles veulent qu'un seul homme serve par sa sagesse a la félicité des autres, et non pas que tant d'hommes servent par leur misere a flatter la Mollesse et l'orgueil d'un seul. ~ Le Roy ne doit rien avoir au dessus des autres excepté ce qui est nécessaire pour le soulager en ses penibles fonctions, ou pour imprimer au [fol. 706 r] peuple le respect de celui 22 23 24 25 26 27 28 29 30
[Heureux ceux qui se dégoustent.. .leur est inconnu], vgl. Œuvres, 21. [Quiconque est capable de mentir.. .indigne de gouverner.], vgl. Œuvres, 31. [Le défaut des princes trop faciles.. .sur la Terre.], vgl. Œuvres, 34 f. [On mene les hommes.. .leur avantage.], vgl. Œuvres, 39. [Je scay mourir.. .à mentir.], vgl. Œuvres, 40. [Quand on recompense.. .derniereperfection.], vgl. Œuvres, 39. [Quand est ce que vous. ..de le dire.], vgl. Œuvres, 45. [Elle vous.. .par des louanges.], vgl. Œuvres, 46. [L'Ambition.. .lapaix.], vgl. Œuvres, 58.
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qui doit soutenir les loix. 31 Il doit estre au dehors le defenseur de la patrie et au dedans le juge des peuples.32 ~ Un Conquérant enyvré de sa gloire ruine presque autant sa nation victorieuse que les Nations vaincues; Il est comme un homme qui defendroit son champ contre son voisin même; Mais qui ne sauroit ny labourer ny semer.33 ~ Celuy qui désir la Royauté ne la connoit pas. Et comment ne la connoissant pas en remplira il les devoirs. Il ne la cherche que pour luy et vous devés desirer un homme qui ne l'accepte que pour l'amour de vous.34 ~ Ce n'est point le mépris que j'ay pour les hommes qui m'empesche de me charger de leur conduite; Je scay qu'il est grand de travailler a les rendre bons et heureux; Mais ce travail est remply de dangers; L'esclat qui y est attaché est faux et n'éblouît que les âmes vaines. La vie est courte, les grandeurs irritent plus les passions qu'elles ne les peuvent contenter, je ne songe qu'a une vie paisible et retirée, où la Sagesse nourisse mon cœur et où les espérances qu'on tire de la Vertu, pour une meil- [fol. 706 v] leure vie après la mort me consolent des chagrins de celle cy. Si j'avois quelque chose a souhaitter, ce ne seroit pas d'estre Roy, ce seroit de ne me separer jamais des deux amis que vous me voyés.35 ~ Les princes sont les gens du Monde qui étudient le moins leur devoir; Eslevés dans la flatterie ils s'en font une douce habitude qui leur devient aussy nécessaire que la respiration. L'esprit de leurs courtisans ne pourant pas tousjours fournir les louanges d'une manière delicate, ils sont obligés de nourrir leur orgueil des flatteries les plus grossieres. C'est ce qui bannit la vérité de la cour ; Si quel[qu']un osoit ly produire il seroit perdu sans ressource; On n'ose paroistre que l'encensoir a la main devant la Divinité qu'adorent les Courtisans. ~ Le courage ne consiste pas seulement] a mépriser la mort dans les dangers, mais a fouler aux pieds les richesses, les honneurs, et les plaisirs honteux. ~ Un Prince n'est digne de la Royauté qu'autant qu'il s'oublie luy mesme pour se sacrifier au Bien public; C'est par là qu'il peut effacer la gloire des plus grands Conquerans qui veulent faire servir les peuples a leur propre grandeur et a leur vanité.36 ~ Ces grands conquerans qu'on nous depeint avec [fol. 707 r] tant de gloire ressemblent a ces fleuves desbordés qui paroissent majestueux. Mais qui ravagent toutes les fertiles campagnes qu'ils devroient seulement arroser. 37 ~ Le rempart le plus seur d'un Etat est la justice et la bonne foy. 38 ~ 31
[Je luy demanday en quoy consistoit. . .soutenir les loix.], vgl. Œuvres, 59. [Il doit estre au dehors. . .juge des peuples.], vgl. Œuvres, 59. 33 [Un Conquérant. . .ny semer.], vgl. Œuvres, 68. 34 [Celuy qui désir la Royauté. . .Vamour de vous.], vgl. Œuvres, 72. 35 [Ce ny est point le mépris. . .vous me voyés.], vgl. Œuvres, 73. 36 [Lesprinces sont les gens... vanité.]. Keine Übereinstimmung mit dem Text der Œuvres gefunden. 37 [Ces grands conquerans. . .arroser.], vgl. Œuvres, 109. 38 [Le rempart. . .bonne foy.], vgl. Œuvres, 132. 32
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Quand la vertu est douce, simple et ingenuë et modeste, elle surmonte tout. Il ny a que les grands cœurs qui scachent combien il y a de gloire a estre bon. 39 ~ Quoy donc! Une vaine idée de gloire, un tittre de conquérant allumera la guerre. Faudra-il pour son plaisir qu'un seul homme entraisne tout dans une deploration generale et pour satisfaire sa vanité.40 ~ Ce n'est pas assés que les guerres soient justes, il faut qu'elles soient nécessaires; Le sang du peuple ne doit estre versé que pour sauver ce mesme peuple dans les besoins extrêmes.41 Ignorés vous la foiblesse des princes quand ils sont une fois livrés a des hommes qui ont l'art de se rendre nécessaires; ils ne peuvent plus esperer aucune liberté; Ceux qu'ils meprisent le plus sont ceux qu'ils traittent le mieux, et qu'ils comblent de bienfaits. 42 ~ Il est au dessus de l'humanité; il est le vray héros de nostre âge, mais cela ne fait que [fol. 707 v] nous étonner; Il est bon, tendre, sans fierté ny hauteur. Voilà ce qui nous rend sensible a toutes ses vertus. 43 ~ Il faut savoir la guerre mais aimer la paix. 44 ~ L'imprudence heureuse et l'excès de l'autorité absoluë sont les avantcoureurs de la ruine des Princes et des Etats.45 ~ S'appliquer trop au détail est le caractere d'un esprit court et subalterne.46 ~ Une des principales qualités d'un prince est de connoistre les hommes et les employer selon leur talent.47 ~ Un prince ne peut mieux employer son courage qu'en souffrant que ses amis luy fassent remarquer ses fautes. 48 ~ Lorsqu'on ne parle qu'a un petit nombre de gens on s'engage a recevoir tous leurs préjugés et leurs passions, on est a la mercy des rapporteurs. 49 ~ Ce n'est pas assés de trouver de bons sujets, il en faut former. 50 ~ Quand vous aurés trouvé de la vertu dans un homme, servés vous en avec confiance, car les honnestes gens aiment mieux de l'estime et de la confiance que des thresors. 51 ~ 39
[Quand la vertu. . .estre bon.]. Keine Übereinstimmung mit dem Text der Œuvres gefunden. 40 [Quoy done!. . .satisfaire sa vanité.], vgl. Œuvres, 225. 41 [Ce n'est pas assés.. .besoins extrêmes.], vgl. Œuvres, 226. 42 [Ignorés vous la foiblesse. . .bienfaits.], vgl. Œuvres, 177. 43 [Il est au dessus. . .toutes ses vertus.], vgl. Œuvres, 279. 44 [Il faut savoir. . .aimer la paix.], vgl. Œuvres, 285. 45 [L'imprudence heureuse. . .des Etats.]. Keine Ubereinstimmung mit dem Text der Œuvres gefunden. 46 [S'appliquer. . .subalterne.], vgl. Œuvres, 293. 47 [Un des principales. . .leur talent.], vgl. Œuvres, 293. 48 [Un Prince ne peut. . .ses fautes.], vgl. Œuvres, 308. 49 [Lorsqu'on ne parle. . .des rapporteurs.], vgl. Œuvres, 313. 50 [Ce n'est pas assés.. .former.], vgl. Œuvres, 315.
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Fuyés Telemaque. On ne peut vaincre l'amour qu'en fuyant; 52 Le vice grossier fait horreur, mais la beauté modeste est dangereuse, en l'aimant on croit aimer la vertu. On n'appercoit sa passion que lors qu'il n'est plus tems de l'esteindre. 53 ~
51 [Quand vous aurés. . .thresors.]. Keine Übereinstimmung mit dem Text der Œuvres gefunden. 52 [Fuyés Telemaque.. .qu'en fuyant.], vgl. Œuvres, 92. 53 [Le vice grossier. . .l'esteindre.], vgl. Œuvres , 82.
»Kontexte der Gottesfrage« in germanistischer Perspektive 1 Von Thomas Pittrof
»Erzählen Sie mir was vom Jenseits!«, titelte 1994 der Herausgeber eines Sammelbandes mit Texten von Gabriele Wohmann. 2 »Erzählen Sie mir was Schönes vom Jenseits«: das ist die Aufforderung, mit der sich die Erzählfigur, eine wache, der Kirche fernstehende, doch neugierig-kritische Greisin, an ihren Pfarrer wendet. Er jedoch versagt sich dieser Aufforderung - und er versagt als Person. Anstatt von den letzten Dingen, von Tod und Auferstehung, von der Hoffnung auf Erlösung und ewiges Leben zu sprechen, enthüllt er sich als schwächlicher Anwalt eines konventionellen Diesseitsglücks. Seine Sprache ist formelhaft geworden, trostlos und blaß, verlegen, eine Hülse. Das Gesprächsbedürfnis der Fragenden bleibt unerfüllt. Enttäuscht und aufgebracht wendet sich die Greisin ab. »Ein Sozialpädagoge«, kommentiert sie sarkastisch. Gott ist kein Gegenstand der Germanistik. U n d doch, so zeigt Wohmanns Erzählung, hat sie es mit der Frage nach Gott zu tun aufgrund der Texte, die ihr zur Interpretation aufgegeben sind. Bis i n die letzten Spuren säkularer Existenz hinein ist Literatur dieser Frage nachgegangen, hat sie Protokoll geführt über das Verstummen und Versickern dieser Frage nach Gott. Sie hat Gott als das ganz Andere umkreist, als das Zentrum der menschlichen Existenz, auf das sie sich auslegt und das ihr doch unfaßbar entzogen ist. U n d sie hat sich immer wieder auf die innere Verwandtschaft zwischen religiösem und literarischem Sprechen bezogen: eine Verwandtschaft, die darin gründet, dass ja die Bibel selbst schon exemplarisch Literatur ist. Sie ist dies i n ihren Gleichnissen und 1
»Kontexte der Gottesfrage« lautete das Thema, zu dem der Erzbischof von Freiburg die Lehrenden der Albert-Ludwigs-Universität zu einem Abend der Begegnung in den Räumen der Katholischen Akademie am 29. Mai 2000 eingeladen hatte. Dem Gespräch gingen die Stellungnahme eines Mediziners und eines Germanisten voraus; diese ist hier dokumentiert. Die Vortragsform wurde beibehalten, der Text um einige Anmerkungen ergänzt. 2 Gabriele Wohmann, Erzählen Sie mir was vom Jenseits. Gedichte, Erzählungen und Gedanken (Mainz 1994). Der im folgenden zitierte Text, abgedruckt auf den Seiten 97103 dieses Auswahlbandes, gibt einen Ausschnitt aus Wohmanns Roman Bitte nicht sterben (München 1993) wieder.
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Parabeln, die eine große, bis in die Moderne reichende »Erzählgemeinschaft« 3 begründet haben. Die Bibel ist Literatur in der Sprachkraft ihrer bildhaften Rede. U n d sie ist es in der Fülle, die die Bibel dem Wort selbst zuspricht: als Schöpfungswort, das ins Leben ruft; als richtendes und mahnendes Wort in den Büchern der Propheten; als Hilferuf und Schrei aus der Tiefe in den Worten des Psalmisten; als befreiendes Wort in der Verkündigung des Neuen Testaments. »Gott ein Schriftsteller!« ruft der Dichtertheologe Hamann 1758 aus.4 Die Geschichte der deutschen Literatur hat von der Bibel zahlreiche I m pulse erhalten. Ohne sie, ohne die Pfarrerstöchter wie Gabriele Wohmann und Pfarrerssöhne von Lessing bis Benn und Dürrenmatt, ist diese Geschichte nicht zu denken. U n d doch lassen sich, wenn es um die Frage nach Gott geht, Bibel und Literatur nicht miteinander gleichsetzen: zum einen, weil die Bibel selbst mehr als Literatur sein will, nämlich geoffenbartes Wort Gottes, das als befreiende Zusage und bindender Anspruch an den Menschen ergeht; zum anderen, weil die Literatur i m historischen Prozeß sich von diesem Anspruch entfernt und in Abgrenzung gegen ihn begründet hat. Dass sie dabei religiöse Bilder und Sprachprägungen aufgenommen, dass Säkularisation zur sprachbildenden Kraft 5 geworden ist, hat zur inneren Vielschichtigkeit ihrer Texte beigetragen. Kennzeichnend für ihre Viel stimmigkeit ist aber darüber hinaus, dass gerade die moderne Literatur auch dem Widerspruch, dem Zweifel, der A b weisung und Verneinung der Frage nach Gott Raum gelassen hat. N o c h in den fünfziger Jahren ist das für manche Stein des Anstoßes gewesen. Die Wiener Dichterin Christine Busta (1915-1987) schreibt 1955 in ihrem Gedicht »Beim Lesen des Zweiten Paulusbriefes an die Korinther (3. Kapitel, A b schnitt 2 - 3 ) « : Du hast geschrieben, wir sind Sein Brief. Aber wer kann Seine Botschaft noch lesen? Wir sind zu lang unterwegs gewesen.
[...]
Nun steht das Wort verstümmelt und schief: 3
Der Begriff geht auf Harald Weinrich zurück; er hat 1973 von der großen Erzählgemeinschaft des Christentums gesprochen. Sein Aufsatz »Narrative Theologie«, Concilium 9 (1973), 329-334, hier 330, ist zitiert bei Dieter Gutzen, [Art.] »Literatur und Religion V: Von der Reformation bis in die Gegenwart«, in: Theologische Realenzyklopädie , 21 (1991), 280-294, hier 280. 4 Johann Georg Hamann, »Ueber die Auslegung der heil. Schrift.«, in ders., Londoner Schriften. Historisch-kritische Neuedition von Oswald Bayer und Bernd Weißenborn (München 1993), 59-61, hier 59. Vgl. dazu Joachim Ringleben, »Gott als Schriftsteller. Zur Geschichte eines Topos«, in Oswald Bayer (Hg.), Johann Georg Hamann. »Der hellste Kopf seiner Zeit« (Tübingen 1998), 28-51. 5 Vgl. Albrecht Schöne, Säkularisation als sprach bildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrerssöhne, 2., überarb. u. erg. Aufl. (Göttingen 1968).
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unser Fleisch war ein brüchiges Siegel, unser Geist nur ein blinder Spiegel, und verraten brennt Korinth, seit wir Bürger zu Babel sind.6 Bürger zu Babel - sind w i r das? Oder läßt sich die ja gleichfalls paulinische Metapher vom »Spiegel« des menschlichen Wortes, durch das w i r Gott auf Erden nur i m »dunklen Bild« und stückweise sehen (1 K o r 13,12), nicht auch anders interpretieren: nämlich als Pluralisierung der Gottesfrage i m Medium der Dichtung, die zugleich Ausfaltung menschlicher Erfahrungswirklichkeit in konkreter Vielfalt und Brechung ist? Ich lasse diese Frage einmal offen; Gerhard Kaiser hat ihr ein eindringliches Buch 7 gewidmet. Ich beschränke mich i m folgenden darauf, einige Bedingungen des Sprechens über Gott in der Literatur unseres Jahrhunderts zu skizzieren. Auch für das 20. Jahrhundert, so zeigt sich dabei, bleibt die Frage nach Gott virulent, ja läßt sich sogar ein Wiedergewinn der Frage nach Gott beobachten. Allerdings sind es durchaus neue Erfahrungsfelder und Zugangsweisen, die die Kontexte dieser Frage bilden. Ich konzentriere mich auf vier Stichworte. Erstes Stichwort: Ausgang von menschlichen Grunderfahrungen. Die Frage nach Gott w i r d i m Ausgang von menschlichen Grunderfahrungen gestellt. Die philosophische Religionskritik des 19. Jahrhunderts hatte das Reden über Gott als entfremdetes Reden des Menschen über sich selbst analysiert, Theologie in Anthropologie rückübersetzen wollen. I m 20. Jahrhundert ist der gegenläufige Vorgang zu beobachten: Hier w i r d die Frage nach Gott aufgrund der Erfahrungen gestellt, die der Mensch mit seiner Kreatürlichkeit und Endlichkeit, aber auch mit sich als Gattungs- und Geschichtssubjekt macht. Grundlegend dafür ist die Einsicht, dass sich der Bestand des Menschlichen nicht ins Humane auflösen läßt. Das durch den Idealismus Verdrängte kehrt wieder. Schon bei Büchner und Heine sind der Schmerz und das Leiden zu Motiven einer idealismuskritischen Grundströmung des 19. Jahrhunderts geworden. »Man kann das Böse leugnen, aber nicht den Schmerz [ . . . ] Das ist der Fels des Atheismus. Das leiseste Zucken des Schmerzes und rege es sich nur in einem A t o m , macht einen Riß in der Schöpfung von oben bis unten«, läßt Büchner Thomas Payne in Dantons Tod sagen.8 Das 20. Jahrhundert nimmt dieses M o t i v auf. Aber es 6
Christine Busta, Lampe und Delphin. Gedichte, 3. Aufl. (Salzburg 1966), 64. Christus im Spiegel der Dichtung. Exemplarische Interpretationen vom Barock bis zur Gegenwart (Freiburg usw. 1997), bes. 11-19 (»Christentum und Literatur«). 8 Dantons Tod , 111,4. Noch in diesem Atheismus-Diktum ist die Bibel gegenwärtig: im Rückverweis auf den Riß, der beim Kreuzestod Jesu durch den Vorhang des Tempels geht (Matthäus 27, 51): auch er ein »Riß in der Schöpfung«. - Von dieser Stelle nimmt seinen Ausgang der Problemaufriß von Wolfgang Braungart, »Die Geburt der modernen Ästhe7
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entdeckt daran die Gottesfrage wieder. Es entdeckt sie in der Gestalt wieder, in der sie H i o b stellt. Von Alfred D ö b l i n über Joseph Roth, N e l l y Sachs und andere reicht die Liste der Autoren, 9 die in Dramen, Gedichten und Romanen das H i o b - M o t i v aufgreifen: die biblische Gestalt des ins Leid gestürzten Menschen, der gegen sein Schicksal aufbegehrt und die Frage nach dem Warum stellt. Zweites Stichwort: Das Leiden an der Geschichte. Die Katastrophen zweier Weltkriege, das millionenfache Leiden Unschuldiger und die Vernichtung des jüdischen Volkes bilden für viele Autoren der westdeutschen Nachkriegsmoderne eine traumatische Erfahrung. Mehr noch als den Ausdruck ihres Redens mit Gott als Klage, Aufschrei und Protest, als Hadern »ohne prometheisches Selbstgefühl«, wie es bei Marie-Luise Kaschnitz heißt, 1 0 prägt diese Erfahrung die Tendenz ihres Redens über Gott. Als tragender Grund und Herr der Geschichte scheint er nicht mehr darstellbar. I m »Vorspiel« zu Borcherts Heimkehrerdrama Draußen vor der Tür von 1947, das in der Konfrontation v o m »lieben Gott« und Bestattungsunternehmer Tod Traditionen des Welttheaters aufnimmt, erscheint Gott als alter, hilflos weinender, ja haltlos flennender Mann. Schnurres Kurzgeschichte »Das Begräbnis« von 1947 nimmt ihren Ausgang von einer brieflich zugesandten Todesanzeige, die in den vorgestanzten Formen der konventionellen Sprachschablonen das Hinscheiden Gottes bekundet. 1 1 I n Verbindung mit der kleinen Form der Kurzgeschichte zeigt diese Sprache: N i c h t nur Gott ist tot. Auch das große, aus dem Experimentalnihilismus um 1800 geborene Thema »Gott ist tot« hat sich angesichts des totalen Bedeutungsverlusts seines Redegegenstandes erledigt. Es gibt nichts mehr zu sagen. Die Heilsgeschichte ist an der vom Menschen selbstverantworteten Unheilsgeschichte zerbrochen. - Daraus resultiert die Unmöglichkeit jeder Theodizee. »Nichts«, schreibt Elie Wiesel in seiner Autobiographie Alle Flüsse fließen ins Meer (1995), tik aus dem Geist der Theodizee«, in Wolfgang Braungart/Gotthardt Fuchs/Manfred Koch (Hg.): Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. I: um 1800. (Paderborn usw. 1997), 17-34. Mit den Folgebänden dieses Projekts zu den Epochenwenden 11:1900 und III: 2000 (Paderborn usw. 1998/99) vermitteln die Hg. den derzeit besten Einblick in die gegenwärtige Diskussionslage. 9
Vgl. Georg Langenhorst, Hiob unser Zeitgenosse. Die literarische Hiob-Rezeption im 20. Jahrhundert als theologische Herausforderung, 2. Aufl. (Mainz 1995); ders. (Hg.), Hiobs Schrei in die Gegenwart. Ein literarisches Lesebuch zur Frage nach Gott im Leid (Mainz 1995) sowie Jürgen Ebach, Streiten mit Gott. 2 Bde (Neukirchen 1995/96). 10 Zitiert nach Karl-Josef Kuschel, Im Spiegel der Dichter. Mensch, Gott und Jesus in der Literatur des 20. Jahrhunderts (Düsseldorf 1997), 227. 11 »Von keinem geliebt, von keinem gehasst, starb heute nach langem, mit himmlischer Geduld ertragenem Leiden: Gott.« Wolfdietrich Schnurre, »Das Begräbnis«, in ders., Erzählungen 1945-1965 (München 1977), 14-20, hier 14.
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Nichts kann Auschwitz rechtfertigen. Und wenn Gott selbst mir eine Rechtfertigung anböte, ich würde sie, glaube ich, zurückweisen [ . . . ] Das Reich hinter Stacheldraht wird für immer ein unermeßliches Fragezeichen bleiben, für die Menschen wie für ihren Schöpfer. 12 Drittes Stichwort: Die Abwesenheit Gottes; Gott als der ferne und verborgene Gott. - Die Literatur der Nachkriegsmoderne registriert beharrlich die Abwesenheit Gottes in der Gegenwart. Ist diese Abwesenheit aber vielleicht der authentische Modus seiner Präsenz? I n Bolls berühmter Antikriegserzählung »Wanderer, kommst du nach Spa...« aus dem Jahr 1950 bleibt das i m D r i t ten Reich entfernte Schulkreuz als Negativ sichtbar, als dunkle Umrißform: »ein frischer, dunkelgelber Fleck an der Wand, kreuzförmig, hart und klar, der fast noch deutlicher zu sehen war als das alte, schwache, kleine Kreuz selbst, das sie abgehängt hatten; sauber und schön blieb das Kreuzzeichen auf der verschossenen Tünche der Wand.« 1 3 Die Leerstelle w i r d zum Erinnerungszeichen der Gegenwart, an der Geschichte als Hohlform entziffert wird. U n d solche Figuren der Negativität prägen vielfältig die Dichtung der Nachkriegsmoderne. Sie prägen ihre Darstellung der Gott-Mensch-Beziehung: » [ . . . ] dies ist Dein letztes Geheimnis: Dein Fernsein Deine Nähe, / Dein Zuendesein Dein A n fang, / Deine Kälte Dein Feuer, / Deine Gleichgültigkeit Dein Zorn«, schreibt Marie-Luise Kaschnitz i n ihrem Tutzinger Gedichtkreis von 1951. 14 Sie prägen die Kirchen- und Institutionenkritik, die bei Autoren wie Boll zum Thema der Satire und Groteske wird: Gerade da, w o von Gott in der Sprache der Amtsverwalter gesprochen wird, ist Gott nicht da. U n d dieses Bezogensein auf Gott i m Horizont der Negativität begründet auch den Wiedereinzug der parabolischen Formen in die Dichtung, die das Zerbrechen der sinnstiftenden religiösen Weltbilder umschreiben. I n Dürrenmatts Erzählung »Der Tunnel« (1952) entdeckt der 24jährige Student, eine Figuration des Autors, dass der Tunnel, den er auf der wöchentlichen Eisenbahnfahrt zwischen Universitätsstadt und Elternhaus durchfährt, zum unermeßlichen Abgrund geworden ist, in den der Zug der ahnungslosen Mitreisenden mit rasender Geschwindigkeit hineinstürzt. »Was sollen w i r tun?« schreit der Zugführer. - »>NichtsNichtsGott< gestrichen werden mußte«, vgl. Kuschel, Im Spiegel der Dichter, 203-207, bes. 205. 16 Botho Strauß, »Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit«, als Nachwort abgedruckt zu George Steiner, Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhaltf [Real Presences (London 1989). Aus dem Englischen von Jörg Trobitius (München 1990)], 303-320. Die folgenden Zitate ebd., 307. 17 Zur ersten vgl. Daniel Hoffmann, Die Wiederkunft des Heiligen. Literatur und Religion zwischen den Weltkriegen (Paderborn usw. 1998). 18 Dieses kulturkritische Zentralmotiv, das Botho Strauß auch den Titel seiner EssaySammlung von 1999 geliefert hat (Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen
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droht ist, in diesem Betrieb vom medialen Geschwätz aufgezehrt zu werden, entdeckt Strauß die Eindrucksmacht des Heiligen gewissermaßen als mediale Qualität eigenen Ranges, als Gegenhalt in der Sphäre des Kunstwerks wieder. Dieser Versuch einer Refundamentalisierung des Kunstwerks hat aber offensichtlich keine religiöse Verbindlichkeit, ja es ist die Frage, ob er überhaupt einen religiösen Bezugssinn hat. Gegenüber dem Autismus der postmodernen Systemreflexion berührt es deshalb anziehend, dass die Literatur der Nachkriegszeit die Gebrochenheit des Sprechens von Gott ernst nimmt. Sie macht seine Fraglichkeit bewusst und hält sie offen. Andererseits ist die Frage, ob uns dieses Sprechen in seinem doch auch zeitbehaftet existenziellen Gestus, in seiner Bindung an die religiösen und intellektuellen Milieus der Nachkriegszeit und in seiner manchmal überdeutlichen Technik der Symbolisierung und des Bildarrangements wie in Günter Eichs Gedicht »Schuttablage«, in der die paulinische Trias von Glaube, Hoffnung und Liebe (1 K o r 13,13) buchstäblich auf dem M ü l l gelandet i s t 1 9 - , ob uns dieses Sprechen nicht auch historisch geworden ist. Vielleicht ist Thomas Mann das auf andere Weise nicht weniger geworden. U n d doch führt das Kapitel »Wie Abraham Gott entdeckte« aus dem zweiten Band der Romantetralogie Joseph und seine Brüder aus den Jahren 1926-1942 2 0 vor, wie literarisch in diesem Jahrhundert auch von Gott zu sprechen möglich geworden ist: nämlich aus der Beziehung auf das Selbstbewusstsein des Menschen, der sich nicht nur als Natur, sondern auch als Wesen aus Geist weiß und darum groß von sich denkt. Gerade dieses Bewusstsein seiner Würde - seiner Autonomie - als Geistwesen
zu einer Ästhetik der Anwesenheit. München, Wien 1999), führt übrigens der Sache nach Hans Freyers Beschreibung der »sekundären Systeme« aus seiner Theorie des gegenwärtigen Zeitalters von 1955 fort, die ihrerseits Kulturkritikstereotypen bündelt, die bereits in der Zwischenkriegszeit entwickelt wurden. Bei Freyer sind die sekundären Systeme Organisations- und Erlebnisformen einer technisch-industriellen Gesellschaft, die sich über vier Trends definiert: die Machbarkeit der Sachen, die Organisierbarkeit der Arbeit, die Zivilisierbarkeit des Menschen und die Vollendbarkeit der Geschichte. Sekundär heißen diese Systeme bei Freyer, weil sie als eine Art zweiter Natur auf der selbstgeschaffenen Künstlichkeit des Menschen aufbauen und mit Surrogaten operieren. Diese von Freyer für die technisch-industrielle Gesellschaft entwickelte Kategorie des Sekundären überträgt Strauss auf die Gegenwartsphänomene der Mediengesellschaft. Am Grundbefund ändert sich nichts. 19 Erstveröffentlichung in der Sammlung Untergrundbahn (1947), wiederabgedruckt in Günter Eich, Gesammelte Werke. Band I: Die Gedichte. Die Maulwürfe (Frankfurt / Main 1973), 77, hier Strophe 1 und 2:»Über den Brennnesseln beginnt, / keiner hört sie und jeder,/die Trauer der Welt, es rührt der Wind/die Elastik einer Matratzenfeder. / / Wo sich verwischt die goldene Tassenschrift, / im Schnörkel von Blume und Trauben, / wird mir lesbar, - oh wie es mich trifft: / Liebe, Hoffnung und Glauben.« 20
Thomas Mann, Joseph und seine Brüder; Band 2: Der junge Joseph (1934) (Frankfurt/Main 1996), 40-50. Danach die folgenden Zitate.
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Thomas Pittrof
w i r d Abraham zur Quelle religiöser Produktivität. Er erdeutet Gott i n einem A k t der Prototheologie als das andere seiner selbst aus sich heraus. Er »entdeckt« ihn, denkt ihn hervor und formt ihn aus und ist »gewissermaßen Gottes Vater« aus einem »Selbstgefühl« heraus, »das man fast hoffärtig und überhitzt hätte nennen können.« Aber zugleich hält er sich bewusst, daß Gott mehr ist als ein guter Einfall, nämlich »etwas sachlich Gegebenes«. Es bleibt in der Schwebe, ob Abrahams Gott das nur i m Bewusstsein der Romanfiguren oder an sich ist. Kritisch könnte man sagen: Das ist das Äußerste an Religiosität, was einem bekennenden Agnostizismus vom Schlage eines humanitären Kulturchristentums zu leisten möglich ist. Das mag sein. Aber, so hat Thomas Mann i n einem letzten Brief wenige Monate vor seinem Tod geschrieben, i n dem er auf die Frage Bezug nimmt »nach dem letzten Ursprung von Natur und Leben, der ganzen ungeheuerlichen Veanstaltung«: Wir leben und sterben alle im Rätsel, und das Gefühl dafür kann man, wenn man will, religiös nennen. Es ist ein etwas anspruchsvolles Wort, aber das Bewusstsein hoffnungsvoller Ungewißheit kommt ja einer gewissen Frömmigkeit ohne Weiteres gleich.21 Ich fasse zusammen. Literatur ist kein Theologieersatz. Gleichwohl ist ihr das Sprechen über Gott in vielfältiger Weise eingeschrieben: Literatur registriert und kommentiert. Sie liefert auch da Fußnoten zur Gottesfrage, w o sie sie nicht eigens stellt; sie schreibt den fortlaufenden Kommentar zu den epochalen Rahmentexten der Ideologien, Heilslehren und innerweltlichen Glücksversprechen. Indem sie die Menschen sprechen läßt oder auch nur beobachtet, 22 registriert sie - auch mit satirischer Intention - die Umbauten hinter 21 Zit. bei Kuschel, Im Spiegel der Dichter,; 172. - Das Verhältnis Thomas Manns zur Religion ist freilich komplexer, als in diesem Kurzschluß von Literatur- und Briefzitat deutlich wird, und verdiente eine eingehende Erörterung. Denn dass es gerade das religionsgeschichtliche und religionspsychologische Interesse war, das den Autor der Josephsromane zur Darstellung der religiösen Welt führte, definiert nicht nur die Ausnahmestellung Thomas Manns im Kreis der hier erwähnten Autoren. Es zeichnet sich darin auch ein Einstellungswandel ab, durch den das Religiöse aus der Sphäre des Extremen heraustrat, in der es Thomas Mann noch Anfang der zwanziger Jahre im Kontext seiner Beobachtungen zur Intellektuellenreligion, aber auch zur Kunst ansiedelte - »Gedanken über den extremen Charakter der religiösen Welt« notiert das Tagebuch unter dem 26.10. 1920 nach einem Abendvortrag Bruno Walters über Beethovens Missa solemnis [Thomas Mann, Tagebücher 1918-1921, hg. v. Peter de Mendelssohn (Frankfurt/ Main 1979), 473]. 22 So mit souveräner Ironie in Fontanes Altersroman Der Stechlin (1897/99), der die religiöse Orientierungskrise um 1900 zu einem ganzen Figurenpanorama auffächert. Da gibt es neben der ultraorthodoxen (lutherischen) Schwester der Titelfigur den Superintendenten Koseleger, der von sich bekennt: »Ich bin ein Halber [...]« [Theodor Fontane, Der Stechlin, hg. u. m. einem Anhang vers. v. Walter Keitel u. Helmuth Nürnberger, 2. Aufl. (München 1991), 174]; die süddeutsche Baronin Berchtesgaden -»Glaubt eigentlich gar nichts und geriert sich dabei streng katholisch« (310); den »TolstojSchwärmer« Woldemar (130) - »Etwas mit viel Opfer und Entsagung. Anpreisung und Askese« (157) -
»Kontexte der Gottesfrage« in germanistischer Perspektive
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den Fassaden: die Entkernung der religiösen Semantik, den Verlust religiöser Rituale, ihre Erosion bis in die feinsten Verästelungen der Lebenswelt. 23 Als ein Medium der Entdogmatisierung bindet Literatur die Gottesfrage an die Kontexte der Alltagswelt, der Lebenswirklichkeit zurück, aus der sie entspringt. Sie hält die Frage offen zwischen den epochalen Systemen der Theologie und Philosophie, gewinnt ihre Glaubwürdigkeit dadurch, dass sie den Menschen mit sich selbst konfrontiert, ihn ernst nimmt in seinen Widersprüchen und Abgründen, aber auch seinen Hoffnungen und Erwartungen. Sie läßt der Frage und dem Fragenden Raum aufgrund der Indirektheit ihres Sprechens , entfaltet als Rollensprache und Figurenrede, als Bilderfindung und erzählender Wirklichkeitsentwurf Möglichkeiten des Redens von Gott i m Raum der vortheologischen Prädikation. Sie gibt dem Menschen aber auch die
und den Ministerialassessor Rex, der im Sachlichen und Historischen trotz seiner prononcierten Mittelalterbegeisterung (»Das Mittelalter hatte noch keine Brillen, aber man sah besser«, 78) erstaunlich urteilsunsicher ist, aber einen Verein für Frühgottesdienste gegründet hat und im Begriff steht, Irvingianer zu werden: Mitglied einer Erweckungsbewegung also, in der die anfänglich dominierenden Motive eschatologischer Erregung um 1900 zurückgezogen worden waren auf ein Gemeindeleben mit reicher Liturgie und straff ausgerichteter Amterfülle. Dem steht gegenüber die zukunftsweisende Allianz zwischen der elementar-bindungslosen Melusine - »Meiner ganzen Natur nach bin ich ungläubig. Aber ich hoffe, sagen zu dürfen: ich bin wenigstens demütig« (269) - und dem in der »christlich-sozialen Bewegung« (30) stehenden Pfarrer Lorenzen, dessen »Ideal« allerdings nicht der »große Agitator« Stöcker (30), sondern der Wörishofener Pfarrer Kneipp ist - »er sucht nicht die Menschen, sondern die Menschen suchen ihn. Und wenn sie kommen, so heilt er sie, heilt sie mit dem Einfachsten und Natürlichsten« (31). Auch dies ist Zeitdiagnose: spiegelt Fontane doch in der Personalunion von Pfarrer und Naturheilkundler die moderne Sehnsucht nach Erlösung, die in der anderen Schwellenepoche der Spätantike im Christus-medicus-Motiv präfiguriert ist. So ganz »religiös unmusikalisch«, wie Max Weber sich bezeichnet hat (brieflich an Ferdinand Tönnies vom 2. März 1909), hat Fontane seine moderne Melusine denn auch gar nicht dargestellt, ist sie doch von der Sehnsucht nach dem Glauben-Können nicht frei: »Nichts beneidenswerter als eine Seele, die schwärmen kann. Schwärmen ist fliegen, eine himmlische Bewegung nach oben«, sagt sie; worauf Lorenzen »stutzt« (269). - Noch dieses Motiv moduliert Fontane allerdings selbst ins Anzüglich-Frivole: in jenem >pikanten< Tischgespräch, bei dem Czako in Gegenwart der fülligen Schmargendorf über die Vorzüge von Rebhuhnbrust und Rebhuhnflügel sinniert. »In Brust und Flügel schlummert, wie mir scheinen will, ein großartiger Gegensatz von hüben und drüben; es gibt nichts Diesseitigeres als Brust, und es gibt nichts Jenseitigeres als Flügel [...]« (92). - Vgl. zu solchen Übergängen demnächst Vf., Synkretismus und Epochenschwelle. Stationen einer Modellgeschichte zwischen Antike und literarischer Moderne. Habil.-Schrift Freiburg 1997. 23 So faltet Thomas Manns Hans Castorp vor dem Essen die frisch gewaschenen Hände und reibt sie »behaglich-erwartungsvoll aneinander, wie er zu tun pflegte, wenn er sich zu Tische setzte«, weil, wie sein Erfinder vermutet: »seine Vorfahren vor der Suppe gebetet hatten«. Der Zauberberg (Frankfurt / Main 1967), 18 (»Im Restaurant«). - Dazu die Miszelle des Vf.s Euphorion 87 (1993), 438-445.
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Ausdrucksdimension zurück, die ihm die eingefahrenen Sprachschablonen versagen: als Expressivität der Klage und des Protests, des Widerspruchs und des Hadems mit Gott. Damit w i r d sie selbst zur Quelle der Schöpfung aus der Sprache des Menschen.
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Sabine Heimann-Seelbach, Ars und scientia. Genese, Überlieferung und Funktionen der mnemotechnischen Traktatliteratur im 15. Jahrhundert. M i t Edition und Untersuchung dreier deutscher Traktate und ihrer lateinischen Vorlagen [Frühe Neuzeit 58], Tübingen: Niemeyer, 2000. 551 S. Mnemotechnische Traktate sind lange Zeit nur über The Art of Memory (1966) von Frances Yates rezipiert worden, ohne daß sich hierzulande die Gelehrten die Mühe machten, selbst zu den Quellen zu greifen. Seit den 80er Jahren erfreut sich die Thematik des Gedächtnisses in den kulturanthropologischen und -semiotischen Forschungen hoher Beliebtheit, während die historischen Untersuchungen der Gedächtniskunst erst seit den 90er Jahren durch die Initiative von Jörg Berns und Wolfgang Neuber i m deutschen Sprachraum die verdiente Beachtung finden. I n Italien hat hingegen Paolo Rossi schon mit Clavis universalis (1960), danach Lina Bolzoni mit ihrer bahnbrechenden M o n o graphie über Giulio Camillo, der Edition von dessen Uidea del theatro (1991) und mit ihrem Buch La stanza della memoria. Modelli letterari e iconografici nelVeta della stampa (1995) den hohen Stellenwert dieses Zweiges der Wissenschaft in der frühen Neuzeit angemessen gewürdigt. Sabine Heimann-Seelbach bringt nun mit ihrer Heidelberger Habilitationsschrift die Forschung einen großen Schritt weiter. Sie setzt an dem zentralen Punkt ein, w o die allgemeinen Bemerkungen der Rhetorica ad Herennium, die für die mittelalterliche Tradition maßgeblich waren, unter dem Einfluß griechischer Gelehrter einen neuen Status erhalten und die Ausarbeitung einer über die großen römischen Rhetoriker hinausgehenden Gedächtniskunst ermöglichen. Dieser Vorgang spielt sich i m 15. Jahrhundert in einer sich über ganz Europa erstreckenden Debatte ab, deren zentrale Momente i m deutschen Sprachraum Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sind. Das Werk ist in zwei Teile gegliedert. Die Verfasserin beginnt mit einer Sichtung des für ihre Fragestellung bedeutsamen Textkorpus. Zunächst beschreibt sie die lateinischen Traktate (15-174). Dies ist ein wertvoller Schritt für die Erschließung des Materials, denn die Texte werden zu Gruppen zusammengefaßt sowie nach Incipit, Autorschaft, Inhalt und Quellen charakterisiert. Danach wendet sie sich den deutschen Gedächtnistraktaten zu und konzentriert sich auf die drei Beispiele, deren lateinische Vorlage sie ermitteln konnte. Sie ediert dabei und kommentiert vorzüglich die lateinische Quelle und deren deutsche 26 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 43. Bd.
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Übersetzung von Nicolaus Italicus (175-253), Magister Hainricus (254-288) und Johannes Hartlieb (289-360). Alle drei Übersetzungen verändern »Pragmatik, theoretische Grundlegung, Gebrauchsfunktion« (363), ohne daß von einem »globalen Paradigmawechsel des Typs litteratus versus illiteratus« (365) auszugehen ist. Es handelt sich eher u m eine Öffnung »zu nicht (bzw. nicht mehr) akademischen Rezipientengruppen« (366), die sich »weniger in sprachals in wissenskultureller Hinsicht« (371) von der des lateinischen Ausgangstextes unterscheidet. Die Verfasserin geht von einem Bildungsgefälle beim Rezipientenkreis aus, das zwar ein M i n i m u m an Lateinkenntnissen voraussetzt, aber doch das Niveau der Universitäten nicht erreicht. Die deutschen Traktate wenden sich an Praktiker, deren Bedürfnissen sie entgegenkommen. Frau Heimann-Seelbach begnügt sich mit den bisher skizzierten Ergebnissen nicht, sondern sucht i m zweiten Teil ihrer Studie (373-510) »Ursprünge, Entwicklungstendenzen und Funktionen der mnemotechnischen Traktatliteratur des 15. Jahrhunderts« (373) herauszuarbeiten. Sie hinterfragt zunächst den von Yates und Kantorowicz postulierten »mystischen Zug« (380) der Rhetorica novissima von Boncompagno, ohne allerdings auf dessen Definition der Rhetorik als »liberalium artium imperatrix et utriusque iuris alumna« einzugehen. Der Bezug zur Jurisprudenz wäre für ihre Argumentation insofern relevant gewesen, als sich daraus eine hier S. 385 thematisierte Verbindung zur Vorstellung von den Gemeinplätzen ergibt, deren Definition, wie Francis Goyet [Le sublime du «lieu commun«. L'invention rhétorique dans l'Antiquité et à la Renaissance (Paris 1996)] gezeigt hat, ebenfalls mit der Funktion von Gedächtnisorten zusammenhängt. Gegen Mary Carruthers Meinung, H u g o von St. Victor habe ein mnemotechnisches System entwickelt, betont sie, daß dessen »Memorieranleitungen eine Zwischenstufe in der Entwicklung von Schriftlichkeit« (389) sind. Statt des Mittelalters möchte sie »das 14. Jahrhundert [ . . . ] als Entwicklungsetappe der Theorie zum künstlichen Gedächtnis« (403) in den Vordergrund rücken, während sie sich entschieden gegen die These »einer rezeptionsgeschichtlichen Kontinuität« (417) der mnemotechnischen Quellen sperrt. Die Herkunft der römischen Mnemotechnik aus Griechenland w i r d Anlaß zu einem kleinen Exkurs über die griechische Mnemotechnik (417-426), der die Voraussetzung für die Deutung des Prologs des Memoria-Traktats von Petrus de Urbe Vetri als Wiederaufnahme von Positionen Demokrits und der Sophisten bildet (vgl. 426-428). I n der Tat hält die Verfasserin »einen frühen, sophistischen Ursprungskontext« (437) für wahrscheinlich und sieht in der »Verwendung von Chiffren und Anderungskategorien i m Bereich der memoria verborum« (438) eine Bestätigung. Griechische Gelehrte wie Georg von Trapezunt, dem Goyet auch in der loci-Lehre eine Sonderstellung zuweist (Le sublime du »lieu commun«, 3 4 - 3 8 ) könnten eine Mittlerrolle übernommen haben, doch scheinen Trapezunt wie die Italiener zunächst »unabhängig voneinander« (441)
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dieselbe griechische Tradition herangezogen zu haben. Von den Sophisten ist das Verständnis des Verhältnisses von zivilisatorischem Fortschritt übernommen worden, das sich i n den Traktaten als »ein innerweltlich autarkes, nach erlernbaren Regeln zu vollziehendes Handeln des Menschen« (452) manifestiert, somit auch »nicht in den Kontext spiritueller Frömmigkeit« (481) paßt, der von der Forschung immer wieder herangezogen wird. Die K r i t i k der Humanisten an den mnemotechnischen Quellen führt die Verfasserin auf eine Divergenz der Sprachauffassung zurück. Bei Matthaeus de Verona und später bei der »Pariser Gruppe< w i r d »Sprache als Widerspiegelung der auf dem Wege der intellektiven Erkenntnis gewonnenen Einsichten i n die Qualitäten und Seinsmodalitäten der Dinge« (501) verstanden, doch diese logische Ausrichtung des Sprachkonzepts haben die Humanisten nicht akzeptiert. Frau Heimann-Seelbach ist überzeugt, daß Erasmus und Melanchton mit ihrer K r i t i k an der Mnemotechnik vorwiegend das Sprachkonzept attackiert haben. Für eine Weiterwirkung der mnemotechnischen Traktakte spricht zumindest deren Verwendung i m Frankreich des 17. Jahrhunderts [vgl. die Beiträge von Jean-Robert Armogathe und Vincent Jullien in: Les lieux de mémoire et la fabrique de l'œuvre , éd. par Volker Kapp (Paris / Seattle / Tübingen 1993), 61 - 90]. Die Studie von Sabine Heimann-Seelbach ist gut dokumentiert, äußerst informativ und in höchstem Maße innovativ. Wenn unsere Bildungspolitiker noch zur Lektüre wissenschaftlicher Veröffentlichungen fähig wären, müßte man ihnen dieses Buch i n die Hand geben, u m ihnen bewußt zu machen, was sie der deutschen Universität antun, wenn sie die Institution der Habilitation abschaffen. Volker Kapp, Kiel
Julia M . Kisacky, Magic in Boiardo and Ariosto [Studies i n Italian Culture. Literature in History 25], N e w York, Washington, D . C.: Peter Lang, 2000. 189 S. Während die kriegerisch-heroischen Taten der Paladine u m Karl den Großen i m Zentrum der chanson de geste standen, gehörten die schwarze und die weiße Magie neben der Liebe und dem individuellen Abenteuer von König Arthus' Rittern der Tafelrunde zu den thematischen Konstanten des mittelalterlichen höfischen Romans. M i t der Verschmelzung der zentralen Handlungselemente des Karolingischen mit jenen des Bretonischen Sagenzyklus, die mit Matteo Maria Boiardos Orlando Innamorato endgültig abgeschlossen ist, sind die unterschiedlichen Erscheinungsformen der Magie aber auch ein fixer Bestandteil des sogenannten Ritterromans. I n ihrer Studie, die an der amerikanischen Rutgers University als Dissertation vorgelegt wurde, setzt sich Julia Kisacky das 26*
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Ziel, den Stellenwert, der der Magie in Matteo Maria Boiardos Orlando Innamorato und in Ludovico Ariostos Orlando Furioso , den beiden wichtigsten romanzi der italienischen Renaissance, eingeräumt wird, zu untersuchen. Nach einem relativ oberflächlichen Abriß der Gattungsgeschichte und einer allgemein gehaltenen Darstellung der spezifischen kulturellen und politischen Situation, die die beiden Schriftsteller am Hofe der Este i n Ferrara vorfanden, wendet sich die Verfasserin dem eigentlichen Erkenntnisziel ihrer Untersuchung zu, wobei die Analyse der Magie als inhaltliches Phänomen durch teilweise überaus detaillierte Untersuchungen der allegorischen Bedeutung der Zauberutensilien und Figuren mit übernatürlichen Fähigkeiten und ihrer Funktion für die Entwicklung bzw. Verzögerung der Handlung ergänzt wird. Kisackys Studie setzt sich aus zwei homogen aufgebauten Teilen zusammen, wobei sie sich in einem ersten Schritt mit den unterschiedlichen Ausprägungen der Magie i n Boiardos Orlando Innamorato beschäftigt. Hernach wendet sich die Verfasserin der Darstellung der Gegenstände und Figuren mit übernatürlichen Fähigkeiten in Ariostos inhaltlich zwar explizit an Boiardos Text anschließender, insgesamt aber dennoch sehr eigenständigen Fortsetzung zu, w o bei sie auf Abweichungen und Neuerungen in der Darstellung besonders genau eingeht. Was den Aufbau der Untersuchung betrifft, muß der Leser leider sehr bald feststellen, daß eine Kategorisierung der Analyseergebnisse nach thematischen Gesichtspunkten i m vorliegenden Fall zu favorisieren gewesen wäre, denn durch die getrennte Abhandlung der einzelnen Bereiche kann man den Konnex, der - wie die Verfasserin zu Recht oftmals betont - zwischen den beiden romanzi besteht, und die Umdeutung, die die Magie in Ariostos Weiterführung des Boiardoschen romanzo erfährt, oftmals nur schwer nachvollziehen. Das Werk der beiden Autoren w i r d jeweils unter zwei thematischen Schwerpunkten gesichtet, wobei man - wie die folgende Aufstellung der einzelnen Kapitel zeigt - feststellen kann, daß sich die Verfasserin mit Matteo Maria Boiardos Text weniger intensiv beschäftigt als mit Ludovico Ariostos romanzo: Die Analyseergebnisse werden unterteilt in Boiardo's Marvelous Artifacts ( 7 32) und Boiardo's Monsters and Mages (33-53) sowie in Ariosto's Marvelous Artifacts (55-87), Ariosto's Supernatural Creatures (89-103) und Ariosto's Practitioners of Magic (105-135). I n einer knappen Conclusion (137-140) werden die Ergebnisse der Einzelanalysen schließlich noch einmal gemeinsam präsentiert. Z u den häufigsten magischen Gegenständen, die i n beiden romanzi gleichermaßen eingesetzt werden, zählen verzauberte Waffen und Rüstungen, die - wie Kisacky ausführlich darlegt - in zwei Kategorien unterteilt werden können: I n Ausrüstungsgegenstände, die dem Träger besondere Vorteile i m Kampf verschaffen und daher als unritterlich gelten; und in magischen Kampfutensilien
Buchbesprechungen ohne besondere Wirkung, wobei das Adjektiv fatato in diesen Fällen weniger die übernatürlichen Fähigkeiten der Kriegsgeräte, als vielmehr deren überragende Qualität beschreibt. I m Gegensatz zur ersten Gruppe verleihen diese Waffen und Rüstungen dem Träger ein ungleich größeres Prestige. Kisacky untersucht die verzauberten Kampfgeräte in den beiden romanzi aber nicht nur hinsichtlich ihrer Wirkungsweisen sondern auch hinsichtlich ihrer unterschiedlichen moralischen Bewertung, die exemplarisch an Astolfos goldener Lanze und Ruggieros Schwert Balisarda erläutert wird. I m Zusammenhang mit magischen Gegenständen beschäftigt sich die Verfasserin aber auch mit jenen besonderen Ringen, die Zauber brechen oder ihre Träger unsichtbar machen können und die daher auf der Ebene der Handlungsentwicklung in beiden Ritterromanen einen besonderen Stellenwert innehaben, oder der fönte delVAmore und der fontana del disamore , die speziell i m Orlando Innamorato zur Schaffung von Situationskomik eingesetzt werden. I m Kapitel Ariosto's Marvelous Artifacts analysiert Kisacky zusätzlich zu den oben genannten Gegenständen einen Zauberkelch, mit dessen Hilfe ehebrecherische Frauen überführt werden können, Astolfos Horn, dessen magische Fähigkeiten wesentlich zum Fortgang der Handlung beitragen und sogenannte prophetische Wandmalereien (Darstellungen herausragender Zeitgenossen des Dichters, von der Erzählgegenwart des Textes aus betrachtet erscheinen sie in die Zukunft projiziert), die zwar nur am Rande mit Magie in Verbindung stehen, denen aber eine stark enkomiastische Komponente innewohnt, die für den Orlando Furioso von zentraler Bedeutung ist. Fabelwesen sowie Tiere und Figuren mit übernatürlichen Fähigkeiten stellen den zweiten Analyse-Schwerpunkt in Kisackys Studie dar. Verzauberte Streitrosse zählen - neben den magischen Waffen und Rüstungen - zum dritten wichtigen Ausrüstungsgegenstand des herausragenden Ritters und kommen daher sowohl i m Orlando Innamorato als auch i m Orlando Furioso vor; sie symbolisieren in beiden Texten natürliche, chaosstiftende Leidenschaften, die nur durch den Verstand gezügelt werden können. Das geflügelte Pferd, gemeinhin ein Symbol für die Freiheit der Dichtkunst, w i r d ebenfalls i n dieser Kategorie näher untersucht, wobei sich die Verfasserin zu einem spekulativen Vergleich zwischen dem Pegasus und Ariostos Konzeption der Handlungsstruktur i m Orlando Furioso hinreißen läßt. Ihrer Ansicht nach finden nämlich die Schwierigkeiten des Dichters, die Handlung seines Werkes zu einem Ende zu bringen, ihre poetische Umsetzung i m ungezügelten und schwer bezwingbaren Charakter des Pegasus (98). Letztendlich widerspricht Kisacky damit w o h l auch der in der Einleitung geäußerten Ansicht, wonach sich Ariostos romanzo gerade in der rationellen Planung und Finalisierung der Handlung von Boiardos Orlando Innamorato unterscheide (4). I n ihrer physischen Erscheinung oftmals überaus detailliert beschriebene monströse Phantasiegestalten und Riesen erscheinen i m Orlando Innamorato
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i n großer Zahl; der Kampf gegen sie ist in vielen Fällen Teil der Aufgaben, die ein Ritter erfüllen muß. I n diesem Zusammenhang fällt auf, daß Boiardo seine Monstren nicht bloß nach dem Vorbild der klassischen Mythologie schafft, sondern diese weiterentwickelt, wie die Verfasserin anhand der zwar griechisch inspirierten, aber individuell ausgestalteten Sphinx in Boiardos romanzo demonstriert. Wie Kisacky in ihrer Untersuchung des Orlando Furioso zeigt, w i r d die märchenhafte Komponente der Ungeheuer zugunsten einer prononciert allegorischen Dimension zurückgedrängt, die ausführlich anhand jener Monstren diskutiert wird, gegen die Ruggiero auf Alcinas Insel kämpfen muß. O b w o h l Kisacky betont, daß Feen erstmals von Boiardo in der Epik eingesetzt werden, beschränkt sie sich auf eine eher summarische Darstellung dieser ursprünglich keltischen Sagengestalten. Die i m Orlando Innamorato auftretenden Magier und Zauberinnen werden ebenfalls relativ kurz und oberflächlich abgehandelt. Ungleich detaillierter werden hingegen die Untersuchungsergebnisse der Figuren mit übernatürlichen Fähigkeiten i m Orlando Furioso präsentiert: Alcina und Logistilla werden sowohl in ihrer Funktion auf der Ebene der Handlungsentwicklung als auch in ihrer allegorischen Bedeutung vorgestellt. Neben den Magiern i m engeren Sinn (Atlante, Merlin, Melissa) beschäftigt sich Kisacky in diesem Abschnitt auch mit jenen Figuren des Orlando Furioso , die religiöse Wunder vollbringen - dazu gehören der Erzengel Michael, ein Eremit und der heilige Johannes - und die gleichsam einen Gegenpol zu den Zauberern bilden. Der Unterschied zwischen Wunder und Zauber liegt - wie Kisacky zu zeigen vermag - dabei keineswegs in einer größeren Wirksamkeit der ersten Kategorie begründet, sondern vielmehr i m Fehlen der chaosstiftenden Dimension, die charakteristisch für die magischen Elemente der beiden Texte ist. I m Schlußkapitel ihrer Studie faßt Kisacky die Ergebnisse ihrer Analysen noch einmal knapp zusammen. Sie stellt dabei fest, daß die Magie auf der Ebene der Handlungsentwicklung sowohl i m Orlando Innamorato als auch i m Orlando Furioso eine ähnliche Funktion erfüllt: Sie w i r d als retardierendes Moment eingesetzt, kann komische Situationen heraufbeschwören oder an die Stelle einer psychologischen Motivation treten. Chaos und Ordnung sowie fortuna und virtu als wichtige funktionale Aspekte der Magie werden an dieser Stelle leider nur sehr oberflächlich erwähnt. Auch in der ambivalenten Beurteilung der Magie erkennt die Verfasserin eine Parallele zwischen Boiardo und Ariosto. Beide Autoren sehen in ihr nämlich nicht nur eine Quelle der meraviglia s des diletto und der avventura (139), sie erkennen in ihrer chaosstiftenden Kraft letztendlich auch eine potentielle Störung von Weltordnung und ratio. Als Fazit bleibt festzuhalten, daß die Verfasserin über weite Strecken ihrer Studie zu sehr an der Oberfläche der zu untersuchenden romanzi bleibt, was sich daran zeigt, daß die einzelnen Abschnitte oftmals nur kurze Resümees
Buchbesprechungen jener Episoden beinhalten, in denen magische Gegenstände und Figuren in Erscheinung treten, ohne daß diese für die Intention der Autoren funktionalisiert würden. Durch die Beschränkung auf eine vorzüglich textimmanente Argumentation büßt die Studie zusätzlich einiges an praktischem Nutzen ein. Die Berücksichtigung der einflußreichen hermetischen und kabbalistischen Traditionen des Quattro- und Cinquecento sowie die theoretische Positionierung der Thematik i m Spannungsfeld der poetologischen Diskussionen u m meraviglia und diletto wäre den Nutzen der Studie mit Sicherheit zuträglich gewesen. O b w o h l Julia Kisackys Untersuchung der i n der Einleitung angekündigte »umfassenden Analyse« (1) der Magie bei Matteo Maria Boiardo und Ludovico Ariosto nicht gerecht wird, ist sie doch wegen der überblicksartigen Aufarbeitung und des brauchbaren Vergleichs der wichtigsten Erscheinungsformen der Magie in den beiden Texten von großem Wert für eine erste Orientierung in diesem speziellen Forschungsgebiet der Italianistik. Christine Zwinger; Klagenfurt Christopher Cairns (ed.), The Renaissance Theatre: Texts, Performance, Design. 2 Volumes. Aldershot & Brookfield, VT: Ashgate, 1999. Vol. 1: xii + 206 pp., Vol. 2: x + 130 pp. This handsomely bound two-volume publication presents a series of short papers given at the conference on »The Renaissance Theatre: texts, performance, design« in September 1997 at the Globe Theatre. The volumes are physically slender w i t h only black-and-white illustrations (most likely for pricing reasons), many of them poor in quality - but even so these volumes contain a variety of carefully indexed material which has been edited by Christopher Cairns, a specialist in Italian theatre at the University of Westminster. As is to be expected in collections of this kind, the contributions are of varying quality, quite apart from the difference of methods and topics represented. Authors use whatever language they are at home w i t h - Italian, French, and English. Glossy paper is used throughout for the printing, an annoying choice that makes highlighting and annotating difficult. I t is not quite easy to see how the two volumes were put together. Volume 1 concentrates (the title says) on British and Italian theatre i n the Renaissance, but many of the essays in Volume 2 deal w i t h Italian theatre as well, and the modern Macbeths discussed there could as easily have found a place in the first volume. Likewise, the iconographic issues foregrounded in the second volume have counterparts i n the first. I t w o u l d not be wise to take the demarcations between the volumes too seriously. Volume 1 collects six papers on British and four on Italian theatre, w i t h one belonging to neither. To take the latter first: Judith Bryce seeks to »adjust the
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canon« by making the late-fifteenth-century w o r k of Antonia Pulci, the earliest Italian female dramatist, better k n o w n to British scholars. Bryce's contribution includes a weighing of evidence concerning institutional sites for Pulci's sacred dramas, and concerning possible connections between Pulci and another wellknown Florentine female writer, Lucrezia Tornabuoni. These tasks involve much speculation, since hard evidence is scant. Ronnie Ferguson continues his previous research on Angelo Beolco (Ruzante) by examining the venues and staging of his dramatic works in the Veneto in the early sixteenth century. This is a difficult reconstructive task, like Bryce's, since the evidence is not always conclusive. Perhaps there is further deixis i n the dramatic dialogues themselves that may provide clues for locations and staging. The contribution of Lia Buono Hodgart differs from the previous ones in focussing on a single work, Giordano Bruno's Candelaio (1582); Hodgart describes it as occupying a unique position in its time as »una satira contro i pedanti« w i t h »un atteggiamento altamente morale.« Finally, Janie Cole discusses the music and poetry of Michelangelo Buonarotti Jr.'s II giudizio de Paride (1608). Her focus is on the intermedin which chiefly account for the favourable reception of the w o r k when it was produced; Cole's essay is amply documented w i t h appendixes and illustrations. While the Italian section of this volume mostly employs methods of historical-factual reconstruction, the British drama section is more diverse; the order of essays here appears random, whereas the Italian section has a clearly chronological order. Two essays (at least) discuss a single drama each, as Hodgart does w i t h Bruno: Andrew Stott's examination of »comedic obligations« in Middleton's A Chaste Maid in Cheapside and Brent Holm's discussion of magic in Shakespeare's Tempest. Stott demonstrates the pervasive character of commodity and exchange relations in Middleton's concept of comedy. One section of his essay suggestively sketches an argument that a »debt« relation may be found in »the perceptual distance that exists between a subject's concept of itself, and the >empirical< reality of that relation.« He does not address the issue of collaboration, nor whether such a notion could also be traced in the tragedies - or whether anything similar can be found in other drama of the time, city comedy or otherwise; the argument easily leads into a larger study. Holm's paper, by comparison, is weak i n organization and argument: he relates The Tempest to the usurper Bothwell's conspiracy against James I and to the nautical maleficia of magic storms, so that it emerges as »a reversed mirroring« compensating for the king's traumatic sea voyage from Copenhagen to Scotland in 1590. The reversal is rather oblique as against Malone's proposal to see the play's tempest in the light of the Gates and Summer sea adventure of 1609; another kind of inversion immediately follows, when Sycorax is deconstructed into »sick« plus »rex«, the king's disease, as well as »Psycho-rags«, and Pros-
Buchbesprechungen pero into Proserpina. Most of this raises more questions than it answers. More solid is Caroline Patey's reading of imagery in The Tempest and other late dramas of Shakespeare's in the light of theatrical gardens, w i t h special attention to Salomon de Caus's introduction of the Mannerist style of Pratolino (above Florence) into England. M . A . Kastritzky in a carefully documented study scours the traveller Thomas Platters diary (1595-1600) along w i t h the evidence of illustrations in the corpus alba amicorum for information about »mountebanks, mummers and masqueraders« in various parts of Europe, thus illuminating practices of carnival revelry - a performative mode w i t h analogues in the feste discussed in Volume 2. (This has little to do w i t h either English or Italian theatre.) Iconographie analysis continues w i t h Margaret Rose's examination of illustrations of Shakespeare's Desdemona in eighteenth- and nineteenthcentury editions, showing how these images »indicate women's changing roles in society.« One suspects that there is more commentary especially in nineteenth-century editions that could be consulted in connection w i t h the illustrations. A further iconographie contribution is Ronnie Mirkin's study of the portrait of Elizabeth Cary i n the Ashmolean Museum as an instance of »the performativity of gender« - a paper too brief for the implications of its topic, and one that unfortunately does not answer the question how characteristic the female doublet was for women's dress in its time. Valerie Lucas likewise focusses on Elizabeth Cary w i t h an interpretation of The Tragedy of Mariam, making good use of Pierre Macherey's theory of the »non-dit.« I n this play, the precise terms of Herod's remorse curiously align him w i t h the female position earlier articulated by the heroine - an issue that Lucas does not touch on. Volume 2 has a fairly extensive focus on iconographie analysis, continuing that of several papers in Volume 1. Cesare Molinari traces the cultural memory and editorial tradition of various classical sources through the Middle Ages into the early modern period, w i t h frequent attention to the iconography of Terence - especially in the frontispieces of the »splendidi« manuscripts of Térence du duc de Berry (1407) and Térence des Ducs (1415). Eleonora Giordani continues this iconographie focus on illustrations of classical theatre, for an understanding of the Renaissance idea of the classical theatre. She uses annotated editions of Terence - printed works - published at Lyon (1493), Strasbourg (1496), Venice (1546) and Paris (1552), as well as a French translation of Terence (Paris, 1500), and concludes that the illustrations function as »uno specchio« reflecting ideas of scenic presentation. The volume does not add Giordani's scholarly vita, as it does for the other contributors. Catherine Guillot (in French) studies illustrations by Jérôme David of two seventeenth-century works, Rotrou's Laure persecutée (1639) and Puget de la Serre's Le Martyre de Sainte Catherine (1643), for their relationship to the arts of scenic spectacle. She finds that the illustrations allow a visualization of the mise-en-scène as well as a moment not
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conveyed in the textual dialogue. Finally, Klaus Neiiendam studies evidence of sources and attributions for a perspective drawing of »il portico« and »la bottega« copied by Sebastiano Serlio and preserved at the Galleria degli Uffizi in Florence; he agrees w i t h the common attribution to Donato Bramante's pupil Baldassare Peruzzi and concludes that the theory of perspective stage may have been developed by Bramante but was realized by his pupil. Neiiendam quotes Vitruvius's information about theatrical scenery, but does not consider the sixteenth-century filter provided by Vitruvius's major commentator, Daniele Barbaro (1567). Another focus in this volume is provided by two contributions on early modern feste not only in a theatrical context. Vicki A n n Cremona gives a vividly descriptive account of spectacles and »civil liturgies« (Jean Duvignaud's phrase) in Malta; she agrees w i t h Duvignaud in applying the theory of Marcel Mauss concerning the anthropological theory of the self-interested qualities of gifts. This allows her to explain the affirmation of political domination by means of public spectacles. As many of the sources are rather obscure, it w o u l d have been helpful to include illustrations. Françoise Decroisette discusses the organization of festive performances given between 1656 and 1661 at the Pergola theatre of the grand ducal court of Tuscany, especially feste teatrali for formal occasions and drammi civili for carnivals. Decroisette uses ample pictorial evidence of stage costumes to demonstrate that members of the Academy of Immobili played a part in producing and funding such performances. This essay expands Volume l's series of contributions on Italian theatre and was probably placed here because of its concern with feste. Two essays, both of which likewise continue Volume l's concern w i t h Italian theatre, deal w i t h the rhetorical qualities of drama. Olivia Dawson investigates the way the auditorium in the Olympic theatres of Vicenza and Sabbioneta were »intended to act on the audience.« She notes that Vincenzo Scamozzi, who built the Sabbioneta theatre, likens the architect to the rhetorician i n his treatise Uldea universale delVarchitettura (1615). Accordingly, Dawson draws on Foucault's emphasis on the epistemic »principle of resemblance« as well as Austin's speech act theory, but ends up by asking questions about the spectators rather than offering answers: »Did they textualise images? If they did, w o u l d they have vocalized their readings?« Despite the inconclusive nature of the argument, the discussion is well-focused and suggestive. A different, far less physical understanding of theatre informs Raimondo Guarino's study of Italian Renaissance acting in relation to the rhetorical heritage, under the impact of the rediscovery of the full texts of Quintilian's Institutio oratoria in 1416 and of Cicero's major texts on rhetoric in 1421. The topic thus is theatre as »mental reality« and »cultural space« for Italian humanists, even as »ideological circumstance« - though Guarino does not explain further what he means by »ideol-
Buchbesprechungen ogy.« H e does not discuss the mutual relationship of simulatio and dissimulatio y a joint issue for both the orator and the actor; he does cite Ficino on the value of the Orphic chant, and might have found further pertinent theorems in Ficino's Commentary on Timaeus , or i n Book Three of De vita longa . A rather weakly organized paper is Stephen Knapper's attempt to trace the mask of Scaramouche mainly i n the time of Molière and continuing to modern theatre practice and film adaptation. Finally, continuing Volume 1 's discussions of English theatre, Mariacristina Cavecchi analyzes t w o modern adaptations of Shakespeare's Macbeth: Charles Marowitz 's A Macbeth (1969) and Tom Stoppard's double-bill play Dogg's Hamlet y Cahoot's Macbeth (1979). Both plays »reactivate a lost relationship between w o r d and image« - so that this discussion could be taken as a fitting conclusion to the whole enterprise i n bringing the Renaissance focus into the present. Apart from that, it is difficult to see how Cavecchi's paper fits in w i t h the focus of the conference as a whole. The papers on British drama tend to be more informed by recent developments in critical theory than those on Italian and French. Single papers are more valuable than the collection as a whole, in which French theatre is underrepresented and German is lacking. Some papers w o u l d have been in need of illustration; in parts, the volumes are poorly proofread. Even so, many of the contributions deserve to be welcomed as an advance in research i n their specific area. Michael Stepp at, Bayreuth
Historicizing / C o n t e m p o r i z i n g Shakespeare. Essays i n H o n o u r of Rudolf Böhm, ed. C h r i s t o p h Bode and Wolfgang Klooß. Trier: W V T Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2000. 272 S. Man kann die unterschiedlichsten Vorbehalte gegenüber Festschriften haben, aber die Tatsache, dass sich Schüler und akademische Weggefährten zusammenfinden, u m einem verdienten Wissenschaftler am Höhepunkt seiner Universitätslaufbahn in einem gemeinsamen Vorhaben Ergebnisse ihrer Forschung zu widmen, bedeutet eine Ehrung, die man nicht gering schätzen sollte. Die vorliegende Festschrift ist dem Kieler Ordinarius Rudolf Böhm zugeeignet, aus dessen Œuvre zwei Standardwerke der anglistischen Literaturwissenschaft, eine Arbeit über die Sterberede i m elisabethanischen Drama (1969) und eine Untersuchung zum M o t t o i n der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts (1975) herausragen. Die Laufbahn und das Werk des zu Ehrenden werden in der Einleitung der Schrift ohne ein Übermaß von Festrhetorik gewürdigt (21-23). Eine Abbildung des zu Ehrenden fehlt, vermutlich weil man ihn mit der Festgabe überraschen wollte. I m Gegensatz zu Festschriften, die sich als lockere Folge von thematisch beliebigen Beiträgen darstellen, ist den Herausgebern,
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Christoph Bode (München) und Wolfgang Klooß (Trier), ein kohärenter, auf eine zentrale Thematik orientierter Band gelungen, der eine Reihe hochinteressanter Beiträge enthält. Der gemeinsame Gegenstand des Bandes ist Shakespeares Werk, das, wie die Herausgeber in ihrer Einleitung darlegen, unter dem Aspekt der Dialektik von historisierender und aktualisierender Interpretation (historization vs. contemporization ) in den Blick genommen wird. Die ersten drei Beiträge sind in der thematischen Orientierung allgemein und weit angelegt. A m Anfang steht ein als Dialog während eines fiktiven italienischen Abendessens von Antipasti bis zu Espresso dargebotener geistreicher Beitrag von Christoph Bode, dessen Titel »Azores High, Iceland Low: The L o cation and Dynamics of Shakespeare's Meaning and Value« an Terence H a w kes' Titeigebungen erinnert. A u f der Basis der Performance theory diskutiert er literaturtheoretische Grundfragen der Shakespeare-Kritik, etwa die Frage nach dem O r t der Bedeutung (im Text gegeben oder in der Rezeption generiert) oder nach der Beziehung zwischen Text und Aneignung (»appropriation«) oder dem Verhältnis von historisierender und aktualisierender Shakespeare-Interpretation. M i t Hilfe von Metaphern, z.B. der Metapher von den meteorologischen Hochs und Tiefs, w i r d versucht, ein Modell literarischer Bedeutungsbildung zu erstellen. Interessant ist die Konzeption des Beitrags als Dialog zwischen A und B, wobei die provozierenden Thesen von B, unverkennbar Bode, formuliert werden. Da der Untertitel des Beitrags »(My Dinner w i t h Christoph)« lautet, w i r d hier ein kontroverses Selbstgespräch suggeriert, in dem sich die bekannte intellektuelle Wendigkeit des Autors bezeugt, der es versteht, spielerisch gegensätzliche Positionen zu vertreten. Eine modifizierte Einstellung zur Aneignung (»appropriation«), die bei Bode Angelpunkt der Rezeption ist, behandelt Claus Uhlig in seinem philosophisch fundierten Beitrag »Memory and Appropriation: Shakespeare in Aesthetic Thought«. Aus seiner Übersicht über die >aneignende< Shakespeare-Rezeption und die Rolle Shakespeares in der philosophischen Ästhetik gewinnt er die Hoffnung, dass es möglich sein müsse, durch die Bezugnahme der modernen Performance theory auf die klassische Ästhetik - namentlich Hegels Konzeption der Shakespearschen Charaktere - Gedächtnis (»memory«) und Aneignung (»appropriation«) zu versöhnen und zu einer kulturellen Kontinuität zu gelangen. - Den Übergang von der Theorie zur Interpretation bildet der darauf folgende Beitrag von Christoph Reinfandt, »Reading Shakespeare Historically: >Postmodern< Attitudes and the History Plays«, der neuere Deutungen von Shakespeares Historientetralogien vor dem Hintergrund der Unterscheidung von modern und postmodern erörtert. U m eine Lektüre der Historien - »a reading of Shakespeares history plays against the backdrop of the modern/ >postmodern< distinction« (76) - handelt es sich freilich nicht, sondern u m eine kritische Übersicht über Lektüreweisen, die in ihrer Abfolge als »highly symp-
Buchbesprechungen tomatic of different stages of modern historical consciousness« (75) verstanden werden. Problematisch bleibt in Vf.s Darlegungen die Abgrenzung zwischen »modern« und »postmodern«. Die These, dass Shakespeares Werke aufgrund ihrer umfassenden Deutungsvielfalt plausibel als »a kind of mimesis of the process of modernisation itself« (85) >gelesen< werden können, mag gewagt erscheinen, gewinnt aber gewisse Plausibilität, wenn man - wie neuerdings üblich Werk und Rezeption als Einheit sieht. Die folgenden drei Artikel sind Studien zu Problemen in einzelnen Werken. Paul Goetsch geht in seiner //¿m/ei-Interpretation in »The Monstrous in H a m let« von einer Sicht des Geists von Hamlets Vater als Ungeheuer über zu einer Erörterung des Monströsen als Grundprinzip am H o f von Dänemark. Hamlet ist sicher ohne den Geist nicht denkbar, dass dieser aber für die gesamte Handlung - »plots, counterplots, and activities such as spying and deception« (96) verantwortlich sein soll, ist nicht überzeugend. Der Protagonist nimmt für sich die Freiheit in Anspruch, zu handeln oder nicht zu handeln. Korrigierend muß auch gesagt werden, dass Hamlet i n dem Drama nie als Rächer erscheint, der einen Racheplan entwirft und in die Tat umsetzt. Zur Tötung ist er wie i m Fall von Polonius nur aus dem Affekt heraus fähig, wenn er sich in die Enge getrieben fühlt. - Die Spannung von Wirtschaft und Chrematistik in The Merchant of Venice erläutert Christiane Damlos-Kinzel, indem sie sich gewinnbringend auf Xenophons Schrift über Haus- und Gutswirtschaft (Oikonomikos ) bezieht, die in der Renaissance auch in England rezipiert wurde. A u f dasselbe Drama bezieht sich auch Rüdiger Ahrens, der die Konzeption der Portia in Shakespeares Text mit der in Weskers und Marowitz' Bearbeitungen vergleicht und ideologisch motivierte Veränderungen der Figur und des Stücks klarsichtig erläutert. Bestimmte Phänomene der Rezeption von Shakespeare nehmen drei weitere Artikel in den Blick: Horst Drescher widmet sich der Rolle Shakespeares i m kulturellen Kontext der schottischen Aufklärung. Hochinteressantes neues Material präsentiert Heinz Kosok in seiner charakterbezogenen Untersuchung der Kurzfassung von Shakespeares Dramen i m britischen Amateurtheater des 20. Jahrhunderts. Eine postmoderne dichterische Shakespeare-Rezeption untersucht Isabel Martin mit dem Gedicht »Response« aus Peter Readings Poems for Shakespeare (1978). - Einen weiteren literarhistorischen und kulturgeschichtlichen Kontext öffnet Wolfgang Klooss, der den Widerhall der Pest als einer ständigen Bedrohung in der Metaphorik der Dramen Shakespeares und Ben Jonsons untersucht. Diesem kenntnisreichen Beitrag kann man jedoch in der Textauswertung nicht immer folgen. I n Jonsons The Alchemist etwa ist Sir Epicure Mammon eines der Opfer der Gaunereien des Betrügertrios und nicht, wie Vf. sagt, »an ideal partner for Subtle« (212). Die Darstellung lässt gelegentlich argumentative Stringenz vermissen. Sie springt z.B. assoziativ von Shakespeares Troilus and Cressida zu Dostojewskis Schuld und Sühne oder nimmt
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Metaphern wie die der Kolonialisierung oder Pest i m Übermaß in Anspruch. Von dem am Schluß von The Alchemist zurückgekehrten Hauseigentümer, der von den Gaunereien, die während seiner Abwesenheit begangen wurden, profitiert, heißt es etwa i m gängigen Jargon: »Instead, he colonises not only the colonist, but also his o w n native London. I n other words, he becomes a plague amidst his fellow citizens - a plague upon all their homes« (216). Daß Boccaccio als Romancier bezeichnet w i r d - »the Italian novelist« (214) - sei auch kritisch angemerkt. - Der vorletzte Beitrag von Konrad Gross (»From Columbus to the Elizabethans: The Articulate Indians, Native Oratory, and Cross-Cultural Communication i n Spanish and English Records on America«) bringt anhand eines reichen Belegmaterials die Wiedergabe der Rede der Eingeborenen i n den Berichten der frühen Kolonisatoren Amerikas mit der Rede Calibans in Shakespeares The Tempest in einen Zusammenhang. Während die Rede der Eingeborenen i n der Wiedergabe überformt ist von den Denk- und Urteilsschablonen der Weißen, lässt Shakespeare den von Gross als Eingeborenenhäuptling verstandenen Caliban in A k t I, Szene 2 in der Auseinandersetzung mit Prospero mit einer eigenen, kolonialismuskritischen Stimme sprechen. - Der abschließende Artikel von Dietrich Jäger gibt eine »unorthodoxe Interpretation von Ben Jonsons großen Komödien«. M i t dem Einbezug von Shakespeares großem Rivalen w i r d unmissverständlich deutlich gemacht, dass Shakespeare nicht allein das Drama der Renaissance ausmacht. Jägers These ist, dass es bei Jonson zu einer Diskrepanz zwischen seinem vielfach bekundeten humanistisch-didaktischen Dichtungsverständnis und seiner dramatischen Praxis kommt. Der ästhetische Impetus seiner Dramen steht gerade nicht i m Dienst der Bekräftigung humanistischer Werte. - Insgesamt handelt es sich bei dieser Festschrift u m einen thematisch einheitlichen Band, dessen Beiträge zu einem großen Teil sehr qualitätvoll sind, auf der Höhe der gegenwärtigen Forschungsdiskussion argumentieren und reiches intellektuelles Stimulationspotential besitzen. Wolf gang G. Müller,; Jena
Philip Edward Phillips, John Milton's Epic Invocations: Converting the Muse [Renaissance and Baroque Studies and Texts 26], N e w York: Lang, 2000. 159 S. Die Abhandlung verdient schon deshalb besondere Beachtung, weil sie den Leser mit einem der bedeutendsten Zeugnisse der Weltliteratur besser vertraut macht. Miltons großes Bibelepos Paradise Lost kann als das letzte wirklich überzeugende Beispiel jener Gattung angesprochen werden, die seit den Epen Homers in Theorie und Praxis als Maßstab für das non plus ultra aller Dichtkunst gegolten hat. Diese Arbeit eines bedeutenden Puritaners ist eine späte Frucht von Renaissance und Humanismus. Bezeichnend für ihren dichtungs-
Buchbesprechungen geschichtlichen O r t ist die Tatsache, daß i m darauf folgenden Jahrhundert die ersten bedeutenden Werke jener Gattung veröffentlicht wurden, die das Epos abgelöst hat. Der Roman ist die Erfindung von Schriftstellern, die für Leser der gleichen Sprachgemeinschaft schrieben und die - wie das Beispiel von Henry Fielding sehr deutlich zeigt - sich als Fortsetzer der prestigeträchtigen Form des Epos gefühlt haben. Umso erstaunlicher mag es erscheinen, daß man diesem Spätwerk unter all den biblisch-christlichen Epen von Renaissance und Nach-Renaissance den Höchstwert zuerkennen muß. Phillips konzentriert sich auf die Untersuchung der Musenanrufe. Völlig zu Recht findet dabei neben den Proömien der Bücher I, V I I und I X auch das von Buch V I Beachtung, das als »Hymne auf das Heilige Licht« bekannt ist, denn auch diese endet mit einer Bitte, die sich auf die besondere Aufgabe des Sprechers bezieht. Nach einer knappen aber nützlichen Ubersicht über die Rolle des Musenanrufs als eines für das Epos konstitutiven Formelements, wie es die Geschichte der Poetik beschreibt, und einer weiteren Zusammenstellung unterschiedlicher Ausgestaltungen dieses Topos in der Geschichte der epischen Kunstwerke formuliert der Verfasser als das eigentliche Ziel seiner Untersuchung die Feststellung der relativen Anteile der heidnischen Tradition und ihrer christlichen Umgestaltung oder Neuschöpfung, wie sie in den vier oben genannten Passagen von Paradise Lost zu finden sind. Die Frage nach den Anteilen von paganen bzw. christlichen Elementen mag manchem heutigen Leser etwas zu buchhalterisch erscheinen, aber Phillips weist deutlich nach, daß diese Problemstellung für Miltons Zeitgenossen erheblich war. Er führt dem Leser zunächst einmal Abraham Cowleys Einstellung vor. Spezialisten der englischen Literatur des 17. Jahrhunderts wissen, daß dieser etwa gleichzeitig lebende Dichter zu seiner Zeit ein uns kaum verständliches Ansehen genossen hat. Dieses hat zwar seine Lebensspanne nur geringfügig überdauert, aber es hat die Anerkennung der künstlerischen Leistungen M i l tons zunächst weit i n den Schatten gestellt. Freilich muß hinzugefügt werden, daß die Anerkennung von Miltons Dichtung nach der Wiederherstellung des Königtums auch aus politischen Gründen behindert worden ist. Phillips vergleichende Betrachtung fördert den Sachverhalt zu Tage, daß M i l t o n , der Puritaner und Republikaner, als christlicher Humanist den Dichtungselementen altgriechisch-heidnischer Herkunft gegenüber offener war als Abraham Cowley, der Royalist und Anhänger der etablierten Kirche. Letzterer wollte eine so rigorose Reinigung des Musenanrufs durchsetzen, daß bei i h m die i n seiner Dichtung angerufene inspiratorische Kraft wie eine reuige und bekehrte Prostituierte erscheint. Wie löblich dieser Eifer auch erscheinen mag, er w i r d nicht als besonders geschmackvoll überzeugen. Übrigens war dieser Rigorismus auch in pragmatischer Hinsicht nicht erfolgreich. Cowley konnte seine Davideis nicht einmal bis zur Hälfte vollenden.
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Wissenschaftliche Untersuchungen werden oft durch Vorannahmen gesteuert. Dieses Verfahren ist oft nützlich und völlig unschädlich, so lange sich die Ermittler die Freiheit bewahren, die eigenen Erwartungen zu revidieren, falls die Evidenz dies nötig erscheinen läßt. Angewendet auf die Analyse der M u senanrufe in Paradise Lost zeigt sich der folgende Befund. Englisch sprechende Leser werden Miltons Jugendgedicht, die Nativity Ode, schon auf der Schule kennengelernt haben. Darin w i r d zur Feier der Wirkungskraft des soeben geborenen göttlichen Kindes auf die ersten Taten des Herkules verwiesen, gewissermaßen i m Vorgriff auf die spätere Behandlung des Gottessohnes als eines epischen Helden. Anderen Orts w i r d Christus als der große »Pan« verherrlicht. A l l dies mag zeigen, daß M i l t o n keine Berührungsängste bei der Verwendung von Vorstellungen zeigt, die auf die griechische Mythologie zurückzuführen sind. Dennoch wäre es verfehlt, seine Behandlung der sogenannten Musenanrufe als i m Prinzip weniger christlich anzusehen als die bemühte Verchristlichung, die Abraham Cowley versucht hat. Miltons Bestrebungen sind weit intelligenter, erfolgreicher, und zeugen von größerer Geschmackssicherheit. Dieser Einsicht mögen zunächst einige textliche Beobachtungen entgegenstehen: z.B. bezeichnet der epische Sprecher bei seinen Anrufungen die inspiratorische Kraft wiederholt als Muse. I m Proömion des 7. Buches benennt er sie wenigstens versuchsweise »Urania«, indem er vorsichtig einschränkend hinzufügt: »by that name, if rightly thou art called«. Aber Miltons Urania ist nur eine Namensschwester von jener, die als Tochter der Mnemosyne in der Antike bekannt war. Phillips weist zu Recht darauf hin, daß sich M i l t o n hier auf den Versuch von D u Bartas beziehen kann, Urania als den Namen einer christlichen Figur in die Literatur einzuführen. Zwar ist der literarhistorische Wandel in der Auffüllung der Bedeutung dieses Namens unbedingt in Rechnung zu stellen, aber die wichtigste Einsicht ist doch die, daß am Ende hinter den verschiedenen Benennungen und Beschreibungen der inspiratorischen Kraft der Allmächtige selbst, bzw. sein Heiliger Geist erscheint. Es wäre nun falsch, dies als eine Entwicklung der Musenvorstellung aufzufassen, die sich innerhalb von Miltons Epos vollzieht. Das Sein und Sosein der inspiratorischen Kraft ist vielmehr als eine für den Leser immer deutlicher werdende Enthüllung zu verstehen. Die von M i l t o n gewählte Darstellungsart ermöglicht bei eindeutig christlicher Auffüllung der Musenfigur die Anknüpfung an die antike Tradition als eine ihrer ersten Hüllen. Phillips Abhandlung kommt zu ähnlichen Endergebnissen, die hier nur deutlicher akzentuiert werden. Allerdings wäre es wünschenswert gewesen, wenn der Verfasser seine Unterscheidung der relativen heidnischen und christlichen Anteile zusätzlich in die Problematik von Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft jener besonderen A r t von Dichtung eingebettet hätte, die M i l t o n vorgeschwebt haben muß. Nach sehr reiflicher Überlegung und nach dem Ver-
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werfen verschiedener anderer Epen-Projekte hat sich M i l t o n die Aufgabe aufgebürdet, ein Bibelepos zu verfassen, dessen besonderer erzieherischer Impetus durch die Themenangabe charakterisiert wird: »assert Eternal Providence, / A n d justify the ways of God to men.« (I, 25/26). Der pädagogische Impuls ist nicht allein auf die Persönlichkeit des Verfassers zurückzuführen, er gehört auch zu der von ihm gewählten Gattungsform, und zwar von Anfang an. Die lehrhafte Tendenz ist vielleicht in Homers Ilias leichter zu erkennen als in seiner Odyssee. Sie ist jedoch offensichtlich in der Theogonie des Hesiod. Die Aeneis
des Vergil ist bekannt für ihren national-römischen
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anspruch. Die Verchristlichung der pädagogischen Tendenz beginnt nicht erst mit Dantes Divina
Comedia , sondern erreicht darin einen ihrer ersten Höhe-
punkte. Auch in dieser Hinsicht steht M i l t o n also fest in der epischen Tradition der abendländischen Literatur. Es bleibt jedoch die Besonderheit, daß es sich bei Miltons Dichtung u m ein Bibelepos handelt. Dieses Gedicht reiht sich also zunächst in die nahezu endlose Serie von Dichtungen ein, die einen älteren Text in der Absicht um- und neugestalten, die darin vermittelten Wahrheiten den eigenen Zeitgenossen in der Sprache ihrer Zeit und unter der vollen Berücksichtigung ihres Lebensgefühls und ihrer Lebenserfahrung zu verdeutlichen. Es wäre falsch, in Miltons epischer Dichtung nur eine Ausschmückung oder Verbrämung biblischer Texte zu sehen oder den bloßen Versuch, der Überlieferung ein paar eitle rhetorische Glanzlichter zum Ruhme des Verfassers aufzusetzen. Miltons Epos folgt dem oben charakterisierten pädagogischen Impuls. Trotzdem mag es manchem Betrachter anstößig erscheinen, daß ein Schriftsteller sich erkühnt, die Bibel als einen Vortext zu behandeln, der in wesentlichen Teilen gewissermaßen neu zu erschaffen ist. Das unterstreicht die Dringlichkeit der Beglaubigung der Aussage dieser umgestalteten Texte. Vielleicht w i r d das Problem der Autorität des Ausgesagten noch klarer, wenn w i r uns vergegenwärtigen, daß Miltons Gott (so ein bedeutender Titel der Miltonphilologie) zunächst einmal Miltons poetische Erfindung ist, ein Phantasieprodukt, das besonderer Beglaubigung bedarf. N u r die Gaukler unter den Dichtern, die ihre Wortschöpfungen als bloßes, vielleicht sogar lügenhaftes, allenfalls unterhaltsames Spiel vorführen, können darauf verzichten, Glaubwürdigkeit und Autorität ihrer Aussagen zu sichern. I n der Reihe der möglichen Ausprägungen des Dichterberufs bildet der poeta vates den extremen Gegenpol zum bloß phantasiereichen Wortkünstler, der mit verbaler Geschicklichkeit brilliert, die keinerlei Anspruch auf Wahrheit erhebt. D e m gegenüber steht der vates mit seiner Absicht, überirdische Einsichten und Erkenntnisse zu vermitteln. Der christliche Epiker steht aber nicht nur vor der Aufgabe, Gott zu erfinden, wie übrigens auch das übrige Personal seiner Dichtung, er muß auch sich selbst erfinden, nämlich die Rolle des epischen Sprechers für sich selbst. U m diese Aufgabe zu lösen, lehnt sich M i l t o n an die überlieferte Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 43. Bd.
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Vorstellung des vates an, dessen Rolle er i n Richtung auf den christlichen Propheten hin moduliert. Bei dieser Selbstdarstellung fällt dem sogenannten Musenanruf die Hauptlast zu. Wenn Dichter ältere Uberlieferungen um- und neugestalten, so handelt es sich zumeist u m solche, die ebenfalls als Literatur zu klassifizieren sind. Literatur w i r d wenigstens teilweise aus Literatur gemacht. N u r literarische Laien meinen, daß das Gefühl der Dichter oder doch zumindest ihre persönliche Erfahrung die Hauptursache bei der Entstehung von Literatur darstellen müßte. Vielmehr gehen solche Aspekte gerade in den größten dichterischen Schöpfungen wechselnde Verbindungen mit der Uberlieferung ein. Literatur, die aus Literatur gemacht wird, kann durchaus Höchstwerte erreichen. Ein besonderes Problem entsteht, wenn - wie i m Falle von Paradise Lost - der Urtext gar nicht der Literatur zuzuordnen ist, sondern jener Klasse von Texten, die in der Terminologie unserer englischen Fachkollegen als scripture von literature zu unterscheiden ist. Das Bedeutungsfeld des Begriffes scripture ließe sich wie folgt abstecken. A n der unteren Grenze des Feldes findet sich die Tatsache, daß solche Texte einen erheblichen Einfluß auf die verschiedenartigsten Aspekte einer Sprach-, Kultur- oder Glaubensgemeinschaft ausüben. Ihre Prägekraft beruht auf der besonderen Autorität, die sie genießen. Diese wiederum erklärt sich daraus, daß ihnen die Qualität der Heiligkeit zuerkannt wird. A n der obersten Grenze des Bedeutungsfeldes sind sie gegen jede Veränderung oder Abwandlung tabuisiert, weil beispielsweise ihre Entstehung auf das Phänomen der Verbalinspiration zurückgeführt werden kann. Dagegen sind Texte, die bloß als Literatur klassifiziert werden, nicht primär durch ihre besondere Autorität bestimmt, sondern durch ihre Fiktionalität. Sie können diese Eigenschaft offen zur Schau stellen oder sie können versuchen, Autorität zu erwerben beispielsweise in Form eines erhöhten Wahrheitsanspruchs, etwa durch besondere Nähe zur Lebens- und Wirklichkeitserfahrung der Leser. Andererseits können literarische Texte auch den Anspruch auf eine ganz andere A r t von Autorität erheben, nämlich solche, die besonderen Phantasiereichtum demonstriert oder außerordentliche verbale Geschicklichkeit. I n all diesen Fällen bleibt Fiktionalität die Grundeigenschaft der Texte. Literarischen und folglich fiktionalen Texten bleibt aber die Möglichkeit, auch Autorität zu fingieren. Ein biblisches Epos wie Paradise Lost kann versuchen, jene A r t von Autorität vorzugeben, die den Texten, die als scripture anerkannt sind, schon allein aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit eignet. Bei solcher Absicht kann natürlich biblisches Personal, biblisches Geschehen, können biblische Vorstellungen mithelfen, aber die Hauptlast bei dem Versuch der besondern Autorisierung epischer Rede fällt wiederum der Umformung jenes konventionellen epischen Bauelements zu, das als Musenanruf bekannt ist und das i n Paradise Lost durch individuelle dichterische Neufassung besonders wirksam gemacht werden soll. A u f diesem
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Horizont könnte die Problematik von Miltons epischen Invokationen besser verstanden werden. Phillips spricht in seiner Abhandlung auch die formalen Aspekte von M i l tons Musenanrufen an. Dabei verweist er auch auf die Rolle, die das Modell der antiken Hymne spielt. Dieser Hinweis ist originell und führt auf eine richtige Spur. Selbst David Daiches lieferte i m Jahre 1960 eine brilliante Analyse von Miltons Musenanruf (I, 1 - 26), ohne diesen formalen und historischen Aspekt auch nur zu erwähnen. Leider leistet i m Endeffekt auch Phillips hier nicht viel mehr. Doch macht er Anstalten, die weiterführen könnten. Zur Information über die antike Hymne verweist er auf das Epideiktikon des Menander, Beschreibungen der Form bei Castelvetro und i n schwer erreichbaren Aufsätzen von P. Rollinson (1971), W. H . Race (1982), und auf Bücher von W. H . Race (1988) und B. Lewalski (1985). Die bahnbrechende Arbeit von Eduard Norden (1913) bleibt unerwähnt, wahrscheinlich weil sich niemand fand, der sie lesen oder übersetzen konnte. Methodisch bedient sich Phillips des literaturwissenschaftlich nicht unüblichen Verfahrens der kritischen Paraphrase. Seine paraphrasierende Verdeutlichung der zu diskutierenden Passagen bleibt immer dann inhaltlich orientiert, wenn die Sekundärliteratur keine formalen Einsichten anbietet. Doch ließe sich leicht und in Kürze darlegen, wie M i l t o n die Formensprache der antiken Hymne in seinen Musenanrufen verwendet. Dabei sind freilich Abwandlungen der überlieferten Formen in Rechnung zu stellen, die auch auf die besonderen Absichten des Dichters verweisen. Schon die Verwendung i m ersten und deshalb besonders wichtigen Musenanruf bedingt gewisse Veränderungen der hymnischen Form. Die übliche Themenangabe w i r d wie gewöhnlich an den Anfang gerückt, obwohl sie hier als ein Teil des Topos »Bitte« anzusehen ist, mit der die antike Rufhymne sonst schließt. Die Passage (1,1 - 2 6 ) kehrt aber, wie zu erwarten, am Ende zur Sprachhandlung des Bittens zurück. Hier bedient sich der Musenanruf gleich zweimal der invocatio , die sich beide Male an denselben Adressaten wendet. Dies ist i n der antiken Hymne üblich. Z u beobachten ist ferner, daß auf das Gruß w o r t »heil« nicht der Name folgt, sondern eine Bezeichnung, die den Adressaten klassifiziert. Auch Homer kennt den Musenanruf ohne spezielle Namensnennung. Spätere Dichter wenden klassifizierende Bezeichnungen wie »nymph« oder »goddess« an, ebenfalls ohne jedesmal Eigennamen zu benützen. Das die angesprochene Muse als »heavenly« charakterisierende Epitheton vermittelt zunächst eine gewisse Unsicherheit oder Doppeldeutigkeit. Die auf dem O l y m p oder auf anderen Bergen thronenden Mächte könnten vielleicht als Himmelsgötter oder »skygods« bezeichnet werden, aber M i l t o n konstruiert mittels des Begriffs der »Heavenly Muse« das Gelenk, das die überlieferte Form mit neuem Inhalt verbindet. Dies w i r d in der unmittelbar angeschlossenen Aretailiste deutlich, die sich nicht auf den H e l i k o n und die Musenquelle Aganippe bezieht, sondern 2*
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biblische Entsprechungen nennt, »the secret top of Oreb, or of Sinai« und »Siloa's brook«. Manifestationen ihrer Macht werden also durch biblische Orte und biblische Ereignisse belegt. Nachdem sich nun die Besonderheit der angerufenen Kraft angedeutet hat, w i r d die Invokation erneuert: »Thou, O Spirit«. Wiederum w i r d der Adressat nicht durch Namensnennung charakterisiert, sondern durch eine - vielleicht nur scheinbar - klassifizierende Bezeichnung. Doch bedient sich die Hervorhebung der zweiten gegenüber der ersten Anrufung eindeutig formaler Mittel, die aus dem Formbestand der antiken Hymne, bzw. deren Nachbildungen in der englischen Literatur geläufig sind: die betonte D u Anrede und jene A r t von Imitation des an sich in der englischen Sprache nicht möglichen Vokativs, den die Dichtung durch das Ausrufewort »O« ersetzt. Der Wechsel von der ersten zur zweiten, stärker hervorgehobenen Anrufung unterstreicht bei aller Anlehnung an antike Formalien dennoch die Bedeutung, die der Heilige Geist für den Sprecher hat. Eine weitere Anverwandlung überlieferter Antike an miltonisch-christliche Vorstellungen ist die Nennung des von der Gottheit bevorzugten Tempels, bzw. Wohnsitzes »the upright heart and pure«. M i l t o n beendet die Liste mit einer besonderen Version dessen, was in der Hymnenanalyse als Epiphanie- oder Theophaniebild bezeichnet wird, hier aber nicht wie in der antiken Literatur menschen- sondern vogelgestaltig erscheint. »Thou from the first / Wast present and w i t h mighty wings outspread / Dove-like satst brooding on the vast Abyss / A n d mad'st it pregnant:«. Die Hymne bietet dem Leser also Assoziationen mit dem Heiligen Geist und mit der weltschöpferischen Kraft des Allmächtigen. Die Tatsache, daß sich hier der Musenanruf so eng an die antike Hymnenform anpaßt, könnte nun Anlaß für die Frage sein, ob M i l t o n sich hier ganz bewußt der griechischen Form bediente, u m etwa den traditionellen Aspekt des epischen Musenanrufes zu unterstreichen. M i l t o n hat den Aufsatz von Eduard Norden natürlich nicht lesen können. O b er dessen reinlicher Scheidung zwischen rhetorischen Formen hellenischer und hebräischer Gottesverehrung gefolgt wäre, darf bezweifelt werden. M i l t o n scheint die Ableitung griechischer von hebräischen Formen für möglich gehalten zu haben. Vielleicht war dies auch nur vorgegeben, u m die weitere Verwendbarkeit der antiken Hymnenrhetorik nicht völlig unmöglich zu machen. Fest steht jedenfalls, daß in Paradise Lost der Chor der Engel nach vollendeter Weltschöpfung den Allmächtigen am Vorabend des siebten Tages mit einer Hymne feiert, die ausschließlich mit Prädikationen i m Du-Stil verfährt ( V I I , 602 ff.). Anders angelegt ist dagegen die hymnische Feier des Tages der Bewohner von Eden. Den biblischen Ureltern w i r d zwar die Fähigkeit zugeschrieben, den Schöpfer auf mannigfaltige Weise (V, 152 ff.) zu feiern, aber die Version, die der Dichter dem Leser vorführt, lehnt sich klar an die großen Lob-Gottes-Psalmen des hebräischen Psalters an, und zwar sowohl inhaltlich wie formal. Der Wechsel der Adressa-
Buchbesprechungen ten, der zusätzliche Aufruf an Engel und Mitgeschöpfe bewirkt eine A r t von Parallelismus der Glieder, in dem sogar für Aussagen über Gott i m Er-Stil Platz gefunden wird. Auch Phillips verweist auf die Psalmen als eine mögliche Quelle für Miltons Ausgestaltung seiner Musenanrufe, aber ohne auch nur einen einzigen konkreten Hinweis dafür zu geben. Es sei hier die Bemerkung erlaubt, daß eher noch Einflüsse aus dem Bereich der Klagepsalmen als aus dem Bereich der Lobeshymnen erkennbar werden. I n den späteren Musenanrufen redet der Sprecher von der persönlichen N o t seiner Erblindung und von der politischen Bedrängnis, in die er durch die Wiederherstellung der Königsherrschaft geraten ist. Diese persönlichen Passagen sind länger als vielleicht i n der antiken Hymne allgemein üblich. Sie lassen Beispiele aus dem Psalter anklingen. Sie könnten aber auch alternativ als speziell ausgearbeitete Formen des Topos mnemosyne der antiken Hymnenform gedeutet werden. Jedenfalls gibt Phillips Abhandlung über Miltons epische Invokationen zu vielerlei interessanten Überlegungen Anlaß. Kurt Schlüter; Freihurg i. Br.
Sophie Hache, La langue du ciel. Le sublime en France au X V I I e siècle. Paris: Honoré Champion, 2000. 528 S. La notion rhétorique de sublime n'a cessé pour les dix-septièmistes, au moins depuis une vingtaine d'années, de gagner en importance. Le livre de Théodore A.Litman paru chez Nizet en 1971 : Le sublime en France (1660-1714), était le seul consacré exclusivement à la question; nul doute qu'elle méritait une nouvelle étude, que nous propose Mme Sophie Hache avec sa thèse (1998, sous la direction du Pr Georges Molinié, Paris-Sorbonne), publiée aujourd'hui par Philippe Sellier dans la collection »Lumière classique«. La comparaison entre les deux ouvrages est d'emblée instructive: au lieu d'une succession de monographies, une approche par corpus; une périodisation différente, qui découvre un point de départ: Guez de Balzac, mais ignore à peu près ce que Litman qualifiait d'apogée: Fénelon; la prise en compte, à côté des écrivains et critiques, de la vaste production des prédicateurs. I l y a un très net refus de fixer une acception du terme au départ de l'enquête: c'est que »le sublime n'est pas une notion abstraite mais un >effet< produit, un sentiment éprouvé au contact d'un certain objet« (p. 16); aussi peut-il passer d'une époque à une autre, comme d'un domaine à un autre: on constate alors que pour la période considérée son »objet« est essentiellement littéraire (par opposition par exemple, pour le siècle suivant, au sentiment devant la nature, ou les œuvres d'art). O n se propose de considérer le »texte« (p. 16) ou le »discours« (p. 17)
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comme un »champ d'expérience«, »un domaine d'expérience pour l'auditeur ou le lecteur«; et de mesurer les occurrences du mot »sublime« introduites dans ce champ, »le plus étendu possible« (p. 17). Dès lors les écrits théoriques seront moins approchés comme le lieu d'une élaboration normative, prescriptive, que comme celui d'une réflexion sur cet effet produit. D ' o ù l'étude d'un corpus second, celui des »ouvrages citants«, et l'approche de la rhétorique comme théorie de la réception - et non plus de la production: comment faire la part, ici, d'un déplacement conceptuel qui appartient à l'histoire de la rhétorique, ou bien d'un effet engendré par la méthode de l'auteur? I l semble bien qu'elle considère la question comme non pertinente, ou indécidable: c'est précisément le propre du sublime de forcer à considérer une œuvre non plus dans son rapport à la règle ou au modèle ( à la tradition), pas plus aux finalités de l'art (la délectation), mais seulement »dans sa capacité à surprendre«. A u fil de cette recherche d'occurrences, un »événement« fait date: la parution du Traité du sublime dans sa traduction par Boileau, en 1674. I l sert de pivot à la troisième et dernière partie de l'ouvrage: Pratique des textes sublimes. Boileau semble donner le coup d'envoi d'une certaine inflation critique sur le sublime. En particulier, i l entraîne un notable accroissement de »l'exemplification moderne« (p. 282) et la constitution de deux grands »massifs« de citations des contemporains: d'une part l'oraison funèbre; de l'autre »le modèle cornélien« (p. 347). Ces »massifs« viennent particulariser deux grands ensembles de référence, la prédication et la tragédie. O r ces références restent, au moins partiellement, hétéronomes: elles disposent chacune de leur propre corpus théorique ou critique, et d'ailleurs le travail d'exemplification s'accompagne rarement d'une »véritable théorie du sublime« (p. 389). C'est donc le point de vue extérieur du stylisticien qui permet de dégager ce qu'elles ont en commun: »parole vive« où le je qui parle »provoque non pas exactement la stupeur, mais le ravissement« (p. 390), l'élévation (selon l'étymologie), soit une »dimension transcendantale« (p. 391) que le traité de Longin avait déjà reconnue, et qui déborde »les cloisonnements littéraires«, à commencer par le partage entre le profane et le sacré. S'il faut distinguer les deux domaines, c'est au fond sur le critère seulement stylistique de deux sortes de sublime: celui »attique« de la concision (Corneille héritier ici de Démosthène), celui »asiatique« de l'amplification (Bossuet héritier de Cicéron). Ce qui les rassemble, c'est bien la conscience de l'effet produit, dont Sophie Hache considère, dans sa conclusion générale, qu'elle n'efface pas seulement les distinctions de genre, ou de style, mais »notre propre conception de ce qu'est la »littérature classiqueschöneohne FußnotenRettungsversuch< ist vorsichtig genug und kann deshalb überzeugen. Ein weiteres Verdienst der Untersuchung ist die Einordnung der Werke Swifts in die Tradition der Irland-Darstellungen. I m Vergleich zu anderen Arbeiten betont Rawson, daß diese Tradition maßgeblich von der Gleichsetzung der Iren mit Indianern, Afrikanern, Bettlern, Armen und Juden geprägt ist. Interessant ist der Nachweis, daß sich Wilde und Shaw bei ihrer Auseinandersetzung mit dem Problem der A r m u t Swift zum Vorbild nehmen. Nachdrücklich macht Rawson in seiner gewandt formulierten Arbeit darauf aufmerksam, daß vom Alten Testament bis zur Gegenwart, besonders aber vom Zeitalter der Entdeckungen bis zum Holocaust, das Denken und Sprechen über den Anderen von Begriffen wie Vertilgen, Ausrotten und Vernichten bestimmt wird. Indem er sich auf das »spectrum of aggressions which inhabit the space between such figures of speech and their implementation« (viii) konzentriert, leistet er einen wichtigen und nachdenklich stimmenden Beitrag zur neueren Forschung über die obsessive Beschäftigung des Westens mit dem barbarischen Anderen. Erfreulich ist, daß er angesichts dieses Spektrums der Aggressionen nicht in Verallgemeinerungen ausweicht, sondern versucht, jeweils genauer zu bestimmen, wie die Autoren mit ihren Vorurteilen gegenüber Anderen und ihren Selbstdefinitionen umgehen. Paul Goetsch, Freiburg i. Br.
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Susanne Bach (Hg.), Spiritualität und Transzendenz in der modernen englischsprachigen Literatur [Beiträge zur englischen und amerikanischen Literatur 19], Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh, 2001. 264 S. M i t der literarischen Inszenierung postmoderner Spiritualität widmen sich die i m vorliegenden Sammelband versammelten 14 Beiträge einer Problematik, die seit Mitte der 1990er Jahre in der kultur- und literaturwissenschaftlichen Forschung verstärkte Aufmerksamkeit findet. Die Brisanz zeitgenössischer Spiritualität beruht, wie Herausgeberin Susanne Bach in der hervorragenden Einleitung darlegt, auf dem Gegensatz zwischen der fortschreitenden, mit postmodernen Auflösungstendenzen einhergehenden Säkularisierung und einer »gesellschaftlichen Resakralisierung« (10) als Reaktion auf den Verlust »spirituell-religiöse[r] Bezugssysteme« (9). Diese »dialektische Gegenbewegung« (9) mündet am Ende des 20. Jahrhunderts, so die Ausgangsthese des Bandes, in einer postmodernen Spiritualität, die sich zum einen durch die Pluralisierung spiritueller Erscheinungsformen (Stichwort: »spiritualittes«, 10 f.) und zum anderen durch Ablösung von der Transzendenz - d. h. von einer einseitigen Ausrichtung auf das Ubernatürliche - und statt dessen Verankerung »in einer geschlossenen Immanenz« (14) auszeichnet. Auch in zeitgenössischen literarischen Repräsentationen von Spiritualität offenbart sich, wie Bach betont, ein immer schwächerer Bezug auf eine Sphäre der Ausschließlichkeit: Das Spirituelle w i r d zum »rein ästhetischen Phänomen« (13), verortet »im konkreten Jetzt und Hier weltlicher Erfahrung« (14). Die postmoderne Literatur produziert »säkular-spirituelle Texte« (15), die sich von überlieferten sakralen Texten und deren Sinnangeboten distanzieren, indem sie Mythen erneuern oder ersetzen. Zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen postmoderner spiritueller Literatur und traditionellen religiösen Schriften unterscheidet Bach vier Typen intertextueller Beziehungen: >Integration< (die literarische Reflexion religiöser Texte), >Extension< (Weiter- oder Umschreibung solcher Schriften), >Bruch< (explizite Negation einer Beziehung zu bekannten religiösen Uberzeugungen) und >Innovation< (Schaffung neuer >heiliger< Texte möglichst unabhängig von Prätexten). M i t dieser Typologie stellt die Herausgeberin ein für weitere Untersuchungen überaus nützliches >Werkzeug< für die Beschreibung des Spannungsverhältnisses zwischen >alter< und >neuer< Spiritualität bereit, auf das auch einige der nachfolgenden Beiträge zurückgreifen. I n nur je einem Aufsatz des Bandes werden dramatische und lyrische Thematisierungen postmoderner Spiritualität behandelt, wobei durch den Einbezug einer Fülle von Beispielen jedoch in beiden Fällen ein informativer Überblick über die Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte vermittelt wird. I n seinen Überlegungen zum englischen Drama der 1980er und 1990er Jahre unterscheidet Albert-Rainer Glaap zunächst drei Arten der Inszenierung von
Buchbesprechungen Spiritualität auf der Bühne, von denen er die ersten beiden - die Anknüpfung an dokumentarisches Material und die Bezugnahme auf die Bibel - knapp umreißt, u m sodann die dritte und häufigste - die Diskussion von Spiritualität i m Rahmen spezifischer Kontexte - am Beispiel der Dramen Once a Catbolic (1978) von Mary O'Malley, Woman in Mind (1986) von Alan Ayckbourn und Racing Demon (1990) von David Hare ausführlich zu illustrieren. Franz Links Beitrag zur amerikanischen Lyrik verdeutlicht anhand von etwa 20 Autorinnen der vergangenen zwei Jahrzehnte, daß »Glauben [ . . . ] ein akutes Thema in der Dichtung bis heute geblieben« (120) ist. Die aufgrund der großen Zahl der besprochenen Texte etwas kursorische Qualität von Links Gedichtanalysen ist durch die Repräsentativität dieses breit angelegten Überblicks über lyrische Inszenierungen von Spiritualität gerechtfertigt. Die restlichen Beiträge des Bandes untersuchen narrative Problematisierungen von Spiritualität in der zeitgenössischen englischen und amerikanischen Literatur. Alexandra Lembert skizziert in ihrer überzeugenden Interpretation »alchemistischer Spiritualität in Lindsay Clarkes Roman The Chymical Wedding« (1989) die Rolle der Alchemie als »Vermittlerin einer Spiritualität, die den Menschen über den Weg der Selbsterkenntnis zur Selbstverwirklichung führen kann« (46). Dieter Petzolds Untersuchung von »Religion in Terry Pratchetts Postmoderner Fantasy Fiction« illustriert die in Pratchetts »DiscworldRomanen« (1983-1999) zum Ausdruck kommende ambivalente Haltung zwischen der »spirituellen Tradition der Fantasy Fiction« (67) und tiefgreifender »Glaubensungewißheit« (66). Auch Folkert Degenrings komplexer Beitrag zu »Postmoderne und Transzendenz in Peter Ackroyds The Plato Papers« verweist auf die Widersprüchlichkeit postmoderner »Sinnhaftigkeit« (72), die in Ackroyds 1999 erschienenem Roman auf der »Generierung eines gleichermaßen flexiblen wie transzendenten sinnstiftenden Bezugssystems« (88) mit Hilfe der »Dekonstruktion kulturell und ideologisch vorgegebener epistemologischer und ontologischer Prämissen« (72) beruht. I m Anschluß an diese Analysen englischer Romane wenden sich vier weitere Beiträge der Rolle von Spiritualität in den Werken bekannter amerikanischer Romanautorinnen zu. Vera und Ansgar Nünnings umfassende Analyse von »Formen und Funktionen der literarischen Inszenierung von Spiritualität in John Irvings A Prayerfor Owen Meany« (1989) verdeutlicht, daß Irvings »Auseinandersetzung mit eher traditionellen christlichen Formen von Spiritualität« (125) das gleichwertige Nebeneinander »verschiedene[r] Deutungen« (139) religiöser und spiritueller Erfahrungen ins Zentrum rückt und so von einem »Funktionswandel des zeitgenössischen >religiösen< Romans« (125) zeugt. Daniel Göske illustriert mit seinen Überlegungen zu »Updikes theologische[r] Erzählkunst in Roger's Version«, daß der 1986 veröffentlichte Roman nicht auf eine Klärung von Sinnfragen abzielt, sondern mit Hilfe der irreführenden
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»Tricks« (164) des Ich-Erzählers und einer »ungewöhnlich komplexe[n] Vernetzung verschiedenster Diskurse, Texte und Themen« (151) Leser mit ungelösten Fragen »nach Ursprung, Einrichtung und Ziel des Kosmos oder nach der Existenz Gottes« (ibid.) konfrontiert. Auch Richard Fords Roman The Sportswriter (1986), mit dem sich Gerd Hurms aufschlußreicher Beitrag beschäftigt, zeichnet sich auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung durch eine widersprüchliche Inszenierung von Spiritualität aus, denn einerseits werden durch den Ich-Erzähler des Romans Vorstellungen von Transzendenz sowie »Sinnstiftungsmuster und Rituale christlicher Religion« (172) explizit kritisiert, andererseits führt jedoch die hochgradige Unzuverlässigkeit des Erzählers dazu, daß auch sein »Glaube an die reine Immanenz der Dinge« (ibid.) i m Verlauf des Romans zunehmend in Frage gestellt wird. Einer gänzlich anderen Facette von postmoderner Spiritualität widmet sich Bruno Friedrich Arich-Gerz mit seiner dekonstruktivistischen Lesart von Thomas Pynchons Gravity's Rainbow (1973), in der er das »notorische Moment verweigerter interpretatorischer Eindeutigkeit« (184) nicht als »quasi-religiös[e]« (ibid.) Dimension des Romans, die eine »spirituell-transzendentale« (ibid.) Auslegung nahelegt, interpretiert, sondern »als das produzentenseitig in den Text eingelassene Betriebsgeheimnis« (185), das sich gerade in der »Vergeblichkeit hermeneutischer Suche manifestiert« (ibid.). Die letzten vier Beiträge des Sammelbandes entfernen sich vom literarischen Mainstream und wenden sich diasporischen und postkolonialen Texten zu. Astrid Swifts höchst anregende Untersuchung der Koexistenz von »indianische[n] und christliche[n] Glaubensvorstellungen« (194) i n den Romanen Tracks (1988) und Love Mediane (1984/1993) von Louise Erdrich verdeutlicht, welchen Beitrag eine Verbindung aus holistischem indianischen Schamanismus und christlichen Glaubensvorstellungen zur Uberwindung der i m Dualismus des »christlich/westlichen Denkens« (204) angelegten Entfremdung von der Natur zu leisten vermag, K u r t Müllers kenntnisreicher Beitrag zu Cynthia Ozick illustriert die »moralische Komplexität und Vielschichtigkeit« (223) des »>liturgischen< Kunstkonzepts« (ibid.) der jüdisch-amerikanischen Autorin, indem er ihre Essays, die explizit eine ethnozentrische »religiös[e] Definition von Jüdischkeit« (212) propagieren, mit ihren Romanen kontrastiert, in denen eine »selbstkritische Auseinandersetzung mit den Ambiguitäten, Widersprüchen und Unvollkommenheiten [ . . . ] der eigenen, jüdischen Kultur« (218) zu Tage tritt. Elmar Schenkels gedankenreiche Überlegungen zur literarischen Verarbeitung spiritueller Erfahrungen westlicher Indienreisender in einer Reihe zeitgenössischer Reiseberichte und Essays, z. B. William Sutcliffes Are You Experiencedf (1997) und Gita Methas Karma Cola: Marketing the Mystic East (1993), veranschaulichen, auf welche Weise gerade die für die Reiseliteratur charakteristische Vermischung von Fiktion und Nichtfiktion, von verschiede-
Buchbesprechungen nen Gattungen und von unterschiedlichen Stilarten der »heterogene[n], überwältigendein] Erfahrung, die Indien für die meisten westlichen Reisenden bis heute darstellt« (242), Ausdruck verleiht. Der abschließende Beitrag von Bernd Engler beschäftigt sich am Beispiel des Romans A Discovery of Strangers (1994) des Kanadiers Rudy Wiebe, in dessen Zentrum ein rewriting der Arktis-Expedition John Franklins von 1823 aus der Perspektive der Native Canadians steht, ebenfalls mit der literarischen »Bewußtmachung der kulturellen Bedingtheit [ . . . ] religiöser bzw. spiritueller Auffassungen« (251). Englers anschauliche Darlegungen schließen mit der Erkenntnis - die zugleich als Resümee des gesamten Bandes gelten kann - , daß »mit der postmodernen Destabilisierung herkömmlicher >belief systems< [ . . . ] ein Gegendiskurs der Aufwertung des Spirituellen [ . . . ] einhergeht« (257) und daß diese zeitgenössische »Dekonstruktion der Begründungsmythen unserer Kultur« (ibid.) eine zentrale Rolle i m Prozeß »der kritischen Vergewisserung der Grundlagen menschlicher Spiritualität« (ibid.) einnimmt. Als Fazit läßt sich festhalten, daß die von Bach in der Einleitung skizzierten Tendenzen der Immanenz und Pluralisierung postmoderner Spiritualität durch die Heterogenität und das hohe Niveau der Beiträge - die auf vorbildliche Weise neben den Gattungen von Prosa, Lyrik und Drama auch Textsorten i m Grenzbereich von Fiktion und Nichtfiktion und neben Werken bekannter englischer und amerikanischer Autoren und Autorinnen auch diasporische und postkoloniale Texte berücksichtigen - eindrucksvoll bestätigt werden. Entgegen allen postmodernen Kassandra-Rufen belegt die Lektüre des uneingeschränkt zu empfehlenden Bandes, der zudem eine weiterführende Auswahlbibliographie enthält, daß Spiritualität für die Sinnsuche des Menschen am Anfang des 21. Jahrhunderts nach wie vor von überragender Bedeutung ist. Bruno Zerweck , Gießen
Erzählte Identitäten. E i n interdisziplinäres Symposion, hg. Michael N e u m a n n [Reihe Kulte/Kulturen], München: Fink, 2000. 303 S. »Die meisten Menschen sind i m Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler«, bemerkt bereits der Mann ohne Eigenschaften } Die mit dieser Diagnose verbundene K r i t i k an der ebenso »primitiven« wie täuschenden Eindimensionalität des Erzählens (will sagen an der vermeintlichen »Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf einen Faden, eben jenen berühmten >Faden der ErzählungErzählen< galt weithin als unterkomplex angesichts der Pluralität und Inkohärenz der modernen Welt(erfahrung), seine Identitätsbildungsfunktion als ideologieverdächtig. Seit einiger Zeit hingegen w i r d die Erzählung eben von Forschungen zu ihrer lebensweltlichen Funktion her wieder erheblich freundlicher betrachtet. Viel zu dieser Umwertung beigetragen haben psychologische Studien, die die tragende »Rolle des Erzählens beim Auffassen und der unwillkürlichen Strukturierung unserer Realität [ . . . ] : unserer Umwelt, unserer Wahrnehmung von Menschen und Gruppen, unserer Selbstwahrnehmung« (7) herausarbeiten. Aber auch Philosophen, Historiker und Soziologen haben gezeigt, daß - so der einleitende Forschungsüberblick des anzuzeigenden Bandes - »die Konstitution, Stabilisierung und Transformation individueller wie kollektiver Identitäten auf Erzählen angewiesen sind« (7). Zugleich hat die Erzählforschung sich stark diversifiziert, disziplinär ebenso wie in ihren Wertungen bzw. weltbildlichen Prämissen: Neurologischen Untersuchungen stehen Romananalysen gegenüber, die allein auf textuelle Strategien achten; anthropologische Modelle, die das Erzählen von seiner Unverzichtbarkeit für die gesellschaftliche Integration herleiten, konkurrieren mit dekonstruktivistischen Lektüren, die das Scheitern aller narrativen Identitätsbildung nachzuweisen suchen. Daß er die damit nur punktuell angedeutete Spannweite der aktuellen Erzählforschung i n außergewöhnlicher Breite dokumentiert, ist nicht das geringste Verdienst des von Michael Neumann herausgegebenen Bandes. Hervorgegangen aus einer Tagung an der Katholischen Universität Eichstätt, versammelt er die Beiträge von 15 Autorinnen und Autoren, Literaturwissenschaftlern (P. Goetsch, M . Neumann, J. Raab, C. Rosenthal, W. Wehle), Psychologen (B. Boothe, H . Markowitsch, R. Schumann-Hengsteier), Psychoanalytikern (A. Hamburger, K . Röckerath), Ethnologen (H. Friese, B. Röttger-Rössler), Historikern (M. Maurer, A . v. Plato) sowie einem Ägyptologen (J. Assmann). Vollständig ist der jüngste multidisziplinäre Forschungsschub der Narratologie damit nicht dokumentiert, doch weist die mit schätzenswertem M u t zum Überblick auftretende Einleitung des Herausgebers auch auf Disziplinen wie die Geschichtstheorie oder die Soziologie, die nicht mit eigenen Beiträgen vertreten sind. N u n kann der Literaturwissenschaftler viele der Beiträge keiner Besprechung i m üblichen Sinne, also einer sachlichen Prüfung, unterziehen; stattdessen sei eine knappe Zusammenschau der hervorstechendsten Ergebnisse versucht und gefragt, ob und ggf. wie sich diese trotz teilweise fundamentaler Divergenzen korrelieren lassen. Die Gliederung des Bandes stellt heraus, daß geradezu gegensätzliche Deutungen des Erzählens möglich sind: der erste Abschnitt versammelt Studien zur
Buchbesprechungen narrativen »Arbeit an der Identität«, soweit sie grosso modo gelingt, während der zweite mit deren »Problemen und Grenzen« beschäftigt ist. Indem die Beiträge der verschiedenen Disziplinen in beiden Abschnitten gemischt auftreten, leitet die Gliederung diese Gegensätze aber nicht aus dem jeweiligen disziplinären Ansatz ab. So beschreiben die literaturwissenschaftlichen Beiträge von Paul Goetsch und Michael Neumann >gelingende< Identitätskonstruktionen i n Robinson Crusoe bzw. i m Bildungsroman und i m Zaubermärchen, während Caroline Rosenthal und Josef Raab i m zweiten Abschnitt die narrative Problematisierung oder gar Destruktion von Identitäten aufdecken. Trotzdem machen sich disziplinbedingte Präferenzen in der Auffassung und Wertung des Erzählens bemerkbar: Aus psychologischer Sicht werden durchgängig die Leistung und die Chancen des Erzählens betont; Leitfrage ist hier, warum und in welcher Weise das Erzählen den Menschen zur Orientierung in der Welt befähigt. Erzählen interessiert in diesem Fall als anthropologische Grundausstattung. Besonders deutlich machen das die Beiträge des dritten Abschnitts, die die »Psychogenese des Erzählens« untersuchen. Problematisch w i r d das Erzählen erst dort, w o seine kulturell konditionierte und kulturell diversifizierte Anwendung zur Debatte steht. Das kann heißen, daß von ethnologischer Seite auf Kulturen verwiesen wird, in denen eine starke Gemeinschaftsorientierung keinen Raum für autobiographische Erzählungen läßt (so der Beitrag von Birgitt Röttger-Rössler über narrative Selbstrepräsentationen in malaiisch-indonesischen Kulturen). Vor allem aber geben Texte Anlaß zu der Beobachtung, daß narrative Identitätskonstruktionen in praxi nie so bruchlos funktionieren, wie anthropologische oder psychologische Modelle dies entwerfen (von Texten aus argumentiert, neben den vorgenannten Beiträgen von Rosenthal und Raab, auch Heidrun Friese, die, mit Bezug auf Benjamin und Derrida, dissoziierte »Bilder der Erinnerung« als >ehrlicheres< Gegenmodell zur >linearen< Erzählung stark macht). Was sich in dieser multidisziplinären Konstellation abzeichnet, ist eine Grenze zwischen identitätsstiftenden und identitätsproblematisierenden Erzählungen, die dort verläuft, w o Erzählung nicht mehr als psychologisches Muster, sondern als textuelles Ereignis auftritt. Z u m Text geronnen und in einen mehr oder weniger großen Abstand von lebensweltlicher Pragmatik gesetzt, kann das zur Geltung kommen, was den (nach Ausweis der psychologischen und anthropologischen Erzählforschung) ursprünglichen identitätsbildenden Zweck konterkariert. Das heißt nicht, daß die Erzählung sich i m Text stets selbst angriffe; vielmehr handelt es sich bei einer solchen Lektüre u m eine Beobachtungsmöglichkeit: Texte lassen sich so - nämlich mehr oder weniger >dekonstruktiv< lesen, und das gilt w o h l auch für jene literarischen Erzählungen, die i m ersten Abschnitt des Bandes als Beispiel für >gelingende< Identitätsbildungen angeführt werden.
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Wie prinzipiell die avancierten Textlektüren des Bandes dessen primär von der Psychologie inspirierter Ausgangsthese widerstreiten, w i r d vom Herausgeber als Problem leider nicht reflektiert, obwohl es in interdisziplinärer H i n sicht als die besondere Leistung des Bandes anzusehen ist, dasselbe wenn nicht explizit, so doch deutlich zu exponieren. Als Sammlung von untereinander kaum je vernetzten Einzelstudien - die i m Titel reklamierte /«ierdisziplinarität kommt nur selten zustande - bleibt der Band naturgemäß weit davon entfernt, das schwierige Verhältnis zwischen der Identitätsfunktion des (alltäglichen) Erzählens und deren (häufig) literarischer Problematisierung zu klären. D o c h bildet er, als Ganzes, ein starkes Plädoyer dafür, diesem Verhältnis künftig mehr Beachtung zu schenken. Was auf diesem Weg erreicht werden könnte, wäre nicht weniger als eine über die übliche textwissenschaftliche Interdisziplinarität hinaus ausgeweitete und vernetzte Erzählforschung. Die literaturwissenschaftliche Narratologie könnte davon nicht nur in der Hinsicht profitieren, daß sie sich stärker der Grenzen ihres auf Texte und deren Techniken zentrierten Zugangs (und der begrenzten Geltung der aus ihren Analysen gezogenen Schlüsse) bewußt würde. 2 Daniel Fulda , Köln
A r m i n Paul Frank u n d K u r t Mueller-Vollmer, The I n t e r n a t i o n a l i t y of N a t i o n a l Literatures i n Either America: Transfer and Transformation. V o lume 1/2: British America and the U n i t e d States, 1770s-1850s. Göttingen: Wallstein, 2000. 398 S. Der vorliegende Band entstammt dem Umfeld des Göttinger Sonderforschungsbereichs 529, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Internationalität nationaler Literaturen, d. h. die konstitutive Rolle des intertextuellen Dialogs, aber auch der personalen und institutionellen Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen Literaturen einem besseren Verständnis zu erschließen. I m Horizont dieses grundsätzlichen Erkenntnisinteresses und i m unmittelbaren Anschluß an die theoretischen Vorüberlegungen und Problemaufrisse, die der Vorgängerband in Form einer Aufsatzsammlung präsentiert, 1 zielen die beiden Autoren mit ihrer Gemeinschaftsarbeit nun darauf ab, die Genese und Entwicklung der anglo-amerikanischen Literatur bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts stärker als bisher i m internationalen Kontext einer »Atlantic reading cul2 Mit dem geschichtstheoretischen Narrativismus ist ein entsprechender Dialog in den letzten Jahren bereits intensiv geführt worden, so daß es doppelt bedauerlich ist, daß der Band gerade dieses Forschungsfeld ausspart. 1 Armin Paul Frank und Helga Essmann (Eds.), The Internationality of National Literatures in Either America: Transfer and Transformation . Volume I /1: Cases and Problems (Göttingen 1999). Dieser Band versammelt Aufsätze, die sich mit der internationalen >Verflechtung< sowohl der nord- als auch der südamerikanischen Literatur befassen.
Buchbesprechungen ture« zu verorten. Dabei versteht sich die Untersuchung dezidiert als exemplarische Teststudie, die das heuristische Modell für eine zukünftige »realistic history of literature« bereitstellen und erproben will. Diese soll die bewußt verengend-national(istisch)e Perspektive der traditionellen Literaturgeschichtsschreibung aufsprengen, die nicht zuletzt auch in den USA mit der Behauptung einer primär inneramerikanischen Traditionsbildung lange Zeit den Blick auf die vielfältigen literarischen Rezeptionsverhältnisse zwischen den Vereinigten Staaten und Europa verstellte. I m Sinne des programmatischen Anliegens der Studie entwickelt A r m i n Paul Frank in einem ersten, methodologischen Teil zunächst ein analytisches Instrumentarium von allgemeinem Geltungsanspruch, mit dessen Hilfe es ermöglicht werden soll, diese äußerst komplexen Rezeptionsverhältnisse auf zwei grundsätzlichen Ebenen zu beschreiben: Z u m einen w i r d ein begriffliches Raster entwickelt, u m Transferbewegungen auf der Ebene des »literary life« zu analysieren, d. h. auf der Ebene der personalen Netzwerke von literarischen Mittlerfiguren oder Mediatoren, die wiederum in ihre ganz spezifischen historischen Rahmenbedingungen einzubetten sind. Z u m anderen erstellt Frank einen Katalog von literarischen Strategien oder Transformationsverfahren, mittels derer sich auf der Ebene des konkreten Text-Text-Kontakts spezifizieren läßt, wie Autoren der aufnehmenden Kultur (»task culture«) ihre Werke in abweichender Bezugnahme auf solche aus dem bestehenden kulturellen Reservoir der Quellkultur (»source culture«) verfassen. Neben einer Ausdifferenzierung der verschiedenen Ebenen und Objekte der Bezugnahme schlägt Frank hierbei eine Anzahl von unterschiedlichen M o d i der Bezugnahme vor, etwa die affirmative, die negierende oder auch die ironische Referenz. Als nächster Schritt w i r d dieser terminologische Apparat in ein spezifisch anglo-amerikanisches Stufenmodell überführt, das für die verschiedenen Phasen der kolonialen und postkolonialen amerikanischen Literaturgeschichte jeweils eine Reihe alternativer »response strategies« ansetzt, derer sich die Autoren in ihrer von affirmativ-imitativ bis kreativ-unterminierend reichenden Auseinandersetzung mit der Literatur des kulturellen Mutterlands, aber auch mit Modelltexten anderer Nationen bedienen. O b w o h l diese theoretische Konzeption in sich durchaus sehr überzeugend ist und fraglos der weiteren Forschung zahlreiche Anregungen bieten wird, kommt der Leser, zumal nach Lektüre des gesamten Buches, doch nicht umhin, zwei Kritikpunkte zu äußern: Einerseits w i r d keine konsequente und systematische Umsetzung des analytischen Apparates vorgenommen, was sicherlich nicht zuletzt seinen Grund darin hat, daß der Band zu seinem größten Teil aus bereits publizierten Arbeiten der beiden Verfasser zusammengesetzt ist. Damit bleiben viele der wertvollen Überlegungen aus dem ersten Teil ohne nachhaltigen Anschluß, und auch die durch einen analytischen Apparat suggerierte Vergleichbarkeit und Vernetzung der epochenspezifischen
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Ergebnisse ist nicht immer gewährleistet. Weiterhin wäre es für die Fundierung der von den Autoren als »writer-response-theory« betitelten Methodik fruchtbar gewesen, in stärkerem Maße die ja mittlerweile sehr breite Forschung zur Intertextualität - selbst >Klassiker< wie Bachtin, Bloom oder Genette werden nicht berücksichtigt - einzubeziehen. Die eindeutige Stärke der Studie liegt denn auch in den konkreten Einzelanalysen des zweiten Teils, mit ihren jeweils eigenen Schwerpunkten und Zugangsweisen. Hier kommt in beeindruckender Weise das profunde literaturgeschichtliche Wissen und vor allem die hohe komparatistische Kompetenz der Autoren voll zur Geltung. Die von Frank verfaßten Interpretationskapitel sind den unterschiedlichen transformativen Bezugsweisen amerikanischer Texte zur Literatur des kulturellen und sprachlichen Mutterlandes und den wechselnden, sie motivierenden ideologischen Positionen gewidmet: I n einer einleitenden Rückschau auf die Kolonialzeit w i r d zunächst eindrucksvoll gezeigt, wie Ebeneezer Cook(e)s The Sot-Weed Factor (1708) in subtiler Weise die satirische Perspektive seines englischen Modells, Samuel Butlers Hudibras (1662), gegen sich selbst wendet und damit den imperialen Gestus des Verlachens unterläuft. Eine zweite >Probebohrung< w i r d i m Genre der Pastorale während der Revolutionsepoche vorgenommen, w o die Repräsentanten der verschiedenen ideologischen Gruppierungen - also etwa ein Loyalist wie Thomas Coombe und ein Revolutionär wie Timothy D w i g h t - sehr aussagekräftige Differenzen in ihren affirmativ-nachahmenden bzw. aggressiv-anverwandelnden Bezugnahmen auf den englischen Modelltext The Deserted Village (1770) von Oliver Goldsmith aufweisen. Auch die Interpretation der spezifisch postkolonialen »transfer shifts«, die James Fenimore Cooper bei seinen zunehmend subversiven Adaptionen des »historical romance«-Modells von Walter Scott vornahm, weiß durchaus zu überzeugen. Schließlich liest Frank in luzider A r t und Weise noch ein Korpus kanonischer short stories des 19. Jahrhunderts - u. a. Poes »Man of the Crowd« (1840) und Melvilles »Bartleby, the Scrivener« (1853) - nicht nur unter Berücksichtigung ihrer motivischen und strukturellen Binnenbeziehungen, sondern v.a. auch i m H i n b l i c k auf ihre vergleichbaren Umarbeitungen englischer Prätexte i m Sinne einer >existenzialistischen< Weltdeutung. Eingelagert in diese weitgehend auf der Ebene der konkreten textuellen Transformation angesiedelten Lektüren, konzentrieren sich die von Kurt Mueller-Vollmer verfaßten Kapitel eher auf die Ebene des »literary life« und den ideengeschichtlichen Transfer zwischen deutscher Romantik und amerikanischem Transzendentalismus. Z u Recht sieht Mueller-Vollmer in der idealistischen Philosophie und den revolutionären Schreibverfahren deutscher Literaten u m 1800 ein äußerst wirkungsmächtiges Gegenmodell, dem sich dieser Kreis von neuenglischen Autoren in ihrem Bemühen u m eine Emanzipation vom englischen Diskurs zuwandte. Ebenso zu Recht w i r d hier auf ein erhebliches Forschungs-
Buchbesprechungen desiderat hingewiesen, das - nicht zuletzt aufgrund der vorherrschenden »nativist attitude« vieler einflußreicher Studien zu dieser Epoche - hinsichtlich einer differenzierteren Aufarbeitung dieser so fruchtbaren Phase deutsch-amerikanischer Kulturbeziehungen leider immer noch besteht. I n diesem Sinne ist auch Mueller-Vollmers quellengeschichtlich aufwendig recherchierter und mit viel Sachverstand vorgetragener Rekonstruktion sowohl der diesen Austausch erst ermöglichenden personalen und institutionellen Netzwerke als auch der zentralen Konzepte und Philosopheme dieses Austausches selbst die größte Hochachtung zu zollen. Es gelingt ihm nicht nur, einige der bekannteren Mediatorfiguren - so etwa George Bancroft als Vermittler eines historisch-kulturellen Nationalismus i m Sinne Herders oder Germaine de Staél als Interpretin und Multiplikatorin (post-)kantianischer Philosophie - in ein neues, ihrer zentralen Bedeutung angemesseneres Licht zu rücken. Darüber hinaus wartet er auch mit einigen ebenso überraschenden wie bedeutsamen neuen >Funden< auf, so etwa, wenn er die wichtige Rolle von heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Denkern wie dem Philosophen Jakob Friedrich Fries oder dem Theologen W i l helm Martin Lebrecht De Wette aus den Werken ihrer amerikanischen Leser und Übersetzer herauspräpariert. Allerdings läßt sich fragen, ob bei aller Zustimmung, die man dieser Neuakzentuierung der Signifikanz deutscher Kultur für viele Texte der American Renaissance entgegenbringt, nicht doch deutliche Einschränkungen mit Blick auf Mueller-Vollmers emphatisch vorgetragene Gesamtthese angebracht wären, wenn diese postuliert, der Transzendentalismus sei seinem tiefsten Wesen nach ein Weiter- und Zuendeschreiben der deutschen Romantik auf amerikanischem Boden. So ist nicht zuletzt hinsichtlich von U r teilen, wie etwa dem, daß Emerson »as an original German genius writing in a variety of American English« (14) zu betrachten sei, w o h l die Bemerkung angebracht, ob hier nicht die »nativist attitude« der traditionellen amerikanischen Literaturgeschichte durch eine neue A r t reduktionistischer Deutung ersetzt zu werden droht. Vor diesem Hintergrund kann es auch kaum überraschen, daß es Mueller-Vollmer gelegentlich schwer fällt, das Besondere und Eigenständige von Autoren wie Emerson wirklich i m Detail zu benennen, welches er in abstrakter Form wiederholt postuliert. Dies wäre sicherlich leichter gefallen, wenn er der post-idealistischen, proto-pragmatistischen Seite des emersonschen Denkens und Schreibens, welche i n der Forschung der letzten zehn Jahre verstärkt beleuchtet wurde, mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Gerade mit Blick auf Mueller-Vollmers außergewöhnliche Vertrautheit mit der deutschen wie auch der amerikanischen Literatur ist es bedauerlich, daß er sich nicht der bislang noch weitgehend unbeantworteten Frage zugewendet hat, wie dieser nachromantische Emerson gerade in der kritischen (intertextuellen) Auseinandersetzung mit dem deutschen Modell seine differente Position bezieht. Auch hätte man es sich gewünscht, daß die poetologischen Reflexionen der behandel-
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ten Autoren zum Thema der Nachahmung bzw. zur Intertextualität stärker berücksichtigt werden. Hier hätten sich mit Sicherheit entscheidende Ergebnisse zu Tage fördern lassen, u. a. w o h l die Erkenntnis, daß das Spezifikum einiger transzendentalistischer Autoren w o h l darin zu sehen ist, daß sie das aus dem deutschen Diskurs der Romantik importierte Konzept einer historistischessentialistisch gedachten nationalen >Eigenliteratur< als solches zu problematisieren begannen (vgl. etwa Emersons »Quotation and Originality«). Diesem Konzept sind die Verfasser des vorliegenden Bandes selbst aber noch insofern indirekt verhaftet, als sie das Wesenhafte der amerikanischen >Eigenliteratur< gerade in einer Tradition spezifischer Strategien der Bezugnahme auf die englische oder eben auch deutsche Nationalliteratur suchen wollen, wobei diese dann ihrerseits als gleichsam essentialistische und organisch in sich geschlossene Bezugsmodelle vorgestellt werden müssen. Solche kritischen Fußnoten wollen aber das insgesamt große Verdienst des Bandes nicht schmälern. Daß sie überhaupt formuliert werden können, ist selbst schon ein Ergebnis der vorliegenden Studie und verdeutlicht letztlich nur, daß es A r m i n Paul Frank und K u r t Mueller-Vollmer in eindrucksvoller Weise gelungen ist, einem seit dem Absterben der traditionellen Einflußforschung häufig vernachlässigten Forschungsfeld neue Impulse zu verleihen. Hierdurch haben sie fraglos den Anstoß für viele weitere Überlegungen und Arbeiten auf diesem Gebiet gegeben. Jan Stievermann, Tübingen
Multiperspektivisches Erzählen: Z u r Theorie u n d Geschichte der Perspektivenstruktur i m englischen R o m a n des 18. bis 20. Jahrhunderts, hg. Vera u n d Ansgar N ü n n i n g . Trier: W V T Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2000. 362 S. Der zu besprechende Band nimmt mit der Multiperspektivität ein zentrales Phänomen der Erzählkunst erstmals aus theoretischer Sicht systematisch und umfassend in den Blick und legt zugleich eine Reihe von Fallstudien zur Perspektivenstruktur englischer Romane der letzten drei Jahrhunderte vor. Der Band ist zwar als Sammelwerk angelegt, aber er besitzt insofern Einheitlichkeit, als alle Beiträge auf die i m ersten Teil des Bandes vorgenommene begriffskritische und theoretische Grundlegung der beiden Herausgeber, Vera und Ansgar Nünning, referieren. Die Herausgeber beziehen sich auf die am Beginn der Moderne etwa durch Nietzsche artikulierte philosophische Einsicht, dass alles Wahrnehmen und Erkennen standortgebunden (»perspektivisch«) ist, und betonen, dass die Literatur und speziell der Roman einen großen »Anteil daran hatte, Menschen für die Perspektivengebundenheit von Erfahrungen, Erkenntnis und Geschichte(n) zu sensibilisieren.« (3) Hier zeigt sich eine i n den N ü n -
Buchbesprechungen ningschen Arbeiten vielfach hervortretende begrüßenswerte Überzeugung, nämlich dass Literatur Modelle des Weltverstehens bereitstellt und somit zum Wirklichkeitsverständnis und auch zur Wirklichkeitskonstitution beiträgt. I n dem einleitenden Kapitel stellen Vera und Ansgar Nünning Überlegungen zur Definition und Konzeptualisierung von Multiperspektivität in narrativen Texten an. Sie weisen auf die dem ursprünglich visuell-optischen Perspektivenbegriff (lat. perspicere = >hindurchsehenwahrnehmenerkennen< usw.) zugewachsene kognitive Komponente hin. (8) Für die Erzähltheorie relevant sei das moderne relativistische Perspektivitätsverständnis, demzufolge die Perspektive stets subjektiv sei und zu individuellen Weltkonstruktionen führe (10). Die Verwendung des Begriffs der Erzählperspektive in der Romantheorie sei notorisch vage, weshalb Genette ihn in seiner Explikation der Struktur der erzählerischen Vermittlung vermieden und die Kategorien von narration und focalization eingeführt habe. (11) Exakter und heuristisch hilfreicher als »die unklare romantheoretische Verwendung des Perspektivenbegriffs« seien Manfred Pfisters dramentheoretische Begriffe >Figurenperspektive< und >PerspektivenstrukturSchwellentexte< verwendet Vf. den Ausdruck >verbale RahmungenDer Kampf der Geschlechter sowie Troilus and Cressida als problematische Komödie unter der Überschrift >Liebe und KriegTudor Myth< bietet Baumann eine Auflistung der Regenten, ihrer Regierungszeit und der ihnen zuzuordnenden Dramen (54).
Buchbesprechungen behandelt als Tragödien dann den Fall der Großen der Weltgeschichte: Julius Caesar als Römertragödie, Macbeth als Tragödie der Macht, Hamlet als Rachetragödie und Romeo and Juliet als Liebestragödie. Dieser ausschnittweise Überblick über Shakespeares 36 Dramen w i r d nun durch einen - ein Drittel des Bandes umfassenden - Ausblick auf »Shakespeares Zeitgenossen kontextuiert, der eine Liste der Hauptwerke der wichtigen Bühnenautoren zwischen 1580 und 1642 präsentiert (104-108, ca. 80 Nennungen) U n d an diese Ubersicht schließen sich wiederum neun kurze Präsentationen einzelner Dramen an, von Christopher Marlowes Tragedy of Dido und Ben Jonsons Every Man in His Humour zu John Websters White Devil und Thomas Middletons A Game at Chesse - bis hin zu Elizabeth Carys Lese- bzw. Rezitationsdrama Tragedy of Miriam. Für die so angelegte Einführung bleibt aber das grundsätzliche Problem bestehen, Shakespares Werk in seiner unvergleichlichen Wirkung und zugleich i n seiner Zeitgebundenheit zu illustrieren. 4 Zusammen mit Vera N ü n n i n g stellt der Reihenherausgeber selbst die Englische Literatur des 18. Jahrhunderts vor: 5 Ziel ist die Vermittlung eines Überblicks über die englische Literatur von 1700 bis 1800, der die etablierten Epochenbilder zwischen Klassizismus und Romantik neu verortet und ihre Hauptfiguren wie Alexander Pope, Daniel Defoe, Samuel Richardson, Henry Fielding, Tobias Smollett und Laurence Sterne neu bewertet. Vff. skizzieren die dramatischen Veränderungen i m 18. Jahrhundert als soziale, wirtschaftliche und >mentalitätsgeschichtliche< Rahmenbedingungen für die ebenso signifikanten Entwicklungen innerhalb des literarischen Systems: hier sind es vor allem der Aufstieg des Romans und der >domestic tragedys die die veränderten Produktions- und Rezeptionsbedingungen hin zu einer Professionalisierung und Kommerzialisierung der gesamten Lese- und Schreibkultur markieren. Als Zauberworte der Epoche nennen Vff. »commerce« und »news« und illustrieren diese bürgerliche Emanzipation i m Zeichen von Höflichkeit und Empfindsamkeit i m Uberblick über die populären Prosagattungen »im Grenzbereich zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion« - mit der Ausdifferenzierung des literarischen Systems in Subgenres wie Briefe, Memoiren, Traktate, Ratgeber, Almanach und Chapbook, Reisebericht und Essay sowie die moralischen Wochenschriften, Magazine und Zeitungen. 4
Für eine erste knappe Information muß man weiter auf den Shakespeare Kommentar zu den Dramen y Sonetten , Epen und kleinen Dichtungen , hg. Werner Habicht u. a m i t einer Einführung von Wolfgang Clemen (München 1968) zurückgreifen bzw. Ina Schaberts Shakespare-Handbuch (Stuttgart 31992) zu Rate ziehen. 5 Leider ohne Hinweis auf Dietrich Schwanitz' Englische Kulturgeschichte (Tübingen 1995), die sich mit zwei Bänden an die hier vorgestellte Schnittstelle annähert - Die frühe Neuzeit 1500-1760 und Die Moderne 1760-1914 - und grundsätzlich auch für Studenten empfehlenswert ist.
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Die englische Lyrik der Epoche w i r d dann in drei Phasen vorgestellt: dem Klassizismus von 1700 bis 1740, einer Zeit des Nebeneinanders verschiedener Strömungen von 1740 bis 1770 und der Vor- und Frühromantik von 1770 bis 1800, jeweils mit einer Merkmalsliste illustriert (57/58). Für das englische Drama des 18. Jahrhunderts referieren Vff. als zentrale Momente die >Verbürgerlichung< und Privatisierung des Tragischen wie des Komischen nach dem >Theatre Licensing Act< von 1737 sowie die Entwicklung eines neuen Spielund Aufführungsstils. Das Augenmerk allerdings verlagert sich hierbei umgehend auf das zentrale literarische Phänomen der Epoche - den Roman: »Die Bedeutung des englischen Dramas des 18. Jh.s gründet nicht zuletzt auch darin, dass diese Gattung paradoxerweise viel zum sogenannten Aufstieg des Romans beigetragen hat« (116). A u f diverse Vorläufer der Gattung folgt eine Merkmalsliste der Abgrenzung der romance von der novel (123). 6 Dann reihen Vff. zentrale Romane und Romanautoren aneinander - von Defoes Abenteuerromanen zu Richardsons psychologischem Realismus i m Briefroman. Es folgen ein Exkurs zur neo-klassizistischen Romantheorie (Fielding), ein Ausblick auf den >weiblichen Erziehungsromans eine Zusammenstellung zu Sterne und Oliver Goldsmith, ein Verweis auf den Schauerroman (Horace Walpole, Clara Reeve, A n n Radcliffe und M . G. Lewis) sowie die Kategorie des »politischen Ideenromans< (Mary Wollstonecraft und William Godwin). Zusammenfassend stellen Vff. fest: »Romane konnten nicht zuletzt deshalb zu einem einflussreichen Medium kultureller Sinngebung avancieren, weil sich die narrativen Formen dieser neuen Gattung in einer Epoche, in der wesentliche Momente des Wirklichkeitsmodells in unterschiedlichen Diskursen in Frage gestellt und verändert wurden, vorzüglich als Forum für konkurrierende Diskurse und Ansichten eigneten« (171). Vera N ü n n i n g präsentiert i m Band Der englische Roman des 19. Jahrhunderts vier historische Abteilungen zur Gliederung der Gattungsentwicklung wie der Ausweitung des Lesepublikums vom Zeitalter der Romantik bis zu den naughty nineties; dabei ordnet sie die beiden Phasen des Viktorianischen Romans u m das annus mirahilis 1859 an - das Jahr, in dem George Eliots (alias Mary A n n Evans') Adam Bede und George Merediths Ordeal of Richard Feverel erscheinen, aber auch Samuel Smiles' Self-Help , John Stuart Mills On Liberty und vor allem Charles Darwins On the Origin of Species. Von diesem geistesgeschichtlichen Einschnitt aus bietet ihr Blick zurück ein Panorama fik-
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Die Verwendung des Begriffs >Romanze< ist hier wie im folgenden Band - speziell für den Zweck einer Einführung - irreführend, da er im Deutschen seit Gleims Lieder y Fabeln und Romanzen (Leipzig 1758) eine lyrische Gattung bezeichnet und nicht die Erzählkonventionen der romance aufruft.
Buchbesprechungen tionalen Erzählens in der Nachfolge von Walter Scott und Jane Austen: von Schauerroman und Historischem Roman zum >weiblichen Entwicklungsr o m a n der Brontes, zum »politischen RomanSozialroman< und zum »religiösen RomanViktorianischen Leitbegriffen< (19) bzw. zu Walter Houghtons Victorian Frame of Mind (13), den »Prinzipien realistischen Erzählens< (27) und der »auktorialen Erzählsituation< (34), finden ihre populärste Umsetzung in Charles Dickens' frühen und mittleren Romanen, die »Komik, Sentimentalität und Sozialkritik« in exemplarischer Weise verbinden, ihre reflektierteste jedoch i n William Thackerays »parodistische[m] Gesellschaftsroman«. Die hier zitierten Konflikte der individuellen Persönlichkeitsentwicklung einerseits (Bildungsroman) wie der sozialen Entwicklung Englands vor dem Hintergrund wachsender Spannungen und gesellschaftlicher Verwerfungen andererseits bestimmen auch den hochviktorianischen Roman (1859-1880), doch verbreitert sich die Spannweite zwischen der verlässlichen Wirklichkeitsabbildung - etwa bei Anthony Trollope - und der Flucht in fantastische wie sensationelle Fiktionen von Richard Blackmore bis Wilkie Collins. Neben den vielen populären historical romances und sensation novels führt die zunehmende Professionalisierung der englischen Schriftsteller aber auch zur novel of ideas , zum polyperspektivischen Erzählen des psychologischen Realismus einer George Eliot, deren sieben Romane die viktorianischen Ideale gerade der Familie (. Angel in the House) und der innerfamiliären Beziehungsgeflechte einer radikalen K r i t i k unterziehen und das Politische i m Privaten deutlich herausstellen. M i t dem Tod George Eliots i m Jahr 1880 sieht Vf.in dann auch diese »Epoche des englischen Romans zu Ende« (121) gehen. M i t dem Abnehmen des viktorianischen Optimismus und der wachsenden Angst vor inneren wie äußeren Feinden für Englands Größe 7 setzt in den 1880er Jahre die Realismusdebatte erneut ein und stellt nun die naturalistischen Erneuerer wie George Gissing oder die Autorinnen der New Woman Fiction gegen die Verfasser von Abenteuerromanen (Rudyard Kipling, Robert Louis Stevenson, Joseph Conrad) wie von Utopien (William Morris, Samuel Butler, H . G. Wells) einerseits, ihre ästhetizistischen Antipoden Walter Pater und Oscar Wilde andererseits. Diese Umbruchphase der englischen Kultur deutet 7
Vf.in pointiert diese zweite Epochenschwelle innerhalb des Viktorianischen Zeitalters hier überzeugend: »Dem Glauben an Fortschritt, der durch technologische Errungenschaften und Darwins Evolutionstheorie genährt wurde, trat in den 1880er Jahren die Idee des Verfalls gegenüber, die bis zum Endes des Jh.s große Faszination ausübte« (125).
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bereits auf die Umwertung aller Werte voraus, die die Moderne als Reaktion auf die mit Königin Victorias Tod abgeschlossene Epoche ausrufen wird. Vf.in illustriert diese »übergreifendefn] Entwicklungstendenzen i m englischen Roman zwischen Romantik und dem Fin de siecle« (5) mit einer Vielzahl von Einzeltexten - sie nennt weit über 200 Titel und stellt fast 100 Romane näher vor - , die den etablierten Kanon des viktorianischen Romans erweitern, ergänzen und gerade in Hinblick auf Schriftstellerinnen neu konturieren. I m Band Der englische Roman des 20. Jahrhunderts meldet sich Ansgar Nünning ebenfalls als A u t o r zu Wort mit einer studentengerechten Ubersicht über typische Erscheinungsformen des Romans zwischen den Antipoden Realismus und Experiment, dargelegt in sechs Phasen. Basierend auf dieser Grundunterscheidung zwischen >realistischem< und >experimentellem< Erzählen trennt Vf. dann den sozialkritischen Realismus des Gesellschaftsromans vom psychologischen Realismus des >experimentellen< Erzählens von Henry James, Joseph Conrad, James Joyce und Virginia Woolf - terminologisch als Heteroreferentialität und Autoreferentialität benannt (Schema S. 12). Nach dieser ersten Phase verfolgt Vf. diese Merkmalsoppositionen dann in fünf weiteren historischen Kapiteln. I n der zweiten Phase verdeutlicht sich die ästhetische Neuorientierung des modernism in Woolfs >New NovelBewusstseinsstromroman< und weiter in den existentialistischen Roman: »Beide Linien laufen dann i m letzten Drittel des Jahrhunderts i m Postmodernismus wieder zusammen, so dass sich als Prognose für die Zukunft eine Revitalisierung der Gattung Roman und nicht etwa der vielbeschworene Tod des Romans stellen lässt« (5). M i t dieser Wiedervereinigung verschiedener Erzähltraditionen i m postrealistischen Erzählverfahren umreißt Vf. seine Schlussthese, in der er auch von der »Uberwindung des Postmodernismus« (7) spricht. Die hier vorgelegte Verknüpfung der traditionellen Dekadeneinteilung zu größeren Entwicklungszusammenhängen ist in dieser Form zu begrüßen: in die Kapitel »Vom Realismus zum Naturalismus« mit William Dean Howells, Stephen Crane und Theodore Dreiser, »Vom Realismus zum Bewusstseinsstrom« mit Henry James bis Gertrude Stein und William Faulkner, und »Formales Experiment und sozialkritischer Realismus« mit John Dos Passos, Sherwood Anderson, F. Scott Fitzgerald, Thornton Wilder, John Steinbeck, Richard Wright und Ernest Hemingway. Nach einem Exkurs zur Südstaatenliteratur behandelt Schaller dann den amerikanischen Roman nach 1945, der gekennzeichnet ist durch pikareske Strukturen, >QuestLithauen< (33) auch in neuer Schreibweise >LitauenNew English Drama< nach 1945 und zur Gründung eines National Theatre i m Jahre 1976 - alles in London, w o das Theater Bestandteil des öffentlichen Lebens war und ist. Die Kapitel 2 bis 10 verfolgen dann die Entwicklung des englischen Dramas chronologisch - von der »Uberwindung des Viktorianischen Erbes« über die »Entstehung des politischen Theaters« und das »Drama des Modernismus« zur »Renaissance des Versdramas«, zur »Transformation des well-made plays« und schließlich zum »Theater des Absurden«, dem »politischen Theater nach 1956« und zum »historischen Theater«. Alle Entwicklungstendenzen und historischen Gruppierungen sind hierbei u m ein einziges Datum gruppiert, den »8. Mai 1956«, den Tag, an dem John Osbornes Drama Look Back in Anger an Londons Royal Court Theatre seine Uraufführung erlebte. U m dieses Achsendatum herum legt Vf. seine Darstellung in zwei Teilen an, deren Scharnierstelle als >Paradigmenwechsel< zugleich den Einfluss des europäischen wie speziell des amerikanischen Theaters in vollem Umfang reflektiert. 9 I m Blick zurück auf die Entwicklung bis zu diesem epochalen Ereignis zeichnet Vf. die Ablösung der viktorianischen Bühne mit ihren Burlesken, Melodramen und sentimentalen Komödien durch George Bernard Shaw, John Galsworthy, Christopher Isherwood, Stephen Spender und T.S. Eliot als zentrale Autoren auf der englischen Bühne nach. Das well-made play der Jahrhundertmitte stellt er dann vor als »die vielleicht stärkste kohärenzstiftende Dramenkonzeption des englischen Dramas des 20. Jh.s, die vor allem das kommerzielle Theater bis in die Gegenwart bestimmt« (76). Nach dem durch Osborne ausgelösten shock of recognition des Jahres 1956 verlagert sich der Fokus der Darstellung auf das Theater des Absurden, das politische Theater und das historische Drama. Das absurde Theater reicht von Samuel Beckett und seinen Verfremdungs- und Minimalisierungsstrategien 10 9 Zugleich relativiert Vf. jedoch die epochale Bedeutung dieses Moments und weist auf die vielfältigen Legendenbildungen in diesem Kontext hin. 10 Vf. betrachtet Becketts Dramenkonzeption als Sackgasse: »Er hat die Darstellungsmöglichkeiten des Theaters radikal auf die Selbstdarstellung der dramatischen Figur in der Sprache als die Grundform des Dramas zurückgeführt« (197). Dies erscheint jedoch weniger als dead end oder als Erschöpfung, denn vielmehr als fruchtbare Irritation einer vor existentialistischer Beunruhigung zurückweichenden Bühnenpraxis des well-made play. Wenn Vf. dann Becketts Theater zur «Veranschaulichung von Marshall McLuhans Diktum the medium is the message« erklärt (108) scheint er diese medientheoretische Über-
Buchbesprechungen zur existentiellen Bedrohung bei Harold Pinter und Tom Stoppard. Das politische Theater nach 1956 erobert mit A r n o l d Wesker und John Arden neue soziale und ethnische Darstellungsbereiche und weist voraus auf alle kulturrevolutionären Bemühungen der 1968er: Tagesaktualität und der Kampf gegen Imperialismus und sexuelle Gewalt kennzeichnen jene radikale Wendung zum utopisch-humanen Sozialismus i m Theater - etwa bei David Mercer oder Trevor Griffiths. Seinen Überblick beschließt Vf. mit einem knappen >AusblickTheatre of Imagesmainstream realism< in der Konzeption des well-made play , das bis heute den Broadway dominiert, auf der anderen führt die Entfaltung moderner Darstellungskonventionen von einem anthropologischen Realismus zum psychologischen und dann zum ethnischen Realismus. Hier wirken sich auch die aus Europa übernommenen radikaleren Inszenierungsverfahren aus: vom Expressionismus etwa bei Eugene O ' N e i l l , vom Agitprop bei Clifford Odets oder A m i r i Baraka, vom epischen Theater wie bei Thornton Wilder, und schließlich vom absurden Theater, so z. B. bei Edward Albee, die sich weiterentwickeln zur >Performance< des >Living TheatreOpen Theatre< als Kulturkampf auf der Bühne oder zum >postmodernen Befreiungstheater-2\2 - Entstehung des Doktor Faustus 194 - Joseph und seine Brüder 397 - Leiden und Größe Richard Wagners 206 - Über die Kunst Richard Wagners 198 - Der Zauberberg 430 - 434 Maria Antonia Walpurgis Prinzessin von Sachsen 69-94 - Il trionfo délia fedeltà 69-94
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Namen- und Werkregister
Marlowe, Christopher 321, 333-337, 342, 345, 469 - Tamburlaine the Great 321, 3 3 3 337, 342, 345 Matthaeus de Verona 403 Menander Rhetor 123, 124, 131, 323, 417 - Peri epideiktikon 123, 419 Merleau-Ponty, Maurice 448 Metastasio, Pietro 69-94 Metellus von Tegernsee 374 - Quirinalien 374 Metha, Gita 454 Middleton, Thomas 408, 469 - A Chaste Maid in Cheapside 408 Mill, John Stuart 470 Milton, John 238, 273, 298, 302, 414421 - Paradise Lost 238, 298, 302, 414, 415,418, 420 Mönch, Walter 439, 441 Molière [Jean-Baptiste Poquelin] 317, 329 - Le Bourgeois Gentilhomme 317, 329 Montaigne, Michel Eyguem de 58, 450 Murdoch, Iris 464, 472 Musil, Robert 455 - Der Mann ohne Eigenschaften 455 Nadolny, Sten 279, 285, 286 - Die Entdeckung der Langsamkeit 279, 285 Nibelungenlied 217, 243, 244 Nietzsche, Friedrich 209, 210, 430-434, 462 Nora, Pierre 260-263, 275 - Les lieux de mémoire 260, 261 O'Malley, Mary 453 Osborne, John 474 Ovid 27, 34, 36, 304 - Amor es 27 - Metamorphosen 27, 34, 36, 304 Ozick, Cynthia 454 Paepcke, Fritz 442 Park, Mungo 289, 290 Parsons, Talcott 62 Pascal, Blaise 53-68 Pater, Walter 471
Paz, Octavio 184,186, 187,188, 189 Peruzzi, Baidassare 410 Petrus de Urbe Vetri 402 Pirandello, Luigi 437 Plato(n) 25, 26, 27, 96, 97 Platter, Thomas 409 Pope, Alexander 469 Pratchett, Terry 453 Puget de la Serre 409 - La Martyre de Sainte Catherine 409 Pulci, Antonia 408 Puttenham, George 320 Pynchon, Thomas 454 Quiller-Couch, Sir Arthur 347, 348, 356, 357 Rainald von Dassel 375, 378, 380 Ranciere, Jacques 448, 449 Ransmayr, Christoph 279, 286 - Hohe Breitengrade 279 - Die Schrecken des Eises und der Finsternis 279, 286-288 Reading, Peter 413 - Poems for Shakespeare 413 Rhetorica ad Herennium 401 Richardson, Samuel 465, 469, 470 Ricoeur, Paul 448, 449 Rosenlöcher, Thomas 285 - Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern. Harzreise 285 Rotrou, Jean 409 - Laure persecutee 409 Sappho 124, 125, 128, 129, 130, 134, 135,143, 144 Sarduy, Severo 190, 191, 192 Schiller, Friedrich von 317 Schlegel, Friedrich 39 - »Rede über die Mythologie« 39 Schneider, Reinhold 437 Schnurre, Wolfdietrich 394 - »Das Begräbnis« 394 Schönberg, Arnold 193-212 Schopenhauer, Arthur 430 - Die Welt als Wille und Vorstellung 430 Scott, Sir Walter 233, 234, 460, 471 - Waverley 233
Namen- und Werkregister Seif, Will 465 Seneca, Lucius Annaeus 331 Serres, Michel 448, 449 Shakespeare, William 39, 312, 317, 319, 325, 332, 333,337-342, 343, 345, 408, 409, 411, 411-414, 445, 467-469 - Antony and Cleopatra 340 - 342 - Hamlet 337-340, 342, 413 - King John 312 - King Lear 319 - Macbeth 445 - The Merchant of Venice 413 - The Merry Wives of Windsor 317 - The Tempest 408, 409, 414 Shelley, Mary 467 Shelley, Percy Bysshe 121 -150 - »Intellectual Beauty« 121-150 - »Ode to the West Wind« 150 - »Revolt of Islam« 131 Sidney, Sir Philip 121 Sir Gawain and the Green Knight 29, 31 Smile, Samuel 470 Smollett, Tobias 469 Spenser, Edmund 298 - Epithalamion 298 Steiner, George 175,177, 396 Sterne, Laurence 469, 470 Stifter, Adalbert 151, 157, 162, , 163, 167, 168, 234, 244, 245 - Brigitta 151, 157-160, 161-163, 168 - Witiko 244 Stoppard, Tom 411 - Dogg's Hamlety Cahoot ys Macbeth 411 Strauß, Botho 396 Strauss, Richard 208, 317 Sutcliffe, William 454 Swift, Jonathan 449 - 451 - Gulliver's Travels 450 - A Modest Proposal 450 Terentius 409 Thackeray, William 471 Thomas von Britannien 35, 36 - Tristan 35
31 Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, 43. Bd.
481
Thomas von Kempen - Imitatio Christi 119 Tönnies, Ferdinand 246 - Gemeinschaft und Gesellschaft 246 Toepfer, Alfred 441, 442 Trollope, Anthony 471 Updike, John 453 Vergil 28, 34, 35, 273, 285, 297 - Aeneis 28, 34, 98 Vesper, Bernhard 278 Virilio, Paul 448 Vossler, Karl 217, 237, 351 Wace 33, 36, 37 - Roman de Brut 33, 36 Wagner, Richard 193-212,„ 430, 432, 437 - Oper und Drama 201 Warburg, Aby 257-259 , 260, 263, 267 Webern, Anton 194 Webster, John 469 Whitman, Walt 327 - Leaves of Grass 327 Widmer, Urs 278 Wiebe, Rudy 455 Wieland, Christoph Martin 227 - Don Sylvio 227 Wiesel, Eli 384 - Alle Flüsse fließen ins Meer 394 Wilde, Oscar 471 William von Malmesbury 37 Winckelmann, Johann Joachim 426 Wohmann, Gabriele 391, 392 Wolfram von Eschenbach 28 - Parzival 28 Woolf, Virginia 464, 465, 472 Wordsworth, William 124, 126, 127, 128, 130, 134, 136, 137, 144, 308, 310, 311 - »Ode to Duty« 124, 126, 127, 128, 136 - »Resolution and Independence« 311 - »I Wandered Lonely as a Cloud« 309